Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Dr. Jürgen Warnke zu seinem heutigen 65. Geburtstag die herzlichsten Glückwünsche unseres Hauses aussprechen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Wilhelm , Franziska Eichstädt-Bohlig, Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: CO2-Minderung durch Energieeinsparung im Gebäudebereich - Drucksache 13/7241 -
4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt , Helmut Wilhelm (Amberg), Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Option einer Flächenbahn in Deutschland erhalten - Drucksache 13/7240 -
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick, Uwe-Jens Heuer und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Überleitung preisgebundenen Wohnraums im Beitrittsgebiet in das allgemeine Miethöherecht - Drucksache 13/7251 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick, Uwe-Jens Heuer und der Gruppe der PDS: Ausarbeitung eines Mietspiegelgesetzes sowie damit verbundener Änderungen des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe - Drucksache 13/7245 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller , Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Elefanten schützen und Verbot des Elfenbeinhandels aufrechterhalten - Drucksache 13/7254 -
5. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses : Sammelübersicht 191 zu Petitionen - Drucksache 13/7269 -
6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung - Drucksache 13/7244 -
7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Einsatz deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher Staatsbürger und unter konsularischer Obhut befindlicher Staatsangehöriger anderer Nationen aus Albanien - Drucksachen 13/7233, 13/7265 -
8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Öffentliche Diskussion über einen Ratgeber für Sozialhilfeempfänger
9. a) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Nutzer und zur weiteren Erleichterung von Investitionen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet - Drucksache 13/2022 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Nutzerinnen und Nutzer von Grundstücken in den neuen Bundesländern - Drucksache 13/2822 -
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung und Vereinheitlichung sachen- rechtlicher Fristen - Drucksache 13/5982 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Hans-Joachim Hacker, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Vorrang für die Nutzer in Ostdeutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick und der weiteren Abgeordneten der PDS: Moratorium zum Schutze der redlichen Nutzer und Nutzerinnen vor der zivilrechtlichen Durchsetzung von Rückübertragungsansprüchen im Beitrittsgebiet - Drucksachen 13/803, 13/613, 13/. .. -
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Rixe, Stephan Hilsberg, Franz Thönnes, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Grundsatzerklärung zur Entwicklung der Ausbildungsberufe - Drucksache 13/ 7255 -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bierstedt, Dr. Ruth Fuchs und der Gruppe der PDS: Verbot der Keimbahnintervention und der Klonierung von Menschen - Drucksache 13/7250 -
12. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Äußerungen bezüglich der Einführung des Euro
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Des weiteren ist vereinbart worden, die für Freitag vorgesehene Beratung der Anträge zum Transrapid, Tagesordnungspunkt 16, abzusetzen.
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
- Drucksache 13/6087 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/7264 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD Sofortprogramm zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in den Krankenkassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Schmidbauer , Klaus Kirschner, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rettungsdienst in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksachen 13/5726, 13/6578, 13/7264 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann
Zum Gesetzentwurf liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS vor.
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den Gesetzentwurf namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Es beginnt der Kollege Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziemlich genau sechs Monate, nachdem im Bundesrat durch die dort ständig praktizierte Blockadepolitik der SPD
die lange überlegten und durchdachten Gesetzentwürfe zur dritten Reformstufe in der Gesundheitspolitik gescheitert sind,
sind wir heute so weit, daß wir in zweiter und dritter Lesung die Gesetze, die wir zustimmungsfrei formuliert haben, beschließen können.
Wir haben uns in diesem Zusammenhang wie in allen Bereichen in erster Linie zu fragen: Was dient der Schaffung neuer Arbeitsplätze? Oder umgekehrt: Was schadet der Erhaltung der Arbeitsplätze?
Daß solche Maßnahmen nicht nur unbequem, sondern gelegentlich auch unpopulär sind, liegt auf der Hand. Wer aber nicht bereit ist, in seiner Verantwortung auch unbequeme und unpopuläre Maßnahmen umzusetzen, der kann keine Verantwortung für dieses Land übernehmen.
Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen und Monaten hat die SPD in schöner Gemeinsamkeit mit den Grünen bewiesen, daß sie auch in diesem Bereich, der Gesundheitspolitik, reformunfähig ist.
Die Vorschläge, die unseren gegenübergestellt werden, beziehen sich lediglich beispielsweise auf das Thema Listenmedizin - Stichwort: Positivliste. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, daß wir durch § 92 die große Bedeutung besonderer Therapierichtungen weiter gesichert haben, was zum Beispiel mit einer Positivliste unmöglich wäre.
Sie bringen den Vorschlag eines Globalbudgets. Sie wollen an der Beitragsbemessungsgrenze herumspielen.
Sie wollen den Krankenkassen Kompetenzen im Sinne eines Einkaufsmodells zusprechen, obwohl die Krankenkassen noch vor wenigen Wochen und Monaten bewiesen haben, daß sie mit solchen Möglichkeiten Schindluder treiben, indem sie ausgrenzen und eine Risikoselektion vornehmen wollen.
Wolfgang Lohmann
Meine Damen und Herren, natürlich besteht Handlungsbedarf.
Dieser Handlungsbedarf - ich möchte das von vornherein klarstellen - entsteht nicht dadurch, daß unser System der medizinischen Versorgung Reformen nötig hätte. Wir haben - wir wollen es erhalten - ein Spitzensystem, wenn nicht sogar das weltweit beste System der gesundheitlichen Versorgung. Zu fragen ist allerdings, ob in der Zukunft die Finanzierung dieses Systems wie bisher gesichert ist oder ob wir bereit und in der Lage sind, neue Fragen mit neuen Antworten zu besetzen.
Deswegen, so meine ich, sollten wir versuchen - das sage ich besonders an die Adresse der Opposition -, im Rahmen des Möglichen wenigstens ehrlich miteinander umzugehen.
Ich habe hier über die öffentliche Anhörung, die wir am 14. März dieses Jahres durchgeführt haben - man darf sicherlich das, was öffentlich auslag, hier zitieren -, eine Pressemitteilung mit der interessanten Überschrift „Gemeinsame Erklärung" des DGB, der ÖTV, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen. In dieser Erklärung wird unter anderem auch wieder von einer Zweiklassenmedizin, von der Erhöhung der Kosten usw. gesprochen. Deswegen brauche man Budgets.
In der „Süddeutschen Zeitung" ist unter dem 18. März 1997 zu lesen, daß eine Pressekonferenz der Münchener SPD zusammen mit einigen niedergelassenen Ärzten zum Stichwort „Praxisbudget für niedergelassene Ärzte" stattgefunden hat. Dort wird die weitere Entwicklung im Rahmen der Budgets in den düstersten Farben gemalt. Da wird, wie das gelegentlich geschieht, das Schicksal einer besonders schwer betroffenen 85jährigen Frau geschildert, die gerade eine große Operation und eine Thrombose am Oberschenkel überstanden hat und nun unter Schmerzen, Bluthochdruck und Depressionen leidet.
Das nur als Beilage. Der Schluß dieses Artikels ist aber eindeutig:
Die SPD-Stadträtin Ingrid Anker befürchtet angesichts der Diskussion über Rationierung und Budgetierung im Gesundheitswesen:
- das ist unser Thema -
In Zukunft könnten Abwägungen, welche Patienten werden versorgt und welche nicht, „zu einem Bestandteil des medizinischen Alltagsbetriebs werden".
Genau das wollen wir vermeiden.
Da, wo diese Frau recht hat, auch wenn sie von der SPD kommt, muß sie recht behalten.
Folgende Schwerpunkte bieten wir zur Überwindung der Problematik an: Wir müssen einerseits unter allen Umständen - dies betrifft wiederum das Stichwort Arbeitsplätze - vermeiden, daß bei überproportionaler Kostenentwicklung, wie wir sie über viele Jahre gehabt haben, die Arbeitskosten weiter in diesem Umfang belastet werden. Das ist die eine Seite, die der Finanzierung. Wir müssen aber andererseits auch sichern, daß das bisherige Spitzensystem erhalten bleibt.
Unsere Antworten zur Erreichung dieser Ziele sind: Stärkung der Selbstverwaltung und Stärkung der Eigenverantwortung.
Das erste Mittel, die eben von mir genannten Arbeitskosten zu begrenzen, stellt das 1. Neuordnungsgesetz mit seinem Kopplungsmechanismus dar, indem Beitragserhöhungen nur möglich sind, wenn zugleich auch die Zuzahlung zu Medikamenten erhöht wird.
Vorfahrt für die Selbstverwaltung heißt auch hier: Selbstverwaltung ist nicht allein eine Schönwetterveranstaltung, sondern man muß auch bereit sein, mit den Vertragspartnern stringent zu verhandeln. Stärkung der Selbstverwaltung heißt auch Übernahme zusätzlicher Verantwortung und dementsprechend auch Streit mit den Beteiligten. Diese Kopplung ist den Krankenkassen offensichtlich ausgesprochen unangenehm. Denn sie wissen natürlich genau: Wenn wir die Beiträge erhöhen, hätte dies die Umwelt vielleicht noch hingenommen; wenn wir damit verbunden aber zugleich auch die Zuzahlungen erhöhen, merkt es jeder. Man wird sich fragen: Ist diese meine Krankenkasse die richtige, oder muß ich möglicherweise diese Kasse verlassen?
Weil das so ist, haben wir diesen Rahmen gesetzt und veranlassen bzw. zwingen damit die Selbstverwaltung, sich immer wieder zu überlegen, ob es nicht weitere Möglichkeiten der vernünftigen Ausschöpfung wirtschaftlicher Reserven gibt oder ob es in diesem speziellen Falle unabdingbar ist, den Beitrag zu erhöhen. Das wollen wir erreichen! Wir haben den - wenn man so sagen darf - Druck durch das kurzfristige Austrittsrecht der Versicherten erhöht. Dieses Mittel, das der frühere Chef des AOK-Bundesverbandes in meinem Beisein als „genial" bezeichnet hat, das andere - je nachdem, in welcher Situation - als „teuflisch" bezeichnen, ist offensichtlich insgesamt wirksam, sonst würden die Krankenkassen nicht diesen - man kann es fast so nennen - Krieg gegen unsere Überlegungen führen.
Wolfgang Lohmann
Darüber hinaus kann die Selbstverwaltung weiter gestärkt werden. Wir machen das durch die Partnerschaftslösung. Das heißt, die nichtärztlichen Leistungserbringer, die wir alle kennen, werden jetzt in einem Maße einbezogen, das früher nie denkbar gewesen wäre. Stellungnahmen und Anhörungen im Bundesausschuß werden nicht nach der Devise „Lesen, Lachen und Weglegen" behandelt, sondern müssen einbezogen, begründet und möglicherweise übernommen - oder auch nicht übernommen - werden, so daß die Möglichkeit besteht zu prüfen, inwieweit diese Stellungnahmen ernstgenommen werden. Das gleiche gilt bei den Partnerschaftsmodellen für die Pharmaindustrie und für die Zahntechniker, die im Vergleich zu früher die Möglichkeit einer qualifizierten Stellungnahme haben.
Wir haben das auch auf Grund der Erfahrungen in Diskussionen und in der öffentlichen Anhörung am 4. Dezember 1996 gemacht, bei der sich auf unser intensives Befragen noch einmal gezeigt hat, daß die Krankenkassen, wenn man ihnen einseitige, also keine partnerschaftlichen, Rechte einräumt, diktatorisch - so kann man wohl sagen - zu Werke gehen, indem sie nämlich bestimmte Leistungen ausgrenzen. Die Protokolle können nachgelesen werden. Man konnte das zumindest nicht ausschließen. Deswegen haben wir diese ursprünglich als Gestaltungsleistung angebotene Lösung überdacht.
Das zweite Mittel - ich deutete es eben an - ist die Stärkung der Eigenverantwortung. Wenn möglicherweise unvermeidbare Erhöhungen der Beiträge festzustellen sind, weil nämlich die Multimorbidität, die Überalterung der Bevölkerung, der medizinisch- technische Fortschritt und vielleicht sogar die Erwartungshaltung der Bevölkerung zu Kostensteigerungen geführt haben, die die Krankenkassen vorgeblich oder tatsächlich nicht verhindern konnten, dann muß man sich fragen, ob nicht eine höhere Selbstbeteiligung als bisher durchgesetzt und verlangt werden muß. Wir meinen, das muß sein.
Denn wenn wir das Ziel, das ich eben genannt habe, erreichen wollen, dann muß in stärkerem Umfang zugezahlt werden. Diese Maßnahmen sind unpopulär und für eine Volkspartei wie die unsere sicherlich nicht leicht zu beschließen. Aber im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kirschner, entziehen wir uns der Verantwortung nicht,
sondern sehen den Tatsachen ins Auge, sagen den Menschen jeden Tag die Wahrheit in diesem Zusammenhang
und gaukeln ihnen nicht vor, daß man mit Maßnahmen wie Globalbudget, Positivliste oder Erhöhung
der Beitragsbemessungsgrenze alles so erhalten könnte -
- Sie können ruhig laut schreien; im Zweifelsfall spreche ich lauter -, ohne zu Rationierungen zu kommen. Ich unterstelle einmal, daß wir alle dies nicht wollen. Bei Ihren Vorschlägen aber sind sie unvermeidbar.
Die Zuzahlungen sind zumutbar; sie sind wegen der nach wie vor bestehenden, sogar noch verbesserten Möglichkeiten der Anwendung der Sozial- bzw. Härteklausel vernünftig, und Überforderungen werden durch die Überforderungsklausel vermieden. Diese Regelung ist sozial gerechtfertigt. Dazu werden andere Redner unserer Fraktion sicher noch Stellung nehmen.
Das alles entlastet nach unserer Auffassung die Arbeitskosten. Wir können nicht versprechen, daß, selbst wenn alles durchgesetzt wird, die Arbeitskosten durch diese Maßnahmen im Bereich des Gesundheitswesens rapide zurückgehen. Wir können aber versprechen, daß die Forderung nach Beitragssatzstabilität und darüber hinaus die Forderungen, zumindest keine vermeidbaren Beitragserhöhungen zuzulassen, erfüllt werden können.
Damit habe ich das erste Ziel genannt: keine zusätzliche Belastung der Arbeitskosten. Das zweite Ziel war die Beibehaltung bzw. die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung unserer Bevölkerung. Dazu gehört auch, daß die Kollektivhaftung - endlich, muß man sagen - durch die Individualhaftung der Ärzte im Bereich der Arzneimittel durch Richtgrößen abgelöst wird. Ich habe eben zitiert, was Ihre Kollegin in München dazu gesagt hat.
Es kann doch wohl auf Dauer nicht sein, daß wegen einer unabänderlich immer weitergeführten Deckelungspolitik in relativ kurzer Zeit den Menschen nicht mehr das gegeben wird, was medizinisch notwendig, ausreichend und wirtschaftlich ist, weil sie vielleicht zu alt sind oder andere Gründe angeführt werden. Das wollen wir nicht. Wir wollen, daß das System aufrechterhalten bleibt, daß jedem unabhängig von Stand, Alter, Geschlecht und sozialer Lage diese Leistungen zur Verfügung stehen.
Deswegen sind wir der Meinung, daß es überhaupt nichts bringt, an einem Budget, beispielsweise dem Arzneimittelbudget, festzuhalten, das ständig überschritten wird oder aber, wenn es nicht überschritten wird - wie es im Herbst des vergangenen Jahres der Fall gewesen ist -, durch restriktive, stringente Maßnahmen - Notprogramm wurde das Ganze ja genannt - medizinisch notwendige Verordnungen nicht mehr erfolgen. Das wollen wir nicht. Deswegen haben wir gesagt - übrigens mit Ihnen zusammen, Herr Dreßler; das Gesundheitsstrukturgesetz 1992 ist mit Ihnen zusammen verabschiedet worden -, daß
Wolfgang Lohmann
die Budgets ab 1994 durch Richtgrößen ersetzt werden können. Das geschah aber nicht, weil die Vorschriften, die wir gemeinsam hineingeschrieben haben - Stichwort: indikationsbezogen -, offensichtlich nicht praktikabel waren. Deshalb bieten wir beiden Partnern die Freiheit an zu vereinbaren, daß arztgruppenbezogene Richtgrößen festgelegt werden können. Das hat nichts mit einer Ausweitung der Kosten zu tun; denn es wäre geradezu ein Offenbarungseid der Krankenkassen, wenn sie von vornherein sagen würden: Das können wir nicht umsetzen, wir werden über den Tisch gezogen. Wofür ist die Selbstverwaltung da, wenn im Grunde schon von vornherein signalisiert wird, daß man das nicht kann? Im übrigen: Wie unklug ist das?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfaff?
Nein. Ich weiß zwar, daß das nicht auf die Redezeit angerechnet wird. Aber ich möchte meine Ausführungen im Zusammenhang machen. Dazu bin ich als Berichterstatter, glaube ich, auch verpflichtet.
Wie unklug ist das Verhalten der einen Seite der Vertragspartner, der Krankenkassen? Sie posaunen jetzt permanent heraus, daß es durch unsere Maßnahmen, zum Beispiel die Einführung der festen Punktwerte, zu großen Kostenausweitungen kommen würde, und sprechen von einem Geschenk an die Ärzte, von einem Kniefall vor ihnen usw. Damit signalisieren sie der anderen Seite: Wir schaffen es sowieso nicht, ihr könnt fordern, was ihr wollt, ihr zieht uns über den Tisch. Wir sagen euch von vornherein, daß wir die weiße Fahne hissen.
Was ist das für eine Verantwortung seitens der Selbstverwaltung, wenn sie von vornherein sagt, daß sie die Möglichkeiten, die man ihr gibt, nicht umsetzen kann? Was ist das für eine Verantwortung?
Unter der Bedingung - das würde ich als Fazit sagen -, daß wir durch Ihre Methodik, die Sie auch in anderen Bereichen - von den Steuern bis zu den Renten - fortsetzen, gezwungen sind, unsere Reformüberlegungen zustimmungsfrei zu gestalten, ist das, was wir vorlegen, nach unserer Auffassung fast optimal. Der soziale Dienstleistungsbereich Gesundheit kann sich nach unseren Vorstellungen auch in Zeiten knapper Ressourcen weiterentwickeln. Krankenkassenvorstände und -verwaltungsräte und damit vor allem Gewerkschaftsmitglieder - Frau Engelen-Kefer habe ich das bereits bei der Anhörung am Freitag gesagt - können die - wie behauptet wird - Wirtschaftlichkeitsreserven von rund 30 Millionen DM behutsam und weitgehend ohne Arbeitsplatzverluste erschließen, wenn sie es vernünftig machen.
Die ständig vorhandene überproportionale Belastung der Arbeitskosten findet endlich ein Ende. Damit sichern wir Arbeitsplätze und können sogar neue schaffen,
und zwar nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar. Es gibt ja manche, die uns beispielsweise im Bereich der Kuren vorhalten, daß restriktive Maßnahmen, die unabdingbar notwendig sind, dort unmittelbar zu Arbeitsplatzverlusten geführt haben. Das ist unbestreitbar. Die Frage ist aber, welches Ergebnis mittelfristig herauskommt, wie viele Arbeitsplätze insgesamt entstehen und ob die Einnahmen der Krankenkassen über arbeitsplatzbedingte Steigerungen der Beiträge auf diesem Weg wieder verbessert werden. Das werden wir erreichen!
Das Spitzenniveau der medizinischen Versorgung bleibt für jedermann erhalten. Ich bin der Überzeugung, daß dies die Bevölkerung auch zunehmend erkennen wird und der Opposition trotz der Propaganda, die sie zur Zeit gemeinsam mit Gewerkschaften, Kassenfunktionären, Grünen betreibt - -
- Ja, ja.
In dem Schreiben der Gewerkschaften fehlt nur noch die PDS, aber die sind bei Ihnen vielleicht noch nicht satisfaktionsfähig. Das kommt vielleicht noch.
Ich stelle mir also vor: Demnächst stehen Herr Scharping oder Herr Lafontaine - je nachdem, wer gerade an der Spitze steht - in der ersten Reihe getreulich vereint mit Frau Engelen-Kefer in der Mitte, dann kommt Frau Knoche, die auch unterschrieben hat. Dann kommen möglicherweise Sie, Frau Dr. Enkelmann, oder Herr Gysi. Alle haben das fröhliche Lied „Wann wir schreiten Seit' an Seit' " auf den Lippen und sprechen dann von der Zweiklassenmedizin. Diese aber wird es nicht geben, meine Damen und Herren.
Den Zwischenruf kann ich nicht dulden.
Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zum Thema Blockade. Die SPD hat, weil das Gesetz nicht zustimmungspflichtig ist, keine Möglichkeit gehabt, dieses Gesetz zu verhindern. Damit das klar ist zwischen uns, Herr Lohmann: Für den Fall, daß wir diese Möglichkeit gehabt hätten, hätten wir es als unsere Pflicht angesehen, dieses schlimme
Rudolf Dreßler
Gesetz zu verhindern, ob Sie das Blockade nennen oder nicht.
Ich bin mir absolut sicher, daß das im Sinne der Mehrheit unserer Bevölkerung gewesen wäre.
Ich erlaube mir, mit einem Zitat aus dem „Tagesspiegel" vom 15. März 1997 einzuleiten. Dort lese ich:
Bonn hat schon viele Politikersterne aufgehen und verglühen sehen. Jüngstes Beispiel: Horst Seehofer ...
Einst gefeiert als Gladiator gegen die Gesundheitslobby und Hüter des Sozialstaatsprinzips,
schlittert der CSU-Mann mittlerweile seiner politischen Totaldemontage entgegen.
Der vor Jahren noch frische Durchsetzungs- und Reformwille ist erlahmt, das öffentliche Ansehen verspielt - nicht zuletzt, weil sich der einstige Strahlemann des christsozialen Wertkonservativismus ausgerechnet von dem zum gesundheitspolitischen Sprecher der F.D.P. reanimierten Jürgen Möllemann den Schneid hat abkaufen lassen.
In diesem Zeitungsartikel lese ich zum Schluß eine Quintessenz. Diese Quintessenz will ich auch zitieren, meine Damen und Herren. Sie lautet:
Diese Reformlogik
- von Seehofer und der Koalition -
verstehe, wer will. Horst Seehofer jedenfalls hat mit ihr seinen Ruf als Gesundheitspolitiker endgültig ruiniert.
Dem habe ich überhaupt nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, das heute zur Verabschiedung anstehende 2. GKV-Neuordnungsgesetz können wir nicht isoliert bewerten. Es gehört in den Gesamtzusammenhang der Gesundheitspolitik dieser Regierung gestellt, denn es schließt eine Gesetzesoperation ab, die im vergangenen Jahr mit dem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz begonnen wurde, dann über das 7. und 8. SGB-V-Änderungsgesetz und das 1. GKV-Neuordnungsgesetz führte und heute im Deutschen Bundestag zum Abschluß gebracht werden soll.
Dieser Gesamtzusammenhang macht das eigentliche politische Ziel der Koalition deutlich. Es geht ihr nicht um Sparen im Gesundheitswesen, es geht ihr nicht um Senkung der Lohnnebenkosten, so wie die Damen und Herren der CDU/CSU und F.D.P. es immer wieder betonen. Es geht der Koalition darum, unserer Krankenversicherung die soziale Basis zu entziehen. Es geht um die Privatisierung des zentralen Instruments unserer Gesundheitssicherung. Es geht schlicht um einen Systemwechsel, meine Damen und Herren.
Als die beiden Koalitionsfraktionen in den vergangenen Wochen heftig über die hälftige Beitragszahlung der Arbeitgeber in der Krankenversicherung gestritten und nach langem politischen Gewürge schließlich darauf verzichtet haben, sie abzuschaffen, um dann als Alternative eine drastische Erhöhung der Selbstbeteiligung für Kranke zu beschließen, hat der gesundheitspolitische Sprecher der F.D.P., Herr Möllemann, das auf bemerkenswerte Weise kommentiert: Damit könne er leben, denn ob man ein System auf diese oder auf jene Weise in ein anderes verwandele, sei letztlich gleichgültig. Hauptsache, man tue es.
Herr Möllemann hat recht. Der angestrebte Systemwechsel in der Krankenversicherung, der das offen eingestandene eigentliche Ziel vor allem der F.D.P. ist, ist eingeleitet, und CDU und CSU als Volksparteien leisten dazu Schützenhilfe, meine Damen und Herren.
- Wenn der Kollege Heiner Geißler feststellt, mit der drastisch angehobenen Selbstbeteiligung für Kranke könne er noch leben, weil schließlich die eigentlich geplante Abschaffung des 50prozentigen Arbeitgeberbeitrages verhindert worden sei, dann muß ich ihm entgegenhalten, daß er sich wie jener Wanderer verhält, der sich darüber freut, statt in den Kuhfladen in einen Pferdeapfel getreten zu sein.
Die Wahrheit ist: Mit der Zustimmung zur Selbstbeteiligungserhöhung und zum eingeleiteten Systemwechsel in der Krankenversicherung sichern Herr Geißler und die anderen Vertreter der CDU-Sozialausschüsse mit ihren Stimmen abermals - oder muß ich sagen: wie immer? - einer arbeitnehmerfeindlichen Politik die parlamentarische Mehrheit.
Man müsse im Gesundheitswesen sparen, lautet die Begründung der Koalition für die Gesetzesoperation, die heute zum Abschluß gebracht werden soll. Richtig, das muß man wirklich. Ich frage CDU/CSU
Rudolf Dreßler
und F.D.P.: Warum tun Sie das denn nicht, sondern werfen Beitragsgelder zum Fenster hinaus? Mindestens 2 Milliarden DM haben Sie der Pharmaindustrie durch Rücknahme einer Positivliste von verordnungsfähigen, sinnvollen Arzneimitteln hinterhergeworfen. 840 Millionen DM haben Sie den Ärzten durch Regreßverzicht und Honorarerhöhungen beschert. 8 bis 10 Milliarden DM wird nach Schätzung der Krankenkassen der mit dem heutigen Gesetz eingeführte Verzicht auf Ausgabenlimits in der Krankenversicherung kosten.
Wie hoch die Mehrausgaben der Patienten sein werden, die durch Ihre Politik, nämlich die herbeigeführte Privatisierung und Teilabschaffung des Zahnersatzes, zu zahlen sind, läßt sich noch nicht einmal erahnen.
Auf der einen Seite werden Milliarden zugeschanzt, und auf der anderen Seite, bei den kranken Menschen, wird anschließend eingesammelt, fast 5 Milliarden DM allein an zusätzlicher Selbstbeteiligung. Das alles hat nichts mit Sparen zu tun, sondern das ist nackte Klientelpolitik.
Hier werden nicht im Zuge enger gewordener ökonomischer Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen die Interessen von Versicherten und Leistungserbringern neu austariert und in ein gerechtes Gleichgewicht gebracht, sondern hier wird die stärkere Seite bedient und dafür bei der schwächeren abgezockt. In einer Art Vulgärliberalismus prämiiert diese Koalition den ökonomischen Eigennutz im Gesundheitswesen auf Kosten des Gemeinwohls.
Unser Gesundheitswesen habe 25 Milliarden DM Rationalisierungsreserven, sagt Herr Seehofer. Ich frage: Warum setzen Sie die nicht frei, sondern zapfen statt dessen durch drastische Erhöhung der Selbstbeteiligung für Kranke neue Finanzquellen an und geben letztlich insgesamt noch mehr Geld für Gesundheit aus? Die Klage der Koalition, unser Gesundheitswesen sei zu teuer, ist heuchlerisch; denn das stört CDU/CSU und F.D.P. in Wahrheit überhaupt nicht. Das einzige, was die Koalition stört, ist, daß es die nach ihrer Ansicht falschen Gruppen weiter mitbezahlen sollen. Würde es nur von den Versicherten und Kranken bezahlt, dann könnte es, ginge es nach dieser Koalition, gar nicht teuer genug sein, weil sie dann immer um so besser ihre spezielle Klientel bedienen könnte. Das ist die Sachlage, um die es heute geht.
Die heutige Gesetzesoperation in den Gesamtzusammenhang regierungsamtlicher Politik einzuordnen, bedeutet auch, über den Bereich des Gesundheitswesens hinauszugehen und die Rolle, die der Sozialstaat insgesamt bei der Politik von CDU/CSU und F.D.P. einnimmt, kritisch zu beleuchten: erstens weitgehende Zerstückelung des arbeitsmarktpolitischen Gesetzesinstrumentariums; zweitens Abkehr von der lebensstandardsichernden Rente im Alter; drittens faktische Abschaffung der sogenannten Invalidenrente, also der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente; viertens abermalige Kürzungspläne für die Sozialhilfe.
Da bedeutet der Systemwechsel im Gesundheitswesen nur noch das Tüpfelchen auf dem i, um an Hand von Tatsachen zu dem Urteil zu kommen: Diese Regierung verwechselt sozialstaatliche Politik mit einer Politik des Sozialdumping, und zwar nicht zufällig oder beiläufig, sondern gezielt und gewollt.
Das, was seit geraumer Zeit in Deutschland geschieht, nennt der führende Kopf der katholischen Soziallehre, der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach, einen „Wettlauf der Besessenen". Blind für die eigentlichen Werte, die eine Gesellschaft ausmachen und die ihren Zusammenhalt bewirken, und blind für die Gefahren eines ausschließlich über den ökonomischen Nutzen legitimierbaren Zusammenlebens, steuert diese Regierung einen sozialen Crashkurs, der nun ausweislich der verabschiedeten oder heute zu verabschiedenden Gesetze auch im Gesundheitswesen fortgesetzt werden soll.
Gestern die Bergleute in Bonn und die Bauarbeiter in Berlin, heute die Stahlarbeiter in Duisburg - diese Ereignisse zeigen, daß die Menschen die Richtung, die die Politik von CDU/CSU und F.D.P. in diesem Land verbreitet, nicht länger dulden wollen und daß sie sich wehren. Ich sage: Sie tun recht daran, meine Damen und Herren.
Wer die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung wirklich stabilisieren will, wer also nicht nur so tun will als ob, der muß die Ursachen für die Beitragssteigerungen beseitigen.
Wahr ist, daß sich der Anteil der Leistungsausgaben der Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt seit nahezu 20 Jahren konstant in der Nähe von 6 Prozent befindet. Ebenfalls wahr ist, daß die für die gesamte Beitragszahlung in die Krankenversicherung maßgebliche Lohnquote seit Anfang der 80er Jahre um 8 Prozent abgenommen hat. Schließlich ist wahr, daß die anteilmäßig konstanten Ausgaben in der Krankenversicherung von immer weniger Beschäftigten mit einem dazu noch relativ schrumpfenden Anteil der Löhne am Volkseinkommen finanziert werden müssen.
Wenn immer weniger Menschen mit einem auf das Volkseinkommen bezogenen sinkenden Einkommensanteil unsere Krankenkassen finanzieren müssen, dann führt das zwangsläufig zu steigenden Lasten, also Beitragssätzen, für sie. Hier und nirgendwo anders liegt die prinzipielle Ursache für die bedrohliche Beitragsentwicklung bei den Krankenkassen.
Rudolf Dreßler
- Herr Lohmann, Sie haben ein Einnahmeproblem, aber kein Ausgabenproblem, wie Herr Seehofer und Sie selbst ständig behaupten.
Was tut die Regierung dagegen? Die Antwort ist offenkundig: nichts. Im Gegenteil, die Lage wird immer schwieriger. Wir haben ständig neue Rekorde bei der Massenarbeitslosigkeit und eine weiter anhaltend sinkende Lohnquote zu verzeichnen, beides verursacht durch regierungsamtliche Politik. Die Probleme, die CDU/CSU und F.D.P. zu lösen vorgeben, haben sie in Wirklichkeit durch ihre eigenen politischen Fehlentscheidungen erst selbst geschaffen.
Paradebeispiel dafür ist das Rehabilitations- und Kurwesen. Durch die letztjährigen Maßnahmen des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes - welch ein Titel für eine bodenlose Dummheit - verliert dieses Land rund 40 000 Rehabilitationsplätze mit mindestens 18 000 Beschäftigten. Die Kürzungen, die dies herbeiführen, sollen Minderausgaben in der Rentenversicherung von 2,4 Milliarden DM bewirken. Durch die wegfallenden 18 000 Arbeitsplätze - mindestens - gibt es aber Beitrags- und Steuerausfälle sowie Mehrausgaben bei Leistungen der Arbeitslosenversicherung, die von Fachleuten mit 2,1 Milliarden DM beziffert werden.
Man stelle sich vor: Politik à la CDU/CSU und F.D.P. bedeutet Einsparungen in Höhe von 2,4 Milliarden DM und deshalb Mehrausgaben in Höhe von 2,1 Milliarden DM unter Billigung von zirka 20 000 Arbeitslosen.
Dann stellt sich der Herr Lohmann hierher und sagt - ich zitiere -, „Was dient der Schaffung von Arbeitsplätzen, und was schadet der Schaffung von Arbeitsplätzen?" sei ihre Maxime.
Herr Lohmann, wenn Sie noch eins und eins zusammenzählen könnten, müßten Sie Ihr Rehabilitationsvernichtungsgesetz sofort zurücknehmen.
Mit dem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz hat die Koalition die Zuzahlungen zum 1. Januar um 1 DM erhöht. Für Arzneimittel heißt das ab 1. Januar: statt 3, 5 oder 7 DM nunmehr 4, 6 oder 8 DM. Mit dem heutigen Gesetz kommen noch einmal 5 DM hinzu.
Binnen eines halben Jahres sind also aus 3, 5 und 7 DM nun 9, 11 und 13 DM geworden. „Zuzahlungserhöhung" nennt das die Regierung.
Die Wahrheit ist schlichter, meine Damen und Herren: Je nach Packungsgröße müssen die Versicherten zukünftig 20 bis 40 Prozent der Arzneimittelverordnungen aus der eigenen Tasche zahlen.
- Herr Lohmann, ich sage Ihnen: Um des Machterhaltes willens haben Sie und mit Ihnen die Volksparteien CDU und CSU der Klientelpartei F.D.P. unsere Gesundheitspolitik zum ideologischen Fraß vorgeworfen. Damit das klar ist!
Die Gesamtbelastung der Versicherten durch Selbstbeteiligung wird von 13,3 Milliarden DM in 1995 auf 20 Milliarden DM Anfang 1998 gestiegen sein - wenn nicht noch Schlimmeres dazukommt. 20 Milliarden DM allein für die Versicherten, das sind fast 10 Prozent der Kasseneinnahmen.
Wie sagte doch Herr Möllemann? Ihm sei gleichgültig, ob man die hälftige Beitragszahlung der Arbeitgeber abschaffe oder die Zuzahlung erhöhe; das komme letztlich auf das gleiche hinaus. Recht hat er.
Ob Sie aus einer Lastenverteilung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern von 50 : 50 unmittelbar 60:40 machen oder mittelbar durch Erhöhung der Selbstbeteiligung, ist am Ende wirklich piepegal. Es hat nur einen Haken: Diese Zuzahlungen von Ihnen zahlen ausschließlich Kranke.
Herr Geißler, Herr Eppelmann und Herr Vogt, dem wollen Sie also heute zustimmen, weil Sie doch angeblich die Verschiebung der Beitragslast verhindert haben? Daß ich nicht lache! Nichts haben Sie verhindert. Sie haben ein Alibi gefunden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das ist aber auch schon alles. Wenn Sie es mir nicht glauben, Herr Geißler: Gehen Sie zu Ihrem Kollegen Möllemann. Er sitzt neben Ihnen. Er wird Ihnen erklären, daß diese Lastenverteilung, die Sie vorgeblich bekämpft haben, von ihm durchgesetzt, heute ein Faktum sein wird.
Aber es soll noch weitergehen. Zukünftig gilt: Wenn eine Krankenkasse den Beitragssatz erhöhen muß, muß sie zugleich auch die Selbstbeteiligung erhöhen. Je 0,1 Prozentpunkt zieht eine Erhöhung der Selbstbeteiligung um eine weitere Mark bzw. 1 Prozent nach sich. Wenn wahr ist, was uns allen die Krankenkassenmanager vorgerechnet haben, dann ist damit zu rechnen, daß im Laufe des Jahres flächendeckend Beitragssatzerhöhungen von durch-
Rudolf Dreßler
schnittlich 0,5 Prozentpunkten erforderlich sein werden -
nicht zuletzt wegen der von der Regierung aufgehobenen Ausgabenlimitierung -, dann werden die Selbstbeteiligungen bei Arzneimitteln statt bei 9, 11 und 13 DM bei 14, 16 oder 18 DM liegen. Das bedeutet nichts anderes als die Botschaft der Regierung an die Versicherten: Liebe Leute, kauft euch die Medikamente doch gleich selber!
Nun höre ich die Einwände der Koalition: Härtefallregelung. Die schützt vor Überforderung. Ich gestehe Ihnen: Damit bin ich bei meinem Lieblingsthema.
Nehmen wir einmal die Familie X aus Z: ein DreiPersonen-Haushalt mit einem Alleinverdiener mit einem Jahresbruttoeinkommen von 70 000 DM. Ich nenne bewußt diese Höhe, damit Herr Lohmann noch mitkommt.
Nach Abzug der Anrechnungsbeträge für die Mitversicherten verbleibt bei Anwendung der gesetzlich vorgesehenen 2-Prozent-Überforderungsklausel, die als Bestandteil des Gesundheits-Reformgesetzes von 1989 gegen die SPD zustande kam - damit Herr Lohmann von der CDU/CSU in der Öffentlichkeit nicht ständig Quark erzählt -, ein zuzahlungspflichtiger Betrag von 1 152,20 DM. Ich stelle klar: Diese Familie muß erst 1 152,20 DM an Selbstbeteiligung leisten, bevor sie vom Rest befreit wird.
Man kann das, bezogen auf eine Arzneimittelselbstbeteiligung von 9 DM für die kleinste Packung, auch anders ausdrücken: 1 152,20 DM entsprechen 128 Arzneimittelverordnungen à 9 DM im Jahr oder rund 10 Packungen im Monat. Man stelle sich nun vor: Zehn Arzneimittelpackungen pro Monat verbrauchen und zuzahlen, dann ist die elfte Packung frei. Man muß kein Pharmakologe sein, um zu wissen: Bevor Herr Seehofer einen Kranken in dieser Familie von der Zuzahlung befreit, liegt der Betreffende mit einer Arzneimittelvergiftung auf der Intensivstation. Die elfte Verordnung, für die er befreit würde, braucht er dann allerdings nicht mehr.
Für chronisch Kranke sieht es kaum besser aus. Selbst im zweiten Jahr der Erkrankung, in dem die Überforderungsklausel nach Vorstellung der Koalition von 2 auf 1 Prozent halbiert werden soll, bedeutet das im gleichen Beispiel bei der Verordnung von Großpackungen - das sind übrigens in der Regel 50 bis 100 Tabletten oder mehr -: Zu 44 Verordnungen im Jahr muß er 13 DM zuzahlen, dann ist die 45. Verordnung frei. Das sind 200 bis 400 Tabletten im Monat. Auch hier gilt: Ehe zum Beispiel ein Diabetiker bei dieser Beispielsfamilie befreit würde, liegt er zuvor im diabetischen Koma.
Renommieren Sie von CDU/CSU und F.D.P. also nicht mit Ihrer Härtefallregelung. Diese Härtefallregelung belegt nur eines: Härtefallregelungen benötigt derjenige, der seine Gesetze erst mit Härten schafft. Wenn er solche Extremklauseln kreiert, wie die, die derzeit im Gesetzentwurf stehen, beweist er lediglich, daß er die von Ihnen geschaffenen Härten noch nicht einmal beseitigen will.
Herr Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lohmann?
Herr Lohmann, Sie haben ein merkwürdiges Parlamentsverständnis. Vorhin hat ein Kollege meiner Fraktion von Ihnen eine Zwischenfrage erbeten. Diese haben Sie abgelehnt. Jetzt kommen Sie hier an und wollen eine Zwischenfrage stellen. Ich sage Ihnen: Zahn um Zahn. Sie bekommen keine Zwischenfrage, weil auch Sie keine zugelassen haben.
Angesichts der schlimmen sozialen Auswirkungen, die das heute zur Beratung anstehende Gesetz im Gesundheitswesen hat, angesichts der gezielten gesellschaftlichen Entsolidarisierung, die von ihm ausgeht, ist ein Nein der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion dazu Pflicht. Ich erinnere uns: Was sagte Herr Seehofer am 27. Mai 1995 vor dem Apothekertag?
An der packungsabhängigen Zuzahlung von 3, 5 und 7 DM bleibt es. Ich
- Seehofer -
bin entschieden dagegen, für kranke Menschen eine noch höhere Selbstbeteiligung vorzusehen.
Herr Seehofer, seit heute wissen wir endgültig: Es gilt das gebrochene Wort.
Diese Regierung will eine Steuerreform, die in erster Linie Unternehmern, Selbständigen und Großverdienern finanzielle Entlastungen bringt; sie will eine Rentenreform, die insbesondere für die jüngere Generation bei höheren Beiträgen zu sinkenden Rentenansprüchen führt; sie will eine Gesundheitsreform, die zuallererst Kranke belastet und die Unwirtschaftlichkeit fördert.
Rudolf Dreßler
Ich lese in einer anderen Tageszeitung - ich will Ihnen das zum Schluß nicht vorenthalten - in einem Kommentar folgende Stelle:
Horst Seehofer hat einmal beklagt,
- das war erst kürzlich, Herr Lohmann; vielleicht war das auf Sie gemünzt -
daß die Feigheit zum ständigen Begleiter der Berufspolitiker geworden sei.
Immer häufiger werde gefragt, ob Entscheidungen Widerstände hervorrufen könnten, und immer weniger, ob die Entscheidung zur Lösung von Problemen beitrage. Mittlerweile spricht Seehofer aus eigener Erfahrung.
Dies alles zeigt: Die Umverteilung von unten nach oben ist in vollem Gange. Dies zeigt aber auch: Dieses Land braucht endlich eine neue Regierung.
Als nächste spricht die Abgeordnete Monika Knoche.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Herr Seehofer! Es gibt einen Grundsatz in der bundesdeutschen politischen Kultur, der lautet: Wer das System abschaffen will, muß nachweisen, daß es nicht reformierbar ist. Diesen Nachweis können Sie nicht erbringen.
Sie sind zur systematischen Demontage des deutschen Gesundheitswesens übergegangen und drükken sich davor, die Wahrheit zu sagen. Sie wollen vernebeln, verstecken, verharmlosen. Es ist bedauerlich, aber das Wort „Gesundheitsreform" ist zum Unwort des Jahres degeneriert.
Es ist doch ein bitterer, ja ein böser Hohn, wenn Sie dieses desaströse Gesetzeskonvolut auch noch als „Maßnahme zur Kostendämpfung" bezeichnen - kein Pfennig wird gespart; alles wird teurer, und es wird schlechter. Für wie unpolitisch halten Sie die
Menschen, daß Sie sich anmaßen, noch von Reformen zu reden?
Aber was ich nachgerade perfide finde, ist, daß Sie für die Pharmabranche 5 Milliarden DM Kollekte von den Kranken abkassieren,
und das, Herr Zöller, von einem Minister, der noch vor einem Jahr gesagt hat - man kann es nicht oft genug wiederholen -: Mit mir wird es keine weiteren Zuzahlungen geben. Manchmal mag ich nicht mehr nach Worten suchen, die die Arroganz und die soziale Ignoranz beschreiben. Ich finde auch keine für die Munterkeit, die ein Herr Lohmann hier zeigt, wenn er den Menschen die Gleichstellung, die Sicherheit und das Vertrauen in das Gesundheitswesen nimmt.
Ich vertraue darauf, daß die Bevölkerung verteidigen wird, was den inneren Zusammenhalt, die Zukunft der zivilen Gesellschaft ausmacht: Es ist die Sozialstaatlichkeit, und es ist die Gerechtigkeit.
Wenn von dieser Regierung einem neuen Egoismus das Wort geredet wird, wenn das Solidarsystem nicht nur ideologisch angegriffen, sondern auch materiell erodiert wird, dann sind das hochpolitische Vorgänge; dann ist das nicht nur eine Frage der Gesundheitspolitik, sondern dann geht es an das Gesellschaftsverständnis.
Am Gesundheitswesen wird derzeit ein Exempel statuiert. Das ist doch die Dramatik.
Ich mahne bei der Regierung nicht etwas an, was sie in einer außergewöhnlichen Richtungsentscheidung einvernehmlich aufgegeben hat. Sie hat etwas Wichtiges aufgegeben: ihr soziales Gewissen.
Letzte Woche verkündete der Minister die Zustimmung zum Ausstieg aus der Parität. Die Koppelung von Zuzahlungen und Beitragserhöhungen und die weitere Zuzahlung um 5 DM, das ist de facto der Sieg der Arbeitgeberlobby in dieser Regierung. Die
Monika Knoche
neue Beitragsarithmetik lautet: ein Drittel Arbeitgeber, zwei Drittel Versicherte.
Früh haben wir Grüne gesagt: Wer sich immer an den gleichen, falschen ökonomischen Prämissen im Gesundheitswesen orientiert, der läuft Gefahr, sich an einem Paradigmenwechsel zu beteiligen. So ist es jetzt innerhalb der CDU/CSU gekommen. Das Schlimme ist, daß es dort keine Aufrechten mehr gibt, die den Systembruch nicht mitmachen. Das ist die fundamentale Glaubwürdigkeitskrise der CDU/ CSU. Es gibt noch einige alte Sozialpolitiker, die das sehr genau wissen.
Natürlich braucht das Gesundheitswesen Reformen. Aber die gibt es nur auf der Basis des ungeteilten Sachleistungsprinzips. Das haben Sie aufgekündigt. Ohne zukunftsweisende solidarische Finanzierungssubstanz sind keine Reformen zu machen. Die Stabilität könnten wir trotz der Krise haben: durch Verbreiterung der Basis der Versicherungspflicht, durch Rücknahme von Pharma- und Ärztebegünstigungen.
Wir brauchen in der Tat mehr Vorsorge, mehr Patientinnen- und Patientenrechte, mehr psychosomatische Medizin, mehr Transparenz. Aber das erreichen Sie mit Ihren Gesetzen nicht. Sie verhindern das sogar. Alle Reformen lassen sich überhaupt nur auf der festen Basis des Solidarprinzips durchsetzen. Sie können den Begriff der Reformpolitik mit Lauterkeit und mit Ehrlichkeit überhaupt nicht mehr in den Mund nehmen, weil Sie das System verlassen.
Obendrein streichen Sie in der Basisversorgung und reden von Hochleistungsmedizin, als sei die die alleinige Zukunft der Gesundheitspolitik.
- Ich will sie ihnen nicht nehmen. Aber, Herr Lohmann, Gesundheitspolitik ist ein bißchen mehr und ein bißchen was anderes als die Sicherung von hochtechnologischen Leistungen. Dazu gehört auch Prävention, dazu gehört auch Rehabilitation.
Außerdem ist es, denke ich, wichtig zu sagen: Der politische Skandal ist die sinkende Lohnquote und nicht die daraus resultierenden Defizite.
Es ist ungeheuerlich, was ich in den letzten Tagen
gelesen habe: Sie beklagen die Ausgabensteigerung
in den neuen Ländern. Wollen Sie die 20 Millionen
Menschen nicht? Dann müssen Sie sagen: Die Angleichung im Osten darf nichts kosten.
Ihre Finanzierungsmethode lautet: die Einnahmeausfälle der Kassen erhöhen und die Arbeitgeber aus der Solidarpflicht entlassen. Abkassiert wird bei den Kranken. Wer so handelt, meine Damen und Herren, ist moralisch und politisch bankrott.
Wer trotz bekannter Konsolidierungsmöglichkeiten alle Reformoptionen sausen läßt, der will dem Wesen nach eine andere Republik, der will diese nicht halten.
Das Tabu der Beitragshälftigkeit ist gebrochen. Die Rufe waren laut. Es waren viele. Sie haben gewonnen. Mit „In-die-Ecke-Besen" ist's nicht gewesen. Das wissen auch Herr Geißler und Herr Fink ganz genau. Es ist die CDU/CSU höchstselbst, die mit dem Neuordnungsgesetz die Richtungswende vollzieht, und zwar indem sie den Kern der sozialen Marktwirtschaft, die beitragshälftige Finanzierung, aufgibt.
Eine Waffengleichheit im Kassenwettbewerb wird es jetzt weniger geben denn je. Jede Kasse wird sich hüten müssen, wirklich Kranke oder Geringverdienende zu umwerben.
Nahezu 8 Millionen Menschen werden unter diese Härtefallregelung fallen.
Diese 8 Millionen Menschen in der gesetzlichen Krankenversicherung werden zum finanziellen Risiko der Krankenkassen werden.
Es wird für sie zum Problem werden, weil die Wettbewerbsmechanismen so wirken, daß mit immer weiteren Beitragssatzerhöhungen, immer weiteren Zuzahlungen die gesetzlichen Kassen gerade für freiwillig Versicherte immer unattraktiver werden. Sie werden sich fragen: Bin ich denn blöde, so viel Geld zu zahlen, so hohe Beitragssätze in Kauf zu nehmen,
Monika Knoche
wenn ich mit immer höheren Zuzahlungen bestraft werde?
Dieses Prinzip macht doch die Solidarität unattraktiv.
Das ist der Kern dessen, was auch Herr Schäuble meint, wenn er die Solidarkassen als „Zwangssysteme" denunziert. Er predigt doch den neuen Egoismus. Er predigt die Aufkündigung der Solidarität zwischen Jungen und Alten, Besserverdienenden und Ärmeren. Hier handelt es sich nicht nur um ein ideologisches Konstrukt, es handelt sich auch um eine neue Definition von Staatlichkeit.
Ob beim 1. NOG oder beim 2. NOG, ob mit neuen Kostenerstattungen, mit Beitragsrückgewähr, mit Selbstkostenbeteiligungen - überall werden Kassenleistungen, neuerdings auch in der Kiefer- und Zahnmedizin, zu immer größeren Teilen allein privat finanziert werden müssen.
Sie nehmen den gesetzlich Versicherten den Schutz, die Qualitätssicherung und die Kostenkontrolle in einem gesamten medizinischen Bereich, nämlich bei der Zahnversorgung, weg. Was, bitte sehr, hat das noch mit dem Sinngehalt des Sozialgesetzbuches V zu tun? Nichts. Sie brechen auch hier fundamental mit dem Prinzip der Sachleistungsgewähr.
Das läuft nach dem Motto - das war die Taktik der letzten Monate -: Wir streuen jede Woche ein anderes Gesetz in die Welt und schauen dann, wie die Bevölkerung reagiert. Man hat die Bevölkerung zum Testobjekt gemacht und ihr das Vertrauen in die Gesundheitspolitik genommen.
Natürlich wird es sie sehr viel schlimmer treffen. Aber das Schlimme ist, daß etwas in der Gesellschaft selber verlorengeht, was sie für die Zukunft fest zusammenhalten würde, nämlich der Glaube daran, daß sich Solidarität lohnt. Diesen Glauben nehmen Sie ihnen.
Wovon Herr Dreßler gesprochen hat, war sehr schön dargestellt. Deshalb brauche ich das nicht zu vertiefen. Aber es ist, so denke ich, an dieser Stelle schon angebracht zu sagen: Angesichts der Entwicklung, der vorgelegten Gesetzentwürfe und ihrer Wirkungen wäre es heute schon aus Selbstachtung angebracht, daß Herr Minister Seehofer sein Scheitern als Fachminister eingesteht. Aber das setzte voraus, daß da noch ein Fünkchen politische Moral glimmt.
Wir haben es hier doch wirklich mit einem wendehälsischen Machtopportunismus zu tun. Mich schaudert es vor der Schamlosigkeit und der Geschwindigkeit, mit der Sie der Gesellschaft die Sozialstaatlichkeit entziehen.
Noch ein Wort zum Schluß: Realität ist ja - das nehmen Sie bei Ihrer falschen Fiktion auf die Entwicklung der Lohnnebenkosten und die Beitragssatzstabilität nicht gern zur Kenntnis, und Sie verbreiten es auch nicht -, daß die Sozialabgabenquote der Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt nicht größer ist als in anderen europäischen Ländern.
Es ist eine Fiktion. Wir haben ein System, das sich frei von Steuerfinanzierung hält und aus diesem Grunde über die Lohnnebenkosten finanziert wird. Das heißt aber nicht, daß die Arbeitgeber im Proporz übermäßig befrachtet werden.
Das Problem ist doch, daß Sie die Steigerung der Kosten zum Anlaß nehmen, aus dem System auszusteigen, anstatt dafür zu sorgen, daß das Solidarsystem stabilisiert wird. Sie können es stabilisieren, indem Sie die Basis der Versicherungspflicht verbreitern. Sie haben eine Menge Möglichkeiten, dieses System zukunftsfähig fortzuschreiben. Aber es fehlt der Wille. Sie haben nicht mehr den Mut, Wahrheiten zu sagen. Und - da bin ich mir sehr sicher - Sie haben vor allen Dingen eines: Angst vor dem Verlust Ihrer Macht. Diese Angst, meine Herren, ist berechtigt.
Der nächste Redner ist der Abgeordnete Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die wirtschaftliche Situation in unserem Lande zwingt uns dazu, uns
Dr. Dieter Thomae
mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Systeme der sozialen Sicherung unverändert Bestand haben. Die hohe Arbeitslosigkeit, die sinkende Lohnquote und die schwierige Stellung der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb sind Faktoren, über die man nicht hinwegschauen kann.
Die Deutsche Bundesbank schreibt in ihrem jüngsten Monatsbericht, daß 1996 per Saldo 47 Milliarden DM an Kapital ins Ausland geflossen sind. Es nützt überhaupt nichts, davor die Augen zu verschließen. Wir müssen jetzt die Reformen anpacken.
Mit den beiden GKV-Neuordnungsgesetzen nimmt die Koalition die Reform im Gesundheitsbereich wieder in Angriff. Es ist unbestreitbar, daß ein früherer Zeitpunkt sehr viel besser für die Reformmaßnahmen gewesen wäre. Deshalb rufe ich kurz in Erinnerung, daß die Koalition mit dem KrankenhausNeuordnungsgesetz und dem GKV-Weiterentwicklungsgesetz genau dies bereits vor langer Zeit beabsichtigt hatte.
Die Blockadehaltung der SPD im Bundesrat hat dazu geführt, daß diese Gesetzgebung nicht erfolgt ist.
Nicht nur das: Jetzt waren wir auf Grund dieser Haltung gezwungen, ein zustimmungsfreies Paket auf den Weg zu bringen. Kritiker haben natürlich nicht ganz unrecht, wenn sie sagen, daß hierdurch einige Maßnahmen nicht umgesetzt werden, die dem Gesundheitswesen sehr gut bekommen wären.
Ich nenne beispielsweise den Krankenhausbereich: die Ausweitung der Planungskompetenz der Krankenkassen und die Stärkung des Wettbewerbs der Krankenhäuser. Bei der Beitragsgestaltung hätten wir von seiten der F.D.P. auch mit dem Mechanismus leben können, daß Beitragssatzerhöhungen eine Zweidrittelmehrheit in der Selbstverwaltung erforderlich gemacht hätten. Aber das haben Sie abgelehnt.
Das 2. GKV-Neuordnungsgesetz wird also zustimmungsfrei gestaltet; denn sonst wäre ein erneutes Scheitern im Bundesrat zu erwarten gewesen, oder wir hätten uns dem Diktat der SPD beugen müssen.
Das wollen wir nicht.
Was will die SPD in ihrem großen Reformwerk? Sie spricht von Globalbudgets, sie spricht von Beibehaltung des Budgets im zahnärztlichen Bereich. Sie spricht vom Einkaufsmodell und von der Positivliste, und sie will die Krankenhäuser als Institutionen öffnen.
Ich kann Ihnen nur empfehlen, in die skandinavischen Länder zu fahren und sich dort mit Ihren Parteikollegen über diese Maßnahmen zu unterhalten. Sie sind in diesen Ländern gescheitert. Wir können diese Modelle nicht übernehmen.
Für diese Koalition ist klar: Wir nehmen endlich von der dirigistischen Kostendämpfungspolitik, von Budgetierungen, von staatlichen Preisverordnungen und von der Listenmedizin Abschied. Sie sind Hemmschuhe für unser Gesundheitswesen. Wir wollen unser System durch neue Maßnahmen vitalisieren. Wir wollen von der Budgetierung weg, weil sie zur Rationierung von Gesundheitsleistungen führt.
Wir wollen in der Tat einen Wechsel, wir wollen hin zu mehr Verantwortung im Gesundheitswesen.
Ich war erstaunt, zu hören, daß die SPD das Stichwort Leistungsausgrenzung in diesem Zusammenhang in den Mund genommen hat. Diese Koalition will keine Leistungsausgrenzung.
Das ist eine hundertprozentige Selbstbeteiligung. Wir wollen eine vernünftige, verantwortungsbewußte Selbstbeteiligung einführen.
Die Vorschläge der SPD, die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen, bedeuten, wenn man es realistisch betrachtet, eine stärkere Belastung der Lohnzusatzkosten.
Das kann kein Vernünftiger unter uns wirklich wollen, wenn er die Arbeitslosen in Deutschland vor Augen hat.
Die Problematik der Abwanderung der Unternehmen darf in Deutschland nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Es sind nicht nur die Großunternehmen, es sind mittlerweile auch die mittleren, aber auch die Kleinunternehmen, die auf Grund der Lohnzusatzkosten ins angrenzende Ausland gehen.
Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie glauben, Sie brauchten im sozialen Bereich nichts zu unternehmen. Der Bundespräsident ist ebenfalls der Meinung: Die Eigenverantwortung muß in diesem Be-
Dr. Dieter Thomae
reich gestärkt werden. - Wir werden diesen Weg in der Koalition konsequent gehen.
Wir sagen den Bürgern: Die Medizin ist in Zukunft nicht zum Nulltarif zu haben.
Wir sagen ihnen aber auch: Sie bekommen jede medizinische Leistung, die notwendig ist. Aber bei der Medizin, bei der es verantwortbar ist, muß eine Eigenbeteiligung erfolgen - unter Beachtung der Härtefallregelung und der Überforderungsregelung.
Meine Damen und Herren, zu dieser Härtefall- und dieser Überforderungsregelung möchte ich noch einmal sehr deutlich sagen: Kinder sind von Zuzahlungen generell ausgenommen. Sie werden nicht in die Härtefallregelung einbezogen. Ich möchte, daß die Opposition dies beachtet.
Zuzahlungen sind für mich nicht in erster Linie ein Finanzierungsinstrument.
Sie sind für mich ein Lenkungsmittel. Sie machen dem einzelnen bewußt, daß die Gesundheitsleistung kein freies Gut ist. Sie fördern die verantwortungsbewußte Inanspruchnahme. Dabei ist das Gerede von der Zweiklassenmedizin, die Parole „Weil du arm bist, mußt du früher sterben", in meinen Augen inhaltsleere Ideologie.
Durch Härtefallregelungen und Überforderungsregelungen stellen wir sicher, daß keiner überfordert wird. Die Bedingungen im Hinblick auf chronisch Kranke haben wir in diesem Reformwerk noch verbessert. Auch dies bitte ich zu beachten.
Wenn dennoch von Zweiklassenmedizin geredet wird, dann wird hier bewußt die Unwahrheit gesagt.
Im übrigen bin ich der festen Überzeugung, daß die
schleichende Rationierung durch Listenmedizin und
Budgetierungen viel stärker zu einer Ungleichheit in der medizinischen Versorgung führt.
Meine Damen und Herren, wir wollen mehr Transparenz in diesem System. Dazu gibt es zwei Instrumente: erstens die Kostenerstattung, die ganz wichtig ist, damit der Bürger weiß, welche Leistung erbracht wird, und zweitens die Information, daß also der Bürger über die Leistungen der Ärzte, der Zahnärzte und der Krankenhäuser informiert wird. Die Bürger sollen die Information obligatorisch bekommen. Damit wird das System transparenter.
Daneben plädiert die Koalition aber auch für Selbstbehalt, für Beitragsrückgewähr und Zuzahlungen.
Dies sind ebenfalls Instrumente, um das System flexibler zu machen.
Jetzt, meine Damen und Herren, will ich Ihnen eine Antwort auf Ihre Vorwürfe geben, wir würden die Wirtschaftlichkeitsreserven nicht nutzen. Ich möchte Ihnen wirklich empfehlen, hierzu unseren Gesetzentwurf in Ruhe durchzulesen.
Wir haben erstens die Strukturverträge. Was beinhalten die Strukturverträge anderes als die Möglichkeit, Wirtschaftlichkeitsreserven aufzudecken? Strukturverträge sind unter Einbeziehung der Ärzteschaft und allen veranlaßten Leistungserbringern möglich. Mit diesen Maßnahmen werden wir Wirtschaftlichkeitsreserven aufdecken.
Ein zweiter Bereich sind die Modellversuche. Es gibt jetzt in allen Bereichen die Chance, Modellversuche durchzuführen. Wir wissen, daß durch Modellversuche, die wir in Berlin, in Rendsburg und in anderen Bereichen möglich gemacht haben, Wirtschaftlichkeitsreserven schon heute aufgedeckt werden - in Berlin durch eine Maßnahme 700 Millionen DM in einem Jahr. Diesen Weg eröffnet die Koalition. Ich kann Sie nur auffordern, diesen Weg mitzugehen.
Meine Damen und Herren, neben den Strukturverträgen und neben den Modellversuchen haben wir die Gestaltungsmöglichkeiten in gewissen Bereichen erweitert. Sie bleiben Regelleistungen. Aber in der häuslichen Krankenpflege, im Kur- und Rehabereich und im Bereich der Heilmittelerbringer werden wir Gestaltungsspielräume schaffen. Im Benehmen zwischen Ärzteschaft und Krankenkassen werden die Indikationen festgelegt. Dann werden die Spitzenverbände der Krankenkassen mit den Verbänden der Erbringer dieser Leistungen Rahmenempfehlungen formulieren und vereinbaren. Ich denke, damit
Dr. Dieter Thomae
haben wir das Partnerschaftsmodell wirklich realisiert. Es ist das Kennzeichen einer Selbstverwaltung, daß die Partner an einen Tisch gebracht werden.
Im Zusammenhang mit dem Kur- und Rehabereich noch eine Bemerkung: Die Spitzenverbände werden in Zukunft die Chance haben, unter Hinzuziehung des medizinischen Sachverstandes des Medizinischen Dienstes weitere Krankheitsbilder zu beschreiben, bei denen die geringere Zuzahlung gilt. Das ist eine wesentliche Verbesserung in diesem Bereich.
Jetzt, meine Damen und Herren, denke ich, kommt der entscheidende Schritt in diesem Reformwerk: Wo bisher eine dirigistische Kostendämpfung zu Unsicherheit, Lähmung der Leistungsbereitschaft und schleichendem Qualitätsverlust führte, da schaffen wir neue Rahmenbedingungen. Ich nenne nur fünf Bereiche: Das ist erstens der Arzneimittelbereich, das Arzneimittelbudget; das ist zweitens die neue Honorarordnung der Ärzte; das ist drittens die Abschaffung des Budgets im Krankenhaus; das ist viertens der Bereich Zahnärzte; fünftens wird diese Koalition Leistungen verbessern, Stichwort Hospiz, Stichwort Implantate. Das sind die fünf Bereiche. Dazu möchte ich einige kurze Bemerkungen machen.
Die Ministerin von Brandenburg wettert gegen das Arzneimittelbudget. Bei Veranstaltungen lehnt sie es als unverantwortlich und unverständlich ab.
Was macht die Koalition? Sie schafft Richtgrößen. Richtgrößen sind individuell facharztbezogen. Ich bin der Überzeugung, daß die Ausgaben für Arzneimittel durch diese Maßnahme nicht steigen, weil hier im Gegensatz zur Kollektivhaftung beim Arzneimittelbudget eine Individualhaftung gegeben ist. Wir werden mit den Richtgrößen feiner steuern können als mit dem Arzneimittelbudget.
Ich habe kein Verständnis dafür, daß die Krankenkassen sagen, jetzt würden die Ausgaben für Arzneimittel erheblich ansteigen. Meine Damen und Herren, Sie wissen selber, daß die Ausgaben für Arzneimittel seit 1992 nicht angestiegen sind. Sie wissen selber, meine Damen und Herren, daß wir bei den Preisen in Europa nicht mehr an der Spitze, sondern im Mittelfeld liegen. Ich habe kein Verständnis für diese Vorwürfe.
Ein ganz wichtiger Punkt ist die neue Honorarordnung der Ärzte. In den Augen der Koalition kann es nicht so sein, daß der Arzt, wenn er eine Leistung erbringt, nicht weiß, welches Honorar er dafür bekommt.
Weil das heute aber so ist, gibt es einen Hamsterradeffekt gerade in diesem Bereich. Die Ärzte versuchen, das Absinken der Honorare durch immer mehr
Patientenbehandlungen zu kompensieren. Das kann doch wohl nicht sinnvoll sein.
Wir wollen den Ärzten jetzt prospektiv für ein Jahr im voraus sagen, was sie für ihre Leistung bekommen. Im Gegensatz zu den Vorwürfen werden Ärzte und Krankenkassen an einem Tisch sitzen und vereinbaren, wie die Höhe der Honorare und wie die Abstaffelung am Ende eines Jahres aussehen, wenn die vereinbarte Menge fallzahlbezogen überschritten wird. Aber der Arzt kann jetzt für ein Jahr planen und ist nicht im Ungewissen, welches Einkommen er bekommt.
Die Koalition hat noch ein Weiteres gemacht, das ich für außerordentlich wichtig halte: Die Abstaffelung soll nicht bei Nacht- und Wochenenddiensten und ebenfalls nicht im Bereich des ambulanten Operierens gelten. Ich bin sicher, daß die Selbstverwaltung hier noch weitere Ausnahmen aufgreift. Unser Problem ist nämlich: Wir haben am Wochenende zu viele Einweisungen ins Krankenhaus. Das sind erhebliche Belastungen für das bestehende System. Wenn wir die Honorare vernünftig gestalten, können wir hier erhebliche Einsparungen erzielen.
Ein letzter Punkt zu diesem Bereich: Die Prophylaxe durch die Zahnärzte wird verstärkt. Da gab es noch gewisse Lücken.
Wir müssen aber auch ehrlicherweise sagen: Durch prophylaktische Maßnahmen haben wir in Deutschland in den letzten Jahren ein Niveau erreicht, das wir vor acht Jahren nicht vermutet hätten. Unser Niveau liegt heute gleichauf mit dem der Schweiz. Von daher werden wir den Zahnersatz neu ordnen. Wir werden Festzuschüsse vorschreiben. Typische Versorgungsformen und die entsprechende Höhe der Festzuschüsse werden festgelegt. Es wird nicht mehr passieren - das empfand ich immer als ungerecht -, daß derjenige, der sich den teuersten Zahnersatz ausgewählt hat, die höchsten Zuschüsse von der Krankenkasse bekam. Das ist unsozial.
Ein letzter Punkt betrifft das Krankenhaus. Sie, meine Damen und Herren, träumen auch im Krankenhaus von der Budgetierung.
Welche Erfahrungen haben wir mit der Krankenhausbudgetierung gemacht? In den letzten Wochen und Monaten sind wir in einigen Bereichen im Krankenhaus, insbesondere bei gewissen Operationen, an die Grenze der Rationierung gekommen; das wollen wir ehrlicherweise bekennen. Wir wollen das nicht. Wir wollen, daß die Krankenkassen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft ein Gesamtvolumen vereinbaren. Dies wird auf die Landesebene
Dr. Dieter Thomae
heruntergebrochen, und dann werden Verhandlungen mit den einzelnen Krankenhäusern durchgeführt.
Jedes Krankenhaus wird dann so individuell behandelt, wie es notwendig ist. Das Volumen eines einzelnen Krankenhauses kann gekürzt werden, kann aber auch erweitert werden, wenn sich das Leistungsspektrum ändert. Ich bin froh, daß wir diesen Weg gegangen sind. Es ist nämlich der Weg, der sich an den Bedürfnissen der Patienten orientiert.
Auch der Personaleinsatz kann nicht global von der höchsten Ebene geregelt werden. Nein, jedes Krankenhaus soll festlegen, in welchem Umfang es Personal einsetzt.
Ich hatte schon gesagt, daß wir im Hospizbereich Verbesserungen herbeigeführt haben. Wir haben dort nach der Devise gehandelt: Umschichtungen zugunsten wirklich notwendiger Maßnahmen und Behandlungen, die den einzelnen überfordern. Ich meine, daß wir hier ein sozialpolitisches Anliegen realisiert haben. Die Hospize werden also für unheilbar Kranke in der letzten Lebensphase mehr finanzielle Mittel bekommen, damit sie ihre Aufgaben wahrnehmen können. Das ist ein Erfolg.
Ein zweiter wichtiger Punkt hierbei: Wir haben als Sonderfall Implantate in den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen, wenn Krankheitsbilder oder Unfälle diese notwendig machen. Auch das ist ein Erfolg vernünftiger Überlegungen der Koalition, hier Ausnahmeregelungen festzulegen.
Ich sage noch einmal in aller Ruhe sehr deutlich:
Es gibt keine Alternative zu diesem Konzept.
Andernfalls würden wir budgetieren und rationieren. Das können wir der deutschen Bevölkerung nicht zumuten.
Wir muten den Menschen zu, für gewisse Leistungen Eigenverantwortung zu übernehmen.
Wir werden neue Steuerungselemente im Wettbewerb einführen. Wir werden die soziale Marktwirtschaft stabilisieren und an ihr festhalten. Wir werden den Krankenkassen mehr Freiheit geben. Aber die Eigenverantwortung ist ebenfalls gefragt.
Ich sage als Liberaler jetzt sehr deutlich:
Mit den heutigen Beschlußfassungen zu diesem Gesetz gehen wir einen wichtigen Schritt. Ich sage dies in voller Kenntnis unserer Verantwortung. Wir befreien uns mit diesem Gesetz endlich von den Fesseln der Planwirtschaft.
Ich möchte die Debatte fortsetzen. Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter Kollege Thomae, im Gegensatz zu Ihnen sind wir schon der Meinung, daß es eine Alternative für dieses System geben könnte. Wir brauchen nur einmal die Inhalte der vorliegenden Entschließungsanträge durchzuschauen, um festzustellen, daß dort eine Alternative gezeigt ist. Es gibt von der SPD und den Grünen auch andere Vorschläge, die wesentlich weiterreichende Alternativen aufzeigen.
Ich glaube, wir können über diesen Gesetzentwurf noch lange diskutieren, ohne daß wir auf beiden Seiten zu einer einheitlichen Meinung zu den vorliegenden Anträgen kommen können.
Im Gegensatz zu Ihnen auf der Koalitionsseite bin ich der Meinung, daß dieses Gesetz zur Fortführung der dritten Stufe der Gesundheitsreform auf keines der grundlegenden Probleme des Gesundheitswesens eine adäquate Antwort gibt. Noch schlimmer: Es verschlechtert sogar die bestehende Situation in gravierender Weise. Es greift bekanntlich in einen Bereich ein, in dem es um die Hilfe für erkrankte Menschen geht und in dem der einzelne oft ganz besonders auf die Solidarität und Fürsorge der Gesellschaft angewiesen ist.
Ausgerechnet dieses Gesetz wird nun von der Koalition zu einem neuen Anschlag auf den Sozialstaat, auf die soziale Gerechtigkeit und auf den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft mißbraucht. Es wird, wenn es nicht noch aufgehalten werden kann, die ohnehin schon fortgeschrittene soziale Polarisierung weiter vertiefen.
Zugleich demonstriert die Koalition, daß sie auch auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik die Fähigkeit verloren hat, die Geschicke des Landes zum Nutzen der Menschen politisch zu gestalten. So erklärte sie bis vor kurzem noch, das Ziel bestünde darin, über mehr Wirtschaftlichkeit zu Beitragsstabilität zu kommen. Davon findet sich jetzt im vorliegenden Gesetzentwurf nichts mehr.
Dr. Ruth Fuchs
Ein weiterer Punkt. Was ist beispielsweise von all den Bekundungen übriggeblieben, nach denen die Selbstverwaltungen gestärkt werden sollten, damit sie aus sich heraus zu rationelleren Versorgungs- und Vergütungsformen finden könnten? Statt dessen wird den Krankenkassen ein äußerst primitiver Druck- und Erpressungsmechanismus verordnet, der sie zwingen soll, ihre Defizite mit Hilfe ständiger Leistungseinschränkungen und weiterer Zuzahlungserhöhungen aus der Welt zu schaffen.
In letzter Minute wurden quasi handstreichartig die bisherigen Ausgabenbegrenzungen für Arznei- und Heilmittel sowie für ärztliche Honorare aufgehoben und durch eindeutig weniger wirksame Formen ersetzt. Damit haben Koalition und Regierung ihre eigenen Ankündigungen noch einmal in einer Weise Lügen gestraft, die sie auch in weiten Teilen der Öffentlichkeit den letzten Rest an Glaubwürdigkeit gekostet hat.
Nun sind von dieser Koalition gewiß keine rationellere Arzneimittelpolitik oder etwa erste Schritte zur Veränderung des fehlsteuernden Honorarsystems zu erwarten. Was Sie jetzt aber ins Gesetz geschrieben haben, ist nichts als reiner Hohn. Statt wenigstens die offensichtlichsten Einsparmöglichkeiten im Gesundheitswesen auszuschöpfen, belasten Sie die Krankenkassen mit neuen zusätzlichen Milliardenausgaben, die lediglich der Pharmaindustrie sowie den Einkommen eines Teils der Ärzte und Zahnärzte zugute kommen werden. Dazu muß natürlich mehr Geld ins System. Die Lohnnebenkosten sollen aber nicht mehr steigen, was im Prinzip unbestritten ist.
Jetzt rächt es sich, Herr Minister, daß Sie die ersten Ansätze für echte Reformen, die mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 durchaus gegeben waren, so leichtfertig fallen ließen. Es hatte tatsächlich symbolische Bedeutung - allerdings in anderer Weise, als es damals wohl in Ihrer Absicht lag -, als Sie die Positivliste in zerschnippelter Form der Pharmaindustrie auf den Gabentisch zurückgelegt haben.
Mit der Nichtumsetzung der ohnehin wenigen strukturellen Maßnahmen des damaligen Gesetzes haben Sie in Wahrheit Ihre letzte Chance vergeben, doch noch zu einer zukunftsfähigen Gesundheitspolitik im Interesse der Menschen zu kommen. Letzteres ist nur möglich, wenn man den Willen hat, sich gegen die überzogenen Profiterwartungen der Pharmaindustrie und gegen die eiskalten Gruppenegoismen anderer Hauptakteure im System der medizinischen Versorgung durchzusetzen. In dieser Frage muß sich jeder, der für die Gesundheitspolitik Verantwortung trägt, entscheiden.
Die Wahl, die die Koalition und der zuständige Minister persönlich getroffen haben, ist heute allerdings der Grund dafür, daß Sie tiefer denn je im Sumpf einer unverhüllten Klientelpolitik zugunsten der Industrie und der mächtigen Anbietergruppen stecken. In dieser Situation bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die unsägliche Politik der Leistungskürzung fortzusetzen und den Raubzug durch die Taschen der Patienten und Versicherten in immer brutalerer Form zu wiederholen.
Obwohl gerade bei den Menschen mit kleineren und mittleren Einkommen, die bekanntlich die Mehrheit der Bevölkerung bilden, die Grenzen der Belastbarkeit längst erreicht sind, sollen sie jetzt mit Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen in beispielloser Höhe überzogen werden.
Was die Härtefallregelung und die Überforderungsklausel betrifft, so können Sie reden, was Sie wollen.
Sie selbst geben inzwischen ganz offen zu, daß das alles der puren Geldbeschaffung dient. Natürlich sollen die neuen Einnahmequellen kräftig sprudeln. Denn warum hätten Sie diese sonst eröffnet? Die damit verbundenen Belastungen werden deshalb in jedem Fall für die Mehrzahl der Menschen drastisch ansteigen.
Obwohl es fast unglaublich klingt, werden also kranke Menschen in einer Höhe, die noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre, zur Kasse gebeten, nur damit Pharmaindustrie, Ärzte und Zahnärzte neue Milliardengeschenke erhalten können.
Das ist nicht nur unsozial und zutiefst ungerecht; es ist letztlich Ausdruck einer Politik, die nicht mehr willens und in der Lage ist, ihre wirklichen Aufgaben zu erfüllen und ihrer Verantwortung vor der Bevölkerung gerecht zu werden.
Damit nicht genug. Was die Koalition jetzt mit der zusätzlichen Einführung von Beitragsrückerstattungen, Selbstbehalten und weiteren Kostenerstattungen als Elemente einer Privatversicherung tut, das kann man nur als ganz bewußte und gezielte Untergrabung der Funktionstüchtigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung bezeichnen.
Denn natürlich beschädigen auch diese Maßnahmen über die Zuzahlungen hinaus die finanzielle Substanz des Solidarausgleiches.
Hinzu kommt, daß die gesetzlichen Kassen den Versicherten in Zukunft immer öfter als Ausführungsorgan einer zunehmend restriktiven Gesundheitspolitik gegenübertreten müssen, die im Alltag zu einer Fülle von Einzelentscheidungen zwingen wird, die die Versicherten und vor allem die Kranken als inhuman und nicht anders empfinden werden.
Dr. Ruth Fuchs
Schon jetzt treibt es angesichts dieser Schwierigkeiten immer mehr Menschen in die Arme von privaten Versicherungen, die damit von der Misere, in welche die Regierung die gesetzlichen Kassen sehenden Auges bringt, kräftig profitieren werden. Natürlich können es tendenziell nur junge, gesunde und besserverdienende Menschen sein, die sich für eine Privatversicherung entscheiden. Dies aber sind bekanntlich jene, die in der gesetzlichen Krankenversicherung dringend benötigt werden, damit das Solidarsystem auf Dauer funktionieren kann.
Mit anderen Worten: Was hier als Reform des Gesundheitswesens angeboten wird, ist nichts anderes als der definitive Beginn der Zerstörung der solidarischen Gesundheitssicherung.
Es ist eine weitere Konsequenz dessen, was wir im Zeichen des Neoliberalismus in allen Teilen der Gesellschaft erleben. Die sozialen Sicherungssysteme und damit der Sozialstaat sind zur Disposition gestellt.
Nachdem der bisherige Sozialabbau schon einschneidend genug war, läuft jetzt der Generalangriff auf das bisherige Gesellschaftsmodell. Arbeitgeber und Regierung setzen immer unverfrorener darauf, daß nach dem Ende der Systemkonfrontation der Erhalt des sozialen Friedens in diesem Lande immer billiger geworden ist. Nur so läßt sich die wilde Entschlossenheit erklären, mit der der Marsch in eine andere Republik, eine Republik der Konfrontation und sozialen Kälte, angetreten wird.
Als nächster spricht jetzt der Minister für Gesundheit, Bundesminister Horst Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele Verzerrungen, manche Falschinformationen haben die gesundheitspolitische Diskussion in den letzten Monaten in Deutschland geprägt.
Deshalb möchte ich mit der Schilderung einiger Wahrheiten und der Wirklichkeit beginnen:
Zur Wirklichkeit gehört, daß Deutschland eines der besten und sozialsten Gesundheitssysteme der Welt hat.
Die Menschen vertrauen auf dieses Gesundheitssystem,
weil es über viele Jahrzehnte hinweg durch Zuverlässigkeit und Qualität überzeugt hat. Dabei soll es auch bleiben.
Die Reformen, die wir heute im Rahmen der Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung verabschieden, schaffen die Voraussetzungen dafür, daß die bewährte deutsche Krankenversicherung auch künftig ein Erfolgsmodell bleibt.
Wenn - wie ich gerade gehört habe - gesagt wird, es werde die Axt an die Wurzeln des Sozialstaates gelegt,
gehört zur zweiten Wirklichkeit, daß die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten fünf Jahren um 62 Milliarden DM von 173 Milliarden DM im Jahre 1991 auf 235 Milliarden DM Ende 1996 gestiegen sind. Wenn die gesetzliche Krankenversicherung innerhalb von nur fünf Jahren über 30 Prozent mehr für die Gesundheit der Menschen ausgegeben hat, dann kann man beim besten oder beim bösesten Willen nicht von „Kaputtsparen" oder von „Ausbluten" sprechen.
Nie zuvor in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung wurde für die medizinische und pflegerische Versorgung unserer Bevölkerung so viel Geld ausgegeben wie heute. Deshalb ist die gesetzliche Krankenversicherung ein Erfolgsmodell.
Wir brauchen Reformen, weil wir mitten in gewaltigen Herausforderungen stehen, und zwar Herausforderungen, die auch spezifisch die gesetzliche Krankenversicherung betreffen. Eine erste Herausforderung ergibt sich aus der steigenden Lebenserwartung. Es ist nachvollziehbar, daß ältere Menschen typischerweise umfangreichere medizinische Versorgung benötigen als jüngere. Wir wollen, daß auch bei steigender Lebenserwartung älteren Menschen und Mitbürgern in der Zukunft diese umfassende und optimale Versorgung zugute kommt. Wir wollen nicht, daß sie aus der solidarischen Krankenversicherung ausgegrenzt werden.
Meine Damen und Herren, das bedeutet einen finanziellen Mehraufwand.
Bundesminister Horst Seehofer
Die zweite Herausforderung ist die künftige Finanzierung des medizinischen und medizintechnischen Fortschritts. Die Geschwindigkeit des Fortschritts im Gesundheitswesen nimmt zu. Wenn ich nur daran denke, was vor zehn Jahren bei HIV-infizierten bzw. Aidspatienten diagnostisch und therapeutisch möglich war, und dies in Vergleich zur heutigen Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens stelle, dann kann man hier innerhalb einer Dekade gut nachvollziehen, daß in Diagnostik und Therapie Atemberaubendes stattgefunden hat, daß man heute durch therapeutische Begleitung eines HIV-infizierten Patienten über viele Jahre hinweg vermeiden kann, daß die Krankheit im Vollbild ausbricht, und daß, wenn sie im Vollbild ausgebrochen ist, die Lebenserwartung eines Aidspatienten noch um viele Jahre verlängert werden kann.
Das kostet aber wöchentlich viele tausend DM mehr pro Patient. Ich bin dafür, daß wir diesen Menschen auch weiterhin solidarisch helfen. Der medizinische Fortschritt kostet Geld.
Die finanziellen Kapazitäten unserer Krankenversicherung wachsen nicht in demselben Maße, wie wir zusätzliche Finanzaufwendungen für steigende Lebenserwartung und medizinischen Fortschritt benötigen. Deshalb war eine Budgetierung von Leistungsausgaben in der Vergangenheit - zeitlich befristet - eine richtige Antwort zu einer Zeit, in der es in der gesetzlichen Krankenversicherung große Wirtschaftlichkeitsreserven gab.
Man muß aber einmal darauf hinweisen, daß sich die meisten Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen in den letzten Jahren ungeheuer angestrengt haben - beinahe in allen Gesundheitsberufen: von den Ärzten bis zu den Mitarbeitern in den Krankenhäusern -, um die Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen. Wir haben diese Reserven heute in diesem Umfange nicht mehr. Ich bin den Krankenhäusern, den Ärzten und vielen anderen aus den Gesundheitsberufen dankbar, daß sie sich in den letzten Jahren um diese Wirtschaftlichkeit bemüht haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wodarg?
Nein.
Wir müssen jetzt erkennen, daß nach vielen Jahren der Budgetierung eine Ausgabensteuerung weiterhin durch Budgets nicht mehr die richtige Antwort ist. Budgetierung heißt, daß wachsende Anforderungen an das deutsche Gesundheitswesen mit im Kern gleichbleibenden Mitteln zu finanzieren sind. Deshalb muß man klar und deutlich sehen: Wer dauerhaft budgetieren will, wird über kurz oder lang medizinisch rationieren. Wer rationiert, begrenzt die medizinisch notwendigen Leistungen für kranke Menschen. Das Kriterium von Rationierungen ist nicht soziale Gerechtigkeit oder medizinische Notwendigkeit, sondern ökonomischer Nutzen. Ich möchte nicht, daß die notwendige medizinische Behandlung in Deutschland allein nach dem Maßstab ökonomischen Nutzens geregelt wird. Deshalb ist die Rationierung nicht die richtige Antwort.
Wohin Rationierungen führen, zeigen die Erfahrungen in anderen Ländern, in denen genau das praktiziert wird, was wir nicht wollen, nämlich eine Einteilung der Patienten nach Einkommen und Alter. Es wird dann eine Kosten-Nutzen-Analyse angestellt, nach der entschieden wird, ob bei einem 80jährigen Patienten noch eine aufwendige therapeutische Maßnahme durchgeführt wird. Das ist ein inhumanes Gesundheitswesen. Wohin Rationierung führt, haben wir Ende vergangenen Jahres auch in Deutschland mit den bis dahin geltenden Arzneimittel-, Heilmittel- und anderen Budgets in den Krankenhäusern erlebt. Wir alle haben doch noch die im November und im Dezember zum Ausdruck gebrachte berechtigte Sorge von Ärzten und Krankenhäusern im Ohr, daß Kranken auf Grund des aufgebrauchten Budgets in diesen Monaten nicht mehr das notwendige Arzneimittel bzw. im Krankenhaus nicht mehr die notwendige Operation zuteil würde. Da müssen doch auch in der Opposition dem letzten Anhänger der Budgetierung die Augen aufgegangen sein, daß eine Dauerbudgetierung die im Grunde unsozialste Maßnahme ist. Wir können der Bevölkerung doch nicht für alle Zukunft jeweils im November oder im Dezember sagen: Wärst du noch im Juni oder Juli krank geworden, dann wärst du noch versorgt worden. Das kann doch nicht die richtige Antwort sein.
Deshalb halte ich fest: Nicht die Ablösung von Budgets, sondern das Festhalten an ihnen führt in die Zweiklassenmedizin. Denn dann werden teure Behandlungen tatsächlich zum Privileg derer, die sich diese Behandlung finanziell - und zwar privat - leisten können. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen, daß medizinischer Fortschritt und finanzielle Mehraufwendungen in der Bundesrepublik Deutschland auch in der Zukunft solidarisch für den kranken Menschen finanziert werden.
Die dritte Herausforderung ist die ständig steigende Erwartungshaltung an die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitswesens. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem diese Leistungsfähigkeit ein höheres Maß an individueller Selbstverantwortung voraussetzt. Mehr Selbstverantwortung bedeutet nicht allein und zuallererst mehr Selbstbeteiligung; mehr Selbstverantwortung beginnt für mich vielmehr mit einer Veränderung des Bewußtseins und der Mentalitäten. Alle Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen - Krankenkassen, Ärzte, Krankenhäuser und auch die Patienten - müssen wieder lernen, sich durch das Wahrnehmen von Verantwortung und durch Augenmaß auf das medizinisch Notwendige
Bundesminister Horst Seehofer
zu konzentrieren und nicht immer nach dem Wünschenswerten zu fragen.
Die Veränderung von Bewußtsein ist das Wichtigste. Das beginnt nicht allein bei Patienten und Versicherten. Ich nenne ein Beispiel, das gerade in der öffentlichen Diskussion immer wieder fällt, bei dem wir keinen einzigen neuen Paragraphen, sondern nur die Wahrnehmung von Verantwortung durch Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen brauchen. Viele in der Bevölkerung ärgern die Mehrfach- und Doppeluntersuchungen. Die Menschen werden bei einem Arzt untersucht, dann ins Krankenhaus eingewiesen, wo die Untersuchungen noch einmal erfolgen; möglicherweise werden sie im Krankenhaus verlegt, so daß die gleiche Untersuchung ein drittes Mal erfolgt. Es wäre Wahrnehmung von Verantwortung, ohne daß wir einen einzigen neuen Paragraphen brauchen, wenn sich Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen zusammensetzten, um diese Mehrfach- und Doppeluntersuchungen zu vermeiden.
Wir müssen durch Veränderung des Bewußtseins und der Mentalität wieder begreifen, daß die gesetzliche Krankenversicherung nicht zur Erhöhung des individuellen Wohlbefindens, sondern zur solidarischen Absicherung großer Risiken geschaffen wurde, die der einzelne alleine nicht schultern kann.
Alles andere würde unser Gesundheitssystem überfordern. Ein Sozialstaat, der alles finanzieren will, wird am Ende nichts mehr finanzieren können.
Augenmaß und Verantwortung sind für die Zukunft gefordert, wenn wir die hohe Qualität und das hohe Niveau des deutschen Gesundheitswesens erhalten wollen. Deshalb bleibt der wirtschaftliche Umgang mit Beitragsmitteln nach unserer Auffassung eine Daueraufgabe für alle Beteiligten im Gesundheitswesen. Es ist auch eine moralische Aufgabe; denn wir können kranken Menschen doch nicht sagen, daß es für ihre Versorgung zuwenig Geld gibt, wenn gleichzeitig für Unwirtschaftliches das Geld zum Fenster hinausgeworfen wird. Das ist eine moralische Daueraufgabe.
Ich füge hinzu: Wenn man eine solidarische Sozialversicherung als Rundumversicherung mißdeutet oder mißbraucht, dann kann dies auch tiefe soziale Ungerechtigkeiten auslösen; denn zur Solidarität gehört immer auch die Eigenverantwortung. Wenn Eigenverantwortung verkümmert und wenn man glaubt, alles müsse über die gesetzliche Krankenversicherung finanziert werden, dann führt dies zu dem Fall, den ich nur einmal beispielhaft nennen möchte: Eine Frau, die ihre Mutter zum Arzt fährt, dies eigenverantwortlich im Rahmen der familiären Hilfe und Unterstützung tut, erlebt in der Sprechstunde, wie ein 28jähriger, nicht gehbehindert, zu der Sprechstundenhilfe als erstes sagt: Stellen Sie mir bitte einen Taxischein zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung aus. - Es gibt Krankenkassen, bei denen die Taxikosten im letzten Jahr um 30 bis 40 Prozent gestiegen sind. Ich bin sehr dafür, daß wir einem gehbehinderten Menschen auch weiterhin die Fahrtkosten zu Lasten der Krankenversicherung finanzieren. Aber wenn wir dies zunehmend auch Menschen finanzieren, bei denen es weder eine Gehbehinderung noch die Notwendigkeit eines Liegendtransportes gibt, dann zerstört dies die Bereitschaft zur Eigenverantwortung bei denen, die noch bereit sind, sich selbst zu helfen.
Wir müssen schon Obacht geben, daß wir nicht eine neue Qualität sozialer Auseinandersetzungen bekommen, und zwar zwischen den Bescheidenen, die Eigenverantwortung praktizieren, und den Cleveren, die die Bescheidenen ausnutzen und versuchen, alles aus einem Sozialsystem herauszuholen.
Verantwortung, die Veränderung des Bewußtseins und der Mentalitäten ist viel wichtiger als das Schaffen neuer Paragraphen.
Aber die Verantwortung setzt auch Transparenz voraus. Deshalb halte ich es für richtig - das werden wir heute auch so entscheiden -, daß die Versicherten in Zukunft einen Anspruch darauf haben, von Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern einen Beleg darüber zu erhalten, was bei ihnen geleistet und in welcher Höhe abgerechnet wurde. Das schafft mehr Transparenz in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Mehr Verantwortung in der Zukunft heißt aber auch - auch das spreche ich deutlich aus -: mehr finanzielle Selbstbeteiligung. Ohne dieses höhere Maß an finanzieller Beteiligung der Patienten wird es nicht möglich sein, das hohe Leistungsniveau der gesetzlichen Krankenversicherung aufrechtzuerhalten.
In der schwierigen Frage, ob wir dieses Leistungsniveau dadurch aufrechterhalten wollen, daß wir Leistungen ausgrenzen, oder ob wir dies dadurch tun wollen, daß wir in sozialverträglicher Weise mehr Eigenverantwortung durch höhere Selbstbeteiligung realisieren, spreche ich mich eindeutig für die höhere Selbstbeteiligung aus; denn die Leistungsausgrenzung kennt keine Härtefallregelung und keine soziale Rücksichtnahme; sie bedeutet hundertprozentige Selbstbeteiligung für die kranken Menschen.
Deshalb führen wir einen Finanzierungsmechanismus ein, durch den mit jeder Beitragserhöhung bei einer Krankenkasse bei dieser Krankenkasse die Zuzahlung erhöht wird, und die Versicherten bekommen ein Kündigungsrecht. Das heißt, sie können aus der Krankenkasse austreten, die die Beiträge erhöht.
Bundesminister Horst Seehofer
Das hat eine Doppelfunktion - Wolfgang Lohmann hat darauf hingewiesen -: Auf der einen Seite zwingen wir damit die Krankenkassen, die Wirtschaftlichkeitsreserven in ihrem System auszunutzen, bevor sie Beiträge erhöhen. Deshalb wird es in der Zukunft zu sehr stringenten Verträgen zwischen Ärzten und Krankenkassen sowie zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen kommen. Da wird in der Tat gespart werden, denn sonst müßte man seinen Versicherten erklären, daß man für Unwirtschaftlichkeiten die Beiträge und die Zuzahlung erhöht.
Die zweite Funktion dieses Mechanismus halte ich auch für wichtig: Wir lassen auf der anderen Seite Beitragssatzerhöhungen zu, und zwar nicht für Verschleuderung und Unwirtschaftlichkeit, sondern dann, wenn es zur Finanzierung des medizinischen Fortschritts oder der demographischen Entwicklung in unserem Lande unvermeidlich ist. Aber wir lassen nicht - wie in der Vergangenheit - zu, daß die volle Wucht einer Beitragserhöhung auf die Arbeitskosten abgeladen wird, sondern daß Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Patienten sich die Finanzierung dieses finanziellen Mehraufwands teilen. Täten wir dies nicht, nämlich Beitragserhöhungen für medizinischen Fortschritt und für die medizinischen Kosten der steigenden Lebenserwartung zuzulassen, hätten wir wieder eine Budgetierung und ihre negativen Folgen, nämlich die Rationierung.
Wir erhöhen durch Gesetz auch die Zuzahlung um 5 DM bzw. um 5 Prozentpunkte, um das große Defizit des letzten Jahres von über 6 Milliarden DM wenigstens teilweise abzudecken. Meine Damen und Herren, diese Zuzahlungen sind nicht nur notwendig, sie sind auch sozial verantwortbar. Zur Zeit werden in der gesetzlichen Krankenversicherung nur knapp 4 Prozent der gesamten Leistungsausgaben durch Zuzahlungen der Versicherten finanziert.
Nach der Erhöhung durch diese Reform wird der Anteil auf zirka 6 Prozent steigen. Nur 6 Prozent der gesamten Leistungsausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung werden künftig durch Zuzahlungen finanziert. -
Wir haben auch einen internationalen Vergleich angestellt: Nur Dänemark und die Niederlande haben bei einem Vergleich aus dem Jahre 1994 geringfügig niedrigere Selbstbeteiligungsquoten. - Wir können dies sozial verantworten, weil die Zuzahlungsregelungen mit einer Härtefallregelung kombiniert sind. Schon heute sind acht Millionen Menschen in Deutschland von jeder Zuzahlung bei Arzneimitteln, Heilmitteln und Fahrtkosten befreit. Zwölf Millionen Kinder sind völlig befreit, ebenso Arbeitslosenhilfeempfänger, Sozialhilfeempfänger und BAföG-Empfänger.
Meine Damen und Herren, ich weise darauf hin, daß nach dem Stand vom 1. Januar 1997 bei einem Ehepaar mit zwei Kindern in den alten Bundesländern bis zu einem Einkommen von 3 200 DM und in den neuen Bundesländern bis zu einem Einkommen von 2 730 DM keine Zuzahlungspflicht für Arznei- und Heilmittel sowie Fahrtkosten besteht. Bis zu einer Rente von 2 350 DM ist ein Rentnerehepaar in den alten Bundesländern von der Zuzahlung vollständig befreit, in den neuen Bundesländern bei einer Rente von bis zu 2 000 DM. Renten von 2 350 DM sind auch in Deutschland relativ hoch.
Die Zuzahlungspflicht im Krankenhaus besteht für maximal 14 Tage. Bei einem kranken Menschen, der zum dritten, vierten oder fünften Mal in ein Krankenhaus muß, wiederholt sich die Zuzahlung nicht. Sie ist mit den ersten 14 Tagen abgegolten.
Wer von den Zuzahlungen nicht völlig befreit ist, wird vor Überforderung geschützt. Ich wiederhole hier noch einmal: Niemand muß in Deutschland mehr als 2 Prozent seines Einkommens für Zuzahlungen bei Arzneimitteln, Heilmitteln und Fahrtkosten aufbringen.
Wir verbessern die Härtefallregelung jetzt sogar, indem bei chronisch kranken Menschen der Überforderungsschutz schon bei 1 Prozent einsetzen wird. Das heißt im Klartext: Chronisch Kranke müssen nicht mehr als 1 Prozent ihres Einkommens für Zuzahlungen bei Arzneimitteln, Heilmitteln und Fahrtkosten aufbringen.
Herr Dreßler, ich nehme nicht den Großverdiener als Maßstab meiner Betrachtung, sondern ich nehme jene Einkommensgruppen, für die die Härtefallregelung gedacht ist, nämlich die Geringverdiener. Ein chronisch Kranker mit einem Verdienst oder einer Rente von 2 500 DM müßte heute 2 Prozent zuzahlen. Das sind 50 DM. Wir verbessern die Härtefallregelung, so daß dieser chronisch Kranke, der heute 50 DM zuzahlen müßte, nur noch 25 DM zuzahlen muß. Das ist eine Halbierung dieser Last. Deshalb kann man mit gutem Gewissen davon reden: Diese Zuzahlung ist sozial verantwortbar; sie grenzt niemanden bei der Inanspruchnahme der Spitzenmedizin und des medizinischen Fortschritts aus.
Ich möchte auch eine Fehlinformation ausräumen, die in den letzten Tagen immer wieder in verschiedenen Zeitungen erschienen ist. Bei Medikamenten, deren Preis unter dem jeweiligen Zuzahlungsbetrag liegt, ist natürlich nur der tatsächliche Medikamentenpreis zu bezahlen und nicht der - fiktiv höhere - Zuzahlungsbetrag.
Wenn ein Medikament nur 4,50 DM kostet und der Zuzahlungsbetrag 9 DM wäre, trägt der Versicherte selbstverständlich nur die 4,50 DM, nämlich die Medikamentenkosten. Ich wäre sehr froh, wenn darüber auch die Bevölkerung richtig informiert würde.
Bundesminister Horst Seehofer
Diese Reform bringt für die Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen klare und verläßliche Verhältnisse und Perspektiven für die Zukunft. Ich habe viel Verständnis für Beteiligte im Gesundheitswesen, die bei Betrachtung der letzten 20 Jahre sagen: „Pausenlos hat der Gesetzgeber durch neue Paragraphen und Reglementierungen eingegriffen;
wir brauchen wieder verläßlichere und tragfähigere Grundlagen". - Diese verläßlichen Grundlagen werden geschaffen. Diese Reform stärkt die Leistungsfähigkeit und sichert die Finanzgrundlagen der sozialen Krankenversicherung. Sie sorgt dafür, daß ein Übermaß an Bürokratie und staatlichen Einflüssen abgebaut wird.
Wir halten an den bewährten Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung fest: an dem Solidarprinzip, nämlich dem sozialen Ausgleich zwischen jung und alt, zwischen gesund und krank, zwischen den Beziehern niedrigerer und höherer Einkommen, zwischen Alleinstehenden und Familien; die Leistungen des Gesundheitswesens werden auch künftig allen solidarisch zur Verfügung stehen, unabhängig vom Einkommen und vom Alter; das Gesundheitswesen bleibt pluralistisch. Wir wollen ein gegliedertes System mit einer Vielfalt von Trägern und Verbänden und auch mit Therapievielfalt. Wir brauchen auch in der Zukunft die Schulmedizin genauso wie die besonderen Therapierichtungen.
Wir wollen die freie Arztwahl, wir wollen die freie Wahl des Krankenhauses als Kennzeichen eines freiheitlichen Gesundheitswesens.
All dies bleibt uneingeschränkt erhalten. Wer behauptet, wir würden das deutsche Gesundheitswesen privatisieren, sagt die Unwahrheit. Wir wollen die solidarische Krankenversicherung stärken, und man stärkt sie nur, wenn man sich bemüht, das, was gut ist, durch Reformen auch für die Zukunft gut zu erhalten.
Mit diesem Reformpaket haben wir die Grundlagen dafür geschaffen, daß das Erfolgsmodell der deutschen Krankenversicherung auch zukunftssicher ist. Die vier Ziele, die wir uns zu Beginn dieser Reformdiskussion gesteckt haben, sind erreicht: Wir sichern das medizinisch und pflegerisch hohe Leistungsniveau; wir sichern die Bezahlbarkeit des Gesundheitswesens, ohne Patienten zu überfordern; wir schonen die Arbeitskosten und liefern damit einen Beitrag dazu, daß das soziale Problem Nummer eins, nämlich die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, überwunden werden kann; wir ermöglichen den medizinischen Fortschritt und das Wachstum im Gesundheitswesen.
Für mich ist mit das Wichtigste, daß wir den drei Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen nach den vielen Eingriffen des Gesetzgebers in den letzten 20 Jahren nunmehr verläßliche Perspektiven geben. Das ist eine wichtige Motivation für all diejenigen, die in unterschiedlicher Funktion tagtäglich einen nicht einfachen Dienst für die Menschen im Gesundheitswesen erbringen, und das ist ein Beitrag dazu, daß menschliche Zuwendung und Patientennähe auch in Zukunft das Kennzeichen unserer humanen Gesundheitsversorgung bleiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesgesundheitsminister, mit Allgemeinplätzen, die unumstritten sind, wollen Sie doch nur von dem ablenken, was wirklich in Ihrem Gesetz steht.
Ich darf einmal daran erinnern: Am 26. April 1995 erklärte der Herr Bundesgesundheitsminister vor dem Bundesrat:
Mit Ausnahme der Hilfsmittel und der ärztlichen Dienstleistungen in allen Bereichen gibt es schon Selbstbeteiligung in unterschiedlicher Form. Heute können wir sagen: Dort, wo die Selbstbeteiligung am höchsten ist, sind die Ausgabenzuwächse am größten . Ich halte es für den gesundheitspolitisch falschen Ansatz, Defizite in der Krankenversicherung auf dem Rücken von Kranken abzuladen.
So der Herr Bundesgesundheitsminister vor knapp zwei Jahren.
Meine Damen und Herren, das also ist die dritte Stufe der Gesundheitsreform. Neuordnung heißt in Wirklichkeit Aufspaltung unserer Gesellschaft. Ihre Neuordnungsgesetze schaffen ein Mehrklassensystem im Gesundheitswesen: Gesunde und Einkommensstarke werden privilegiert. Ältere, Kranke und Einkommensschwächere werden immer mehr abgezockt.
Herr Kollege Lohmann und Herr Kollege Thomae, Sie sagen: Wir wollen keine Rationierung. Was ist denn die Ausgliederung des Zahnersatzes? Das ist doch Rationierung.
Was ist es denn, wenn Sie die Zuzahlung bei Arzneimitteln so erhöhen? Das ist Rationierung und nichts anderes.
Lassen Sie uns nicht lange um den heißen Brei herumreden! Ihr Ziel ist eindeutig: die planmäßige Chancenungleichheit der Bürger bei Krankheit. Die große Mehrheit der Bürger wird zu Verlierern. Im Handstreich wird eine Fünfklassenmedizin geschaffen.
Die erste Klasse, also die Klasse der absolut Privilegierten, bilden die Selbständigen, die Freiberufler,
Klaus Kirschner
die Abgeordneten und auch die Minister. Sie können sich der sozialen Krankenversicherung elegant entziehen. Sie können es sich leisten, privat jede erdenkliche Luxusmedizin einzukaufen - frei nach dem Motto: Für die Elite ist das Beste aus der „Feinkostmedizin" gerade gut genug.
Die zweite Klasse bilden diejenigen, die noch nicht zur privaten Krankenversicherung wechseln dürfen, die aber, den Ausverkauf der sozialen Krankenversicherung vor Augen, Zusatzleistungen privat einkaufen können. Hierbei werden sie von den Gewinnern dieser Seehoferschen Krankenbelastungsgesetze kräftig unterstützt: Teile der Zahnärzteschaft entdekken nunmehr endlich ein bisher unterdrücktes Talent, das Talent zum Allfinanzierungsberater. Da sich in Zukunft ein großer Teil der Patienten dank Seehofer und Ihnen den Zahnersatz nicht mehr leisten kann, bieten die Zahnärzte eben neben dem Bohren weitere Dienste an und vermitteln Kredite, am besten gleich auch Zusatzversicherungen.
Hautnah ist die von den Westerwelles und Möllemännern so viel gepriesene Liberalisierung im Gesundheitswesen und das Mehr an Eigenverantwortung für die Versicherten greifbar: Zahnarztpraxis und Allfinanzierungsbüro - alles aus einer Hand. Offen bleibt allerdings die Frage: Wessen Interessen vertritt in Zukunft der Zahnarzt?
Auf die große Mehrheit der versicherten Bürgerinnen und Bürger aber prügeln Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, mit dem Finanzknüppel ein. - Und das ist bei der Klasseneinteilung jetzt bereits die dritte Klasse. - Wie erlebt denn die große Mehrheit der Versicherten die gesetzliche Krankenversicherung? Er oder sie zahlt einschließlich des Arbeitgeberanteils bis zu 800 DM monatlich in die Krankenkasse. Jetzt steigt die Zuzahlung für Arzneimittel bis zu 200 Prozent auf 9, 11 oder 13 DM. Das sind 3,5 Milliarden DM mehr an Zuzahlungen. Sollten Beitragssatzanhebungen notwendig sein - das haben Sie ja mit Ihrem 1. NOG beschlossen -, können es auch 15, 17 oder 19 DM, im nächsten Jahr vielleicht gar 20, 22 oder 24 DM werden. Ein Ende dieser Zuzahlungsspirale ist dank Ihrer Politik nicht in Sicht.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen einmal verdeutlichen, was das bedeutet. Ich habe ein Medikament, ein Psychopharmaka, mitgebracht.
- Herr Kollege Richter, halten Sie sich mit solchem Quatsch ein bißchen zurück!
Wir sollten nicht leichtfertig mit solchen Medikamenten umgehen und schon gar nicht, wenn diese jemand benötigt.
- Ich bitte Sie, das war doch der Zuruf von Ihrer Seite.
Also, so ein Psychopharmaka kostet 7,69 DM. Bisher zahlte der Patient 3 DM. In Zukunft zahlt er dies voll aus der eigenen Tasche. Das ist eine Packung der N-1-Klasse. Da muß er 9 DM bezahlen.
Das heißt, er zahlt 7,69 DM. Dies zahlt er.
Das gilt ebenfalls für ein anderes Medikament, ein Schilddrüsenhormon-Präparat. Das ist ein Medikament, das in der N-3-Packung 8,71 DM kostet. Der Patient hat bisher 5 DM zu diesem Medikament zubezahlt. Er zahlt dies in Zukunft aus der eigenen Tasche, und zwar voll und ganz. Dies ist Ihre Art von Politik. Das ist nichts anderes als Rationierung von Leistungen, von medizinisch notwendigen Medikamenten.
30 Prozent aller Arzneimittel in kleineren Packungen sind vollständig vom Patienten zu bezahlen - das sind 118 Millionen Verordnungen pro Jahr -, das heißt ohne einen Pfennig der gesetzlichen Krankenversicherung, für deren Finanzierung monatlich bis 800 DM Beitrag gezahlt werden müssen. Das ist die Listenmedizin, die Sie hier den Patienten verordnen. 20 Prozent aller Arzneimittel müssen die Patienten in Zukunft selbst bezahlen. Was Sie hier betreiben, ist Rationierung und nichts anderes.
Die Bürger, die zur Mittelschicht gehören - der Normalverdiener -, werden von Ihnen wie in einer Zitronenpresse ausgequetscht. Die Beiträge steigen, und die Leistungen sinken. Die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage erlaubt es diesen Versicherten nicht, sich zusätzlich privat abzusichern. Von Zuzahlungen befreit werden können diese Versicherten auch nicht. Dafür ist ihr Einkommen nach Meinung der Volks- und Lobbyistenpartei CDU/CSU und der Zahnärztepartei F.D.P. zu hoch. Hier greifen null Komma null Ausgleichsmechanismen. Dafür trifft der soziale Kahlschlag die Mehrheit der Bürger. Das sind die Menschen, die die Lokomotive mit dem Ziel wirtschaftlicher Fortschritt in Deutschland ziehen. Bei denen greift die Zuzahlung voll und ganz, die Sie hier mit dem 1. und 2. NOG und mit dem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz beschlossen haben bzw. beschließen wollen.
Wie wollen Sie von diesen Menschen erwarten, daß sie ein solches Krankenversicherungssystem überhaupt noch akzeptieren? Oder wollen Sie gar
Klaus Kirschner
den großen Zusammenbruch provozieren? Wer will diesen Versicherten in Zukunft noch erklären, warum sie bei Arzneimitteln, bei Krankengymnastik, bei Sprachheilbehandlungen, bei Rehabilitationskuren, bei Krankenhausbehandlungen, bei Mütterkuren, bei Fahrten ins Krankenhaus oder beim Zahnersatz jetzt noch einmal 5 DM oder sogar 5 Prozent mehr zuzahlen sollen?
Zusätzlich zu all diesen Folterwerkzeugen verlangen Sie von den Versicherten auch noch ein Notopfer in Höhe von 20 DM für die Krankenhäuser, wobei Sie Privatpatienten - auch das liegt in der Logik Ihrer Politik - natürlich im wesentlichen schonen.
Nur der kranke Privatpatient zahlt für die Instandhaltungskosten mit, der gesunde - im Gegensatz zu den gesetzlich Versicherten - nicht. Das wissen Sie ganz genau. Sagen Sie hier nicht etwas anderes, als im Gesetz steht!
Geradezu unglaublich ist Ihr Vorhaben, die Patienten darüber hinaus noch in Geiselhaft für die Entwicklung der Beitragssätze der Krankenkassen zu nehmen. Das ist das, was Sie mit Ihrem 1. NOG tun. Werden Ihre Pläne wahr, dann nehmen Sie die Patienten auf eine ganz hinterhältige Art und Weise aus: Wenn der Beitrag künftig um einen Prozentpunkt steigt, dann summiert sich Ihr Patientenabzockprogramm auf wahnsinnige 19 bis 23 DM Zuzahlung pro Arzneimittelpackung.
Für 14 Tage Krankenhausaufenthalt muß der Patient dann neben seinem Krankenversicherungsbeitrag in Zukunft 378 DM zuzahlen. Daran muß man ständig erinnern.
Die Krankengymnastik raubt dem Patienten bei sechs Verordnungen rund 37 DM Zuzahlung aus dem Portemonnaie. Das, was die Damen und Herren von der Gesundheitsverhinderungskoalition in den Kurorten noch nicht plattgemacht haben, wird dann endgültig kaputtsaniert, wenn die Zuzahlung für Reha-Maßnahmen für drei Wochen auf 735 DM hochkatapultiert wird. Damit vernichten Sie gleichzeitig auch Tausende von Arbeitsplätzen. Dies ist Ihr „Arbeitsplatzbeschaffungsprogramm" in Wirklichkeit.
Das alles hat mit einer seriösen, an Gesundheitszielen orientierten Politik nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Ihre ständigen, nach Hilfe ringenden Erklärungsversuche, das alles würde durch Härtefallregelungen abgemildert, laufen ins Leere.
Erstens. Wer Härtefallregelungen vorweist, der bescheinigt, daß er soziale Härten schafft.
Zweitens. Die Härtefallregelungen mildern Ihre Zuzahlungsorgien nur sehr bedingt.
Im übrigen wird mit der Härtefallregelung die Klassengesellschaft in der Krankenversicherung vollendet. Zur vierten Klasse gehören dann die Patienten, die teilweise von den Zuzahlungen befreit werden, und zur fünften Klasse gehören die Versicherten, die ganz befreit werden.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird diese von sozialer Kälte und sozialer Inkompetenz geprägte Koalition mit kranken Menschen, die auf solche Härtefallregelungen angewiesen sind, genauso diffamierend umgehen, wie sie es mit Bürgern getan hat, die keine Arbeit mehr finden oder die auf die Sicherung des Existenzminimums durch die Sozialhilfe angewiesen sind.
Sie werden in die Welt posaunen, der Gürtel müsse eben enger geschnallt werden, und Härtefälle werden schon bald pauschal als störende Kostgänger diffamiert werden. Wir alle kennen doch dieses Drehbuch, nach dem Sie vorgehen.
Daß die Anbieter im Gesundheitswesen den Gürtel enger schnallen sollen, hört man von Ihnen allerdings nicht. Ihre Politik ist eine Politik für die Zahnärzte und die Pharmaindustrie. Dieses Gesetz zeigt doch eindeutig, wohin die Reise geht.
Der Bundesgesundheitsminister ist der Umfaller der Nation.
Anstatt, wie noch vor Monaten angekündigt, Maßnahmen zur Strukturerneuerung in der Krankenversicherung zu ergreifen, hat er sich zum Erfüllungsgehilfen des medizinisch-industriellen Komplexes und seiner Überkapazitäten gemacht.
Ihr jahrelanges Credo „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" haben Sie selbst ins Abseits gestellt. Das neue Motto, das von Seehofer ausgegeben wird, lautet: Kranksein wird bestraft; Geschäftemachen mit den Gesunden dagegen wird belohnt. Nichts anderes bedeutet die Politik, die Sie betreiben.
- Das mag Ihnen nicht gefallen, aber es ist die Wahrheit.
Die Bestrafung Kranker in Milliardenhöhe, die Abschaffung der sozialen Krankenversicherung sollten
Klaus Kirschner
ganz offensichtlich holterdiepolter und - daran möchte ich auch einmal erinnern - Freitag nachmittags in kürzester Zeit mit einer Anhörung über die Bühne gehen.
Meine Damen und Herren, hierfür gibt es nur eine Erklärung. Die Koalition wollte ihre Schweinereien vertuschen. Sie scheut die öffentliche Kritik der Fachleute, weil der Bundesgesundheitsminister unser Gesundheitswesen mit Vorschlaghammer, Axt und Sense kaputtsaniert.
Im übrigen: Den Bundesrat ausschalten zu wollen wird die Versicherten teuer zu stehen kommen. Ohne Bundesrat gibt es keine Reform, und deshalb sind Sie für weiter steigende Ausgaben allein verantwortlich.
Daß Sie dabei gleichzeitig die Verfassung verbiegen, kommt noch hinzu. Im übrigen wurde wegen der Kürze der Zeit, die für die Beratung zur Verfügung stand, bei solch gravierenden Änderungsanträgen für die gesetzliche Krankenversicherung auch das Recht der Abgeordneten auf eine ausreichende öffentliche Beratung unerträglich stark beschnitten und damit zur Farce degradiert.
Ich sage offen: Da hilft auch nicht der Brief der verehrten Frau Bundestagspräsidentin an den Gesundheitsausschuß, in dem unter anderem steht:
Eine ausreichende Befassung der Ausschußmitglieder und der Sachverständigen scheint durchaus möglich, da die Themen im Zusammenhang mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz auch in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden.
So kann man mit solch einem weitreichenden Gesetz, von dem fast 90 Prozent der Bevölkerung betroffen sind, nicht umgehen, wenn Sie es damit ernst meinen würden.
Die SPD hat klare Positionen aufgebaut - Sie lehnen sie ab -, mit denen die soziale Krankenversicherung fit für das Jahr 2000 wird. Allerdings gehört dazu auch die Bereitschaft, politische Verantwortung zu übernehmen, und dazu gehört vor allem Reformwillen. Das spreche ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, ab. Der Umbau des Krankenversicherungssystems muß das voluminöse Gesundheitssystem dazu bringen, nicht ständig neue Probleme zu produzieren. Das Gesundheitswesen muß sich selbst steuern, und zwar so, daß es wirtschaftlich arbeiten und sich an der Gesundheit derer orientieren kann, für die es einmal geschaffen wurde.
Das haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, einschließlich des Gesundheitsministers, längst vergessen. Unser Konzept stellt im Gegensatz zu Ihrem Gesundheitsgefährdungsprogramm den Patienten in den Mittelpunkt. Wir wollen einen Wettbewerb um die beste und wirtschaftlichste Versorgung des Patienten.
Hier kann vieles spürbar verbessert werden. Es kann - das scheinen Sie bei Ihren Abbrucharbeiten vergessen zu haben - mindestens der von Ihnen, Minister Seehofer, mehrfach genannte Betrag von 25 Milliarden DM gespart werden.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie sind nicht so vermessen zu glauben, daß Sie von den Bürgerinnen und Bürgern, bei denen Sie jetzt mit Ihren Folterwerkzeugen abkassieren, bei der Wahl 1998 einen Freispruch erhalten. Wir werden dieses Thema - das verspreche ich Ihnen - am Kochen halten. Die Menschen müssen wissen, wer für diese Politik der sozialen Kälte, der Umverteilung von unten nach oben die Verantwortung trägt. Das sind Sie und niemand anders.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heiner Geißler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will eine Vorbemerkung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit dessen machen, was wir hier in den letzten Stunden gehört haben.
Herr Kirschner, Sie haben behauptet, Privatpatienten müßten den Zuschlag im Krankenhaus nicht bezahlen. Das ist falsch. Sie informieren die Leute falsch. Das ist nicht die einzige Falschinformation, die Sie hier verbreiten.
Zum Schluß Ihrer Rede haben Sie in schöner Offenheit erklärt, worum es Ihnen geht. Es geht Ihnen nicht darum, in einer schwierigen Situation des Gesundheitswesens mit uns über die richtigen Alterna-
Dr. Heiner Geißler
tiven zu diskutieren, sondern Sie wollen das Gesundheitswesen zum Wahlkampfthema machen.
- Protestieren Sie bitte nicht. Damit haben Sie gerade Ihre Rede beendet.
Vielleicht können wir im Interesse der Patienten versuchen, eine gemeinsame Basis zu finden. Es ist wichtig, daß wir die Menschen darüber informieren.
Aber dann dürfen Sie im Zusammenhang mit den Zuzahlungen doch nicht von Schweinereien reden. Herr Dreßler hat von Kuhfladen geredet. Es steht eindeutig fest — darüber möchte ich die Öffentlichkeit noch einmal informieren -, daß die Zuzahlungen für Medikamente, für Heilmittel, für Fahrtkosten - um diese drei Beispiele zu bringen - zwar in niedrigerer Höhe, aber qua Zuzahlung - so, wie ich sie gerade beschrieben habe - samt Härtefällen und Überforderungsklauseln von der sozialdemokratischen Fraktion und uns gemeinsam beschlossen worden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte diese Diskussion nicht nur für nicht fair, sondern ich halte sie auch für in höchstem Maße unehrlich der Bevölkerung gegenüber.
Sie müssen doch folgendes sehen: In allen Wettbewerbsgesellschaften gibt es das Problem, daß manche nicht an der Leistungserbringung in dieser Wettbewerbsgesellschaft teilnehmen können, entweder weil sie zu jung oder weil sie zu alt oder weil sie krank oder weil sie in Konkurs gegangen sind; das alles gibt es. Wie regeln wir die Situation dieser Menschen so, daß sie ein menschenwürdiges Leben führen können?
Die Japaner machen das durch eine Kombination von Betrieb und Familie. Die Amerikaner privatisieren dieses Risiko.
Wir haben eine andere Lösung: Wir haben ein solidarisches System.
- Nach wie vor. Ich komme gleich darauf. Wir können das alles in Ruhe erörtern. Ich bin nur dafür, keine Beschuldigungen auszustoßen,
sondern die Sache einmal zu hinterfragen.
Wir haben ein solidarisches System, das darin besteht, daß alle für den eintreten, der krank geworden ist und sich selber nicht helfen kann, in der Voraussicht, daß die anderen das auch tun, wenn einem selbst dasselbe passiert. Das ist das solidarische System.
Die ärztliche Versorgung, die krankenhausärztliche Versorgung sind öffentliche Aufgaben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Andres?
Nein. Es wurde hier offenbar so eingeführt, daß keine Zwischenfragen zugelassen werden. Dann verfahre ich hier genauso. Herr Dreßler hat keine zugelassen, und der Kollege Lohmann hat es auch nicht gemacht. Dann mache ich es halt auch einmal nicht.
- Vielleicht können Sie trotzdem einmal zuhören.
Die ärztliche Versorgung, die krankenhausärztliche Versorgung sind öffentliche Aufgaben. Ich betone ausdrücklich: eine öffentliche Aufgabe. Aber diese öffentliche Aufgabe - darin unterscheidet sich unser System vom System der Privatisierung wie vom sozialistischen Modell - muß nach unserer Auffassung nicht von öffentlichen Organisationen, Behörden und Trägern wahrgenommen werden, sondern kann genausogut, wenn nicht sogar besser, von privaten oder frei-gemeinnützigen Trägern wahrgenommen werden.
Das heißt, die ärztliche Versorgung, die krankenhausärztliche Versorgung wird von privaten Krankenhäusern, von freigemeinnützigen Krankenhäusern, von privaten Ärzten wahrgenommen,
ohne daß durch - das muß man einfach erkennen - die Wahrnehmung dieser öffentlichen Aufgabe durch Private diese zu deren Privatangelegenheit wird.
Vielmehr erfüllen sie sie im Dienste der Gemeinschaft, als eine öffentliche Aufgabe. Deswegen ist die Kassenärztliche Vereinigung eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Hier liegt die ganze Problematik, mit der wir es zu tun haben, begründet: Wir haben eine solidarische Versicherung auf der einen Seite, und wir haben ein freiheitliches System auf der anderen Seite, das allerdings dazu dient, eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen.
Die anderen Länder, die dieses Problem ja genauso haben, haben diese Aufgabe anders gelöst. Die Ame-
Dr. Heiner Geißler
rikaner, die Engländer - Sie können auch andere europäische Länder nehmen -, früher die sozialistischen Länder haben in ihrem Gesundheitssystem Elemente, die ich auch in Ihren Vorschlägen wiederfinde. Das Einkaufsmodell zum Beispiel entspricht dem HMO in Amerika; auch die Budgetierung gibt es in anderen Ländern.
Aber eines steht mit absoluter Sicherheit fest: daß alle diese Konzeptionen, in England, in Amerika und in anderen Ländern - von der ehemaligen UdSSR will ich überhaupt nicht reden - schlechter bzw. teurer sind als das deutsche System.
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: An diesem System ändern wir nichts, überhaupt nichts. Es bleibt bei diesem solidarischen System. Wir bleiben auf der Basis dessen, was ich gerade gesagt habe.
Aber selbst wenn alle Patienten und Ärzte Engel wären und die Pharmaindustrie ein Zweigbetrieb der Heilsarmee, können Sie nicht um eine Tatsache herumreden: daß wir medizinischen Fortschritt haben. Dieser medizinische Fortschritt geht immer weiter.
- Ich kann Ihnen ja einmal ein paar Schlagzeilen vorlesen, die das belegen - selbst wenn nicht jede Schlagzeile stimmt, so gibt das doch eine Richtung an -: „Erstes Medikament gegen Alzheimer", „Fortschritte bei Hörschneckenimplantaten", „Hörtest schon bei Ungeborenen", „Bald künstliches Lebersystem", „Computersimulation zur Hüftgelenkprothese".
Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind alles noch nicht Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Aber es gab ja ähnliche Entwicklungen in der Vergangenheit. Wenn wir alle miteinander wollen, daß der medizinische Fortschritt nicht - so wie in England, Amerika und anderswo - sortiert wird und nicht nur diejenigen diese Leistungen in Anspruch nehmen können, die über genügend Geld verfügen, sondern daß die Ergebnisse des medizinischen Fortschritts allen zugute kommen, dann müssen Sie eine Antwort geben auf die Frage der Finanzierung dieses Systems.
Das tun Sie nicht. Darüber reden Sie hinweg. Sie polemisieren gegen die Zuzahlungen, gegen den Minister und gegen alles andere, aber Sie haben kein Finanzierungskonzept für den medizinischen Fortschritt.
Sie haben kein Finanzierungskonzept für die Aufgabe, den medizinischen Fortschritt allen unabhängig vom Alter und Einkommen zukommen zu lassen.
Wie das läuft, das wissen wir aus anderen Ländern. Herr Thomae sprach vom Privatisierungsmodell.
Der Kollege Dreßler hat gerade gesagt, das war der Kollege Möllemann. Dieser saß neben mir, das ist richtig, aber zwischen uns ist der Gang. Das müssen Sie immerhin bedenken.
Wir sind eine Koalition, aber ich muß nicht alles für richtig halten, was der Koalitionspartner sagt. Das gilt auch für grundsätzliche Erwägungen.
Wir bleiben beim solidarischen System, aber wir tragen auch die Verantwortung dafür, daß es finanzierbar bleibt. Wenn Gesundheitssysteme nicht mehr finanzierbar sind, dann werden sie verstaatlicht. Das führt zu negativen Folgen für die Patienten.
Ich will über die Entwicklungen im Ausland nichts mehr sagen, ich habe bereits darüber gesprochen. Wir wollen keine Verhältnisse wie in Amerika, wo 40 Millionen Menschen keinen Krankenversicherungsschutz haben. Wir wollen keine Verhältnisse wie in England, wo die Leute, die älter als 80 Jahre sind, kein Hüftgelenk und keinen Herzschrittmacher mehr bekommen. Das alles wollen wir nicht, sondern wir wollen, daß die Patienten unabhängig von Alter und Einkommen am medizinischen Fortschritt teilhaben.
Frau Knoche, was Sie gesagt haben, hat mich wirklich berührt. Was glauben Sie eigentlich, was Sie den Leuten und uns erzählen können?
Sagen Sie es mir, kommen Sie nachher zu mir.
Stichwort Pflichtleistungen. Ist die ärztliche Versorgung eine Pflichtleistung für alle in der gesetzlichen Krankenversicherung oder nicht? Ist die Krankenhausversorgung eine Pflichtleistung oder nicht, und zwar für alle? Was ist mit den Heilmitteln? Darüber haben wir einmal debattiert. Die Heilmittel bleiben Pflichtleistungen. Wir haben eine verbesserte Kooperation.
Nennen Sie mir irgendeinen Punkt, der für die Gesundheit der Menschen medizinisch notwendig ist und aus dem Pflichtkatalog der gesetzlichen Krankenversicherung herausgenommen worden ist?
Sie sagen die Unwahrheit; ich muß Ihnen das sagen.
Dr. Heiner Geißler
Es gibt keine Rationierung.
- Was sagen Sie?
- Der Zahnersatz. Wenn Sie sagen würden, alles ist Pflichtleistung, so wie wir es gesagt haben, mit Ausnahme des Zahnersatzes, dann hätte ich mir das angehört und würde sogar sagen, Sie haben beschränkt recht, aber das haben Sie nicht gesagt, sondern Sie sagen: Es wird generell ausgegrenzt.
Über den Zahnersatz könnten wir reden. Aber auch der Zahnersatz wird nicht ausgegrenzt, sondern beim Zahnersatz führen wir lediglich ein Zuschußsystem und sonst gar nichts ein. Das ist der Unterschied; darüber können Sie lange debattieren. Das ist keine Ausgrenzung.
Herr Kollege Geißler, gestatten Sie weiterhin keine Zwischenfragen?
Nein. Frau Präsidentin, ich habe gesagt, ich lasse keine Zwischenfragen zu.
Ich wollte nur noch einmal nachfragen.
Das gilt für die ganze Rede, allerdings nicht deshalb, weil ich Zwischenfragen nicht wünsche, sondern ich halte mich an das, was heute in der Gesundheitsdebatte offenbar üblich geworden ist. Deswegen mache ich weiter.
Ich komme nun zum zweiten gravierenden Punkt. Auch dazu gibt es Fehlinformationen. Welche Möglichkeiten haben wir? Wir könnten budgetieren. Dazu gibt es Lernprozesse. Ich habe auch gedacht, das wäre eine Möglichkeit. Wahrscheinlich hat das auch der Minister gedacht ebenso wie Sie. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns besteht nur darin, daß Sie heute immer noch denken, das sei eine wirksame Methode, während wir inzwischen festgestellt haben, daß sie nicht funktioniert. Das ist der Unterschied.
Das könnte man unter Lernfähigkeit abhaken; das will ich gar nicht tun. Die Budgetierung hat nicht funktioniert, sondern dazu geführt, daß im Oktober oder November die üblen Geschichten aufgetreten sind, die wir alle miteinander erlebt haben.
Dann gibt es die andere Möglichkeit: Sie können entweder die Ausgaben deckeln oder die Einnahmen deckeln, also die Beiträge. Das haben noch nicht einmal Sie vorgeschlagen. Das scheidet auch aus, wenn ich auf der anderen Seite sage: Der medizinische Fortschritt kostet etwas. - Infolgedessen muß ich eine Lösung finden, die darin besteht, daß auf der einen Seite der medizinische Fortschritt allen zugänglich gemacht wird - das wird Geld kosten - und daß auf der anderen Seite die Ausgabenzuwächse eingedämmt, gebremst werden. Wir haben dafür eine Möglichkeit vorgeschlagen; diese haben Sie uns genommen.
Im Vorgängergesetz, dem 1. NOG, hatten wir vorgeschlagen: Nur wenn drei Viertel der betreffenden Gremien zustimmen, gibt es eine Beitragssatzerhöhung. Diese Möglichkeit hat uns der Bundesrat genommen.
Der Bundesrat hat das abgelehnt. Infolgedessen mußten wir ein anderes, ich will einmal sagen: Bremsmodell finden. Es ist uns kein besseres als das jetzige eingefallen. Sie haben sich darüber noch nicht einmal Gedanken gemacht.
Wir haben die Sache überlegt und haben gedacht: Wenn wir das mit den 75 Prozent nicht tun können, dann müssen wir etwas anderes machen. Also haben wir gesagt: Wir dürfen den Kassen Beitragserhöhungen nicht unmöglich machen. Es muß auch in der Zukunft möglich sein, daß die Gelder zur Verfügung stehen, um den medizinischen Fortschritt und das medizinisch Notwendige zu finanzieren. Aber wir haben auch gesagt: Wir müssen das Ganze begrenzen, wir müssen es abbremsen. Also machen wir es den Kassen schwer, und zwar dadurch, daß wir jede Beitragssatzerhöhung mit einer zusätzlichen Zuzahlung, verbunden mit dem Kündigungsrecht des Versicherten, verknüpfen.
Wir haben zwischendurch eine Debatte gehabt, in der wir gefragt haben: Kann man das nicht dadurch ersetzen, daß man einseitig den Arbeitnehmerbeitrag erhöht? Darüber gab es eine Debatte hier im Bundestag. Es gab viele gute Gründe dagegen.
Meine Fraktion hat das letztendlich nicht für richtig gehalten, sondern wir bleiben bei der Kombination von Beitragssatzerhöhung und Zuzahlungserhöhung.
Jetzt muß ich etwas zu der Behauptung sagen, mit diesen erhöhten Zuzahlungen würde der Sozialstaat plattgemacht, und wir würden bei den Kleinen abkassieren, Herr Kirschner.
Dr. Heiner Geißler
- Ich habe hier die allgemeinen Zahlen. 5,5 Millionen Menschen im Westen und 2,7 Millionen Menschen in den neuen Ländern - es sind insgesamt 8 239 000 Menschen in Deutschland - zahlen keine Mark an Zuzahlung. Hinzu kommen die Kinder. Es sind, wenn ich das einmal zusammennehme, insgesamt rund 20 Millionen Menschen, die keine Mark an Zuzahlung zahlen.
Herr Dreßler, die Beispiele, die Sie hier vortragen, sind eine Katastrophe; das muß ich doch einmal sagen. Herr Dreßler redet von einer Familie mit zwei Kindern und 70 000 DM Einkommen. Die maximale Zuzahlung beträgt 86 DM im Monat für eine Familie mit zwei Kindern. Die Zahl von 1 000 DM pro Jahr kommt nur dadurch zustande, daß Herr Dreßler von dem Fall ausgeht, daß diese vierköpfige Familie in einem Monat so krank ist, und zwar alle miteinander, so daß sie alle Höchstbeträge der Zuzahlung ausschöpfen muß. Ich weiß nicht, in welchem Land Sie leben, daß Sie mit solch exotischen Beispielen die Leute verunsichern und glauben, hier würde etwas gemacht werden, was sozialpolitisch nicht verträglich wäre.
Wenn Sie bei dieser Berechnung die Absenkung um 1 Prozent für die chronisch Kranken berücksichtigen, dann sind es bei derselben Familie 43 DM. Wer nur zweimal zur Behandlung fährt, hat das, was für ihn als Überforderungsgrenze vorgesehen ist, voll ausgeschöpft.
Sie können mit den Argumenten, die Sie hier vorgetragen haben, Wahlkampf machen. Aber ich sage Ihnen das eine: Sie sind unwahr. Sie dienen damit möglicherweise Ihrer eigenen Propaganda, aber nicht den Patienten und dem Gesundheitswesen in unserem Land.
Wir haben jetzt Wortmeldungen zu drei Kurzinterventionen. Ich gebe Ihnen, Herr Kollege Geißler, im Anschluß daran das Wort.
Zunächst der Abgeordnete Karl Hermann Haack.
Herr Geißler, ich habe mich gemeldet, weil Sie seitens der CDU/ CSU-Fraktion hier immer über Zuzahlungen, Gerechtigkeit und ähnliche Dinge reden und ich Ihnen einmal sagen will, wo das Problem liegt und warum Sie die Öffentlichkeit täuschen.
Der Statistik des Jahrbuches der Betriebskrankenkassen ist zu entnehmen, daß 100 000 Arbeitslose einen Einnahmeausfall in der gesetzlichen Krankenversicherung von 550 Millionen DM bedeuten. Wenn Herr Kohl sein Versprechen wahrmachen würde, die Hälfte der Arbeitslosen wieder in eine versicherungspflichtige Beschäftigung zu bringen, hätten die Krankenkassen Einnahmen von über 10 Milliarden DM.
Das bedeutet also, das Kernproblem, über das Sie überhaupt nicht mehr reden, ist die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, die direkt mit der Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme zusammenhängt.
Insofern sind Sie alle, die hier seitens der Koalition reden, intellektuell unredlich.
Der zweite Punkt, den ich hier aufgreifen will: Sie reden von Eigenverantwortung. Ich habe mich eigenverantwortlich für die gesetzliche Krankenversicherung entschieden; das war ein freiwilliger Akt. Dafür zahle ich über 800 DM im Monat; das sind rund 10 000 DM im Jahr. Ich erwarte von meiner gesetzlichen Krankenversicherung, daß sie in den Stand versetzt wird, davon das zu finanzieren, was medizinisch notwendig ist. Exakt dieses verhindern Sie aber, indem Sie die ganzen Instrumente der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung stellen. Sie zwingen mich überdies dazu, Selbstbeteiligungsquoten, die Sie jetzt festsetzen, noch zusätzlich zu bezahlen. Wir haben aus der Anhörung mitgenommen, daß der statistisch durchschnittliche Krankenkassenpatient Selbstbeteiligungsquoten von ungefähr 40 Prozent der Krankenkassenbeiträge aufzubringen hat. Das heißt, zu den 10 000 DM, die ich im Jahr bezahle - es sind 12 mal 834 DM - kommen noch einmal 4 000 DM hinzu, was insgesamt 14 000 Mark ergibt.
Ich empfinde es daher als Unverschämtheit, daß Sie dann noch Mißbrauchsdebatten führen und die Kassen nicht in den Stand versetzen, eine ordentliche Vertragspolitik zu machen.
Jetzt erhält, ebenfalls zu einer Kurzintervention, die Kollegin Knoche das Wort. Dann folgt noch eine dritte Kurzintervention. Herr Geißler, ich gebe Ihnen dann genügend Zeit, auf alle zusammen zu antworten. - Bitte.
Herr Geißler, ich lasse mir in diesem Hause ungern den Vorwurf machen, ich würde hier unwahre Dinge behaupten.
Zum einen ist es natürlich richtig, daß alle, die zuzahlen müssen, ihre Beiträge korrekt entrichtet haben. Wenn der Effekt von Beitragssatzanhebungen usw. sechs Prozent mehr Zuzahlungen heißt, dann ist das de facto ein Ausstieg aus der Parität. Da beißt keine Maus einen Faden ab.
Monika Knoche
Zu dem, was Sie zur Sachleistungsgewähr gesagt haben: Mir geht es dabei um zwei Beispiele. Das eine ist, daß bei Umsetzung Ihrer Pläne im Bereich der Arzneimittelversorgung die Kassenpatienten und -patientinnen wahrscheinlich 70 Prozent aller in den Arztpraxen verordneten Arzneimittel rein privat bezahlen müssen. Die Medikamentenversorgung ist jedoch eine medizinisch notwendige Leistung, die den Kassenpatienten und -patientinnen zusteht. Sie grenzen sie aber aus und nehmen sie aus der Sachleistungsgewähr.
Das zweite Beispiel ist, daß Sie das Leistungsspektrum bei der kieferorthopädischen Behandlung zu einem reinen Zuschußbereich erklärt haben, woraus resultiert, daß zahlreiche Kieferorthopäden dem Grunde nach gar nicht mehr die Berechtigung einer Kassenzulassung haben; denn dieser Bereich wird aus der Sachleistungsgewähr herausgenommen.
Ständig wird der Begriff „Kernleistungen" kolportiert. Sagen Sie mir bitte: Was sind medizinisch, sozial und kulturell erklärbare und definierbare Kernleistungen? Ich habe den Eindruck, daß Sie bei der zahnärztlichen Versorgung und bei der Arzneimittelversorgung indikationsbezogen Leistungen ausgrenzen und darüber indirekt Kernleistungen definieren. Um dieses Problem geht es.
Zu einer dritten Kurzintervention erhält der Kollege Professor Pfaff das Wort.
Herr Dr. Geißler, gerade Ihnen hätte ich eigentlich ein bißchen mehr Souveränität zugetraut, in diesem Hohen Hause auf Fragen eingehen und sie auch beantworten zu können. Warum Herr Lohmann nicht den Mut zu einer Sachauseinandersetzung hat, wissen wir, aber bei Ihnen würden wir wirklich erwarten, daß Sie sich der Diskussion stellen.
Meine erste Frage: Da Sie das deutsche System - und dies zu Recht - mit dem amerikanischen System vergleichen und zeigen, daß das deutsche kosteneffektiver ist - Sie sollten hinzufügen: auch verteilungsgerechter -, frage ich Sie, warum Sie denn nicht diesem Hohen Hause und der Öffentlichkeit sagen, daß genau der Weg über diese Instrumente, die Sie jetzt einführen wollen - Erweiterung der Zuzahlung, Beitragsrückerstattung und Kostenerstattung -, von den USA eingeschlagen wurde und unter anderem dort dazu geführt hat, daß 39 Millionen Menschen ohne Versicherung, 20 Millionen unterversichert sind und die Gesundheit äußerst ungleich verteilt ist. Daß
Sie diesen Weg gehen wollen, ist auch ein Ausdruck von Unlogik sondergleichen!
Zweiter Punkt: Sie fordern uns auf, zu sagen, wo eine Ausgrenzung stattfindet. Es handelt sich ja nicht nur um eine Privatisierung der Finanzierung, sondern Sie privatisieren Leistungen: Jungen Menschen wird in Zukunft ihr Zahnersatz selbst überlassen bleiben und von der Dicke der Geldbörse abhängig sein. An den Zähnen werden wir, Herr Dr. Geißler, wenn das wahr wird, was Sie wollen, den sozialen Status der Menschen erkennen. Dafür, so sagen wir, brauchen wir keine soziale Krankenversicherung in der Art, wie Sie sie wollen.
Dritter Punkt: Sie sagen, die SPD habe kein Finanzierungskonzept.
Sie wollen bei den Kranken, bei den Beitragszahlern und bei den Alten sparen. 50 bis 60 Prozent der Gesundheitskosten eines Lebens fallen im letzten Lebensjahr an. Wenn Sie Zuzahlungen erheben, trifft es genau diese Menschen in ihrer Schlußphase, die Alten und die chronisch Kranken - dazu komme ich gleich.
Letzter Punkt: Wir meinen, daß man sich, wenn es Probleme in einer Gemeinschaft gibt, zusammensetzen und sich fragen sollte, wie man diese Probleme solidarisch lösen kann, und nicht, wie man die Schwächsten mehr belastet. Wir wollen die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau der Rentenversicherung anheben. Wir wollen diese 10 Milliarden DM, die wir dadurch erhalten, an die Versicherten durch eine Beitragssenkung um sechs Zehntel zurückgeben. Ihnen ist bisher nur der Weg der Privatisierung und der Entsolidarisierung eingefallen. Gerade Sie, Herr Dr. Geißler, sollten sich nicht als Feigenblatt für eine solche Politik hergeben, denn auch Sie haben noch ein bißchen an gutem Ruf zu verlieren.
Bitte, Herr Abgeordneter Geißler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich jetzt nicht auf jeden Punkt eingehe, dann bitte ich um Verständnis; das heißt, ich will zwar schon darauf eingehen, aber wenn ich einen vergesse, bitte ich um einen Zuruf, weil ich mir die Fülle der Argumente bei
Dr. Heiner Geißler
der Geschwindigkeit der Reden gar nicht alle aufschreiben konnte.
Ich habe nicht verstanden, worin der Unterschied liegt, wenn ich für Arzneimittel eine Zuzahlung von 3 oder 4 DM habe oder eine höhere.
- Jetzt regt euch doch nicht dauernd so auf, sondern hört einmal zu, was man sagen will! Das ist ja fürchterlich.
Nehmen wir einmal an, wir haben ein Medikament, bei dem die Zuzahlung 7 DM beträgt.
- Frau Präsidentin, die Dame hört nicht zu.
Dazu kann ich sie nicht zwingen, aber ich bitte um ein bißchen Ruhe, damit man die Antworten hören kann und wir den Zeitrahmen einhalten können.
Ich habe ja nichts gegen Zurufe, aber es hat doch keinen Wert, wenn ich Sie gar nicht verstehen kann. Wenn Sie jetzt dauernd schreien, kann ich Sie gar nicht verstehen. Aber Sie können ja hinterher noch eine Kurzintervention machen, wenn das möglich ist.
Was ist denn nun gegen unsere Vorschläge angesichts der Finanzproblematik, die ich gerade aufgezeigt habe, einzuwenden? Sie haben dazu keine Alternative; die einzige Alternative habe ich jetzt von Herrn Professor Pfaff gehört, die aber dem Herrn Haack überhaupt nicht gefallen wird; er hat sich nämlich gerade darüber beschwert, daß er bei seinem relativ hohen Einkommen 10 000 DM an Beiträgen zahlen muß. Wenn es nach Herrn Pfaff ginge, würden die Beiträge um 30 Prozent erhöht werden,
weil die Beitragsbemessungsgrenze erhöht würde. Nach dem Vorschlag von Herrn Pfaff müßten Sie 30 Prozent mehr Beiträge bezahlen. Sie müssen erst einmal untereinander ausmachen, was Sie eigentlich wollen.
Das zur Finanzproblematik.
Es ist richtig, daß die Zuzahlung des Patienten für die einfache Packung eines Arzneimittels künftig 9 DM beträgt. Diese Regelung kann man angreifen; das verstehe ich. Die Gegenargumente kann man nicht einfach wegwischen. Aber nach dem, was Herr Pfaff jetzt wieder erklärt hat, würden die Alten und die sozial Schwachen geschädigt. Das ist nun wiederum genau das Gegenteil von dem, was wir hier machen;
denn gerade die Schwachen werden geschont, weil sich die Härtefallklausel bekanntlich auf sie und nicht auf Menschen wie Herrn Haack bezieht.
Es gibt 8,2 Millionen Personen, die keine Mark Zuzahlung leisten. Der Minister hat das schon aufgeführt. Soll ich das fünfmal sagen, bis das der letzte im Saal kapiert? Die Zuzahlung der chronisch Kranken wird auf 1 Prozent und die der anderen auf 2 Prozent des Jahresbruttoeinkommens beschränkt.
Ich sagen Ihnen: Wir haben keinen Nachholbedarf. Sie haben den Zuzahlungen zugestimmt. Zuzahlungen in die gesetzliche Krankenversicherung einzuführen war genauso eine Entscheidung der Sozialdemokratischen Partei. Das haben wir miteinander gemacht. Jetzt streiten wir nur darüber, ob die Höhe der Zuzahlung in Ordnung ist oder nicht. Darüber kann man debattieren. Nur, Sie können aus dem Streit über die Höhe der Zuzahlung nicht eine Systemdiskussion machen,
nachdem die Überforderungsklausel und die Härtefallklausel erhalten bleiben.
Den Einwand in bezug auf die Kieferorthopädie habe ich überhaupt nicht kapiert. Ich habe den Eindruck, Sie lesen irgendwelche Gesetzentwürfe, die aber gar nicht verabschiedet worden sind. Ich kenne mich in diesem Punkt nicht so aus und habe mir den Sachverhalt gerade sagen lassen:
Im Bereich der Kieferorthopädie bekommen die Patienten 20 Prozent zurück, wenn die Behandlung abgeschlossen ist. Sie können doch nicht solche Behauptungen aufstellen!
Beim Zahnersatz führen wir das Zuschußsystem ein, wie es ähnlich auch in der Schweiz vorhanden ist. Die Schweizer sind weder zahnlos, noch sind sie medizinisch schlechter gestellt, noch sozial überfordert. Die Schweiz hat noch nicht einmal die Härtefallregelung, die wir haben. Übrigens, Herr Kirschner, das verschweigen Sie auch - Sie sagen einfach nicht die Wahrheit -: Wir haben in diesem 2. GKV-Neuordnungsgesetz auch für den Zahnersatz eine Härtefallregelung. Jeder, der unter der Grenze dieser Härtefallklausel liegt, bekommt einen Betrag, der dem doppelten Festzuschuß entspricht. Damit erhält er einen notwendigen Zahnersatz nach einem normalen medizinischen Standard.
Wenn man die Debattenbeiträge verfolgt, die von Ihrer Seite kommen, kann man manchmal fast verzweifeln, weil Argumente überhaupt keinen Sinn mehr haben, da Sie gar nicht zuhören.
Das Übelste, was wir in der Politik machen können, ist das Führen einer im Prinzip und von den Tatsachen her völlig unnötigen Auseinandersetzung auf
Dr. Heiner Geißler
dem Rücken der sozial Schwächeren und der Kranken. Das dürfen wir alle zusammen nicht tun.
Aber Sie machen das, indem Sie die Menschen systematisch falsch informieren. Ich habe Ihnen an fünf Beispielen bewiesen, daß Sie ständig falsche Informationen an die Öffentlichkeit geben.
Dadurch dienen Sie nicht den Patienten, sondern Sie schaden unserem Gesundheitswesen.
Jetzt hat die Abgeordnete Marina Steindor das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute soll das 2. GKV-Neuordnungsgesetz parlamentarisch abgeschlossen werden. Aber ich garantiere Ihnen: Die gesellschaftliche Debatte um die Gesundheitspolitik wird weitergehen. Das liegt nicht an der Opposition, sondern daran, daß Ihr Gesetz so schlecht ist.
Dieses Gesetz versucht, Prävention zu organisieren - aber nicht Prävention von Krankheit und Krankheitsverschlechterung, sondern von Mitspracherechten des Bundesrates in der Gesundheitspolitik, die eigentlich unsere Verfassung vorsieht. Dieses Gesetz ist eine Mischung aus verkappter Standort- und Industriepolitik. Dieses Gesetz wird nicht dem vorgegebenen Ziel gerecht, adäquat dem medizinischen Fortschritt und dem demographischen Wandel zu begegnen und Rationierungen im gesamten Gesundheitssystem zu vermeiden.
Nach dem „Spiegel" letzter Woche wissen wir genau, daß Herr Seehofer sehr wohl weiß,
daß zwischen dem Umfang der medizinischen Leistungen und dem Ausmaß an Gesundheit
- in unserer Bevölkerung -
kaum ein Zusammenhang besteht, wissenschaftlich gesehen.
Mit diesem Gesetz liefern Sie selber den doppelten Beweis, daß Ihre Politik nicht auf wissenschaftlicher Expertise aufbaut
und daß Ihre Politik des Abkassierens bei den Versicherten und des Geschenkeverteilens zugunsten der Ärzte und der Pharmaindustrie rein politisch motiviert ist.
Dieses Gesetz bedeutet die Abkehr vom solidarischen, beitragshälftigen Modell der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Hintertür. Denn in der Zusammenschau mit dem Beitragsentlastungsgesetz ergeben sich zusätzliche Zuzahlungen der Versicherten bis zu 1,1 Beitragssatzpunkten.
Mit diesem Gesetz hören Sie auf, die Eigeninteressen der Leistungsanbieter gesellschaftlich zu zähmen. Denn statt weiterhin Kostendeckelung bei Arzt- und Arzneimittelbudgets zu betreiben, werden die Versicherten allein im Arzneimittelbereich mit zusätzlich 3,5 Milliarden DM belastet.
18 Prozent der Arzneimittelverordnungen sind ganz aus der Erstattungspflicht der Kassen entlassen. Diese Zuzahlungen haben - das wissen Sie selber - keinen Steuerungseffekt und versorgen die Patienten nicht besser.
Denn wo landen die Medikamente? Laut „Ersatzkassen-Report" vom Februar 1997 „stinkt der Arzneimüll zum Himmel".
Allein in Kiel wurden im vergangenen Jahr knapp 10,6 Tonnen Pillen, Salben und Tropfen bei der Schadstoffstelle abgegeben. Ich will hier nicht verschweigen, daß einige Medikamente sehr gut wirken. Aber nach Schätzungen des BMG fallen allein in den alten Bundesländern in den Apotheken jährlich rund 2 500 Tonnen zurückgegebene Altmedikamente an, weitere 2 000 Tonnen bei den kommunalen Sammelaktionen.
Angesichts dieser Tatsachen kann man doch wohl zu Recht davon sprechen, daß hier eine Subventionierung aus GKV-Mitteln für die Pharmaindustrie organisiert wird.
Gesellschaftlich und gesundheitswissenschaftlich steht die Frage im Raum: Wieviel Gesundheitsgewinn erzielen wir mit diesem technischen und medikamentösen Aufwand?
Mit diesem Gesetz werden - ich sagte es schon - die Versicherten belastet. Eine Vergleichsgröße zu den 3,5 Milliarden DM im Arzneimittelbereich: Sie haben im Reha-Bereich der Rentenversicherung 2,7 Milliarden DM gekürzt. Wir rechnen mit einer Zunahme der Arbeitslosenzahl im Kurbereich von über 20 000. Der volkswirtschaftliche Schaden ist viel höher als das, was Sie einsparen.
Es geht bei Rehabilitation um eine ganzheitliche Arbeit an chronischen Krankheiten, um Lebensbe-
Marina Steindor
wältigung, um Krankheitsbewältigung, nicht immer nur um High-Tech-Leistungen. Sehr viele Frauenarbeitsplätze, personenbezogene Dienstleistungen hängen damit zusammen. Aber diese Dinge entwerten Sie in Ihrer Politik.
Wenn es um Rationierung geht, dann verschleiern Sie bewußt. Sie sprechen immer nur über die gesetzliche Krankenversicherung. Aber mit Ihrer Politik haben Sie heute bereits Rationierungen im Rehabilitationsbereich zu verantworten, und zwar bei berufstätigen Menschen, die chronisch krank sind und deren Leistungen aus der Rentenversicherung bezahlt werden müssen. Das können Sie mit Ihrer Gesundheitspolitik im 2. NOG gar nicht auffangen.
Sie sprechen bewußt nicht darüber, weil Sie in Ihrem Ressortdenken und Ihren Bemühungen, Ihre Koalition zusammenzuhalten, gar nicht mehr in der Lage sind, die gesundheitspolitischen Probleme richtig zu erkennen. Denn dieses Land braucht keine monetäre, sondern eine ergebnisorientierte Gesundheitspolitik.
Sie ziehen das Geld in das System nicht, um inländische personenbezogene Dienstleistungsarbeitsplätze zu schaffen und zu sichern, sondern um es an die Klientel der Kassenärzte und an die globalisierte Pharmaindustrie zu verteilen. Sie begründen Ihre Politik mit dem medizinischen Fortschritt. Sie meinen aber immer nur die High-Tech-Medizin und die Materialschlacht an zu verkaufenden Waren.
Gesellschaftlich steht doch die Frage im Raum, ob - ich zitiere das „Ärzteblatt" - „die Fortschrittsfalle nicht zur Kostenfalle wird". Denn das gewandelte Krankheitspanorama in unserer Gesellschaft und der altersdemographische Aufbau der Bevölkerung erfordert eine Verstärkung von Gesundheitsförderung und Rehabilitation. Gefordert ist eine ganzheitliche Medizin und nicht nur High-Tech-Leistungen, so wie Sie es hier ständig beschwören.
Lesen Sie doch einmal die Sachverständigenberichte. Ihre Politik ist eine gesundheitspolitische Bankrotterklärung. Man kann nur hoffen, daß all die Millionen von chronisch Kranken, die dabei zu kurz kommen, Ihnen bei der nächsten Wahl die Quittung dafür geben.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Geißler, Ihre Rolle als Verschleierungstaktiker von Koalitionsaussagen haben Sie ganz gut ausgefüllt. Ich glaube aber doch, daß die Menschen draußen, die Bürgerinnen und
Bürger dieses Landes, sich von Ihnen inzwischen kein X mehr für ein U vormachen lassen.
Denn Dinge wie Gestaltungsleistungen - diese sind zwar jetzt vom Tisch -, Einfrierung des hälftigen Arbeitgeberanteils und nun Zuzahlungen, die allein von den Patienten getragen werden, sind Instrumente, mit denen die F.D.P.-gelenkte Mannschaft aus Apotheken-Lobbyisten, Freunden von Ärzten und Schulterklopfern der Pharmaindustrie in diesem Land Gesundheitspolitik macht. Das Chaos unter den im Gesundheitswesen Beteiligten ist inzwischen vollkommen.
Die Richtung ist absolut klar: Die GKV als fundamentaler Eckpfeiler unseres sozialen Sicherungssystems soll systematisch ausgehöhlt und letztendlich in ihrer solidarischen und paritätischen Struktur zerstört werden. Ihr Bekenntnis zur solidarischen GKV, Herr Dr. Geißler, ist nichts anderes als eine Worthülse.
Die Strategie ist jedem ersichtlich: Nach den Eingriffen und Systemveränderungen im Rahmen der Einzelmaßnahmen des Änderungsgesetzes hinsichtlich des dritten bis achten Änderungsgesetzes zum SGB V, des sogenannten Beitragsentlastungsgesetzes,
des 1. NOG und des Entwurfes des 2. NOG wird ganz systematisch der nächste Nagel in den Sarg unseres solidarisch finanzierten Krankenversicherungssystems getrieben.
Die Sachleistung wird beerdigt, und die Kostenerstattung war dafür für alle geboren.
Gnadenlos hat der blutsaugende Minister Seehofer nun auch den Hals entdeckt, in den er seine Zähne schlägt: den Hals der Patienten.
Um noch einmal auf das Thema Zahnersatz zu kommen: Nach der Abschaffung der Erstattung der Kosten für den Zahnersatz für die Menschen in Deutschland, indem nämlich keiner der nach 1979 Geborenen noch Zahnersatzleistungen erhält, begründet nun das Bundesministerium die direkte Kostenerstattung bei kieferorthopädischen Behandlun-
Petra Ernstberger
gen und bei Zahnersatz scheinheilig damit, daß die Kostenerstattung über die Kassenärztliche Vereinigung hinfällig wird, da der Zahnersatz auf eine gänzlich neue Grundlage gestellt und einem neuen Verfahren unterstellt werde. Ich frage mich nur, worin die Notwendigkeit und auch der Sinn eines neuen Zahlungsweges liegt, wenn sich weiterhin nichts anderes geändert hat, also die BEMA-berechnete Kostenerstattungsform.
Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, steckt der Teufel wieder einmal im Detail. Der von den Krankenkassen zu tragende Teil an den Kosten der kieferorthopädischen Versorgung wird nun ausschließlich direkt an den Versicherten bezahlt. Damit einhergehend richtet sich in Zukunft der Zahlungsanspruch des Vertragszahnarztes natürlich auch gegen den Versicherten. Nach Ablauf von zwei Jahren wird es nur noch privatrechtliche Vertragsverhältnisse geben. Das kann für den Bürger bedeuten, daß, wie im privatzahnärztlichen Bereich schon üblich, von ihm Vorkasse verlangt wird, wenn er zu dem Kreis derjenigen Patienten gehört, von denen der Zahnarzt nicht sicher ist, daß die Einkommens- und Vermögenslage gesichert ist.
Außerdem werden Praktiken Einzug erhalten, die wir bisher nur aus dem Wirtschaftsleben kennen: Ratenverträge und Kreditverträge, die Banken - vielleicht auch Kreditvermittler in den Zahnarztpraxen - den Versicherten anbieten, werden den Zahlungsverkehr zwischen Arzt und Patient liberalisieren.
Das Herz der F.D.P. muß doch angesichts solcher durchschlagender Deregulierungserfolge aufgehen. Von den Zahnärzten werden Inkassobüros eingeschaltet, die an den Türen der Bürger unseres Landes klopfen und die Begleichung ausstehender Rechnungen einfordern. Ab sofort werden Mahnbescheide und Klagen auf Zahlung der Kosten zum Alltag der zahnärztlichen Versorgungsverhältnisse gehören. Die schöne neue Welt des Herrn Jürgen W. Möllemann wird endlich Wirklichkeit. Lesen Sie dazu bitte einmal die „Ärztezeitung".
Die Festsetzung der Festzuschüsse stellt für die Versicherten eine weitere finanzielle Belastung dar. Die in dem Gesetz vorgesehene Absenkung der Festzuschüsse von 50 Prozent auf 45 Prozent bedeutet für die Patienten, daß die solidarische Finanzierung zugunsten der Zuzahlung nur durch die Betroffenen reduziert wird. Da die Härtefallregel - Herr Geißler hat es eben gesagt - nicht an den tatsächlich entstandenen Kosten, sondern an der festen Summe - höchstens den doppelten Festzuschuß - orientiert ist, müssen sozial Schwache einen mehr oder minder größeren Eigenanteil übernehmen.
Mit diesem Gesetzentwurf sollen in einer bisher nicht gekannten Art und Weise gravierende Verschlechterungen für die Patientinnen und Patienten, die Bürgerinnen und Bürger durchgepeitscht werden. Ohne Überlegung und mit wenig Sachverstand soll unser bewährter Sozialstaat zerschlagen werden. Durch Sie ist eines passiert: In Deutschland ist das Wort „Reform" inzwischen zu einem Unwort geworden.
Das alles geschieht aus dem koalitionserhaltenden Kalkül heraus, daß die F.D.P. ihrem Wahlklientel etwas vorweisen kann - auf Kosten der Kranken und der sozial Schwächeren.
Warum, Herr Seehofer, sind Sie eigentlich noch im Amt?
Es würde doch vollends genügen, wenn wir Ihren politischen Vordenker und Souffleur Möllemann klonen ließen
und er dann Ihre Aufgabe auch noch übernehmen würde. Das wäre, Herr Zöller, den Menschen gegenüber ehrlicher.
Wir stehen für das soziale Sicherungssystem in dieser Republik. Wir stehen auch hinter dem Sachleistungsprinzip. Das sagen wir den deutschen Bürgern.
Frau Kollegin Ernstberger, wir haben alle gemerkt, daß Sie sich in Ihrer Rede um eine Bildersprache bemüht haben, die eng mit dem Gesundheitswesen verbunden ist. Aber wir stellen doch zusammen fest, daß der Herr Minister Seehofer kein Vampir ist.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sprecher der Opposition - besonders die von der SPD - haben den Vorwurf erhoben, mit den vorgelegten Gesetzentwürfen würden die Grundlagen unseres sozialen Sicherungssystems verlassen.
Ulf Fink
Diese Vorwürfe werden von seiten der SPD seit 15 Jahren bei fast jedem Gesetzentwurf erhoben, den die Bundesregierung vorlegt. Das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist deshalb aber nicht schlechter geworden; vielmehr haben wir nach wie vor eines der besten sozialen Sicherungssysteme in der ganzen Welt.
Nein, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihre Vorwürfe sind nicht neu. Neu ist, daß wir diesmal Punkt für Punkt nachweisen können, daß es Ihnen keineswegs um eine gute Gesundheitspolitik, sondern ausschließlich darum geht, parteipolitische Vorteile zu erringen. Da schrecken Sie vor keiner Verdrehung, vor keiner falschen Darstellung zurück.
Es ist Ihnen keine Polemik zu billig, um parteipolitische Vorteile zu erringen.
Aber Gott sei Dank können wir die Öffentlichkeit diesmal Punkt für Punkt darüber informieren, was Sie in Wirklichkeit so treiben und was von Ihrer Forderung, wir sollten, statt die Zuzahlung zu erhöhen, die Rationalisierungsreserven heben, in Wirklichkeit zu halten ist.
Wir hatten ursprünglich nicht diese Gesetzentwürfe vorgelegt. Wir hatten ursprünglich das Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetz und das Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung vorgelegt. Bei den Hearings im Deutschen Bundestag haben die Krankenkassen erklärt - sie haben es jetzt wiederholt -, sie hätten gegenüber diesen Gesetzentwürfen eine beachtliche Sympathie.
Am 26. August des vergangenen Jahres haben wir diese Gesetzentwürfe im Deutschen Bundestag zur Abstimmung gestellt. Sie haben diese Gesetzentwürfe abgelehnt.
Am 12. September des vergangenen Jahres haben diese Gesetzentwürfe endgültig im Bundesrat zur Abstimmung gestanden, und Sie haben sie mit Ihrer Mehrheit wiederum abgelehnt.
Jetzt möchte ich Ihnen einmal sagen, was in diesen Gesetzentwürfen drinstand und was Sie abgelehnt haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich gestatte keine Zwischenfragen, jetzt nicht und auch nachher nicht.
Wir haben, was die Rationalisierungsreserven angeht, das getan, was jeder Vernünftige tun würde: Wir haben bei dem Bereich begonnen, der der teuerste des Gesundheitswesens ist. Wissen Sie, was der teuerste Bereich des Gesundheitswesens ist? Das sind nicht die dauernd von Ihnen beschworenen Medikamente und die Vergütung der Ärzte, sondern der teuerste Bereich des Gesundheitswesens ist der stationäre Bereich, das Krankenhauswesen.
Von den rund 240 Milliarden DM der gesetzlichen Krankenversicherung werden mehr als 80 Milliarden DM allein für den Krankenhausbereich aufgewandt. Sie können doch nun wirklich nicht bestreiten, daß es das Wichtigste ist, dafür zu sorgen, daß es nicht zu viele Krankenhäuser und Krankenhausbetten gibt; denn eines ist doch klar: Jedes Krankenhausbett kostet jährlich 100 000 DM. Wir wissen ganz genau, daß jedes Bett, das einmal dasteht, wie durch ein Wunder belegt wird.
Das Wichtigste ist, den Krankenkassen mehr Rechte zu geben, und wir haben sie ihnen gegeben. Wir wollten ihnen bei der Krankenhausplanung der Länder ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumen.
Ich weiß, das geht ans Eingemachte, und das fällt Ihnen auch sehr schwer. Rudolf Dreßler hat - wir sind darüber informiert - in der SPD-Fraktion damals den Vorschlag zur Abstimmung gestellt, daß man hineinschreibt: In der Bundesrepublik Deutschland gibt es 50 000 Krankenhausbetten zuviel. - Er ist gestoppt worden, weil es Ihnen nämlich unangenehm ist, diese Auseinandersetzung mit den Ländern, in denen Sie die Mehrheit haben, zu führen. Das ist die Wahrheit.
Schauen Sie, Sie sind damit in Ihrer Fraktion kläglich gescheitert. Der Bundesrat hat diesen Gesetzentwurf abgelehnt. Wenn Sie fordern, Rationalisierungsreserven zu heben, statt Zuzahlungen zu erhöhen, so muß ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren von der SPD: Sie haben die Gelegenheit, die wir Ihnen gegeben haben, kläglich, aber ganz kläglich verstreichen lassen.
Ferner beklagen Sie die Koppelung von Beitragssatzerhöhung und Selbstbeteiligung. Ich wiederhole, was meine Vorredner gesagt haben: Wir hatten eine solche Koppelung ursprünglich nicht vorgesehen. Wir hatten etwas anderes vorgesehen, und zwar Abstimmung mit Dreiviertelmehrheit. Auch das haben Sie scheitern lassen.
Dann sagen Sie, wir schonten die Ärzte und die Pharmaindustrie. Abgesehen von der Tatsache, daß in dem Gesetzespaket, das Sie abgelehnt haben, Arzneimittelbudget und Gesamtvergütung gar nicht verändert worden sind, frage ich Sie: Wollen Sie wirklich ernsthaft bestreiten, daß sich die Ausgaben für Arzneimittel und Ärzte seit der Reform von Lahnstein nicht überproportional entwickelt haben, sondern
Ulf Fink
daß es die Ausgaben im Krankenhausbereich gewesen sind, die sich überproportional entwickelt haben?
Wollen Sie denn ernsthaft bestreiten, daß wir im Bereich der ärztlichen Vergütung Maß und Mitte erreichen konnten und daß sogar ein Zuwachs der Ärztezahlen von 105 000 in 1992 auf 120 000 in 1995 solidarisch von den Ärzten getragen worden ist und nicht zu Lasten der Krankenkassen gegangen ist? Das müßte man in anderen Berufsbereichen mal probieren. Da würden Sie sehen, was eigentlich passiert.
Oder nehmen wir einmal die Pharmaindustrie. Sie sagen immer, da liege der kostenträchtige Bereich. Ausweislich der Ergebnisse des wirklich unabhängigen Instituts der Ortskrankenkassen haben sich die Arzneimittelpreise wie folgt entwickelt: 1992 plus 2,1 Prozent, 1993 - nach der Lahnstein-Reform - minus 3,6 Prozent, 1994 minus 1,2 Prozent, 1995 plus 0,2 Prozent.
Meine Damen und Herren, früher beanspruchten die Arzneimittel vom Krankenkassenetat rund 16 Prozent der Ausgaben, jetzt nur noch 13 Prozent. Da ist es eine Frechheit von Ihnen zu behaupten, wir schonten die Pharmaindustrie. Es ist eine absolute Frechheit, so etwas zu behaupten.
Nein, meine Damen und Herren, wir wollen kein Gesundheitswesen à la England, wir wollen aber auch kein Gesundheitswesen à la USA. Wir sind mit unserem Gesundheitswesen von Planwirtschaft genauso weit entfernt wie von überzogener Marktwirtschaft. Das ist der deutsche Weg.
Ich sage Ihnen: Wir haben schon zu Beginn der 50er Jahre, zum Teil gegen den erbitterten Widerstand der Sozialdemokraten, das deutsche Sozialmodell durchgesetzt. Wir stehen heute wieder an einer Weggabelung. Das wissen Sie doch ganz genau.
Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, ich prophezeie Ihnen: Ihr Neinsagekurs hat sich in den 50er Jahren nicht ausgezahlt. Sie sind damals 20 Jahre lang nicht an der Regierung gewesen. Sagen Sie Ihren Strategen in der Baracke: Ihr Neinsagekurs, Ihre Sonthofen-Strategie am Ende dieses Jahrhunderts wird sich wiederum nicht auszahlen.
Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte gerne schon in der ersten Runde meine Redezeit voll ausgeschöpft, aber dieses Privileg wurde uns nicht zugestanden. Deshalb müssen Sie jetzt noch einmal mit mir vorliebnehmen.
Zu Beginn meines zweiten Redebeitrags möchte ich auf eine Äußerung von Herrn Minister Seehofer Bezug nehmen. Sinngemäß war von ihm zu hören:
Alles kann der Sozialstaat nicht bezahlen; eine Rundumversicherungsmentalität muß verhindert werden.
Wir reden über Gelder, die durch die Beiträge von den Versicherten selbst und bis heute noch hälftig von den Arbeitgebern in die Krankenkassen eingezahlt wurden, also nicht von irgendeiner staatlichen Stelle. Sie haben somit meiner Meinung nach auch das Recht, im Krankheitsfall die medizinische Leistung so in Anspruch zu nehmen, wie es gesetzlich festgeschrieben ist. Den Mißbrauch diesbezüglich anzusprechen ist sicher geboten, ihn aber zum Hauptargument des Defizits der Krankenkassen zu machen halte ich für unverantwortlich und auch diskriminierend gegenüber den Kranken, die auf die medizinische Leistung ein Recht haben.
Ich jedenfalls bleibe bei meiner Aussage, die ich heute schon getroffen habe: Trotz oder gerade wegen der verhängnisvollen Fehlentwicklung, in welche die gegenwärtige Regierung das Gesundheitswesen treibt, muß es eine unverzichtbare Aufgabe der Gesellschaft bleiben, allen Menschen gleiche Chancen für die Gesunderhaltung und für die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Das ist nicht nur sozialpolitisch geboten und für die jeweils mögliche Qualität medizinischer Hilfen unerläßlich, sondern das ist im Gegensatz zu allen Behauptungen dieser Koalition nach wie vor auch solidarisch finanzierbar.
Das gilt selbst dann, wenn man in Rechnung stellt, daß sich die Aufwendungen für das Gesundheitswesen aus demographischen Gründen, aber auch im Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts auf längere Sicht tatsächlich weiter erhöhen müssen. Aber sogar der von der Regierung eingesetzte Sachverständigenrat hat bestätigt, daß dieser objektiv bedingte Kostenanstieg moderat und damit in kalkulierbaren Schritten erfolgt.
Die immer wieder auftretenden und eher unberechenbaren jährlichen Kostensprünge werden dagegen - das wissen auch alle hier im Saal genau - von den falschen Leistungsanreizen und kostentreibenden Strukturen im Versorgungssystem selbst herbeigeführt. Einzelleistungsvergütungen und die damit einhergehenden, medizinisch nicht begründeten Mengenausweitungen, fehlende Integration und Kooperation, ganz besonders auch der Mangel an hausärztlicher Steuerungsfunktion und die dadurch bedingten Doppel- und Mehrfachuntersuchungen, die unnötigen Krankenhauseinweisungen, weil elementare Formen der Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und Kliniken nicht funktionieren, die überhöhten Ausgaben für zu viele und überteuerte Arzneimittel - das sind doch jene systemimmanenten Fehler, deren schrittweise Beseitigung sehr rasch zu Einsparungen in zweistelliger Milliardenhöhe führen würde.
Deshalb bleibt es dabei: Exakt hier und nicht etwa bei der finanziellen Schröpfung kranker Menschen liegen die wirklichen Herausforderungen für eine gestaltende Gesundheitspolitik. Dazu allerdings ist die Koalition längst nicht mehr in der Lage und, wie wir
Dr. Ruth Fuchs
heute wieder hören, auch gar nicht mehr willens. Wenn es eines letzten Beweises dafür bedurfte, so ist dieser spätestens mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erbracht.
Das andere Ursachenbündel für die Finanzprobleme im Gesundheitswesen besteht bekanntlich darin, daß die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherungen bei natürlich weiter steigenden Absolutzahlen, gemessen am Bruttosozialprodukt, also relativ, seit langem zurückgehen. Die Hauptgründe dafür sind aber sinkende Lohnquoten und zunehmende Arbeitslosigkeit. Diese Seite des Problems hat die Koalition bisher entweder überhaupt nicht begriffen, oder sie ignoriert sie hartnäckig.
Tatsächlich aber ergibt sich daraus, daß auch sozialstaatlich orientierte Verbesserungen der Einnahmesituation der Krankenkassen als Handlungsoption auf die Tagesordnung gehören. Beitragssatzstabilität kann also durchaus gewährleistet werden, ohne daß Krankheit auch noch finanziell bestraft wird und ohne daß die gesetzliche Krankenversicherung aufs Spiel gesetzt werden muß. Ganz im Gegenteil: Erhalt und Festigung ihres solidarischen Charakters ist und bleibt die eigentliche Aufgabe.
Dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, der heute, wie auch ein Antrag von uns, vorliegt, stimmen wir zu. Das gleiche gilt für die Inhalte des SPD-Antrages. Für mich und auch für andere Mitglieder meiner Gruppe bleibt jedoch die darin enthaltene Illusion Ihrerseits unverständlich, daß man mit dieser Koalition noch zu Gemeinsamkeiten kommen könnte. Wir werden Ihrem Antrag aber trotz dieser Anmerkung zustimmen, weil er inhaltlich den richtigen Weg zeigt, wohin eine Reform der Gesundheitsstruktur führen sollte.
Als letzte in dieser Debatte hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel das Wort.
Ich bitte Sie, ein bißchen ruhiger zu sein, damit man die Kollegin auch verstehen kann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Fink, ausgerechnet Sie beklagen die Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme. Sie haben die sozialen Sicherungssysteme doch in den letzten 15 Jahren Schritt für Schritt ausgehöhlt, und jedes neue Gesetz trägt dazu bei.
Herr Fink, ich muß Ihnen sagen: Sie sind der lebende Beweis dafür. Ihre Reden in Ihrer früheren Position waren anders, und Sie waren auch einmal besser.
Während uns die Natur heute zumindest kalendarisch ein Frühlingserwachen beschert, sorgt die Regierungskoalition mit dem 2. NOG gesundheitspolitisch für ein ganz böses Erwachen. Denn dieses Gesetz - das zeigt uns das Wetter draußen - bringt weitere soziale Kälte in dieses Land. Das ist das, was uns heute bewegt.
Frühlingsgefühle kommen auf, aber allenfalls bei der Pharmaindustrie, den Ärzten und den Zahnärzten, denen die Koalition für allerlei Ostergeschenke das Füllhorn öffnet.
- Herr Zöller, an Ihrer Stelle würde ich nicht so laut rufen. Das, was Sie vorhaben, ist zutiefst inhuman.
Ich denke, das spaltet die Menschen in diesem Land.
Den Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung dagegen öffnet Ihre Frühjahrsreform vor allem eines, meine Damen und Herren: die Geldbörsen. Es sind nämlich die Versicherten, die jene Geschenke an Ärzte und Industrie bezahlen müssen.
- Ich möchte Sie bitten, nicht so laut zu sein. Hören Sie zu! Die Menschen interessiert nämlich, über was hier gesprochen und abgestimmt wird.
Es sind vor allen Dingen die Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. - Herr Dr. Thomae, hören Sie gut zu! -, die damit ihre Klientel bedienen werden. Es sind die Versicherten - ausschließlich die Versicherten -, die mit drastisch erhöhten und ausgeweiteten Zuzahlungen in Zukunft die Zeche für Ihre Gesetze zahlen dürfen.
Beitragsentlastungsgesetz, erstes Neuordnungsgesetz, zweites Neuordnungsgesetz - schöne Namen. Nach Ihrer Ansicht sind dies drei Teile einer Gesundheitsreform. Es ist aber ein gesundheitspolitisches Drama in drei Akten, meine Damen und Herren,
Regina Schmidt-Zadel
in dem Sie, Herr Minister Seehofer, statt des strahlenden Reformhelden, der Sie gerne wären, den dunklen Zuzahlungs-Mephisto spielen.
Gesundheit - das wird mit diesem zweiten Neuordnungsgesetz wieder ausdrücklich bewiesen - ist zu einer Frage des Geldbeutels geworden. Wer Zuzahlungen von 13 DM und mehr pro Medikamentenpakkung locker bezahlen kann
- ich rede laut genug; wenn sie nicht zuhören, rede ich noch lauter -, wer ohne Probleme für zwei Wochen Krankenhausbehandlung 238 DM aufbringen kann, wer für eine notwendige Kur einen Eigenanteil von über 500 DM klaglos berappt, wer seinen Kindern eine Krone für einige hundert D-Mark spendieren kann und seine eigene Brücke mit dem Zahnarzt privat auf ein paar Tausender aushandelt, der wird auch weiterhin eine gute medizinische Versorgung genießen.
Wer diese Summen aber nicht ohne weiteres aufbringen kann - und davon gibt es viele und immer mehr in unserem Land -,
der muß sich in Zukunft entscheiden: entweder für das „Sparen für Seehofer" mit allen gesundheitlichen Risiken oder für das medizinisch Notwendige mit allen finanziellen Risiken für die familiäre Haushaltskasse, für die Familie.
Menschen mit einem Einkommen knapp über der Härtefallgrenze, Familien, Behinderte und chronisch Kranke stehen in Zukunft vor genau diesem Dilemma. Sie sind die eigentlichen Verlierer dieser Gesundheitsreform.
Da hilft es auch nicht, Herr Minister Seehofer und meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie ihr Reformwerk immer wieder mit dem Hinweis auf Überforderungsregeln schönzureden versuchen.
Diese Schönrederei fängt bereits bei dem Begriff der Zuzahlung an. Dieser gaukelt den Versicherten vor, sie müßten sich mit den Zuzahlungen an den Gesundheitskosten beteiligen. Von Beteiligung kann aber nach diesem zweiten Neuordnungsgesetz in vielen Fällen überhaupt keine Rede mehr sein. Ich will einmal das Beispiel Arzneimittel nehmen: Bei einem Großteil der Präparate wird die Zuzahlung künftig viel höher sein als der eigentliche Packungspreis.
- Herr Zöller, es kommt. - Die Versicherten zahlen also gar nicht mehr zu. In Wirklichkeit müssen sie nämlich die gesamte Packung komplett aus eigener Tasche zahlen.
Die Ersatzkassen haben in der letzten Woche gesagt, daß das in Zukunft bei 70 Prozent aller Medikamente der Fall sein wird. Das Schlimme daran ist: Durch den unseligen Koppelungsmechanismus des 1. NOG wird dieser Anteil mit steigenden Beitragssätzen weiter zunehmen. Der Tag wird kommen - ich hoffe, daß er noch sehr fern ist -, an dem die Versicherten alle Medikamente über vermeintliche Zuzahlungen selber bezahlen müssen. So kann man die paritätische Finanzierung der GKV auf kaltem Wege untergraben.
Ich prophezeie: Der Tag wird kommen, an dem sich diese Koalition die Zuzahlungsverordnung vornehmen wird. Noch wird dort - Gott sei Dank - in § 1 festgelegt, daß die Zuzahlung den Packungspreis nicht überschreiten darf. Fällt diese kleine, aber wichtige Regelung weg, dann zahlen die Versicherten nicht nur das Medikament komplett selbst, was sie jetzt schon tun. Dann zahlt jemand, der 15 DM Zuzahlung für ein Medikament zahlt, das 13,50 DM kostet, in Zukunft sogar noch 1,50 DM Top-Zuschlag. Dahin werden wir kommen.
Ich kann mir vorstellen, Herr Minister Seehofer, daß die Zuzahlungsverordnung bereits jetzt Ihre begehrlichen Blicke auf sich zieht. Ich möchte Sie schon einmal vorsorglich warnen.
Schönrederei Nr. 2 - das haben wir heute alle hier gehört -: die Überforderungsklausel. Sie sind in der letzten Zeit nicht müde geworden, die Überforderungsklausel als soziale Sicherung vor zu hoher Eigenbeteiligung zu loben. Wegen der Halbierung auf 1 Prozent lassen Sie sich als Schutzpatron der chronisch Kranken feiern.
- Nein.
Wahr ist, daß mit dem nun geplanten „Partnerschaftsmodell" das Ausgrenzen von Leistungen überhaupt nicht vom Tisch ist. Welcher Behinderte oder chronisch Kranke kann denn sicher sein, daß die von ihm benötigte Therapie oder Rehabilitationsmaßnahme nicht doch noch aus dem Pflichtkatalog der Krankenkassen fällt? Wahr ist, daß schon jetzt viele Kosten bei der Überforderungsklausel überhaupt nicht berücksichtigt werden.
Wahr ist auch, daß trotz Überforderungsklausel der Versicherte doch erst einmal zahlen muß. Das bedeutet: Bevor die Klausel überhaupt greift, muß der Kranke neben seinen Kassenbeiträgen, neben den Kosten für Bagatellmedikamente, für Krankenhausbehandlungen, für Kuren, neben dem Notopfer Kran-
Regina Schmidt-Zadel
kenhaus und den Kosten für freiwillige Kassenleistungen zusätzlich auch einige Monate lang etliche Mark für Medikamente vorstrecken, die er dann vielleicht im nächsten Jahr zurückbekommt.
War es früher die Ausnahme, diese Grenze zu erreichen, so wird es bald für viele die Regel sein, faktisch 2 Prozent mehr Beitrag zu leisten.
Dieses zweite Neuordnungsgesetz ist auch in seiner neuen Fassung ein Gesetz der Entsolidarisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Im Zusammenspiel mit den bereits verabschiedeten Gesundheitsgesetzen wird sich die Kluft zwischen denjenigen vergrößern, die sich Gesundheit noch leisten können, und denen, die es in Zukunft nicht mehr können.
Dieses zweite Neuordnungsgesetz ist ein Gesetz der Wahlgeschenke an die Ärzteschaft und Pharmaindustrie. Ich kann Ihnen heute schon versichern: Seine Halbwertzeit reicht allenfalls bis Oktober 1998.
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksachen 13/6087 und 13/7264 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! -Enthaltungen? -Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Die Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Ich sehe, es kommen noch welche.
Hat jemand seine Stimme noch nicht abgegeben? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe damit die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*) Wir setzen die Beratung fort.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich wieder zu setzen, weil wir eine Reihe von anderen Abstimmungen haben, wozu ich ein bißchen Überblick brauche. Machen Sie also bitte die Gänge frei.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7266. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das ist Drucksache 13/7267. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS. Das ist Drucksache 13/7268. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS bei Enthaltung der SPD abgelehnt worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem Sofortprogramm zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in den Krankenkassen. Das ist Drucksache 13/7264 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5726 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Rettungsdienst in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das ist Drucksache 13/7264 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/6578 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
*) Seite 14933 C
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und
- Drucksachen 13/5724, 13/6103, 13/6670, 13/ 7172 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Vogt
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Auch nicht.
Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, unter Aufhebung des Gesetzesbeschlusses vom 15. November 1996 den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/7172? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 a bis 5 h sowie Zusatzpunkt 3 auf:
5. Debatte zum Klimaschutz und zur CO2- Minderung
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Müller , Anke Fuchs (Köln), Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Programm für Klimaschutz, Wirtschaftsmodernisierung und Arbeitsplätze in Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michaele Hustedt, Gila Altmann , Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Investitionsprogramm für Arbeitsplätze durch Klimaschutzmaßnahmen
- Drucksachen 13/187, 13/739, 13/4052 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold
Michael Müller
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Köhne, Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abgeordneten der PDS
Verbot des Neuanschlusses von Stromheizungen
- Drucksachen 13/732, 13/3357 -
Berichterstattung: Abgeordnete Kurt-Dieter Grill
Christoph Matschie Michaele Hustedt Dr. Rainer Ortleb
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Köhne, Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abgeordneten der PDS
Wärmenutzungsverordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG)
- Drucksachen 13/763, 13/4411 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Paziorek
Christoph Matschie Michaele Hustedt Birgit Homburger
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Monika Ganseforth, Michael Müller , Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Umsetzung der Selbstverpflichtungserklärung deutscher Wirtschafts- und Industrieverbände zum Klimaschutz
- Drucksachen 13/3988, 13/6704 -
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dr. Michael Meister, Werner Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Dr. Klaus Röhl, Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich
- Drucksachen 13/5761, 13/7019 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Meister Norbert Formanski
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung anläßlich der VN-Sondergeneralversammlung über Umwelt und Entwicklung 1997 in New York
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung in Deutschland
- Drucksache 13/7054 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Wilhelm , Franziska Eichstädt-Bohlig, Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Richtlinie für ökologisches Bauen bei Baumaßnahmen des Bundes
- Drucksache 13/7089 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus W. Lippold , Wilhelm Dietzel, Herbert Frankenhauser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Birgit Homburger, Günther Bredehorn, Dr. Rainer Ortleb und der Fraktion der F.D.P.
Globale Umwelt- und Entwicklungspartnerschaft im 21. Jahrhundert - VN-Sondergeneralversammlung 1997 zur Überprüfung und Bewertung der Umsetzung der Agenda 21
- Drucksache 13/7106 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Wilhelm , Franziska EichstädtBohlig, Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
CO2-Minderung durch Energieeinsparung im Gebäudebereich
- Drucksache 13/7241 - Überweisungsvorschlag:
Ausschluß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Es liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion der SPD vor.
Außerdem liegt ein gemeinsamer Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Dazu gibt es eine Korrektur. Dieser Änderungsantrag wird auch von der CDU/CSU und der F.D.P. unterstützt, wobei die gesamte Begründung gestrichen wird.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Zunächst hat die Abgeordnete Dr. Liesel Hartenstein das Wort. Aber ich bitte Sie, Frau Kollegin, noch einen Moment zu warten, bis Ruhe eingetreten ist.
Ich bitte diejenigen, die noch im Gang stehen, hinauszugehen oder sich hinzusetzen und die Gespräche einzustellen, damit wir die Rednerin hören können. - Ich denke, jetzt können wir es versuchen. Bitte, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über ein ganzes Bündel von Vorlagen. Im Mittelpunkt steht das „Programm für Klimaschutz, Wirtschaftsmodernisierung und Arbeitsplätze in Deutschland" der SPD und der Bericht der Bundesregierung „Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung in Deutschland".
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist auf dem besten Wege, zum Allerweltswort zu werden. Jeder redet davon, jeder schmückt sich damit, weil es gerade Mode ist. Aber wenn man hinter die Fassade schaut und wissen will, was konkret getan wird, um nachhaltiges Wirtschaften in der Praxis durchzusetzen, dann herrscht oftmals völlige Funkstille.
Genauso verhält es sich auch bei der Bundesregierung. Was Sie in ihrem Bericht in mehr als 150 Seiten aufgeschrieben haben, hört sich ja ganz passabel an. Und die einzelnen Maßnahmen sind keineswegs falsch. Aber mit nachhaltiger Entwicklung hat dies alles herzlich wenig zu tun, eigentlich fast gar nichts.
Es ist leider keine Trendumkehr zu erkennen, weder in der Verkehrspolitik noch in der Wirtschaftspolitik, noch in der Energiepolitik, noch in der Agrarpolitik. Es ist noch nicht einmal ein Einstieg in Sicht.
Ich bedauere das.
Dr. Liesel Hartenstein
Ich nenne zwei Beispiele: Erstens. Es wird stolz erwähnt, daß heute 90 Prozent der Neuzulassungen von Pkw mit Katalysator ausgestattet sind. Dieser Umstand ist gewiß ein Fortschritt; darüber brauchen wir nicht zu streiten. Aber der Weg zu einer nachhaltigen Verkehrspolitik ist damit noch lange nicht eingeschlagen.
Denn gleichzeitig steht der Bundesverkehrsminister - der nicht anwesend ist - hilflos vor Prognosen, die eine Verdoppelung des Luftverkehrs bis zum Jahre 2010 voraussagen, die eine 50prozentige Steigerung des Straßengüterverkehrs voraussagen, die eine stürmische weitere Zunahme des Pkw-Verkehrs verkünden. Das kann doch nicht gutgehen.
Erforderlich ist eine gründliche Umstrukturierung des gesamten Verkehrssystems. Davon sind Sie weit, weit entfernt.
Sehr dringlich ist der Bau eines europaweiten Schnellbahnsystems. Sehr dringlich - und von Ihnen ja auch geplant - ist ebenso der rasche Bau von Güterumschlagterminals, damit der Güterfernverkehr in großem Maßstab von der Straße auf die Schiene verlagert werden kann. Aber nichts geht voran.
Zweites Beispiel. Sie heben lobend hervor, daß die Verwendung von Stickstoffdünger in der Landwirtschaft um 25 Prozent zurückgegangen sei. Diese Tatsache ist - ich sage das ausdrücklich - zu begrüßen.
- Aber, lieber Herr Heinrich, das ist doch nicht das Ergebnis eines neuen Konzepts für eine umweltgerechte, nachhaltige Landwirtschaft,
sondern eher die Folge der hochproblematischen Flächenstillegungen durch die Brüsseler Agrarpolitik.
Zu einer umweltverträglichen Landwirtschaft gehört unserer Meinung nach wesentlich mehr, zum Beispiel die Reduzierung der Intensivbewirtschaftung, zum Beispiel die Bindung der Viehhaltung an die bewirtschaftete Fläche, zum Beispiel weniger Chemisierung, zum Beispiel die Förderung des ökologischen Landbaus. Das muß die Richtung sein, die eingeschlagen wird. Davon sehe ich nichts, auch nicht in der Agrarpolitik der Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Maurice Strong hat vor wenigen Tagen gesagt: „Wir haben den 1992 in Rio vorgeschlagenen Kurswechsel nicht vollzogen" . Er hat das mit großer Verbitterung und Enttäuschung gesagt, und zwar auf dem Nachfolgeforum Rio plus fünf, das 400 Nichtregierungsorganisationen einberufen hatten.
Jedes Jahr - so Maurice Strong - werden 700 Milliarden US-Dollar für nichtnachhaltige Entwicklungen ausgegeben, das heißt, für Ausbeutungs- und Zerstörungsstrategien. Nein, in Wahrheit läuft in den Industrieländern alles nach dem Muster „Business as usual" ab, und die Bundesrepublik Deutschland macht dabei keine Ausnahme, und das, obwohl wir uns immer noch eine Vorreiterrolle anmaßen, was der Bundeskanzler ständig mit Stolz verkündet. Es trifft nicht zu.
Das renommierte World-watch-Institut hat mit großer Nüchternheit festgestellt: Nachhaltig wirtschaftet eine Gesellschaft dann, wenn sie ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Aussichten künftiger Generationen auf die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse zu schmälern. Das sollte man sich gut merken. Legt man diese Meßlatte an die Klimaschutzbemühungen und den Bericht der Bundesregierung an, dann müssen wir uns eigentlich ziemlich weit hinten einreihen.
Schauen wir über unsere Grenzen: Die Niederlande, die Schweiz und sogar die USA sind sehr viel weiter, beispielsweise in der Erstellung von nationalen Aktionsplänen. Formelhafte Beschwörungen, Deutschland werde das 25-Prozent-Reduktionsziel bis zum Jahre 2005 erreichen, ersetzen kein politisches Handeln.
Auch die Selbstverpflichtungserklärungen der Wirtschaft, auf die sich Frau Merkel soviel zugute tut, sind nicht der Zauberstab für Nachhaltigkeit. Sie mögen in Teilbereichen hilfreich sein - das will ich gern zugestehen -, aber sie ersetzen umweltpolitische Zielvorgaben und notwendige staatliche Rahmenbedingungen nicht. Das 5-Liter-Auto kommt nicht von selbst - das erleben wir doch - und das 3-Liter-Auto schon gar nicht.
Wenn Sie zum Beispiel die Wärmenutzungsverordnung nicht endlich verabschieden, die eine effiziente Abwärmenutzung sicherstellen soll, dann geht die Wärme weiterhin in die Luft und in die Flüsse. Sie reden doch so gern von der Schließung von Kreisläufen. Hier könnten Kreisläufe geschlossen und Energie gespart werden. Warum lassen Sie diese Chance ungenutzt?
Ich erinnere Sie an das, was Maurice Strong gesagt hat. Er hat erläutert, wie eine Gesellschaft nachhaltig wirtschaften soll, nämlich indem sie die Natur und die Lebensgrundlagen für die nächste Generation bewahren muß. Wie verhält sich diese Maxime zu der Tatsache, daß wir in der Bundesrepublik tagtäglich 90 bis 100 Hektar freie Fläche zubetonieren, so daß Experten ausgerechnet haben, daß wir in
Dr. Liesel Hartenstein
120 Jahren total von Siedlungs- und Verkehrsbauten zugedeckt sind?
Ist das gegenüber der künftigen Generation verantwortbar? Was hinterlassen wir unseren Kindern, wenn wir die globalen Waldverluste weiterhin in so rasantem Tempo fortschreiten lassen, daß Jahr für Jahr 15 Millionen Hektar Wald unwiederbringlich verlorengehen? Fünf Jahre nach Rio ist es nicht mehr erlaubt - liebe Kolleginnen und Kollegen, ich richte mich vor allem an die Koalition -, ständig nur Goodwill-Erklärungen abzugeben.
Das tun Sie in Ihrem Koalitionsantrag. Da steht nämlich: Die in Rio eingegangenen Verpflichtungen sollen bekräftigt werden, Prioritäten sollen festgelegt werden. Sie fordern dreimal in Ihrem Antrag, klare politische Signale zu setzen. Man fragt sich nur, wozu? Sie wollen, daß neue Strategien aufgezeigt werden.
Ich frage die Bundesregierung: Wie lange wollen Sie noch aufzeigen, bevor Sie wirklich etwas tun? Das ist doch das Gebot der Stunde.
Da lobe ich mir die Initiative vieler, auch kleiner Kommunen, die wirklich anpacken, zum Beispiel beim Energiesparen. Gern hätte ich Ihnen ein Beispiel vorgetragen, aber die Zeit reicht nicht.
Noch einen Satz zu den Arbeitsplätzen. Es ist nachgewiesen, daß Energieeinsparung, Steigerung der Effizienz, Einsatz neuer regenerativer Energien viele Arbeitsplätze schaffen. Ich frage Sie als letztes: Warum in aller Welt greifen Sie nicht zurück auf die auch Ihnen bekannte Studie, die noch unter dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors erarbeitet worden ist, die besagt, daß, wenn man in einem umfassenden Programm die Gebäudesanierung einschließlich Wärmesanierung in Angriff nehmen würde, für 15 Jahre europaweit drei Millionen Arbeitsplätze geschaffen würden? Himmel noch mal, jetzt brauchen wir den ökologischen Umbau, jetzt brauchen wir Arbeitsplätze,
und Sie tun nichts dergleichen.
Frau Kollegin Hartenstein, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Frau Präsidentin, Sie haben recht. Ich bin auch gleich fertig.
Sie sagen immer: Wir können jetzt nichts tun, damit wir Arbeitsplätze nicht gefährden. Das ist falsch. Genau das Gegenteil ist richtig. Festhalten am Status quo gefährdet Arbeitsplätze; denn durch hochrationalisierte Produktionsformen werden immer mehr Arbeitsplätze vernichtet.
Frau Kollegin Hartenstein, bitte beenden Sie Ihre Rede.
Sofort, letzter Satz.
Was sich in Europa tut, kann entscheidend sein, weil auch die sich entwickelnden Länder daran orientieren. Deswegen sollten wir wirklich sofort an die Arbeit gehen und umsteuern. Es ist höchste Zeit dazu. Unserer Mithilfe sind Sie gewiß. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch.
Danke schön.
Ich teile Ihnen zunächst das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines 2. GKV-Neuordnungsgesetzes mit. Abgegebene Stimmen: 658. Mit Ja haben gestimmt: 337. Mit Nein haben gestimmt: 320. Enthaltungen: 1. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 658; davon:
ja: 337
nein: 320
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Hartmut Büttner
Dankward Buwitt Manfred Carstens (Emstek)
Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann
Horst Eylmann Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke Ulf Fink
Dirk Fischer Leni Fischer (Unna)
Klaus Francke Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Detlef Helling
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken
Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert
Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet
Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld
Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus
Editha Limbach Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Sigrun Löwisch Heinrich Lummer
Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost
Eduard Oswald Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Rauen
Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter
Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer
Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith Adolf Roth Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte
Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze
Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer Marion Seib
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall Wolfgang Vogt
Dr. Horst Waffenschmidt
Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann
Dr. Fritz Wittmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer
Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn
Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann
Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Burkhard Hirsch
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Dr. Otto Graf Lambsdorff Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting
Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Brigitte Adler Gerd Andres Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt
Hans Berger Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Rudolf Bindig
Arne Börnsen Anni Brandt-Elsweier
Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler Freimut Duve
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski Dagmar Freitag Anke Fuchs Katrin Fuchs (Verl) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Norbert Gansel Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck
Achim Großmann Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein
Klaus Hasenfratz
Dr. Ingomar Hauchler
Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte
Barbara Imhof
Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger
Jann-Peter Janssen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung
Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel
Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß Winfried Mante Dorle Marx
Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese Doris Odendahl
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick Joachim Poß
Rudolf Purps
Hermann Rappe
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse
Renate Rennebach Otto Reschke Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter Günter Rixe
Reinhold Robbe Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Rudolf Scharping Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Margitta Terborg
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Karsten D. Voigt Josef Vosen
Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf
Heidi Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn)
Marieluise Beck Volker Beck (Köln)
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Manuel Kiper
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
Kerstin Müller Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Egbert Nitsch Cem Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Halo Saibold
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt (Langenfeld)
Ursula Schönberger
Waltraud Schoppe
Werner Schulz Marina Steindor
Christian Sterzing
Manfred Such
Dr. Antje Vollmer
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs Andrea Gysi
Dr. Gregor Gysi
Vizepräsidentin Dr. Antie Vollmer
Hanns-Peter Hartmann Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz
Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Wir fahren fort in der Debatte. Als nächster hat der Abgeordnete Klaus Lippold das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihr müßt gar keine Angst haben. Es wird heute alles sachlich und ruhig, wie das immer der Fall ist.
Frau Hartenstein, ich finde es hervorragend, daß Sie an fünf Stellen Ihrer Rede begrüßen, was wir tun. Aber dann kommt der übliche Oppositionszusatz, das sei nicht genug. Sie müssen sich einmal verdeutlichen, daß Sie, wenn Sie Maurice Strong zitieren, hinzufügen müssen, daß er sich bei seinen Aussagen auf die weltweite Entwicklung bezieht. Ich habe im Sommer letzten Jahres mit ihm auf dem Petersberg ein sehr langes Gespräch geführt. Maurice Strong hat in diesem Gespräch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er sehr froh wäre, wenn er bei seinen internationalen Begegnungen überall den gleichen Eindruck mitnehmen könnte wie aus der Bundesrepublik Deutschland,
daß auf diesem Wege gehandelt und nicht nur geredet werde. Er wäre sehr froh, wenn wir uns mit unserer Art und Weise der Politik weltweit durchsetzen könnten.
Frau Hartenstein, jetzt müssen Sie natürlich zur Kenntnis nehmen, daß wir mit 179 anderen Ländern dieser Welt nicht so verfahren können, daß wir im Deutschen Bundestag etwas beschließen und sie haben sich anzupassen. Wir müssen sie vielmehr davon überzeugen, daß unser Weg der richtige ist. Wir müssen sie davon überzeugen, daß wir auf diesem Weg voranschreiten. Dort, wo wir international mehr Einfluß haben als in der globalen Völkergemeinschaft mit 180 Nationen, nämlich in der Europäischen Union, haben wir es fertiggebracht, daß sie sich im Rahmen der Klimakonvention auf das Klimaschutzziel minus 15 Prozent CO2 bis 2010 verständigt. Wir haben maßgeblich Anteil daran, daß dies getan wird.
Ich will noch eines hinzufügen: Sie haben die USA gelobt. Ich weiß wirklich nicht, aus welchem Grund Sie das tun - vor dem Hintergrund der ökologischen
Situation und der Tendenzen in den USA. Es ist noch nicht einmal im Ansatzpunkt erkennbar, daß die USA eine vergleichbare Verpflichtungserklärung abgeben wollen. Im Benzinbereich, im Energiebereich ist bislang alles gescheitert. Die Regierung hat lediglich verbale Absichtserklärungen von sich gegeben, denen sie keine Tatsachen folgen ließ. Ich sage das ganz deutlich: Hier heroisieren Sie etwas. Wenn wir die Leistungen der US-amerikanischen Regierung erbracht hätten, sehr verehrte Frau Hartenstein, dann würden Sie uns hier in Grund und Boden verdammen. Dann hätten Sie keinen Anlaß, uns fünfmal zu loben, wie Sie es gerade getan haben, und hinzuzufügen, das sei zuwenig.
Herr Kollege Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hartenstein?
Das muß ich ja bei ihr.
- Aber sicher. Warum, wissen Sie.
Lieber Herr Kollege Lippold, ich hatte nicht die Ehre, selbst mit Maurice Strong zu sprechen, was ich sehr bedaure. Wir hätten es ja auch gemeinsam tun können.
Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß ich sehr wohl Beispiele aus der Bundesrepublik genannt habe. Bitte, können Sie widerlegen, daß wir mit 90 bis 100 Hektar pro Tag einen unglaublich großen Flächenverbrauch haben, der viel stärker als vor zehn Jahren ist? Können Sie widerlegen - das steht in Ihrem eigenen Antrag -, daß schon ein ungeheuer großes Verkehrswachstum eingetreten ist und weiter eintritt? Das sind nationale Fragen. Ich möchte Sie sehr bitten, nicht mit dem Finger auf die anderen zu zeigen und nicht auf die internationale Ebene auszuweichen, sondern in der Koalition und in der Bundesregierung für die Bundesrepublik zu stehen.
Sie sagen, wir müssen überzeugen. Meine Frage ist: Was wollen Sie tun, um endlich sicherzustellen, daß wir nicht nur reden und überzeugen wollen - das ist ja legitim -, sondern auch selbst vorangehen? Bitte, nennen Sie mir wenigstens einen oder zwei Punkte, wo die Bundesrepublik vorangeht. Dann wäre ich sehr erfreut.
Danke.
Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf Gerhard Zwerenz
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Egon Jüttner
Verehrte Frau Hartenstein, zum ersten: Jeder kann mit Maurice Strong sprechen. Auch Sie sollten dies tun.
Zum zweiten gehört dazu, daß ich Ihnen jetzt noch sagen werde, daß das, was wir auf europäischer Ebene gerade tun, zu 70 Prozent durch die Bundesrepublik Deutschland erfüllt wird. Ich sage noch einmal: Die Europäische Union kann die CO2-Minderung bzw. die CO2-Einsparung nur versprechen, weil 70 Prozent dieses Versprechens durch den einzelnen Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland erfüllt werden. Wenn dies keine hervorragende Leistung ist, Frau Hartenstein, dann weiß ich wirklich nicht, wo wir hervorragende Leistungen hernehmen.
Wir haben das Energieeinsparprogramm beim Altbaubestand. Wir satteln jetzt noch einmal drauf; Kollege Meister wird dazu etwas sagen. Wir haben die Selbstverpflichtung, um die uns viele Länder beneiden. Wir haben mit den Selbstverpflichtungen die Diskussion in der Europäischen Union um die Selbstverpflichtung angestoßen. Wir haben die FCKWs eliminiert, als die anderen noch nicht im Traum daran dachten, dies zu tun. Wir sind bereit, beim Gebäudebestand noch weitere Schritte zu gehen. Wir werden die Wärmeschutzverordnung angehen, weil das wichtig ist.
Zur Wärmenutzungsverordnung will ich Ihnen ganz klar sagen: Die Selbstverpflichtung bringt wesentlich mehr als diese. Deshalb, haben wir gesagt, ist das der richtige Weg, den wir gehen werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Heinrich?
Ja.
Herr Kollege Lippold, können Sie bestätigen, daß die Bundesrepublik Deutschland eines der ganz wenigen Länder ist, in denen die Waldfläche in den letzten Jahren zugenommen hat?
Erstens, Herr Kollege, stimmt dies.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auf die Frage des Kollegen Heinrich darf ich antworten, daß ich sehr froh darüber bin, daß dies der Fall ist. Ich bin auch sehr froh darüber, daß wir zum Beispiel im dichtbesiedelten Rhein-Main-Gebiet immer noch 40 Prozent Waldfläche vorhalten.
Ich will Sie, wenn wir schon an der Basis anfangen, zur Versiegelung fragen, Frau Hartenstein: Soll ich denn dagegen sein, wenn vier SPD-regierte Kommunen Bebauungspläne aufstellen und damit etwas zur
Bodenversiegelung tun? Sie wollen Wohnungen wie wir. Sie sagen, wir bauen zuwenig, und hier in der Debatte stellen Sie sich hin und sagen: Es wird viel zuviel versiegelt. Sie müssen doch mit Ihren Widersprüchen einmal aufhören. Es kann nicht angehen, daß Sie draußen sagen, wir versiegeln zuviel Fläche, und uns gleichzeitig vorwerfen, wir bauen zuwenig Wohnungen.
Noch können wir die Wohnungen nicht in den Himmel bauen; wir müssen sie schon auf die Erde setzen; anders geht es nicht. Dann dürfen Sie sich aber nicht je nach Debatte das aussuchen, was Sie brauchen.
Ich komme zum internationalen Bereich, Frau Kollegin Hartenstein. Wir teilen nicht nur die Vorliebe für den deutschen Wald, sondern auch das Engagement sowohl für den Schutz der borealen Wälder, wo es viel zu tun gibt, als auch für den Schutz der Tropenwälder. Es gibt kein Land auf dieser Erde, das kein Tropenwaldland ist, das so viel Geld zum Schutz des Tropenwaldes ausgibt wie die Bundesrepublik Deutschland. Wir stellen soviel Gelder bereit, daß die Länder, denen es zugute kommen kann, gar nicht mit dem Abarbeiten in dieser Frage nachkommen und nicht genügend vernünftige Projekte ausweisen können, mit denen hier etwas getan werden soll. Frau Kollegin Hartenstein, wir werden trotzdem nicht nur zum Schutz der Wälder international weiterarbeiten, sondern wir werden auch einen Antrag einbringen, in dem wir Waldschutz mit Artenschutz kombinieren und die Diskussion um die sogenannten „hot spots", das heißt um die Flächen aufgreifen, wo im Tier- und im Pflanzenreich Arten maximal vertreten sind, um diese Arten zu schützen und Pufferzonen auszuweisen. Wir tun dies in Abstimmung mit den Initiativen im Nationalen Komitee. Ich kann Ihnen eine Initiative nach der anderen auf nationaler, europäischer und globaler Ebene anführen, bei der wir tonangebend sind und deutlich bestimmen, wo es langgehen soll. Andere mögen ihren finanziellen Beitrag nicht leisten. Wer hat denn die globale Umweltfazilität, die Global Environmental Facility , aufgefüllt, wer hat dazu beigetragen, daß dieses Instrument im internationalen Rahmen für den Umweltschutz überhaupt erst handhabbar gemacht wurde? Das war diese Bundesregierung mit den Ministern von Klaus Töpfer bis Angela Merkel. Der Kanzler hat durch sein internationales Ansehen dafür gesorgt, daß dieses Instrument entscheidend geprägt wurde und umgesetzt werden konnte.
Finden Sie doch wenigstens einmal ein lobendes Wort dafür. Sie vergeben sich doch nichts, wenn Sie richtige Vorhaben angehen. Wenn Sie das dann mit Ihrem sozialdemokratischen „von allem noch mehr" versehen, sehen wir Ihnen das als Oppositionspartei nach. Das muß wohl so sein. Aber dann sagen Sie vorher doch erst einmal, was Sache ist.
Wir sollten auch, Kollege Müller, in der Diskussion, wie wir die internationalen Strukturen für den Umweltschutz angehen, sehr sachlich zusammenarbeiten. Ich bin der Meinung, daß das Umweltschutzpro-
Dr. Klaus W. Lippold
gramm der Vereinten Nationen in der bestehenden Form nicht hilfreich ist. Ich bin wirklich der Überzeugung, daß es nicht hilfreich ist. Ich würde dieses nicht nur an Personalfragen festmachen, sondern auch an Organisationsstrukturen und an der gesamten Aufhängung. Hier müssen wir nach meinem Dafürhalten ansetzen, sachliche Diskussionen miteinander führen und zusehen, wie wir Umweltschutz nicht nur in Deutschland und Europa voranbringen, sondern wie wir auch weltweit Strukturen schaffen können, um Umweltschutz zu einem sinnvollen Ziel und zu einer sinnvollen Verwendung zu bringen.
Lassen Sie mich hinzufügen: Ich glaube, daß wir gerade jetzt - nicht zuletzt auf Drängen der Bundesrepublik Deutschland - erreicht haben, daß uns von Estrada - er bereitet die Klimakonvention im Rahmen der UN vor - ein erstes Papier vorgelegt wurde, das den Abschluß eines Klimaprotokolls ermöglicht. Ohne die Vorlage dieses Papiers wären wir im Spätherbst gar nicht in der Lage, ein solches Protokoll zu verabschieden. Lassen Sie uns doch gemeinsam das zum Anlaß nehmen, eine Stärkung auf seiten der Institution mit einem gleichzeitigen Vorpreschen in bezug auf inhaltliche Fragen zu kombinieren. Wenn wir dies gemeinsam tun, Frau Kollegin Hartenstein - wie in einer anderen gerade anstehenden Frage -, hat dieses international ein wesentlich stärkeres Gewicht.
Dann fordere ich Sie auf, so wie auch wir es in den internationalen Organisationen, in denen wir vertreten sind, tun, werbend für diese Gedankengänge einzutreten. Wenn Sie dieses zum Beispiel in der Sozialistischen Internationale tun, in der ich vielfach auf Restriktionen treffe, kommen wir, glaube ich, zu einem Weg, der uns allen hilft.
Lassen Sie es uns gemeinsam angehen, und zeigen Sie auch einmal, daß Sie zur Anerkennung bereit sind und Vorteile, die wir erzielt haben, anerkennen. Sie vergeben sich dadurch nichts.
Die nächste Wahl ist noch weit genug weg, Frau Kollegin. Lassen Sie uns bis dahin gemeinschaftlich für den Umweltschutz arbeiten und werben.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als die Agenda 21 auf dem Erdgipfel in Rio verhandelt wurde, war Globalisierung nur in Fachkreisen ein Thema. Inzwischen ist sie aber in aller Munde. Nun kann man unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit der Globalisierung durchaus positive Aspekte abgewinnen. Immerhin bekommen so die Habenichtse dieser Welt die Chance auf eine wirtschaftliche Entwicklung.
Doch unter dem Gesichtspunkt der globalen Umweltprobleme bedeutet wirtschaftliche Globalisierung eine neue Dimension der Gefährdung unserer Lebensgrundlagen: Zum einen wird Umweltschutz durch den verschärften Wettbewerbsdruck in den alten Industrienationen, auch in Deutschland, zunehmend als luxuriöse Nebensache aufgefaßt. Zum anderen verschärft die Globalisierung direkt die Situation bei der Umweltzerstörung. Mit der Zunahme des Welthandels wachsen auch die Stoffströme und das Verkehrsaufkommen, überbieten sich die Staaten gegenseitig im Flächenverbrauch und Rohstoffverschwendung, und Effizienzsteigerungen in der Produktion werden oft schon durch die höheren Warenmengen wieder zunichte gemacht. Gleichzeitig sinkt der Einfluß der Nationalstaaten auf den internationalen Wirtschaftsprozeß.
Um so wichtiger sind internationale Vereinbarungen zum Klimaschutz, zum Umweltschutz und zur nachhaltigen Entwicklung. Leider muß man jedoch resümieren, daß die große Dynamik von Rio zum Erliegen gekommen ist. Auch für das Klimaschutzprotokoll besteht die Gefahr, daß auf der Kyoto-Konferenz kein oder nur ein unzureichendes Protokoll erarbeitet wird. Wie kommt es dazu, daß auf diesen internationalen Konferenzen zur Zeit so wenig zustande kommt? Würden alle Staaten zusammen gleichzeitig die Tobin-Steuer, um das global wandernde Kapital zur Kasse zu bitten, und weltweit Energiesteuern einführen, so würden alle Staaten davon profitieren. Im gegenseitigen Mißtrauen aber wetteifern die Nationalstaaten statt dessen darum, die Umweltstandards zu reduzieren. Wenn alle so handeln, ist das Ergebnis der Globalisierung für alle katastrophal: weitere Belastung für Natur, Umwelt und Klima.
Der internationale Prozeß stockt aus meiner Sicht aber auch, weil die alten Industriestaaten der Offensive der Bremser nicht entschieden entgegentreten, oder aber selbst zu den Bremsern gehören. Nehmen wir als Beispiele Australien, das Hand in Hand mit den Ölländern den Klimaschutz blockiert, oder Kanada, das die Waldkonvention so gestalten will, daß sogar die letzten kanadischen Urwälder dem Raubbau zum Opfer fallen können.
Zu den Bremsern gehören aber auch die internationalen Industrieverbände, die immer wieder Blockaden errichten. Erst fordern sie „joint implementation", dann Selbstverpflichtung und dann Zertifikate. Das sind allesamt untaugliche Mittel, aber allesamt gut für ein paar Jahre Verzögerung auf dem Weg zum internationalen Umweltschutz. Ich bin einmal gespannt, ob die Bundesregierung wieder auf den Zertifikatstrick hereinfallen wird.
Deutschland und die EU gehören zwar nicht zu den aktiven Bremsern, aber die von vielen kleinen Staaten gewünschte Vorreiterrolle haben sie leider aufgegeben. Die würde darin bestehen, für folgende Forderungen einzutreten: ein CO2-Reduktionsprotokoll, das die Industrienationen zu 20prozentiger Reduzierung bis zum Jahr 2005 verpflichtet; eine soziale und ökologische und keine neoliberale WTO; eine Weltsolaragentur als Gegenspieler der Internationalen Atomenergieagentur; eine Aufstockung der
Michaele Hustedt
Entwicklungshilfe auf die von Ihnen versprochenen 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes; eine erweiterte Produzentenhaftung und vieles mehr. Die NGOs haben in ihrem Dokument „Umwelt und Entwicklung, fünf Jahre nach Rio" die Forderungen sehr qualifiziert zusammengefaßt. Wir können sie darin nur unterstützen.
Es wirkt geradezu hilflos, wenn Sie in Ihrem Antrag zur Umsetzung der Agenda 21 - auch in dem Redebeitrag von Herrn Lippold, der versucht hat, auf die internationale Ebene auszuweichen - das Stokken der Umsetzung beklagen. Internationale Konventionen - das sagt auch die Agenda 21 - leben von dem nationalen Handeln, von Vorreitern und von Vorreiterkoalitionen.
Hier hat Deutschland außer dem Märchenbuch, genannt: „Nationalbericht Nachhaltige Entwicklung", kaum etwas zu bieten.
Statt Selbstmitleid der Umweltministerin erwarten wir in Deutschland eine kämpferische Umweltpolitik. Dazu zählt die Einleitung eines Prozesses für einen nationalen Umweltplan, wie es schon 60 Staaten in der Welt getan haben - in diesem Punkt ist Deutschland wieder Nachzügler -, und endlich ein wirkungsvolles Klimaaktionsprogramm noch vor Kyoto. Das muß auf den Tisch!
Frau Merkel hat in letzter Zeit - zuletzt im „Spiegel" -Gespräch mit Greenpeace - immer wieder bedauernd festgestellt, daß sie von seiten der Umweltbewegung nicht genügend Unterstützung findet. Ich möchte einmal aus dem Gespräch zitieren. Frau Merkel, Sie haben gesagt:
Ich halte es für bedauerlich und für einen strategischen Fehler, daß es nur an sehr wenigen Punkten Solidarität zwischen Umweltpolitik und Umweltverbänden gibt - das schwächt die Umwelt. Wirtschaftsminister und Wirtschaftsverbände gehen häufig gemeinsam vor, auch der Sozialminister und die Gewerkschaften oder die Autoproduzenten und der Verkehrsminister.
Sie und wir wissen, daß Sie, was die Umwelt betrifft, im Kabinett eine schwache Stellung haben und daß Sie deshalb Unterstützung aus der Gesellschaft brauchen. Doch, Frau Merkel, wobei sollen wir Sie denn eigentlich unterstützen?
Wo sind denn Ihre Anträge und Ihre Vorschläge, um in diesem Land tatsächlich beim Umweltschutz ein Stückchen voranzukommen?
Sie haben zum Beispiel mit Rexrodt über mehr Umweltschutz im Energiewirtschaftsgesetz verhandelt. Was haben Sie dabei erreicht? Lediglich eine demütige Bitte an die Stromkonzerne, bitte, bitte doch etwas mehr für erneuerbare Energien und KraftWärme-Kopplung zu tun. Für diese Lächerlichkeit haben Sie Ihre Zustimmung am Kabinettstisch für den Rexrodt-Entwurf verkauft.
Frau Merkel, hätten Sie Ihre Zustimmung von einer Vorrangregel für umweltverträglich erzeugten Strom im Energiewirtschaftsgesetz abhängig gemacht, so hätten Sie unsere Unterstützung bekommen und die der ganzen Umweltbewegung dazu.
Derselbe Wirtschaftsminister legt derzeitig die Axt an das erfolgreiche Stromeinspeisungsgesetz. Rexrodt will dieses Instrument unwirksam machen. Er will die Einspeisevergütung drastisch senken und den Finanzierungszeitraum auf zehn Jahre begrenzen. Wo, Frau Merkel, ist eigentlich Ihr Protest dagegen gewesen? Ihren öffentlichen Protest habe ich leider nicht gehört. Warum legen Sie nicht einen eigenen, ökologisch orientierten Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Stromeinspeisungsgesetzes vor?
Dafür, so kann ich sagen, würden wir sogar eine Demo für Sie auf die Beine stellen. Das wäre doch einmal ein anderes Gefühl als bei den Erfahrungen mit dem Castor.
Sie jedoch, Frau Merkel, kapitulieren vor einem Minister, der schwächer nicht sein kann. Die „Wirtschaftswoche" schreibt diese Woche: ein Minister ohne Echo und Ideen; es heißt von ihm, daß er nach Ostern abgelöst wird. Merken Sie denn nicht, daß Sie sich mit Ihrem Verhalten noch schwächer machen als der angeschlagenste Minister im Kabinett?
Ich möchte ein letztes Beispiel nennen. In der Debatte um die Steuerreform und die Senkung der Lohnnebenkosten hätten Sie es doch wie Norbert Blüm machen können. Als in seinem Bereich etwas anzubrennen drohte, da hat er auf den Tisch gehauen und öffentlich gesagt: Das kann man mit mir nicht machen. Dafür hat er sogar die Männerfreundschaft mit Kohl riskiert. Dann hat er seine sozialpolitischen Truppen mobilisiert, damit die Renten nicht vollständig dem neoliberalen Mainstream geopfert werden.
Diese Form öffentlichen Engagements vermissen wir bei Ihnen sehr. Gerade in der Steuerdiskussion hätten Sie doch eine Chance und hätten das Wort ergreifen müssen.
Alle reden von einer Senkung der Lohnnebenkosten. Diese muß ja gegenfinanziert werden. Die Mehrwertsteuererhöhung ist schon für die Änderungen bei der Einkommensteuer verplant. Eine weitere Erhöhung der Staatsverschuldung kommt nicht in Frage. Also bleibt doch nur eine Energiesteuer. Warum sagen Sie, Frau Merkel, dann nicht: Blüm kann geholfen werden - durch eine Ökosteuer, um die Lohnnebenkosten zu senken? Innerhalb von acht Jahren könnten zum Beispiel mit dem grünen Modell
Michaele Hustedt
die Lohnnebenkosten um sechs Prozentpunkte gesenkt werden, aufkommensneutral, das heißt, sozialverträglich und wirtschaftsverträglich. Umweltverbrauch verteuern und Arbeitskosten senken - das müßte Ihr öffentlicher Beitrag, Ihre öffentliche Forderung in der Steuerdiskussion sein. Auch dafür bekämen Sie von unserer Seite jede Unterstützung.
Den Kerosin-Antrag mußten wir, SPD und Grüne, einbringen. Der kam nicht von Ihnen. Es ist immerhin schön, daß Sie jetzt bereit sind, ihn zu unterstützen.
Was aus Ihrer Fraktion kommt, ist im Vergleich dazu nur lächerlich. Zum Beispiel Ihr Antrag zum ökologischen Bauen: Damit werden wir überhaupt keinen Schritt vorankommen. Im Gebäudebereich gibt es - das wissen wir alle - gewaltige Einsparpotentiale. Unterstützen Sie unseren Antrag, der vorliegt! Schaffen Sie einen wirtschaftlichen Anreiz durch ein Energiepaßsystem! Verschärfen Sie endlich die Wärmeschutzverordnung, und kündigen Sie das nicht nur an! Das schafft dann auch Arbeitsplätze im Umweltschutz.
Liebe Frau Merkel und liebe CDU-Fraktion, unsere Anträge liegen auf dem Tisch - alles Anträge, die eigentlich aus Ihrem Hause, Frau Merkel, kommen müßten.
Ich kann mich Thilo Bode von Greenpeace International nur anschließen, wenn er auf Ihre Einforderung von Solidarität antwortet - Herr Lippold, da können auch Sie zuhören -:
Wir können mit Ihnen nicht solidarisch sein, solange Sie vor der Industrie in die Knie gehen und solange Ihre Politik nicht ausreicht, die Lebensgrundlagen ... wirklich zu sichern.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Birgit Homburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ende dieses Jahres findet in Kyoto die dritte Vertragsstaatenkonferenz zur Umsetzung der Rio-Beschlüsse statt. Die Bilanz ist ernüchternd. Wenn wir insbesondere im Bereich des internationalen Klimaschutzes die Entwicklung der letzten fünf Jahre betrachten, dann bleibt nur zu sagen: Das kann es eigentlich noch nicht gewesen sein.
Auf der letzten Klimakonferenz in Berlin haben nämlich alle Vertragsstaaten ein Verhandlungsmandat angenommen. Damit wurde die Bedeutung der Reduzierung klimarelevanter Gase auch über das Jahr 2000 hinaus anerkannt. Es war klar, daß der Verhandlungsprozeß auf Grund der unterschiedlichen Positionen schwierig werden würde. Durch die
Annahme des Berliner Mandats war aber auch die Hoffnung gerechtfertigt, daß sich die Industrieländer ihrer speziellen Verantwortung für die weltweite Reduzierung der Treibhausgase bewußt sind.
Als es jetzt allerdings zum wiederholten Male darum ging, konkrete Handlungsziele festzulegen, haben vor allem die USA, Japan, Kanada und Australien den Rückzug angetreten und noch nicht einmal dem europäischen Konsens hinsichtlich einer Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 15 Prozent bis zum Jahre 2010, bezogen auf den Stand von 1990, zustimmen können.
Dabei wissen wir alle, daß selbst diese europäischen Vorgaben noch zu gering sind, wenn man im Klimaschutz vorankommen will. Da gerade Australien am ehesten von den Veränderungen der Erdatmosphäre, also beispielsweise vom Schwund der Ozonschicht, betroffen ist, finde ich es besonders unbegreiflich, warum sich Australien dem Verhalten der anderen Industrieländer angeschlossen hat.
Schon lange ist klar, daß den Industriestaaten im Bereich des Klimaschutzes eine besondere Rolle zukommt. Sie müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Wir erwarten nämlich einen dramatischen Anstieg von Treibhausgasemissionen in den sich gerade entwickelnden Staaten wie beispielsweise China oder Indien. Erwartet man von diesen Ländern den nötigen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen, so verlangt dies auch unverzichtbar die Bereitschaft der Industriestaaten zu konkreten und sicherlich unbequemen Reduktionsmaßnahmen bei sich selbst.
Nur so werden nämlich auch die sich entwickelnden Länder bereit sein, den Zuwachs ihrer Treibhausgasemissionen zu begrenzen. Ich finde es bedauerlich, daß wir in Berlin vor zwei Jahren keine Einigung auf der Basis des Protokollentwurfs der AOSIS-Staaten erzielen konnten.
Immerhin konnten sich jetzt die EU-Umweltminister einigen, bis zum Jahre 2010 die Treibhausgasemissionen um 15 Prozent zu reduzieren. Das kann aber erst der Anfang sein. Mit den derzeitigen Planungen zur Verminderung der Treibhausgasemissionen würde die EU lediglich eine Reduzierung um 10 Prozent erreichen. Das zeigt deutlich, daß noch großer Handlungsbedarf besteht, und zeigt auch, daß natürlich selbst innerhalb der Europäischen Union die Verhandlungen unheimlich schwierig sind.
Ich bedaure, daß sich die EU-Umweltminister nicht dem Vorschlag der Bundesrepublik - dieser ging ja weiter - anschließen konnten. Ich finde es andererseits erfreulich, daß im Rahmen dieses schwierigen Prozesses erreicht wurde, daß man sich in Europa jetzt einig ist. Denn wenn wir ohne eine gemeinsame Position in diese Verhandlungen gegangen wären, dann wäre die Aussicht auf einen Erfolg noch viel ge-
Birgit Homburger
ringer gewesen. Deswegen hat sich Frau Merkel hier einen großen Verdienst erworben.
Das heißt nicht, daß wir in der Europäischen Union jetzt nicht weiter hartnäckig bleiben müßten. Wir müssen daran arbeiten, die Treibhausgasemissionen weiter zu reduzieren, und verstärkt die Zusammenarbeit mit den Ländern in Europa suchen, die mit uns einen fortschrittlichen Kurs in der Klimaschutzpolitik vertreten.
Frau Hartenstein, jetzt zum nationalen Ziel der CO2-Emissionsminderung. Die F.D.P. und auch die Koalition halten nach wie vor an dem nationalen Ziel fest, die CO2-Emissionen bis zum Jahre 2005 um 25 Prozent zu senken.
- Herr Köhne, wenn Sie so viel fordern würden, wie wir handeln, dann wäre schon viel gewonnen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht davon aus, daß wir mit den jetzt ergriffenen Klimaschutzmaßnahmen eine Reduktion der CO2-Emissionen um etwa 14 Prozent gegenüber 1990 erreichen. Andere Institute sagen eine Reduktion um bis zu 17 Prozent voraus. Ich will in diesen Streit gar nicht eintreten. Sicher ist, daß es zusätzlicher Maßnahmen bedarf. Ich werde nachher auf eine weitere Maßnahme eingehen, die wir gerade in diesen Tagen verabschiedet haben. Ich sage nur: Es gibt aktivierbare Potentiale zur Minderung von CO2-Emissionen in der Bundesrepublik Deutschland, die heute nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch sinnvoll im Rahmen der gegebenen Bedingungen genutzt werden können. Die müssen wir uns erschließen.
Die F.D.P. hat im Januar einen Klimaschutzkongreß abgehalten und alle diese Potentiale ausdrücklich aufgezeigt. Wir werden jetzt weiter daran arbeiten, diese Potentiale zu erschließen, so daß das Ziel der Senkung der CO2-Emissionen um 25 Prozent erreicht werden kann.
Die Möglichkeiten zur Steigerung der Energieeffizienz, zum Energiesparen und zum Einsatz regenerativer Energien sind weitaus größer, als man denkt. Gerade der Bereich Bauen und Wohnen, auf den gut 20 Prozent der CO2-Emissionen und knapp 30 Prozent des Primärenergieverbrauchs entfallen, weist große Reserven bei der Energieeinsparung auf.
Das Niedrigenergiehaus ist heute Stand der Technik und erschwinglich. Die Solarthermik zur Nutzung der Sonnenenergie für Heizung und Warmwasser ist ebenfalls ausgereift. Deshalb unterstützen wir von seiten der F.D.P. - das ist eine der Maßnahmen, bei denen Sie uns immer vorwerfen, daß sie nicht stattfinden würden; hören Sie also gut zu - die Aufstockung des KfW-Programms zur CO2-Minderung um 2 Milliarden DM, mit dem die Verbesserung der Wärmedämmung und die Umstellung veralteter Heizungen gefördert wird.
Auch in vielen Betrieben gibt es Potentiale zur sparsamen und klimafreundlichen Energieversorgung und zur Energieeinsparung, die nicht ausgenutzt werden, obwohl sie - wie ich gerade erläutert habe - auch heute schon ökonomisch sinnvoll wären. Ich will sie nicht alle einzeln aufzählen. Wir haben uns schon im Ausschuß darüber ausgetauscht, teilweise auch schon im Plenum.
Um diese Potentiale zu erschließen, fordert die F.D.P. eine Informationsinitiative der Architekten, der Ingenieurbüros, der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern. Gerade bei der Vielzahl der kleinen und mittleren Betriebe liegen Potentiale brach, da sich diese Betriebe natürlich keine Stabsabteilungen mit Umweltfachleuten leisten können. Daher ist es notwendig, daß man Beratung und Unterstützung gibt. Diese Betriebe sind auf Unterstützung von außen angewiesen. Diejenigen, die gegenüber der Bundesregierung die Verpflichtung eingegangen sind, müssen jetzt denjenigen helfen, die diese Potentiale erschließen können. Dazu fordern wir auf.
Wir sehen die Industrie in besonderer Verantwortung. Ich habe das schon mehrfach von dieser Stelle aus gesagt; ich möchte das nicht noch einmal näher ausführen. Die Selbstverpflichtung, die die Industrie eingegangen ist und die wir akzeptiert haben, bringt es mit sich, daß die Maßnahmen jetzt ergriffen werden müssen.
Die F.D.P. setzt sich erfolgreich für die richtigen Rahmenbedingungen ein, um solche Potentiale zu aktivieren. Die Entscheidung der Koalition, in der EU eine Initiative zur Einführung eines eigenen und höheren Mehrwertsteuersatzes auf den Energieverbrauch zu ergreifen, ist der Einstieg in die Umsetzung des Konzeptes der F.D.P. für mehr Arbeitsplätze, weniger Steuern und eine bessere Umwelt. Damit wollen wir den Verbraucher veranlassen, verantwortungsvoll und sparsam mit dem Rohstoff Energie umzugehen, allerdings - im Gegensatz zu den Grünen - ohne die Steuerlast insgesamt zu erhöhen.
Denn gleichzeitig und in stärkerem Maße sollen die direkten Steuern verringert werden.
Die F.D.P. erwartet, daß Bundesfinanzminister Waigel ernsthaft und mit Nachdruck in Brüssel über diesen dritten Mehrwertsteuersatz verhandelt. Das muß allerdings von den anderen Ressorts der Bundesregierung ein bißchen stärker flankiert werden. Deshalb, Frau Ministerin Merkel, fordere ich Sie auf, daß Sie im Umweltministerrat eine offizielle Initiative in dieser Richtung starten, unterstützen, was wir Herrn Waigel als Auftrag gegeben haben, und in Brüssel Druck für dieses Modell machen.
Frau Hustedt, Sie haben das Modell der Grünen vorgetragen und dabei wieder vergessen zu sagen, daß dieses Modell lediglich eine Umschichtung, aber mitnichten eine Senkung der Belastungen der Bürgerinnen und Bürger bedeutet. Es kann keine Lösung
Birgit Homburger
sein, mit einer Ökosteuer soziale Sicherungssysteme zu finanzieren. Vielmehr muß man die sozialen Sicherungssysteme an sich reformieren, wenn man will, daß sie auf Dauer tragfähig sein sollen. Es kann da nicht ein Verschiebebahnhof gemacht werden, wie Sie ihn heute wieder vorgeschlagen haben.
Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hustedt?
Ja. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte.
Frau Homburger, zur Zeit wird gerade diskutiert, ob wir die Maastricht-Kriterien erreichen oder nicht. Ich stimme Ihnen zu, daß man gucken muß, wo man einspart. Stimmen Sie mir dann auch zu, daß wir wahrscheinlich alle Einsparungsmöglichkeiten brauchen, um nicht noch weitere Waigelsche Haushaltslöcher entstehen zu lassen?
Wenn Sie dem zustimmen, stimmen Sie mir dann des weiteren zu, daß Sie kein Konzept haben, wie das Geld für die Senkung der Lohnnebenkosten aufgebracht werden kann,
und daß vor diesem Hintergrund eine ökologische Steuerreform, verbunden mit einer Verschiebung von der direkten zur indirekten Besteuerung, ein sinnvoller und der einzig realistische Weg ist, um die Lohnnebenkosten in relevanter Höhe zu senken, so wie es auch andere europäische Staaten tun?
Es ist schön, Frau Kollegin Hustedt, daß auch die Grünen zwischenzeitlich begriffen haben,
daß die zu hohen, leistungsfeindlichen direkten Steuern gesenkt werden müssen, und sich damit der Position der F.D.P. anschließen, daß eine Umschichtung hin zu den indirekten Steuern erfolgen muß. Das ist das eine, was ich Ihnen sagen will. Das tragen wir vollständig mit.
Nur: Die Umschichtung von den direkten zu den indirekten Steuern hat überhaupt nichts mit den Beiträgen zu den sozialen Sicherungssystemen - Rente, Arbeitslosenversicherung etc. - zu tun.
Wir haben sehr wohl ein Konzept, um die Lohnzusatzkosten zu senken. Wenn Sie die Lohnzusatzkosten senken wollen, dann müssen Sie Reformen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme einleiten, die dafür sorgen, daß diese Systeme finanzierbar werden, und zwar in sich selbst und nicht so, daß bei den Steuern ein Verschiebebahnhof angefangen wird, daß also die Steuern erhöht und die Einnahmen dann in die sozialen Sicherungssysteme verschoben werden. Damit würde der Zusammenhang zwischen Beitragszahlung und Leistung aufgehoben, und auch der Gedanke der Verantwortung würde völlig aus dem System verschwinden. Das werden Sie auf Dauer überhaupt nicht halten können. Deswegen ist der Ansatz, den Sie haben, völlig falsch.
Was den Klimaschutz betrifft, so zählt zu den Rahmenbedingungen - ich kann bei den Grünen bleiben - auch die Frage des Energiemix und der fossilen Energieträger und damit natürlich auch der Kohle. Jetzt will ich Ihnen einmal vorlesen, was Sie bisher auch so gesehen haben, Frau Kollegin Hustedt. In Ihrem Bundestagswahlprogramm von 1994 steht nämlich:
Mit hohen Subventionen für die heimische Steinkohle wird der Raubbau an der Natur in Form der Nordwanderung des Steinkohlenbergbaus vorangetrieben. Die damit verbundene Zerstörung der Umwelt kann nicht weiter hingenommen werden. Die Subventionen müssen in deutlichen Schritten abgebaut werden.
Ich kann Ihnen nur sagen: Was die Grünen angesichts der Demonstrationen letzte Woche dargeboten haben, ist purer Opportunismus. Sie haben für den kurzfristigen Jubel der Masse ihre Grundsätze über Bord geworfen und sind deswegen beim Klimaschutz unglaubwürdig geworden.
Jetzt will ich Ihnen ein paar Takte zu dem Änderungsantrag sagen, den Sie hier gestellt haben. In der Tat, Frau Kollegin Hustedt, haben Sie zusammen mit der SPD zur Beschlußempfehlung des Umweltausschusses den Änderungsantrag eingereicht, daß die Besteuerung des Kerosins europaweit erfolgen solle. Uns jetzt vorzuwerfen, daß Sie dies hier heute hätten beantragen müssen und daß die Koalition sich wieder nicht bewegt habe, ist ja wohl das Letzte. Wir haben in der letzten Woche im Umweltausschuß und auch im Finanzausschuß eine gemeinsame Entschließung genau dieses Inhalts gefaßt.
Da hätte man im Hinblick auf das, was man jetzt hier nachträglich einbringt, auch einmal fragen können, ob die anderen vielleicht mitmachen wollen, so daß man das von vornherein gemeinsam hätte machen können.
Was Sie wollten - das haben Sie in Ihrer Rede offenbart -, war, uns hier vorzuführen. Das machen wir nicht mit, weil wir sagen: Da, wo gemeinsame Posi-
Birgit Homburger
tionen sind, werden sie auch gemeinsam vertreten. So sollten wir im Sinne der Umwelt verfahren.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Punkte im Steuerreformpaket, Frau Kollegin Hustedt, bei denen sich die F.D.P. im Sinne der Umwelt durchgesetzt hat. Dies gilt beispielsweise für die Einführung einer verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale.
Ich sage Ihnen auch noch folgendes: Wir hatten uns in der Koalition darauf geeinigt, daß die Kfz- Steuer ab 2003 auf die Mineralölsteuer umgelegt wird. Dies wurde zu unserem großen Bedauern nun im Vermittlungsausschuß gekippt. Damit haben die Länder eine große Chance vertan, in der Verkehrspolitik einen echten Anreiz zur Verkehrsvermeidung zu geben und gleichzeitig zur Steuervereinfachung beizutragen. Die rot-grün regierten Länder haben im Vermittlungsausschuß erzwungen, daß über diesen Vorschlag abgestimmt wird.
Wenn Sie immer wieder - auch in Parteiprogrammen - sagen, daß Sie die Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer wollen, auf der anderen Seite aber diese Kirchturmspolitik der Länder mitmachen, dann sind Sie unglaubwürdig und sollten beim Thema Klimaschutz den Mund halten.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident.
- Insofern denke ich, daß wir hier bereits eine Reihe von Punkten diskutiert haben. Was die Diskussion in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und den Versuch angeht, gemeinsam zu Positionen zur Nachhaltigkeit zu kommen, wird die F.D.P. selbstverständlich auch weiterhin im Sinne der Umwelt mitarbeiten.
Danke.
Ich gebe dem Abgeordneten Rolf Köhne das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut zwei Jahren haben wir in diesem Hause zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode über Klimaschutz diskutiert. Es ist also Zeit, Bilanz zu ziehen. Bereits damals lagen einige Anträge, über die wir heute in zweiter Lesung beraten, auf dem Tisch. Man beachte einmal die Drucksachennummern: Die erste Drucksache hatte die Nummer 183, glaube ich. Das war ein Antrag von der SPD. Jetzt sind wir bei etwa 7 300.
Von uns wurde damals der Antrag auf Erlaß der Wärmenutzungsverordnung eingebracht. Dieser Antrag hätte zügig beschlossen und in die Tat umgesetzt werden können; die Wärmenutzungsverordnung liegt ja fertig in der Schublade. Besonders wirkungsvoll wäre es gewesen, wenn zusätzlich eine Energiesteuer oder die von uns vorgeschlagene Mengenregulierung von Energierohstoffen beschlossen worden wäre.
Es wäre relativ zügig zu einem ökologischen Umbau in der Wirtschaft gekommen, und es wären auf jeden Fall zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden. Die technisch möglichen Energiesparpotentiale werden auf zirka 40 Prozent geschätzt, und sie hätten so langfristig erschlossen werden können. Heute, zwei Jahre später, hätten wir also erste Ergebnisse verzeichnen können.
Sie aber, meine Damen und Herren von der Koalition, haben sich damals entschlossen, auf die Selbstverpflichtungen der Industrie zu setzen. Diese Selbstverpflichtungen sind in der Regel jedoch nur die Fortschreibung ohnehin bestehender technischer Trends. Bestenfalls wird es zu vorgezogenen Investitionen kommen. Statt Ergebnisse haben wir also, wie man der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD entnehmen kann, viel beschriebenes Papier und verbale Bekenntnisse.
Die in Ihrer Antwort auf die Frage nach den angestrebten Reduktionszielen dargelegten Zahlen sind ziemlich nebulös. Ehrlicherweise hätte man die CO2- Minderung, die sich aus der Deindustrialisierung in Ostdeutschland bereits ergeben hat, herausrechnen müssen. Dann wäre nämlich deutlich geworden, daß sich die Industrie stellenweise zu nichts verpflichtet hat. Die Deindustrialisierung im Osten hat bereits ungefähr 13 Prozent erreicht. Das hat nichts mit Ihrer Klimaschutzpolitik zu tun. Das muß beachtet werden, sonst ist man unehrlich.
Außerdem besteht nach wie vor die Gefahr, daß alle Bemühungen in Industrie und Haushalten durch die weitere Zunahme des Verkehrs konterkariert werden. Es nützt wenig, den spezifischen Kraftstoffverbrauch - zudem völlig unzureichend - zu senken, wenn im Gegenzug mehr Autos auf der Straße fahren. Ein verstärkter Ausbau des öffentlichen Verkehrs ist deshalb dringend erforderlich.
Liebe Kollegin Homburger, ein Wort zu den Kohlesubventionen. Der angestrebte Abbau dieser Subventionen war sozial völlig unverträglich. Darum ging es. Der Einsatz heimischer Steinkohle wäre nicht einfach aus Klimaschutzgründen gestrichen worden, sondern die heimische Steinkohle wäre durch Importkohle ersetzt worden. Das hätte überhaupt nichts genützt. Das Ganze hat mit Klimaschutz überhaupt nichts zu tun. Diese Bemerkung hätten Sie sich sparen können.
Rolf Köhne
Nun noch ein Wort an den Kollegen Lippold: Herr Lippold, ich vergebe mir nichts, wenn ich hier zugebe, daß die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich in einigen Punkten nicht schlecht dasteht.
Unter den Blinden ist der Einäugige König.
Wenn man ehrlich ist, sollte man außerdem beachten, daß gerade unsere Nachbarländer, die kleinen Länder Dänemark, Niederlande, Schweiz und Österreich, in einigen Punkten durchaus Vorbilder sind.
Aber darum geht es nicht. Es geht nicht darum, wie wir im internationalen Vergleich dastehen. Weil alle anderen schlecht sind, ist das noch lange kein Grund, auch schlecht zu sein. Es kommt darauf an, daß wir die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Das Klimaschutzziel, bis 2005 den CO2-Ausstoß um 25 Prozent zu verringern, ist nur ein Meilenstein auf dem weiten Weg zu einer nachhaltig zukunftsfähigen Gesellschaft. Bis Mitte des nächsten Jahrhunderts müssen wir unseren Energieverbrauch halbieren und zu mehr als 80 Prozent aus regenerativen Quellen decken. Dies ist nur ein Parameter. Insgesamt müssen wir alle Stoffströme der materiellen Produktion drastisch reduzieren und den Flächenverbrauch stoppen.
Das Ziel einer nachhaltig zukunftsfähigen Gesellschaft wird mittlerweile breit akzeptiert. Auch die Bundesregierung hat sich immer dazu bekannt. Doch Konsequenzen hat das bis jetzt nicht gehabt. Trotz richtiger Erkenntnisse und trotz richtiger Umweltziele unterläßt diese Bundesregierung alles, was den Profit schmälern könnte. Man sollte aber bedenken, daß es das kapitalistische Profitprinzip mit seinem immanenten Wachstumszwang ist,
das die ökonomische Entwicklung über die Grenzen der Natur hinauszutreiben versucht.
- Ja, genau.
Außerdem gibt es nicht nur im Umweltbereich Zukunftsunfähigkeit. Eine Gesellschaft, die dauerhaft Menschen aus ihrem Kreis ausschließt, die Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit hervorbringt und die Schere zwischen Arm und Reich immer größer werden läßt, ist zukunftsunfähig.
Ich erinnere deshalb an die Konferenz von Rio, auf der damals formuliert wurde:
Die Menschheit steht an einem entscheidenden
Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt.
Diese Fragen werden aber systematisch aus der Debatte um Nachhaltigkeit herausgehalten. Das kann man auch dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung zu diesem Thema entnehmen.
Wenn wir wirklich zu einer nachhaltig zukunftsfähigen Welt kommen wollen, müssen mindestens zwei fundamentale Regeln neben den bekannten ökologischen Regeln eingehalten werden: Erstens muß jeder Mensch die Möglichkeit haben, durch eigene Arbeit die notwendigen Mittel für seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, den Arbeitsprozeß entsprechend zu organisieren.
Zweitens. Die Erde und ihr Reichtum gehören allen Menschen und allen zukünftigen Generationen gleichermaßen. Allen Menschen sind deshalb gleiche Nutzungschancen und Zugangsmöglichkeiten zu den natürlichen Ressourcen und ein ungefähr gleich großer Anteil am Umweltraum einzuräumen. Entsprechende unveräußerliche Rechte wären deshalb zu etablieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention zu der Rede von Frau Homburger gebe ich das Wort dem Abgeordneten Albert Schmidt.
Verehrte Frau Kollegin Homburger, Sie haben in Ihrem Redebeitrag aus der Mitte der F.D.P., der Partei der wirtschaftlichen Kompetenz, die erstaunliche und wegweisende These aufgestellt und vorgetragen, daß die Belastung durch die Lohnnebenkosten mit dem Steuersystem überhaupt nichts zu tun habe.
- Ich habe Sie so verstanden, weil Sie gesagt haben, Sie wollen das nicht gegeneinander verschieben. Sie können das nachher gerne korrigieren.
Ich möchte Ihnen an einem Beispiel dokumentieren, wie weit sich die Einsicht herumgesprochen hat, daß das eine mit dem anderen zu tun hat, daß in Milliardenhöhe Leistungen, die eigentlich steuerfinanziert werden müßten, in die Sozialkassen abgedrängt worden sind und deshalb die sozialen Systeme so sehr in Bedrängnis geraten sind.
Ich möchte das an dem Beispiel der Kerosinsteuer dokumentieren, indem ich Ihnen wenige Sätze zur Kenntnis gebe, die in der vergangenen Woche nicht
Albert Schmidt
von den Grünen, sondern vom Diözesanrat der Katholiken im Bistum Passau formuliert worden sind. Hören Sie bitte genau zu!
An die Politiker appellieren wir, sich dafür einzusetzen, daß auf Flugbenzin endlich eine angemessene Steuer erhoben wird.
Jetzt kommt es, Frau Homburger:
Warum verzichtet man darauf, die arbeitsplatzvernichtenden hohen Lohnzusatzkosten zu senken und den Ausfall für die Staatsfinanzen durch eine Kerosin-Steuer mit jährlichen Einnahmen in Milliardenhöhe zu kompensieren?
Das genau ist der Zusammenhang.
Ich sage Ihnen: Das ist die älteste Subvention in Milliardenhöhe in Deutschland. Sie wollen doch Subventionen abbauen. Diese Subvention, die Steuerbefreiung von Kerosin, stellt jede Steinkohlesubvention in den Schatten. Wo war ihr Kampf gegen den Abbau dieser Subventionen, und wo ist er heute?
Letzter Satz, verehrte Frau Kollegin Homburger: Wenn Sie heute bestätigen wollen, daß Sie durchaus diesen Zusammenhang sehen und daß es sich nicht um einen Verschiebebahnhof handelt,
sondern daß es darum geht, die Leistungen in dem Bereich zu finanzieren, dem sie einzuordnen sind, das heißt: soziale Leistungen durch die sozialen Kassen, aber steuerfinanzierte Leistungen durch Steuern. Dann, glaube ich, wären wir uns ein großes Stück nähergekommen.
Frau Kollegin Homburger, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
Herr Kollege Schmidt, ich habe hier in keiner Weise gesagt, daß die Höhe der Lohnnebenkosten und die Höhe der Steuern nichts miteinander zu tun hätten. Ich habe im Gegenteil zum Ausdruck gebracht, daß es sich um zwei finanzielle Belastungen handelt, die beim Bürger als gleich angesehen werden.
Den Bürgerinnen und Bürgern ist egal, ob sie hohe Steuern zahlen oder die Lohnzusatzkosten gestiegen sind. Wenn sie netto deutlich weniger in der Tasche haben, ist es egal, woraus das resultiert.
Das heißt: Die Belastungen, ob durch Steuern oder Lohnzusatzkosten, sind zu hoch. - Das ist die Feststellung, die ich getroffen habe.
Jetzt zu der Frage: Welches Problem wird wo gelöst? Ich stimme mit Ihnen überein, wenn Sie sagen, daß wir die Probleme mit den Lohnzusatzkosten auch innerhalb der sozialen Sicherungssysteme lösen müssen. Es ist aber ein Irrglaube, daß wir die Probleme allein durch die Ausgliederung der versicherungsfremden Leistungen lösen könnten. Die Probleme in der Rentenversicherung, auch in der Kranken- und in der Arbeitslosenversicherung resultieren doch nicht allein aus den versicherungsfremden Leistungen. Das ist ein kleiner Teil der Debatte.
Darüber sprechen wir. Die Experten streiten außerdem darüber, was überhaupt als versicherungsfremde Leistung anerkannt wird.
Ich sage Ihnen: Eine Diskussion über versicherungsfremde Leistungen können wir nicht in der heutigen Debatte führen. Das ist aber auch nicht der ganze Teil der Miete, sondern nur ein kleiner Teil. Hinzu kommen muß eine Reform der Systeme der sozialen Sicherung, um die Kosten zu senken und damit auch die Lohnzusatzkosten. Nichts anderes habe ich vorhin gesagt.
Ich befinde mich in voller Übereinstimmung mit meiner Partei und auch mit dem Sachverstand draußen.
Warum sonst reden wir über die Rentenreform? Warum sonst haben wir heute morgen über die Krankenversicherung diskutiert? Warum sonst reden wir über das Arbeitsförderungs-Reformgesetz und anderes mehr?
Das hängt doch alles damit zusammen.
Der letzte Punkt: die Sache mit der Flugbenzinsteuer. Wir sind uns vollkommen einig. Hier ist gemeinsam ein Änderungsantrag gestellt worden. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie uns angreifen.
Wenn Sie schon meinen, Sie müßten auf Grund meiner Rede intervenieren, dann sollten Sie sich vorher wenigstens vernünftig informieren.
Ich gebe der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1997 ist ein wichtiges Jahr für den internationalen Umweltschutz und damit natürlich auch für die Umweltpolitik in diesem Lande. Ich glaube, wir sollten die Chance dieser Debatte nutzen, um in aller Seriosität über die Probleme zu sprechen. Ansonsten werden wir den Menschen draußen keine glaubwürdigen Antworten geben können.
Dazu gehört, daß wir, weil die Entwicklung im wirtschaftlichen Bereich stark international ausgerichtet ist - wir beschreiben das mit dem Schlagwort der Globalisierung -, auch in der Umweltpolitik Antworten auf diese globalen Wirtschaftsentwicklungen finden müssen. Ansonsten werden wir am Rande einer solchen Debatte stehen.
Wir können feststellen, daß wir in den letzten Jahren Fortschritte im Bereich der Bekämpfung von Umweltschäden verzeichnen konnten, die sich vor allen Dingen in Ort und Zeit sehr stark haben lokalisieren und bestimmen lassen, und daß wir heute vor vollkommen neuen Umweltproblemen stehen, die sehr viel diffuser und sehr viel schwerer an einer Stelle festzumachen sind. Ich nenne hierfür die Schädigung der Ozonschicht, den Klimawandel und den Rückgang der Artenvielfalt: weltweit, genauso aber auch bei uns. Auch nenne ich hier das Bevölkerungswachstum, das wieder sehr viel mit den ökonomischen Randbedingungen zu tun hat, das aber auch ökologisch erhebliche Auswirkungen hat.
Deshalb kann man gar nicht hoch genug schätzen, was vor fünf Jahren in Rio gemacht wurde, nämlich als Leitbild für die zukünftige Entwicklung in allen Bereichen den Begriff der „nachhaltigen Entwicklung" festzuschreiben, der eine ökologische, genauso aber eine soziale und eine ökonomische Dimension hat. Das heißt, wir müssen integriert denken lernen. Umweltpolitik muß in die verschiedenen anderen Politikbereiche hineingehen. Daß dies die Bundesregierung schrittweise tut - ich sage schrittweise, weil wir es auch erst lernen müssen -, dokumentiert sich in unserem Bericht, den wir der Sondergeneralversammlung fünf Jahre nach Rio abgegeben haben. Er zeigt, daß dieser Rio-Gipfel eben nicht nur Auswirkungen auf die Umweltpolitik hatte, sondern auch auf die Politik im Verkehrs-, Wirtschafts-, Landwirtschafts- und sonstigen Bereichen.
Wir wissen nun, daß die ökonomische, soziale und ökologische Dimension zusammen diskutiert werden müssen. Ich bin sehr dankbar, daß dies in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages geschieht. Genau dies machen wir auch in unserer sogenannten Schritte-Diskussion, das heißt, Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung mit allen gesellschaftlichen Gruppen, die sich dafür interessieren und versuchen, die nächsten notwendigen Schritte zu bestimmen. Das müssen natürlich Schritte insbesondere in Handlungsfeldern sein, bei denen wir wissen, daß die Abweichung von dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung am größten ist.
Nun ist es natürlich nicht mehr ganz so simpel wie früher, als man einfach für seinen Umweltstandpunkt streiten konnte; denn wenn man sich zum Prinzip der nachhaltigen Entwicklung bekennt, dann hat das immer zur Folge, daß man die soziale und ökonomische Dimension mitbedenken muß.
Dies birgt natürlich auch die Gefahr, daß jeder, dem auf dem Gebiet der Umweltpolitik etwas nicht paßt, rasch in die soziale oder ökonomische Dimension ausweicht, manchmal mit guten Gründen, manchmal aber auch - das sage ich ganz klar - mit schlechten Gründen. Mit dieser Art der Diskussion werden wir uns als Umweltpolitiker auch sehr offensiv auseinandersetzen müssen.
Wir haben Ihnen einen Bericht über die umweltgerechte und nachhaltige Entwicklung in Deutschland vorgelegt, den wir auch international bei der CSD abliefern werden. Wir werden in unserem Schritteprozeß bis zur Sondergeneralversammlung auch versuchen, mit den gesellschaftlichen Gruppen Schwerpunkte für die zukünftige Umweltpolitik zu bestimmen, wobei ich Ihnen heute nicht genau sagen kann, ob dies gelingt, bestimmt nicht in allen Feldern. Aber ich verstehe es schon als einen ganz ausdrücklichen Auftrag aus der Agenda 21, zu den gesellschaftlichen Gruppen herauszugehen und sich im Sinne der nachhaltigen Entwicklung um Konsens zu bemühen.
- Genau das tun wir. Wenn Sie sich gut informieren würden, dann wüßten Sie Bescheid.
- Das freut mich außerordentlich. Das ist auch dringend notwendig, damit wir dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung umfassend entsprechen. Das darf sich nicht auf die Umweltpolitiker beschränken.
Frau Hartenstein, nun kommt genau der Punkt. Es ist doch wirklich völlig unsinnig, die Bundesregierung gegen die Aktionen der Kommunen auszuspielen. Wir wissen, es gibt bei den Kommunen hervorragende Aktivitäten. Die Bundesregierung hat zu der Klimapolitik sogar einen Leitfaden erstellt, wie man mit Energierunden aktiv werden kann. Aber ich sage auch: Tun Sie doch nicht so, als ob kommunales Handeln nur deshalb nötig wäre, weil die Bundesregierung das aus Ihrer Sicht Notwendige nicht tut. Das ist doch ein vollkommen falsches Bild dessen, was wir in unserer Gesellschaft brauchen.
Wir haben auf vielen Gebieten anspruchsvolle Ziele, und wir haben vieles durchgesetzt. Deutschland hat den höchsten Anschlußgrad an Kläranlagen. Deutschland hat mit daran gearbeitet, daß im Rhein heute wieder 50 Fischarten nachgewiesen werden. Das ist eine Artenvielfalt, wie wir sie in den 20er Jahren hatten. Bei allen Problemen, die wir haben: Lassen Sie uns diese Erfolge den Leuten auch einmal vermitteln. Denn eines sage ich Ihnen ebenfalls: Wir
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
werden das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung in den Herzen der Menschen nicht verankern können, wenn wir Umweltpolitik auf Kassandrarufe beschränken. Vielmehr brauchen wir wirklich konstruktive Taten.
Ich könnte noch einige Ziele aufzählen. Ich will an dieser Stelle nur sagen: Frau Hartenstein, die Kommunen und ihre Energiespartische sind gut.
Aber zum Prinzip der Subsidiarität, zu dem wir in der Bundesrepublik Deutschland wohl alle stehen, gehört natürlich auch, daß die Planungskompetenz weit in die kommunale Ebene hineinverlagert worden ist.
Das bedeutet natürlich auch, daß bei dem Problem der Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Flächenverbrauch die Bundesregierung wohl mitarbeiten kann, daß diese Aufgabe aber in ganz erheblichem Maße in die Hände der Kommunen gehört. Dazu werden wir in der nächsten Zeit noch wunderbare Diskussionen haben.
Meine Damen und Herren, es finden internationale Verhandlungen statt. Frau Hustedt, Sie haben das zitiert, was ich als strategischen Fehler der Umweltbewegung und der Umweltpolitik bezeichne. Ich bin heute nach wie vor der Meinung, daß meine Ansicht richtig ist und daß es ein Fehler ist, daß die Vertreter der Umweltpolitik und die an der Umwelt Interessierten in der Gesellschaft es noch längst nicht so gut wie andere gelernt haben, zu bestimmten Zeitpunkten ihre Stärken deutlich zu machen. Da mögen bei mir Defizite liegen, aber da liegen mit Sicherheit auch bei der Umweltbewegung und bei anderen Interessierten Defizite.
Ich will Ihnen, die Sie so viele schöne Beispiele gebracht haben, ebenfalls ein Beispiel nennen. Wenn wir im Rahmen der Europäischen Union verhandeln, wenn Deutschland, Österreich und Dänemark eine 25prozentige CO2-Reduktion bis zum Jahr 2010 zusagen und wenn alle anderen Länder weit darunter bleiben - auch solche, die uns von Ihrer Seite immer wieder als umweltpolitische Vorbilder vorgehalten werden; Schweden plus 5 Prozent CO2-Emission bis 2010; Finnland 0 Prozent, wobei man am liebsten bis zum Jahr 2010 überhaupt keine Aussage machen möchte -, dann frage ich Sie: Was reitet Sie eigentlich? Was reitet Sie, wenn in Bonn eine Klimakonferenz stattfindet, die Europäische Union endlich etwas vorlegen kann und Sie sich hinstellen und sagen: „Versagen" oder wenn Sie sagen: „Merkel hat sich nicht durchgesetzt; schwache Position"?
Ich möchte Sie fragen: Wem schaden Sie eigentlich? Ich bin das von Ihnen gewöhnt. Aber Herr Estrada, das Klimasekretariat, die Amerikaner - alle diejenigen, die nicht wollen, daß wir vorankommen - reiben sich die Hände und sagen: Guckt euch die einmal an. Ich sage: Sie schwächen diejenigen, die Sie eigentlich stärken wollen. Diesen strategischen Fehler werfe ich Ihnen vor.
- Ich will mich hier überhaupt nicht drücken. Das wird durch Schreien nicht besser. Das ist einfach peinlich gewesen; Punkt, Ende.
Jetzt komme ich zu dem nationalen Bereich. Dazu kann ich nur sagen: Natürlich haben wir ein anspruchsvolles Ziel. Das wird von niemandem bestritten. Glücklicherweise bekennen sich fast alle gesellschaftlichen Gruppen zu diesem Ziel. Aber es besteht das Problem, daß wir die Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels auf die verschiedenen Gruppen aufteilen müssen. Wir müssen feststellen, daß es mit dem Engagement nicht mehr ganz so weit her ist wie mit dem Bekenntnis zu dem Ziel. Das erfordert wiederum das Erlernen einer neuen Vorgehensweise.
Dazu gehört natürlich als erstes, daß man vernünftige Bilanzen aufstellt. Nach unseren jetzigen Erkenntnissen und auf Grund von vielen Studien, die auch außerhalb der Bundesregierung angefertigt wurden, wissen wir, daß mit den von uns jetzt veranlaßten Maßnahmen das 25-Prozent-Reduktionsziel noch nicht erreicht wird. Das braucht man nicht mit Häme zu überziehen, und ein solcher Befund ist auch kein Grund dafür, zu sagen: Nun schaffen sie es ja wirklich nicht, weil sie es jetzt schon gesagt haben, daß das nicht reicht. So läuft die Diskussion leider. Vielmehr müssen wir sagen: Welche neuen Maßnahmen müssen wir ergreifen? Diese Maßnahmen werden wir, nachdem uns jetzt verläßliche Berichte darüber vorliegen, was wir schaffen, nämlich eine Reduktion um 15 bis 17 Prozent, formulieren und umsetzen. Dazu werden staatliche Maßnahmen gehören; dazu werden Maßnahmen im Bereich der Umweltbildung gehören; dazu werden wirtschaftliche Verpflichtungen gehören.
- Eine Selbstverpflichtung, wenn sie zu einem vernünftigen Ziel führt, ist doch nicht schlecht. Es ist doch nicht etwas von vornherein schlecht, weil sich jemand selbst zu etwas verpflichtet. Vielmehr muß die Frage doch sein, ob man das Ziel erreicht.
Zur Erreichung eines Ziels muß man doch nicht unbedingt die größten Marterinstrumente ausgraben.
Manchmal hat man den Eindruck, Umweltpolitik
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
macht nur dann Spaß, wenn sie andere irgendwie quält. Das ist doch Quatsch.
Deshalb will ich auch sagen, Frau Hartenstein: In bezug auf die Selbstverpflichtung der Wirtschaft haben wir klargestellt, daß wir uns ordnungspolitische Maßnahmen vorbehalten, wenn das, was in der Verpflichtung versprochen wurde, nicht eingehalten wird.
Wir haben ein Monitoring vereinbart. Noch bevor der erste Bericht des Monitorings vorliegt, haben Sie die Sache schon wieder in der Luft zerrissen. Ist denn das klug, was wir machen? Das frage ich wirklich einmal in die Runde.
Ist es klug, daß wir diejenigen, die sich endlich auf den Weg machen und darüber nachdenken, wie wir vorankommen, vor den Kopf stoßen?
Das gilt auch für Vertreter Ihrer Partei. Vielleicht nehmen Sie als Umweltpolitikerin Herrn Clement nicht so ernst; das kann sein. Herr Clement sagt, er sei erstaunt, welche Gedanken sich die Chemie in Bereichen mache, von denen er es nicht vermutet habe. Deshalb sage ich einfach einmal: Geben Sie den Leuten eine Chance, damit auch andere gesellschaftliche Akteure ihre Kreativität spielen lassen können.
Eines kann ich Ihnen sagen: So viele Leute können wir im Bundesumweltministerium gar nicht einstellen, wie wir bräuchten, um die Wärmeausnutzungsgrade in den einzelnen wirtschaftlichen Bereichen festzustellen. So viele Verwaltungsvorschriften und Verordnungen können wir gar nicht machen.
Zum Schluß - das sage ich Ihnen voraus - kommt Thilo Bode und sagt: Ihr mit eurem Verordnungsgestrüpp macht eine hinterwäldlerische Umweltpolitik. Kommt endlich auf den Kern und versucht, die gesellschaftlichen Kräfte zu aktivieren! So geht die Sache nämlich aus. Sie hinken wie immer ein bißchen hinterher. Das ist nicht mehr die Politik der nachhaltigen Entwicklung.
Meine Damen und Herren, wir werden uns in großer Ruhe, großer Sachlichkeit
und mit vielen internationalen Gesprächen auf die Herausforderungen dieses Jahres im internationalen Umweltschutz vorbereiten. Globale Wirtschaftspolitik und nur lokale Umweltpolitik gehen nicht zusammen. Wir haben ganz klare Vorhaben, was auf der Sondergeneralversammlung besprochen und vereinbart werden sollte. Ich denke, wir sind uns da in vielen Bereichen weitgehend einig. Ich bitte Sie darum, uns durch Ihre internationalen Kontakte auf dieser Linie zu unterstützen.
Wir wollen uns dafür einsetzen und werden dafür kämpfen, daß es eine Waldkonvention, zumindest klare Vorgaben für die Einrichtung einer solchen Waldkonvention gibt, weil wir uns wohl alle einig sind, daß dies eines der dringendsten Handlungsfelder für die Zukunft ist.
Wir werden darum ringen, daß auf der Sondergeneralversammlung der Staats- und Regierungschefs klare Aussagen zu der Notwendigkeit eines anspruchsvollen Klimaprotokolls gemacht werden, damit die Verhandlungen in Kyoto eine gute Chance auf Erfolg haben. Das ist wichtig und dringend.
Wir werden uns international mit der Frage des Schutzes der Meere und der Trink- und Süßwasserressourcen beschäftigen müssen.
Wir müssen, Frau Hustedt, uns selbstverständlich dafür einsetzen, daß der freie Handel nicht Vorrang vor den internationalen Umweltkonventionen hat. Dies ist eine der Grundfragen der zukünftigen internationalen Umweltpolitik.
Ich fordere Sie alle auf, mit mir gemeinsam die Vorbehalte der vielen Entwicklungsländer abzubauen, die uns sagen: Ihr tut nichts weiter, als euren industriellen Fortschritt dadurch zu sichern, daß ihr uns unsinnige Auflagen macht. Dieses Argument müssen wir gemeinsam entkräften.
Internationale Beschlüsse werden im Konsens gefaßt. Unter den 179 Ländern gibt es aber verdammt wenige Industrieländer und verdammt viele solche, die zu den Entwicklungsländern zählen. Die Vorbehalte müssen wir abbauen.
Davon wird die Zukunft einer nachhaltigen Entwicklung in ganz erheblichem Ausmaß abhängen. Wenn diese Zusammenhänge nicht klar sind - ich wünsche mir dringend, daß auf der Sondergeneralversammlung ein klares Wort von den Staats- und Regierungschefs dazu gesagt wird -, sind unsere Bemühungen um mehr internationalen Umweltschutz angesichts einer schnell fortschreitenden Globalisierung zahnlos, kraftlos und bißlos, wie das immer so schön heißt.
Deshalb lassen Sie uns diese internationale Konferenz gemeinsam vorbereiten. Draußen versteht unsere Art von Diskussion sowieso niemand. Deshalb wollen wir etwas für den Umweltschutz tun.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Michael Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Merkel, Sie haben in diesem Punkt völlig recht: Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche, in der wir nicht nur vor neuen, insbesondere aber neuen Herausforderungen stehen. Wir haben auch eine ganze Menge alte Herausforderungen, die erneut aufgebrochen sind. Ich nenne beispielsweise die Massenarbeitslosigkeit.
Wir haben aber noch eine andere Herausforderung: Wir wissen, daß wir mit den alten Lösungen viele dieser Fragen nicht mehr beantworten können. Insofern - das ist bei uns unumstritten - besteht kein Anlaß zur Selbstgerechtigkeit. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß man die Politik immer an den realen Ergebnissen messen muß. Diese realen Ergebnisse Ihrer Politik stehen in einem krassen Widerspruch zu den Erkenntnissen, die wir über die Veränderungen in der Gesellschaft haben.
Der eigentliche Punkt ist, daß wir erkennen, daß eine Verlängerung dieser Politik keines der großen auf uns zukommenden Probleme lösen kann. Das treibt die Menschen um. Das macht sie mißtrauisch. Das demotiviert sie. Das macht ihnen angst.
Eine Politik, die versucht, Verhältnisse zu rechtfertigen, von denen die Bevölkerung weiß, daß sie so nicht verlängert werden können, ist eine Politik, die im Kern politische Auseinandersetzungen und das Ringen um neue Lösungen blockiert. Sie ist lösungsunfähig. Das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen.
Wir haben Rio als ein Zeichen der Hoffnung gesehen. Rio war deshalb so wichtig, weil dort soziale, wirtschaftliche und ökologische Fragen verbunden behandelt wurden. Rio war der Versuch, die Politik auf eine neue Basis zu stellen. Rio war der Versuch, im Wege internationaler Zusammenarbeit Menschenrechte durchzusetzen, die Lebensgrundlagen zu schützen, die Wirtschaft zu stabilisieren und vor allem die Menschen für die Zukunft zu motivieren.
Diese Form von Globalisierung wollen wir, aber in der praktischen Politik herrscht ein ideologischer Globalismus vor, der nur freie Fahrt für die wirtschaftlich Starken kennt.
Wir sind sehr dafür, über die Chance der internationalen Zusammenarbeit zu reden. Aber dann müssen wir in der Politik gemeinsam für ein Ziel stehen: das Primat der Politik zur Durchsetzung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Reformen. Die Politik darf nicht - manch einer meint, das sei dann noch vernünftige Politik - zum Helfershelfer einseitiger wirtschaftlicher Interessen werden.
Ihre Politik ist nichts anderes als schlichte Anpassung an wirtschaftliche Strukturen - auch wenn wir nicht bestreiten, daß diese sehr mächtig und sehr durchsetzungsstark sind.
Unser Hauptvorwurf ist, daß Sie sich aus der Verantwortung und aus der Gestaltung zurückziehen. Damit löst man weder soziale noch ökologische und auch keine ökonomischen Probleme.
Es ist schön und gut, wenn das Umweltministerium öffentlich am Ziel der 25prozentigen Reduktion der CO2-Emissionen festhält. Aber die Wahrheit ist doch, daß Ihr Ministerium, Frau Merkel, völlig allein steht und die anderen Ministerien mit diesem Klimaschutzziel nichts am Hut haben.
Meine Damen und Herren, wir halten es für sehr wichtig, zu erkennen, daß der Rückfall in alte, harte Wachstumsstrategien - das findet nämlich in dieser Phase der Globalisierung statt - kein einziges Problem lösen kann. Sie ziehen eben nicht die Konsequenzen, die jetzt notwendig sind: gestalten, die Demokratie fördern, mehr Gerechtigkeit verwirklichen. In allen diesen zentralen Bereichen machen Sie das Gegenteil.
Ich will ein Beispiel nennen. Die zentrale Botschaft von Rio war: Soziale Gerechtigkeit und ökologische Verträglichkeit gehören zusammen.
An dieser Botschaft gemessen, ist die Politik der Demontage des Sozialstaats in der Bundesrepublik auch gegen die Ziele und Erkenntnisse von Rio gerichtet.
Ich will ein zweites Beispiel nennen. Wir behaupten nicht, das Ziel der 25prozentigen Reduzierung der CO2-Emissionen sei einfach zu erreichen. Uns ist völlig klar, daß das unglaubliche politische Anstrengungen erfordert. Aber diese Trickserei, mit der Sie Ihre Politik selbst schönrechnen, machen wir nicht mit.
Der Kabinettsbeschluß von 1990 lautete: Reduktion um 25 Prozent in der alten Bundesrepublik und um einen sehr viel höheren Prozentsatz in den neuen Bundesländern. Die Wirklichkeit dagegen ist: Seit 1990 sind die Emissionen in den alten Bundesländern gestiegen und nicht gesunken.
Michael Müller
Sie haben die Einheitsdividende als Erfolg der Ökologie verkauft. Das ist nicht sauber. So kann man nicht glaubwürdige Politik machen.
Meine Damen und Herren, wir sehen ähnlich problematische Entwicklungen im Bereich der Umwelttechnik. Für uns ist der Ausbau der integrierten Umwelttechnik einer der zentralen Zukunftsmärkte, die in der Bundesrepublik viel zu wenig gefördert werden. Dazu gehört auch die sehr viel stärkere Ausrichtung auf die Qualifizierung von Menschen und die Förderung ihrer Kreativität in der Arbeitswelt. Nichts passiert.
Es ist doch alarmierend, daß wir nach der OECD- Statistik in der Umwelttechnik auf den dritten Platz zurückgefallen sind. Beachtenswert dabei ist auch, daß dies in erster Linie Sanierungstechnik ist, also nicht die Ökologisierung vorantreibt, um die Ressourcenproduktivität und die Energieproduktivität zu erhöhen. Es muß uns doch alarmieren, daß wir in einem zentralen Zukunftsfeld wieder einmal den Anschluß verlieren. Von den regenerativen Energien will ich gar nicht reden, die bescheidene 2,3 Prozent an der Energieversorgung in der Bundesrepublik ausmachen.
Wie will man den Menschen Vertrauen in die Zukunft geben, wenn in diesen wichtigen Zukunftsfeldern Stagnation und Rückschritt herrschen? Wie soll das gehen, wenn die Politik keine mutigen Schritte unternimmt voranzukommen? Das sind die Punkte, die für Rio wichtig sind, und zwar wichtiger als die Schönfärberei, die wir heute erleben.
Wir sind wieder in einer Situation, in der sich unsere Gesellschaft die Frage stellt: Was hält sie zusammen und wohin soll es gehen? Damit stellt sich wie nie zuvor die alte Frage: Was ist Fortschritt? Solange wir auf diese Frage keine Antwort geben, nützt es überhaupt nichts, wenn einzelne von uns hören, was für tolle Umweltpolitiker sie sind. Das bringt die Gesellschaft keinen Schritt voran.
Ich appelliere an den Bundestag: Stellen wir die Streitigkeiten von gestern ein wenig zurück! Wir stehen vor Herausforderungen, die uns alle massiv fordern: Ökologisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und Verwirklichung von mehr sozialer Gerechtigkeit.
Das sind gewaltige Herausforderungen, die man nicht - wie die F.D.P. - mit den Rezepten der 20er Jahre lösen kann. Das sind gewaltige Herausforderungen, bei denen man den Menschen nicht Sand in die Augen streuen darf. Wir brauchen ein Ringen zwischen den Parteien, bei dem in erster Linie Ehrlichkeit und Mut zu neuen Wegen gefordert sind.
Wir sehen in Rio die Verantwortung, nach vorn zu denken und neue Antworten zu geben. Wir befürchten aber, daß wir angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse, die in der Bundesrepublik vorherrschen, verdammt viel Zeit verlieren, weil die Bundesregierung nicht die Kraft hat, Antworten zu geben.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Peter Paziorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Müller, Sie hätten mit Ihrer Rede bei der NRW-SPD keine Chance. Das muß man klar und deutlich auch vor dem Hintergrund der Aussagen sagen, die Herr Clement für die Umwelt- und Wirtschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen immer wieder macht. Ihre Aussage, daß unsere Umweltpolitik nichts anderes ist als die schlichte Anpassung - so haben Sie es formuliert - an politische Strukturen, hat in einer völlig unerträglichen Art und Weise den Diskussions- und Entscheidungsprozeß in der Umweltpolitik falsch dargestellt und überzeichnet.
Es ist eigentlich schade, daß Sie einerseits die Gemeinsamkeit in der Umweltpolitik im zweiten Teil Ihrer Rede einfordern, aber vorher in einer völlig unverantwortlichen Art und Weise überzeichnen und damit selbst Zeugnis dafür ablegen, daß der gemeinsame Weg sehr schwierig ist.
Ich will das an einem ganz wichtigen Bereich deutlich machen, nämlich bei den Instrumenten der Umweltpolitik. Über das Ziel der 25prozentigen Reduktion des CO2-Ausstoßes in der Klimaschutzpolitik sind wir uns einig. Die Frage ist aber: Sind wir uns beim Maßnahmen- und Instrumentenkatalog einig?
Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, daß umweltpolitische Entscheidungen in Deutschland auch so ausgerichtet sein müssen, daß sie nicht zu einer Verlagerung von Wirtschaftsaktivitäten mit negativen Auswirkungen zum Beispiel auf Beschäftigung, Preisstabilität, Wirtschaftswachstum usw. führen.
Somit muß sich - dazu haben Sie heute wieder nichts gesagt, Herr Müller; Sie weichen dieser Frage in der Diskussion immer wieder aus -
eine wirksame Umweltpolitik bei der Auswahl der zur Verfügung stehenden Instrumente auch an den Auswirkungen dieser Instrumente orientieren. Das wird immer wieder in der umweltpolitischen Diskussion von der SPD und den Grünen vernachlässigt.
Es ist doch selbstverständlich, daß der Einsatz bestimmter Instrumente - darüber streiten wir - immer nur Mittel zum Zweck, aber nie Selbstzweck sein darf. Das gilt auch für die Selbstverpflichtung. Sie ist ein Instrument in einem komplexen Maßnahmenbündel, nicht mehr und nicht weniger.
Dr. Peter Paziorek
Vor diesem Hintergrund ist es richtig - es wäre schön gewesen, wenn wir heute positivere Aussagen zu diesem Bereich von Ihnen gehört hätten -, daß die Bundesregierung und die Koalition im Rahmen ihrer Klimaschutzpolitik den Selbstverpflichtungen einen hohen Stellenwert beimessen.
Leider wird von Ihnen in der umweltpolitischen Diskussion sehr oft ein Zerrbild, ein positives oder negatives Zerrbild gezeichnet. Deshalb sage ich ganz deutlich: Erstens. Selbstverpflichtungen sind nicht per se in jedem Fall das erfolgversprechende umweltpolitische Instrument. Zweitens. Selbstverpflichtungen sind aber auch nicht die Kapitulation der Umweltpolitik vor den Interessen der Industrie oder die Aushebelung demokratischer Entscheidungsverfahren. Es geht somit nicht um die uneingeschränkte Billigung dieses Instrumentes. Deshalb ist es völlig falsch, daß wir heute wieder von Frau Hustedt, aber auch von Frau Hartenstein eine sehr pauschale Ablehnung des Instrumentes der Selbstverpflichtung gehört haben.
- Ja, Sie haben das im nachhinein noch korrigiert. Ich bin froh, daß Sie das wenigstens nachgeschoben haben. Aber Ihre Gesamtaussage war negativ, Frau Hartenstein.
Wie sieht im Augenblick die Politik der Selbstverpflichtung aus? Die Erklärung der deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge bezieht derzeit 19 verschiedene Wirtschaftsverbände ein. Damit werden über 70 Prozent des Endenergieverbrauches der deutschen Industrie und 99 Prozent der von der öffentlichen Stromversorgung bereitgestellten Elektrizität erfaßt. Damit handelt es sich bei dieser Selbstverpflichtungserklärung um die weltweit umfassendste freiwillige Zusage der Wirtschaft zur Klimavorsorge.
Die Bundesregierung hat sich vor diesem Hintergrund zu Recht bereiterklärt, zusätzliche ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Klimavorsorge vorläufig - vorläufig! - auszusetzen und der Privatinitiative der deutschen Wirtschaft Vorrang zu gewähren.
Natürlich geht es nur darum, eine Politik zu ermöglichen, die dem Klimaschutz weiterhilft. Wenn die Selbstverpflichtungsaktion der Wirtschaft nicht erfolgreich verlaufen sollte und wenn ein Erfolg durch Ergebnisse nicht belegt werden kann, dann werden wir natürlich zu unserem Wort stehen, daß ordnungsrechtliche oder auch steuerrechtliche Maßnahmen ergriffen werden müssen.
Aber zunächst beschreiten wir diesen Weg und warten ab, ob dieser Weg richtig ist. Ich bin davon überzeugt, daß dieser Weg erfolgreich sein wird, so daß ein anderer Weg gar nicht beschritten werden muß.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hustedt?
Gerne.
Herr Paziorek, Sie kennen doch die ganzen Gutachten, die im Wirtschaftsministerium gemacht wurden. Auch im Umweltministerium wird an Gutachten gearbeitet. Alle Gutachten gehen davon aus, daß die Zielstellung mit den jetzigen Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Das heißt, Sie brauchen das Monitoring, selbst dann, wenn die Industrie die Zielstellung erfüllt. Das Monitoring ist nur dazu da, darauf zu achten, ob sie die Versprechung, um 20 Prozent zu reduzieren, einhält. Selbst wenn die Industrie diese Zielstellung erfüllt, brauchen Sie das Monitoring doch nicht abzuwarten, um schon jetzt zu wissen, das weitere Maßnahmen notwendig sind.
Frau Kollegin, Frage!
Deswegen frage ich Sie: Wann kommt endlich das Klimaaktionsprogramm auf den Tisch?
Frau Hustedt, genau da sieht man den Dissens in der Klimaschutzpolitik. Sie leugnen einfach die Erfolge, die wir seit 1990 bei der Reduktion von CO2 in Deutschland erzielt haben. Es ist nicht richtig, daß das - wie Sie immer wieder behaupten - ein bloßer Mitnahmeeffekt durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch der ehemaligen DDR ist. Es gibt Zahlen, die besagen: Wir haben inzwischen eine Reduktion von 15 bis 17 Prozent erreicht. Jetzt geht es um die Frage: Wie machen wir vor dem Hintergrund der 25prozentigen Reduzierung bis 2005 weiter?
Da ist ein Bereich ganz wichtig, nämlich der Bereich der Wirtschaft. Die Wirtschaft hat sich bereit erklärt, in ihrem Bereich, der Auswirkung zum Beispiel auf die Beschäftigung in Deutschland hat, freiwillig im Rahmen der Selbstverpflichtung Reduktionen bis zu 20 Prozent zu erzielen. Das ist ein gewaltiger Brokken, den wir als ein positives Ergebnis hinstellen und hinnehmen sollten. Ich bin davon überzeugt: Das Ziel wird auch erreicht.
Dann stellt sich die Frage: Was passiert noch, um die fehlenden 5 Prozent zu erreichen?
Dr. Peter Paziorek
Da haben wir zwei Bereiche, die außerhalb der Selbstverpflichtung geklärt werden müssen, da sie nicht zum industriellen Bereich gehören. Das ist zum einen der Bereich der Gebäudewirtschaft. Dazu wird gleich der Kollege Dr. Meister etwas sagen. Dazu gehört zum anderen der wichtige und spannende Bereich der Verkehrspolitik, der mit der Frage der Selbstverpflichtung in dieser Form direkt gar nichts zu tun hat.
Warum machen Sie mit Ihrer Zwischenfrage wie im Umweltausschuß der Öffentlichkeit immer wieder vor, daß die Selbstverpflichtung der Wirtschaft die gesamte CO2-Reduktionspolitik, zum Beispiel auch für die Gebäudewirtschaft, voll erfassen soll? Ihr Einwand gilt nur dann, wenn Sie die Interpretation der Selbstverpflichtung der Wirtschaft falsch ansetzen. Deshalb bin ich froh, daß Sie diese Frage gestellt haben. Damit können wir die Frage der Selbstverpflichtung endlich auf das zurückführen, was wir mit der Wirtschaft tatsächlich vereinbart haben. Nicht mehr und nicht weniger.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Frage des Kollegen Matschie?
Ja. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön.
Herr Kollege Paziorek, ist Ihnen bekannt, daß das Bundeswirtschaftsministerium vor einiger Zeit eine Studie in Auftrag gegeben hat, das Instrument Selbstverpflichtung einmal aus ordnungsrechtlicher Sicht zu beleuchten, und daß diese Studie zu dem Ergebnis kommt, daß man mit diesem Instrument sehr, sehr vorsichtig sein sollte, weil es die Gefahr in sich birgt, daß der Staat, da er über längere Zeit nicht aktiv handelt und sich darauf verläßt, daß diejenigen, die sich selbst verpflichten, handeln, ohne daß man das einklagen kann, in Zukunft gezwungen sein könnte, in der Umweltpolitik sehr viel restriktiver vorzugehen, was er mit den Selbstverpflichtungen ja gerade vermeiden möchte?
Ist Ihnen auch bekannt, daß die Studie weiterhin zu dem Ergebnis kommt, daß solche Selbstverpflichtungen nur dann wirklich eine Chance haben zu greifen, wenn auch die entsprechenden Rahmenbedingungen gesetzt werden, das hieße beispielsweise, damit Selbstverpflichtungen zur Energiereduzierung greifen, daß Energie teurer wird, damit sich sozusagen der Rahmen ergibt, in dem sich die Reduzierung lohnt?
Sehen Sie nicht auch die Gefahr, daß diese Selbstverpflichtung beispielsweise in der Klimafrage dazu führt, daß Deutschland in der EU nun etwas auf die Bremse tritt, was CO2-Energiesteuern betrifft, so daß es durchaus gerechtfertigt ist, wenn man dieses Instrument hier sehr, sehr kritisch beleuchtet?
Herr Kollege Matschie, zu Ihrem letzten Punkt: Ich kenne nirgendwo eine Aktivität der Bundesregierung auf der Ebene der Europäischen Union, um die Einführung einer europaweiten EU-CO2-Energiesteuer zu behindern, so daß ich den Gegensatz, den Sie in die Frage gekleidet haben, überhaupt nicht sehe.
Das erste Argument, das Sie angesprochen haben, nämlich die Frage der ordnungspolitischen Bedenken, behandelt einen Fragenbereich, den man sehr ernst nehmen muß. Deshalb wird es darauf ankommen, immer zu prüfen, wie die Selbstverpflichtungen konkret aussehen, damit es nicht nachher durch ein Überschwappen, ein Umklappen dieses Instruments tatsächlich zu negativen Auswirkungen in anderen Bereichen kommt. Darüber gibt es inzwischen eine breite Diskussion; dafür bin ich durchaus offen.
Aber ich halte es nicht für richtig, daß man, wenn man Bedenken gegen Selbstverpflichtungen äußert und aufzeigt, wie weit es nicht gehen darf, daraus von vornherein folgert, daß damit Selbstverpflichtungen vom Ansatz her schon falsch sind. Das ist der gedankliche Fehler, der gemacht wird.
Man muß vielmehr fragen: Wo sind die Chancen und wo sind die Gefahren der Selbstverpflichtung? Es ist wichtig, daß Sie auf diesen Aspekt hingewiesen haben; denn er erlaubt es dann, die Gefahren einzugrenzen und richtige Methoden zu finden.
Der dritte Bereich betrifft den Rahmen. Natürlich können die Selbstverpflichtungen nur ein Bestandteil eines ganzen Maßnahmenbündels sein. Dazu hat Frau Ministerin Merkel immer erklärt, daß nach der Abstimmung in der Regierung noch vor der Sommerpause ein weiterer Maßnahmenkatalog zum ganzen Bereich der Klimaschutzmaßnahmen vorgelegt werden wird. Das zweite bzw. dritte Maßnahmenpaket durch den Interministeriellen Ausschuß kommt noch.
Dann wird sich auch die Frage stellen: Wie paßt das beides zusammen, also die Unterstützung im Bereich der erneuerbaren, der regenerativen Energien mit Selbstverpflichtungen, zum Beispiel im Bereich der Kraftwerke und der fossilen Energieträger? Das muß man zusammen behandeln. Das ist der richtige Weg. Das wollen wir auch, so daß ich wirklich keine Befürchtungen habe, daß auf Grund Ihrer drei Kritikpunkte, die Sie vorgetragen haben, letztlich wirklich negative Argumente gegen die Selbstverpflichtung vorgebracht werden können.
Zum Schluß vielleicht noch ein Gesichtspunkt, der in bezug auf den Bereich der Selbstverpflichtung fälschlicherweise immer wieder vorgetragen wird. Es wird immer gesagt: Die Wirtschaft hat sich ja nur dazu verpflichtet, jetzt an das 20-Prozent-Reduktionsziel heranzugehen. Das ist der Stand von 1995. 1996 hat die Wirtschaft nachgebessert. Wir haben inzwischen eine Selbstverpflichtungserklärung, die
Dr. Peter Paziorek
dieses Ziel der Reduktion klar und deutlich als fest vereinbart ansieht und nicht als eine Obergrenze, die man nur anstreben will.
Deshalb, meine ich, sollten wir die Opposition auffordern, ihre Reserve gegen dieses Instrument aufzugeben. Wir sollten gemeinsam der Auffassung sein, daß zur Erreichung des Ziels zunächst der Privatinitiative der deutschen Wirtschaft der Vorrang gewährt werden sollte.
Es kann doch nicht Sinn und Zweck unserer Umweltpolitik sein - so wie Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, es immer wieder fordern -, daß um des Prinzips willen zusätzliche ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Klimavorsorge eingeführt werden, auch für den Fall, daß eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß dieses Ziel über die Selbstverpflichtungen sehr viel besser erreicht wird. Insoweit stört mich die außerordentlich negative Grundeinstellung, die in dieser Frage bei Ihnen immer wieder auftaucht.
Wir gehen davon aus, daß Brüssel den deutschen Weg zur Kenntnis nimmt und den geplanten europäischen Rahmen für freiwillige Vereinbarungen so steckt, daß wir in der Lage sein werden, unseren Weg weiter zu beschreiten. Wir brauchen den Mut zu neuen Wegen in der Umweltpolitik. Blockadehaltungen und eine fundamentalistische Ablehnung neuartiger Instrumente helfen uns nicht weiter. Es wäre gut für die Umweltpolitik in Deutschland, wenn dies endlich auch von der Opposition genauso gesehen würde.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Mathias Schubert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erdgipfel sind Anlässe, globale Erkenntnisse in gehobene Politpoesie zu gießen. In der Zeit zwischen und nach Erdgipfeln erweisen sich Willensstärke und politische Gestaltungskraft dieser Poeten.
Rio hat beachtliche Signale für die Neuorientierung auch der bundesdeutschen Entwicklungspolitik ausgesandt. Das ist mein Thema. Es ist Zeit, an diesen Signalen die Wirklichkeit zu bilanzieren. Etwa an der Rede des Kanzlers in Rio. Da hat er gesagt: „Wir bestätigen ausdrücklich das 0,7%-Ziel", das so bald wie möglich erreicht werden soll. So bald wie möglich heißt aus der Sicht von 1997 im Klartext: vermutlich nie.
Folgerichtig hat der BMZ-Haushalt in diesem Jahr die 0,3-Prozent-Schwelle unterschritten. Weitere Kürzungen um über 30 Millionen DM bei den Nichtregierungsorganisationen einschließlich den Kirchen stehen möglicherweise bald bevor.
Das zeigt, welche Bedeutung die Bundesregierung der Entwicklungszusammenarbeit wirklich beimißt.
Es geht aber nicht nur um Entwicklungszusammenarbeit, es geht letztlich um das Gesamtkonzept einer global verantwortlichen Politik der Bundesregierung. Die findet bei genauerem Hinsehen zumindest aus entwicklungspolitischer Sicht faktisch nicht statt.
Selbstverständlich - das ist überhaupt nicht bestritten - hat die Bundesregierung im Rahmen des RioProzesses eine Reihe wichtiger Entscheidungen getroffen. Dazu gehören aus entwicklungspolitischer Sicht die Aktivitäten zur globalen Umweltfazilität. Auch das Engagement zur Erhaltung der Wälder, zumindest bezüglich des finanziellen Rahmens, ist anzuerkennen.
Aber genau hier werden auch schon die Folgen dieser unkoordinierten Politik sichtbar. Denn trotz finanziellen Engagements für die Erhaltung der Wälder hat sich die Bundesregierung bislang nicht hinreichend für die Entwicklung einer globalen Konvention zum Schutz der Wälder eingesetzt. Zumindest ist hier kein Erfolg zu verzeichnen. Gleiches gilt für eine ebenso dringend notwendige Boden- und eine Meeresschutzkonvention.
Aber wir sollten uns nicht täuschen lassen; auch eine negative Politik wirkt nachhaltig. Der Jahr um Jahr mehr zusammengestrichene BMZ-Haushalt erschwert nicht nur die Arbeit entwicklungs- und umweltpolitischer Nichtregierungsorganisationen, und unter den Kürzungen leidet nicht nur die so notwendige entwicklungspolitische Öffentlichkeitsarbeit in der Bundesrepublik, sondern es läßt sich eben auch ein zunehmend offensichtlicher werdender Rückzug aus eingegangenen internationalen Verpflichtungen und abgegebenen internationalen Versprechungen feststellen.
So sind etwa die notwendigen Mittel für einen angemessenen finanziellen Beitrag der Bundesrepublik an der Wüstenkonvention nicht bereitgestellt.
Das gleiche gilt für die Mitfinanzierung des multilateralen Fonds zum Schutz der Ozonschicht.
Auf der einen Seite fordern Sie mehr Raum für private Initiativen, für Deregulierung, Flexibilisierung und Bürgerverantwortung. Auf der anderen Seite lassen Sie genau die, die nichtstaatlich aktiv werden, nämlich die Nichtregierungsorganisationen, mit Ihrer entwicklungspolitischen Finanzpolitik am ausgestreckten Arm langsam verhungern. Sie reden laufend vom schlanken Staat, handeln aber mit einem etatistischen Ungestüm sondergleichen.
Ein weiteres Beispiel für diese unkoordinierte Politik: Entwicklungszusammenarbeit ist Querschnittsaufgabe. Das heißt natürlich auch, sie ist unteilbar und beginnt bei uns und nicht in den Entwicklungsländern. Bei uns aber betreibt die Bundesregierung Entwicklungszusammenarbeit faktisch immer noch als Sektoralpolitik. Eine wirkliche Koordination zwi-
Dr. Mathias Schubert
schen Entwicklungs-, Umwelt-, Industrie- und Handelspolitik findet nicht statt. Im Gegenteil, das neoliberalistische Paradigma dient dazu, soziale und ökologische Belange als immer marginaler im Vergleich mit den wirtschaftlichen Herausforderungen anzusehen.
Vor allem vom Bundeswirtschaftsminister ist immer wieder zu erfahren, wie gefährdet der Standort Deutschland sei. Aus manchen Ländern der Dritten Welt ist zu erfahren, daß sie dort gern effizientere Energie- und Umwelttechniken einsetzen würden, die von uns kommen. Die gegenseitigen Vorteile liegen auf der Hand: hier Exportchancen, die Arbeitsplätze sichern und technologische Innovationen befördern, dort mehr Energieeffizienz, Ressourcenschonung und Umweltentlastung.
Es geschieht aber so gut wie nichts, weil der politische Wille trotz großer Worte zu klein ist, den Zugang der Entwicklungsländer zu modernen umweltschonenden Technologien auch finanziell verbindlich zu fördern.
Dabei sind solche Kooperationen sowohl in der Klimakonvention als auch in der Agenda 21 vereinbart.
Vielleicht liegt das aber nicht ausschließlich am Wirtschaftsminister, sondern vielleicht auch an der Umweltministerin oder am Forschungsminister. Wer weiß das so genau im Fall dieser Bundesregierung? Denn es gibt zum Beispiel zuwenig begleitende Forschungskapazitäten, weil die Bundesregierung nicht willens ist, den Universitäten, den außeruniversitären Forschungseinrichtungen oder auch dem Bundesumweltamt genug Geld zur Verfügung zu stellen
für Projekte zur globalen Umweltforschung und für Programme zur nachhaltigen Entwicklung auf nationaler, bilateraler und multilateraler Ebene.
Da die politischen Defizite nach innen schon so offenbar sind, kann zwangsläufig von dieser Bundesregierung nicht erwartet werden, daß sie ihr entwicklungspolitisches Handeln nach außen konzeptioneller gestaltet. So ist es auch kein Wunder, daß es bislang keine hinreichenden finanziellen, wissenschaftlichen oder auch technologischen Unterstützungen gibt, die es den Entwicklungsländern gestatteten, wissenschaftliche Infrastrukturen aufzubauen, um etwa ihre Biodiversität zu inventarisieren, oder ihre nationalen Naturschutzmanagements aufzubauen und selber ihre genetischen Ressourcen zu kontrollieren und eigenständig zu verwerten.
Ein letztes Beispiel: Der Wirtschaftsminister hält tapfer neoliberal daran fest, daß verbindliche Schritte hin zu global verbindlichen Vereinbarungen über soziale, besonders aber über ökologische Mindeststandards bislang am Widerstand der Entwicklungsländer gescheitert seien. Denn viele dieser Länder sehen angeblich durch die Einführung solcher Standards ihre sogenannten komparativen Kostenvorteile gefährdet.
Natürlich denken bestimmte Eliten in der Dritten Welt so. Aber andere denken eben anders. Es gibt in vielen dieser Länder eine beachtliche politische Basis von den Kommunen bis in die Parlamente und Regierungen, die weiß, daß nachhaltige Demokratisierung und wirtschaftliche Stabilisierung verläßliche soziale und ökologische Sicherungssysteme brauchen.
Der eigentliche Konflikt liegt an anderer Stelle: Er liegt in der Sorge vieler Entwicklungsländer, solche Standards könne der Norden protektionistisch gegen sie gebrauchen. Diese Sorge ist allerdings sehr begründet.
Daraus folgt wieder einmal, daß nachhaltige Entwicklung auch und gerade in diesem Bereich ein Problem des Nordens ist.
Hier haben bislang weder die EU noch die G-7-Staaten ihre Aufgaben erledigt. Erst wenn diese Aufgaben erledigt sind, haben wir das Recht, den Entwicklungsländern vorzuwerfen, sie blockierten Schritte zur Vereinbarung solcher Mindeststandards.
Zum Schluß: Alles in allem ist die Bilanz der Bundesregierung fünf Jahre nach Rio aus entwicklungspolitischer Sicht nicht besonders berauschend. Den Sphärenklängen der Gipfelpoeten folgte eine ernüchternde Wirklichkeit mit mehr Defiziten als Erfolgen. Das aber ist nur die zweite Seite der notwendigen Kritik. Sie ist nämlich Folge einer viel gravierenderen Feststellung.
Herr Kollege.
Nur noch zwei Sätze. - Das ist die Tatsache, daß es die Bundesregierung nicht vermocht hat, ein politisches Gesamtkonzept für ihre selbstformulierten globalpolitischen Ziele und für den von ihr selbst beanspruchten Teil globaler Verantwortung zustande gebracht zu haben.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Christian Ruck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in einem einzigen Punkt meinem Vorredner dankbar, nämlich daß er in dieser Klimadebatte noch einmal dezidiert die zunehmend kritische und ernste Rolle angesprochen hat, die die Entwicklungs- und Schwellenländer im Kampf um Klima und Umwelt spielen.
Dr. Christian Ruck
In der Tat ist es so: Wenn diese Länder auch nur annähernd das Konsumverhalten der reichen Industrieländer nachahmen, werden sie uns schon zu Beginn des nächsten Jahrhunderts bei der Umweltverschmutzung und bei den Emissionen von Treibhausgasen eingeholt haben. Die riesigen Städte wie Lagos oder Mexiko City sind auch umweltpolitisch außer Kontrolle geraten. In manchen Staaten gehen bis zu 50 Prozent der Landfläche der Verödung und Verwüstung entgegen. Es ist wahr, daß die Zerstörung der Tropenwälder fünf Jahre nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung fast ungebremst weitergeht.
Aber wahr ist auch - darauf hat der Kollege Lippold schon hingewiesen -, daß überhaupt ein Umdenken auf internationaler Ebene, daß überhaupt ein Einschnitt in diese Entwicklung und daß überhaupt Hoffnung auf eine gegenläufige Entwicklung dadurch eingetreten ist, daß die Bundesregierung, daß die Bundesrepublik, daß der Bundeskanzler und die Minister für Entwicklung und Umwelt vor der RioKonferenz auf den G-7-Gipfeln, auf der Rio-Konferenz und jetzt nach der Rio-Konferenz wie kein anderes Gremium, wie kein anderes Staatsoberhaupt,
wie keine anderen Minister in der Welt gegen die Zerstörung der Tropenwälder gekämpft haben.
Es ist unbestritten, daß diese Anstrengungen erhöht werden müssen. Unbestritten sind auch die katastrophalen Folgen, die die Zerstörung der Tropenwälder mit sich bringt. Übrigens werden nicht nur die Tropenwälder, sondern zunehmend auch die Wälder der Länder der nördlichen Hemisphäre zerstört zum Beispiel in Sibirien.
Wir haben dazu in unserer Fraktion eine Anhörung gestartet, der Ergebnisse in Form zweier Anträge von seiten der CDU/CSU und der F.D.P. als Vorlage für den Bundestag einfließen. Die wichtigsten Erkenntnisse und Forderungen daraus sind:
Erstens. Es gibt einen erdrückenden Zusammenhang zwischen Armut, Bevölkerungsexplosion und Umweltzerstörung gerade auch in Tropenwaldländern.
Herr Schubert, wenn Sie behaupten, daß wir in all diesen Bereichen keine glaubwürdige Entwicklungspolitik vollführten, so frage ich mich natürlich: Wo waren Sie in den letzten drei Jahren, seitdem Sie dem Bundestag angehören? Auch Sie müssen doch mitbekommen haben, daß gerade bei uns im entwicklungspolitischen Ausschuß die Querschnittsaufgaben gegenüber der Landwirtschaft und gegenüber der Wirtschaftspolitik sehr ernst genommen werden.
Es ist doch nicht so, daß nur wir da nur in unserer Partei Schwierigkeiten haben. Vielmehr gibt es die Schwierigkeiten durchgängig in allen Parteien. Es ist zum Beispiel auch ein legitimes Interesse, sich um die Zukunft von 4,7 Millionen Arbeitslosen Gedanken zu machen. Es ist eben sehr schwierig, diese Probleme miteinander in Einklang zu bringen und gemeinsam zu lösen.
Ein zweiter Punkt, der auf dem Hearing ganz deutlich zutage getreten ist: Gerade im Umweltbereich haben wir es mit sehr langfristig wirkenden Hilfen zu tun, zum Beispiel beim Aufbau von Administration und Gesetzgebung, im Technologietransfer, bei der Umsetzung einer umweltverträglichen Raumplanung und Landnutzung in den Tropen.
Drittens. Hilfe gegen Armut und Umweltzerstörung hat nur dann Sinn, wenn die Geberländer und -institutionen alle an einem Strang ziehen. Dies ist gegenwärtig absolut nicht der Fall. Wir brauchen deshalb mehr Abstimmung zum Beispiel mit unseren französischen Freunden.
Wir brauchen in diesem Bereich auch mehr Abstimmung mit der EU, und wir brauchen mehr Abstimmung mit den Institutionen der Vereinten Nationen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Letzter Satz: Umwelt- und Klimaschutz ist weltweit auch eine Frage des politischen Willens. Ein jeder von uns, mit oder ohne Regierungsamt, ist deshalb aufgerufen, auch bei seinen Reisen und Gesprächen mit Vertretern der dritten Welt die Wichtigkeit eines schonenderen Umgangs mit der Schöpfung und dem Klima und dem Wald zu verdeutlichen und klarzumachen, daß dies kein Ökoimperialismus ist, sondern die gemeinsame Verantwortung für die gemeinsame Welt und eine gemeinsame Zukunft.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ursula Burchardt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat festgestellt:
Menschliches Leben und Wirtschaften ist an einem Punkt angelangt, an dem es Gefahr läuft, sich seiner eigenen natürlichen Grundlagen zu berauben.
Die Grenzen der Natur müssen künftig allseits respektiert werden.
Nach etlichen Jahren warnender Hinweise aus der Wissenschaft hat diese Erkenntnis endlich Eingang in eine Kabinettsvorlage gefunden, nämlich in den Bericht „Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung in Deutschland" - den Bericht zur Rio-Folgekonferenz, der heute zur Debatte steht.
Man könnte Bezug nehmend auf den Wunsch von Frau Merkel, auch einmal gelobt zu werden - sie richtet diesen Wunsch an die Opposition, weil offenkundig nicht genügend Lob aus den eigenen Reihen
Ursula Burchardt
kommt -, das Ganze wohlwollend als Fortschritt bezeichnen. Doch das beste Wissen nützt nur, wenn es zur Anwendung gebracht wird. Wissen um Nachhaltigkeit würde einen grundlegenden Kurswechsel und eine strategische Neuorientierung der gesamten Politik erforderlich machen, und zwar nicht semantisch, sondern faktisch.
Die Agenda 21 als das Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert benennt die notwendigen Weichenstellungen, und zwar nicht nur die Richtung, sondern auch, was zu tun ist und wo anzusetzen ist: Die Ziele Umwelt und Entwicklung müßten integraler Bestandteil aller Planungs- und Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen sein. Sie sind zu verknüpfen mit den Zielen: Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Herstellung von sozialer Gerechtigkeit.
Nachhaltigkeit müßte als ressortübergreifende Aufgabe verstanden werden, die zugleich jede Fachpolitik fordert. Für die erfolgreiche Umsetzung der Agenda müßte, so Kapitel 1 der Agenda 21, die gesamte Bundesregierung die Verantwortung tragen. - Daß der Herr Bundeskanzler jetzt den Raum betreten hat, hat wohl weniger etwas mit der Nachhaltigkeitsdebatte zu tun als vielmehr mit der erforderlichen Mehrheit bei der anschließenden namentlichen Abstimmung zu einem anderen Thema.
Damit sind die Prüfkriterien für die Bilanz der Bundesregierung vorgegeben. Ich kann es mir nicht ersparen: Wer sich Ihre Bilanz ansieht, wird feststellen: Der Bericht der Bundesregierung fünf Jahre nach Rio ist ein Märchenbuch. Die Redner der Koalition liefern heute dazu die Hörspielversion.
Wer sich den Antrag der Koalitionsfraktionen ansieht, kann nur sagen: Das müßte wohl das Drehbuch für das Stück „Leben in den Potemkinschen Dörfern" sein.
Fünf Jahre nach Rio ist von einer konsequenten integrativen Nachhaltigkeitspolitik weit und breit nichts zu sehen, wenn man sich einen Blick auf die Ressorts gestattet.
Die Wirtschaftspolitik: Es gebe keinen systematischen Versuch des Bundesministeriums für Wirtschaft, die Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik nachhaltig umzuorientieren - so die Quintessenz einer Studie des Umweltbundesamtes.
Zur Umweltpolitik. Hier möchte ich nur einmal das Beispiel Bodenschutz anführen. Laut Bericht ist er eine „Querschnittsaufgabe aller umweltpolitischen Maßnahmen". Der Entwurf für das Bodenschutzgesetz allerdings schützt die Schadensverursacher und nicht den Boden als Ressource für kommende Generationen.
Zur Stadtentwicklung und dem Verkehr. Unsere Städte ersticken im Individualverkehr. Gibt es eine konzertierte Aktion der Minister Töpfer und Wissmann? - Fehlanzeige.
Das Tollste am Nachweis strategischer Umsetzung in den Fachressorts findet man bei der Forschungs- und Technologiepolitik. Die Bundesregierung verweist dort auf ein Umweltforschungsprogramm, das es überhaupt noch nicht gibt, sondern seit drei Jahren angekündigt ist. Das ist ein klassisches Eigentor.
Nachhaltige Entwicklung ist ohne die Kommunen undenkbar. Es ist ja schön, wenn Frau Merkel die hervorragenden Aktivitäten lobt. Immer mehr Kommunen arbeiten an einer lokalen Agenda 21. Doch die Städte und Gemeinden beklagen nicht nur die fehlende Unterstützung des Bundes bei dieser Aufgabe. Nein, ihre Entwicklungsmöglichkeiten werden durch die Folgen Ihrer verfehlten Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik stranguliert. Das ist das eigentliche Problem bei der Umsetzung der Agenda 21 auf kommunaler Ebene.
Zu der geforderten Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an der Aufstellung von Umweltzielen, Frau Merkel, kann man sagen: Nach der Studie von BUND und Misereor und Initiativen der EnqueteKommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" haben Sie diesen Dialog erst im Sommer 1996 aufgenommen. Doch bevor die ersten Ergebnisse auf dem Tisch liegen, haben Sie Ihren Kabinettsbericht vorgelegt. Unter Umweltverbänden, kommunalen Spitzenverbänden und Gewerkschaften besteht zu Recht die Sorge, daß diese Gruppen jeweils nur als Claqueure mißbraucht werden. Damit wird deutlich, wie man einen Dialog in die Sackgasse führen und wie man die notwendige und erforderliche Bereitschaft zu einem Konsens und des Aufeinanderzugehens verspielen kann.
Meine Damen und Herren, die Mängelliste ließe sich fast endlos fortsetzen. Ich stelle fest: Nicht überall, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auch Nachhaltigkeit drinnen. Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung in Deutschland macht die Bundesregierung planlos zwei Schritte vor und drei bis vier zurück. Es reicht doch nicht aus, in einem Antrag auf internationaler Ebene Nachhaltigkeit als Chefsache anzumahnen, während sie im eigenen Betrieb nur lästige Zusatzaufgabe der Abteilung Umwelt ist und von anderen weitgehend nicht zur Kenntnis genommen wird.
Mit den Rezepten und Methoden von gestern bekommt man die Probleme von heute - und schon gar nicht die von morgen - nicht in den Griff. Wir müssen aus den Routinen raus. Notwendig ist eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, deren Kern ein nationaler Umweltplan ist - im Kapitel 8 der Agenda 21 gefordert, vom Sachverständigenrat für Umweltfragen angemahnt. Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt", die in den nächsten Tagen ihren Zwischenbericht vorlegen wird, hat sich damit befaßt und festgestellt: Das ist das politische Planungs- und Entscheidungsinstrumentarium, das den Durchbruch zu entscheidenden Fortschritten tatsächlich bringen kann.
Ursula Burchardt
Ein Umweltplan wird im Dialog mit allen gesellschaftlichen Akteuren entwickelt, definiert konkrete und verbindliche Ziele zur Sicherung von Umweltqualität und zur Verringerung des Ressourcenverbrauchs. Es werden Verantwortlichkeiten benannt und zeitliche Schritte und Maßnahmen zur Umsetzung festgelegt. Klare Rahmensetzung gibt den Unternehmen die immer wieder eingeforderte Planungssicherheit, fördert Innovation und Investition. So kann man Arbeitsplätze sichern und schaffen sowie die Wettbewerbsfähigkeit fördern. Schließlich ist ein Umweltplan Politikinnovation. Er koordiniert die Planung der Ressorts, bedeutet Folgenabschätzung für Entscheidungen in Politik und Verwaltung und fördert mehr Demokratie.
Verehrter Herr Kollege Paziorek, Sie haben die Opposition vorhin aufgefordert, einzusehen, daß die fundamentalistische Ablehnung neuer Instrumente bei der Lösung der neuen Aufgaben und bei den Anforderungen, denen wir uns zu stellen haben, nicht weiterhelfe. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß der Deutsche Bundestag bereits am 17. Januar die Bundesregierung einstimmig zur Entwicklung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie aufgefordert und die Essentials benannt hat. Es liegt nun an Ihnen, meine Damen und Herren, diesen eindeutigen Beschluß umzusetzen. Nur so erreichen wir Fortschritte - nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch im Zusammenleben mit den Nachbarn in einer Welt.
Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Michael Meister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Burchardt, das war ziemlich viel Polemik, aber kaum Substanz. Ich denke, Sie sollten sich, wenn Sie Kritik üben, an der Sache orientieren und nicht nur mit Polemik argumentieren.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Sie haben den Bausektor angesprochen. Bei der Novelle des Baugesetzbuches kann die Koalition sehr deutlich darauf hinweisen, daß sie gerade im Bereich der Stadtplanung versucht, ökologische Aspekte einzubeziehen und insbesondere faktisch zu stärken. Ich darf Sie dazu einladen, sich auch in diesem Bereich inhaltlich entsprechend einzubringen.
Der Bausektor verursacht mit etwa 270 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr knapp ein Drittel aller CO2-Emissionen und hat deswegen ein ganz besonderes Potential, wenn wir über die Frage reden, wie wir CO2-Emissionen in Deutschland senken können. Etwa zwei Drittel unseres Wohnungsbestandes kommen für eine Sanierung in Frage. Das war für die Koalitionsfraktionen Anlaß, ein Aktionsprogramm vorzulegen, um das im Altbaubestand bestehende
Sparpotential für CO2 im Neubau zu mobilisieren. Dieses Aktionsprogramm versucht, das technisch Machbare mit dem ökonomisch Vertretbaren und ökologisch Sinnvollen zu vereinbaren. Ich glaube, daß dieser Dreiklang - Technologie, Ökonomie, Ökologie - wichtig ist, wenn wir die Bevölkerung für dieses Aktionsprogramm gewinnen und nicht nur einsame politische Entschlüsse fassen und Entscheidungen fällen wollen.
Von der Debatte des Deutschen Bundestages muß eindeutig ausgehen, daß energiesparendes Bauen auch wirtschaftlich sinnvoll sein kann. Wichtig sind gerade die betriebswirtschaftlichen Aspekte und die Tatsache, daß dies bei normalen Sanierungsmaßnahmen an Gebäuden geschieht und dabei wirtschaftlich effektiv und effizient erfolgen kann. Es darf nicht nur unter dem Stichwort Verteuerung des Bauwesens debattiert werden.
Wenn ich unseren Antrag, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem nun eingereichten Antrag zu dieser Thematik vergleiche, dann stelle ich viele Überschneidungen und Übereinstimmungen fest. Ich nehme an, Sie haben unseren Antrag als gute Vorlage verwendet, um Ihren Antrag zu formulieren. Um so verwunderlicher ist es, daß Sie unserem Antrag in den Ausschußberatungen nicht Ihre Zustimmung erteilen konnten. Ich hoffe, daß Sie sich zumindest heute dazu entschließen können.
Zu den zentralen und auch gemeinsam unterstützten Forderungen zählt etwa die Weiterentwicklung der Wärmeschutzverordnung, um den wärmetechnischen Standard im Neubau auf das Niveau des sogenannten Niedrigenergiehauses anzuheben. Gerade im Sinne des von mir angesprochenen Dreiklangs halten wir es für notwendig, daß das Verordnungsverfahren hierzu möglichst frühzeitig abgeschlossen wird, damit sich alle am Bau Beteiligten rechtzeitig auf die neuen Anforderungen einstellen können.
Meine Damen und Herren, Gemeinsamkeiten gibt es offenbar auch bei der Beurteilung, daß der bisherige Wärmebedarfsausweis weiterentwickelt werden muß. Wir sind uns einig, daß wir einen Energiepaß brauchen, der leicht erkennbar für alle Bürger darstellt, wie ein Haus wärmetechnisch einzuordnen ist.
Ich möchte ferner dafür plädieren, daß wir nicht nur einen Energiepaß schaffen, in dem die Anlage - -
Herr Kollege Dr. Meister, eine Sekunde, bitte! - Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Ganseforth?
Gerne, Herr Präsident.
Herr Kollege, Sie haben eben wichtige Maßnahmen im Bereich des Wärmeschutzes geschildert. Wie beurteilen Sie die Kürzung der Mittel für Energieberatung, die vom Wirtschaftsminister vorgenommen worden ist? Denn fachkundige Beratung ist in diesem Bereich ein wichtiger Punkt.
Frau Kollegin Ganseforth, wenn Sie unseren Antrag zu diesem Aktionsprogramm lesen, dann wird Ihnen auffallen, daß wir uns gerade im Bereich der Bildung nachhaltig dafür aussprechen, nicht eine staatliche Beratung durchzuführen. Vielmehr sollten wir diejenigen, die im Baubereich beteiligt sind - ich spreche hier von Architekten, Hochbauingenieuren und Planern, vom Handwerk und den bauausführenden Berufen -, qualifizieren, damit sie sich vor Ort einbringen, so daß man nicht zu irgendeiner Beratungsstelle hingehen muß, um sich zu informieren.
Die Beratung soll nach unserer Auffassung automatisch in den Bau- und Planungsprozeß integriert werden. Wir halten das für einen wesentlich besseren Ansatz, als für irgendeine Beratungsstelle Mittel bereitzustellen, bei der sich der Bauwillige informieren kann, bei der er Rat einholen kann. Ich finde, wir sollten viel früher ansetzen, um unserem gemeinsamen Anliegen nachzukommen.
Meine Damen und Herren, ich war gerade dabei, zu schildern, daß wir nicht nur dafür sind, daß sich aus dem Wärmebedarfsausweis der Energiepaß entwickelt, sondern daß wir ferner einen Gebäudepaß brauchen, der nicht nur Energie- und Heizanlagen, sondern auch die Frage des kostensparenden Bauens integriert. Denn wir müssen natürlich das Gesamtziel betrachten und dürfen über die Dinge nicht isoliert und sektoral diskutieren.
Des weiteren bin ich der Auffassung, daß wir gerade mit Energie-Contracting sehr viel weiter kommen können als mit herkömmlichen Methoden, wenn wir nämlich Fachunternehmen dafür gewinnen können, Beratung zu leisten, wie der Energieeinsatz im Betrieb fachkundig und effizient geleistet werden kann. Ich glaube, daß gerade hier für die öffentliche Hand Bedeutendes geleistet werden kann.
Meine Damen und Herren, gerade die Opposition möchte ich herzlich dazu einladen, nicht nur grundsätzliche Kritik zu üben, sondern ihre Position inhaltlich einzubringen und mit uns gemeinsam zu realisieren.
Wenn Sie von Bündnis 90/Die Grünen in Ihrem Antrag formulieren, daß wir uns durch eine viel zu starke Ordnungspolitik bei unseren Maßnahmen auszeichnen, dann möchte ich einmal darum bitten, daß Sie Ihre eigenen Debattenbeiträge in der heutigen Auseinandersetzung Revue passieren lassen. Sie waren es doch gerade, die heute wieder Ordnungspolitik gefordert und nicht die freiwilligen Leistungen, nicht die wirtschaftlichen Anreize und nicht die Fördermaßnahmen in den Vordergrund gestellt haben.
Meine Damen und Herren, während man in Ihren Anträgen die wirtschaftlichen Ansätze vergeblich sucht, haben wir seitens der Bundesregierung ein Zinsverbilligungsprogramm initiiert. Dieses Programm ist bereits in der Vergangenheit auf eine breite Resonanz gestoßen. Es wurden rund 2,5 Milliarden DM durch das Programm initiiert, die mittlerweile für klimarelevante Verbesserungen im Wohnungsbaubereich eingesetzt wurden. Über 100 000 Wohnungen konnten saniert werden - ein wesentlicher Beitrag zur CO2-Minderung.
An der Stelle möchte ich auch einmal auf die Kollegen aus den neuen Bundesländern eingehen. Wenn hier dargestellt wird, daß gerade in den neuen Bundesländern seit der Einheit wesentliche Einsparpotentiale realisiert worden sind, ist das doch ein Gewinn und ein Zeichen dafür, daß jetzt im gemeinsamen Deutschland auch in diesem Bereich die richtige Politik betrieben wird. Vor 1990 wurden offenbar die entscheidenden Fehler gemacht.
Ich glaube, es ist ein wesentlicher Gewinn der deutschen Einheit, daß wir im Bereich der Umweltpolitik, im Bereich der Sanierung von Plattenbauten deutlich vorankommen.
Meine Damen und Herren, wir haben das Sanierungsprogramm für die alten Bundesländer im KfW- Bereich um 2 Milliarden DM aufgestockt. Das ist nicht nur ein finanzielles Signal, sondern auch ein Signal dafür, daß wir im Bereich der CO2-Minderung kontinuierlich tätig sein wollen. Wir sind dafür, daß wir nicht nur isolierte Einzelmaßnahmen durchführen, sondern unser Programm kontinuierlich weiterführen.
Ich glaube, daß damit nicht nur im Bereich der Umweltpolitik, sondern auch im Bereich des Arbeitsmarktes Wesentliches verbessert werden kann. Dieses Programm wird dazu beitragen, daß etwa 150 000 Arbeitsplätze im Baubereich gesichert und weitere Arbeitsplätze geschaffen werden können. Ich halte dies für eine hervorragende Verbindung von Ökologie und der Lösung wirtschaftlicher Probleme, die wir an dieser Stelle haben.
Gestatten Sie mir abschließend noch einen Hinweis auf das Gutachten von RWI/Ifo. Gerade mit Blick auf den Bausektor kann man sagen, daß diesem Gutachten drei wesentliche Fehlannahmen zugrunde liegen. Zum einen ist bei dieser Analyse nicht berücksichtigt, daß wir die KfW-Programme haben und daß in diesen Programmen ein erhebliches Reduktionspotential für CO2 vorhanden ist. Zum zweiten wird der Zuwachs an CO2-Emissionen durch den Wohnungsneubau in dem Gutachten wesentlich überschätzt. Zum dritten haben wir auch eine Fehleinschätzung dessen, was die Wärmeschutzverordnung bereits für den Gebäudebestand leistet. Denn sie gilt natürlich auch dort, wo lediglich Sanierungsmaßnahmen oder Modernisierungsmaßnahmen am Gebäudebestand durchgeführt werden.
All diese Dinge sind bei der Begutachtung nicht berücksichtigt. Deshalb bin ich der Meinung, daß
Dr. Michael Meister
über dieses Gutachten noch einmal grundlegend fachlich diskutiert werden muß. Wir können es nicht einfach als Faktum zur Kenntnis nehmen und uns von dem Ziel der 25prozentigen Reduzierung verabschieden.
Ich möchte abschließend auch darauf hinweisen, daß wir hier im Bundestag nicht nur Gesetze machen, sondern daß diese Gesetze auch umgesetzt werden müssen. Für die Umsetzung der Gesetze sind die Bundesländer verantwortlich. Wir haben 13 Bundesländer in Deutschland, die sich bei der Wärmeschutzverordnung drücken und keinerlei Maßnahmen zur Umsetzung dieser Verordnung durchführen. 13 Bundesländer sollten endlich einmal darangehen, daß die Gesetze, die wir formulieren, auch zum Faktum werden und in Deutschland greifen. Dann hätten wir einen größeren Beitrag geleistet, als wenn wir hier noch fünf neue Gesetze schaffen.
Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich muß Sie nun alle um Aufmerksamkeit und einige Geduld bitten, weil wir eine ganze Reihe von Abstimmungen zu erledigen haben.
Wir kommen zunächst zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 13/4052.
Dazu liegt ein gemeinsamer Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 13/7263 *) vor. Mit dem Änderungsantrag soll die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 13/4052 um eine Entschließung ergänzt werden. Wer stimmt für den gemeinsamen Änderungsantrag auf Drucksache 13/ 7263? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit stelle ich fest, daß der Änderungsantrag einstimmig angenommen worden ist.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem Programm für Klimaschutz, Wirtschaftsmodernisierung und Arbeitsplätze in Deutschland, Drucksache 13/4052 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/187 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einem Investitionsprogramm für Arbeitsplätze durch Klimaschutzmaßnahmen, Drucksache 13/4052 Nr. 2, auf. Auch hier empfiehlt der Ausschuß, den Antrag
*) Vgl. Seite 14931 C auf Drucksache 13/739 abzulehnen. Wer für die Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Gruppe der PDS zu einem Verbot des Neuanschlusses von Stromheizungen, Drucksache 13/3357, auf. Auch hier empfiehlt der Ausschuß, den Antrag auf Drucksache 13/732 abzulehnen. Wer für die Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Gruppe der PDS zur Wärmenutzungsverordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, Drucksache 13/4411, auf. Auch hier empfiehlt der Ausschuß, den Antrag auf Drucksache 13/763 abzulehnen. Wer für die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7258 federführend an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zu einem Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich, Drucksache 13/7019, auf. Hier empfiehlt der Ausschuß, den Antrag auf Drucksache 13/5761 anzunehmen. Wer für die Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/7054, 13/7089, 13/7106 und 13/7241 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 13/ 7253 und 13/7256 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Bericht der Bundesregierung anläßlich der UN-Sondergeneralversammlung über Umwelt und Entwicklung 1997 in New York.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 13/7106 - das ist der Tagesordnungspunkt 5 h - soll zusätzlich an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 17a bis 17 f sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:
Beratungen ohne Aussprache
17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes
- Drucksache 13/6037 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung des Nachweises der Eigentümerstellung und der Kontrolle von Luftfahrtunternehmen für die Aufrechterhaltung der Luftverkehrsbetriebsgenehmigung und der Luftverkehrsrechte
- Drucksache 13/7246 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR über das Vermögen der DDR-Parteien
Christlich-Demokratische Union Deutschlands
Demokratische Bauernpartei Deutschlands Liberal-Demokratische Partei Deutschlands National-Demokratische Partei Deutschlands
und Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 13/5376 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Haushaltsausschuß
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR über das
Vermögen der Freien Deutschen Jugend und Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 13/5377 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Haushaltsausschuß
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 BVFG in den Jahren 1993 und 1994
- Drucksache 13/6796 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
f) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Die Option einer Flächenbahn in Deutschland erhalten
- Drucksache 13/7240 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick, Uwe-Jens Heuer und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Überleitung preisgebundenen Wohnraums im Beitrittsgebiet in das allgemeine Miethöherecht
- Drucksache 13/7251 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Rechtsausschuß
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick, Uwe-Jens Heuer und der Gruppe der PDS
Ausarbeitung eines Mietspiegelgesetzes sowie damit verbundener Änderungen des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe
- Drucksache 13/7245 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Rechtsausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller , Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Elefanten schützen und Verbot des Elfenbeinhandels aufrechterhalten
- Drucksache 13/7254 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 18a bis 18k sowie die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 18 a:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Mai 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Hongkong über den Fluglinienverkehr
- Drucksache 13/6918 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/7098 -
Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/7098, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen des gesamten Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
- Trotz allem wäre ich Ihnen für ein bißchen Aufmerksamkeit dankbar.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18b:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 28. April 1995 über den Beitritt der Republik Österreich zu dem am 19. Juni 1990 unterzeichneten Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985
- Drucksache 13/7012 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/7193 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietmar Schlee Günter Graf Amke Dietert-Scheuer
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 7193, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe!
- Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 18c:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsraum in den Ländern Berlin und Brandenburg
- Drucksache 13/206 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/4913 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Hans-Joachim Hacker
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 4913, den Gesetzentwurf abzulehnen. - Es ist zwar eine persönliche Erklärung angemeldet; sie kommt aber nur zum Zuge, wenn wir in dritter Lesung abstimmen. Wir sind jetzt in der zweiten Lesung.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich lasse also zunächst über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 13/206 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Will niemand dem Gesetzentwurf zustimmen?
- Wenn keine Ruhe eintritt, unterbreche ich die Sitzung.
Noch einmal: Es geht um den Tagesordnungspunkt 18c, also um die Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zum Schutz der Mieter von Geschäftsraum in den Ländern Berlin und Brandenburg. Das ist die Drucksache 13/206. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/4913, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrates, also nicht über die Empfehlung des Rechtsausschusses, auf Drucksache 13/206 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß dieser Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.
Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die weitere Beratung.
Dann komme ich zu Tagesordnungspunkt 18d:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen
- Drucksachen 13/4514 Nr. 2.7, 13/7123 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz Peter Basten Dr. Eckhart Pick
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18 e:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen - Vorbereitung der assoziierten mitteleuropäischen Länder auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union: Justiz und Inneres - Langdon-Bericht
- Drucksachen 13/4514 Nr. 2.2, 13/7129 - Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Dr. Jürgen Meyer
Christian Sterzing
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wer für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Dann kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 18f und g:
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der Waldmann-Kaserne in München
- Drucksachen 13/6832, 13/7214 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke
Oswald Metzger
Dr. Wolfgang Weng
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Sonnenbergsiedlung, Ludwigsburg, an den Zweckverband Pattonville/Sonnenbergsiedlung und die Wohnungsbau Ludwigsburg GmbH
- Drucksachen 13/6875, 13/7213 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke
Oswald Metzger
Dr. Wolfgang Weng
Wer für diese Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen worden sind.
Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 18h:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 187 zu Petitionen
- Drucksache 13/7079 -
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer für den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7257 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.
Nun stimmen wir über die Sammelübersicht 187 in der Ausschußfassung ab. Wer für diese Sammelübersicht stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 18i auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 188 zu Petitionen - Drucksache 13/7190 -
Wer für diese Sammelübersicht stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen! - Dann stelle ich fest, daß diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltungen im übrigen angenommen worden ist.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 18j auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 189 zu Petitionen - Drucksache 13/7191 -
Wer für diese Sammelübersicht stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch diese Sammelübersicht mit demselben Stimmenverhältnis angenommen worden ist.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 18k auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 190 zu Petitionen
- Drucksache 13/7192 -
Wer für diese Sammelübersicht stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Sammelübersicht einmütig angenommen worden ist.
Dann rufe ich den Zusatzpunkt 5 a auf:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
- Drucksache 13/7269 -
Wer für diese Sammelübersicht stimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Dann rufe ich den Zusatzpunkt 5 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Verbesserung des Wahlrechts für die Sozialversicherungswahlen und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 13/7144 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/7270 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Helmut Heiderich
Ich bitte - zunächst in der zweiten Lesung - diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalition und den Stimmen der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen worden ist.
Zur dritten Beratung und Schlußabstimmung erteile ich dem Abgeordneten Zwerenz das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine persönliche Erklärung: Ich kann der im Schnellverfahren zwischen der ersten und der zweiten Beratung eingefügten Regelung, wonach ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur, wie bisher geregelt, künftig keine Rente wegen ihrer Verfolgung während der Nazi-Zeit zusteht, sondern diese auch rückwirkend aberkannt wird, nicht zustimmen.
Es ist zweifellos zutreffend, daß Kurt Hager und andere führende DDR-Vertreter ein hohes Maß an Verantwortung für Unrecht und Menschenrechtsverletzungen in der DDR tragen. Es ist aber ebenso zutreffend, daß Kurt Hager und andere aktiv gegen das Naziregime gekämpft haben. Diese beiden unterschiedlichen historischen Phasen kann man im Rentenrecht nicht gegeneinander aufrechnen.
Ich kann der gesetzlichen Änderung auch deshalb nicht zustimmen, weil nicht einmal eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung Voraussetzung für die Aberkennung ist.
Gerhard Zwerenz
Ich finde es ebenfalls befremdlich, daß zur Außerkraftsetzung eines Urteils des Bundessozialgerichts innerhalb weniger Tage ein Gesetz geändert werden soll.
Mein letzter Punkt. Ich finde diese Regelung auch heuchlerisch, da sie durch ein Parlament erfolgt, das in seiner Mehrheit bis heute keinen Weg gefunden hat oder finden wollte, den Nazi- und Kriegsverbrechern ihre Beamten- bzw. Kriegsopferrenten abzuerkennen, obwohl dazu ein halbes Jahrhundert Zeit gewesen wäre.
Danke.
Wir kommen damit zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung
- Drucksache 13/7244 -
Es wird das Wort zu Erklärungen gewünscht. Ich erteile dem Abgeordneten Karl-Josef Laumann, CDU/CSU, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird endlich gut.
So kann man heute sagen, wenn man an die langen Diskussionen im Vorfeld und an die Blockade der SPD im Bundesrat zum Arbeitsförderungs-Reformgesetz denkt.
Aber einen Trost gibt es: Jetzt wird alles überwunden, da die Koalition mit der Kanzlermehrheit dafür sorgen wird, daß dieses Gesetz endlich in Kraft tritt.
Das ist gut so; denn das Gesetz dient den Interessen der Menschen in unserem Land.
Das bisherige AFG wird durch dieses Gesetz weiterentwickelt und den Veränderungen des Arbeitsmarktes angepaßt. Mit dem AFRG wird es in Deutschland weiterhin Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau geben.
Allen Unkenrufen zum Trotz und gegen alle Polemik: Das AFRG übt Solidarität mit den Arbeitslosen; denn es dient ihren Interessen, wieder Arbeit zu finden.
Die Instrumente dazu werden geschaffen und zielgenauer eingesetzt.
Die wichtigsten Punkte sind:
Erstens. Die Vermittlung von Arbeitsplätzen muß Vorrang vor Leistungsbezug haben. Leistungen zur Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt haben Vorrang vor passiven Leistungen.
Zweitens. Die bisher geltenden Lohnkostenzuschüsse werden zusammengefaßt, um die Anwendbarkeit zu verbessern.
Drittens. Frauen werden, gemessen an ihrem Anteil an den Arbeitslosen, mit allen Möglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik gefördert.
Viertens. Menschen, die nach der Erziehungsphase wieder ins Erwerbsleben einsteigen wollen, haben jetzt klare Ansprüche auf Eingliederungshilfen.
Fünftens. Der neu geschaffene Eingliederungsvertrag bietet neue Chancen. Spätestens nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit sollen Arbeitsloser und Arbeitsamt gemeinsam feststellen, durch welche Maßnahmen und Aktivitäten eine drohende Langzeitarbeitslosigkeit verhindert werden kann.
Das heißt, das Arbeitsamt muß sich zusammen mit den Arbeitslosen überlegen, was zu tun ist. Sicherlich ist das Arbeitsamt in der Pflicht. Dadurch wird die Position des Arbeitslosen gegenüber dem Arbeitsamt gestärkt - aber auch seine Eigenverantwortung. Das ist nicht mehr als recht und billig.
Sechstens. Einfache und klare Kriterien im Gesetz regeln die Zumutbarkeit einer Beschäftigung. Dabei erweitert sich der Grad der Zumutbarkeit mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit. Auch das ist in Ordnung.
Karl-Josef Laumann
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dies alles wollte die SPD verhindern.
Leider konnten wir wegen der Zustimmungspflichtigkeit die längst überfällige Organisationsreform innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit nicht durchführen. Wir hätten sonst die Möglichkeit gehabt, die Bundesanstalt noch stärker als bisher als Dienstleister weiterzuentwickeln sowie alte zentralistische, zum Teil hierarchische Strukturen zu verändern.
Wir müssen die Bundesanstalt fit machen für veränderte Rahmenbedingungen.
Wir brauchen vor allen Dingen dringend eine Reform der Landesarbeitsämter. Ich sage es noch einmal sehr deutlich: Daß alte, überkommene Strukturen in der Bundesanstalt bleiben, liegt ab heute allein in Ihrer Verantwortung.
Meine Damen und Herren, durch dieses Gesetz wird der Rechtsanspruch auf berufliche Rehabilitation wieder eingeführt. Ich gehe davon aus, daß uns das sehr hilft, in dieser Frage, bei der wir sensibel sein sollten, wieder Ruhe einkehren zu lassen.
Die Maßnahmen „Arbeiten und Lernen", die ich für sehr gut halte, können für Jugendliche jetzt wieder durchgeführt werden. Auch das haben wir klargestellt.
Weil das Gesetz in Ordnung ist, ist das Verfahren des Vermittlungsausschusses nicht akzeptabel. Wir weisen den Einspruch zurück.
Das Wort zu einer Erklärung hat jetzt der Abgeordnete Adolf Ostertag, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch durch die wiederholte Vorlage in Bundestag und Bundesrat ist das „Arbeitsförderungs-Rückschrittsgesetz" nicht besser geworden.
Um es deutlich zu sagen: Es ist ein schlimmes Machwerk. Es straft die Millionen Arbeitslosen in diesem Land mit Leistungskürzungen; es verschlechtert die Chancen Hunderttausender Menschen, die sich weiterqualifizieren möchten; es verängstigt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil ihre Arbeitslosenversicherung immer weniger Schutz bietet.
Der Bundesrat hat das AFRG zweimal mit guten Gründen zurückgewiesen. Dieses Gesetz wird nicht dadurch besser, daß die Bundesregierung die zustimmungspflichtigen Passagen entfernt, die inhaltlichen Rückschritte im Bereich der Arbeitsförderung aber beibehalten werden.
Gegen dieses Gesetz haben auch die Träger arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, die Kommunen und viele Verbände massiv protestiert. Es sollte der Bundesregierung zu denken geben, wenn selbst die Arbeitgeberverbände die geplante Anrechnung von Entlassungsentschädigungen auf das Arbeitslosengeld kritisieren. Ich denke auch an die berechtigten Proteste von besonders betroffenen Personenkreisen wie Lernbehinderten und sozial Benachteiligten.
Herr Laumann, was Sie hier sagen, ist einfach falsch. Diese Maßnahmen können zwar wieder im Gesetz enthalten sein; aber wenn man kein Geld hat, kann man sie nicht finanzieren.
Selbst der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat davor gewarnt, die aktive Arbeitsmarktpolitik gerade zum jetzigen Zeitpunkt zurückzufahren. Was haben Sie gemacht? In den letzten vier Jahren sind die Ausgaben der Bundesanstalt für aktive Maßnahmen von 40 Prozent auf 29 Prozent zurückgefahren worden.
Was die Koalitionsfraktionen heute durchsetzen wollen, ist auch die formelle Verabschiedung vom Vollbeschäftigungsziel. Das Wort Vollbeschäftigung gibt es in diesem Gesetz nicht mehr. Das vollmundige Versprechen von der Halbierung der Arbeitslosigkeit wird damit endgültig zur Farce erklärt.
Das AFRG kürzt den öffentlich geförderten Arbeitsmarkt massiv. Leistungen der aktiven Arbeitsförderung werden nur noch als Ermessensleistungen gewährt. Angesichts der Haushaltsauflagen für die Bundesanstalt reduziert sich das Ermessen in vielen Fällen auf Null und entspricht dann den gewährten Leistungen.
Heute kann man in den Zeitungen lesen - Herr Laumann, hören Sie gut zu -: Der Vorstand der Bundesanstalt bewilligte gestern für das zweite Quartal 1997 gerade einmal 47 Millionen DM für die weiteren ABM-Zusagen im Osten;
im ersten Quartal waren es 5,5 Milliarden DM. Das sind die Unterschiede.
Auch bei Fortbildung und Umschulung rechnet die Selbstverwaltung damit, daß im laufenden Jahr rund 200 000 Personen weniger einen Kurs beginnen können als 1996.
Adolf Ostertag
Im Osten sank das Volumen der zugesagten Weiterbildungsmaßnahmen seit Jahresbeginn um 37 Prozent. - Das ist Ihre Politik.
Weiter: Das AFRG streicht Lohnersatzleistungen zusammen und verschärft die Zumutbarkeitsregelungen. Die abgesenkten ABM-Entgelte, insbesondere im Osten, führen zu einem Niedriglohnsektor. Ob die gekürzten ABM-Entgelte oder das Arbeitslosengeld noch existenzsichernd sind, interessiert Sie überhaupt nicht. Um so mehr Kosten für die Sozialhilfe fallen ja bei den Kommunen an. Sie, die jetzt schon ziemlich gebeutelt sind, müssen jährlich zusätzlich 2 Milliarden DM für die Sozialhilfe aufbringen.
Dieses Gesetz fördert nicht Arbeit, sondern Arbeitslosigkeit. Es fördert nicht Weiterbildung oder Umschulung, sondern die Dequalifizierung unserer gut geschulten Arbeitnehmerschaft. Es fördert nicht die Integration von sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen, und es fördert nicht den Abbau der Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt.
Die Bundesregierung will das AFRG als weiteres Puzzlestück ihrer sogenannten Spar- und Konsolidierungspolitik durchpauken. Der Bundeshaushalt soll entlastet werden, koste es gesamtwirtschaftlich und menschlich, was es wolle. Ob dabei Menschen, Arbeitsplätze und die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben, ist nachrangig. Deshalb ist und bleibt dieses AFRG wirklich ein schlimmes, ein übles Machwerk.
Aber es paßt nahtlos ins Konzept der Regierung Kohl:
vom Umbau des Sozialstaats reden, den Abbau knallhart durchziehen.
Diese Politik gegen die große Mehrheit in diesem Land ist mit der SPD nicht zu machen. Deswegen können wir hier auf keinen Fall zustimmen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marieluise Beck, Bündnis 90/ Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute werden Sie mit der Kanzlermehrheit ein Gesetz durchdrücken, das auf vehementen gesellschaftlichen Widerstand gestoßen ist, und zwar bei den Menschen, die in unserer Gesellschaft am stärksten von Ausgrenzung bedroht sind und die nicht die
Chance haben, in der oberen Spielklasse mitzuspielen.
Dieser Gesetzentwurf liegt dem Haus in integrierter Form nicht einmal vor. Ich bitte das Parlament, auch das einmal zur Kenntnis zu nehmen: Wir haben bisher keinen vollständigen Gesetzestext vorliegen. Dieses Gesetz liegt auch den Arbeitsämtern nicht vor, die aber in zehn Tagen anfangen sollen, mit diesem Gesetz zu arbeiten.
Haben Sie, meine Damen und Herren, sich einmal die Mühe gemacht, in Ihre Arbeitsämter vor Ort zu gehen
und sich dort zu erkundigen, auf was für Umsetzungsschwierigkeiten man durch diese Situation stößt?
Es treffen zwei Umstände zusammen: Erstens. Es wird die Umsetzung dieses neuen Gesetzes erwartet, obwohl es in der Gesamtheit noch nicht vorliegt, obwohl es keine Schulung von Mitarbeitern gibt und vor den Türen die Antragsteller, die Betroffenen stehen. Diese werden mit oft sehr unsicheren Rechtsauskünften wieder von dannen geschickt und müssen hinterher feststellen, daß sie fehlerhafte Auskünfte bekommen haben. In diesem sensiblen Bereich ist das wirklich ein ziemlicher Skandal!
Zweitens: Parallel dazu haben die Arbeitsämter im Augenblick Haushaltsvorgaben abzuwickeln, die mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Es werden jetzt nämlich von oben nach unten Tranchen zugeteilt - also von der Bundesanstalt für Arbeit vierteljährliche Mittelzuweisungen vorgenommen -, bei deren Berechnung man noch von den alten Arbeitslosenzahlen, die Sie in Ihrem grenzenlosen Optimismus erwartet hatten, ausging, nämlich 3,9 Millionen im Jahresmittel. Es gibt aber 4,7 Millionen Menschen, die Arbeit haben möchten. Deshalb müssen die Arbeitsämter im Augenblick versuchen, diese beiden nicht zusammenpassenden Faktoren zusammenzubringen, was zu einem absoluten Chaos und dazu führt, daß bereits jetzt die Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik massiv in den Arbeitsämtern zusammengestrichen werden müssen. Es führt auch dazu, daß die Trägerstrukturen zusammenbrechen, die Sie anscheinend gar nicht erhalten wissen wollen, weil das Gesetz, das Sie vorlegen, weitestgehend auf solche Trägerstrukturen verzichten möchte.
Vielleicht, meine Damen und Herren von der Koalition, haben Sie mit dieser dramatischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich nicht gerechnet.
Marieluise Beck
Das halte ich durchaus für möglich. Nur: Wenn Sie sich geirrt haben, ist das nicht das Drama, sondern das Drama entsteht dann, wenn aus diesem Irrtum keine Konsequenzen gezogen werden.
Die Arbeitslosenzahlen entwickeln sich immer dramatischer, und Sie haben nicht die politische Kraft umzuschwenken und zu sagen: Wir nehmen die soziale Aufgabe an, damit Beschäftigungssicherung nicht nur auf dem Markt passiert, weil die Ökonomie offensichtlich nicht allein die Kraft hat, die Menschen in Beschäftigung zu bringen. Sie müssen klar bekennen, daß das eine politische Aufgabe ist, die auch aus diesem Raum heraus gestaltet werden müßte.
Das würde allerdings bedeuten, daß Sie dieses Gesetz in der alten Form so nicht durchdrücken dürften. Es gibt den versprochenen Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt bisher nicht. Die Beschäftigtenzahlen gehen überall zurück: auf dem Bau, im verarbeitenden Gewerbe, ja sogar auf dem Dienstleistungssektor. Das können Sie sehen. Der Aufbau Ost ist faktisch zum Stillstand gekommen.
Die Wut und Depression bei den Menschen, die Arbeit suchen und denen der Markt keine Chancen bietet, werden immer größer, und die Stimmung wird immer explosiver. Das können wir im Augenblick im Ruhrgebiet sehen. Wir können doch nicht sehenden Auges in einer solchen politischen Situation die aktive Beschäftigungspolitik zurückschneiden. Es ist politisch schlichtweg unverantwortlich, was Sie betreiben.
Sie transportieren mit dem Gesetz die Idee „Wer Arbeit will, der findet auch welche". Das ist die eigentliche Idee, die diesem Gesetzeswerk zugrunde liegt. Sie ziehen sich von der dringenden gesellschaftlichen Aufgabe, der Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, indem Sie aktive Arbeitsmarktpolitik gestalten, zurück.
Wir wissen, daß es mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik nur um ein Abmildern geht. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wird nicht 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze schaffen. Das kann sie nicht. Trotzdem: Die Mittel und Instrumente, die wir zum Abmildern haben, in dieser brisanten und zugespitzten Situation wegzuschneiden ist politisch verantwortungslos. Ich hoffe, daß Sie dafür bei den Wahlen wirklich die Quittung bekommen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Dr. Gisela Babel, F.D.P.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Reform der Arbeitslosenversicherung wird heute endgültig beschlossen. Damit finden lange Debatten zur Arbeitsmarktpolitik im allgemeinen und zum Arbeitsförderungsgesetz im besonderen endlich ihren Abschluß.
Diese Debatten sind nach genau diesem Strickmuster wie heute hier im Hause vollzogen worden.
Bei der Frage, ob das Arbeitslosenversicherungsrecht, so wie es heute vorliegt, reformbedürftig ist oder nicht, wurde immer eine große Debatte, wie Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, entfacht. Niemals hat die Opposition in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben, daß sie glaubt, durch eine verstärkte finanzielle Förderung der Arbeitsmarktpolitik könne das Problem gelöst werden.
Frau Beck, Sie haben die gleiche Rede in derselben Tonart immer wieder gehalten. Sie haben gesagt: Bei der großen Arbeitslosigkeit können wir eine solche Reform nicht machen.
Es ist genau umgekehrt: Gerade weil die Probleme drückend sind, gerade weil wir heute versuchen müssen, Lohnnebenkosten zu senken, ist es unsere Aufgabe, daß wir in einer Reform solche Bestimmungen verankern, die wirklich helfen. Schauen Sie sich das Gesetz doch an!
Erster Punkt. Es ist heute selbst in seiner schmaleren Version ein effektiveres Gesetz, als es dies vorher war.
Es gibt den Arbeitsämtern mehr Verantwortung und mehr Freiheit. Sie können wirksamer handeln. Das müssen Sie anerkennen. Die Arbeitsämter vor Ort erkennen das an. Die Arbeitsämter müssen nicht mehr mit Töpfen für AB-Maßnahmen und Umschulungen arbeiten. Sie können jetzt vielmehr frei wirtschaften und die Mittel so einsetzen, wie es am wirkungsvollsten ist.
Zweiter Punkt. Sie können in einer anderen und gezielteren Weise den Arbeitslosen helfen. Sie haben einen ganz anderen Zugang zu der Beratung. Sie können den Arbeitslosen mit Eingliederungshilfen, mit Zuschüssen für neue Verträge auch im Rahmen bestehender betrieblicher Arbeitsplätze mehr Unterstützung zukommen lassen. Sie können das nicht wegwischen: Diese Reform ist richtig und ist notwendig. Ich bin froh, daß wir sie hier endlich zu einem Schluß bringen.
Dr. Gisela Babel
Meine Damen und Herren, in einem Punkt hat die SPD ihre Blockade leider effektiv und wirkungsvoll durchsetzen können, nämlich in dem Teil, in dem es darum ging, den Arbeitsämtern eine moderne Verwaltungsstruktur zu geben.
Das ist schon ein eigenartiges Signal, wenn man sieht, daß die Vorstellungen hinsichtlich der Landesarbeitsämter, die nach meinem Verständnis eigentlich alle abgeschafft werden könnten, weil wir sie nicht brauchen - es genügen ganz kleine Koordinierungsstellen; mehr braucht man da nicht -,
auf das ablehnende Votum von 16 Ländern stoßen. 16 Länder sind dagegen, daß wir hier eine schlanke Verwaltung verwirklichen.
Da Sie immer so tun, als wären Sie für Abbau von Bürokratie: Hier haben Sie das Gegenteil bewiesen, meine Damen und Herren.
Es ist sehr viel härter und auch sozial schwieriger, den Unterhalt von Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfeempfängern zu begrenzen. Aber es ist in unserer Bundesrepublik Deutschland politisch geradezu unmöglich, gegen den Widerstand der Länderkartelle Bürokratie abzubauen. Ich sage Ihnen: Das kann ein Mißstand sein, von dem wir hier noch öfters reden sollten.
Insgesamt haben wir das Arbeitslosenversicherungsrecht modernisiert. Wir haben mit diesem Gesetz und mit dem Geld, das zur Verfügung steht - es ist nach wie vor viel Geld -, die Möglichkeiten dafür geschaffen, daß Arbeitslosen mehr geholfen wird und daß die Arbeitsämter besser dastehen. Ich finde, Sie bauen hier eine wirklich schräge Polemik auf, wenn Sie sagen, das Ganze habe mit dem großen Thema der Arbeitslosennot nichts zu tun. Ich glaube, daß Sie es sich hier zu einfach machen. Wir weisen den Einspruch des Bundesrates zurück.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Petra Bläss, PDS.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Laumann, manche Lebensweisheiten gehen nach hinten los. Wenn Sie hier voller Hohn davon sprechen, daß die Vermittlung in Arbeitsplätze Vorrang vor dem Leistungsbezug haben solle, dann sage ich Ihnen: Angesichts der Finanzlage der Bundesanstalt für Arbeit ist schon jetzt absehbar, daß die Masse der Gelder für Pflichtleistungen zu Lasten aktiver Arbeitsmarktpolitik draufgehen wird.
Frau Kollegin Babel, die Flexibilität, die die Arbeitsämter bekommen und die wir durchaus begrüßen, nützt nichts, wenn die Mittel fehlen. Deshalb ist es unverschämt, zu sagen, daß die Arbeitsämter jetzt besser dastehen.
Herr Kollege Laumann, wenn Sie davon sprechen, daß die Arbeitslosen jetzt eine höhere Eigenverantwortung haben, dann wundere ich mich schon über Ihre Interpretation, wenn 6 000 Stellen in den Arbeitsämtern gestrichen werden.
Die Opposition hat diese Debatte beantragt, weil ein Gesetz wie das AFRG nicht sang- und klanglos durch die Abstimmungsmaschinerie geschleust werden darf. Vor dem Hintergrund von 4,7 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen - die Tendenz ist steigend; ich verweise nur auf die Pulverfässer Kohle, Bau und Stahl - soll nun endgültig ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik festgeschrieben werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU und der F.D.P., rasante Mittelkürzungen alleine im F-und-U-Bereich von 2,2 Milliarden DM, bei ABM von 1 Milliarde DM und bei der beruflichen Rehabilitation von 500 Millionen DM sowie verschlechterte Zugangsbedingungen unter der Überschrift „Für die aktive Arbeitsmarktpolitik stehen die Signale auf Grün" - so der Titel eines von CDU-Abgeordneten in den Wahlkreisen verbreiteten Infomaterials - zu verkaufen ist eine verantwortungslose Augenwischerei, ja Zynismus pur.
Den angesichts Ihrer Blockadehaltung erfolglosen Versuch der SPD, über den Bundesrat diesen zu Recht als Arbeitsförderungs-Rückschrittsgesetz bezeichneten Paragraphendschungel zu stoppen, um das Schlimmste zu verhindern, jetzt so umzuinterpretieren, als seien nicht Sie von der Regierungskoalition für das gegenwärtig herrschende Chaos in den Arbeitsämtern verantwortlich, ist ein starkes Stück. Ich frage mich, wie Sie in Ihren Wahlkreisen die zum 1. April in Kraft tretenden Neuregelungen verteidigen wollen. Den wütenden Frauen am Merseburger Frauenpolitischen Runden Tisch jedenfalls konnte der Kollege Schwalbe nur entgegnen: „Auch ich würde gerne mit anderen Optionen hierherkommen. "
Angesichts einer offiziellen Arbeitslosenquote von zum Beispiel 22,7 Prozent in Sachsen-Anhalt und weiteren bevorstehenden Entlassungen auf die Kürzung von Leistungen zu setzen, sprich: Verkürzung der Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für Ältere oder Anrechnung der Abfindung auf das Arbeitslosengeld, und eine weitere Entwertung der Qualifikation und damit eine noch stärkere Diskriminierung des zweiten Arbeitsmarktes in Kauf zu nehmen ist der falsche, weil unsoziale Weg. Es werden einmal mehr Frauen sein, die von Ihrer Rotstiftpolitik ganz besonders betroffen sein werden. Mit welchem Stolz haben Sie immer von dem hohen Frauenanteil in den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gespro-
Petra Bläss
chen! Aber genau mit diesem Gesetz hauen Sie diesem Rettungsanker jetzt die Beine weg. Ob durch die verschärfte Zumutbarkeitsregelung, die Heraufsetzung der Pendelzeiten oder die Mittel- und Leistungskürzungen - die mittelbare und unmittelbare Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben wird trotz der hehren gleichstellungspolitischen Zielsetzung dieses Gesetzes festgeschrieben.
Meine Damen und Herren, Sie alle sind in Ihren Wahlkreisen in den letzten Wochen immer wieder mit den Konsequenzen der Streichung von Mitteln für die Ausbildung lernbehinderter Jugendlicher konfrontiert worden. Ich gebe meinem Kollegen Adi Ostertag recht: Es ist eben nicht so, daß die Probleme aus dem Weg geräumt sind. Angesichts immer knapper werdender Ausbildungsstellen hat diese Gruppe auf dem regulären Arbeitsmarkt überhaupt keine Chance. Zum Jahresbeginn erging die Aufforderung an die Träger, die Mittel um 5 Prozent zu kürzen. Allein für den Internationalen Bund für Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit bedeutet das bundesweit einen Verlust von 27 000 Plätzen. Das heißt, diese jungen Menschen werden im September auf der Straße stehen, und qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern muß gekündigt werden. In den neuen Bundesländern wurde in den vergangenen Jahren ein Netz von solchen Ausbildungsstätten mühsam aufgebaut. Dies wird jetzt zerstört. Das, was Sie hier betreiben, ist unverantwortlich.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wenn Sie Ihre Absichtserklärungen, die Arbeitslosigkeit abzubauen, wirklich ernst nehmen, dann ist es höchste Zeit für einen Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik; denn es ist längst fünf nach zwölf. Ziehen Sie deshalb als ersten Schritt Ihr AFRG heute zurück, und treten Sie endlich in den überfälligen gesamtgesellschaftlichen Dialog über einen wirksamen Abbau von Arbeitslosigkeit ein! Es liegen Alternativen auf dem Tisch. Ich erinnere an Vorschläge der Gewerkschaften zum Abbau von Überstunden oder die Verkürzung der Wochen- und Jahresarbeitszeit.
Wir kommen
jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Arbeitsförderungs-Reformgesetz. Es ist namentliche Abstimmung verlangt.
Nach Art. 77 Abs. 4 des Grundgesetzes ist für die Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich. Das sind mindestens 337 Stimmen.
Sie benötigen außer Ihrer Stimmkarte auch Ihren hellgrünen Stimmausweis. Diesen können Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Schließfach entnehmen. Bitte achten Sie darauf, daß Stimmkarte und Stimmausweis Ihren Namen tragen. Bevor Sie
Ihre Stimmkarte in die Urne werfen, übergeben Sie bitte den Stimmausweis einem der Schriftführer an der Urne. Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten, daß Stimmkarten nur von Kolleginnen und Kollegen in die Urnen geworfen werden dürfen, die vorher ihren Stimmausweis abgegeben haben.
Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Dies ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*)
Wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
Einsatz deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher Staatsbürger und unter konsularischer Obhut befindlicher Staatsangehöriger anderer Nationen aus Albanien
- Drucksachen 13/7233, 13/7265 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Lamers Karsten D. Voigt Gerd Poppe
Ulrich Irmer
Andrea Gysi
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr hat am vergangenen Freitag mit sechs Hubschraubern 116 Menschen aus dem Chaos in Albanien ausgeflogen und in Sicherheit gebracht. Die Sicherheitslage hatte sich am Tage vorher dramatisch und gefährlich zugespitzt. Wir mußten evakuieren. Es gab keine andere Möglichkeit. Es war ein gefährlicher Einsatz unter schwierigsten Bedingungen. Unsere Soldaten haben ihn auf Grund ihrer hervorragenden Ausbildung mit Mut und Besonnenheit gemeistert. Wir danken ihnen sehr herzlich dafür und sind stolz auf sie.
*) Seite 14971 B
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
21 deutsche Landsleute und 95 Angehörige von 23 anderen Nationen konnten mit ausgeflogen und in Sicherheit gebracht werden. In der Vergangenheit haben Partner und Freunde uns oft geholfen, zum Beispiel bei der Rettung der Mitarbeiter der Deutschen Welle durch belgische Fallschirmjäger in Ruanda 1994. Diesmal konnten wir unseren Partnern und Freunden helfen. Das Dankesecho ist überwältigend. Das möchte ich dem Deutschen Bundestag sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben alle noch im Ohr, wie unsere Soldaten mit „Mörder, Mörder" -Rufen beschimpft worden sind. Ich glaube, daß die Bundeswehr in Tirana die richtige Antwort gegeben hat. Sie hat sich nämlich als Retter erwiesen.
Bei aller Freude über das Gelingen muß ich aber sagen: Wir hatten Glück. Das muß nicht immer so sein. Um so wichtiger ist es, daß wir geschlossen hinter der Bundeswehr stehen, gerade auch hier im Deutschen Bundestag.
Ich möchte gern auch unseren Botschaftsangehörigen in Tirana danken, die dazu beigetragen haben, daß diese Mission möglich wurde. Zehn Angehörige der Botschaft halten noch in Tirana aus. Dafür möchte ich ihnen besonderen Dank aussprechen.
Der Einsatz der Bundeswehr war zwingend notwendig, weil keine andere Evakuierungsmöglichkeit bestand. Er war verfassungsrechtlich und völkerrechtlich abgesichert. Die Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestages, die Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses und die Obleute waren vorab unterrichtet und haben dem Einsatz zugestimmt. Die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendige Einschaltung des Deutschen Bundestages war nur so möglich. Die Entscheidung selber haben Bundeskanzler Kohl, der Kollege Rühe und ich nach sorgfältiger Vorbereitung letzten Freitag getroffen. Das Kabinett hat den Einsatz nachträglich gebilligt, ebenso gestern der Verteidigungs-, der Auswärtige und der Rechtsausschuß. Ich gehe davon aus, daß heute auch das Plenum des Deutschen Bundestages abschließend zustimmen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in Albanien bleibt sehr kritisch. Wir haben beim Treffen der EU-Außenminister in Apeldoorn am vergangenen Wochenende entschieden, keine militärische Eingreiftruppe zu schicken.
Ich glaube, daß dies richtig war. Albanien ist nicht Bosnien. In Albanien herrscht nicht Bürgerkrieg, sondern Anarchie und Chaos. Fast jeder Albaner hat sich inzwischen bewaffnet. Es muß die Fragestellung erlaubt sein: Was sollen fremde Truppen in solch einer Lage ausrichten? Welchen Auftrag sollten Soldaten erhalten? Wir haben vielmehr zivile und militärische Beraterteams mit - falls erforderlich - einer Schutzkomponente angeboten. Eine EU/OSZE-Delegation war bzw. ist zum Teil noch in Tirana, um die Lage zu sondieren.
Ich möchte auch einmal deutlich und klar sagen, daß es jedenfalls nach meiner Auffassung nicht richtig sein kann, daß überall auf der Welt, vor allem auch dort, wo sehr stark selbst mitverschuldete Anarchie herrscht, sofort nach internationalen Militärinterventionen gerufen wird. Diese kosten sehr viel Geld, Geld, das beim Wiederaufbau fehlt.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit dem entgegenwirken, was immer wieder gesagt wird: man habe sich nicht genügend um Albanien gekümmert. Albanien hat aus der EU und aus Deutschland mit weitem Abstand die pro Kopf höchste Hilfe erhalten, über 1 Milliarde DM in den letzten Jahren. Wir haben Demokratie- und andere Hilfe geleistet. Der erhobene Vorwurf ist absolut unzutreffend und falsch.
Albanien braucht jetzt eine politische Lösung. Zunächst muß das, was notwendig ist, von innen kommen, von den politischen Kräften im Lande. Es gibt gewisse Zeichen der Normalisierung. Die Übergangsregierung muß von innen und außen unterstützt werden. Die öffentliche Ordnung muß wiederhergestellt werden. Ein politischer Neuanfang ist notwendig. Dieser kann durch die für Juni angekündigten Wahlen und durch eine neue Verfassung eingeleitet werden. Dabei wollen wir gerne helfen. Bei diesem Bemühen werden wir vor allem das albanische Volk nicht alleinlassen. Dabei muß man deutlich und klar sagen: Es kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein.
Gefragt sind im Augenblick besonders die regionalen Organisationen OSZE und EU. Die OSZE ist vor Ort tätig. Bundeskanzler a. D. Vranitzky hat sich sehr engagiert. Seine Vermittlungsmission und seine Bemühungen verdienen Unterstützung. Wir brauchen in Albanien wohl eine OSZE-Langzeitmission.
Im übrigen haben wir auch angeboten, von EU- Seite aus eine Art Administrator, der, falls gewünscht, der Regierung helfen könnte, zur Verfügung zu stellen. Natürlich braucht Albanien auch die Hilfe der internationalen Finanzorganisationen. Die europäische Mission unter der niederländischen EU- Präsidentschaft hat vor Ort Lösungsmöglichkeiten gesucht. Wir werden uns bilateral und im EU-Rahmen beteiligen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Albanien befindet sich in einer akuten Versorgungskrise. Hilfe kann aber, in Gottes Namen, erst anlaufen, wenn der Flughafen und die Häfen offen und die Straßen zugänglich sind.
Zur Flüchtlingssituation. Schon etwa 15 000 Albaner sind nach Griechenland und Italien geflohen. Wir müssen alles tun, um eine weitere Flüchtlingswelle zu verhindern. Deutschland hat in den letzten Jahren bei der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen weltweit und vor allem aus der Region wahrhaftig Humanität gezeigt. Das werden wir auch weiter tun.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Aber ich habe am Wochenende meinen europäischen Kollegen gesagt: Jetzt seid ihr einmal dran.
Denn wir haben immerhin doppelt so viel BosnienFlüchtlinge aufgenommen wie alle anderen europäischen Länder zusammen.
Wichtig bleibt vor allem, daß die Instabilität nicht auf die Nachbarländer übergreift, auf Kosovo und Mazedonien. Dafür gibt es Gott sei Dank im Augenblick noch keine Anzeichen. Aber natürlich muß der Appell bleiben, alles zu tun, damit das nicht geschieht.
Wir sollten - das möchte ich zum Schluß sagen - nicht vergessen, daß Albanien mit seinen 3,5 Millionen Menschen das abgeschottetste Land war. Sein Weg zur Demokratie ist deshalb auch besonders schwierig. Wir wollen und werden helfen. Albanien aber muß sich auch selber helfen und helfen lassen. Dieses Land hat sein Schicksal zum größeren Teil selber in der Hand. Für jede Lösung, die den Menschen wirklich hilft, stehen wir bereit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Zurücküberweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Arbeitsförderungs-Reformgesetz auf Drucksache 13/7244 bekannt. Abgegebene Stimmen: 659. Mit Ja haben gestimmt: 339. Mit Nein haben gestimmt: 320. Damit ist der Antrag angenommen. Der Einspruch des Bundesrates ist damit zurückgewiesen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 659; davon:
ja: 339
nein: 320
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam Peter Altmaier Anneliese Augustin
Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber
Klaus Bühler Hartmut Büttner (Schönebeck)
Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen (Nordstrand)
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Gertrud Dempwolf
Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger
Maria Eichhorn Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke Ulf Fink
Dirk Fischer Leni Fischer (Unna)
Klaus Francke Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Detlef Helling
Dr. Renate Hellwig
Ernst Hinsken Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe Peter Jacoby Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden
Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid
Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger
Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus Editha Limbach
Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski
Günter Marten Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg
Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer
Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald
Norbert Otto
Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch
Ulrich Petzold Anton Pfeifer Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber
Peter Rauen
Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik Roland Richter
Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer
Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith Adolf Roth Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu
Norbert Schindler Dietmar Schlee
Ulrich Schmalz
Bernd Schmidbauer Christian Schmidt Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze
Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Marion Seib
Wilfried Seibel
Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall Wolfgang Vogt
Dr. Horst Waffenschmidt
Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann Dr. Fritz Wittmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff Horst Friedrich Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Burkhard Hirsch Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Dr. Otto Graf Lambsdorff Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Uwe Lühr
Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Brigitte Adler Gerd Andres Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt
Hans Berger Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Arne Börnsen Anni Brandt-Elsweier
Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler Freimut Duve Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger
Annette Faße Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Dagmar Freitag Anke Fuchs
Katrin Fuchs
Arne Fuhrmann Monika Ganseforth
Norbert Gansel
Konrad Gilges Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck
Achim Großmann Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein
Klaus Hasenfratz
Dr. Ingomar Hauchler
Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte
Barbara Imhof
Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger
Jann-Peter Janssen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung Sabine Kaspereit Susanne Kastner
Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange
Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa Lörcher
Enka Lotz
Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß Winfried Mante Dorle Marx
Ulrike Mascher
Vizepräsidentin Michaela Geiger
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Eva Bulling-Schröter
Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs Andrea Gysi
Dr. Gregor Gysi
Hanns-Peter Hartmann
Dr. Uwe-Jens Heuer
Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda
Manfred Müller
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf Gerhard Zwerenz
Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Doris Odendahl
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick Joachim Poß
Rudolf Purps
Hermann Rappe
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Otto Reschke
Bernd Reuter
Dr. Edelhert Richter Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Rudolf Scharping Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell Walter Schöler
Ottmar Schreiner Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann
Margitta Terborg Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen
Ute Vogt
Karsten D. Voigt Josef Vosen
Hans Georg Wagner
Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf
Heidi Wright Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn)
Marieluise Beck Volker Beck (Köln)
Angelika Beer Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner Antje Hermenau Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
Kerstin Müller Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Egbert Nitsch Cem Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Halo Saibold
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt (Langenfeld)
Ursula Schönberger Waltraud Schoppe
Werner Schulz Marina Steindor
Christian Sterzing
Manfred Such
Dr. Antje Vollmer
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Klaus Francke, CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat zu den Gründen, die zu den humanitären Leistungen der Bundeswehr geführt haben, alles Notwendige gesagt. Ich möchte aber für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal allen Beteiligten, insbesondere unseren Soldaten, für den geleisteten Einsatz ausdrücklich danken. Wir denken dabei auch an die verbliebenen zehn deutschen Botschaftsangehörigen und hoffen, daß es ihnen den Umständen entsprechend gutgeht.
Der effiziente Einsatz unserer Soldaten kann jedoch nur Teil der Ad-hoc-Krisenbewältigung von europäischer Seite sein. Dazu ist zu bedenken, daß die augenblickliche Krise in Albanien nur sehr bedingt etwas mit dem Auslöser, dem Zusammenbruch der sogenannten Pyramidengesellschaften, zu tun hat. Wäre dies der Fall, müßten die sich jetzt sozialistisch nennenden politischen Kräfte in Albanien ganz still sein. Eine Vielzahl dieser Pyramidengesellschaften steht in engster personeller Verbindung zur Sozialistischen Partei.
Es handelt sich hier vielmehr um einen tiefgreifenden ethnischen und politischen Konflikt. Er droht über Albanien hinaus auf seine Nachbarländer auszustrahlen. Der Kosovo ist bereits ein explosiver Konfliktherd; aber auch in Mazedonien und Griechenland gibt es albanische Bevölkerungsgruppen, durch die in diese Staaten Instabilität hineingetragen werden könnte. In Bosnien bemüht sich die internationale Staatengemeinschaft mit großen Anstrengun-
Klaus Francke
gen um Stabilität. Alle diese Bemühungen aber können durch die Instabilität der Nachbarregion schnell wieder in Frage gestellt werden.
Der Konflikt reicht nicht nur räumlich über Albanien hinaus. Er wirft grundsätzliche Fragen auf, die über den Tag und die aktuelle Krisenbewältigung hinausgehen. Angesichts der drohenden Auflösung eines ganzen Staatswesens muß sich die Europäische Union die Frage stellen, ob sie rechtzeitig und umfassend alles unternommen hat, einem wirtschaftlich und in seinen demokratischen Strukturen nach der jahrzehntelangen Herrschaft von Kommunisten und später den Sozialisten weit hinter europäischen Standards liegenden Land in seinem Reformprozeß zu helfen.
Wieso, frage ich, haben die Europäische Union und der Europarat nicht stärker auf die Verabschiedung einer neuen Verfassung gedrungen? Wenn jetzt von der Entsendung von 150 politischen Beratern gesprochen wird, dann frage ich mich: Warum ist dies nicht bereits seit Jahren in großem Umfang geschehen? Dies gilt in besonderem Maße für ein Land, in dem im Gegensatz zu allen anderen MOE-Staaten keinerlei demokratische und rechtsstaatliche Traditionen vorhanden waren.
Wie müssen heute die Ziele deutscher und europäischer Albanienpolitik aussehen? Grundsätzlich gilt: Die territoriale Integrität und die Einheit Albaniens als souveräner Staat müssen erhalten bleiben. Wir dürfen nicht übersehen, daß der Konflikt neben den Attacken von putschenden ehemaligen Offizieren des Hodscha-Regimes und dem Einfluß der Mafia auch auf die existierende Kluft zwischen dem Süden und dem Norden des Landes zurückzuführen ist.
Alle Parteien müssen in einen konstruktiven Dialog eintreten. Staatspräsident Berisha und Ministerpräsident Fino müssen, unterstützt von Europäischer Union und OSZE, am Runden Tisch ihre Zusammenarbeit fortsetzen. Genauso müssen die geplanten Gespräche des Ministerpräsidenten mit den Rebellen im Süden Ergebnisse zeigen. Dazu gehört auch die sofortige Wiedereinsetzung der rechtmäßig gewählten Kommunalvertreter.
Von außen muß zu allererst umgehend humanitäre Hilfe geleistet werden, um die Versorgungskrise zu bewältigen und zu einer ersten Beruhigung der sozialen und wirtschaftlichen Lage zu kommen. Um die Hilfe wirksam werden zu lassen, muß Albanien aber selbst die Mindestvoraussetzungen an staatlicher Ordnung und Schutz der Beteiligten schaffen.
Zweitens müssen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Ordnung als Grundpfeiler eines stabilen Staatswesens dauerhaft wiederhergestellt und abgesichert werden. Ohne westliche Hilfe wird dies nicht gelingen. Europa muß, etwa durch die Entsendung von Beratern, bei der Schaffung einer neuen albanischen Verfassung und der Organisation und Durchführung von Neuwahlen einen aktiven Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, es besteht Einigkeit darüber, daß ein militärischer Einsatz politisch und militärisch ein ungeeignetes Mittel zur Bewältigung der Krise ist. Aber es wäre zu erwägen, ob die EUnicht zumindest beim Aufbau einer neuen Polizei sowie einer demokratisch verfaßten albanischen Armee helfen sollte.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß Albanien nach Bosnien zum weiteren Beispiel einer neuen und komplexen Bedrohung europäischer Stabilität geworden ist. Die aktuelle Krise ist ein erneuter Prüfstein für die Fähigkeit der Europäer, einem ihrer Nachbarn schnell, effizient und zielorientiert zu helfen. Die EU-Außenminister haben bislang mit ihrer Entscheidung zur Entsendung einer Beratergruppe zügig und geschlossen reagiert. Diese Entscheidung muß aber durch weitere Schritte untermauert werden. Ihren Beitrag zu Stabilität in Mittel- und Osteuropa zu leisten muß auch in Zukunft eines der Hauptanliegen der Europäischen Union bleiben.
Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karsten Voigt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion ist über ihren Vorsitzenden und über die Obleute des Auswärtigen Ausschusses vorab informell informiert worden. Wir waren uns damals, als wir vorab gefragt wurden, der Risiken bewußt. Im vollen Bewußtsein dieser Risiken haben wir dem geplanten Einsatz vorab zugestimmt.
Wir werden jetzt auch nach dem Ablauf der erfolgreichen Aktion unsere Zustimmung nicht verweigern, sondern hier im Plenum zustimmen. Aber ich möchte gleichzeitig deutlich machen, daß die vorhergehende informelle Zustimmung keine formelle Behandlung und Zustimmung im Parlament ersetzt; sie kann und darf sie nicht ersetzen.
Ich möchte hinzufügen, daß die Behandlung einer solch wichtigen Frage im Parlament im nachhinein nur ein Ausnahmefall in extremen Notsituationen sein darf und nicht zum Regel- und Präzedenzfall werden darf. In der Regel muß vorher entschieden und abgestimmt werden; das öffentliche Behandeln von militärischen Einsätzen muß die Regel sein.
Hier war Geheimhaltung erforderlich; das zeigt schon die besondere Gefahr, die im Verzuge war. Aber das Parlament entscheidet öffentlich und muß auch in Zukunft bei solchen Fragen von Militäreinsätzen öffentlich entscheiden.
Ich bin froh, daß die Risiken, die hätten eintreten können, als tatsächliche Gefährdung nicht eingetreten sind. Aber wir müssen uns bewußt sein und waren uns bewußt, daß bei zukünftigen Einsätzen sol-
Karsten D. Voigt
che Risiken auch zu Opfern führen können. Was wir als Politiker nicht tun dürfen, ist, die Militärs dann allein zu lassen, wenn die Risiken eintreten, die wir ihnen mit unseren Entscheidungen und Ratschlägen aufgebürdet und somit auch zu verantworten haben.
Mein Dank gilt den Soldaten. Sie haben eine vorzügliche Leistung erbracht. Ich bin gegen Heroismus, wie er in manchen Zeitungen zum Ausdruck kommt. Den wollen die Soldaten nicht. Damit dient man einer Armee, die im Kern Teil einer zivilen Gesellschaft ist, am allerwenigsten.
Mein Dank gilt denjenigen, die dort geblieben sind, weil sie an der Botschaft bleiben müssen, und die damit - das dürfen wir nicht vergessen - weiter Risiken tragen.
Ich freue mich, daß wir haben Leute aus dem Land herausholen können, nicht nur Deutsche, sondern auch andere. Die Zeit ist vorbei, in der wir sagen können: Deutsche sollen niemanden herausholen, weil andere Verbündete es hätten für uns tun können.
Es gab Risiken militärischer Art. Es gab die Risiken politischer Art. Dies war, wie gesagt, ein Einsatz ohne vorherige Zustimmung des Bundestages. Es war ein Einsatz ohne vorherige Zustimmung der betroffenen Regierung. Sie hat erst im nachhinein zugestimmt. Es war ein anderer Einsatz als bei SFOR, wo es vorher ein UNO-Mandat gab. Er erfolgte in Übereinstimmung mit der UN-Charta, aber es gab expressis verbis kein Mandat des Sicherheitsrates für diese Aktion.
Es gab das erste Mal eine Aktion des deutschen Militärs, wo man zwar in Übereinstimmung mit NATO-Partnern handelte, diese Aktion aber praktisch im wesentlichen im nationalen Alleingang durchgeführt wurde. Da wir wissen, daß der Verbund mit unseren Nachbarn gerade im militärischen Bereich eine Art Staatsräson eines Deutschland ist, das mit seinen Nachbarn friedlich leben will, muß auch das ein Ausnahmefall bleiben.
Multilateralismus bleibt das Gebot. Es war ein Einsatz, der zumindest rechtlich auf einem diskutierbaren, strittigerem Boden beruht als der Einsatz bei SFOR. Darüber sollten wir hier nicht hinwegsehen. Deshalb halten wir ein Begleitgesetz für erforderlich, das nicht die Zustimmung des Bundestages im Einzelfall ersetzt, in dem aber die grundsätzlichen Regelungen für solche Einsätze in Einvernehmen mit dem Parlament hergestellt werden.
Es gibt Versäumnisse der Bundesregierung. Sie hätte die gefährdeten Leute früher ausfliegen können und ausfliegen lassen sollen. Es gibt Versäumnisse auch der Europäischen Union. Man hätte mit früheren Angeboten von ökonomischer Hilfe eine Eskalation der Krise zumindestens bremsen wenn nicht sogar verhindern können. Herr Francke, es gibt außerdem Versäumnisse der CDU/CSU; denn sie hat zu einseitig auf Berisha gesetzt. Ich habe nichts dagegen, daß Sie dort eine konservative Partei unterstützen. Aber Sie haben nicht allein demokratische Strukturen unterstützt, sondern vielmehr eine Person, die selber zu einem Problem der autoritären Struktur im Lande geworden ist.
Ich sage nicht, daß ich deshalb den Rücktritt Berishas fordere. Ich sage nur: Das einseitige Setzen auf ihn, das in Ihrer Rede zum Ausdruck kommt, verkennt, daß Berisha Teil des Problems und nicht die Lösung ist.
Wir sind für Neuwahlen, damit sich so legitimiert erneute staatliche Instanzen herausbilden können. Wir sind für humanitäre und wirtschaftliche Hilfe sowie für Beratung. Ich teile die Meinung der Bundesregierung, daß ein Einsatz des Militärs dort bei aller Güterabwägung nicht in Frage kommt. Ich bin dagegen, daß man, wenn immer irgendwo ein Problem besteht, sagt, das Militär solle eingreifen. Es gibt Probleme, die das Militär nicht lösen kann. Man darf nicht nur den ersten, sondern muß auch den zweiten Schritt bedenken.
Man muß genauso bedenken, daß das Militär bei einem Einsatz wissen muß, daß es ein Einsatz ist, den die Soldaten bewältigen und erfolgreich bestehen können. Ich möchte nicht, daß wir etwas verantworten, wo uns später die gleichen Journalisten und Politiker allein im Regen stehen lassen, wenn der Einsatz nicht erfolgreich ist oder die ersten Opfer zu beklagen sind.
Was ich für nicht akzeptabel halte, ist die Behandlung der OSZE, übrigens auch durch Herrn Berisha. Es ist skandalös, wie Vranitzky vor der Tür des Landes stehen mußte. Ich hätte mir einen viel eindeutigeren Aufschrei zur Stärkung der OSZE und gegen ihre Erniedrigung, die um Einlaß bitten mußte, in der europäischen Welt gewünscht. Das darf nicht wieder vorkommen.
Das müssen die, die die OSZE immer hochpreisen, anders handhaben.
Zuletzt: Das Problem ist noch nicht gelöst, weder innenpolitisch - darauf haben Sie zu Recht hingewiesen; wobei wir über die Lösung im einzelnen streiten mögen - noch außenpolitisch. Die Probleme in Makedonien mit albanischer Minderheit sind nicht eskaliert. Sie bestehen weiter. Das Kosovo-Problem ist hochexplosiv. Es gibt albanische Minderheiten auch in Montenegro.
Deshalb mein dringender Appell an die Bundesregierung, an die Europäer und an die NATO, in dieser Frage endlich etwas zu tun und nicht zu warten, bis wir das nächste Mal nach einer Krise sagen, man
Karsten D. Voigt
hätte früher agieren müssen. Hier muß endlich gehandelt werden.
Die SPD wird deshalb in Abwägung aller Umstände dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Weil wir dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, können wir dem Entschließungsantrag der Grünen, der nach seiner Formulierung nur die Begründung für ein Nein oder eine Enthaltung sein kann, nicht zustimmen.
Ich freue mich, daß von den drei Vertretern der Grünen im Auswärtigen Ausschuß zwei zugestimmt haben. Ich sehe es auch als einen Fortschritt an, daß die PDS im Auswärtigen Ausschuß nicht dagegen gestimmt, sondern sich enthalten hat. Das sind Bewegungen in die richtige Richtung. Sie reichen uns nicht aus. Deshalb werden wir insgesamt zustimmen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Poppe von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst die Erleichterung auch unserer Fraktion über die gelungene Evakuierung zum Ausdruck bringen und den daran beteiligten Angehörigen der Bundeswehr, des Krisenstabes und der deutschen Botschaft danken.
Sie haben mit einem hohen persönlichen Einsatz Menschen in Sicherheit gebracht. Mir ist das in bezug auf die deutschen Soldaten auch deshalb besonders wichtig zu sagen, weil wir in letzter Zeit einen Vorfall zu beklagen hatten, bei dem Soldaten unschuldige Menschen, ausländische Mitbürger, verletzt haben und damit dem Ansehen der Bundeswehr und dem deutschen Ansehen überhaupt geschadet haben.
Wie ich sehe, haben sich die Helden von Tirana über die Reihenfolge ihres Auftritts geeinigt.
Es wäre etwas leichter gewesen, diese Debatte zu führen, wenn nicht in der Öffentlichkeit dieses peinliche Gerangel um die jeweiligen Anteile am Verdienst der gelungenen Aktion sichtbar geworden wäre.
Ich denke, es gibt nicht den geringsten Anlaß, triumphal den Erfolg zu feiern. Wir sollten den Vorgang sehr sachlich, sensibel und verantwortungsbewußt behandeln, denn die Lage in Albanien ist noch immer sehr gefährlich. Eine weitere Destabilisierung oder unkalkulierbare Auswirkungen auf die Nachbarregionen sind nicht auszuschließen.
Obgleich Deutsche und Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten in Sicherheit gebracht wurden, gibt es doch immer noch viele, die dortgeblieben sind, um ihre verantwortungsvolle Arbeit weiterzuführen. Ihnen wünschen wir viel Glück und Erfolg und vor allem, daß sie unversehrt bleiben.
Unsere Sorge gilt aber besonders der Lage des albanischen Volkes, das während der kommunistischen Herrschaft ein noch schwereres Schicksal erlitten hat als andere Völker. Nach dem Zusammenbruch des alten Systems hoffte es auf dessen endgültige Überwindung, auf Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung, auf den Weg nach Europa und sieht sich nun ein weiteres Mal um diese Hoffnung betrogen.
Insbesondere OSZE und Europäische Union stehen jetzt vor der Aufgabe, humanitäre Hilfe zu leisten und auch zu helfen, die Voraussetzungen für eine friedliche und demokratische Entwicklung sowie für den Aufbau einer tragfähigen wirtschaftlichen Basis zu entwickeln.
Der Weg aus dem Chaos muß allerdings in erster Linie von Albanien selbst gefunden werden. Deutschland sollte dazu aber einen angemessenen Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang halte ich es für unbedingt erforderlich, daß wir feststellen, warum die nicht unerhebliche bisherige Unterstützung aus dem Westen nicht zur gewünschten Stabilisierung geführt hat. Wir dürfen uns schon im Hinblick auf das weitere Vorgehen nicht der unbequemen Frage entziehen, warum der Weg ins Desaster nicht rechtzeitig aufgehalten werden konnte.
Die Möglichkeit zu helfen, meine Damen und Herren, wird um so größer, je schneller es gelingt, die Bevölkerung zu entwaffnen. Wir meinen, man sollte dabei auch unkonventionelle Wege beschreiten, zum Beispiel durch Ankauf von Waffen oder durch Tausch gegen Lebensmittel. Gleichzeitig muß unbedingt erreicht werden, die Tätigkeit internationaler Waffenhändler zu beenden.
Viele Albaner fliehen aus dem Land - aus gutem Grund. Wenn wir hier über Deutsche und die Bürger anderer Staaten reden, so müssen wir natürlich auch darüber reden, daß diese Albaner das Recht haben, in Sicherheit zu gelangen und dabei unterstützt und versorgt zu werden.
Die Hauptlast dabei werden diesmal verbündete Staaten wie Italien oder Griechenland tragen. Sie sollten deshalb schnell und unbürokratisch von Deutschland unterstützt werden. Keineswegs aber dürfen Albaner, insbesondere aus dem Kosovo, aus Deutschland abgeschoben werden.
Gerd Poppe
Daß in diesem besonderen Notfall erstmals ein Bundeswehreinsatz ohne Einbindung in eine durch UN-Mandat abgesicherte Aktion und ohne die vorherige Zustimmung des Bundestages stattgefunden hat, ist kein normaler Vorgang. Im Gegenteil: Es handelte sich um ein außergewöhnliches Vorgehen in einer außergewöhnlichen Situation, um einen Sonderfall, nicht aber um einen Präzedenzfall, nicht übertragbar auf jeweils spezifische Situationen. Das Wort Normalität beschreibt nicht das in jeder Hinsicht außergewöhnliche Vorgehen. Normalität ist etwas anderes. Normalität ist das, was die Mehrheit des albanischen Volkes herbeisehnt und wozu unsere Hilfe benötigt wird. Wie diese Hilfe geleistet werden kann, können Sie zu einem guten Teil unserem Entschließungsantrag entnehmen, den wir heute hier vorlegen.
Was den Antrag der Bundesregierung angeht: Unsere Fraktion, die Obleute und einer der Sprecher, ist vor Beginn der Aktion informiert worden. Diejenigen, die einbezogen waren, haben das Vorgehen der Bundesregierung gebilligt. Das wird ein großer Teil unserer Fraktion auch heute tun. Trotzdem gibt es auch kritische Stimmen und ein daraus folgendes differenziertes Abstimmungsverhalten, das sich nicht nur auf die Aktion selbst, sondern vor allem auf nachfolgende Interpretationen mit den daraus für zukünftige militärische Einsätze abgeleiteten Konsequenzen bezieht.
Dies aber ändert nichts daran, daß wir alle über den glücklichen Ausgang dieser Aktion sehr froh sind.
Danke.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Freimut Duve, SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion und auch ein Teil der öffentlichen Reaktionen lassen mich ein bißchen zweifeln, ob in der deutschen Öffentlichkeit ein ganz wesentlicher Unterschied in den Definitionen klar genug ist. Ich will nicht verheimlichen, daß ich selber gezögert habe, ob es richtig ist, daß wir heute hier eine Abstimmung machen. Ich habe mich überzeugen lassen und werde daran teilnehmen.
Aber warum? Die Abstimmungen, die wir in solchen Fällen machen müssen, sind Abstimmungen auch über die Frage militärischer Ziele. Hier hat es sich um eine Aktion gehandelt mit ausschließlich militärischen Mitteln zur Erreichung eines radikal nichtmilitärischen Zieles.
Das hätten, wenn es logistisch oder anders möglich gewesen wäre, auch „Polizeikräfte" sein können. Das ging hier auf keinen Fall; das ist ganz klar. Herr Minister, Sie schütteln den Kopf; ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung.
Ich möchte durch meine Kurzintervention nur darauf hinweisen, daß wir auch in unseren zukünftigen Debatten sehr präzise und sehr klar den Unterschied zwischen einem möglicherweise notwendigen militärischen Ziel und einem radikal nichtmilitärischen Ziel unter Anwendung militärischer Mittel feststellen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die F.D.P.-Fraktion möchte ich mich bei den Soldaten aller Waffengattungen bedanken, die die Evakuierung aus Tirana in vorbildlicher Weise vorbereitet und auch durchgeführt haben.
Unser Dank richtet sich aber auch an die Bundesregierung, an den Bundeskanzler, an den Bundesaußenminister, an den Verteidigungsminister, die diese Maßnahme in politisch umsichtiger Weise eingeleitet und letztlich auch entschieden haben.
In diesen Dank möchte ich auch den Botschafter und seine Mitarbeiter in Tirana einbeziehen. Sie haben die Aktion vor Ort bestens vorbereitet und sind in Tirana verblieben. Ihnen schulden wir nicht nur Dank, sondern auch hohen Respekt.
Bei den anarchischen Zuständen im Einsatzland war Gefahr im Verzuge. Ein Beschluß des Deutschen Bundestages war vorher wegen der Kurzfristigkeit, aber auch - das betone ich, Herr Kollege Voigt - aus Gründen der Geheimhaltung nicht möglich. Die Bundesregierung hat durch die Unterrichtung der Vorsitzenden und der Sprecher der Fraktionen in den Ausschüssen für Auswärtiges und Verteidigung in der vergangenen Woche mehr getan - das betone ich ausdrücklich -, als ihr durch das Verfassungsgerichtsurteil auferlegt worden ist. Aus Sicht der F.D.P.-Fraktion war dies ein Akt der Vorsorge und der politischen Klugheit, im Sinne der Sicherheit und des Rückhalts für die Soldaten, die ihr Leben einsetzten, aber auch im Sinne der zu Rettenden.
Die Vorsitzenden und die Sprecher der Fraktionen haben dem Plan der Bundesregierung vorab zugestimmt. Ich betone ausdrücklich: Alle haben zugestimmt, die heute im Saal sitzen.
Meine Damen und Herren, in zukünftigen Situationen sollte ein ähnliches Verfahren gewählt werden. Wenn wir uns daher auf einen formalisierten Prozeß zur schnellstmöglichen Beteiligung des Parlamentes einigen sollten, sollte dabei die Freiheit des Handelns in Notlagen im Sinne der Begründung des
Günther Friedrich Nolting
Bundesverfassungsgerichtes gewahrt bleiben. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Parlament in seiner Urteilsbegründung vom 12. Juli 1994 bewußt Handlungsspielraum gelassen; denn nicht alle denkbaren Notsituationen lassen sich gesetzlich erfassen, Herr Kollege Voigt.
Ich denke, es reicht völlig aus, die in der Praxis erprobte Zusammenarbeit und den Informationsfluß zwischen Regierung und Parlament gewissermaßen gewohnheitsrechtlich zu verfestigen. Dies kann deutlich unterhalb der Schwelle einer formalen Gesetzgebung erfolgen.
Es ist heute relativ leicht - darauf wurde schon hingewiesen -, die Zustimmung zu erteilen, da es sich um einen erfolgreichen Einsatz handelte. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß dieser Einsatz nicht weniger richtig gewesen wäre, wenn es größere Komplikationen gegeben hätte.
Lassen Sie mich noch kurz auf zwei militärische Aspekte eingehen.
Erstens. Bei den eingesetzten Soldaten handelt es sich zum Teil um Wehrpflichtige, die freiwillig ihren Grundwehrdienst verlängert haben, um am SFOR-
Einsatz teilnehmen zu können. Diese waren hervorragend ausgebildet, hatten eine gute Motivation und waren so in der Lage, mit länger dienenden Soldaten die Evakuierung reibungslos und präzise durchzuführen.
Zweitens. Die eingesetzten Soldaten kommen ursprünglich sowohl aus Einheiten der Krisenreaktionskräfte wie auch aus Einheiten der Hauptverteidigungskräfte. Ich denke, dies entkräftet das oft gehörte Argument, wonach die Bundeswehr in ihrer derzeitigen Struktur eine Zweiklassenarmee sei.
Meine Damen und Herren, die Aktion von Tirana hat gezeigt, daß nach wie vor alle Soldaten der Bundeswehr gut ausgebildet und gut motiviert sind. Darauf können wir mit Recht stolz sein. Dies hat überhaupt nichts mit einer Glorifizierung zu tun.
Die F.D.P.-Fraktion stimmt dem Antrag der Bundesregierung zu. Ich bitte alle Kollegen, die jetzt noch zweifeln, dies ebenfalls zu tun.
Den Antrag der Grünen werden wir ablehnen. Ich bin schon erstaunt, daß in der letzten Woche, also vor dem Einsatz, alle Fraktionsvorsitzenden, auch der Fraktionsvorsitzende Fischer, dem Einsatz zugestimmt haben - darauf habe ich zu Anfang ganz bewußt hingewiesen -, die Grünen heute aber plötzlich nicht mehr zustimmen.
Die Grünen - das sage ich hier noch einmal ganz offen - sind zu verantwortungsbewußter Politik nicht fähig.
Nein, es zeigt sich, daß die Grünen handlungsunfähig sind. Sie sind politikunfähig. Sie versuchen, das heute mit Ihrem Antrag zu übertünchen.
Ich finde es schon geradezu abenteuerlich, wenn es in diesem Antrag heißt, Sie bedauern, „daß diese Aktion in Ermangelung anderer Einsatzkonzepte nur von der Bundeswehr durchgeführt werden konnte." Wer hätte denn diese Aktion durchführen sollen? Sie selbst sind diese Antwort schuldig geblieben. Sie bringen das „Kommando Spezialkräfte" ins Gespräch, obwohl diese überhaupt nicht beteiligt waren. Sie sprechen dann unter anderem in Ihrem Antrag von einer „Entwaffnung der Bevölkerung". Auch hier müssen Sie natürlich dann der staunenden Öffentlichkeit erklären, wer dies tun soll. Auch diese Erklärung sind Sie heute wieder schuldig geblieben.
Vielen Dank.
ein Quatsch! - Gegenruf des Abg.
Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ihr
wollt nur die Wahrheit nicht hören!)
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Gysi, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider werden Konflikte in der Welt immer wieder dazu führen, daß Menschen evakuiert werden müssen. Auch heute haben wir uns mit einem solchen Fall zu beschäftigen. Es ist immer gut, wenn es gelingt, Menschen aus Gefahren herauszubringen, so auch im Zusammenhang mit der Evakuierung aus Albanien.
Lieber Kollege Karsten Voigt, allein diesem Faktum ist es geschuldet, daß mein Kollege und ich uns im Auswärtigen Ausschuß enthalten haben.
- Dazu komme ich jetzt. - Aber es ist auch notwendig, sich mit dem Verlauf und den rechtlichen Grundlagen dieser Evakuierung auseinanderzusetzen, zumal einige Medien in ziemlich ekelhafter Weise einen gelungenen deutschen Militärcoup daraus gemacht haben und das noch mit nationalistischem Getöse verbunden haben.
- Das haben Ihre Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion im Ausschuß selbst bedauert.
Wieder einmal gab es eine Premiere für die Bundeswehr, und zwar unter drei Gesichtspunkten. Zwei davon sind bereits angesprochen worden, ein dritter erstaunlicherweise überhaupt noch nicht. Erstens handelte es sich um einen völligen Alleingang der Bundeswehr ohne Einbindung in internationale Organisationen oder ein kollektives Sicherheitssystem. Zweitens fehlte ein konkret auf die Evakuierung bezogenes, vorab gegebenes Einverständnis der albani-
Andrea Gysi
schen Übergangsregierung zum Einsatz. Drittens gibt es weder völkerrechtlich noch verfassungsrechtlich eine Grundlage für den Einsatz. Er geschah im rechtsfreien Raum. Deshalb ist die Bundesregierung bis heute eine plausible Begründung hierfür schuldig geblieben.
- Es ist nicht falsch, sondern es ist richtig. Sie versuchen, darüber hinwegzutäuschen.
Die Evakuierungsaktion tangiert die staatliche Souveränität Albaniens, und sei dieses Land noch so sehr in Chaos und Anarchie zerfallen. Es gab eine schwache, aber es gab eine Übergangsregierung. Diese hatte just am Tag des Einsatzes mit dem ehemaligen Bundeskanzler Vranitzky auf einer italienischen Fregatte über Hilfsbemühungen verhandelt. Es kann keiner behaupten, sie sei nicht erreichbar gewesen.
Wenn das Praxis und Normalität werden soll - wie Verteidigungsminister Rühe angekündigt hat -, dann öffnet das wirklich Wildwestmethoden Tür und Tor. Es ist ein massiver Verstoß gegen das Prinzip der staatlichen Souveränität.
Es wird immer wieder darüber hinweggetäuscht und so getan, als hätte sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Einsatz wie dem am Freitag überhaupt befaßt. Das ist nicht wahr. Das Bundesverfassungsgericht hat sich ausschließlich mit Einsätzen befaßt, die im Zusammenhang und im Verbund internationaler Organisationen oder eines kollektiven Sicherheitssystems stattfinden. Es hat sich überhaupt nicht mit Einsätzen befaßt, die im Alleingang durch die Bundeswehr durchgeführt werden.
Selbst wenn der Begriff „Gefahr im Verzug" herumgeistert, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen: Es gibt dazu bis heute keine Stellungnahme. Auch das Grundgesetz gibt eine rechtliche Grundlage für diesen Einsatz nicht her.
Das wiederum macht deutlich, wie gefährlich es ist, wenn hier auch noch in Frage gestellt wird, lieber Kollege Duve, ob das Parlament mit einem solchen Einsatz überhaupt zu befassen ist. Es ist deshalb so gefährlich, weil bei einem humanitären Erfolg und einem Gelingen dieser Aktionen die Bundesregierung offenkundig wieder einmal ihre militärstrategischen Interessen in den Vordergrund stellt
und es pauschal ablehnt, über alternative Möglichkeiten humanitärer Hilfsaktionen, wie im Antrag der Grünen und zahlreichen anderen Anträgen gefordert, überhaupt nur nachzudenken.
Daß in diesem Kontext auch noch die Zustimmungspflichtigkeit des Parlaments in Frage gestellt wird, hätte ich von der rechten Seite, aber - offen gesagt - nicht von der linken Seite erwartet. Wieder einmal gibt es bei mir etwas mehr Ernüchterung.
Was Albanien jetzt braucht, ist humanitäre Hilfe; was Albanien braucht, ist Unterstützung von außen, aber natürlich auch das Bemühen darum, daß die Hilfslieferungen zu den Menschen herankommen. Was Albanien aber mit Sicherheit nicht braucht, ist eine Fortsetzung militärischer Kooperation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und diesem Land. Wenn die Meldung vom 19. März stimmt, wonach der deutsche Botschafter im albanischen Rundfunk nach einem Treffen mit dem albanischen Verteidigungsminister gesagt hat, daß trotz der Krisensituation eine Ausweitung und Vertiefung der militärischen Kooperation befürwortet wird, dann ist das ein Skandal und dann erwarten wir dazu eine Stellungnahme der Bundesregierung.
Was Albanien ebenfalls nicht braucht, ist eine einseitige Einmischung in den bevorstehenden Wahlkampf zugunsten eines Kandidaten. Das muß nicht heißen, daß man einen anderen begünstigt. Vielmehr müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß demokratische Wahlen stattfinden können, damit dieses Land überhaupt eine Chance hat, wirtschaftlich und sozial in irgendeiner Form wieder auf die Beine zu kommen.
Zum Schluß eine Bemerkung zum Thema Flüchtlinge. Es dürfen auch gegenüber albanischen Flüchtlingen nur humanitäre Gesichtspunkte entscheidend sein. Es ist schlimm, daß das wieder einmal betont werden muß. Ich halte es für unerträglich, wenn der Bundesminister einen Satz wie „Das Boot ist voll" äußert. Ein solcher Satz muß tabu sein, und allemal für einen Außenminister. Es bedarf eines Abschiebestopps für albanische Flüchtlinge.
Ihre Redezeit ist zu Ende, Frau Abgeordnete.
Ich bin beim letzten Satz.
Nach Abwägung all dieser Aspekte wird niemand aus der PDS-Gruppe diesem Regierungsantrag zustimmen. Einige werden mit Nein stimmen; einige werden sich enthalten. Ich werde mich ebenfalls enthalten.
- Die kennen Sie schlechter als ich. Die Enthaltung - ich betone das noch einmal - bezieht sich ausschließlich darauf, daß wir es begrüßen, wenn Menschenleben gerettet werden bzw. wenn Menschen nicht verletzt werden.
Jetzt muß der Satz aber wirklich zu Ende sein.
Der Weg und die Instrumente, die die Bundesregierung dazu gewählt hat, sind eine einzige Katastrophe.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Ich habe mich gemeldet, weil der Geist und die tragenden Worte insbesondere des Redebeitrages vor dem von Frau Gysi deutlich gemacht haben, daß unsere Bedenken sehr wohl angebracht sind. Der Sprachgebrauch des Dankes an alle Waffengattungen macht noch einmal das deutlich, was auch Außenminister Kinkel nach dem erfolgreichen Einsatz sehr klar gesagt hat, nämlich daß es gar nicht um das humanitäre Anliegen geht, sondern darum, daß man endlich militärisch gleichberechtigt mit allen anderen agieren kann.
Ausgerechnet die liberale Partei ist Wegbereiter dessen geworden, was sich in Schlagzeilen wie den folgenden niederschlägt: 1992 erstmals humanitärer Einsatz der Bundeswehr im Ausland, nämlich in Kambodscha; 1993 humanitärer Einsatz der Bundeswehr in Somalia; 1995 erstmals Unterstützungseinsatz der Bundeswehr für IFOR in Ex-Jugoslawien; 1996 erstmals Kampfeinsatz der Bundeswehr in ExJugoslawien im Rahmen von SFOR. Nun, ab 1. April 1997, werden Sie die Verantwortung dafür mitzutragen haben, wenn es heißen wird: erster Militäreinsatz ohne Billigung des Parlaments durch das „Kommando Spezialkräfte".
Unsere Bedenken, daß hierdurch ein Präzedenzfall geschaffen wird, sind begründet. Wenn man sich das Aufgabenspektrum des „Kommandos Spezialkräfte", das Sie eben noch einmal so gelobt haben, vor Augen führt, nämlich Gewinnung von Schlüsselinformationen in Krisen- und Kriegszeiten und -gebieten, Schutz eigener Kräfte auf Distanz, Retten und Evakuieren im gegnerischen Gebiet, Kampfeinsätze im gegnerischen Gebiet, Kampf gegen subversive Kräfte und vieles mehr, und wenn Sie bereit sind, dafür mehr als 41 Millionen DM zur Verfügung zu stellen, dann müssen wir hier allerdings Bedenken dahin gehend äußern, daß diese Art der Auftragstellung eine vorherige parlamentarische Beratung verhindert.
Insofern fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag auf, die weitere Aufstockung der KRK- Kräfte, deren Bestandteil das KSK ja ist, zu stoppen und die noch verfügbaren Ressourcen endlich in eine präventive Außenpolitik statt in eine militärische Interventionspolitik zu investieren, die immer nur dann zum Zuge kommt, wenn das Kind wieder in den Brunnen gefallen ist.
Herr Abgeordneter Nolting, Sie haben das Recht zu einer Antwort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Beer, alle Einsätze, die Sie genannt haben - von Kambodscha über Somalia bis hin zu IFOR und SFOR -, sind vom Deutschen Bundestag gebilligt und ausdrücklich unterstützt worden. Diese Einsätze waren erfolgreich. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie auf diesen Erfolg noch einmal ausdrücklich hingewiesen haben.
Ich habe zu Beginn meiner Rede meinen Dank an die Bundeswehr ausgesprochen. Es hätte den betroffenen Bundeswehrsoldaten, und zwar aller Waffengattungen - das betone ich ausdrücklich -, gutgetan, wenn auch Sie ihnen Dank ausgesprochen hätten; denn sie haben die weit über 100 Mitbürger aus Tirana unter Einsatz ihres Lebens gerettet.
Statt im Deutschen Bundestag Reden zu halten, sollten Sie das, was Sie hier gesagt haben, vor den Betroffenen wiederholen, wenn Sie in der Truppe unterwegs sind, wenn Sie bei der Bundeswehr in Rajlovac, in Sarajevo oder in Hohenfels sind und alles prima finden, alles begrüßen. Kaum sind Sie wieder in Bonn, geben Sie Presseerklärungen ab, geben Sie Erklärungen im Deutschen Bundestag ab, die dazu in totalem Widerspruch stehen. Das, was Sie heute fälschlicherweise an Kritik vorgetragen haben, müssen Sie den Betroffenen bitte direkt sagen.
Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen - dem hat auch Ihr Fraktionsvorsitzender Fischer nicht widersprochen -: Hier war Gefahr im Verzuge. Das Parlament ist vor dem Einsatz beteiligt worden. Die Fraktionsvorsitzenden sind angesprochen worden. Auch der Fraktionsvorsitzende Fischer hat zugestimmt. Ich begrüße es ausdrücklich, daß Ihr Fraktionsvorsitzender zugestimmt hat.
Auch der Kollege Poppe als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und Sie als Mitglied des Verteidigungsausschusses sind vorher informiert worden. Auch Sie haben nicht widersprochen. Ich möchte Sie wirklich bitten, das, was Sie intern vortragen, auch im Plenum zu sagen.
Günther Friedrich Nolting
- Herr Kollege Fischer, ob Ihrer Zwischenrufe muß ich Ihnen noch eines sagen. Ich habe Sie im letzten Jahr als personifizierte Sprechblase bezeichnet. Ich ziehe dies ausdrücklich zurück. Bei Ihnen ist die Luft raus.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, daß einige in der jetzigen Phase der Diskussion vielleicht vergessen haben, welches Risiko die deutschen Soldaten auf sich genommen haben.
Deswegen möchte ich vorschlagen, die Debatte in diesem Bewußtsein zu führen.
Die Bundeswehr hat am Freitag, dem 14. März, auf Beschluß der Bundesregierung deutsche Staatsbürger und Bürger aus 21 anderen Nationen aus der albanischen Hauptstadt Tirana evakuiert.
- Von drei Mitgliedern im Namen der Bundesregierung.
Die Entwicklung der Lage in Albanien hatte sich so zugespitzt, daß für die Menschen in der deutschen Botschaft nur noch eine Evakuierung mit militärischen Mitteln möglich war. Angesichts der gefährlichen Lage im Land blieb nur der Weg der Luftevakuierung mit Hubschraubern. Auch die Möglichkeit, Hilfe von den Alliierten in Anspruch zu nehmen, war zu dem Zeitpunkt nicht mehr gegeben.
Die Bundesregierung hat sich bei ihrer Entscheidung von ihrer Verantwortung für das Leben und die Gesundheit der deutschen Staatsbürger in Tirana leiten lassen. Ebenso sah sie sich in der Pflicht, die Angehörigen anderer Nationen zu retten, die sich in der deutschen Botschaft in konsularischer Obhut befanden. Nach Lage der Dinge mußte unverzüglich gehandelt werden.
Wir haben bereits am Abend des 13. März 1997 die Vorsitzenden der Fraktionen des Deutschen Bundestages über die Entwicklung der Lage und über vorbereitende Maßnahmen unterrichtet. Ich lege aber
Wert darauf - ich finde es zum Teil nicht ganz fair, was in dieser Debatte gesagt worden ist -, festzustellen: Die Entscheidung hat die Bundesregierung getroffen. Die Fraktionsvorsitzenden haben wir nur informiert. Ich habe zum Beispiel niemanden gebeten, sich zustimmend oder ablehnend zu äußern. Das möchte ich auch in Richtung von Herrn Fischer sagen.
Ich möchte auch in Zukunft die Möglichkeit haben, als Mitglied der Bundesregierung einen Fraktionsvorsitzenden zu informieren, ohne daß ich ihm gleich eine Entscheidung abverlange. Denn die Entscheidung fällt, was die Fraktionen angeht, jetzt hier im Deutschen Bundestag.
Vorher war es eine Entscheidung der Bundesregierung, die wir unter ganz bestimmten Bedingungen zu treffen hatten. In diesem Fall, Herr Gysi, waren es der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister, die für die Bundesregierung diese Entscheidung getroffen haben.
Uns war aber wichtig, die Fraktionen so schnell und so umfassend wie möglich zu informieren, um von Anfang an eine möglichst breite parlamentarische Unterstützung zu gewinnen, so wie wir dies bei allen bisherigen Einsatzentscheidungen getan haben.
Für den Erfolg der Operation, für die Sicherheit der Menschen in der Botschaft, für den Schutz der eingesetzten Soldaten war es zugleich unumgänglich, die Vorbereitung und Durchführung des Einsatzes geheimzuhalten. Das war ein schwieriger Abwägungsprozeß: einerseits so viel Information wie möglich - im Hinblick auf die Entscheidung, die das Parlament heute zu treffen hat, nämlich die nachträgliche Zustimmung zu der Enscheidung der Bundesregierung -, andererseits keine Gefährdung der Operation durch diese Information. Ich bin dankbar, daß es gelungen ist, diese beiden Aspekte miteinander zu verbinden. Denn bis zu dem Zeitpunkt, an dem unsere Soldaten wieder in der Luft waren, sind Gott sei Dank keine Meldungen über diese Operation hinausgedrungen.
Die Bundesregierung hat sich bei ihrem Vorgehen an der Linie orientiert, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 12. Juli 1994 vorgegeben hat. Weil Gefahr im Verzuge war, konnte und mußte die Bundesregierung die Entscheidung zum Einsatz der Streitkräfte treffen und damit die politische Verantwortung übernehmen.
Ich füge hinzu: Natürlich werden wir uns, Herr Kollege Voigt, in der Regel bemühen, dem Parlament die Entscheidung vorher zu ermöglichen, so wie wir das bei allen anderen Einsätzen gemacht haben. Aber wenn eine vergleichbare Situation entsteht, in der unverzügliches Handeln notwendig ist, wird die Bundesregierung auch in der Zukunft nicht zögern,
Bundesminister Volker Rühe
aus ihrer Verantwortung heraus eine solche Entscheidung zu treffen und den Deutschen Bundestag nachträglich um seine Zustimmung zu bitten.
So rasch wie möglich haben wir dann dem Deutschen Bundestag den Antrag zur Billigung des durchgeführten Einsatzes zugeleitet. Darum geht es heute.
Ich darf noch einmal sagen: Ich bin dankbar für das Vertrauen und die Unterstützung. Natürlich muß die Bundesregierung bei der Information der Fraktionsvorsitzenden Wert darauf legen, sicher sein zu können, daß sie nachher auch eine Mehrheit im Deutschen Bundestag hat. Aber die Information unabhängig von der Einschätzung der Zustimmung zu geben ist, wie ich finde, ein Gebot der politischen Reife in der Demokratie. Es darf kein Zwang zur Zustimmung entstehen. Wir müssen bereit sein, auch jemanden zu informieren, von dem wir vielleicht der Meinung sind, daß er nicht zustimmt. Ich denke, das gehört zu einem guten Umgang miteinander.
Es ist richtig, was Karsten Voigt hier wiederholt hat - der Kollege Kolbow hatte es im Ausschuß gesagt -: Es wird auch dunklere Tage geben, an denen wir zu Entscheidungen gezwungen sind, wo es zu Verlusten kommt. Ich bin heute fest davon überzeugt, daß es dann einen weitgehenden Konsens gibt und man die Sache dann nicht ganz anders sieht, als man sie vorher gesehen hat. Das ist für mich das Wichtigste, was in den letzten Jahren erreicht worden ist. Denn es gibt denjenigen die Sicherheit, die politisch zu entscheiden haben, genauso wie der militärischen Führung und den Soldaten.
Soviel zur Heroisierung: Bei uns gibt es keine Euphorie. Wir sind dankbar und glücklich, daß das so gut abgelaufen ist. Wir sind uns des Risikos bewußt gewesen und wissen, daß nicht alle Operationen, die wir durchzuführen haben, so glücklich verlaufen werden. Dann ist es wichtig, daß dieses Parlament zu solchen Entscheidungen steht, wenn sie notwendig sind. Dafür darf ich mich bedanken.
Die Fähigkeit, im Notfall eigene Staatsbürger im Ausland aus Gefahr für Leib und Leben retten zu können, gehört nach unserer Überzeugung zur grundlegenden Verantwortung eines jeden Staates. Das gilt auch für Deutschland. Wir können uns in Notlagen nicht immer auf Freunde und Partner abstützen.
Wo immer das möglich ist, gehört es natürlich dazu, daß man so etwas auch gemeinsam macht. Aber dazu muß man auch selbst etwas einzubringen haben, man kann nicht erwarten, daß das immer die anderen für einen machen. Es hängt davon ab, wer in der glücklicheren logistischen Situation ist und welche Kräfte er in der Nähe hat. Wir haben Engländern und anderen helfen können, die normalerweise viel mehr Erfahrung haben als wir, weil wir eben in Bosnien diesen Kräfteansatz hatten. Folglich kann man das auch als multilaterale Aktion ansehen. Wir haben das als Bundeswehr durchgeführt, aber eben auch im Interesse der anderen.
Es gehört zum Auftrag unserer Streitkräfte, deutsche Staatsbürger aus Notlagen retten zu können. Im Rahmen der Bundeswehrreform sind wir dabei, die notwendigen Fähigkeiten aufzubauen. Natürlich werden wir all das fortsetzen, was mit Calw und dem Kommando Spezialkräfte verbunden ist. Das ist für die weitere Entwicklung der Bundeswehr ganz wichtig.
Ich möchte kurz darauf hinweisen, daß die Rettungsoperation in ihrem Ablauf plötzlich schwieriger und gefährlicher wurde, als zunächst geplant; denn als unsere Hubschrauber losflogen, hatten wir mit den Amerikanern verabredet, daß sie vor der amerikanischen Botschaft unter dem Schutz von amerikanischen Marineinfanteristen und amerikanischen Kampfhubschraubern Apache aus der Luft landen sollten. Dann wurde diese Möglichkeit abgeschnitten, weil die Amerikaner ihrerseits - die Lage wurde zu gefährlich - die Evakuierung ihrer eigenen Staatsbürger gestoppt haben.
Ich bin sehr dankbar, daß in einem engen Einvernehmen zwischen dem Führungszentrum und dem Kommandeur vor Ort trotzdem eine andere Möglichkeit gefunden wurde. Ich hätte das von Deutschland aus nicht befehlen können. In dieser Situation muß man Vertrauen zur Lageeinschätzung der Soldaten vor Ort haben. Ich bin stolz darauf, wie das dort ohne jeden Schutz vom Boden aus - dieser ist normalerweise die Voraussetzung für das Landen von Hubschraubern - bewältigt worden ist. Unsere Soldaten haben allein mit dem Eigenschutz der 25 deutschen Jäger diesen Einsatz durchgeführt. Dafür sind wir ganz besonders dankbar.
Ich denke, die Soldaten der eingesetzten Truppenteile und in den beteiligten Stäben haben bewiesen, daß sie professionell und routiniert auch kritische Lagen meistern können. Die Teilstreitkräfte - den Begriff Waffengattungen gibt es gar nicht, Frau Beer; Sie sind nun schon so lange im Verteidigungsausschuß und sollten sich darüber informieren - Heer, Marine und Luftwaffe sowie der Sanitätsdienst haben vorbildlich zusammengearbeitet.
Ich möchte an dieser Stelle meinen besonderen Dank an den Generalinspekteur, General Bagger, richten, der mir in dieser schwierigen Situation - es war das erste Mal, daß ein Verteidigungsminister als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt damit verantwortlich konfrontiert war - ein sehr besonnener und sehr guter Berater zu jeder Zeit gewesen ist.
Bundesminister Volker Rühe
Ausschlaggebend war aber das umsichtige und eigenverantwortliche Handeln der militärischen Führer vor Ort, auch beim unvermeidlichen Gebrauch ihrer Schußwaffen. Mir wird in der öffentlichen Berichterstattung eigentlich viel zuviel Wert auf die Tatsache gelegt, daß die Soldaten von ihrer Schußwaffe Gebrauch gemacht haben. Das ist doch eigentlich völlig normal.
Viel wichtiger als der Schußwaffeneinsatz ist, wie innerhalb weniger Stunden, in einer halben Nacht die Logistik bereitgestellt und die Motivation der Soldaten erreicht wurde. Das sollten wir an dieser Stelle einmal festhalten. Im übrigen sollten wir das nicht besonders diskutieren; denn die Hemmschwelle sollte nicht zu hoch angelegt sein.
In einer anderen Situation habe ich den Soldaten einmal gesagt: Wenn es eurer eigenen Sicherheit dient, dann stellt keine politischen Überlegungen an, ob es gewünscht wird, daß ihr von der Schußwaffe Gebrauch macht. Die Hemmschwelle darf allerdings auch nicht zu niedrig angelegt werden. Ich sage noch einmal: Die Soldaten haben in dieser Situation genau das Richtige gemacht, sie waren umsichtig und eigenverantwortlich.
Die deutschen Soldaten, die dort eingesetzt wurden, sind keine Elitesoldaten, keine Kommandosoldaten gewesen. Manche sprechen immer noch über die Zweiklassenarmee, deshalb sage ich Ihnen: Das waren ganz normale Soldaten der Bundeswehr; das Sicherungskommando sind Jäger aus Donaueschingen gewesen. Das zeigt, wie gut die Ausbildung unserer Soldaten ist.
Ihre Ausbildung bestand aus einer zehnwöchigen Ausbildung für den SFOR-Einsatz in Bosnien. Dieser Einsatz ist ohne jede weitere Vorbereitungszeit aus dem Stand heraus erfolgreich durchgeführt worden.
Die Operation ist in alleiniger Verantwortung und ausschließlich mit Kräften der Bundeswehr geplant und durchgeführt worden. Wir haben unsere Maßnahmen aber eng mit wichtigen Verbündeten, insbesondere den USA, Frankreich, Großbritannien und Italien koordiniert. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Mein Dank - das sage ich auch als Verteidigungsminister - gilt auch Kroatien, Serbien und Montenegro, die uns ganz unkonventionell mit den Einflugmöglichkeiten und mit der Versorgung unserer Hubschrauber geholfen haben.
Anderenfalls wäre die Operation sehr schwierig gewesen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lippelt?
Ja, bitte.
Da Sie dermaßen ins Detail gehen, möchte ich doch gerne wissen: Sprach irgend etwas dagegen, sich genauso wie die Amerikaner zu verhalten, nämlich wegen steigender Gefährlichkeit die Aktion in dem Moment abzubrechen und am nächsten Tage, so wie es auch die Amerikaner gemacht haben, nachzuholen? Ich frage dies nur, damit kein falscher Ton in die Debatte kommt.
Die Amerikaner haben an der Stelle, die bekannt war und wohin deswegen Leute mit Waffen kamen, die Operation abgebrochen. Wir haben den Weg gewählt, an einer völlig unbekannten Stelle zu landen. Das hat letztlich unsere Sicherheit ausgemacht, daß wir, für die anderen völlig unvorhersehbar, plötzlich an einer ganz anderen Stelle gelandet sind. Die Hubschrauber haben im Schnitt zwei Minuten auf dem Boden verbracht. Dann sind sie wieder mit den Geretteten abgehoben. Ich denke, das war unter diesen Bedingungen die völlig richtige Entscheidung.
Ich möchte auch die gute Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt betonen.
Was hier aus der dritten und vierten Reihe erzählt wird, ist alles Quatsch. Wenn es ernst wird - und das war eine ernste Situation -, dann steht alles andere zurück.
Das war auch so in dieser Situation.
Genauso, wie ich die deutschen Soldaten gelobt habe, möchte ich auch den deutschen Botschafter und den Gesandten loben. Sie haben auf das engste mit den Militärs zusammengearbeitet. Sie haben den Hubschraubern vom Dach der Botschaft aus die Weisungen gegeben, wie sie landen konnten. Einer unserer Generäle hat, glaube ich, gesagt, es seien wahrscheinlich Reserveoffiziere gewesen, so phantastisch haben der Botschafter und der Gesandte dort mit dem Militär zusammengearbeitet. Ich weiß nicht, ob das der Fall ist; aber ein schöneres Kompliment kann es doch für einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes gar nicht geben.
Ich möchte am Ende dieser Diskussion noch einmal allen Beteiligten danken und noch einmal herzlich darum bitten, daß man sich in der Debatte und auch in der Beschlußfassung hier im Deutschen Bundestag an das erinnert, was vor gerade knapp einer Woche stattgefunden hat. Es ist jetzt nicht die Gelegenheit, den einen oder anderen Fight miteinander auszutragen. Vielmehr muß man deutlich machen, daß das deutsche Parlament hinter diesem schwierigen und erfolgreichen Einsatz der Bundeswehr steht.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Gregor Gysi, PDS.
Frau Präsidentin! Herr Bundesverteidigungsminister, ich will nur ganz kurz etwas zu drei Dingen sagen. Ich habe noch immer keine Antwort auf die Frage gehört, warum die - zugegebenermaßen schwache, aber immerhin vorhandene - albanische Regierung nicht vorher informiert worden ist. Das ist ein völkerrechtlich unbedingt erforderlicher Akt. Es gibt keine Erklärung, warum das nicht geschehen ist.
- Seien Sie mal ein bißchen vorsichtig. - Allein die Begründung, daß eine Regierung schwach ist, reicht nicht aus, um sie in solchen Situationen nicht fragen zu müssen. Das wäre eine ziemlich gefährliche Einteilung der Länder und der Regierungen dieser Welt.
Das zweite ist: Ich finde, eines müßten Sie sich doch noch einmal überlegen. Ein Soldat, der in einem militärischen Einsatz ist, wird, wenn sein Leben gefährdet ist, sicherlich von der Schußwaffe Gebrauch machen. Aber ich bezweifle, ob es von der Politik klug ist zu sagen: Die Schwelle darf nicht zu hoch gesetzt werden. Ich glaube, die Aufgabe der Politik besteht darin, zu sagen, daß die Schwelle ziemlich hoch gesetzt werden muß.
Alles andere ist, auch in der Öffentlichkeit, sehr mißverständlich.
Das dritte - das ist für mich das entscheidende; deshalb habe ich diese Kurzintervention angemeldet -: Sie haben mehrfach erklärt, daß alle Fraktionsvorsitzenden vorher informiert worden sind. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Bundesverteidigungsminister, daß Sie darauf hingewiesen haben, daß Information nicht bedeutet, den Betreffenden sofort eine Zustimmung abverlangen zu können, sondern daß Information bedeutet, daß man eine gewisse Disziplin abverlangen kann, wenn es um Geheimhaltung geht. Im übrigen muß dann aber danach die Entscheidung getroffen werden. Dafür bin ich dankbar, denn alles andere würde solche Informationen in Zukunft ungeheuer erschweren, ja fast unmöglich machen.
Aber ich weise darauf hin - weil ich in der Öffentlichkeit vielfach darauf angesprochen werde -, daß dieser Bundestag einen Beschluß gefaßt hat, wonach der Vorsitzende der Abgeordnetengruppe der PDS die Rechte eines Fraktionsvorsitzenden hat. Daraus ist in der Öffentlichkeit entnommen worden, daß auch der Vorsitzende der Abgeordnetengruppe der PDS vorher informiert worden ist. Ich lege Wert darauf festzustellen, daß das nicht so war.
- Ob Sie das richtig oder falsch finden, interessiert mich im Augenblick gar nicht. Ich möchte nur festhalten, daß es nicht so war, weil ein falscher Eindruck in der Öffentlichkeit entstanden ist. Ich halte
das - das darf ich an dieser Stelle sagen - für problematisch, weil es bedeutet, daß bei einer Entscheidung, die laut Bundesverfassungsgericht das Parlament zu treffen hat, von vorneherein eine Gruppe im Parlament ausgenommen und als nicht zuständig behandelt wird. Sie sollten das noch einmal überdenken.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht, SPD- Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es fällt einem heute schwer, den Soldaten noch einmal Dank zu sagen - nicht nur, weil es heute schon sehr oft geschah, sondern auch angesichts des Heldenepos, das die Boulevardpresse in den letzten Tagen inszeniert hat. Ich tue es aber dennoch und möchte insbesondere hervorheben, daß die Soldaten der Bundeswehr ihre Aufgabe routinemäßig und ohne jede Rambo-Mentalität gelöst haben.
Es gibt wahrhaftig keinen Grund, diese Rettungsaktion als Beleg für eine unterstellte Militarisierung deutscher Außenpolitik heranzuziehen.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die humanitäre und politische Notwendigkeit dieses Einsatzes „out of area". Dennoch stellt sich neben jedem Pragmatismus, der in solchen Fragen notwendig ist, die Frage nach der Rechtsgrundlage einer solchen militärischen Operation. Ist dieser Einsatz zum Beispiel durch Art. 51 der UN-Charta gedeckt oder nicht? Worin bestehen die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages bei einem solchen Einsatz? Ich möchte die Kollegen von der Koalition bitten - auch wenn dieser Vorschlag aus der „Schmuddelecke" des Parlamentes gekommen ist -, die Anregungen von Frau Gysi aufzunehmen und einmal darüber nachzudenken, inwieweit wir dazu gezwungen sind, eine stärkere gesetzliche Regelung zu finden.
Offenbar herrscht innerhalb der Koalitionsparteien bei der Interpretation Vielfalt. Herr Lamers hat sich in der Weise geäußert, daß die heutige nachträgliche Bestätigung des Deutschen Bundestages überhaupt nicht notwendig sei -
- dann habe ich Sie falsch verstanden -, während die Bundesminister für Verteidigung und für Auswärtiges Wert darauf legen, daß der Deutsche Bundestag diese Operation heute nachträglich billigt.
Dr. Eberhard Brecht
Herr Glos flüchtet sich in einen rechtsfreien Raum, indem er sagt, die Bundesregierung müsse jenseits des Parlamentes einen viel größeren Spielraum für militärische Operationen „out of area" erhalten.
Mit dem Hinweis auf ein vermeintlich legalistisches Politikverständnis, auf eine überzogene Kasuistik und auf eine Tendenz zur Überreglementierung wird der Wunsch der Opposition nach einem Begleitgesetz für Auslandseinsätze bisher abgewiesen. Herr Nolting hat sich heute entsprechend geäußert.
Ich denke, daß wir in diesem Bundestag eine ganze Reihe von Dingen regeln, bei denen man sich als Normalbürger fragt: Besteht denn ein Regelungsbedarf? Ich denke zum Beispiel an die Regelung, welche Höhe Kleiderhaken in Kindergärten haben müssen, oder an die Tatsache, daß die Stadt Bonn jüngst 40 000 Mark für einen neuen Handlauf des Treppengeländers des Rathauses ausgeben mußte, nur weil der Gesetzgeber einen 10 Zentimeter höheren Handlauf vorschreibt. Nein, es geht nicht um läppische Details, sondern um die Obhutspflicht, die wir gegenüber den Soldaten der Bundeswehr haben. Was wäre denn passiert, wenn die Evakuierung aus Tirana in einem Blutbad geendet wäre? Jede Regierung wäre in einem solch schrecklichen Fall daran interessiert, eine klare Rechtsgrundlage für ihr Handeln gehabt zu haben und die Verantwortung mit der Legislative teilen zu können.
Eine gesetzliche Regelung würde die Handlungsfähigkeit einer Regierung insofern erweitern, als die Legitimität von Operationen wie dieser hier außer Frage steht. Öffnen Sie sich bitte, meine Damen und Herren von der Koalition, diesem dringenden Appell der SPD-Bundestagsfraktion! Beteiligen Sie sich an der Erarbeitung eines gemeinsamen Entwurfs für ein Beteiligungsgesetz der Bundeswehr, das in schlanker Form den vom Bundesverfassungsgericht und von der UNO-Charta gesetzten Rahmen ausfüllt.
Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zur Evakuierung aus Tirana, die von der innenpolitischen Situation in Albanien veranlaßt wurde, anfügen. Mit Sicherheit ist der Zusammenbruch der kriminellen Anlagefirmen nicht die alleinige Ursache der anarchischen Situation in Albanien. Dennoch symbolisiert der Zusammenbruch dieses nationalen Roulettspiels, an dem auch die politische Klasse beteiligt war, die Schwäche der albanischen Demokratie. Es fehlt an einer unabhängigen und schlagkräftigen Justiz, an funktionierenden Märkten und an einer politischen Kultur, die so massive Wahlfälschungen wie im vergangenen Jahr unmöglich gemacht hätten. Sicherlich war die albanische Gesellschaft schlecht beraten, sich auf eine Präsidialdemokratie einzulassen, die Sali Berisha zur autokratischen Schicksalsfigur für das gesamte Gemeinwesen gemacht hat.
Möglicherweise war auch die deutsche Politik zu lange und zu ausschließlich auf die Demokratische Partei als Garant gegen ein Wiedererstarken kommunistisch orientierter Strömungen fixiert. Mich hat es schon gewundert, worüber wir in letzter Zeit hinweggesehen haben. Nicht jede deutsche Beratung, wie zum Beispiel im Fall des verunglückten Wahlgesetzes, hat zur Stabilisierung des Landes beigetragen.
Dennoch weise ich den pauschalen Vorwurf zurück, die Bundesrepublik Deutschland oder ein anderes westliches Land sei für den staatlichen Kollaps in Albanien verantwortlich zu machen.
Die Beschlüsse der EU-Außenminister in Apeldoorn können aus meiner Sicht zur Deeskalation beitragen. Die Minister haben der Versuchung widerstanden, in Albanien militärisch zu intervenieren. Die Bundesregierung hat auch unsere Unterstützung für eine zivile EU-Mission, die dazu beitragen soll, die staatliche Ordnung wiederherzustellen. Sowie es die Bedingungen in Albanien erlauben, sollte auch wieder humanitäre Hilfe in Form von Nahrungsmitteln und Medikamenten gewährt werden.
Auch aus politischen Gründen können und dürfen wir uns von Albanien nicht abwenden: Ein dauerhaft instabiles Albanien kann zum Exporteur von Krisen nach Makedonien und in den ohnehin gespannten Kosovo oder gar nach Griechenland avancieren. Der Erhalt der staatlichen Integrität des Landes sowie seine innenpolitische Stabilisierung und Demokratisierung sollten daher ganz oben auf der Agenda internationaler Bemühungen stehen.
Auch die Bundesregierung sollte das Ihre tun. Gravierende Wahlmanipulationen wie im vergangenen Jahr müssen künftig verhindert werden. Bei den für Juni geplanten Neuwahlen des Parlaments sollten die OSZE oder andere internationale Beobachter eine flächendeckende Kontrolle sicherstellen. Albanien wäre zudem gut beraten, die Frage nach der Zukunft des Präsidenten erst nach den Wahlen zu stellen. Unabhängig von der Bewertung der Rolle des Präsidenten in den letzten Jahren wäre ein Machtvakuum derzeit kontraproduktiv. Ich glaube auch, daß wir nicht gut beraten wären, hier von außen Ratschläge erteilen zu wollen.
In der Öffentlichkeit gibt es derzeit sowohl die Forderung, Albanien so früh wie möglich und ohne Vorbehalt wirtschaftlich massiv zu unterstützen, als auch die Auffassung, dieses Land habe nun genug Hilfen von außen erfahren und seine Chance verspielt. Ich selbst plädiere für eine konditionierte Hilfe, die an Auflagen des Europarates, der OSZE, der EU, des IWF und der Weltbank zu binden ist. Geld allein reicht nämlich nicht und könnte am Ende bei mafiosen Firmen landen.
Wir, das heißt Deutschland und die EU, haben gar keine Wahl, ob wir zur Beilegung der Krise Albaniens beitragen wollen oder nicht. Angesichts der drohenden Folgen müssen wir handeln. Nichtstun und Aktionismus sind die falsche Alternative. Europa ist
Dr. Eberhard Brecht
eine Stabilitätsgemeinschaft, aus der sie Albanien nicht einfach entlassen kann.
Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Paul Breuer, CDU/CSU- Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich während der Debatte ab und zu gefragt: Wie würde sie eigentlich in einem anderen europäischen Parlament, beispielsweise in Frankreich, in Großbritannien und in den Niederlanden, geführt?
Ich frage mich deshalb, weil hier beispielsweise über die Frage des Verständnisses von Normalität gestritten worden ist.
Was ist Normalität im Zusammenhang mit einem solchen Einsatz? Normalität ist, daß wir wissen, daß dieser Einsatz völkerrechtlich völlig einwandfrei war.
Normalität ist, daß wir wissen, daß dieser Einsatz auf der Basis unserer Verfassung völlig einwandfrei war. Normalität ist, daß wir registrieren - in diesem Zusammenhang finde ich den Beitrag des Kollegen Duve sehr wichtig -, daß dieser Einsatz eigentlich keine militärische Zielsetzung hatte. Er verfolgte vielmehr eine humanitäre Zielsetzung, wobei militärische Mittel eingesetzt wurden. Das alles ist völlig normal.
Es bedarf der Debatte in Deutschland deshalb, weil wir in der Vergangenheit derartige Erfahrungen und damit auch die notwendigen Prägungen in den Prozeduren des Deutschen Bundestages nicht gehabt haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Karsten Voigt?
Sehr gerne.
Herr Kollege Breuer, ich stimme mit Ihnen darin überein, daß es gut ist, daß sich die politische und militärische Führung dieses Landes im Zusammenhang mit diesen Einsätzen unzweifelsfrei an den verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Normen orientiert. Wenn Sie hinzufügen würden, daß dies in der deutschen Geschichte eben nicht die Normalität war und daß wir uns in Zukunft an diese Normen halten, die dann zur neuen Normalität werden sollen, dann habe ich mit dem Begriff keine Schwierigkeiten.
Der Begriff der Normalität verkörpert in Deutschland und in anderen Ländern auch andere Erinnerungen, und zwar nicht die Orientierung an Normen, sondern an einer anderen Normalität, von der wir gerade abweichen, an die wir uns erinnern können, an der wir uns aber nicht orientieren dürfen.
Herr Kollege Voigt, ich bedanke mich für diesen Hinweis, weil wir damit gemeinsam einem Mißverständnis entgegentreten können.
Die Normalität, von der wir beide in diesem Zusammenhang reden, ist die Normalität dieses Staates; das ist die Normalität der Bundesrepublik Deutschland. Wir begründen hier eine neue Tradition. Dessen sollten wir uns bewußt sein. Das ist eine andere Normalität als die, die in anderen Zeiten der deutschen Geschichte praktiziert wurde.
Wenn wir alle das so empfinden, dann fällt es uns leichter, in vollem Umfange zu verstehen, auf was sich der Bundesverteidigungsminister und der Bundesaußenminister am vergangenen Wochenende eingelassen haben. In dieser absoluten Notsituation - wenige Stunden vorher war gar nicht absehbar, daß in Tirana die Menschen, ob nun aus Deutschland oder aus anderen Ländern, in eine solche Situation kommen würden -, entstand ein Handlungszwang.
Wir müssen dafür Sorge tragen, daß wir einem solchen Handlungszwang auch durch militärisches Handeln in der Verantwortung der Bundesregierung und in der Verantwortung des Parlaments entsprechend Rechnung tragen können. Das ist für mich genauso ein Stück der Normalität.
Ich will mich an dieser Stelle herzlich beim Bundesaußenminister und beim Bundesverteidigungsminister bedanken.
Ich möchte mich bedanken bei der militärischen Führung und den Soldaten, die diesen risikoreichen Einsatz ausgeführt haben.
Ich denke, daß der Einsatz nicht nur des Dankes, sondern auch einer Würdigung bedarf,
einer Würdigung insofern, als manchen Vorurteilen, die gegenüber der Bundeswehr bestehen, entgegengewirkt werden kann, wenn man sich diesen Einsatz genau anschaut. Das ist auch für die Kollegen wichtig, die in dieser Debatte manche kritischen Anfragen gestellt haben.
Der Waffeneinsatz bei der Aktion war nicht nur absolut gerechtfertigt; vielmehr war er insofern unabweisbar, als man die Gefährdung sowohl für die Evakuierten als auch für die Evakuierenden und darüber
Paul Breuer
hinaus für die Fahrzeuge, ohne die eine Evakuierung nicht hätte stattfinden können, mit anderen Mitteln gar nicht hätte ausschließen können.
Im übrigen: Diese Gefährdung hätte auch trotz Waffeneinsatz stattfinden können. Wir müssen deutlich sagen, daß bei diesem Einsatz die deutschen Soldaten Glück gehabt haben. Es war das Glück des Tüchtigen. Aber auch der Tüchtige und noch so gut Ausgebildete und umsichtig Handelnde kann dabei genausogut Pech haben. Wenn wir diesmal Glück gehabt haben, dann sage ich das mit Erleichterung und Freude.
Ich möchte aber einschränkend sagen, daß das an anderer Stelle, in einer anderen Situation möglicherweise anders ist.
Ich finde es gut - das möchte ich in diesem Zusammenhang sagen; das war gestern im Ausschuß und auch heute in der Debatte so -, daß die Kollegen von der SPD gesagt haben: Wir haben, als wir in Kenntnis gesetzt worden waren und das für vernünftig hielten, die volle Verantwortung für das, was passiert, mittragen wollen; auch wenn es anders gelaufen wäre, hätten wir zu dieser Verantwortung gestanden. Ich möchte mich auch dafür bedanken, daß das hier gesagt worden ist.
Das ist ein Stück der Parlamentskultur, die wir benötigen, und auch ein Stück der Normalität, die wir hier eben gemeinsam definiert haben.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Abschluß etwas zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sagen. In diesem Antrag wird davon gesprochen, daß der Ausbildung von Krisenreaktionskräften und in diesem Zusammenhang des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr ein Ende gesetzt werden solle.
Ich frage mich: Mit welcher Begründung eigentlich, Frau Kollegin Beer?
Etwa mit der Begründung, daß Sie der Meinung sind, daß diejenigen, die diese Kräfte einsetzen, also die Bundesregierung und dieses Parlament, ihrer Verantwortung nicht nachkommen könnten? Soll es das heißen?
Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland sich nicht selbst einsetzen, sondern daß dafür die Bundesregierung die Verantwortung trägt und daß sie dafür die Mehrheit im Deutschen Bundestag benötigt! Es ist
doch eine völlige Fehlkonsequenz, wenn Sie in einem tiefen Mißtrauen gegen deutsche Streitkräfte verharren,
in Kenntnis der historischen Erfahrungen mit den Streitkräften der Bundesrepublik Deutschland, mit der Bundeswehr, die auch in der jetzigen Situation Anlaß dazu geben, Vertrauen zu haben und nicht etwa das Mißtrauen weiter zu pflegen. Ich möchte Sie herzlich bitten, das zu tun und nachzuvollziehen.
Die Debatte in Ihrer Fraktion, verehrte Frau Kollegin Beer, geht zum Teil ja schon ein ganzes Stück darüber hinaus. Das ist mir auch beim Debattenbeitrag des Kollegen Poppe deutlich geworden. Vielleicht bekommen wir es ja noch hin, daß Sie in der Lage sind, die ideologischen Hürden, die Sie davon trennen, zu übersteigen. Ich würde mich zumindest sehr darüber freuen. Dann hätten wir den Konsens im Parlament, der in solchen Fragen in anderen europäischen Parlamenten völlig normal ist.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen heute - darüber sind wir froh -, daß die Evakuierung aus Tirana erfolgreich verlaufen ist und daß die gefährdeten Menschen gerettet werden konnten. Als die Entscheidung durch die Bundesregierung, durch den Bundeskanzler und die zuständigen Minister, getroffen wurde, wußte aber von diesem guten Ausgang niemand.
Formal war das Parlament - Herr Rühe, Sie haben darauf hingewiesen - nicht mit der Entscheidung verbunden, aber mit dem Risiko dieses Einsatzes allemal. Wir im Parlament sind mit der Entscheidung auch nach dem Tag der Evakuierung durch unsere nachträgliche Zustimmung verbunden. Ich will noch einmal aufnehmen, was schon gesagt worden ist: Wir wären mit dieser Entscheidung auch verbunden, wenn sie schlecht ausgegangen wäre.
Hier würde sich keiner, der informiert wurde und nicht widersprochen hat, aus der Verantwortung ziehen können.
Leider - ich sage das aus einem bestimmten Grund - kam es in dieser Woche in Detmold zu gewalttätigen Angriffen von Bundeswehrangehörigen
Walter Kolbow
in Uniform gegen ausländische Mitbürger, zu Angriffen, die wir alle aufs schärfste verurteilen.
Leider haben sich Vermutungen im Verteidigungsausschuß, in dem wir gestern umfänglich darüber diskutiert haben, bestätigt: Bei zwei der festgenommenen Soldaten sind rechtsextreme Schriften der „Nationalen Front" gefunden worden, was einen individuellen spontanen Aktionshintergrund zumindest bei diesen zweien ausschließt.
Die hervorragende Leistung in Tirana und das, was in Detmold passiert ist, sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist aber eindeutig, daß einerseits die Überhöhung des Einsatzes der Soldaten in Albanien - nicht von seiten der Regierung und der Bundeswehr, sondern von Teilen der veröffentlichten Meinung - nicht die richtige Schlußfolgerung ist. Andererseits dürfen die Vorfälle in Detmold nicht zu pauschalen Vorwürfen gegen die Soldaten oder die Bundeswehr mißbraucht werden.
Im Zusammenhang mit der Information durch die Bundesregierung zum konkreten Anlaß unserer Debatte stelle ich fest, daß es eine Information gegeben hat, die in Ordnung sowie für die nachträgliche Zustimmung zwingend erforderlich war und die den Erfordernissen der Beteiligung des Parlamentes entsprochen hat.
Die gestrige Information und Nachbereitung im Verteidigungsausschuß - auch in der minutiösen und sauberen Art des Generalinspekteurs - hat der Zusammenarbeit auch auf dem verfassungsrechtlichen Boden zwischen Parlament und Exekutive Rechnung getragen. Auch auf dieser Basis ist die Billigung, die wir heute aussprechen, gerechtfertigt.
Ebenso stehen die militärischen Abläufe heute der Zustimmung des Parlaments nicht entgegen. Der Einsatz war trotz Knappheit der Zeit sorgfältig vorbereitet und wurde umsichtig, gekonnt und pragmatisch durchgeführt. Auch die Erteilung des Schießbefehls war gerechtfertigt. Unsere Soldaten haben von der Schußwaffe Gebrauch machen müssen, weil es notwendig und geboten war in Reaktion auf die von albanischer Seite begonnene Schießerei, bei der für die zu Evakuierenden und unsere Soldaten Gefahr für Leib und Leben bestanden hat. Einer unserer Hubschrauber wurde getroffen. Es ging nicht um das Freischießen, es ging um das Retten von Menschenleben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Dabei hatten wir Glück. Unsere Soldaten hatten das Glück, das auch der Verteidigungsminister als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt braucht; denn ohne Fortune werden solche gebotenen Einsätze nicht zu bestehen sein.
Ich unterstreiche das, was zur Ausbildung gesagt worden ist. Ich bin froh, daß sich der Verteidigungsausschuß seiner Pflicht, die Ausbildung zu begleiten, nicht entzieht, daß er vor Ort - mit Ihnen, Frau Kollegin Beer - immer auch kontrolliert hat, ob die Ausbildung den Einsätzen entsprechend richtig und auch inhaltlich so ist, wie sie sein muß. Sie ist es; dieser Einsatz hat es gezeigt.
Meine Damen und Herren, ich möchte darauf hinweisen, daß wir uns auf rechtlich ungesichertem Boden befinden. Dazu ist das Richtige hier vom Kollegen Brecht gesagt worden. Es genügt nicht, Herr Kollege Nolting, hier zu meinen, das sei gewohnheitsrechtsfähig. Wir befinden uns hier auf nicht gewohnheitsrechtsfähigem Gebiet;
denn es geht um das Leben von Soldaten. Dies ist nun einmal nicht mit Gewohnheitsrecht in Einklang zu bringen, sondern bedarf klarer gesetzlicher Regelungen, die nicht überreguliert sein sollen, sondern, modern ausgedrückt, schlank sein können, die aber den Einzelfällen in der Vorbereitung der nachträglichen Zustimmung und Billigung durch das Parlament gerecht werden müssen.
Ich danke für die Geduld.
Nach § 31 unserer Geschäftsordnung erteile ich nun das Wort zu einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung dem Abgeordneten Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin zutiefst betroffen von der Art und Weise, wie die Bundesregierung mit dem Völkerrecht und dem Verfassungsrecht umgeht. Wie wenig von ihrer Seite Bereitschaft besteht, in diesem Zusammenhang die Frage der Rechtsgrundlagen zu stellen und als Maßstab politischen Handelns anzuerkennen, erschreckt mich und bestimmt mein Abstimmungsverhalten.
Es ist für mich eindeutig, daß der Einsatz der Bundeswehr verbindliches Völkerrecht verletzt. Art. 2 Ziffer 4 der Charta der Vereinten Nationen enthält ein sehr rigoroses Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen. Die Charta kennt nur zwei Ausnahmen von diesem Verbot. Die erste Ausnahme ist ein Beschluß des Sicherheitsrates nach Art. 39, in dem ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung festgestellt wird und Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta ausgelöst werden. Ein solcher Fall liegt nicht vor. Die zweite Ausnahme ist das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta. Selbstverteidigung setzt einen bewaffneten Angriff voraus. Auch dieser Fall liegt nicht vor.
Als Jurist weiß ich natürlich, daß versucht wird, das rigorose Gewaltverbot aus allen möglichen Gründen aufzuweichen und zu relativieren. Von Vertretern des Auswärtigen Amtes wurde im Rechtsausschuß von „Nothilferecht" gesprochen. Aber das Völkerrecht kennt weder ein solches „Nothilferecht"
Dr. Uwe-Jens Heuer
noch ein Recht auf Polizeiaktionen in anderen Staaten.
Wir haben in diesem Haus immer wieder über das Problem der Verfassungsmäßigkeit von Militäreinsätzen außerhalb des NATO-Gebiets gesprochen. Es erschreckt mich - auch das bestimmt mein Abstimmungsverhalten -, daß jetzt, wenn der erste wirkliche Kampfeinsatz erfolgt und die ersten Schüsse fallen, das Verfassungsproblem überhaupt nicht gestellt wird.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Bundeswehreinsätzen festgestellt, daß Art. 24 des Grundgesetzes nur die Grundlage für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen abgibt, die im Rahmen und nach den Regeln eines Systems kollektiver Sicherheit stattfinden. Alleingänge Deutschlands hat das Bundesverfassungsgericht ausgeschlossen. Ein solcher Alleingang hat hier aber stattgefunden. Deshalb sind alle Fragen zu „Gefahr im Verzuge" völlig überflüssig; denn in diesem Falle handelt es sich nicht um eine Anwendung dieser Verfassungsbestimmung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung andere Fragen geregelt.
Natürlich stelle ich mir wie Sie alle auch die Frage, ob es berechtigt ist, juristische Prinzipien auf Kosten einer möglichen Gefährdung von Menschenleben durchzusetzen. Meine Befürchtung aber - das ist die Grundlage meines Abstimmungsverhaltens - ist, daß in Wahrheit mit dieser Aktion wie auch bei früheren Aktionen ein geeignetes Objekt gesucht wurde, um im Namen der Rettung von Menschen durch scheinbar einleuchtende Einzelentscheidungen grundlegende Rechtsprinzipien schrittweise auszuhebeln.
Das drückt sich auch in den Formulierungen von der gewohnheitsrechtlichen Verfestigung aus, die heute gebraucht wurden, und in der Formulierung von einer neuen Tradition, die hier begründet würde. Die genannten Rechtsprinzipien sollen aber das friedliche Zusammenleben der Völker vor einem Rückfall ins Faustrecht des Stärkeren sichern.
In der FAZ vom 17. März dieses Jahres wurde dem Wochenende eine besondere Bedeutung für die Geschichte der Bundeswehr beigemessen. Es ist dort von einer grundlegenden Veränderung in den Verhältnissen zwischen militärischen und zivilen Verfassungsorganen die Rede. Es geht um sehr ernste Dinge, die unsere Gewissensentscheidung verlangen.
Die Bundesregierung mutet uns zu, einen Verfassungs- und Völkerrechtsbruch nachträglich zu sanktionieren. Ich kann dabei nicht mitwirken. Ich werde dagegen stimmen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zum Einsatz deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher Staatsbürger und unter konsularischer Obhut befindlicher Staatsangehöriger anderer Nationen aus Albanien, Drucksache 13/ 7265.
Der Ausschuß empfiehlt, dem Antrag der Bundesregierung auf der Drucksache 13/7233 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? -
Die Beschlußempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und den meisten Stimmen aus den Reihen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen bei zwei Gegenstimmen der SPD, einer Gegenstimme vom Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Gruppe der PDS sowie bei etlichen Enthaltungen.
- Weil es in diesem Fall wichtig ist, bitte ich darum, die Enthaltungen noch einmal zählen zu dürfen. - Es gab sieben Enthaltungen aus der Gruppe der PDS und sechs Enthaltungen des Bündnisses 90/Die Grünen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7286. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag wurde abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/7271. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Öffentliche Diskussion über einen Ratgeber für Sozialhilfeempfänger
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Ulrich Heinrich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der von meiner Fraktion beantragten Aktuellen Stunde geht es nicht um die Sozialhilfe an sich. Es geht auch nicht darum, ob die Sozialleistungen zu hoch oder zu niedrig sind, sondern es geht bei uns in der Aktuellen Stunde um eine Informationsbroschüre der SPD-Bundestagsfraktion, die sich mit der Sozialhilfe und mit der Aufklärung der Menschen, die Sozialhilfe beantragen können oder sollen, auseinandersetzt.
In dem Vorwort des Fraktionsvorsitzenden Scharping steht:
In Deutschland, in einem der wohlhabendsten Länder dieser Welt, leben etwa acht Millionen Menschen, die als arm gelten.
Hinzuzufügen wäre: „oder von der SPD mit Tricks armgerechnet werden" .
Es kann hier nicht darum gehen, daß die angesprochenen Menschen nicht auch ein Recht auf Aufklärung und Information hätten, überhaupt nicht!
Menschen, denen Sozialhilfe zusteht, müssen wissen, welche Hilfe sie in Anspruch nehmen können. Das ist die eine Seite der Medaille.
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, Sie bewegen sich mit Ihren Vorschlägen zumindest am Rande des Gesetzes und des gesetzlich Vertretbaren
und wollen die andere Seite der Medaille überhaupt nicht wahrhaben.
Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten, und das sollten gerade die Politiker, die sich dem Sozialen besonders verpflichtet fühlen, beispielhaft vorleben. Leider ist es hier nicht der Fall. Dazu nur drei Beispiele aus dem SPD-Ratgeber, die exemplarisch für die Ratschläge stehen, mit denen sich die SPD hart am Rande der Legalität bewegt.
Ich zitiere:
Wenn Ihr Geldvermögen, das Sie dem Sozialamt gemeldet haben, über den Freigrenzen liegt, müssen Sie es zuerst verbrauchen, bevor Sie Sozialhilfe bekommen.
Dabei sind Sie nicht gezwungen, auf dem Sozialhilfeniveau zu leben. Sie können damit tun, was Otto Normalverbraucher auch tun würde: in Urlaub fahren, eine Wohnungseinrichtung oder Hausrat kaufen oder Schulden tilgen.
Das Sozialamt kann Ihnen dann nicht Unwirtschaftlichkeit vorwerfen.
Was für ein Staatsverständnis steckt denn hinter diesem SPD-Tip?
Es wird damit praktisch dazu aufgerufen, dem Sozialamt die Vermögensverhältnisse nicht vollständig offenzulegen oder zumindest vorher vollendete Tatsachen zu schaffen, die die Sozialhilfebedürftigkeit erst begründen.
- Was soll diese dumme Schreierei, Herr Kollege? Sie waren in Ihren Zwischenrufen auch schon einmal intelligenter.
Es führt kein Weg daran vorbei: Das ist ein offener Aufruf, sich von den echten Vermögensverhältnissen her schlauzurechnen.
Mein zweites Beispiel: Auch wie man sein Auto vor dem Zugriff des Sozialamtes schützt, wird ausführlich erörtert. Man macht einfach jemand anderen zum Halter und nutzt natürlich das Fahrzeug leihweise selbst weiter. Diese Anleitung steht in dieser Broschüre.
Schämen Sie sich eigentlich nicht? Es ist doch ein Skandal, wie man hier mit öffentlichen Geldern umgeht!
Ein noch schöneres Beispiel bietet die Frage der Schwarzarbeit, die die SPD-Fraktion in diesem Hause immer wieder zu Recht geißelt. Aber welche Empfehlungen gibt sie? Sie sind total überzeugend. Wenn man im Rahmen von Nachbarschaftshilfe gearbeitet hat, sichert man sich einfach ab, daß man kein Geld bekommen hat. Man sichert sich der Frage gegenüber ab, ob man Geld empfangen hat!
Meine Damen und Herren, soll das etwa heißen, daß bei entsprechender Absicherung Schwarzarbeit sehr wohl erlaubt ist? Ist das tatsächlich die logische Folge davon?
Ulrich Heinrich
An diesem Punkt wäre eine deutliche Distanzierung der SPD notwendig gewesen, denn Schwarzarbeit ist verboten, meine Damen und Herren.
Es ist ein Skandal, solche Ratschläge zu geben und gleichzeitig im Plenum - ich wiederhole das - die Schwarzarbeit zu geißeln. Damit schürt die SPD ein überzogenes Anspruchsdenken: Ansprüche, die der einzelne hat, müssen bis zum letzten ausgereizt werden.
Ich sage Ihnen eines: Ihre Devise in dieser Broschüre heißt deutlich: „Nimm, was du kriegen kannst, dann bist du obenauf."
Mit dieser Art und Weise der Information und Politik treten Sie in die Öffentlichkeit. Es ist ein Jammer, was aus dieser SPD geworden ist.
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie sollten sich schämen, Herr Heinrich, daß Sie den Deutschen Bundestag mit einem solchen Quatsch beschäftigen.
Wir sind stolz darauf, daß wir Herausgeber einer solchen Broschüre sind.
Es gibt auch eine Broschüre der Bundesregierung. Ich kann jedem nur empfehlen, sich unsere Broschüre anzusehen, weil sie nach dem Prinzip vorgeht: Sozialhilfeempfänger sind keine Almosenempfänger, die von der Gnade des Staates abhängig sind, sondern sie haben nach § 1 des Bundessozialhilfegesetzes einen Anspruch auf die Sozialhilfe.
Es ist schon peinlich, daß ausgerechnet eine Partei wie Ihre, die an der Seite derjenigen steht, die tage- und wochenlang dafür arbeiten, daß ein Steuerzahler seine Steuerpflichten nicht erfüllt - um das hier einmal zu sagen -, plötzlich gegen die Sozialhilfeempfänger vorgeht.
Dann lassen Sie uns doch einmal eine Aktuelle Stunde darüber machen, wie manche von Ihnen oder Ihnen Nahestehenden manchen Leuten helfen, Steuern zu hinterziehen. Darüber können wir dann gerne reden.
Ich bin es leid, mir von einer Partei, deren Politik dazu geführt hat, daß acht Millionen Menschen in solcher sozialen Not sind, daß sie auf die Sozialhilfe des Staates angewiesen sind, vorhalten zu lassen, wir würden falsche Ratschläge geben.
Sie wollen nicht gegen die SPD vorgehen, sondern Sie wollen gegen die Sozialhilfeempfänger vorgehen. Aber machen Sie das nicht so, wie Sie das jetzt machen, sondern machen Sie eine vernünftige Politik! Dann brauchen wir uns über Sozialhilfe überhaupt nicht zu unterhalten.
Wer stellt denn den Wirtschaftsminister in Deutschland? Doch nicht wir. Wer trägt denn die Verantwortung dafür, daß so viele Menschen in die Sozialhilfe geraten? Jetzt machen wir einen Ratgeber dazu, und Sie beschweren sich auch noch. Wir sagen dazu klipp und klar: Sozialhilfeempfänger sind keine Almosenempfänger. Für uns gilt das, was in § 1 des Bundessozialhilfegesetzes steht: „dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht." Darum geht es, auch bei unserem Ratgeber.
Herr Kollege Heinrich, ich hätte Herrn Westerwelle zugetraut, daß er sich einen solchen Blödsinn ausdenkt und mit Hilfe der „Welt am Sonntag" und der „Bild"-Zeitung, die das dann aufgreifen, in einer Kampagne Vorurteile gegen Menschen schürt, die um ihr Recht kämpfen. Daß Sie sich dafür hergeben, ist beschämend. Daß sich die CDU/CSU-Fraktion dafür hergibt, ist bezeichnend; das wollen wir hier einmal feststellen.
Ich setze mich mit Ihnen gar nicht auseinander, nur in einem Punkt: Reden wir einmal über eheähnliche Lebensgemeinschaften! Auch das haben Sie beanstandet.
Da ist Ihnen, Herr Kollege Heinrich - ich weiß nicht, ob Sie von Beruf Jurist sind, dann hätte Ihnen das nicht passieren dürfen; aber so belehre ich Sie einmal -, aber leider ein Fehler unterlaufen. Das, was in unserem Ratgeber über eheähnliche Lebensgemeinschaften zitiert ist, ist eine Formulierung aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, an dem der
Dr. Peter Struck
damalige Vorsitzende des Senates und Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und heutige Bundespräsident mitgewirkt hat. Das ist eine juristische Bewertung der eheähnlichen Lebensgemeinschaften. Wenn Sie das beanstanden und sagen, das sei unerhört, dann werden Sie sich gefälligst an Herrn Herzog und nicht an uns.
Das Wort hat der Abgeordnete Ulf Fink.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es hätte niemand etwas dagegen einzuwenden, wenn die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Sozialhilfeempfänger in einer vernünftigen Form auf ihre Rechte aufmerksam machen würde. Aber was Sie hier machen, ist, zu versuchen, den Cleversten unter den Sozialhilfeempfängern Tips zu geben, wie sie am besten das Sozialamt bescheißen können. Das machen Sie.
Man sollte sich einmal genau vor Augen führen: Wer ist tatsächlich der Leidtragende der von Ihnen unterstützten Politik? Die Sozialhilfeausgaben sind in den letzten Jahren massiv angestiegen.
- Und zwar auch deshalb, Frau Fischer, weil die Leistungen der Sozialhilfe verbessert worden sind; das finde ich gut und richtig.
Die Wahrheit ist: Die Gemeinden müssen die Sozialhilfe zahlen. Das kostet natürlich eine Menge Geld.
Sie aber fordern die Gemeinden auf, über das hinauszugehen, was sie ohnehin bereits leisten müssen, indem den Leuten gesagt wird: „Tut erst einmal euer Auto weg! Versteckt euer Vermögen! Sagt, daß ihr eure Verwandten nicht mehr - -
- Kleinen Moment. Wenn Sie meinen, das stünde nicht darin, dann will ich Ihnen direkt einmal etwas vorlesen: An die Haushaltsgemeinschaften, in denen Verwandte oder Verschwägerte in einem Haushalt leben und bei denen bei der Berechnung der Sozialhilfe gegenseitige Unterstützung vermutet wird, ergeht der Hinweis, daß es vorkommen kann - ich zitiere -, „daß diese plötzlich ihr gesamtes Geld für sich ausgeben wollen".
Was soll denn das heißen? Das heißt doch, daß Sie den Leuten raten, zu sagen: „Moment mal, plötzlich habe ich überhaupt kein Geld mehr" , obwohl sie es vorher hatten. Das bedeutet doch nichts anderes, als daß die Leute das Sozialamt bescheißen sollen. Das heißt doch nichts anderes.
Und dadurch steigen die Ausgaben an Sozialhilfe extrem an. Die Gemeinden müssen das alles zahlen.
Wo können die Gemeinden sparen?
Sie können doch nur bei den freiwilligen Leistungen sparen, das heißt, beispielsweise bei den Leistungen für Selbsthilfegruppen und für Behinderte, denen sie einmal extra etwas zugute kommen lassen wollen. Es sind die Armsten der Armen, die zu den Leidtragenden werden, weil Sie die Cleversten zu einer Inanspruchnahme der Sozialhilfe veranlassen, die ihnen nicht zusteht. Das genau ist es, was Sie tun.
Insofern fügen Sie dem Konsens in der Bundesrepublik Deutschland einen enormen Schaden zu. Wir wissen doch nach wie vor ganz genau - wir waren es, die das Bundessozialhilfegesetz geschaffen haben -, daß in Deutschland jeder Mensch ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben hat. In den USA ist die Entwicklung schon so weit, daß ab einem bestimmten Zeitraum überhaupt keine Sozialhilfe mehr gezahlt wird. Das haben dort die Republikaner und die Demokraten beschlossen.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie mit Ihrer Politik so weiter machen, zerbricht der Konsens auch in der Bundesrepublik Deutschland. Und das lassen wir nicht zu.
Das Wort hat nun die Kollegin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fink, Sie haben gesagt: Der Konsens zerbricht. Ich will die Frage an Ihre Reihen zurückgeben.
Es ist etwa ein Jahr her, als im Bonner „GeneralAnzeiger" ein Foto zu sehen war, auf dem der Parteivorsitzende und der Generalsekretär der F.D.P. neben einem stolzen Jungliberalen standen. Alle drei lachten sie über die Aufschrift auf dessen T-Shirt, die
Andrea Fischer
da lautete: Steuern sind Diebstahl. - Das finde ich allerdings asozial.
Steuern sind eine Bürgerpflicht. Dazu hat gefälligst auch eine Regierungspartei wie die F.D.P. zu stehen.
Deswegen haben Sie überhaupt kein Recht auf diese Art und Weise Denunziation zu betreiben. Und das ist es, was Sie tun.
Schauen wir es uns noch einmal an: Worin besteht der Skandal? Die SPD hat eine Broschüre erstellt, in der Sozialhilfeempfänger über ihre Rechte aufgeklärt werden.
Davon gibt es ja viele. Sie regt auf, daß diese Broschüre von der SPD ist.
Der Skandal besteht doch nicht darin, daß man die Leute aufklärt, sondern daß dieses Sozialhilferecht so unüberschaubar ist, daß man die Leute aufwendig aufklären muß.
Herr Kollege Fink, Sie selber haben gerade davon gesprochen, daß man dadurch den Cleveren den Zugang zu ihren Rechtsansprüchen ermöglicht. Was ist denn das für ein Recht, bei dem die einen, weil sie gut informiert sind, ihre Ansprüche reklamieren können, und die anderen können es nicht? Wenn Sie nicht wollen, daß die Leute solche Rechtsansprüche geltend machen, dann dürfen Sie sie nicht ins Gesetz schreiben.
Wenn Sie sich aber darüber aufregen, daß Leute ihre Rechtsansprüche wahrnehmen, dann nehmen Sie Ihr eigenes Recht, von dem Sie gerade gesagt haben: „Das war unseres", nicht ernst. Der Skandal liegt darin, daß der elementare Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung im Sozialhilferecht alltäglich verletzt wird.
Das ist der Skandal, daß eine Partei, die von sich selber behauptet, sie sei eine Bürgerrechtspartei, sagt: Wir wollen nicht, daß ihr eure Rechte reklamiert.
Das Sozialhilferecht ist völlig anachronistisch. Sie sind doch an der Regierung. Sie könnten an diesem Sozialhilferecht etwas tun.
In einer Untersuchung, die die deutschen Kommunen selber in Auftrag gegeben haben, wurde herausgefunden, daß zwischen 15 deutschen Großstädten die Sozialhilferechtsansprüche - das sind die wirklich geltend gemachten Rechtsansprüche - um bis zu 15 Prozent differieren. Es kann doch nicht richtig sein, daß es davon abhängt: Wie macht die Kommune Politik? Wie verhält sich der Sachbearbeiter? Wie verhält sich der Antragsteller? Das ist das, was jeden Tag auf den Sozialämtern los ist.
Sie wollen hier aufs neue Ihr altes Lied vom Sozialmißbrauch singen. Ich bin doch auch der Meinung, daß man von den Leuten verlangen kann, daß sie mit Rechtsansprüchen anständig umgehen und daß sie nicht etwas reklamieren, was ihnen nicht zusteht. Da bin ich mit Ihnen völlig einer Meinung. Was mich aber so wütend macht, ist: Haben Sie irgendwie noch einen Sinn für das, was in diesem Lande los ist und wo die Prioritäten liegen müssen? Sie nehmen kalt lächelnd bei der Steuerreform eine Deckungslücke von 44 Milliarden DM hin,
und hier sagen Sie: Die armen Kommunen mit den 18 Milliarden DM Kosten für die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt! Wer hat denn die Kommunen da hineingetrieben? Wer hat denn seinen Bundeshaushalt zu Lasten der kommunalen Sozialhilfehaushalte konsolidiert? Das waren doch Sie!
Sie können doch jetzt nicht sagen: Wir stellen uns auf die Seite der Kommunen.
Sie haben in den letzten Jahren Menschen systematisch in die Sozialhilfe getrieben. Das ist der eigentliche Skandal, um den es hier geht. Es geht hier nicht darum, ob jemand 10 DM reklamiert, die ihm nicht zustehen.
Andrea Fischer
- Wir haben in diesem Hause schon öfters anläßlich der Sozialhilfe darüber geredet.
Was mich nachdenklich macht - normalerweise würde ich das nur für eine Posse von seiten der F.D.P. halten, so wie Sie das hier anlegen -:
Es ist ja nicht so, als ob es nur die F.D.P. wäre. Sie hat sich jetzt diesen Leitfaden herausgesucht, der wirklich so spektakulär nicht ist. Der bayerische Sozialminister, Herr Glück, Herr Schäuble und Herr Glos, alle reden im Moment vom Sozialmißbrauch. Das ist eine solche Verschiebung von Ursache und Wirkung und eine Perspektivenverzerrung dessen, was unsere eigentlichen Probleme im Moment sind, daß es mich wirklich unglaublich zornig macht.
Sie müßten statt dessen einen Neuanfang in der Armutspolitik machen. Sie müßten sich überlegen, warum so viele Leute auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Was müßten wir ändern, damit dieser Rechtsanspruch endlich seinen anachronistischen Charakter aus der alten Tradition der Armenpolizei verliert und für alle durchschaubar und transparent wird? Dann kann man sagen: Das sollen sie bekommen, das steht ihnen zu. Jeder kann es geltend machen, egal, wie schlau oder durchsetzungsfähig er ist.
Das wäre eine moderne Armutspolitik, die ich von Ihnen verlange. Wir wollen keine Beschimpfung derjenigen, die jetzt verzweifelt versuchen, durch diesen unübersehbaren Dschungel des Sozialhilferechts zu kommen, und keine Beschneidung der Rechte, die Sie selber eingesetzt haben.
Und nun noch eines, weil man es hier einmal zu Protokoll geben sollte: Wenn Sie jetzt meinen, man könne mit einer Pauschalierungsverordnung eben mal 200 Millionen DM auf dem Rücken der Sozialhilfeempfänger sparen, dann ist das nicht die Vorstellung von Pauschalierung und Neuordnung der Sozialhilfe, die wir haben. Das wollte ich an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber einmal gesagt haben.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, auf welcher Ebene derzeit die Debatte um den sogenannten Umbau des Sozialstaates ausgetragen wird. Da erregt eine von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitsloseninitiativen herausgegebene und als Sonderausgabe der SPD-Bundestagsfraktion gedruckte Broschüre „Sozialhilfe - Tips und Hilfen für den Umgang mit den Sozialämtern" die F.D.P.-, CSU-, „Welt"- und „Bild"-Gemüter. Von „Einladung an die Cleveren, sich im Dschungel der Sozialhilfevorschriften Vorteile zu verschaffen", „Scharping öffnet seine Trickkiste", „Anleitungen zum Sozialhilfemißbrauch" ist da die Rede.
Meine Damen und Herren, diese Art von Aufregung verstehe ich erst einmal nicht. Was für eine leistungsstarke Steuerzahlerin oder einen leistungsstarken Steuerzahler das jährlich neu aufgelegte Buch „ 1 000 legale Steuertricks" und der Steuerberater oder die Steuerberaterin sind, sind für eine Sozialhilfeberechtigte oder einen Sozialhilfeberechtigten eben solch ein sehr guter Ratgeber - davon gibt es im übrigen eine ganze Reihe - oder eine gute Sozialberatungsstelle.
Herr Kollege Heinrich, es lohnt sich wirklich nicht, auf Ihre Vorwürfe einzugehen, und ich wünschte mir, daß ein einziges Mal mit solcher Energie in diesem Land Steuerhinterziehung verfolgt würde.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., Ihnen geht es doch nur vordergründig darum, die SPD als Anstifterin zum Sozialhilfemißbrauch zu attackieren und die Bundestagsfraktion auch gegenüber den SPD-Kommunalpolitikerinnen und -Kommunalpolitikern für steigende Sozialhilfezahlen verantwortlich zu machen. Ihr diesbezügliches Anliegen in dieser Aktuellen Stunde ist wirklich extrem lächerlich.
Viel aufschlußreicher ist doch, was hinter dieser krampfhaft aus dem Boden gestampften Diskussion steckt: Die Wahrung von Rechten wird von Ihnen als Mißbrauch umgedeutet. Wer als Sozialhilfeberechtigte oder -berechtigter ihre oder seine Rechte ausschöpft - so die F.D.P.-Botschaft -, handelt unmoralisch gegenüber der Allgemeinheit. Das nenne ich Stimmungsmache.
Was Sie hier organisiert haben, ist nichts anderes als Begleitmusik zu einer neuen Sozialhilfekürzungsdiskussion. Denn eine Sozialhilfekürzung ist Bestandteil der angekündigten Reformvorhaben, die nach dem Willen der CSU auch auf den „Vollzug der Sozialhilfe" zielen sollen. Die Forderung von CSU-
Landesgruppenchef Glos vom Wochenende nach weiteren Einschnitten bei der Sozialhilfe hat die „taz" unter dem Titel „Sozialpolitische Gifteküche" mit den Worten charakterisiert: „Dem Club der Reichen die Vermögensteuer erlassen und dem Heer der Armen das Geld für die Schuhsohlen oder den Brotbelag streichen."
Petra Bläss
Treffender ist Ihre als Umbau des Sozialstaats deklarierte Politik der Umverteilung von unten nach oben nicht zu beschreiben.
Die Sozialhilfe deckt bekanntlich kaum den notwendigen Lebensunterhalt und gewährt kaum Mittel für die Teilhabe am soziokulturellen Leben. Armut hierzulande wird noch immer tabuisiert, und nach wie vor weigern Sie von der Regierungskoalition sich, dieses Phänomen in seinem Ausmaß überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ich empfehle Ihnen deshalb die Lektüre des gemeinsamen Wortes des Rates der Evangelischen Kirche und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Darin wird Armut in der Wohlstandsgesellschaft als Stachel bezeichnet. Neben der Einkommensarmut und der Sozialhilfebedürftigkeit - hier wird im übrigen insbesondere auf das überdurchschnittliche Armutsrisiko bei Kindern verwiesen - wird vor allem auch die verdeckte Armut genannt. Nach der Armutsuntersuchung des Deutschen Caritasverbandes kommen auf vier Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher noch einmal drei verdeckt arme Menschen. Damit erhält nur knapp über die Hälfte der Sozialhilfeberechtigten tatsächlich entsprechende Leistungen.
Um auf den tatsächlichen Anlaß der heutigen Debatte noch einmal zurückzukommen - ich hoffe übrigens sehr, Sie haben wirklich einmal in diese Broschüre hineingesehen -: Es bleibt zu hoffen, daß Klara Unverzagt aus der Gegenwehrallee und Roland Tätig aus der Eifrigstraße auch weiterhin ihrem Namen alle Ehre machen und auf die Einlösung ihrer Rechtsansprüche pochen.
Jetzt hat der Abgeordnete Wolfgang Weng das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erwartungsgemäß hat der Sprecher der SPD-Fraktion, der einschlägig bekannte Kollege Struck, um das Thema herumgeredet. Auch wenn es der SPD nicht paßt: Hier wird zur Sache geredet.
Ich kritisiere nicht allein die Aufforderung in der Broschüre, Leistungen der Sozialhilfe ohne Bedarf zu beantragen. Ich meine nicht nur die Tatsache, daß die Broschüre zur Entsolidarisierung aufruft. Ich will auch die Frage nicht vertiefen, was Aufgabe einer Bundestagsfraktion ist, und ich will hier und jetzt nicht darstellen, daß der Bundesarbeitsminister Norbert Blüm in der Broschüre in übelster Weise verunglimpft wird.
Ich sage zu diesem Machwerk: Um festzustellen, daß ein Ei faul ist und stinkt, muß es schließlich nicht ganz gegessen werden.
Jeder weiß, daß der Sozialstaat am Ende wäre, wenn alle Bürger sämtliche Ansprüche geltend machen würden, die sie an den Staat haben. Der Staat kann nicht prüfen - er sollte es auch nicht -, ob Absicht, Unkenntnis oder vielleicht Nachlässigkeit der Grund dafür sind, daß Rechtsansprüche nicht in Anspruch genommen werden. Es gibt jedenfalls genügend positive Beispiele, die deutlich machen, daß schon die Aufforderung zur Ausnutzung von Rechtsansprüchen nicht sinnvoll ist.
Viele Bürger in unserem Land verzichten auf Sozialhilfe oder Leistungen der Pflegeversicherung, die ihnen zustünden, weil zum Beispiel ein verwandter oder ein befreundeter Pflegebedürftiger im Familienkreis aufgenommen wird. Hier wird im Sinne tatsächlicher Menschenliebe ohne Beanspruchung öffentlicher Mittel geholfen.
Es ist nicht so, daß diejenigen, die helfen, die öffentlichen Mittel nicht brauchen könnten; nein, sie wollen sehr bewußt einen persönlichen Beitrag leisten. Wer diesen Menschen ständig vorhält, daß sie auf Ansprüche verzichten, und ihnen am Schluß sagt, sie seien wohl blöde, der hat ein falsches Gesellschaftsbild.
Ich bewundere solche Menschen. Ihr Verhalten ist ehrenwert. Daß Teile der Sozialdemokratie hierfür kein Verständnis haben, überrascht mich nicht.
Die diskutierte Broschüre geht aber weiter. Ganz eindeutig gibt sich die SPD-Fraktion dazu her, eine Schrift zu vertreiben, die zu Mißbrauch rät, ja auffordert.
Dies ist schäbig und verantwortungslos. In Zeiten, in denen unsere Bürger durch Steuern und Abgaben belastet sind wie nie, in Zeiten, in denen die Staatsfinanzen angespannt sind wie nie, in Zeiten, in denen in allen Sozialbereichen Reformen notwendig sind, die zur Sicherung des Sozialstandes Leistungen auch mindern müssen, spielt die SPD hier ein trauriges Spiel.
Dr. Wolfgang Weng
Im politischen Raum wird durch Blockade versucht, die Staatsfinanzen zu ruinieren und sich dadurch an die Macht zu bringen. Genauso hängt sich die SPD hier ein Mäntelchen der Nächstenliebe um und versucht, die Sozialkassen über Gebühr zu belasten. Zahle es, wer wolle: Der Bürger, der Beitragszahler, der Steuerzahler sollen wie eine Zitrone ausgepreßt werden.
Meine Damen und Herren, in der Eröffnung dieser Broschüre findet sich auf der ersten Seite ein Foto des SPD-Fraktionsvorsitzenden. Dieses Foto zeigt, daß er sich mit dem Inhalt dieser Broschüre identifiziert. Ich sage Ihnen: Mit der Aufforderung zum Mißbrauch von Sozialleistungen ist Herr Scharping weit über das Erträgliche hinausgegangen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Lange.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich danke Herrn Weng ausdrücklich für seinen Beitrag; denn er hat keinen Zweifel daran gelassen, was die F.D.P. von dem Recht des Bundessozialhilfegesetzes versteht.
Nach ihrer Auffassung ist es eben kein Recht, sondern eine Gnade. Über die Gnade informiert man nicht; die gewährt man großzügig - in ihrem Falle nicht großzügig.
Im übrigen begrüße ich, daß die F.D.P. so schnell gemerkt hat, daß es diese Sozialhilfebroschüre gibt und daß das Vorwort darin von unserem Fraktionsvorsitzenden stammt. Immerhin hat die F.D.P. zweieinhalb Monate gebraucht, bis sie überhaupt gemerkt hat, daß es sie gibt.
Ich finde das ganz toll. Ich finde das wunderbar.
Nachdem Sie sich in der Zeitung so hinreichend informiert haben, beweisen Sie nicht nur Ihre profunde Unkenntnis dieses Gesetzes,
sondern Sie machen wirklich deutlich, was Sie insgesamt von dieser Geschichte halten.
Das einzig Aktuelle an dieser Stunde ist, daß Sie uns
täglich Ihre Unkenntnis der sozialen Wirklichkeit in
unserem Lande demonstrieren. Davon haben Sie wirklich null Ahnung.
Denn es gibt eine ganze Menge wichtige Zeitungsmeldungen, die man zum Anlaß hätte nehmen können, um heute eine Aktuelle Stunde zu veranstalten. Zum Beispiel die vielen Meldungen über die katastrophale Zunahme der Massenarbeitslosigkeit. Kein Interesse? Oder die Meldung von der Bundesanstalt für Arbeit, daß die Mittel bereits alle verbraucht sind, sie in diesem ersten Vierteljahr bereits im Defizit ist und alles das, was in Ihrem neuen Arbeitsförderungsgesetz steht - wobei man den Begriff „Förderung" streichen könnte -, überhaupt nicht umzusetzen ist. Aber das interessiert Sie nicht.
Man hätte vielleicht meinen können, daß dieses Monopoly-Spiel zwischen Krupp und Thyssen, das wir jetzt verfolgen können, auch die F.D.P. aufregt. Es wäre zum Aufregen gewesen, weil wieder einmal Tausende von Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen.
Man hätte sich auch vorstellen können, daß Sie eine Aktuelle Stunde beantragen in Erwartung einer Einkommensteuerreform, in deren Zuge Herr Waigel bekanntgeben muß, daß von 1999 bis 2001 Finanzlöcher in Höhe von 160 Milliarden DM zu erwarten sind.
Aber auch das stört Sie nicht.
Oder ich hätte mir vorstellen können, daß Sie die Äußerungen des Präsidenten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Herrn Dr. Köhler, zum Anlaß nehmen, darüber nachzudenken, was es heißt, daß die Deutsche Bundesbank Steuern aus Einkommen und Ertrag in Höhe von 0,8 Milliarden DM abgeführt hat, während die Sparkassen und Landesbanken 9,6 Milliarden DM angegeben haben. Ich hätte mir vorstellen können, daß Sie sich mit uns Gedanken machen wollen über das „Mißverhältnis", wie Herr Dr. Köhler sagt, das darin besteht, daß die Steuern der Großbanken weniger als 10 Prozent der gezahlten ertragsabhängigen Steuern ausmachten,
bei einem durchschnittlichen Geschäftsvolumen der Großbanken in Höhe von 63 Prozent.
- Nein, ich rede hier nicht am Thema vorbei.
Wenn es Ihnen darum geht, daß unsere Steuergelder
richtig verwendet werden, dann sind das die ent-
Brigitte Lange
scheidenden Themen - nicht das, was einige wenige möglicherweise für wichtig halten.
Sie haben wirklich keine Ahnung!
Möglicherweise hätte Sie auch der Brief, der als Petition auch an ein bekanntes Mitglied der F.D.P. ergangen ist, aufregen können, in dem eine alte Frau schreibt, daß sie im August 1987 eine Rente in Höhe von 306,60 DM berechnet bekam und jetzt erfahren muß, daß sie ganze 201,51 DM erhalten wird, und in dem zehn weitere Beispiele dieser Art aufgeführt waren. Das alles sind Menschen, die sich in der Sozialhilfe wiederfinden. Dann kommen Sie daher und sagen: Was erlauben sich diese Leute überhaupt!
Ich hätte mir auch vorstellen können, daß Sie einen aktuellen Artikel des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zur Grundlage nehmen, der überschrieben ist mit: „Soziale Chancenlosigkeit läßt Jugendliche gewalttätig werden". Die entsprechende Studie, deren Auswertung von 1985 bis 1996 stattgefunden hat, hat ergeben, daß die Anzahl der Raubdelikte zugenommen hat, daß vor allen Dingen die Altersgruppe der 14- bis 24jährigen vertreten ist und deren Opfer meist gleichaltrige Jugendliche sind. Wissen Sie, was in dieser Forschungsarbeit festgestellt wird? Daß Deutschland von wachsenden sozialen Gegensätzen geprägt sei:
Während sich auf der einen Seite innerhalb von sechs Jahren die Zahl der Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen von mehr als 10 000 DM um das Dreifache erhöht habe, seien auf der anderen Seite immer mehr Menschen von Armut und Perspektivlosigkeit betroffen. Aber das rührt Sie nicht.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.
Indem Sie sich auf diese Broschüre beziehen - das sage ich Ihnen zum Abschluß -, beweisen Sie nur Ihre Unkenntnis. Sie machen Sozialhilferegelungen, ohne sich jemals darum gekümmert zu haben, wie sie in der Praxis angewendet werden, wie die Kommentare und Auslegungen dazu ausfallen.
Wenn Sie das einmal nachlesen wollen, empfehle ich Ihnen meinen Kommentar, der dort auf dem Tisch liegt und in den wahrscheinlich nie einer von Ihnen hineingeschaut hat. Da steht zu den Rechten und Pflichten von Sozialhilfeempfängern genau dasselbe drin. Bitte holen Sie es nach, sich zu informieren, und
unterlassen Sie es, eine neue Mißbrauchskampagne von diesem Hause aus auszulösen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Pfeiffer.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Frau Lange, Ihre Rede war sicher für viele hier im Saal interessant, aber sie war wirklich am Thema vorbei.
Ich möchte wieder zum Thema kommen. Ich möchte aus der SPD-Broschüre für Sozialhilfeempfänger einige Sätze vortragen; denn die Broschüre interessiert uns sehr. Ich nenne das Stichwort „Auto" Wenn Sie angeben müssen, daß Ihnen ein Auto gehört, so müssen Sie einfach sagen: Es gehört einem Verwandten oder einem Freund, der es mir zum Fahren überlassen hat. - So kommt das Sozialamt nicht an Ihr Auto.
Das nächste Stichwort lautet „Sparbuch plündern". Wenn Sie dem Sozialamt melden müssen, über welches Geldvermögen Sie verfügen, wird Ihnen auf Seite 23 geraten, das Geld zu verbrauchen, schnell in Urlaub zu fahren, Shopping zu machen oder die Wohnung so lange zu renovieren, bis der Freibetrag nicht mehr überstiegen ist. Dann kommen Sie gut hin.
Das Stichwort „Kleidung" wird auf Seite 37 behandelt. Sie müssen nachweisen, daß das beantragte Kleidungsstück kaputt ist. Das ist doch schnell nachzuweisen, und das Sozialamt kann nicht auf die Gebrauchsdauer zurückgreifen.
Das Stichwort „Datenabgleich" findet sich auf Seite 61. Die Träger der Sozialhilfe sind befugt, einen Datenabgleich vorzunehmen, um einen eventuellen Mißbrauch aufzudecken. Das ist für alle Sozialhilfeempfänger, die die Leistungen ordnungsgemäß in Anspruch nehmen, notwendig und richtig. Für die schwarzen Schafe aber werden schlechte Zeiten anbrechen, es sei denn, sie nehmen sich die Tips der SPD zum Vorbild: „Versuchen Sie, sich gegen diese Machenschaften zu wehren." Fragen Sie bei Ihrer Gewerkschaft, ob es Möglichkeiten zur Gegenwehr gibt.
Auf Seite 31 steht das Stichwort „Prämienarbeit". Laut Vorschrift sind Bezieher von Sozialhilfe verpflichtet, Arbeitsgelegenheiten in der Kommune in Angriff zu nehmen. Ist das denn schlimm? Arbeit schändet nicht, auch nicht Sozialhilfeempfänger. So empfinden das die Sozialhilfeempfänger auch nicht.
Der SPD-Tip: Erkundigen Sie sich bei der Gewerkschaft, wie verhindert werden kann, daß Sie arbeiten müssen. Zum Beispiel für kurzfristige Einsätze in Ihrer Kommune oder für Katastropheneinsätze. Ein-
Angelika Pfeiffer
Sätze bei Schnee, Hochwasser und Sturm sind nicht erlaubt. Das müssen Sie nicht tun. Die SPD läßt lieber andere helfen, zum Beispiel DRK und THW.
Die SPD rät: Gehen Sie in Widerspruch, der Widerspruch hat aufschiebende Wirkung. Vielleicht findet sich in der Zwischenzeit ein anderer Bürger, der diese Arbeit erledigt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, Sie haben den Sozialhilfeempfängern einen Bärendienst erwiesen. Sie stellen alle Sozialhilfebezieher in die Ecke der Abzocker, die dieses Heft benötigen.
Ihr Ratgeber vermittelt den Eindruck, daß alle Sozialhilfeempfänger schauen, wie sie sich am bequemsten durchs Leben schleichen, Gesetze umgehen und andere für sich arbeiten lassen können. Mit dieser Broschüre diskriminieren Sie diese Menschen;
denn die Mehrheit der Sozialhilfeempfänger lebt nicht nach Ihrem Buch. Sie bemühen sich um Arbeit und sehen die Sozialhilfe als Hilfe zur Selbsthilfe an.
Sie diskriminieren auch die vielen Kolleginnen und Kollegen in den Sozialämtern. Sie haben es schon ein paarmal dazwischengerufen, ich selbst bin jahrelang Sozialarbeiter in einer Kommune gewesen und habe mit allen meinen Kollegen dort und hier immer wieder versucht, den Sozialhilfeempfängern behilflich zu sein und sie auf alle ihre Rechte hinzuweisen.
Ihre Broschüre ist ein Wegweiser, Gesetze zu umgehen. Sie könnte auch heißen „Wie mißbrauche ich die gesetzlichen Regelungen der Sozialhilfe?"
Wer sich mit dieser Broschüre einverstanden erklärt und das dokumentiert, indem er das Vorwort schreibt, straft alle Steuerzahler und all diejenigen, die sich an Gesetze halten.
Vielleicht kommt ja in Bälde ein Wegweiser „Wie umgehe ich Strafpunkte in Flensburg?" von Ihnen. Wir dürfen gespannt sein.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraut Lehn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man wäre ja fast geneigt, das Ganze nicht ernst zu nehmen, wenn es nicht so traurig wäre.
Ich will Sie einmal etwas fragen: Was haben denn eine 35jährige alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin mit drei Kindern und ein, sagen wir, 35jähriger F.D.P.-Mann, die beide 100 DM geschenkt bekommen, gemeinsam?
Ich will Ihnen einmal einen Hinweis geben: Diese 100 DM würden beide in Schuhe investieren. Die Sozialhilfeempfängerin kauft für ihre drei Kinder bei Deichmann jeweils ein Paar Turnschuhe. Der F.D.P.-Mann kauft sich 1,5 Puma-Aktien. Das ist die Gemeinsamkeit, die sie haben.
Worin unterscheiden sich dann die Sozialhilfeempfängerin und der F.D.P.-Mann? Der Kollege von der F.D.P. kann sich ohne jede Frage einen Finanzberater leisten. Er kann auch ein Buch erwerben, zum Beispiel ein Buch mit dem Titel „1 000 ganz legale Steuertricks".
Die Sozialhilfeempfängerin ist darauf angewiesen, daß ihr unentgeltlich Rat erteilt wird.
Damit ihr die geschenkten 100 DM nicht auf die Sozialhilfe angerechnet, also direkt von der Sozialhilfe abgezogen werden, muß sie sich die Schuhe schon als Sachleistung schenken lassen.
Hinsichtlich dieses Rechts auf Beratung sollte man die Hoffnung nie aufgeben, daß auch in Ihrem Kopf noch Platz ist, um die eine oder andere Information aufzunehmen. Im § 8 des BSHG heißt es nämlich:
Zur persönlichen Hilfe gehört außer der Beratung in Fragen der Sozialhilfe auch die Beratung in sonstigen sozialen Angelegenheiten.
Es ist traurig genug, daß die SPD-Fraktion die Beratungspflicht mancher - beileibe nicht aller - Sozialämter wahrnehmen muß, indem sie eine solche Broschüre zur Verfügung stellt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Das weiß auch Herr Fink; in einer anderen Rolle hat er sehr darum geworben, daß entsprechend informiert wird.
Heute wollen Sie davon scheinbar nichts mehr wissen.
Unsere Broschüre bietet jedenfalls praktische Lebenshilfe für Benachteiligte in unserer Gesellschaft und nicht für diejenigen, die auf Kosten dieser Gesellschaft leben.
Waltraud Lehn
Viele Menschen tun sich nämlich im Umgang mit einer Behörde schwer. Viele von ihnen schämen sich auch, ihnen zustehende Hilfen zu beantragen. Nach Schätzung des DGB macht nur jeder zweite Sozialhilfeberechtigte alle ihm zustehenden Ansprüche geltend. Ist es nicht zynisch, wenn ausgerechnet die Partei des sozialen Kahlschlags jetzt dazu übergeht, auch durch die heutige Anfrage, aus den vielen Opfern ihrer verfehlten Politik Täter zu machen?
Wer arbeitet denn seit Jahren in diesem Land daran, daß das soziale Netz immer lockerer geknüpft wird? Wer hat denn gemeinsam mit seinen Koalitionspartnern wiederholt Kürzungen - sogar heute noch - hier behandelt und beim Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe durchgesetzt? Wer arbeitet denn gemeinsam mit den Koalitionspartnern seit Monaten daran, die Hilfen für Benachteiligte auf dem Arbeitsmarkt immer weiter zu kürzen und die Menschen in die Sozialhilfe hineinzudrängen? Wer hat denn mit allen Mitteln versucht - gerade Sie, Herr Lohmann, noch heute -, unsere soziale Krankenversicherung auf Kosten der Allgemeinheit aus den Angeln zu heben, um die Klientel der F.D.P., nämlich die Pharmaindustrie und die Ärzteschaft, weiter zu bereichern? Wer versucht denn mit allen Mitteln, Steuergeschenke für Einkommensmillionäre durchzusetzen?
Ist es nicht heuchlerisch, wenn ausgerechnet diese Partei sich hier hinstellt und den Ärmsten der Armen Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit vorwirft? Das zeigt, daß sie von der sozialen Realität des Lebens bei uns nichts mehr wissen. Das Sägen an der Sozialhilfe hat bei Ihnen Tradition. Machen Sie nur weiter so! Unsere Unterstützung werden Sie dabei nicht bekommen. Wir werden auch nicht tatenlos zusehen.
Wenn wir heute über Mißbrauch debattieren wollen, dann würde ich gerne über Steuermißbrauch und Politikmißbrauch diskutieren wollen. Was ist denn mit der Rentenlüge? „Ich kann aber versprechen: Die Renten sind von Sparmaßnahmen nicht betroffen." - Helmut Kohl, 1993. Oder was ist mit der Steuerlüge? „Wenn ich den Bürgern jetzt vor dieser Wahl sage, wir machen keine Steuererhöhung, dann machen wir sie nicht." - Bundeskanzler Kohl am 14. November 1990. Seit der Zeit hat es, auch mit Ihnen, 17 Steuererhöhungen gegeben.
Die Gesundheitslüge von heute ist die letzte, die ich noch nennen will.
Der Skandal ist, daß wir nicht über das debattieren, was dieses Volk und das Vermögen dieses Volkes wirklich schädigt, sondern daß Sie das thematisieren, was dazu führen wird, daß viele Menschen in unserem Land - jeder einzelne davon ist einer zuviel - daran gehindert werden sollen, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert Willner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundessozialhilfegesetz ist ein Gesetz, das 1961 in Regierungsverantwortung der CDU beschlossen wurde. Wir lassen deshalb keinen Zweifel daran, daß wir zu dem Rechtsanspruch auf Sozialhilfe stehen, wohingegen sich die Sozialdemokraten offensichtlich - das ist der öffentliche Eindruck - an die Seite derjenigen stellen, die meinen, der Sozialstaat sei ein Selbstbedienungsladen.
Das Interessante ist, daß kaum einer der Redner der SPD auf den eigentlichen Anlaß eingeht,
daß sie über alles mögliche reden, nur nicht über die konkreten Vorwürfe und Anliegen. Ich will das aber tun.
Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion meint anprangern zu müssen, daß sich seit 1982 die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe verdoppelt habe, und verknüpft das mit seinem Lieblingsthema, nämlich Neid erwecken. Es wird nicht differenziert, es wird pauschaliert.
Dabei wissen die Experten der SPD genau, daß Zuwanderer insgesamt, insbesondere aber Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge, überproportional auf das Sozialhilfesystem angewiesen sind.
Das schlägt sich natürlich auch in der Zahl der Empfängerinnen und Empfänger der Sozialhilfe nieder. Allein die Aufwendungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz belaufen sich 1995 auf 5,5 Milliarden DM. Es ist doch nicht redlich, für Asylbewerber und für den Aufenthalt von Bürgerkriegsflüchtlingen einzutreten und die dadurch erhöhten Empfängerzahlen - das sind immerhin rund 490 000 Personen, die eine entsprechende Leistung erhalten - zum Gegenstand von Vorwürfen zu machen.
Ihr Ratgeber fordert dazu auf, einen angeblich schlechten Umgangston auf den Ämtern dazu zu nutzen, Ämter nicht mehr alleine aufzusuchen. Es wird nahegelegt, Zeugen mitzunehmen, um Dienstaufsichtsbeschwerden einreichen zu können. Der Datenabgleich von Mitarbeitern des Sozialamtes zur Verhinderung von Leistungsmißbrauch wird von Ihnen in dieser Broschüre als Machenschaft bezeichnet. Sie diskriminieren damit die Mitarbeiter in den kommunalen Sozialämtern. Sie mißtrauen, wo Vertrauen angebracht ist.
Ich frage mich, wie die zahlreichen ehemaligen und noch amtierenden Bürgermeister in der SPD-
Gert Willner
Fraktion diese Diffamierungen vor ihren Mitarbeitern rechtfertigen wollen.
Die Aufforderung zu Sitzblockaden, zu Einsicht in Dienstanweisungen, zur Einschaltung von Vorgesetzten und Amtsleitern und weitere ach so kluge Ratschläge führen dazu, daß die Gewährung der Sozialhilfeleistung zusätzlich bürokratisiert wird. Wir wollen aber keine zusätzliche Bürokratisierung.
Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann diesen: Sozialhilfeempfänger haben Anspruch auf einen kostenlosen Rat bei den Sozialämtern. Der Rat der SPD kostet 6 Mark und ist nicht, wie behauptet wurde, umsonst.
Interessant ist auch, wie sich die Gewährung von Sozialhilfe am Beispiel der Zahlen zweier Hansestädte in sozialdemokratischer Verantwortung darstellt. Für Sozialhilfe wurden 1995 in Bayern 350 DM je ein Einwohner ausgegeben, in Bremen dagegen 1 091 DM und in Hamburg sogar 1 155 DM. Das sind in Hamburg 705 DM mehr als in Bayern, in Bremen und Hamburg mehr als das Dreifache. In beiden Hansestädten scheint es so zu sein, daß entweder großzügig Leistungen gewährt werden, die SPD-Ratschläge dort besonders erfolgreich praktiziert werden oder - was wahrscheinlicher ist - daß notwendige Rückforderungen nicht geltend gemacht werden, obwohl beide Städte über Geldmangel klagen.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende behauptet, Sozialleistungen würden von der CDU/CSU und der F.D.P. ständig gekürzt. Er verschweigt, daß am 27. Juni 1996 mit den Stimmen der Sozialdemokraten die Kürzung der Sozialhilfe um 25 Prozent beschlossen wurde, wenn zumutbare Arbeit abgelehnt wird. Mit den Stimmen der Sozialdemokraten ist auch beschlossen worden, daß Menschen über 65 Jahre künftig nicht mehr automatisch einen 20prozentigen Mehrbedarfszuschlag bei der Sozialhilfe erhalten.
Es war außerdem die Forderung der Sozialdemokraten im Vermittlungsausschuß, daß Behinderte künftig im ambulanten Bereich nicht mehr so uneingeschränkt wie in der Vergangenheit gefördert werden.
Es war die Forderung der Sozialdemokraten im Vermittlungsausschuß, daß die Pflegesätze in Behinderteneinrichtungen, Altenheimen und Altenpflegeheimen stärker budgetiert und gedrosselt werden, als von der Regierungskoalition vorgeschlagen wurde. Ich denke, auch das muß einmal gesagt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Vorwort und den Ratgeber selbstkritisch lesen, müssen Sie zu dem Schluß kommen: So kann sich doch keine Partei verhalten, die in Deutschland in Gemeinden, Städten und auch in vielen - ich füge hinzu: zu vielen - Bundesländern Verantwortung trägt.
Sie haben als eine der großen Volksparteien Verantwortung. Es gibt in Ihrer Fraktion viele Kolleginnen und Kollegen, die diese Verantwortung sehen und auch gemeinsame Wege beschreiten wollen. Im Augenblick habe ich aber den Eindruck, daß bei Ihnen die Scharfmacher das Sagen haben. Wenn Sie sich mit Ihren Bürgermeistern und Landräten in der Fraktion beraten, werden Sie schnell zu dem Ergebnis kommen, daß es das beste ist, die Broschüre mit diesem unglücklichen Vorwort ganz schnell einzustampfen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat den Sozialhilfeempfängern mit dieser Broschüre einen schlechten Dienst erwiesen.
Jetzt hat der Kollege Ottmar Schreiner das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte ist von seiten der Redner der Koalitionsparteien so viel Unfug verbreitet worden, daß man eigentlich eine halbe Stunde brauchte, um den ganzen Käse wieder zurechtzurücken.
Ich will einmal mit dem eigentlichen Anlaß anfangen: Es ist ein komplett fauler Zauber, eine Broschüre zum Anlaß einer Aktuellen Stunde zu nehmen,
die nichts anderes will, als Betroffene über ihre Rechte, wie es auch der Gesetzgeber will, umfassend aufzuklären.
Tatsächlich geht es der F.D.P. hier um etwas völlig anderes. Sie betreiben eine kleinkarierte Hanswurstiade gegen den SPD-Fraktionsvorsitzenden, weil sie sich vom SPD-Fraktionsvorsitzenden vor einiger Zeit zu Unrecht tituliert gefühlt haben.
Statt dessen betreiben Sie jetzt hier einen primitiven
Rachefeldzug und nehmen eine Broschüre der SPD-
Bundestagsfraktion zum Anlaß für das ganze Unter-
Ottmar Schreiner
nehmen, was hier abläuft. Es ist beschämend, kleinkariert und unter dem Niveau jedes Parlamentes.
- Herr Heinrich, wenn Sie ruhig wären, würden Sie gewinnen.
Zweiter Punkt: Der letzte Redner hat die SPD beschuldigt, wir würden die Koalition des ständigen Sozialabbaus bezichtigen. Ich will Sie an einen Brief des Bundesarbeitsministers Blüm erinnern, den er vor wenigen Tagen an die Adresse der Abgeordneten der Koalitionsfraktionen gerichtet hat. In diesem Brief wird darauf hingewiesen, daß unter Ausklammerung der Sonderlasten der deutschen Einheit Westdeutschland mit 27,7 Prozent im Jahre 1994 nach Italien die niedrigste Belastungsquote für Sozialausgaben in Europa trägt.
- Moment! - Dann weist er darauf hin, alleine in der Arbeitslosenversicherung seien inzwischen 37 Milliarden DM gekürzt worden.
Ja, meine Güte, den Blüm haben Sie so in die Enge getrieben, daß Ihnen der arme Mensch in Briefen mitteilt, in welcher Größenordnung gekürzt worden ist. Ich sage Ihnen, die Kürzungen im Bereich der Arbeitslosenversicherung sind eine wesentliche Ursache für den dramatischen Anstieg der Sozialhilfeleistungen.
Das ist der Grund, den man dem Kollegen Fink mitteilen müßte, wenn er auf die extremen Steigerungsraten hinweist.
Sie haben dafür gesorgt, daß die massiv gekürzten Leistungsausgaben und -aufgaben des Bundes den Gemeinden über massiv gestiegene Sozialhilfeausgaben vor die Türen gekippt wurden. Das ist der wahre Zusammenhang.
Jedes Gerede in diesem Parlament, die Bundesrepublik Deutschland verfüge über die höchsten Standards im Sozialbereich, wird nicht zuletzt durch den Brief des Ministers Blüm in drastischer Weise widerlegt. Wir liegen mit Italien am unteren Ende des Anteils der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Das ist die Wahrheit. Das ist das Ergebnis von jahre- und jahrzehntelangen Sozialkürzungen Ihrer Bundesregierung.
Nächster Punkt: Es hat vor einiger Zeit, lieber Kollege Heinrich und liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., eine Anzeigenaktion angesehener deutscher Banken mit der Aufforderung an die Steuerzahler gegeben,
in Deutschland zu leistende Steuerbeträge in milliardenschwerer Höhe widerrechtlich unter Umgehung des deutschen Fiskus nach Luxemburg zu verschaffen. Wir warten auf die erste Aktuelle Stunde der F.D.P. oder der CDU/CSU, die genau dieses widerrechtliche Unternehmen zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde im deutschen Parlament macht.
Allein dieses Beispiel zeigt in aller Deutlichkeit, daß es Ihnen überhaupt nicht um den Vorgang selbst geht,
sondern daß es Ihnen nur darum geht, dem SPD- Fraktionsvorsitzenden irgendwie am Zeug zu flicken. Das ist Ihre eigentliche Absicht.
Ich sage Ihnen noch einige Bemerkungen zu der Sozialhilfeproblematik. Sie wissen so gut wie ich, daß viele Menschen in Deutschland ihnen zustehende Ansprüche in der Sozialhilfe nicht realisieren, weil sie sich schämen, zu den Sozialämtern zu gehen.
- Halten Sie doch einmal die Gosche und hören Sie zu, Sie Kamel!
Zehntausende von alten Frauen in Deutschland, die eine grandiose Lebensleistung vollbracht haben, die über eine kümmerliche Rente abgespeist werden, realisieren die ihnen zustehenden Sozialhilfeansprüche nicht, weil sie sich schämen, den Gang zum Sozialamt anzutreten. Das ist die traurige Wahrheit in Deutschland.
Wenn wir versuchen, mit unserer Broschüre die Menschen über nichts anderes aufzuklären als über die ihnen zustehenden Rechte, dann haben Sie überhaupt keine Legitimation, diesen Vorgang im Parlament zu einer Hanswurstiade allererster Güte zu machen.
Meine Damen und Herren von der F.D.P., das ist wirklich unter Ihrem Niveau. Sie bewegen sich allmählich auf das Niveau von einigen Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, die schon seit längerem in diesem Keller sind.
Herr Kollege Schreiner, Ihre angemeldete Redezeit ist abgelaufen.
Gut. Frau Präsidentin, schönen Dank für den Hinweis. Meine Redezeit ist abgelaufen. Ihre Zeit, die Zeit dieser Bundesregierung, ist schon längst abgelaufen. Sie sind überfällig für die Reserve.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthäus Strebl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines muß eingangs gleich festgestellt werden: Alle Redner der Oppositionsparteien gingen auf das eigentliche Thema überhaupt nicht ein.
Als Vorsitzender der Christlich-Sozialen Arbeitnehmer und langjähriges Mitglied des Sozialhilfeausschusses im Kreistag meines Heimatlandkreises habe ich ausreichende Erfahrungen zum Thema Sozialhilfe sammeln können. Ich sage deshalb auch gleich vorweg: Die Sozialhilfe ist kein Almosen; sie ist ein gesetzlich verbrieftes Recht für Bedürftige und soll ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Es ist auch wichtig, die Menschen über ihre Rechte aufzuklären. Dazu hat der Bundesgesundheitsminister die Broschüre „Sozialhilfe - Ihr gutes Recht" herausgegeben. Sie informiert übersichtlich und verständlich zur Sozialhilfe und ist kostenlos über das Ministerium zu erhalten.
Als ich mir dann aber im Gegensatz dazu den hier zur Debatte stehenden sogenannten „Ratgeber für Sozialhilfe" von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen ansah, konnte ich mich nur wundern. Sein Unterhaltungswert ist höher als sein Informationswert.
Aber hier sind wir an dem Punkt angekommen, der auch diese heutige Debatte erklärt. Was sich als Bürgernähe darstellen möchte, ist nichts weiter als Polemik einer Opposition, die auf keinem Gebiet der Politik wirkliche Lösungsmöglichkeiten anbieten kann.
Deshalb verleumdet sie, verunsichert die Menschen und schürt Neid und massive Ängste.
Sie meinen, ich übertreibe? Dann schauen Sie doch einmal die Seite 9 dieses Machwerks an. Hier wird der Bundeskanzler als Mafioso dargestellt, für den Steuern nichts anderes als Schutzgelder sind.
Womit wollen denn Sie, meine Damen und Herren der SPD, die Sozialhilfe bezahlen, wenn nicht mit Steuern?
Nun komme ich aber zur Unverschämtheit schlechthin: Da verlangt die SPD auch noch Geld für dieses Machwerk: 6 DM zuzüglich Porto - von potentiellen Sozialhilfeempfängern für SPD-Parteipropaganda!
Das sind Abzockermethoden.
Aber lassen Sie mich zur wahren Absicht der Broschüre zurückkommen. Was will denn die Broschüre wirklich? Das will ich Ihnen aufzeigen, meine Damen und Herren von der SPD: Sie gibt Tips, wie man das Sozialamt austrickst. Es wird nicht einmal davor zurückgeschreckt, zu falschen Angaben anzustiften. Könnte da nicht der eine oder andere Sozialhilfe bekommen, ohne daß wirklich eine Notwendigkeit vorliegt?
Diese Tips kommen von einer Partei, die lieber heute als morgen die Macht im Staate übernehmen will, und dies mit allen Mitteln, unter anderem auch mit diesem Machwerk.
Ich komme zum Schluß. Es gibt da ein gutes Sprichwort - passen Sie gut auf, meine Damen und Herren von der SPD -: Gelegenheit macht Diebe. Deshalb fordere ich Sie auf: Ziehen Sie diese Broschüre aus dem Verkehr, und kehren Sie zu einer Politik der Realität zurück!
Der Kollege Schreiner hatte eben einen Kollegen - ich habe das überprüft - als „Kamel" bezeichnet. Deswegen rufe ich Sie zur Ordnung.
- Ich weiß, Sie sammeln so etwas.
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Roland Richter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe großes Verständnis dafür,
daß die SPD in ihren Wortbeiträgen die Broschüre selbst mit keinem Wort angesprochen hat.
Denn wenn man eine Broschüre macht und dann merkt, daß sie nichts taugt, sie einstampft und nicht mehr verteilt, dann ist es natürlich unangenehm, wenn hier von der F.D.P. beantragt wird, daß diese Broschüre diskutiert wird.
Ich glaube, daß wir gut daran täten, um den Konsens in dieser Gesellschaft zu erhalten, solche Diskussionen, wie sie durch Ihre Broschüre ausgelöst werden, nicht zu häufig zu führen.
Ich weiß nicht, wie oft Sie in Ihren Wahlkreisen Versammlungen halten
und dort mit Menschen reden, die noch Arbeit haben. Das ist zum Glück immer noch die Mehrheit unserer Bevölkerung. Unterhalten Sie sich einmal mit denen! Sie werden ganz schnell darauf angesprochen, daß es einen erheblichen Mißbrauchstatbestand im Bereich der Sozialhilfe gibt.
Nun rede ich nicht von den Fällen, die hier angesprochen worden sind.
- Da sind wir uns ganz schnell einig. Deswegen hat die Koalition eine sehr umfassende Steuerreform vorgeschlagen, die genau diese Mißbrauchstatbestände künftig nicht mehr zuläßt.
Man muß das im Zusammenhang sehen. Es wäre sehr einseitig, wenn man immer nur in die eine Richtung deutete und sagte, die Steuerreform solle nicht kommen, weil zu viele Ausnahmen möglich seien, wie Sie von der SPD es momentan betreiben, während wir genau diese Reform durchführen wollen, um die Mißbrauchsmöglichkeiten einzuschränken. Wenn wir dann an einem Punkt sind, über den wir auch reden müssen, nämlich über den Mißbrauch in den Sozialsystemen, dann wird hier so getan, als ob hier nur das gute Recht in Anspruch genommen würde.
Jetzt wollen wir einmal genau analysieren, wo diese Broschüre ankommen kann. Etwa 60 Milliarden DM werden in Deutschland für Sozialhilfe ausgegeben, davon etwa ein Drittel an Institutionen -
das hat der Kollege Fink angesprochen - für Behinderte und für Senioren.
Hier helfen wir dadurch, daß wir die Pflegeversicherung eingeführt haben.
Ein weiteres Drittel wird ausgegeben für Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber, also importierte Armut, für die wir in Deutschland wirklich nicht Verantwortung tragen können.
In diesem Bereich läuft im Grunde genommen die Maximalversorgung, weil da alle Beteiligten sehr genau aufpassen.
Dann bleibt ein weiteres Drittel übrig für Menschen, die Sozialhilfe brauchen, weil sie arbeitslos sind. Der größere Teil dieser Gruppe besteht aus Frauen: geschiedene Frauen, alleinerziehende Mütter.
Liebe Frau Kollegin Fischer von den Grünen, die Politik dieser Bundesregierung kann ja sicherlich für vieles verantwortlich sein. Daß sich aber Menschen scheiden lassen und die Frauen anschließend allein sind, dafür kann die Regierung nun wirklich nichts.
Das Scheidungsrecht ist meines Wissens in einer Zeit geändert worden, in der hier andere Mehrheiten das Sagen hatten.
Wir müssen also erkennen, wo ein Bereich bleibt, den diese Broschüre treffen könnte. Wenn man das genau anschaut, dann wird man feststellen, daß es eine Vielzahl von Mißbrauchstatbeständen gerade in den angesprochenen Gruppierungen gibt.
In meinem Wahlkreis befindet sich eine Stadt mit 7 000 Sozialhilfeempfängern. Ein großer Teil davon, nämlich über 2 000, wäre durchaus in der Lage zu arbeiten. Die meisten davon werden mit Ihrer Broschüre im Grunde genommen dazu aufgefordert, künftig alles das abzuzocken, was beim Sozialamt möglich ist. Das ist genau das, was in den Wahlkreisveranstaltungen - auch in Ihren - angesprochen wird und angesichts dessen wir uns hinstellen und erklären müssen, daß die Sozialhilfe insgesamt eben nicht in Frage gestellt werden darf.
Wenn ich dann aber sehe, welche traurigen Geschichten Sie uns über die Belastung der Gemeinden erzählen, wenn ich sehe, daß das Asylbewerberlei-
Roland Richter
stungsgesetz, das wir eingebracht haben, von Ihnen im Bundesrat blockiert wird, und wenn ich sehe, daß Sie auf der anderen Seite kräftig dazu auffordern, die Sozialhilfe noch stärker auszunutzen, dann, so glaube ich, ist das eine sehr unglaubwürdige Politik. Dies ist eine Doppelstrategie, indem Sie auf der einen Seite auffordern, mehr Geld abzuzocken, und auf der anderen Seite alles blockieren, was zum Sparen beiträgt, und nun auch noch hingehen und sagen, wir würden die Gemeinden belasten. Das ist nicht wahr.
Die Punkte, die im Rahmen der Diskussion wichtig sind, habe ich angesprochen. Ich hoffe sehr, daß die Broschüre eingestampft bleibt und nicht erneut verteilt wird.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten
- Drucksache 13/1550 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/7208 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietmar Schlee Günter Graf Manfred Such
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Manfred Such, Volker Beck und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anwendung, Effektivität und Kosten neuartiger polizeilicher Ermittlungsmethoden
- Drucksachen 13/3380, 13/4437 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Manfred Such, Cem Özdemir und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erkennbarkeit von Polizeibeamten durch Namensschilder oder Dienstnummern
- Drucksachen 13/2002, 13/4402 - Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann Günter Graf
Manfred Such
Dr. Guido Westerwelle
Ulla Jelpke
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache über all diese Punkte eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Dietmar Schlee.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Am heutigen Tag setzt der Bundestag ein weiteres Signal für mehr innere Sicherheit und für mehr Schutz des Bürgers vor Verbrechen. Wir haben in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe gesetzgeberischer Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich erinnere an das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, an das Geldwäschegesetz, an das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994,
an das Bundesgrenzschutzerneuerungsgesetz, an notwendige Änderungen im Haftrecht und an viele weitere gesetzgeberische Maßnahmen.
Mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten schaffen wir eine weitere wichtige Grundlage für mehr Schutz vor Verbrechen und für mehr innere Sicherheit in Deutschland und in Europa.
Die Neufassung dieses inzwischen 25 Jahre alten BKA-Gesetzes ist einmal für den Bürger in diesem Land von Bedeutung. Das Gesetz soll ihm die Gewißheit, ja auch das Vertrauen geben, daß mit seinen persönlichen Daten bei den Polizeibehörden rechtsstaatlich umgegangen wird. Ich glaube, daß das für die Bürgerinnen und Bürger außerordentlich wichtig ist, weil das mit dazu beiträgt, daß die Partnerschaft zwischen der Polizei und den Bürgerinnen und Bürgern gestärkt wird.
Auf der anderen Seite schafft das Gesetz für die Polizeien in Bund und Ländern die notwendige gesetzliche Grundlage für die polizeiliche Informationsgewinnung und -verarbeitung und damit natürlich auch für einen sachgerechten Datenschutz. Die Regelungen sind notwendig, ja, sie sind überfällig.
- Herr Kollege Such, der Datenschutzbeauftragte hat
in der Sitzung des Innenausschusses - Sie waren da-
Dietmar Schlee
bei - „ja, ja" zu diesem Gesetzentwurf gesagt; das können Sie ja nun nicht ernsthaft wegdiskutieren.
Im übrigen ist der Übergangsbonus der Gerichte, wenn Sie an das Jahr 1983 denken, abgelaufen.
Die jetzigen Vorschriften - auch das ist ein ganz wichtiger Punkt - beenden die Diskussion, die wir auch in diesem Haus zum Stichwort Polizei und Datenschutz teilweise sehr emotional geführt haben. Es ist ein guter und wichtiger Schritt in die richtige Richtung, daß diese emotionalisierte Diskussion um Polizei und Datenschutz ein Ende hat. Unsere Antwort auf diese Diskussion ist ein rechtsstaatlich einwandfreies, sachlich ausgewogenes Gesetz, das sowohl den berechtigten Belangen des Bürgers als auch den unabweisbaren Bedürfnissen der Polizei hinsichtlich einer erfolgreichen Verbrechensbekämpfung Rechnung trägt.
Der zweite tragende Punkt ist: Die Novellierung des BKA-Gesetzes ist für die tägliche Kooperation zwischen dem Bundeskriminalamt und den Polizeien der Länder wichtig. Ein föderativ verfaßter Staat, der die Polizeihoheit grundsätzlich den Ländern zugewiesen hat, muß Aufgaben- und Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen der Polizei des Bundes und den Polizeien der Länder vornehmen und diese Abgrenzungen immer wieder neu justieren.
Dabei geht es nicht mehr allein um Erfordernisse der innerstaatlichen polizeilichen Zusammenarbeit. Insofern hat sich seit dem Jahr 1972, seit der Verabschiedung des BKA-Gesetzes, wirklich Grundlegendes geändert. Auch die Notwendigkeit einer ständigen internationalen Kooperation der deutschen Polizei mit den Polizeibehörden aller anderen europäischen und vieler außereuropäischer Staaten muß berücksichtigt werden. Sie hat heute ja einen ungleich höheren Stellenwert, als dies vor 25 Jahren der Fall gewesen ist. Wir stehen natürlich auch angesichts der Globalisierung und Internationalisierung der organisierten Kriminalität vor neuen Herausforderungen, denen wir gerecht werden müssen. Hier sind die gesetzlichen Grundlagen dringend anpassungsbedürftig.
Die Problematik zeigt sich bei denjenigen Vorschriften des Gesetzentwurfes besonders deutlich, die die Aufgaben- und Zuständigkeitsabgrenzungen für den zukünftigen Auslandsdienstverkehr beinhalten. Hier geht es um die Zusammenarbeit der Polizei: in erster Linie natürlich des Bundeskriminalamtes, aber - mit Abstufungen - auch der Landespolizeien - ich werde nachher noch einen Satz dazu sagen - mit dem Ausland. Das ist natürlich bei dieser Gesetzgebung ein ganz wichtiger Punkt.
Hier ist - ich stelle es einmal so salopp dar - nach langem Hin und Her ein Kompromiß gefunden worden, der den kriminalpolitischen und polizeifachlichen Bedürfnissen nach internationaler Zusammenarbeit gerecht wird.
Die Polizeihoheit ist natürlich bei den Ländern verblieben. Kein ernstzunehmender Mensch will hier etwas ändern. Aber es wird auch berücksichtigt - das schlägt sich in dem Gesetzentwurf nieder -, daß das Bundeskriminalamt als deutsche Zentralstelle in der Zusammenarbeit mit dem Ausland eine besondere Stellung haben muß. Anderenfalls kann das System überhaupt nicht funktionieren.
Ich bin sehr froh, daß wir mit den Ländern am Ende eine - na ja, bei allen Abstrichen - einvernehmliche Lösung gefunden haben.
Ich gehe davon aus, daß die gefundenen Kompromißregelungen bei den Polizeien der Länder auf die notwendige Akzeptanz stoßen werden. Denn davon wird die Effizienz dieses Gesetzes, die Effizienz der zukünftigen polizeilichen Arbeit abhängen. Hiervon wird das Gesamtbild der deutschen Polizei bei den Partnern innerhalb und außerhalb Europas geprägt. Wenn es zu ständigen Reibereien, zu Friktionen käme, wäre das etwas, was wir so nicht für gut halten könnten. Ich glaube, all das, was wir in das Gesetz hineingeschrieben haben und worauf wir uns am Ende einigen konnten, wird das verhindern.
Ein Weiteres. Das neue BKA-Gesetz ist eine wichtige Voraussetzung für die Ratifizierung der Europol-Konvention. Gerade dieser internationale Bezug, was Europol angeht, hat eine ganz große Bedeutung. Mit Europol bauen wir in Europa ein gemeinsames, schlagkräftiges Polizeiinstrument gegen die neuen Erscheinungsformen des organisierten Verbrechens auf.
Das bedingt natürlich korrespondierende Rechtsgrundlagen im nationalen Recht der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Meine Damen und Herren, mit diesem BKA-Gesetz und mit dem deutschen Ratifizierungsgesetz zur Europol-Konvention, das die Bundesregierung bereits in den Bundesrat eingebracht hat, schaffen wir eine, wie ich meine, zukunftsträchtige und zukunftsweisende Grundlage.
Wir müssen unsere Bemühungen fortsetzen, Europol ein Mehr an Zuständigkeiten zu gewähren. Das wird nicht von einem Tag zum anderen gehen. Aber ich glaube, daß wir bereits in den nächsten Jahren, wenn wir alle an einem Strang ziehen, Erfolg haben werden. Das ist, was die innere Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land angeht, ein ganz wichtiger Punkt.
Die bisherige parlamentarische Beratung des Gesetzentwurfes hat gezeigt - ich bin sehr froh, daß ich das so sagen kann; ich wende mich an die Kollegen der SPD -, daß es in den Kernfragen polizeilicher Sicherheit zwischen der Koalition und der SPD erfreulicherweise keine unüberbrückbaren Differenzen gibt. - Ich gehe davon aus, daß die Kollegen das gleich deutlich machen werden und daß Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen. - Ich meine, das ist etwas, was man mit großem Ernst registrieren sollte. Es macht deutlich, daß der Problemdruck inzwischen groß ist, und eine große Volkspartei wie die SPD kann diesem Druck nicht ohne weiteres ausweichen.
Dietmar Schlee
Ich bin Ihnen dankbar, daß wir die Beratungen in dieser kooperativen Weise über viele Monate - im Grunde über die zwei Jahre dieser Legislaturperiode - führen konnten.
Ich appelliere in dieser Stunde aus meiner langjährigen Erfahrung heraus an den Bundesrat, daß er der vorgelegten Neufassung des BKA-Gesetzes zustimmt bzw. sie passieren läßt. Das spielt im Moment eine ganz wichtige Rolle.
Wir wissen, daß unsere Polizei auf Signale wartet, daß die Politik zu einer positiven Bewertung der notwendigen Sach- und Rechtsgrundlagen kommt und damit auf der einen Seite die polizeiliche Arbeit honoriert und auf der anderen Seite deutlich macht, daß sich die Polizei auf einen breiten Konsens in der Politik verlassen kann. Das halte ich für ganz wichtig.
Es geht nicht nur darum, daß wir datenschutzrechtlich zu guten und tragfähigen Lösungen kommen. Es geht auch nicht nur darum, daß wir die Grundlagen für die Europol-Konvention schaffen, sondern es geht auch darum, daß wir mit diesem BKA-Gesetz die Grundlagen für eine Strukturierung des Inpol-Systems schaffen und damit natürlich die Leistungsfähigkeit der Polizei in Bund und Ländern entscheidend verbessern. Auch insofern ist das, was wir hier gemeinsam auf den Weg bringen wollen, etwas, was der Polizei in Bund und Ländern guttut.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Kollegen Such und zur Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sagen.
Herr Kollege Such, Sie werden unseren Gesetzentwurf wohl ablehnen, weil Ihnen, wenn ich Sie richtig interpretiere, die ganze Richtung nicht paßt. Ich bin allerdings der Meinung, daß Sie, Herr Such, und Ihre Fraktion Ihr Verhältnis zur Arbeit der Polizei, Ihr Verhältnis zu den Diensten und zu anderen Fragen der inneren Sicherheit bald von Grund auf überdenken müssen. Die Positionen, die Sie da einnehmen, können Sie nicht mehr halten, wenn ich daran denke, was Ihr Vorsitzender sagt. Sie jagen hinter Dingen her, die einfach nicht mehr in die Zeit passen.
Nur so ist zu erklären, Herr Kollege Such, daß Sie eine solche Große Anfrage eingebracht haben. Ihre Große Anfrage enthält 74 Fragen
- ja, Herr Vorsitzender, 74 akribische Fragen -, und die Regierung hat mit großer Gelassenheit und großem Sachverstand
diese Fragen beantwortet. Lieber Herr Such, das war im Grunde nichts anderes als ein Mehrarbeitsbeschaffungsprogramm für die Regierung. Was Sie damit wollen, verstehe ich nicht.
Dasselbe, Herr Kollege Such, gilt für die Etikettierung von Polizeibeamten.
- Diese Formulierung will ich nicht gebrauchen, aber daß Sie mit der Etikettierung total falsch liegen, ist überhaupt keine Frage. Wenn Sie die Innenminister aller Länder zu dieser Frage hören, wird rasch deutlich, daß Sie auch insofern total isoliert sind.
Herr Kollege Schlee, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Letzter Satz: Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mehrheit in diesem Hause wird diesem BKA-Gesetz zustimmen. Die Polizei in diesem Lande wird das sehr wohl registrieren.
Vielen Dank.
Jetzt hat der Abgeordnete Günter Graf das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schlee, daß dieses Gesetz ein weiteres wirksames Signal ist, um Verbrechen internationaler Art intensiver bekämpfen zu können, da haben wir sicher gemeinsam Zweifel. Ich glaube, es wäre mehr vonnöten.
Wenn wir das alte und das neue Bundeskriminalamtgesetz vergleichen, dann stellen wir fest: Es hat sich nicht viel getan, mit Ausnahme der datenschutzrechtlichen Regelungen. Das hat allerdings zwischenzeitlich 14 Jahre gedauert, denn es war 1983, als das Bundesverfassungsgericht uns im Volkszählungsurteil aufgetragen hat, entsprechende gesetzliche Bestimmungen zu erlassen. Es hat lange gedauert; die Schwierigkeiten sind benannt. Sie liegen nicht allein beim Bund, sondern - Sie haben darauf hingewiesen - zum Teil auch bei den Ländern. Aber als Konsequenz aus dieser Verpflichtung war es notwendig, das Bundeskriminalamtgesetz zu novellieren.
Günter Graf
Die Bemühungen hinsichtlich einer Neufassung schleppten sich über die eben erwähnten 14 Jahre hinweg, ohne daß es zu einer Einigung über einen praktikablen Gesetzentwurf gekommen ist. Deshalb war es dringend geboten, ein Gesetz zur Entscheidungsreife zu bringen, in dem die Aufgaben, Zuständigkeiten und Ermächtigungen unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen sowie der internationalen Entwicklung formuliert wurden.
Dies ist mit dem nunmehr zur Verabschiedung anstehenden Gesetzentwurf teilweise erreicht worden. Allerdings will ich kritisch anmerken, daß es hinsichtlich der Gesetzesformulierung - 38 Paragraphen auf 30 geschriebenen Seiten - schon des Studiums eines Volljuristen bedarf, um die vielen verklausulierten Regelungen zu begreifen.
Es ist ein Mangel, daß klare, eindeutige Formulierungen auf der Strecke geblieben sind. Die Rechtstaatlichkeit - da sind wir uns sicherlich alle einig - verlangt klare Gesetzeswerke, die unzweideutig formuliert sind und somit auch für die sie handhabenden Polizeibeamten interpretierbar sind.
Was die materielle Ausgestaltung dieses Gesetzes angeht, so darf ich in aller Kürze darauf hinweisen - mein Kollege Schlee hat das zum Teil bereits getan -, daß durch den Gesetzentwurf nunmehr die Informationsverarbeitung beim BKA als Polizeibehörde des Bundes und als Zentralstelle von Bund und Ländern erstmalig auf eine gesetzliche Grundlage gestellt wurde. Was die originären Strafverfolgungszuständigkeiten des BKA angeht, werden diese in begrenztem Umfang bei bestimmten international organisierten Straftaten und Auslandstaten erweitert. Mit diesen Erweiterungen sollen vor allem in Fällen, in denen noch keine Länderzuständigkeit besteht, Zuständigkeitskonflikte und daraus resultierende Defizite bei der Strafverfolgung vermieden werden.
Eine wesentliche Neuerung im Gesetzentwurf ist allerdings, daß dem Bundeskriminalamt nunmehr die Möglichkeit eingeräumt wird, technische Mittel zur Eigensicherung seiner Beamten einzusetzen, wenn diese aus Gründen der Strafverfolgung im Rahmen der Befugnisse des BKA tätig werden. Durch diese Neuregelung wird den besonderen Gefahren, denen insbesondere verdeckte Ermittler im Rahmen der Ermittlungsverfahren gegen die organisierte Kriminalität ausgesetzt sind, begegnet. Die, die dieser Neuregelung kritisch gegenüberstehen, Kollege Such, wissen ganz genau, daß es solche Regelungen in der überwiegenden Anzahl der Polizeigesetze der einzelnen Bundesländer bereits seit langer Zeit gibt.
Eine weitere Neuerung des Gesetzes ist der Bereich des Zeugenschutzes. Bislang war dieser durch Richtlinien geregelt. Er ist durch diesen Gesetzentwurf erstmalig auf eine gesetzliche Grundlage gestellt worden.
Läßt man den nunmehr auf eine gesetzliche Grundlage gestellten Bereich der Informationsgewinnung und Datenverarbeitung außer Betracht, so ist allerdings die Zentralstellenfunktion des Bundeskriminalamtes durch dieses Gesetz kaum gestärkt worden. Dies wäre - ich denke, auch hier stimmen wir überein - notwendig gewesen.
Betrachtet man die Entwicklung der Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, so ist sicher unbestritten festzustellen, daß die Anzahl bekanntgewordener Straftaten seit Mitte der 80er Jahre besorgniserregend zugenommen hat. Besonders beunruhigend ist dabei die Tatsache, daß bei der Begehung von Straftaten ein qualitativer Sprung stattgefunden hat: In professioneller Arbeitsteilung verletzen international operierende Tätergruppierungen mit brutalen Mitteln und konspirativen Techniken wichtige Rechtsgüter in dieser Gesellschaft. Zielstrebig und rücksichtslos häufen sie Kapital sowie Vermögen an und schleusen es in den legalen Wirtschaftskreislauf. Mit riesigen Geldbeträgen versuchen solche Tätergruppierungen, die Gesetze der Marktwirtschaft auszuhebeln, Einfluß in Verwaltung, Justiz sowie Politik zu gewinnen und somit die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates insgesamt zu unterminieren.
Was diese Tatsachen angeht, so greift das Gesetz nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion zu kurz. Insoweit ist der Widerstand der Länder - und zwar parteiübergreifend, ganz gleich, ob CDU-, CSU- oder SPD-geführt - gegen eine vernünftige Bekämpfungskonzeption gegenüber einer grenzüberschreitenden und international organisierten Kriminalität nicht nachvollziehbar. Wir stimmen sicherlich überein in der Feststellung, daß das Land Thüringen, um nur ein Land zu nennen, bei einer mehrere Bundesländer oder sogar ganz Europa berührenden Kriminalität kaum in der Lage sein dürfte, auch die Interessen der anderen Bundesländer zu vertreten. Insoweit ist eine Steuerung bzw. Vernetzung der Informationen für alle - ich betone: für alle - Bundesländer rationell und effizient vernünftigerweise nur von einer Zentralbehörde für alle Bundesländer zu leisten.
Diesen Anspruch erfüllt das Gesetz in Gänze nicht. Insofern bleibt der Bundesinnenminister aufgefordert, ein Klima zu schaffen, das es ermöglicht, mit den Ländern zu weitergehenden Regelungen zu kommen. Dieses könnte zum Beispiel bedeuten, daß bei internationaler - das heißt: grenzüberschreitender - Kriminalität nur ganzheitlich, das heißt durch eine Zentralbehörde für alle Länder, gehandelt wird. Daß die Länder, die betroffen sind, darin einbezogen werden müssen, erklärt sich von selbst. Das Handlungsprimat aber muß eindeutig bei der Zentralbehörde, sprich: beim Bundeskriminalamt liegen.
Es kann doch nicht richtig sein, daß wir einerseits als Parlament fordern, Europol weiter auszubauen und langfristig auch mit operativen Befugnissen aus-
Günter Graf
zustatten, andererseits aber nicht bereit sind, das Bundeskriminalamt als Zentralstelle mit gleichen Befugnissen auszustatten, und darauf beharren, mit zersplitterten Länderkonzeptionen zu arbeiten. Dies macht nach meinem Geschmack keinen Sinn.
Auch macht es keinen Sinn, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die einzelnen Bundesländer Verträge über die polizeiliche Zusammenarbeit mit allen Staaten dieser Welt abschließen. Ich denke, es wäre sinnvoller, eine Einigung darüber zu erreichen, daß vertragliche Abmachungen mit anderen Staaten zentral durch das BKA, durch die Bundesregierung erfolgen. Das heißt nicht, daß die Zusammenarbeit der Polizeien mit denen der Anrainerstaaten seitens des Bundes geregelt werden muß. Dies sollten die Bundesländer sehr wohl selber tun. Sie sollten entsprechende Vereinbarungen mit den Anrainerstaaten treffen, um die praktische Arbeit, die notwendig ist, insbesondere im Grenzbereich zu unterstützen.
Dem offensichtlichen Mißtrauen der Länder nach dem Motto „Der Bund eignet sich zuviel Kompetenz an und hebelt die Länder aus" könnte auch dadurch begegnet werden, daß man den Ländern anbietet, ihnen Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamtes zur Verfügung zu stellen. Diese BKA-Beamtinnen oder -Beamten könnten zur Informationsgewinnung, Informationssteuerung und Unterstützung bei Ermittlungen sehr hilfreich sein und darüber hinaus zur schnellstmöglichen Zurverfügungstellung aller Serviceeinrichtungen des Bundeskriminalamts für das betreffende Bundesland beitragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen: Trotz der von mir geäußerten Kritik stimmt die SPD-Bundestagsfraktion dem vorliegenden Gesetzentwurf zu, dies insbesondere deshalb, weil, wie bereits eingangs ausgeführt, gegenwärtig datenschutzrechtliche Regelungen nicht vorhanden, allerdings auf Grund des Volkszählungsurteils zwingend notwendig sind. Herr Kollege Such, Sie wissen genau, daß es in Wiesbaden eine amtsrichterliche Anordnung gegeben hat, wonach das Bundeskriminalamt Daten löschen mußte, weil die entsprechende Rechtsgrundlage fehlte. Diese wird mit diesem Gesetz geschaffen.
Wir halten es auch für zwingend - das will ich deutlich sagen -, daß der Bundesinnenminister von seiner Kompetenz, die er auf Grund von Art. 73 Nr. 10 GG hat, verstärkt Gebrauch macht und erneut das Gespräch mit den Ländern sucht, um zu effektiveren Lösungen zu gelangen.
Ich persönlich will jeden hier im Hause auffordern, gleich welcher politischen Couleur, seine persönlichen Beziehungen zu den Ministerien der verschiedenen Länder zu nutzen, um eine Ebene mit vorzubereiten, damit das, was ich gerade angedeutet habe, gelingt. Ich glaube, dies ist notwendig.
Im Ergebnis kommt es einzig und allein darauf an, den Herausforderungen der international organisierten und länderübergreifenden Kriminalität gerecht zu werden, um den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande und darüber hinaus einen hinreichenden Schutz vor Kriminalität zu gewähren.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Manfred Such.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Endlich, über 13 Jahre nach dem Volkszählungsurteil, erhält die Datenverarbeitung des Bundeskriminalamtes eine formal tragfähige Grundlage. Insofern, Kollege Graf, stimmen wir auch zu. Meine Fraktion begrüßt dies.
Allerdings lehnen wir im Einklang mit der Kritik der Datenschutzbeauftragten die Novellierung des Gesetzentwurfes für das BKA ab, und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Der Entwurf verwendet mehrfach den Begriff „Straftaten von erheblicher Bedeutung" ohne eine Definition, um welche Tatbestände es sich handelt. Damit ist nicht mehr voraussehbar, wann die an diesen Begriff anknüpfenden Eingriffsbefugnisse des Bundeskriminalamtes zur Anwendung kommen.
Zweitens. Befugnisse zur Strafverfolgung, Gefahrenabwehr, Verhütung von Straftaten und Vorsorge für künftige Strafverfolgung werden ohne ausreichende Zweckbindung vermischt.
Drittens. Die Befugnisse des BKA zur selbständigen Datenerhebung und -übermittlung bis hin zum automatisierten Datenverbund mit ausländischen und zwischenstaatlichen Stellen berücksichtigen weiterhin nicht ausreichend die Zuständigkeiten der Bundesländer, Kollege Graf, sowie datenschutzrechtliche Anforderungen.
Viertens. Besonders kraß ist - das ist der besondere Knackpunkt -, daß die Vorlage den großen Lausch- und Spähangriff in Wohnungen durch die Hintertür einführt, ja, gegenüber der Entwurfsfassung sogar noch erweitert.
Denn nun sollen nicht nur BKA-Beamte, sondern auch bloße V-Leute als sogenannte bemannte Wanze bzw. bemannte Kamera in verdächtige Wohnungen gehen dürfen. Außerdem dürfte nicht nur während ihres tatsächlichen Aufenthalts dort, sondern auch zeitlich davor gelauscht und gespäht werden, ob die einzuschleusende Person gefährdet wäre, wie behauptet wird. Die Lage „abchecken", so nennt die
Manfred Such
Begründung des Gesetzentwurfes dies in bestem RAF-Deutsch.
Beide Erweiterungen zusammengenommen, würde demnach künftig zur Rechtfertigung des Lausch- und Spähangriffs eine bloße Notiz in der Ermittlungsakte reichen, daß die Einschleusung eines Ermittlers oder V-Mannes angeblich geplant worden sei, die deswegen veranlaßte Ausforschung der Wohnung aber eine zu große Gefährdung ergebe und darum der Ermittler oder der V-Mann nicht zum Einsatz komme. Die dann gewonnenen Informationen dürften als Ermittlungsansatz selbst gegen Kleinkriminalität genutzt werden. Mit dieser Regelung wäre der mißbräuchlichen Ausforschung von Bürgern und Bürgerinnen Tür und Tor geöffnet.
Fünftens. Derartig verdeckte Maßnahmen könnten bereits gegen solche Personen breit angewendet werden, die „möglicherweise künftig" mit „künftigen Tatverdächtigen" in Kontakt treten könnten. Gespeichert werden dürfen ebenso die Daten von Personen, die möglicherweise künftig einmal Zeuge oder Opfer einer Straftat werden. Selbst gegen deren Willen, also offenbar nicht zu ihrem Schutz, soll gespeichert werden dürfen. Allein die polizeiliche Prognosefähigkeit entscheide über die Auslegbarkeit dieser weiten Formeln.
Insgesamt genügt dieser Entwurf nicht unseren Vorstellungen von einer rechtsstaatlich einwandfreien Handlungsgrundlage für das Bundeskriminalamt.
Thema der zweiten Vorlage, über die wir hier beraten, ist, wie bereits bestehende Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden angewendet werden, genauer gesagt: die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage dazu, Kollege Schlee, wie Sie das eben formuliert haben. Befremdlich an dieser Antwort ist nicht nur die mangelnde Auskunftsbereitschaft gegenüber dem Parlament. Allein 19 der gestellten Fragen nach Überwachungspraktiken wurden angeblich mangels statistischer Erkenntnisse, wegen zu großen Aufwands der Antwort, wegen notwendiger Geheimhaltung oder schlicht aus „polizeitaktischen Gründen" nicht beantwortet.
Inhaltlich erstaunlich ist daneben folgender Tenor der Antwort: Die Bundesregierung weiß, daß sie nichts bzw. zuwenig darüber weiß, was in den letzten Jahren vielfach geschaffene, neuartige Polizeibefugnisse, zum Beispiel Rasterfahndung, präventive optische und akustische Überwachung, verdeckte Ermittler etc., bewirkt oder nicht bewirkt haben. Aber Sie fordern immer wieder etwas Neues. Trotz dieses offensichtlichen Stocherns im Nebel behauptet die Bundesregierung - angeblich um der Kriminalität Herr zu werden -, genau zu wissen, daß die Ermittlungsbefugnisse lückenhaft seien und unbedingt um den großen Lauschangriff ergänzt werden müßten.
Dieser Befund gibt auch Aufschluß über die 1994 beim BKA eingerichtete „Rechtstatsachensammelstelle". Diese soll nicht Anwendung, Wirksamkeit und Kosten der wichtigsten Befugnisse geordnet bilanzieren, sondern lediglich die nach Auffassung der Polizei beispielhaften Fälle zusammentragen. Wie ausdrücklich eingeräumt wurde, sollen damit Nachforderungen an den Gesetzgeber begründet werden. Der Gesetzgeber darf sich mit solcher Schmalspurreflexion brisanter Regelungen nicht zufriedengeben. Auf dieser Basis ist keine rationale, reflektierte Kriminalpolitik möglich, sondern nur eine Fortsetzung des bisherigen Blindflugs und des Aktionismus in diesen Bereich.
Zum Schluß zur dritten Vorlage dieser Beratung, zum Antrag meiner Fraktion, Namensschilder bzw. Dienstnummern für Polizeibeamte einzuführen. Die Koalitionsmehrheit hat aller Rhetorik von bürgernaher und transparenter Verwaltung und Bürgernähe der Polizei zum Trotz im Ausschuß nicht nur diese Vorlage, sondern auch einen entsprechenden Feldversuch bei der Bahnpolizei abgelehnt. Die Koalition behauptet, daß die bestehenden Dienstanweisungen zur Identifikation gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ausreichen. Tatsächlich wird den Betroffenen auf Nachfrage allzuoft der Name verweigert. Dafür haben kürzlich die Großdemonstrationen einmal mehr reichlich Beispiele gegeben. Wenn es Konflikte gibt und Bürger sich beschweren wollen und nach dem Namen fragen, heißt es bei vielen Beamten immer noch „Mein Name ist Hase" oder „Ich bin der Kaiser von China".
Auch der Einwand der Koalition, ein Namensschild gefährde Polizeibeamte, ist durch die Realität längst widerlegt. Solche Gefährdungen, wie sie jetzt befürchtet werden, sind aus dem Ausland nicht bekanntgeworden, wo vielfach strikte Kennzeichnungspflicht herrscht, wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, wo die Kriminalität noch viel höher ist als bei uns.
Im Gegenteil: Nach den dort gewonnenen Erkenntnissen wollen offenbar immer mehr Polizisten selbst im geschlossenen Einsatz den Bürgern und Bürgerinnen nicht länger als anonyme und vermummte Vollstrecker des Gewaltmonopols gegenübertreten, sondern als verantwortungsbewußt handelnde Polizeibeamte.
Herr Kollege Such, gucken Sie bitte auf die Uhr.
Ich komme zum Ende, ja.
Auch wo das Tragen des Schildes teils verbindlich und teils für bestimmte Einsatzbereiche nur freiwillig eingeführt wurde, wie etwa in Niedersachsen oder in Hamburg, wird dieses Angebot inzwischen von über 50 Prozent der Polizisten akzeptiert und auch offenbar zunehmend praktiziert.
Als Ergebnis dieser verbundenen Debatte über das Handwerkszeug unserer Sicherheitsbehörden läßt sich folgender Unterschied zwischen Koalition und Opposition festhalten.
Das muß jetzt aber sehr schnell gehen, Herr Kollege Such.
Statt unreflektierter, ideologischer und von pauschalem Mißtrauen gegen Bürgerinnen und Bürger geprägter Sicherheitspolitik der Bundesregierung plädieren Bündnis 90/Die Grünen für eine moderne und rationale Kriminalpolitik für und mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Herr Kollege Graf, Sie tun der Polizei mit diesem Gesetz keinen Gefallen. Sie werden nicht erreichen, daß sich dadurch die polizeiliche Arbeit verbessert, sondern Sie werden mit diesem BKA-Gesetz die Polizei weiter ins Abseits drängen.
Herr Kollege!
Die Polizei wird die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, auf die sie angewiesen ist, immer mehr verlieren.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des BKA-Gesetzes wird ein ebenso wichtiges wie langwieriges und kompliziertes Gesetzgebungsverfahren im Bundestag abgeschlossen. Jahrelang ist um die richtige Ausgestaltung der Neuregelung gerungen worden. Manche Vorschriften sind denn auch in der Formulierung recht kompliziert geraten. Kollege Graf, Sie haben das angesprochen. Vielleicht lag das auch an der langen Beratungszeit. Dies ist in der Tat kein Gesetz, das in das Lehrbuch für Gesetzgebungskunst mit dem Etikett, daß es sich durch eine besonders einfache und leicht nachvollziehbare Sprache auszeichnet, aufgenommen werden könnte.
Ich werte dies dennoch nicht als Beleg für mangelnde Gesetzgebungstechnik, sondern als Ausdruck dessen, daß die Materie außerordentlich komplex ist.
Es galt, Interessengegensätze wie die zwischen Bund und Ländern auszugleichen und Abwägungen zwischen Eingriffsmöglichkeiten des Bundeskriminalamtes und der Wahrung bürgerlicher Grundrechte vorzunehmen. Schließlich waren umfangreiche datenschutzrechtliche Regelungen in dieses Gesetz einzuarbeiten.
All diese Umstände führten dazu, daß es schon innerhalb der Regierungskoalition einen langen Meinungsbildungsprozeß gegeben hat. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist sodann im Innenausschuß ausführlich diskutiert und auf Grund einer von der Opposition gewünschten Sachverständigenanhörung in einigen Punkten modifiziert worden.
Am Ende dieses langen Prozesses steht nun ein Gesetz, das nach meiner Meinung dem Bundeskriminalamt als tragfähige Grundlage für seine Arbeit dienen wird, die Kompetenzprobleme zwischen Bund und Ländern in vernünftiger Weise löst, einer kritischen rechtsstaatlichen Prüfung durchaus standhält und zahlreiche Vorschläge des Bundesdatenschutzbeauftragten aufgegriffen hat.
Im Verhältnis zwischen Bund und Ländern kann es keinen Zweifel geben, daß die Bekämpfung der internationalen Kriminalität relativ starke Befugnisse des Bundeskriminalamts verlangt. Auf Wunsch der Länder werden aber auch deren Kompetenzen erweitert. Ihnen wird die Möglichkeit eröffnet, selbständig die Polizeien der Nachbarstaaten und der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu konsultieren, wenn Gefahr im Verzug ist oder wenn es sich um Fälle von regionaler Bedeutung im Grenzgebiet handelt.
Allerdings liegt zum Beispiel im Verhältnis zwischen dem Freistaat Bayern und der Republik Argentinien weder das eine noch das andere vor. Die kürzlich getroffenen Vereinbarungen Argentiniens mit dem Bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber mögen daher zwar geeignet sein, die internationale Handlungsfähigkeit des letzteren der einheimischen Bevölkerung zu demonstrieren, liegen jedoch keinesfalls auf der Linie dieses BKA-Gesetzes.
- Herr Penner, wir wollen uns mit dieser Kleinigkeit nicht so lange aufhalten.
Für den einzelnen Bürger bedeutsamer ist der Abschnitt über die Führung kriminalpolizeilicher personenbezogener Sammlungen des BKA. Hier bestand unsere Aufgabe darin, auf der einen Seite dem BKA die Informationen zu belassen, die es für seine Tätigkeit wirklich braucht, auf der anderen Seite aber einer überzogenen Sammelleidenschaft Grenzen zu ziehen.
Die Regelungen des Gesetzes hierzu waren selbstverständlich auch innerhalb der Koalition umstritten. Sie können als vertretbarer Kompromiß gewertet werden. Die F.D.P. hat insbesondere darauf geachtet, daß Löschungs- und Benachrichtigungsvorschriften bürgerfreundlich ausgestaltet worden sind.
Ich komme damit zum politisch kritischsten Punkt des Gesetzes, zu dem neuen § 16, der Vorschrift über
Dr. Max Stadler
den Einsatz technischer Mittel zur Eigensicherung verdeckter Ermittler.
Diese Norm lehnt sich zunächst an parallele Vorschriften in den Polizeigesetzen der meisten Bundesländer an. Versucht wurde auf Drängen der F.D.P. aber zugleich, präzisere und engere rechtsstaatliche Grenzen für den Anwendungsbereich zu ziehen.
Dabei stößt man freilich sofort auf ein Grundproblem. Wenn man eine Abweichung von „normalen" Ermittlungsmethoden gestattet, ergeben sich Konsequenzen, die zu immer neuen Eingriffen in die Rechte der betroffenen Bürger führen.
Konkret bedeutet dies: Es ist wohl unstrittig, daß der Einsatz verdeckter Ermittler zu den notwendigen Bestandteilen der Kriminalitätsbekämpfung gehört. Dann aber muß sich der Gesetzgeber die Frage stellen, ob seine Fürsorgepflicht für die verdeckten Ermittler es gebietet, zu deren Eigensicherung technische Hilfsmittel einzusetzen. Angesichts der Gefährlichkeit des Einsatzes verdeckter Ermittler läßt sich diese Frage kaum verneinen.
Damit ergibt sich aber sofort die weitere Folgerung, möglichst effektive technische Mittel zur Eigensicherung vorzusehen. Auch dem kann man sich schwerlich entziehen. Dies führte im vorliegenden Gesetz zur Zulassung akustischer und optischer Hilfsmittel.
Damit aber taucht die weitere Frage auf, wie mit sogenannten Zufallserkenntnissen, die per Tonband oder Videokamera dokumentiert sind, umgegangen wird. Der ursprüngliche Sinn des Einsatzes technischer Hilfsmittel liegt nach § 16 ausschließlich in der Eigensicherung des Ermittlers, nicht etwa in der Gewinnung von Beweismitteln. Wäre es aber wirklich vertretbar, Tonbänder oder Videoaufnahmen, mit denen schwerste Verbrechen nachzuweisen sind, nicht als Beweismittel in einem Strafverfahren zuzulassen? Die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen.
So kommt man Schritt für Schritt von einer einleuchtenden Maßnahme zur Eigensicherung zu immer stärkeren und ganz erheblichen Eingriffen in das traditionelle Beweisgewinnungsrecht. Diesen Eingriffen zuzustimmen, ist der F.D.P. nicht leichtgefallen. Wir halten aber eine Lösung für sachgerecht, die sich an der Vorschrift für Telefonüberwachung gemäß § 100 a StPO orientiert. Zufallserkenntnisse dürfen zu Beweiszwecken nur für besonders schwere, in § 16 Abs. 3 abschließend definierte Straftaten verwendet werden.
Als zusätzliche rechtsstaatliche Sicherung haben wir außerdem die Neuerung vorgesehen, daß zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt werden muß. Dem liegt die Grundidee des bekannten Werkes von Niklas Luhmann „Legitimation durch Verfahren" zugrunde. Je stärker sich der materielle Eingriff darstellt, um so notwendiger ist es, die verfahrensmäßigen Sicherungen ebenfalls besonders stark auszugestalten. Deswegen hier die Anordnungsbefugnis durch den Präsidenten des BKA und nicht etwa durch jeden beliebigen Einsatzleiter und deswegen vor allem die richterliche Bestätigung, daß die Maßnahme den Voraussetzungen entsprochen hat.
Meine Damen und Herren, § 16 des BKA-Gesetzes dient somit nicht dazu, anderweitige Verbote bestimmter Ermittlungsmethoden zu umgehen. Die Vorschrift verhindert aber, daß bei schweren Straftaten Beweise, die rechtmäßig erlangt worden sind, unverwertbar bleiben würden.
Die F.D.P.-Fraktion stimmt daher in diesem Punkt und auch sonst dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, PDS.
: Das könnte
man auch zu Protokoll geben!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben bereits in der ersten Lesung die Neuregelung des BKA-Gesetzes kritisiert: zum einen, weil wir meinen, daß durch die beabsichtigte forcierte Zentralisierung im Polizeibereich der Föderalismus unter die Räder gerät.
So hat zum Beispiel der Bundesrat moniert, durch das neue BKA-Gesetz ergäbe sich eine - ich zitiere -„verfassungsrechtlich äußerst bedenkliche Kompetenzverschiebung zuungunsten der Bundesländer". Die Bundesregierung bestätigt das, wenn sie antwortet - Zitat -:
Insbesondere im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus und der Organisierten Kriminalität ist eine konsequente Trennung zwischen Prävention und Repression nicht möglich.
Die Bundesregierung verwischt somit gerade in diesen beiden sensiblen Kriminalitätsbereichen vorsätzlich die Trennung zwischen der länderpolizeilichen Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung.
Ferner sollen BKA-Spitzel zukünftig auch einen sogenannten kleinen Lauschangriff durchführen können, zum Schutz von sogenannten verdeckten Ermittlern des BKA, für die in der Novelle nach wie vor keine gesetzliche Grundlage geschaffen worden ist. Durchführen sollen diesen BKA-Lauschangriff nicht mehr, wie zunächst vorgesehen, Beamte, sondern, wie es jetzt in der Beschlußempfehlung heißt, „Bedienstete des BKA", also offenkundig auch nicht verbeamtete, nichtpolizeiliche V-Leute des BKA.
Schließlich haben wir auf die Gefahr hingewiesen, daß sich die Polizei - hier in Vertretung des BKA - immer mehr einer demokratischen Kontrolle entzieht, sich immer mehr verselbständigt. Mit wachsender Sorge beobachtet selbst der honorige Deutsche Richterbund in seiner Stellungnahme zum BKA-Gesetz den unerhörten Machtzuwachs des BKA - ich zitiere -:
Ulla Jelpke
Mittel und Möglichkeiten der Polizei werden gestärkt, aber die Bedeutung der Staatsanwaltschaften und Gerichte für die Gewaltenteilung werden nicht berücksichtigt.
Nehmen wir nur das Beispiel der im BKA-Gesetz vorgesehenen Zeugenschutzregelungen: Wer kontrolliert eigentlich, mit welchen Versprechungen die Polizei die Aussagebereitschaft bei „gefährdeten Zeugen" weckt oder ob zum Beispiel durch die Drohung, das Zeugenschutzprogramm zu beenden und den Kronzeugen seinen ehemaligen Kumpanen auszuliefern, Aussagen auch schon einmal erpreßt werden? Wer kontrolliert das?
Diese Fragen sind im polizeilichen Alltag weder von der Staatsanwaltschaft noch von den Gerichten, geschweige denn von seiten der Verteidigung zu überwachen. Hier herrschen meiner Meinung nach wirklich Wildwestmethoden.
Wir haben aus diesen Gründen eine Anhörung zum BKA-Gesetz gefordert. Diese Anhörung wurde auch im kleinen Rahmen durchgeführt. Allerdings: Von Regierungskoalition und SPD wurden keinerlei kritische Sachverständige geladen, auch nicht zum Beispiel die Kritischen Polizisten. Was ich besonders famos finde, Herr Graf: Noch nicht einmal ein Datenschutzbeauftragter hat diese Anhörung begleitet.
- Das ist sehr unsachlich, Herr Marschewski.
In der Presse wird immer wieder von einer möglichen großen Koalition gemunkelt. Ich meine, in dieser Frage - der Kollege Schlee hat es heute schon vorgeführt - haben wir sie bereits sehr deutlich.
Ein Wort zur Großen Anfrage, auf die mein Kollege Such bereits hingewiesen hat. Ich persönlich bin es ja gewöhnt, daß man meine Anfragen in der Regel kaum beantwortet, ich meine aber schon, daß sich das Haus darum kümmern sollte, wie Große Anfragen, insbesondere die der Grünen, beantwortet werden.
Zum Beispiel wurden zwölf Fragen aus polizeitaktischen Gründen, vier Fragen aus nicht näher erklärten Geheimschutzgründen und sieben Fragen wegen des „zu großen Aufwandes" nicht beantwortet.
Nur zur Erinnerung: Hier sollten beileibe nicht Erbsen gezählt werden. Vielmehr sollten der Bevölkerung das Ausmaß und die Eingriffstiefe polizeilicher Vorgehensweisen transparent gemacht werden. Wie sich die Exekutive gegenüber der demokratischen Kontrolle durch das Parlament abschottet, ist intolerabel und von den Grünen zu Recht kritisiert worden.
Herr Kollege Schlee, noch ein Wort zum Antrag der Grünen, der sich mit der - eventuell kodierten -
Namensnennung von Polizisten befaßt. Auch wir meinen, daß das im Interesse demokratischer Transparenz wäre. Um die Beschwerdemacht von Opfern rechtswidrigen polizeilichen Handelns demokratischer zu gestalten, um also dazu beizutragen, daß sich Opfer wirklich verteidigen können, halten wir das für ausgesprochen wichtig. Deshalb werden wir dem Antrag und auch dem Entschließungsantrag der Grünen zustimmen.
Herr Bundesminister, bin ich richtig informiert, daß Sie jetzt sprechen wollen?
Es soll so sein, wie Sie sagen.
Bitte, Sie haben das Wort.
Verzeihung! - Bitte!
Mir war gesagt worden, der Bundesminister wird jetzt sprechen. Aber wir gehen so nett miteinander um. Herr Kollege Kemper, SPD, bitte.
Vielen Dank, Herr Minister, daß Sie mir den Vortritt gelassen haben; vielleicht hätte ich sonst auf Ihre Rede antworten können. Aber jetzt wechseln wir nicht noch einmal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange haben wir auf das neue BKA-Gesetz gewartet. Es ist heute bereits wiederholt darauf hingewiesen worden, daß die Länge der Wartezeit nicht unbedingt positiv im Verhältnis zur Qualität steht. Das Sprichwort „Was lange währt, wird endlich gut" trifft in diesem Fall nicht zu.
Das, was wir heute diskutieren und verabschieden, ist die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir stimmen zwar zu, aber es ist eine freudlose Zustimmung. Es ist nicht gelungen, die vorhandenen Kräfte wirklich zu bündeln. Es ist nicht gelungen, Empfindlichkeiten zu beseitigen.
Ich will auf diese Einzelheiten gar nicht näher eingehen. Mein Freund Günter Graf hat das eingehend dargestellt und die Probleme beschrieben. Ihnen, Herr Kanther, ist es in den Verhandlungen mit den Länderinnenministern unabhängig von der Parteizugehörigkeit nicht gelungen, einen größeren gemeinsamen Nenner zu erreichen.
Wir reden ständig über die Bedeutung von Interpol und Europol und über die Verbesserung und Stärkung dieser Institutionen. Tatsächlich aber haben wir eine Situation, in der wir internationale grenzüber-
Hans-Peter Kemper
schreitende organisierte Kriminalität mit der gesamten gewaltigen Polizeipower von Bremen oder Thüringen bekämpfen werden, um das ein wenig überspitzt zu formulieren.
Wir haben große Probleme mit der Kriminalität insgesamt, insbesondere aber mit der Zunahme der Gewaltkriminalität, der Schlepperkriminalität und dem großen Feld der organisierten Kriminalität.
Angesichts dieser Entwicklung kann das Gebot der Stunde nur heißen: Verhütung und Verfolgung von Straftaten aller Art, effektive Verbrechensbekämpfung auf nationaler und internationaler Ebene und Nutzung aller zulässigen Instrumente, um den skrupellosen Geschäftemachern, die für das Leid und die Not vieler Menschen verantwortlich sind, das Handwerk zu legen.
Lieber Kollege Such, Ihre Ausführungen, Ihr Entschließungsantrag und Ihre Große Anfrage erstaunen mich einigermaßen, um das ganz vorsichtig auszudrücken. Wenn ich Sie höre und Ihre Papiere lese, habe ich manchmal den Eindruck, Sie fürchten den Staat und die Polizei mehr als die Straftäter.
Das erstaunt mich besonders deshalb, weil ich weiß, daß Sie als Kriminalbeamter mit langer Dienstzeit und großer Erfahrung auch in Führungspositionen tätig waren und es eigentlich besser wissen müßten.
Ich halte es nicht für in Ordnung - das will ich ganz deutlich sagen -, wenn Sie unterschwellig den Eindruck erwecken, die polizeilichen Maßnahmen richteten sich in erster Linie gegen Unverdächtige. Ziel der Ermittlungen ist es, Täter - nicht Opfer - zu überführen. Wenn ich es einmal so kollegial sagen darf: Die Ausdrücke „RAF-Deutsch" und „Vollstrecker" passen in diesem Zusammenhang absolut nicht. Man sollte sie wirklich noch einmal überdenken.
Es stimmt ja, und das wird auch von uns gar nicht bestritten: Die Zahl der Telefonüberwachungen ist deutlich angestiegen, hat dramatisch zugenommen.
Aber Sie wissen genauso gut wie ich, daß diese Telefonüberwachungen in vielen Fällen zur Aufklärung von Straftaten führen, insbesondere zur Aufklärung von Straftaten im Drogenbereich. Auch wenn die Täter heute wissen oder vermuten, daß ihre Telefone abgehört werden, führen die Telefonabhörmaßnahmen immer noch zur Aufklärung von Straftaten, die sonst nicht aufgeklärt würden.
Ich will und kann nicht auf alle Punkte Ihrer Großen Anfrage eingehen. Aber wir beide wissen doch aus jahrelanger dienstlicher Erfahrung ganz genau: Es ist kein Problem, die kleinen Gauner zu überführen. Sie legen sehr schnell ein Geständnis ab, sie verzichten auf Rechtsbeistand und auf die Einlegung von Rechtsmitteln, und sie zeigen nach der Tat auch Reue.
Völlig anders verhält es sich aber bei den Schwer- und Schwerstkriminellen: Man bekommt nie ein Geständnis, die Zeugen werden bedroht, von Reue keine Spur. Sie zeigen höchstens ein Bedauern darüber, daß sie aufgefallen sind. Diese Leute sind nicht daran interessiert, sich künftig gesetzestreu zu verhalten. Vielmehr setzen sie alles daran, die kriminellen Gewinne zu maximieren und das Risiko, entdeckt oder überführt zu werden, zu minimieren. Der SPD geht es darum, gerade diesen Leuten das Handwerk zu legen. Kriminalitätsbekämpfung nach dem Motto „Die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen" wird es mit uns nicht geben.
Für uns Sozialdemokraten gibt es klare Richtlinien und Parteitagsbeschlüsse als Leitlinien für die Verbrechensbekämpfung. Es gibt eine ganze Menge neuer Instrumentarien, deren Einsatz wir für erforderlich halten, um zu einer effektiveren Verbrechensbekämpfung zu kommen. Ich will gerne einräumen, daß es keinen Königsweg gibt. Keine einzelne Maßnahme, für sich gesehen, versetzt uns in die Lage, der organisierten Kriminalität das Kreuz zu brechen. Alle Maßnahmen können nur als Mosaiksteinchen in einem ganzen Bündel von Maßnahmen betrachtet werden.
Wir sind der Meinung, daß wir sie nur bei bestimmten, klar umrissenen Straftaten
und bei Beachtung hoher rechtsstaatlicher Hürden einsetzen dürfen und können, Herr Such. Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Wir wollen bei den immensen Gewinnen ansetzen, die bei der organisierten Kriminalität erzielt werden können; sie sind der Lebenssaft der organisierten Kriminalität. Wir sehen hier einen wirkungsvollen Hebel; denn erst wenn sich Verbrechen nicht mehr lohnt, können wir Erfolge in der Verbrechensbekämpfung erzielen.
Herr Kollege Schlee, ich muß Ihnen in einem Punkt widersprechen: Unser jetziges Verbrechensbekämpfungsgesetz ist ein Flop. Die Sozialdemokraten wollten von Anfang an ein anderes Gesetz. Ich will Sie daran erinnern, daß die Koalition in dieser Frage eher zum Jagen getragen werden mußte. Selbst das nahezu unwirksame Geldwäschegesetz ist ja erst auf Druck des Vermittlungsausschusses zustande gekommen. Sie hatten noch andere Schwellenwerte, das Anwaltsprivileg und andere Ungereimtheiten in
Hans-Peter Kemper
Ihrem Gesetz. Wir wollen die rechtliche Möglichkeit schaffen, daß Vermögen, das aus der organisierten Kriminalität stammt, dem Staat anheimfällt.
Herr Kollege Kemper, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Gerne, aber ich möchte eben den Satz zu Ende bringen, Herr Marschewski.
Ob das unter Zuhilfenahme einer Umkehr der Beweislast oder mit einem neuen Gesetz, das beim Steuerrecht ansetzt, bewirkt werden kann, darüber müssen wir noch reden. Wir sind aber bereit, den rechtlichen Rahmen für den Einsatz technischer Mittel zu gestalten. Hierbei bedarf es hoher rechtsstaatlicher Hürden. Diese werden wir festlegen. Wir werden allerdings genauso deutlich machen, daß es keine Schutzzonen für organisierte Kriminelle geben darf.
So, Herr Marschewski, jetzt haben Sie das Wort.
Herzlichen Dank. Lieber Herr Kollege Kemper, Sie haben gesagt, das Verbrechensbekämpfungsgesetz sei ein Flop. Ist Ihnen bekannt, daß die SPD diesem Verbrechensbekämpfungsgesetz im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß zu 99,9 Prozent in der Fassung, in der wir es im Deutschen Bundestag eingebracht haben, zugestimmt hat, nachdem Sie es im Bundestag in völlig unverständlicher Weise abgelehnt haben?
Herr Marschewski, es scheint ein Mißverständnis zu geben. Ich habe vom Geldwäschegesetz gesprochen, auch inhaltlich. Das Anwaltsprivileg hat im Verbrechensbekämpfungsgesetz nichts verloren. Das ist ein klares Privileg aus dem Geldwäschegesetz. Auch die Schwellenwerte kommen nur im Geldwäschegesetz vor. Von daher kann es nur so sein, daß ich mich versprochen habe. Aber als Fachmann hätten Sie aus dem Inhalt erkennen müssen, daß es nur um das Geldwäschegesetz gehen konnte. Bei diesem Gesetz verhält es sich genauso, wie ich es gesagt habe.
Wollen Sie noch eine Zwischenfrage stellen?
Ja.
Lassen Sie sie zu, Herr Kollege Kemper?
Ja, bitte. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Sie sagen, Sie hätten sich versprochen. Dann sind wir d'accord. Ich sage noch einmal: Die SPD hat diesem Gesetz zugestimmt. Das ist doch völlig richtig. Ich wollte mit meiner Frage nicht mehr bewirken, als daß Sie das der deutschen Öffentlichkeit sagen.
Ich hoffe, daß die deutsche Öffentlichkeit vernommen hat, daß Ihr Geldwäschegesetz ein Flop war und daß es überhaupt nur zustande gekommen ist, weil der Vermittlungsausschuß das bewirkt hat.
Wir wissen, daß es in Verfahren, in denen es um die organisierte Kriminalität geht, Geständnisse und Zeugenaussagen eigentlich nicht gibt. Wir wissen, daß die einzelnen OK-Ebenen streng gegeneinander abgeschottet sind. Eine erfolgreiche Beweisführung macht für einen ganz eng begrenzten Bereich der Schwerstkriminalität den Einsatz technischer Mittel als Ultima ratio erforderlich. Ich will aber auch ganz deutlich sagen: Das Herausgreifen einer einzigen Maßnahme aus diesem Maßnahmenbündel - wie beispielsweise eine alleinige Regelung für den großen Lauschangriff - wird es mit der SPD nicht geben.
Der Einsatz verdeckter Ermittler kann unter bestimmten Voraussetzungen erforderlich werden. Wir sind in dieser Hinsicht durchaus verhandlungsbereit. Es ist aber völlig gegen unsere Überzeugung und unter dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht für Beamte auch nicht zulässig, den Beamten die Begehung von Straftaten zu ermöglichen oder gar abzunötigen. Die SPD wird bei den Gesetzesveränderungen sehr genau darauf achten, daß die Gratwanderung zwischen dem Notwendigen, dem Wünschenswerten und dem Rechtsstaatlichen gelingt.
Ein Wort noch - weil auch das heute auf der Tagesordnung steht - zu den Namensschildern, Herr Such. Wir sind in dieser Frage völlig leidenschaftslos. Wir sind der Meinung, daß man das machen kann. Man soll das aber den Ländern überlassen. Das müssen wir nicht auf Bundesebene regeln.
Polizeibeamte sind auch heute schon verpflichtet, Dienstausweise und Dienstmarken mit sich zu führen und diese auf Verlangen vorzuzeigen. Das wissen Sie doch alles, Herr Such. Von daher sehen wir eine Notwendigkeit für diese Namensschilder nicht. Wir sind allerdings in dieser Frage recht leidenschaftslos. Wir würden auch einem Feldversuch, wie Sie ihn eben angeregt haben, durchaus zustimmen. Das ist für uns keine Glaubensfrage; das ist auch keine Frage, die einen entscheidenden Einfluß auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität hat.
Schönen Dank.
Herr Minister Kanther, bitte.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Ich will versuchen, auf ein paar Argumente der Debatte einzugehen und verkürze meine Rede deshalb um die Dinge, die nur Wiederholung wären. Für die Bundesregierung ist entscheidend, daß der Kampf gegen die Kriminalität eine Hauptaufgabe des Staates ist, an der sich für die Bürger viel Vertrauen und Enttäuschung festmachen kann.
Deshalb ist das eine Aufgabe, die nicht statisch betrachtet werden darf, sondern die sich von der Gefährdungslage her immer wieder neu stellt. Daher ist es in den letzten Jahren so wichtig gewesen, das gesetzgeberische Handwerkszeug zu stärken, wie wir es mit den Gesetzen, die der Kollege Schlee genannt hat, getan haben. Weil die Gesetze alleine noch nicht ausreichen, ist es ebenso notwendig, daß die administrative Seite, also die Vollzugsseite gestärkt wird, wie wir es mit vielen Maßnahmen erreicht haben. Wir müssen das auch weiterhin betreiben, weil insbesondere technische Möglichkeiten immer neue Wege weisen.
Die Einführung der elektronischen Wegfahrsperre in Kraftfahrzeugen ist wahrscheinlich wichtiger als alle Vorschriften, die wir im Diebstahlsbereich überhaupt verändern oder neu schaffen könnten. Die technischen Verbesserungen bei der Bekämpfung von Kreditkartenkriminalität sind wichtiger als alle Vorschriften, die wir im Zusammenhang mit Betrug verändern können.
Die Umstellung der praktischen Arbeit des BGS auf ein neues, vorwiegend einzeldienstlich geprägtes Berufsbild ist eine noch nicht abgeschlossene Arbeit, aber ein gewaltiger Beitrag zur inneren Sicherheit insbesondere in den Grenzzonen, die die Polizeien von Bund und Ländern vor völlig neue Notwendigkeiten der Zusammenarbeit stellt. Auch das ist ein noch nicht völlig abgeschlossener, aber ein zunehmend erkannter Prozeß.
Die Frage der internationalen Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Staaten ist ein völlig neues Thema für polizeiliche Zusammenarbeit über die Grenzen hinaus. Dieser Aspekt stellt deshalb eine Notwendigkeit für die Zukunft dar und ist von herausragender Bedeutung, die auch in Zukunft noch stark zunehmen wird, da ein Großteil organisierter Kriminalität über die östlichen Landesgrenzen hereinkommt.
So besteht diese ganze Landschaft in der Verbrechensbekämpfung aus vielen Bausteinen und nicht aus Königswegen; da hat Herr Kemper völlig recht. Wenn dies aber eine gemeinsame Überzeugung ist, verehrte Kollegen von der SPD, dann müssen wir aufhören, Schaukämpfe miteinander auszutragen. Es handelt sich um eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern; niemand wird sie allein ohne Rücksicht auf die Couleur lösen können. Wenn Sie schon Maßnahmen zustimmen - in der vorigen Woche und jetzt wieder -, dann geben Sie doch einfach mal zu, daß diese Regierung etwas richtig machen kann, zum Beispiel mit diesem Gesetz.
Dann sparen wir uns die ganzen Prologe und gegenseitigen Beschimpfungen und können unsere gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck bringen, daß dieses Gesetz notwendig und richtig und ein wichtiger Baustein für die innere Sicherheit ist.
Das gilt nicht nur aus Gründen des Datenschutzes - das trifft sicher auch zu -, sondern auch weil es für die Zusammenarbeit der Polizeien von Bund und Ländern und für die Wahrnehmung innerer Aufgaben des Bundeskriminalamtes unentbehrlich ist.
Die Frage des Auslandsdienstverkehrs, die lange im Zweifel stand, obwohl er in unserer Epoche zweifellos eine ganz besondere Bedeutung gewonnen hat, ist einem völlig vernünftigen Ergebnis zugeführt worden. Es ist kein Ergebnis, das den Bund mit ungenügenden Kompetenzen zurückläßt, weil die Länder ein Übermaß an Widerstand geleistet hätten. Das ist überhaupt nicht der Fall; es kommt darauf an, was man mit dem Gesetz will. Da sage ich Ihnen allerdings: Ich stehe in der föderalen Ordnung der Dinge dazu, daß die Hauptaufgaben der inneren Sicherheit durch die praktische Tagesarbeit der Polizei in den Ländern geleistet wird.
- Ich komme gleich darauf, Herr Graf. Kein Streit, wo möglicherweise kein Anlaß dazu besteht! Sie haben gerügt, daß die Länderkompetenzen zu stark und die Bundeskompetenzen nicht hinreichend fortentwikkelt worden seien.
Ich sage Ihnen, daß das keine Frage des Gesetzes ist. Das Gesetz ist grundvernünftig und geht von der föderalen Aufgabenstruktur aus. Es handelt sich um eine Frage des Geistes der Anwendung. Darauf kommt es an.
Wenn dieses oder ein anderes Gesetz von föderalistischen Krähwinklern im Geiste vergangener Jahrzehnte angewandt wird, dann greift es nicht. Wenn es ein gemeinsames Bewußtsein dafür gibt, daß internationale Kriminalität, die ins Land hereinschwappt, im Bereich der organisierten Kriminalität in hohem Maße Ausländerkriminalität mit ganz besonders schwierigen Problemen ethnisch abgeschlossener Gruppierungen ist, dann ergeben sich daraus völlig vernünftige Formen der Zusammenarbeit.
Das zeigt sich, wie ich glaube, schließlich auch in der Behandlung im Bundesrat. In den letzten Monaten des schwierigen Werdeganges dieses Gesetzes ist nicht mehr von jenem Widerspruch gegen das Beistellrecht des Bundeskriminalamtes oder das Eintrittsrecht auf Weisung des Bundesinnenministers die Rede gewesen, wie ihn am Anfang die Bundesländer
Bundesminister Manfred Kanther
gegen das Gesetz vorgebracht haben. Ich hoffe, es bleibt dabei.
Wir werden die nächste Innenministerkonferenz von Bund und Ländern nach gehöriger und gemeinsamer Vorbereitung dem Thema Bekämpfung der organisierten Kriminalität widmen. Wir haben uns dazu mehrfach im Kreise der Innenminister ohne Rücksicht auf die Couleur darüber völlig einmütig unterhalten. Nur das wird auch der Gefährdungslage gerecht. Die Bürger haben einen Anspruch darauf, daß wir nicht Schaukämpfe ausführen, sondern den Kampf gegen die Kriminalität mit unseren zeitgemäßen Methoden aufnehmen.
Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß Länder auch Kontakte in das Ausland haben, wenn die internationale Kriminalität über die Grenzen schwappt. Es kommt darauf an, wie das geschieht. Das ist jetzt vernünftig geregelt.
Es muß nicht alles über das Bundeskriminalamt geschehen. Aber es darf nichts Wichtiges am Bundeskriminalamt vorbeigehen. Seine Aufgabe als Zentralstelle ist es, dafür zu sorgen, daß bei keinem Bundesland Informationsdefizite entstehen. Deshalb muß das Bundeskriminalamt jederzeit in der Lage sein, alle Informationen zu bündeln. Es darf von keinem Informationsfluß ausgeschlossen sein.
Die Hauptaufgabe des Bundeskriminalamtes liegt nicht im Wettlauf mit den Landeskriminalämtern nach Tatortmanier. Die übertragenen Kompetenzen in der Bekämpfung der organisierten Kriminalität am Fall sind eher die Ausnahme für das Bundeskriminalamt, insbesondere in seiner Aufstellung der Zukunft. Die Aufstellung der Zukunft ist das Bundeskriminalamt als Zentralstelle: als Zentralstelle zur Information der Länder und zur Aufnahme von Informationen; als Zentralstelle nach außen, insbesondere in der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, auch mit Blick zum Beispiel auf die zunehmenden Kompetenzen von Europol.
Die Erstellung von Lagebildern gegen die organisierte Kriminalität ist eine zentrale Aufgabe des Bundeskriminalamtes. Im Einzelfall gelingt das einmal mehr und einmal weniger. Wenn wir uns an die Bekämpfung der Rumänenbanden vor anderthalb Jahren erinnern, dann muß man feststellen, daß beides richtig war: Es gab eine ungenügende Information aus den Ländern, aber umgekehrt gab es auch in jeder Tageszeitung Nachrichten über Delikte in mehreren Bundesländern, so daß offensive Fragestellungen von seiten des Bundeskriminalamtes stärker möglich gewesen wären.
Das muß freimütig zugestanden werden: An solchen Phänomenen lernen Behörden. An eine solche Stelle gehört ganz frühzeitig - möglichst präventiv - das Lagebild des Bundeskriminalamts, das die Daten vergleichbarer Delikte aus mehreren Bundesländern und möglichst auch noch aus dem Ausland zusammenfügt. Wenn wir diese Kräfte so bündeln, dann werden wir eine große Chance im Kampf gegen die internationale Kriminalität haben.
Die Informationsstränge nach außen können nicht siebzehnfach verlaufen. Es ist zwingend, daß das
Bundeskriminalamt sie bündelt. Mit dem Inkrafttreten des Bundeskriminalamtgesetzes nach 25 Jahren der Existenz des alten Gesetzes wird neben Europol ein ganz großes Projekt ermöglicht: Das ist das neue polizeiliche Informationssystem Inpol, das zum Nervensystem im Informationsverbund von Bund und Ländern in der Bekämpfung der organisierten Kriminalität werden wird.
Als der Gesetzentwurf Anfang 1995 nach Jahren des Basteins von uns wieder eingebracht worden ist, hat manche Kritik kaum ein gutes Haar an ihm gelassen. In der Zwischenzeit hat sich das Bewußtsein für die bedrohliche Lage der inneren Sicherheit, was den Kampf gegen die organisierte Kriminalität angeht, geändert. Deshalb gibt es heute eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz. Sie haben es einer Anhörung unterzogen, einer Anhörung von Experten, insbesondere von Länderexperten. Diese Anhörung hat ergeben, daß dieses Gesetz, abgesehen von geringfügigen Ecken, deren Rundmachung dankenswerterweise im Ausschuß noch erfolgt ist, auf eine breite Zustimmung der Fachöffentlichkeit stößt.
Deshalb hoffe ich, daß die breite Zustimmung heute im Bundestag von einer ebensolchen im Bundesrat gefolgt wird. Ich wäre insbesondere auch den Kollegen der SPD dankbar, wenn ihre Zustimmung hier dazu führen könnte, daß das Bundeskriminalamtgesetz in dem wichtigen Gremium, in dem die Länder, die durch Polizei und Justiz zuständig für die innere Sicherheit sind, vertreten sind, gleichfalls Zustimmung findet, um damit ein neues Wegzeichen zu sein für eine gemeinsame Bekämpfung des Verbrechens in dieser Zeit, in der das wirklich eine schwierige und in vielen Bereichen neuartige Aufgabe ist. Dazu wird dieses Gesetz einen wichtigen Beitrag leisten.
Danke sehr.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten. Es handelt sich um die Drucksachen 13/1550 und 13/7208. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen Bündnis 90/Die Grünen und die Gruppe der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen; Mehrheitsverhältnisse wie vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
auf Drucksache 13/7261. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Erkennbarkeit von Polizeibeamten durch Namensschilder oder Dienstnummern; das ist die Drucksache 13/4402. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2002 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Konrad Gilges, Ottmar Schreiner, Rudolf Dreßler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in Baubetrieben
- Drucksache 13/7122 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsauschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Marieluise Beck , Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ganzjährige Beschäftigung auf dem Bau fördern
- Drucksache 13/7194 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Konrad Gilges, SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Ihnen, der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion, 1994 vorausgesagt, daß die Abschaffung des Schlechtwettergeldes erstens keine Kosten sparen wird und zweitens die Winterarbeitslosigkeit steigen wird. Diese Voraussage ist eingetreten. Weil unsere Prognose richtig war, legen wir nun einen Gesetzentwurf vor, der der Kostensteigerung durch Winterarbeitslosigkeit und der erhöhten Winterarbeitslosigkeit von Bauarbeitern entgegenwirken soll.
Wir tun dies zum zweitenmal. Wir haben den ersten Versuch schon 1994 gestartet. Zu dieser Zeit konnten Sie sich noch mit der Argumentation herausreden, die Zeit sei noch nicht reif, man wisse noch nicht genau, welche Wirkung die Abschaffung des Schlechtwettergelds habe. Heute steht fest: höhere Kosten, höhere Arbeitslosigkeit unter den Bauarbeitern.
Wir tun dies gemeinsam mit den Ländern Niedersachsen, Hessen, Saarland, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und - man höre und staune - Berlin, das kein sozialdemokratisch geführtes Land ist, sondern ein Land, das einen Regierenden Bürgermeister von der CDU hat.
Wir tun dies auch im Einklang mit der Forderung der Industriegewerkschaft BAU. Das Schlechtwettergeld müsse wieder eingeführt werden, verlangte der Gewerkschaftsvorsitzende Wiesehügel. Die Tarifvertragsparteien seien bereit, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Dazu benötigten sie aber klare Signale auf Grund eines entsprechenden gesetzgeberischen Handelns in Bonn. Dieses gesetzgeberische Handeln geschieht hiermit, indem wir einen diesbezüglichen Gesetzentwurf einbringen.
1959 wurde unter der Regierung von Adenauer das Schlechtwettergeld eingeführt. Die damalige Bundesregierung unter Adenauer wollte damit die Saisonarbeitslosigkeit von Bauarbeitern abschaffen. Im Jahre 1994 und in den nachfolgenden Jahren haben Sie unter der Verantwortung des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Arbeitsministers Norbert Blüm die Saisonarbeit für die Bauarbeiter wieder eingeführt.
400 000 arbeitslose Bauarbeiter gibt es in diesem Winter. Das ist die höchste Zahl arbeitsloser Bauarbeiter seit den 50er Jahren und seit der Zeit, in der es das Schlechtwettergeld gab. Nur vor der Einführung des Schlechtwettergeldes 1959 gab es eine solch hohe Arbeitslosigkeit unter Bauarbeitern. Das haben Sie wahrlich geschafft.
200 000 davon - so sagen die Fachleute rundum - sind allein aus witterungsbedingten Gründen arbeitslos, was also nur daherrührt, daß das Schlechtwettergeld abgeschafft worden ist - mit all den Folgen, die sich daraus ergeben: den volkswirtschaftlichen Konsequenzen, dem hohen Kapitalverlust, den hohen Produktivitäts- und Produktionsverlusten und der Zerstörung von Arbeitskraft. Denn viele Bauarbeiter verlassen dadurch, daß sie Saisonarbeiter geworden sind, den Bau - dann, wenn sie es können - und versuchen, in der Industrie oder anderswo unterzukommen. Auch das ist eine Konsequenz dieser Abschaffung. In der Tendenz werden Sie am Bau schlechtere Fachhandwerker vorfinden, als Sie das in der Vergangenheit hatten. Das Schlechtwettergeld war auch ein Garant dafür, daß sich in den letzten
Konrad Gilges
Jahren die Qualität der Arbeitskräfte am Bau positiv entwickelt hat.
Ihr Hauptargument war, Kosten zu sparen. Die Kosten, die die Bundesanstalt für Arbeit für das Schlechtwettergeld ausgeben mußte, lagen pro Jahr, rund gerechnet, zwischen 700 und 900 Millionen DM. Was ist aus dem Argument, Kosten sparen zu wollen, geworden? Es ist daraus geworden, daß die Kosten für die witterungsbedingte Arbeitslosigkeit heute bei 2 Milliarden DM liegen. Sie haben es geschafft, daß bei der Bundesanstalt für Arbeit Mehrausgaben von zirka 1,5 Milliarden DM entstehen. Das ist Ihr Beitrag zur Lohnkostensenkung. Sie haben genau das Gegenteil von dem erreicht, was Sie erreichen wollten. Heute ist die Arbeitsstunde am Bau teurer, als sie es in der Vergangenheit war, weil nämlich höhere Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt werden müssen.
Denn die Kosten für die erhöhte Arbeitslosigkeit der Bauarbeiter, die von der Bundesanstalt für Arbeit gezahlt werden, werden von allen Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen, die einen Beitrag zur Bundesanstalt für Arbeit leisten.
Die Kollegen auf den Baustellen titulieren diesen Flop, den Sie sich da geleistet haben, mit Worten wie „Die sind bekloppt" oder „Das sind Dummköpfe, die so etwas machen" oder „Die haben keine Ahnung", „Idioten" usw. Man brauchte in der letzten Woche nur an der Demonstration in Berlin teilzunehmen, um all diese Sprüche zu hören. Ich ziehe mir solche Sprüche nicht an. Aber ich glaube, sie sind für einen Teil derjenigen, die das Schlechtwettergeld 1994 abgeschafft haben, zutreffend.
Ihre Alternative war, daß die Tarifvertragsparteien eine tarifvertragliche Regelung zustande bringen müßten. Das war Ihre Forderung. Diese konnte aber nie tragen. Warum konnte eine solche tarifvertragliche Regelung, die ja zustande gekommen ist, nicht tragen? - Weil es keine gesetzliche Absicherung solcher tarifvertraglichen Regelungen gibt, wie sie die Industriegewerkschaft BAU immer gefordert hat. Sie hat gesagt - ich habe ja soeben Herrn Wiesehügel zitiert -: Wir machen so etwas; aber es muß gesetzlich abgesichert sein. Dem haben Sie sich verweigert.
Eine solche tarifvertragliche Lösung konnte natürlich nicht tragen, weil das den Arbeitgeber pro Stunde 16 DM kostet. Das heißt, wenn er in der Wintersaison Löhne für 150 Stunden zu einem Stundensatz von zirka 16 DM übernehmen muß, dann bedeutet das pro Arbeitsplatz im Baugewerbe eine Kostenübernahme von, rund gerechnet, 2 400 DM. Die will er natürlich sparen. Wäre ich Arbeitgeber am Bau - das sage ich Ihnen ganz offen -,
dann würde auch ich versuchen, das zu sparen und eine bequemere Lösung zu finden, indem ich die Leute vor Weihnachten zum Arbeitsamt schicken und ihnen sagen würde: Kommt im Monat März oder April, wenn besseres Wetter ist, wieder! Diese Lösung - -
- So machen es diese Arbeitgeber. Dabei handeln sie in ihrer Interessenlage auch vollkommen logisch. Auch wenn sie sich unsozial verhalten, so handeln sie im Sinne ihrer Interessenlage doch logisch. Deshalb kann eine tarifvertragliche Regelung, wenn sie nicht gesetzlich abgesichert ist, auch überhaupt nicht tragen.
Ihre immer wieder auftauchende Forderung, man müsse für die Bauarbeiter ein Jahresarbeitsentgelt einführen, ist ja vernünftig; das fordert ja auch die Industriegewerkschaft BAU. Nur, dann müssen Sie auch sagen, wie Sie so etwas gesetzlich absichern wollen. Ein Jahresarbeitsentgelt funktioniert nur, wenn es gesetzlich abgesichert ist. Anderenfalls geht das genauso aus wie beim Schlechtwettergeld bzw. wie der Flop mit dem Tarifvertrag über die Ersatzregelung.
- Sie können das gesetzlich dadurch absichern, daß Sie das im Sinne eines Umlageverfahrens machen, wie es beim Gerüstbau ja auch der Fall ist. Sie werden ja gleich mit der Argumentation kommen, daß es beim Gerüstbau und
beim Landschaftsbau funktioniert. Aber es funktioniert nur deswegen, Frau Kollegin Babel, weil es in diesem Bereich eine Umlagefinanzierung gibt. Das heißt, die Arbeitgeber beteiligen sich auf einer vereinbarten Ebene, die nach meiner Meinung gesetzlich geklärt werden muß - das kann man nur in einer speziellen Branche durch Tarifvertrag regeln -, an einer Umlagefinanzierung. Der Kollege, dessen Arbeit dann witterungsbedingt vom Arbeitgeber ausgesetzt wird, bekommt dann aus dieser Umlage den Lohn ersetzt. Wenn Sie das so machen, dann funktioniert es. Aber so, wie Sie sich das vorgestellt haben, funktioniert es nicht. Das heißt, ein solches Umlageverfahren muß gesetzlich geregelt werden. Das gilt auch für ein Jahresarbeitsentgelt für die Bauarbeiter, für das wir alle sind.
Im Winter 1997/98 wird die Katastrophe, die Sie heraufbeschworen haben, noch größer. Wir alle, insbesondere die Gewerkschaften und die Arbeitgeber,
Konrad Gilges
gehen davon aus, daß es im Winter 1997/98 eine noch größere Bauarbeiterarbeitslosigkeit geben wird. Die Schätzungen gehen dahin, daß alleine bis Ende dieses Jahres - so der Arbeitgeberverband Bauindustrie -, rund gerechnet, 75 000 Arbeitsplätze am Bau verlorengehen. Nebenbei merke ich an, daß im Jahr 1996 2 600 Firmenzusammenbrüche stattgefunden haben. Daraus können Sie ersehen, was im Baugewerbe derzeit los ist.
Es gibt nur eine Alternative. Das ist eine Kehrtwende. Sorgen Sie dafür und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Wenn Sie dies tun, dann werden Sie auch wieder einen Winterbau haben. Sie werden gute Bauhandwerker haben. Sie werden den sozialen Frieden am Bau und auch in unserer Bundesrepublik haben. Wenn Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen, dann nehmen Sie das Risiko auf sich, daß es mehr Krach, mehr Auseinandersetzung gibt. Ich glaube, daß sich die Bauarbeiter den nächsten Winter so nicht mehr gefallen lassen werden.
Ich erlaube mir nur die allgemeine Bemerkung, daß man auch bei Zitaten ein bißchen vorsichtig sein muß.
- Wenn man jemanden zitiert, der unparlamentarische Ausdrücke verwendet - -
- Das macht die Sache dann noch schwieriger, Herr Kollege Gilges. Ich hatte das Gefühl, Sie hätten auf die Ihnen eigene liebenswürdige Weise zitiert und zuvor gesagt, Sie machten sich das Vokabular nicht ganz zu eigen.
- Nein, ich habe das anders verstanden. Nun lassen Sie es einmal bei meinem Verständnis und dem allgemeinen Hinweis, daß man insoweit ein bißchen zurückhaltend sein sollte, bewenden. Einverstanden? - Gut.
Dann hat jetzt der Kollege Franz Romer, CDU/ CSU, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aus meiner Sicht wird die Diskussion rund um die Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in Baubetrieben besonders von seiten der SPD sehr einseitig geführt.
Kurz gesagt, es wird lediglich darauf hingewiesen, daß die Streichung des Schlechtwettergeldes zu einer höheren Arbeitslosigkeit in den Wintermonaten geführt hat.
Tatsache ist aber, daß es im Jahr 1986 in Westdeutschland mit der alten Schlechtwettergeldregelung eine ebenso hohe Arbeitslosigkeit von Bauarbeitern gegeben hat wie derzeit.
Die Argumentation der SPD beruht somit auf einem Irrglauben und streut den Betroffenen wie so oft Sand in die Augen. Durch Ihren Gesetzentwurf, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der SPD, in dem Sie die Schlechtwettergeldregelung wieder in das Arbeitsförderungsgesetz einführen wollen, drehen Sie das Rad der Geschichte wieder einmal in die falsche Richtung.
Sie drehen es nämlich zurück.
Durch die geltende Regelung im Arbeitsförderungsgesetz haben wir das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben. Die ersten 150 Ausfallstunden werden in der Schlechtwetterzeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern des Baugewerbes getragen.
In besonders harten Wintern zahlt die Bundesanstalt für Arbeit, also die Solidargemeinschaft, ab der 151. Ausfallstunde das Winterausfallgeld. Diese Regelung war und ist vernünftig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Problem liegt doch wohl darin, daß die tariflichen Regelungen von den Betrieben des Bauhauptgewerbes nicht ausreichend angenommen wurden. Es ist offensichtlich, daß durch die Kündigungen die bestehenden tariflichen Regelungen unterlaufen werden sollen, um die damit verbundenen finanziellen Mehrbelastungen gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Situation der Branche zu vermeiden.
Von den Entlassungen sind in den Monaten Januar und Februar 1997 rund 400 000 Bauarbeiter betroffen. Um eine Wiederholung der derzeitigen Winterarbeitslosigkeit im nächsten Winter zu verhindern, haben die Tarifparteien erneut Verhandlungen mit der Zielsetzung aufgenommen, eine für alle Betriebe finanzierbare Regelung zu erreichen.
Wir sollten somit im Deutschen Bundestag den dringenden Appell an die Tarifparteien richten, die begonnenen Verhandlungen fortzuführen, damit der
Franz Romer
nächste Winter nicht wieder zu solchen Arbeitslosenzahlen im Baugewerbe führt.
Als das Schlechtwettergeld durch das Winterausfallgeld ersetzt wurde, waren es nämlich ab 1995 die Tarifparteien, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der SPD, die mit ihren Tarifregelungen ganz klar die Verantwortung für die witterungsbedingten Ausfälle im Winter übernommen haben. Der Vorschlag der SPD - das kann ich an dieser Stelle deutlich machen - wird von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen klar abgelehnt.
Denn wir haben alle volles Vertrauen in die Tarifparteien. Sie werden sich trotz der momentan unterschiedlichen Standpunkte auf eine gemeinsame Linie für das Baugewerbe einigen.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Bauwirtschaft schon seit 1995 einen Rückgang der Bauinvestitionen zu verkraften hat und seit längerem mit erheblichen strukturellen Anpassungsproblemen kämpft. Um Kosten zu sparen, werden die Arbeitnehmer entlassen. Durch Kündigungen mit Wiedereinstellungszusagen sollen die tariflichen Regelungen zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit umgangen werden.
Die Betriebe setzen somit ihr wichtiges Betriebskapital, ihre Arbeitnehmer, aufs Spiel. Zudem machen sie sich handlungsunfähig, well sie auf kurzfristige Auftragseingänge nicht reagieren können. Dieses tarifwidrige Verhalten belastet alle Beitragszahler. Daß dies nicht so sein darf, sehen auch die Tarifparteien ein. Daher haben sie neue Verhandlungen aufgenommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor kurzem zeigte mir zum Beispiel ein Vorfall in meinem Heimatwahlkreis, wie betriebsinterne Regelungen einen großen Beitrag zum Erhalt der Arbeitsplätze im Baugewerbe leisten können.
Das betreffende Unternehmen zahlt seinen Mitarbeitern das gesamte Jahr hinweg einen konstanten Monatslohn, also auch in den Wintermonaten, in denen normalerweise nicht gearbeitet wird. Möglich wird dies durch ein Zeitkonto, auf dem jede Überstunde verbucht wird.
Die Grundfragen lauteten für dieses Unternehmen: Wie viele Überstunden sind notwendig, um einen konstanten Lohn zu bezahlen, und wie viele Überstunden sind den Arbeitnehmern zuzumuten? Während über 180 Stunden pro Arbeitnehmer und Jahr auf Grund der Wetterverhältnisse in dieser Region notwendig wären, um den konstanten Lohn zu zahlen, beobachtete die Unternehmensleitung, daß 140 Überstunden für die Arbeitnehmer durchaus zu leisten wären.
Die Differenz von 40 Überstunden erlangen die Arbeitnehmer dadurch, daß sie von der Unternehmensleitung auf Fortbildungsseminare geschickt werden, in denen sie lernen, wie beispielsweise Qualitätsstandards angehoben und die Sicherheit auf den Baustellen verbessert werden kann. Sie werden ebenso zu kleineren Reparaturen an Baufahrzeugen befähigt.
Nachdem das Unternehmen Rücklagen gebildet hatte, mit denen man im Falle eines Konkurses sämtliche Überstunden bezahlen könnte, stimmten die Arbeitnehmer diesem Vorschlag einstimmig zu. Der Vorteil für den Unternehmer ist, daß es keine klassischen Ausfallzeiten mehr gibt, da diese durch Überstunden ausgeglichen werden. Außerdem spart der Unternehmer Lohnnebenkosten, weil die Firma diese Kosten bei den klassischen Modellen auch während der unproduktiven Winterzeit voll übernehmen muß.
Andererseits können die Arbeitnehmer mit festen monatlichen Bezügen viel besser planen. Sie hatten auch früher von dem Überstundengeld nicht so viel, da ihre Abzüge überproportional hoch waren. Aber was den Arbeitnehmern noch weit wichtiger ist: Sie haben über das gesamte Jahr hinweg einen Arbeitsplatz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Rahmen der Diskussion ist dies ein innovativer Schritt in die richtige Richtung. Statt das Baugewerbe weiterhin mit Gesetzen zu strangulieren, sollten wir - dies will die Regierung mit Hilfe der Flexibilisierung von Arbeitszeiten erreichen - dem Baugewerbe in schwierigen Zeiten zur Seite stehen, damit Arbeitsplätze erhalten bleiben.
Dem Gesetzentwurf der SPD ist lediglich zu entnehmen, daß diese Notwendigkeit noch nicht begriffen worden ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem vorher Gesagten habe ich versucht klarzustellen, warum die Koalition einerseits keinen Handlungsbedarf sieht, die Regelung des Schlechtwettergelds wieder in das Arbeitsförderungsgesetz einzuführen.
Andererseits versuchte ich darzulegen, wie betriebsinterne Regelungen, welche auf eine Flexibilisierung der Arbeitszeit abzielen, auch in Baubetrieben zu einem konstanten Monatslohn führen können.
Flexibilisierung sowie innovative Ideen und Regelungen werden in Zukunft dafür sorgen, daß die Bundesregierung nichts von dem in sie investierten Vertrauen einbüßen wird. Ich bin mir sicher, daß sich dies auch im Rahmen der weiteren Debatte bestätigen wird.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Arbeitslosigkeit im Baubereich hat in diesem Winter unglaubliche Ausmaße angenommen. Im Februar waren über 400 000 Bauarbeiter arbeitslos. Die Arbeitslosenquote liegt in diesem Bereich bei über 28 Prozent.
Wir haben zum erstenmal seit den 50er Jahren am Bau wieder Saisonarbeitslosigkeit als Massenphänomen. Die hohe Arbeitslosigkeit im Baubereich hat eine ganze Reihe von Gründen, über die wir hier schon öfter debattiert haben: ein Entsendegesetz, das nicht wirkt - darüber haben wir gestern debattiert -, den Rückgang öffentlicher Aufträge auf allen Ebenen wegen Finanzknappheit. Diese Arbeitslosigkeit hat ihren Grund auch darin, daß Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, das Schlechtwettergeld abgeschafft haben.
Daß die Arbeitslosigkeit gerade jetzt so gestiegen ist, liegt eindeutig am Winter. Das kann bei über 250 000 Neuzugängen bei den Arbeitslosmeldungen im Baubereich allein im Januar niemand ernstlich abstreiten, auch Sie nicht, Herr Romer.
Damals, in den 50ern, ist das Schlechtwettergeld eingeführt worden, um die hohe Winterarbeitslosigkeit einzudämmen, von einer CDU/CSU-Regierung übrigens. Darauf hat der Kollege Gilges schon hingewiesen. In dieser Legislaturperiode haben Sie es wieder abgeschafft und durch ein sogenanntes Winterausfallgeld ersetzt - eine offensichtlich ausgesprochen schlechte Idee, die Sie jetzt mit verheerender Wirkung im Feldversuch getestet haben. Die neue Regelung ist ein kompletter Flop.
Sie greift einfach nicht, weil die Unternehmer den Lohn ganz sparen und die Leute lieber entlassen, als die höheren Belastungen durch die Neuregelung zu bezahlen. Sicher - das wissen wir alle - das ist Tarifbruch oder Tarifflucht. Denn schließlich war eine ganzjährige Einkommenssicherung tariflich vereinbart, die nur noch staatlich flankiert werden sollte.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, diese Arbeitgeber jetzt mit Schimpf und Schande überziehen, dann haben Sie ausnahmsweise völlig recht und unsere volle Unterstützung. Aber all das enthebt Sie nicht der Notwendigkeit, sich an die eigene Nase zu fassen und das zu ändern, was Sie als Regierung zu diesem Desaster beigetragen haben und noch immer beitragen.
Die Folgen von Tarifflucht und Tarifbruch bekommen nicht die Arbeitgeber, sondern die Kollegen zu spüren, die auf der Straße stehen.
Dabei war es keineswegs so, daß nur die Unternehmer beim Tarif zum ganzjährigen Einkommen Leistungen erbringen sollten - wo sich jetzt im Winter zeigt, daß sie sie nicht erbringen -, sondern auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist eine höhere Belastung zugemutet worden. Sie haben ihnen unter anderem fünf Urlaubstage und mehr Arbeitsflexibilität abverlangt. Der Lohn dafür ist jetzt der Rückfall in die Saisonarbeitslosigkeit mit den bekannten fatalen Folgen für die Bauarbeiter und ihre Familien.
Viele fallen erst einmal ganz durch die Roste der sozialen Absicherung. Denn der Arbeitgeber darf zwar nicht witterungsbedingt entlassen; aber jeder geht natürlich lieber mit einer Wiedereinstellungszusage für das Frühjahr in der Tasche in die erzwungene Arbeitslosigkeit als mit gar nichts in der Hand. Dann aber gibt es, normalerweise jedenfalls, erst einmal die Sperre.
Mit so einer Regelung wider die Vernunft, wie Sie sie vorgesehen haben, verlieren die Leute ihren Job und haben dann noch große Probleme, ihr Arbeitslosengeld zu bekommen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Auszubaden haben das zum einen die Kollegen und zum anderen die Allgemeinheit. Mit Ihrem genialen Coup zeichnen Sie für weit mehr als 1 Milliarde DM zusätzliche Ausgaben bei der Bundesanstalt für Arbeit verantwortlich, also genau da, wo Sie so gern sparen wollten. Der Kollege Gilges hat das eben im einzelnen vorgerechnet. Schließlich - jetzt zitiere ich unseren Arbeitsminister aus der Debatte zur Verabschiedung des Winterausfallgeldes - wird
die Bundesanstalt für Arbeit ... weder vom lieben Gott noch von den Ölscheichs finanziert, sondern von Beiträgen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber.
Genau die verschleudern Sie gerade.
Ein Flop ist Ihr Winterausfallgeld eindeutig, ein Ausrutscher dagegen wohl kaum. Als Sie das Winterausfallgeld hier verabschiedet haben, da haben Sie es zu dem Beispiel schlechthin für Ihre Art von Umbau des Sozialstaats hochstilisiert. Da haben Sie durchaus recht. Man sieht die fatalen Folgen nur nicht immer so deutlich wie hier.
Sie, Frau Babel, haben in jener Debatte festgestellt, daß die Regierung hier die verkrusteten linken Parteien durch ihre konstruktive Zusammenarbeit mit den Tarifpartnern überholt und wir uns einmal mehr der Zukunft verweigert haben. Herr Schem-
Annelie Buntenbach
ken, der heute nicht da ist, sah das Ziel erreicht - ich zitiere -:
ein ganzjährig gesichertes Einkommen, humane Arbeitszeiten, die witterungsbedingte Erschwernisse mit einbeziehen ... und die Sicherung des Arbeitsplatzes ohne witterungsbedingte Kündigung.
Die Realität spricht eine ganz andere Sprache. In diesem Winter sind über 400 000 Bauarbeiter arbeitslos. Die Betroffenen und die Allgemeinheit tragen die hohen Kosten Ihres Vandalismus quer durch die sozialen Sicherungen, was Sie Sparpolitik nennen.
Herr Töpfer hat inzwischen öffentlich zugegeben, was andere Mitglieder der Regierungsfraktionen nur hinter vorgehaltener Hand eingestehen: Das Winterausfallgeld taugt nichts. Wir brauchen eine neue Regelung.
Wir schlagen analog der bewährten Schlechtwettergeldregelung vor, eine sozialstaatliche Flankierung für den Baubereich sicherzustellen.
Indiskutabel - das möchte ich hier eindeutig feststellen - sind Modelle, nach denen alle Arbeit im Sommer zusammengepreßt werden soll, möglichst unter voller Ausnutzung der Grenzen des Arbeitszeitgesetzes von 60 Stunden in der Woche, und die Überstunden im Winter abzufeiern sind.
Dann nämlich bleibt vom Arbeitsschutz auf den Baustellen gar nichts mehr übrig. Zudem wird die Bereitschaft der Beschäftigten, unterschiedliche Arbeitszeiten in Sommer und Winter festzuschreiben, also im Sommer mehr zu arbeiten - und genau das sieht der Tarifvertrag zum ganzjährigen Einkommen vor -, ausgenutzt. Die Idee der Jahresarbeitszeitkonten, bei der die Beschäftigten Einfluß auf die Lage ihrer Arbeitszeiten haben müssen, wird so kaputtgemacht.
Sie wissen, daß nach dem völligen Scheitern des Winterausfallgelds neue Schritte erfolgen müssen, um die Saisonarbeitslosigkeit am Bau einzudämmen. Die Opposition hat dazu Vorschläge vorgelegt.
Ich möchte jetzt ein letztes Mal Herrn Minister Blüm zitieren:
Wir sind doch keine Dogmatiker; wir haben doch kein Brett vor dem Kopf.
Das Zitat stammt ebenfalls aus dieser Debatte. In der Rede von Herrn Romer habe ich für diese These noch keinen Beleg finden können. Aber Sie haben in den Ausschußberatungen noch Zeit dafür.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD legt heute einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der alten Schlechtwettergeldregelung, die bis Ende 1995 gegolten hat, vor. „Wir haben es ja gleich gesagt" ist ihre Devise, auf einen Nenner gebracht.
Die Zahlen scheinen der SPD auf den ersten Blick recht zu geben. Mehr als diesen ersten Blick haben Sie aber auch nicht riskiert.
Die Arbeitslosigkeit in den Bauberufen ist gerade im Winter stark angestiegen. Ende Februar dieses Jahres waren knapp 400 000 Bauarbeiter ohne Arbeit. Das sind 60 000 bzw. 18 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Ursache hierfür ist zum Teil die zurückgehende Baukonjunktur. Ursachen sind aber auch der harte Winter und die Tatsache, daß die neue tarifvertragliche Wintergeldregelung weder von Arbeitgebern noch von Arbeitnehmern akzeptiert und in die Praxis umgesetzt worden ist.
Als das Schlechtwettergeld Ende 1995 auslief, präsentierten die Tarifvertragsparteien am Bau stolz eine neue Regelung.
- Sie waren schon stolz, und wir haben die Regelung anerkannt. - Diese sah im Kern ein tarifvertraglich vereinbartes Überbrückungsgeld in Höhe von 75 Prozent des Bruttolohnes für bis zu 150 witterungsbedingte Arbeitsausfallstunden vor; das sind 20 Arbeitstage. Finanziert werden sollte das Überbrückungsgeld zu zwei Dritteln von den Arbeitgebern über Sozialkassen. Die Arbeitnehmer steuerten durch den Verzicht auf fünf Urlaubstage bei witterungsbedingtem Arbeitsausfall das restliche Drittel bei.
Ab der 151. Ausfallstunde sollte der Staat zahlen.
Frau Kollegin Dr. Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-Bohlig?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Babel, Sie haben eben gesagt, daß die zurückgehende Baukonjunktur schuld an dem Anstieg der Arbeitslosigkeit im Baubereich sei.
Franziska Eichstädt-Bohlig
Glauben Sie, daß das auch in Berlin und Brandenburg der Fall ist, wo wir zur Zeit die größte Ansammlung von Baustellen haben? Allein in Berlin haben wir 12 000 bis 14 000 Arbeitslose im Baubereich, in Brandenburg, glaube ich, auch noch einmal 8 000. Glauben Sie, daß, wenn allein am Reichstag zu 60 Prozent ausländische Arbeitnehmer beschäftigt sind, nur die zurückgehende Baukonjunktur mit diesem Problem zu tun hat? Wäre es nicht gut, wenn auch die F.D.P. einmal etwas genauer hingucken würde?
Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie richtig hingehört haben; denn diese Problematik haben wir bei einem anderen Tagesordnungspunkt. Die Schlechtwettergeldregelung hat mit der Baukonjunktur, die in Berlin in der Tat stattfindet, nichts zu tun.
- Ich habe gesagt, daß die Baukonjunktur zurückgeht. Das wird ja wohl keiner bestreiten.
- Wir führen keine Berlin-Debatte. Wir führen eine Debatte über die Frage, wie die Konjunktur beim Bau insgesamt aussieht.
Ich sage Ihnen: In Berlin handelt es sich sicher um eine Ausnahme; dies haben wir durch unseren Beschluß mit verursacht. Das aber hat nichts mit dem Schlechtwettergeld zu tun. Ich bitte Sie, das auseinanderzuhalten. Ich weiß sehr wohl, wo die Ursachen jeweils anzusetzen sind.
- Versuchen Sie doch noch, das Ende durchzustehen. Es ist schnell geschafft.
Dieses Ergebnis wurde als Sieg der Vernunft und vor allem auch der Tarifautonomie gefeiert. Die Tarifvertragsparteien hatten damit die Zeichen der Zeit erkannt und ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung geregelt. Ich gebe auch zu: Die Koalition hat das hier im Parlament in ihren Reden sehr gelobt.
Nun ist im März 1997 weder vom Sieg der Tarif autonomie noch von der Eigenverantwortung der Tarifpartner etwas übrig. Was ist geschehen? Die Arbeitgeber haben ihre Arbeitnehmer - in vielen Fällen einvernehmlich - entlassen. Die Arbeitgeber sparten bei diesem Manöver ihr Überbrückungsgeld. Die Arbeitnehmer konnten fünf Tage länger Urlaub machen. Bezahlt wird dieses Einvernehmen von der Bundesanstalt für Arbeit und damit vom Beitragszahler über Arbeitslosengeld. Dies wiederum hat zur Folge, daß Arbeitgeber und Gewerkschaften beim Gesetzgeber darüber klagen, die Steuer- und Abgabenlast sei zu hoch.
In dieser Situation rufen Sie nun wiederum nach dem Gesetzgeber. Ich halte diesen Ruf für verfehlt. Gesetz und Tarifvertrag hätten durchaus zusammenwirken und Entlassungen verhindern können, wenn die Beteiligten dies wirklich gewollt hätten. Der Weg über die Arbeitslosigkeit mit insgeheimer Wiedereinstellungsgarantie war natürlich verlockender. Wenn bei guter Auftragslage dieser Weg beschritten wurde, müssen wir von einer glatten Umgehung des Tarifvertrages zu Lasten der Kasse der Arbeitslosenversicherung sprechen. Es ist ein Mißbrauch, wie wir ihn sonst gemeinsam anprangern.
Daß es auch anders geht, zeigt der Garten- und Landschaftsbau. Dieser ist nämlich ganz passabel ohne größere Entlassungen über den Winter gekommen. Dort gibt es Arbeitszeitkonten. Im Sommer wird mehr gearbeitet, aber etwas weniger verdient. Dafür kann im Winter, wenn wegen des schlechten Wetters weniger gearbeitet wird, mehr ausbezahlt werden. Die Arbeitnehmer haben ein verläßliches und stetiges Jahreseinkommen. Dort nimmt man die Allgemeinheit nicht zur Lösung der Probleme in Anspruch. Ich frage mich, warum das nicht im restlichen Baubereich greifen könnte. Tarifautonomie und eigenverantwortliches Handeln hatten sich die Bautarifpartner vorgenommen. Das können sie jetzt in eine brauchbare tarifliche Vereinbarung umsetzen.
Eine Sanierung über die Sozialkassen ist sicher nicht das Gebot der Stunde. Im Gegenteil: Als Gesetzgeber haben wir sogar die Pflicht, diese Sozialkassen vor dem entschlossenen Zugriff der Tarifvertragsparteien zu schützen. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf der SPD ab und setzen auf neue Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien mit einem - vielleicht etwas erhöhten - Verantwortungsgefühl, was den Zugriff auf die Kasse bzw. eine nicht zulässige Belastung der Kasse der Arbeitslosenversicherung angeht.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Manfred Müller, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir waren uns gestern in der Debatte tatsächlich einig, daß der Wegfall des Schlechtwettergeldes nicht die alleinige Ursache für die Baukrise ist. Aber andererseits ist es eine unabweisbare Tatsache - die Zahlen sind hier genannt worden -, daß in diesem Winter 400 000 Bauarbeiter ohne Arbeit waren und daß 100 000 entlassen wurden, weil die Arbeitgeber die Kosten des
Manfred Müller
Wintereinbruchs auf die Arbeitslosenversicherung abgewälzt haben.
Auch ist es eine unabweisbare Tatsache, daß aus den 900 Millionen DM Einsparungen, die der Bundesanstalt durch den Wegfall des Schlechtwettergeldes zugute kommen sollten, nunmehr 2 Milliarden DM Arbeitslosengeld wurden. Ihre sogenannte Sparoperation hat also Mehrausgaben von 1,1 Milliarden DM für die Bundesanstalt verursacht.
Wir sollten uns allerdings auch daran erinnern, daß das Schlechtwettergeld gar nicht abgeschafft wurde, um Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit zu erzielen. Es wurde abgeschafft, um angeblich Arbeitsplätze zu sichern; denn das ist die von der Regierung mittlerweile gewohnte Methode, jede soziale Untat, jede Beseitigung von Arbeitnehmerrechten und jeden Eingriff in soziale Errungenschaften damit zu legitimieren, daß sie heftig damit beschäftigt sei, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Deshalb geht es in dieser Debatte heute auch gar nicht ausschließlich um das Schlechtwettergeld. Es geht im Kern um die Logik Ihrer Arbeitsmarktpolitik, um die Logik einer Politik, die nichts anderes als Sozialabbau und Deregulierung zum Ziel hat und der Öffentlichkeit permanent einredet, das alles geschehe zum Wohle der abhängig Beschäftigten und natürlich zum Wohle der Arbeitslosen.
Diesen Eindruck hat der Bundesarbeitsminister auch vor mehr als zwei Jahren zu erwecken versucht, als wir am 26. Januar 1995 über das gleiche Thema wie heute debattierten. Damals hat er das Schlechtwettergeld reaktionär genannt, weil es angeblich ganzjähriges Bauen verhindere. Ich kann nur feststellen, daß dieses angeblich reaktionäre Schlechtwettergeld in diesem Winter einigen hunderttausend Bauleuten ihren Arbeitsplatz gesichert hätte.
Der Bundesarbeitsminister hat in der damaligen Debatte erklärt - ich zitiere -:
Wir wollen bessere Regelungen. Wir wollen ganzjährige Beschäftigung und gesichertes Einkommen.
Was ist daraus geworden? 400 000 arbeitslose Bauarbeiter, die höchste Zahl in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit dieser verkorksten Logik hat er vor zwei Jahren behauptet, daß die Abschaffung des Schlechtwettergeldes die Bauarbeiter endgültig vom Joch der Saisonarbeit befreien würde. Wer für Schlechtwettergeld sei, plädiere statt dessen für Kurzarbeit. Was hat er erreicht? Er hat Bauarbeiter unter Umgehung der Kurzarbeit direkt in die Arbeitslosigkeit geschickt.
Ich hätte dem Bundesarbeitsminister wirklich gegönnt, er hätte in der vergangenen Woche auf dem Berliner Gendarmenmarkt die Gelegenheit gehabt, diese eigenartige Logik den dort protestierenden Bauarbeitern vorzutragen. Aber ich fürchte, das wäre eine nicht mehr zu beherrschende Provokation der Opfer gewesen.
Die Prophezeiung der IG BAU, daß die Beseitigung des Schlechtwettergeldes 300 000 Bauarbeiter arbeitslos machen werde, hat sich auf dramatische Weise bestätigt. Die vagen Visionen des Bundesarbeitsministers von ganzjähriger Beschäftigung und gesichertem Einkommen haben sich wieder einmal als leere Versprechungen entpuppt. Wie sagte doch damals, vor zwei Jahren, der Kollege Blüm?
Wenn eine ganzjährige Arbeitszeit vereinbart ist, dann werden Sie sehen, wie tüchtig und erfindungsreich auch Bauunternehmer sind, die dann selbst an Tagen sagen, es geht weiter, wo sie heute in schöner Eintracht sagen: Ach machen wir doch heute einmal Schlechtwettergeld.
Nun, diesen Einfallsreichtum konnten wir erleben. Nach Angaben der IG BAU haben unzählige Bauunternehmer ihre Beschäftigten in diesem Winter mit der Zusage entlassen, sie am Ende der Schlechtwetterperiode wieder einzustellen. Das ist nicht nur klassischer Sozialmißbrauch, das ist Betrug. Man kann Ihnen nicht den Vorwurf ersparen, daß die Vorlage für diese Machenschaften aus Ihrem Hause stammt.
Wir unterstützen deshalb den SPD-Gesetzentwurf, der den Forderungen der Bauarbeiter und ihrer Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt entspricht.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Ramsauer, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Tarifpartner verhandeln ja zur Zeit wieder, auch über die Fragen, die in dieser Debatte behandelt werden. Ich bedauere, daß die SPD mit ihrem Gesetzentwurf zeigt, daß sie den Tarifpartnern überhaupt nichts zutraut.
- Es ist so.
Sie unterstellen den Tarifpartnern, daß sie nichts zustande bringen, und fordern phantasielos ein Zurück zu der alten Regelung. Die SPD ist sich wohl dessen nicht bewußt, daß alle in den Tarifverhandlungen erreichten Fortschritte rückgängig gemacht würden. Tarifverhandlungen von mehr als zehnmonatiger Dauer wären umsonst gewesen. Der Tarifvertrag für das Bauhauptgewerbe, der ein Überbrükkungsgeld vorsieht und seit 1. Januar 1996 allgemeinverbindlich ist, wäre in den Wind geschrieben. Sie dürfen nicht vergessen: 1 Milliarde DM Überbrückungsgeld ist ja durch die Arbeitgeber schon gezahlt worden. Diese 1 Milliarde DM hätte ansonsten von der Solidargemeinschaft aufgebracht werden müssen.
Dr. Peter Ramsauer
Ich möchte noch einmal ein Grundsatzpapier der IG Bau-Steine-Erden vom August 1992 ins Bewußtsein rufen.
- Ja, aber was damals geschrieben wurde, ist auch heute noch richtig. Hören Sie mir doch bitte einmal zu. Es schadet nicht, wenn Sie mir zuhören.
Sinngemäß heißt es dort, daß wir uns in Deutschland im Gegensatz zu den Nachbarländern mit weit schwierigeren Witterungsbedingungen, wie zum Beispiel Schweden, den Luxus leisten, die vorhandenen Kapazitäten nur unzureichend zu nutzen.
Aber nicht nur in Schweden, wo Bauarbeiten bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad durchgeführt werden, sondern auch hier in Deutschland ermöglicht der Stand der Technik die Durchführung von Baumaßnahmen inzwischen grundsätzlich auch bei ungünstigen Witterungsbedingungen.
Natürlich gibt es auch heute noch witterungsbedingten Arbeitsausfall. Den gibt es jedoch nicht nur im Baubereich und im Baunebenbereich. Beim Schlechtwettergeld handelte es sich seinerzeit um eine Sonderleistung aus der Arbeitslosenversicherung, die nur den Betrieben des Baugewerbes zugute kam, aber von allen Branchen mitfinanziert wurde. Deshalb muß die Baubranche das Problem selbst, beispielsweise durch Tarifverhandlungen, lösen.
Es versteht sich außerdem von selbst, daß die Zahlung von Schlechtwettergeld die Bemühungen um eine ganzjährige Beschäftigung im Baugewerbe sowie um eine Flexibilisierung der Arbeitszeit und damit um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Raum eher verhindert hat. Aus diesen Gründen ist eine Rückkehr zur Schlechtwettergeldregelung alten Stils für uns vollkommen ausgeschlossen.
Richtig sind Vereinbarungen über eine Jahresarbeitszeitregelung mit einem Jahreseinkommen, ausgehandelt von den Tarifvertragsparteien. Entscheidend ist, daß die Arbeitnehmer auf ein gesichertes Jahreseinkommen vertrauen können. Einen Weg zurück kann und wird es, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit uns nicht geben.
Zusammen mit einem großen Bauunternehmen und seinem Betriebsratsvorsitzenden habe ich deshalb einen Vorschlag zur besseren Ausgestaltung der Schlechtwettergeldnachfolgeregelung gemacht. Wir haben uns in der CSU-Landesgruppe intensiv mit den Tarifvertragsparteien - Baugewerbe, Bauindustrie und Gewerkschaft - auseinandergesetzt und diesen Vorschlag erörtert. Wir haben nach einer Lösung gesucht, damit die Überbrückungs- und Winterausfallgeldregelung von den Baufirmen besser angenommen wird.
Mein Vorschlag einer flexiblen Arbeitszeitregelung in Verbindung mit einer Ganzjahresbeschäftigung geht zunächst davon aus, daß die von den Arbeitnehmern in den Sommermonaten geleistete Mehrarbeit im Bereich des Überbrückungs- und Winterausfallgeldes eingebracht werden kann. Dies führt zu einem gleichbleibenden Jahreseinkommen der Arbeitnehmer und zur Kostenentlastung der Betriebe.
Herr Dr. Ramsauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Buntenbach?
Ja, ausnahmsweise.
Vielen Dank.
Herr Ramsauer, Sie haben gesagt, Sie gehen davon aus, daß im Sommer mehr und im Winter weniger gearbeitet wird. Das ist schon jetzt so. Das ist schon jetzt Stand der tariflichen Vereinbarungen.
Wenn Sie darüber hinausgehen möchten: Welche Arbeitszeit, zum Beispiel wöchentliche Arbeitszeit im Sommer, schwebt Ihnen dabei vor? Das ist für die Lebenssituation, für die Gesundheit der Kollegen und Kolleginnen von großer Bedeutung.
Ich möchte wissen, ob Sie die Grenze des Arbeitszeitgesetzes von 60 Stunden im Sommer voll ausschöpfen wollen oder ob Sie noch darüber hinausgehen möchten. Das zu erfahren, fände ich in dem Zusammenhang wichtig.
Frau Kollegin Buntenbach, diese Frage möchte ich Ihnen gern beantworten. Aber allein die Tatsache, daß Sie eine solche Frage stellen, zeigt mir, daß Sie sich in der Praxis recht wenig auskennen.
Ich selbst fahre in meinem Wahlkreis und für meinen Betrieb ständig auf Baustellen herum. Deshalb kann ich Ihnen aus der Praxis berichten und sagen, wie es dort aussieht. Was halten Sie davon, daß in der Zeit des besten Wetters an jedem zweiten Freitag nicht gearbeitet wird - auch wenn man am Donnerstagabend schon 38 Stunden erreicht hat?
Was halten Sie davon, daß im August drei oder vier Wochen Betriebsurlaub gemacht werden mit Hinweis darauf, daß Ferien seien und wegen schulpflichtiger Kinder keine andere Möglichkeit dafür bestehe? Wer kann in anderen Branchen vier Wochen freimachen? Zwei Wochen sind normal.
Halten Sie es, Frau Kollegin Buntenbach, eigentlich für vernünftig, wenn auch im Oktober an jedem zweiten Freitag nicht gearbeitet wird und die Arbeit im November ausfallen muß? Das ist doch nicht vernünftig. Einen solchen Luxus können wir uns nicht leisten,
wenn es unser Ziel ist, zu einer Ganzjahresbeschäftigung zu kommen und Arbeitnehmer wieder vermehrt auf deutschen Baustellen zu beschäftigen.
Ich habe gestern, als wir in der Aktuellen Stunde über diese Fragen diskutiert haben, einen kleinen
Dr. Peter Ramsauer
Versprecher gehabt. Ich habe gesagt: Unser Ziel muß es sein, arbeitslose deutsche Bauarbeitnehmer wieder auf deutschen Baustellen zu beschäftigen. Daraufhin hat mir jemand von der Opposition Deutschtümelei unterstellt.
- Ist es denn Deutschtümelei, wenn man sagt, der arbeitslose deutsche Bauarbeitnehmer soll auf der deutschen Baustelle wieder Beschäftigung finden? Ich möchte heute die Gelegenheit nehmen, dazuzusagen: Ich meine nicht nur den arbeitslosen deutschen Bauarbeitnehmer, sondern auch den ausländischen Bauarbeitnehmer, der seit langer Zeit, vielleicht in zweiter Generation, hier in Deutschland ansässig ist. Wir wollen nicht nur deutsche Arbeitslose in Arbeit und Brot bringen, sondern auch ausländische Arbeitslose, die bereits hier sind. Wenn Sie sich einmal in die Akten vertiefen, stellen Sie fest, daß die Arbeitslosenquote unter ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland in etwa doppelt so hoch ist wie die unter deutschen.
Damit ist die Frage beantwortet.
Herr Ramsauer, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Ich möchte bitten, jetzt keine weiteren Zwischenfragen zu stellen; denn Sie sehen, daß sich die ersten Kollegen bereits aus dem Plenum verabschiedet haben, obwohl es noch so früh am Tage ist.
All die Details werden wir ja in den Ausschußberatungen weiter diskutieren können, lieber Kollege Gilges.
Ich komme zurück auf meinen Vorschlag. Mein Vorschlag führte - dies darf ich noch einmal unterstreichen - zu einem gleichbleibenden Jahreseinkommen der Arbeitnehmer und zur Kostenentlastung der Firmen. So könnten auf der Basis einer ganzjährigen Beschäftigung im Sommer beispielsweise bis zu 110 Mehrarbeitsstunden angesammelt werden. Im Winter könnten dafür 150 Schlechtwetterstunden mit 75 Prozent des Arbeitslohnes bezahlt werden.
Ab der 151. Schlechtwetterstunde könnte dann weiter das Winterausfallgeld der Bundesanstalt greifen.
Die Vorteile einer solchen Variante liegen im flexibleren Personaleinsatz, der Garantie eines Ganzjahreseinkommens des Arbeitnehmers sowie erheblichen Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, langjährige Mitarbeiter beim Bau genießen einen Kündigungsschutz von sieben Monaten. Dies könnte dazu führen, daß bereits ab Mai eine massive Kündigungswelle bei den Baufirmen auftritt, mit Wirkung zum Ende Dezember.
Deshalb sind schnelle Entscheidungen gefragt. Ich appelliere an die Tarifpartner, möglichst bald zu einer Lösung mit ganzjähriger Beschäftigung und Arbeitszeitausgleich zu kommen. Praktisch nur damit können die sonst für Ende Mai drohenden Kündigungen per 31. Dezember auch wirklich vermieden werden. Das müssen wir vermeiden. Es wäre schlimm, wenn es mit Blick auf das Ende des Jahres zu einer Kündigungswelle im großen Stil käme, kaum daß das Baugeschehen im Frühjahr wieder eingesetzt hat. Eines sollte jedenfalls jeder wissen: Der Gesetzgeber kann nur dann gefragt sein, falls die Tarifpartner unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten keine befriedigende Lösung finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe natürlich Verständnis für die Motive betroffener Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter. Denn durch die bisherige Schlechtwettergeldregelung haben sie im Vergleich zu anderen Branchen profitiert: zum einen durch die Überstundenvergütungen im Sommer, zum anderen durch Lohnersatzleistungen im Winter. Dieser Doppeleffekt würde bei dem vorgeschlagenen Arbeitszeitmodell quasi gegenseitig verrechnet. Ich denke, es ist vernünftig und gerecht, daß durch eine Ganzjahresvergütung ein Ausgleich gefunden wird, damit nicht die Solidargemeinschaft der Versicherten in ungerechter Weise belastet wird.
Abschließend möchte ich noch ein Beispiel aus der Praxis erwähnen, das äußerst lehrreich zeigt, daß wir richtigliegen, wenn wir eine Rückkehr zum Schlechtwettergeld ausschließen. In einem Brief eines im Innenausbau tätigen Bauunternehmers, den ich vor einiger Zeit erhalten habe, heißt es - ich zitiere -:
Es ist äußerst bequem von Bauunternehmen, ihre Mitarbeiter im Oktober oder November des laufenden Jahres auszustellen und dann zu erwarten, daß diese im März oder im April des kommenden Jahres wiederkommen. Bei uns war es so, daß ein Bauunternehmer bereits Ende Oktober seine Maurer ausgestellt hat. Daraufhin wollten wir sofort vier Maurer aus diesem Unternehmen bei uns einstellen. Unsere Bemühungen waren jedoch leider vergeblich. Alle vier Maurer sind mit Schwarzarbeit ausgelastet bis März 1997.
Meine Damen und Herren, auch dieses Beispiel zeigt, daß wir nicht zur alten Regelung zurückkehren sollten und daß wir als Regierungskoalition mit unserem Weg richtigliegen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden jetzt zwar über das Schlechtwettergeld, tatsächlich ist das aber nur ein Mosaikstein aus dem Gesellschaftsbild der Bundesregierung, das da heißt: Gut ist, was Starke stark macht; weg mit der Solidarität.
Solidarität - das Einstehen des einen für den anderen - ist unter Ihrer Führung nicht nur anrüchig geworden; nein, die, die für sie einstehen, werden als altmodische und unflexible Zeitgenossen abgetan. Die unheimliche Dreifaltigkeit - Liberalisierung, Globalisierung und Privatisierung - ist alles.
Dabei gehörte das Schlechtwettergeld, das wir jetzt wiederhaben wollen, zu einem System von Solidarleistungen. Ich frage Sie: Was ist dabei, wenn unser aller Staat witterungsbedingte Arbeits- und damit Lohnausfälle abfedert? Das machen doch die meisten EU-Staaten, selbst Ihr Paradebeispiel Schweden macht das; aber Schweden zitieren Sie nur dann, wenn es Ihnen paßt.
Wir entscheiden hier, was vernünftigerweise mit Steuergeldern und Beiträgen zur Sozialversicherung passiert. Wir entscheiden, ob Menschen Lohnersatz oder Sozialhilfe bekommen. Die Entscheidungen, die wir fällen, müssen aber im Interesse aller Menschen getroffen werden. Es trifft zu, daß die Gesamtsolidargemeinschaft durch solche Leistungen belastet wird. Das wollen wir auch so.
Auch Ihr Vorfahr Adenauer sah das so. Nach den Erfahrungen von Weimar und dem Dritten Reich war der soziale Frieden diesem Mann etwas wert. Dieser Wert hatte auch seinen Preis. Aber von der Regierungskoalition werden diese Leistungen allzu gern als Subventionen bezeichnet.
Seien Sie einmal ehrlich: Entlastet diese Gesamtsolidargemeinschaft nicht auch in anderen Bereichen? Wurde nicht der Vorruhestand durch diese Gesamtsolidargemeinschaft finanziert? Finanziert die Gesamtsolidargemeinschaft nicht auch die Altersteilzeit mit, weil die Auffassung besteht, daß die positiven Wirkungen die Kosten bei weitem auffangen? Wie ist das mit dem Kurzarbeitergeld? Was ist mit den Subventionen in der Landwirtschaft und in der Industrie?
Es ist folglich auch vernünftig, für die Ausfalltage im Winterbau Schlechtwettergeld zu zahlen, das die Gesamtsolidargemeinschaft aufbringt,
weil hier - das wurde bereits belegt - der Nutzen wesentlich größer als der Aufwand ist oder - so sagen wir in der Pfalz - die Brühe sonst teurer kommt als die Brocken.
Manfred Rommel, ein nicht unbekannter Vertreter der CDU, sagte vor kurzem: Die Demokratie erfordert, daß jeder ein Gewissen für das Ganze hat. Dieses Gewissen, diese Verantwortung für das Ganze vermisse ich bei der Bundesregierung. Seit 1992 hat die SPD-Bundestagsfraktion immer wieder versucht, die Bundesregierung davon zu überzeugen, daß der Wegfall des Schlechtwettergeldes durch die Einführung des Tarifvertrags nicht kompensiert wird, daß das nicht funktionieren wird.
Man kann es Ihnen gar nicht oft genug sagen. So wie dieser Tarifvertrag angelegt ist, kosten die ersten 150 Arbeitsstunden die Arbeitgeber doppelt soviel wie vorher beim Schlechtwettergeld. Auch die betroffenen Bauarbeiter müssen kräftig drauflegen. Und Sie wundern sich, daß die Arbeitgeber jetzt davon nicht kräftig Gebrauch machen?
Im „Bundesarbeitsblatt" geben Sie selbst zu, das Schlechtwettergeld aus rein fiskalischen Gründen, also um die Bundesanstalt für Arbeit zu entlasten, abgeschafft zu haben. Jetzt regen Sie sich auf, daß es nicht so klappt, wie Sie es sich vorgestellt haben, und reden plötzlich von Mißbrauch. Sie merken gar nicht, daß Sie selbst daran schuld sind.
Sie verteuern den Winterbau so sehr, daß die Stilllegung von Baustellen rentabler ist als die nur zeitweise Einstellung der Arbeit. Nun sind Sie über die hohen Arbeitslosenzahlen und die Kosten erstaunt. Aber nicht nur so produziert die Regierungskoalition Arbeitslose. Zwar haben wir offiziell durch das Entsendegesetz Mindestlöhne auf unseren Baustellen, aber die Art und Weise ihrer Auszahlung haben mittlerweile Schlagzeilen gemacht. Es gibt ganz offiziell illegale Arbeitsverhältnisse in unserem Land, auch an Großbaustellen, zum Beispiel des Bundes in Berlin.
Wir sind durchaus für Wettbewerb, aber er muß fair mit gleichen Chancen für alle sein. Sagen Sie, verehrte Mitglieder der Regierungskoalition: Sind die dadurch entstehenden Kosten für die Gesamtsolidargemeinschaft nicht auch Subventionen, diesmal aber nicht zugunsten der Arbeitnehmer, sondern zugunsten der Unternehmer, die mit Billigstarbeitnehmern ihre Profite steigern?
Die Streichung des Schlechtwettergeldes hat zu diesen Zuständen ein gerüttelt Maß beigetragen. Wie viele Bauarbeiter werden denn tatsächlich nach der Schlechtwetterphase von ihren alten Arbeitgebern weiterbeschäftigt? Wie viele Unternehmen entledigen sich unrentabler, weil älterer Arbeitnehmer? Wie viele Unternehmer arbeiten anschließend mit Billigarbeitnehmern weiter?
- Sie glauben, das stimmt nicht? Der Mitinhaber eines mittelständischen Bauunternehmens aus meinem
Wahlkreis sagte mir, daß er wegen des enormen
Doris Barnett
Preisdrucks auch auf solche Arbeitsverhältnisse ausweichen müsse, weil in diesem Gewerbe weiter unter Tarif bezahlt werde und er, wenn er nicht mitmache, vom Markt gefegt werde.
Es gab gerade eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Ludwigshafen, nach der es für den Bauunternehmer sogar billiger ist, Leute in Kurzarbeit zu schicken und dafür Billigarbeitnehmer einzustellen. Das muß man sich einmal vorstellen; das sind alles Tatsachen, die Sie mit zu verantworten haben.
Die SPD-Bundestagsfraktion will den gutwilligen Bauunternehmern helfen, sich tariftreu zu verhalten, um Massenarbeitslosigkeit am Bau zu verhindern. Deshalb wollen wir das Schlechtwettergeld wieder einführen. Selbst Vertreter der Regierungskoalition haben zwischenzeitlich erkannt, daß die Abschaffung des Schlechtwettergeldes ein Fehler war. Aber keiner von ihnen stellt sich hier hin und gibt das zu. Das macht nicht nur uns verdrossen, das macht auch die Menschen draußen verdrossen.
Um die Gemüter zu beruhigen und um die eigenen Fehler zu verdecken, kommt jetzt Ihr Vorschlag, daß die Bauarbeiter für die Schlechtwetterzeit vorarbeiten sollen - wir haben es ja gerade gehört. Haben Sie diesen Vorschlag einmal auch nur grob überschlagen? Herr Romer, 150 Stunden - bzw. 110 Stunden, Herr Ramsauer - reichen bei einem harten Winter nicht, wenn wir von vier Monaten ausgehen.
Wenn wir einmal 125 Stunden pro Monat anrechnen, dann fallen in vier Monaten 500 Stunden an. Umgelegt auf die verbleibenden acht Monate würde das bedeuten: 3,13 Stunden Mehrarbeit pro Tag. Abgesehen davon, daß das Arbeitszeitgesetz so etwas gar nicht zuließe - oder würden Sie dafür eine „Lex Bau" einführen? -, ist dieser Vorschlag für die Betroffenen schlicht eine Zumutung. Haben Sie bedacht, was die tägliche Arbeitszeit von dann 10,5 Stunden - die Pausen noch gar nicht eingerechnet - bedeutet, welche Unfallrisiken damit erzeugt würden, welche Gesundheitsgefährdungen provoziert würden? Da die Baustellen selten am Wohnort des Arbeitnehmers liegen, der Arbeiter aber doch flexibel sein soll, nehmen viele Arbeitnehmer oft lange Anfahrtszeiten in Kauf. Da kommen schnell, die Pausen eingerechnet, 13 bis 14 Stunden am Tag zusammen.
Ist Ihnen vielleicht einmal der Gedanke gekommen, daß während der Gutwetterphase gar nicht genug Aufträge für das Unternehmen vorhanden sein könnten? Von Überstundenzuschlägen kann man auch nicht reden, denn diese gibt es nicht. Ist Ihnen bekannt, daß 50 Prozent der Bauarbeiter mit knapp 55 Jahren EU- bzw. BU-Rente wegen Schäden durch körperlich schwere und zum Teil gesundheitsgefährdende Arbeiten bekommen?
Diese Leute dürfen dann, wenn sie abgearbeitet, ausgemergelt und krankheitsanfällig sind, wegen Ihrer
jetzt verabschiedeten Gesundheitsreform noch ein
paar Mark fünfzig mehr für ihre Gesundheit bezahlen.
Nein, Herr Töpfer und die anderen Mitglieder der Bundesregierung: Ihr Vorschlag kann nicht greifen. Ich fordere Sie auf: Zerreißen Sie nicht weiter das Band der sozialen Marktwirtschaft! Kehren Sie zurück zu einer solidarischen Arbeitsmarktpolitik! Sorgen Sie dafür, daß die Kommunen nicht für Sozialhilfe ausbluten, sondern als Auftraggeber für unsere Bauwirtschaft ein verläßlicher Partner werden! Seien Sie vernünftig, unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf!
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Barnett, wir sind nach wie vor auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft. Allerdings gehört auch Subsidiarität dazu; das müssen Sie immer bedenken.
Die SPD begründet ihren eingebrachten Gesetzentwurf damit, daß die ganzjährige Beschäftigung in der Bauwirtschaft wegen der Streichung des Schlechtwettergeldes nicht mehr gesichert sei. Wenn die Opposition glaubt, die derzeitige Winterarbeitslosigkeit im Baugewerbe mit der Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes nach dem alten System beseitigen zu können,
befindet sie sich allerdings auf dem Holzweg, Herr Gilges.
Ich möchte noch einmal auf die Frau Kollegin Barnett zurückkommen, die eben sagte: Seien Sie ehrlich. - Das gilt dann aber, Frau Kollegin Barnett, für alle.
Ich will einmal versuchen - ich hoffe, Sie hören zu -, Ihnen einige Dinge vorzutragen, die Sie vielleicht doch zum Nachdenken und zum Nachrechnen, Kollege Gilges, veranlassen.
Darf ich Sie zuvor fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen gestatten?
Nein. Ich
Parl. Staatssekretär Horst Günther
möchte das jetzt insgesamt vortragen, damit es nicht auseinandergerissen wird. Mit dem Herrn Kollegen Dreßen können wir im Ausschuß noch lange und oft diskutieren.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ob die Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs, die ganzjährige Beschäftigung zu sichern, eintritt, ist in höchstem Maße zweifelhaft. Mit Ihrem Entwurf vertreten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die reine Theorie. Die Probleme der Bauwirtschaft lassen sich damit überhaupt nicht lösen. Ich stelle zur Verdeutlichung der Sachlage nochmals fest - das ist eine Binsenweisheit; aber manche haben es immer noch nicht begriffen -: Die deutsche Bauwirtschaft befindet sich insgesamt in einer schwierigen Situation. Wir haben bereits gestern im Zusammenhang mit anderen Themen darüber gesprochen.
Bereits seit 1995, Herr Kollege Gilges, zeichnen sich in dieser Branche massive Beschäftigungsprobleme ab. Das hat sich in einer überproportional hohen Kurzarbeiterquote niedergeschlagen.
- Lassen Sie doch einmal das mit dem Herrn Töpfer. Wenn Sie das schon anführen, dann müssen Sie auch alles lesen. Der Herr Töpfer hat das, was man ihm in den Mund gelegt hat, vorgestern in der Presse korrigiert. Auch das müssen Sie lesen. Damit ist das Thema Töpfer hoffentlich endlich beendet.
Auch das im Jahre 1996 erreichte Rekordniveau an Insolvenzen hat zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit im Baugewerbe beigetragen. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hat für 1996 allein 7 041 Insolvenzen von Baubetrieben registriert. Das entspricht einem Anstieg im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent. Das sind deutliche Anzeichen eines grundlegenden Strukturwandels. Diese Entwicklung, meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie nicht bestreiten und auf das Schlechtwettergeld schieben.
Das Problem der erhöhten Winterarbeitslosigkeit im Baubereich ist im übrigen nicht neu. So ist zum Beispiel in der Schlechtwetterzeit 1985/86 das Schlechtwettergeld auf Grund der Nachfrageschwäche auf dem Baumarkt bei gleichzeitig äußerst ungünstigen Witterungsverhältnissen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich weniger in Anspruch genommen worden.. Die Folge war, daß im März 1986 in Westdeutschland rund 250 000 Bauarbeiter arbeitslos waren, und das trotz bestehender Schlechtwettergeldregelung. Das waren ebensoviele arbeitslose Bauarbeiter wie aktuell im Februar 1997 in Westdeutschland. Somit kann unterstellt werden, daß auch bei Beibehaltung der Schlechtwettergeldregelung in dem harten Winter 1996/97 Entlassungen in vergleichbarem Umfang erfolgt wären.
Lieber Kollege Gilges, ich weiß, daß Sie gut Bescheid wissen. Nur, machen Sie bei Zahlen bitte nicht die rheinische Lösung. Wenn Sie jetzt die Zahl 400 000 anführen und diese mit der von 1985/86 vergleichen, dann lassen Sie dabei außer acht - das wissen Sie -, daß sich die Zahl von damals auf die alten Bundesländer und die Zahl heute auf Gesamtdeutschland bezieht. Diese Zahlen können Sie nicht vergleichen; das ist doch unredlich.
Daß die Beschäftigungsprobleme im Baugewerbe heute ebenso wie 1986 überwiegend konjunkturell und strukturell bedingt sind, zeigt sich auch an der ganzjährig hohen Arbeitslosigkeit von Bauarbeitern im Jahre 1996. Sogar in der Bauhauptsaison, nämlich im Juni 1996, waren rund 186 000 Bauarbeiter arbeitslos. Es wäre schon eine phantasievolle Aussage, wenn diese Zahl auch auf den Wegfall des Schlechtwettergeldes zurückgeführt würde. Wir kennen die Ursachen; diese haben wir gestern ausreichend diskutiert.
Mit ihrem Gesetzentwurf verbreitet die Opposition die Illusion, mit der Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes wären die Bauarbeitsplätze sicher. Machen Sie den Menschen nichts vor! Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sich im Jahre 1995 auf Tarifverträge verständigt, mit denen den Bauarbeitern ein ganzjährig gesichertes Einkommen garantiert wird. Der Gesetzgeber hat die tariflichen Regelungen durch eine gesetzliche Regelung flankiert. Die Bundesanstalt für Arbeit übernimmt ab der 151. Ausfallstunde eine sogenannte Restrisikoabsicherung und zahlt das Winterausfallgeld aus den Beiträgen aller Versicherten.
Auch wenn die tariflichen Regelungen im Bauhauptgewerbe von den Betrieben nicht ausreichend angenommen werden, halte ich es nach wie vor für richtig, daß die Verantwortung bei den Tarifpartnern bleibt. Es ist nämlich nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, die Probleme zu lösen, die durch einen von den Betrieben nicht ausreichend akzeptierten Tarifvertrag entstanden sind.
Im Bauhauptgewerbe sind erneut Verhandlungen mit dem Ziel aufgenommen worden, eine für alle Betriebe tragfähige und praxisgerechte Regelung zu finden. Die Wiederaufnahme der Verhandlungen begrüße ich sehr und appelliere an die Verhandlungspartner, daß sie aus eigener Kraft jetzt tarifliche Neuregelungen treffen, die auch bei witterungsbedingten Arbeitsausfällen in der Schlechtwetterzeit dazu beitragen, den Bauarbeitern ihren Arbeitsplatz und den Betrieben ihre eingearbeiteten Arbeitnehmer zu sichern. Hierbei muß auch über flexible Regelungen der Arbeitszeit nachgedacht werden; denn gerade in Zeiten strukturellen Wandels ist ein Höchstmaß an Flexibilität für die deutschen Baubetriebe überlebensnotwendig. Ansonsten sind ihre Wettbewerbsnachteile in Europa vorprogrammiert.
Die Bundesregierung will helfen, beschäftigungsfördernde Investitionen zu verstetigen. Ein entsprechendes Konzept hat das Kabinett in dieser Woche beschlossen. Damit werden Maßnahmen eingeleitet, mit denen die Investitions- und Wachstumsdynamik gestärkt, der Arbeitsmarkt entlastet und die Bauwirt-
Parl. Staatssekretär Horst Günther
schaft unterstützt wird. Insgesamt geht es um die Förderung eines privaten und öffentlichen Investitionsvolumens von rund 25 Milliarden DM. Mit diesen Mitteln sollen unter anderem Hilfen für kommunale Investitionen etwa im Straßenbau und die Förderung von Wohnungseigentum von jungen Familien finanziert werden. Angestrebt wird auch eine stärkere Einbringung von privatem Kapital zur Finanzierung von öffentlichen Investitionen.
Das ist eine praktische Hilfe, die Arbeitsplätze sichert oder neue bringt. Die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes wäre eine solche Möglichkeit aus unserer Sicht jedenfalls nicht.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Konrad Gilges.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär! Weil Sie von Fairneß und Ehrlichkeit sprachen, möchte ich Sie - auch unter dem Gesichtspunkt, daß Sie hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär waren - darauf aufmerksam machen, daß es zur Redlichkeit gehört, daß man demjenigen, mit dem man sich auseinandersetzen will - zumindest unter Gewerkschaftsfunktionären ist das so -, gut zuhört.
Wir haben gesagt: Ein Grund, Herr Günther, ist die Abschaffung des Schlechtwettergeldes. Der zweite Punkt betraf die mangelnde Durchsetzbarkeit der Entsenderichtlinie. Der dritte Grund - wenn Sie richtig zugehört haben; wir haben das hier immer wieder erklärt - ist die Investitionsschwäche der Kommunen, die nicht in der Lage sind, Investitionen vorzunehmen, wodurch die Baumarktkonjunktur leidet. Ich will noch einmal auf diese drei Gründe hinweisen. Es gehört wirklich zur Redlichkeit, daß man es so aufnimmt und nicht in einem Diskussionsbeitrag oder in einer Rede den Eindruck erweckt, als wenn wir das nicht so gesagt hätten, sondern sagen würden, die hohe Arbeitslosigkeit der Bauarbeiter - sie liegt bei 400 000 - käme nur durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldes. Das Schlechtwettergeld ist ein Faktor.
Zum zweiten möchte ich etwas zu Herrn Ramsauer sagen, der immer wieder vom Jahreseinkommen - auch Sie sprechen ja davon - gesprochen hat. Wer sich ein wenig im Baugewerbe und mit der Überstundenvergütung auskennt, weiß, daß fast über 60 Prozent der Arbeiten am Bau im Akkord- und Leistungslohn erbracht werden. Allein im Beruf des Fliesenlegers, den ich ausübe, wird in über 95 Prozent der Fälle im Akkord gearbeitet. Dort gibt es einen eigenen Akkordlohntarifvertrag. Meine beiden Brüder - sie sind Putzer und Stukkateure - haben ihr ganzes Leben lang zu 95 Prozent für Leistungslohn gearbeitet. Den kann man eben nicht anrechnen; da gibt es Schwierigkeiten. Im Sommer hat der Fliesenleger manchmal, wenn er um drei Uhr seine 100 DM am Tag verdient hat, aufgehört zu arbeiten.
Ich habe das gemacht und bin zur SPD-Versammlung gegangen und habe versucht, etwas für die SPD oder für die Gewerkschaften zu tun, weil ich mein Geld verdient hatte. Das war der Sinn des Akkords.
Man kann da nicht sagen: Jetzt arbeitest du noch einmal drei oder vier Stunden länger, verdienst noch einmal 50 oder 60 DM und läßt sie dir nicht auszahlen. Das macht kein vernünftiger Mann; Sie, Herr Günther, verdienen als Staatssekretär doch auch nicht im Sommer ein paar Mark mehr, damit Sie im Winter etwas übrig haben. Solch komische Geschichten machen Sie doch auch nicht. Lassen Sie also diesen Quatsch sein!
Keine Erwiderung? Dann schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 13/7122 und auf Drucksache 13/7194 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 9 a und 9 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Nutzer und zur weiteren Erleichterung von Investitionen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet
- Drucksache 13/2022 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Nutzerinnen und Nutzer von Grundstücken in den neuen Bundesländern
- Drucksache 13/2822 -
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung und Vereinheitlichung sachenrechtlicher Fristen
- Drucksache 13/5982 -
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
-Drucksache 13/7275-
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Luther Dr. Dietrich Mahlo
Hans-Joachim Hacker
Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uwe-Jens Heuer
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Hans-Joachim Hacker, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vorrang für die Nutzer in Ostdeutschland
- zu dem Antrag der Abgeordnetem Dr. Uwe- Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick und der weiteren Abgeordneten der PDS Moratorium zum Schutze der redlichen Nutzer und Nutzerinnen vor der zivilrechtlichen Durchsetzungen von Rückübertragungsansprüchen im Beitrittsgebiet
- Drucksachen 13/803, 13/613, 13/7275 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Luther Dr. Dietrich Mahlo
Hans-Joachim Hacker
Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uwe-Jens Heuer
Zum Nutzerschutzgesetz liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD, ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Für die Aussprache ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Luther, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute schließen wir die Beratung zum Nutzerschutzgesetz ab. Eine Vielzahl seiner Regelungsvorschläge haben sich bereits erledigt. Kern des Gesetzes waren jedoch zwei wichtige Anliegen der neuen Bundesländer, wobei die konkreten Vorschläge des Bundesrates heute niemand mehr verfolgt. Die berechtigten Anliegen werden aber mit dem Wohnungsmodernisierungssicherungsgesetz gelöst.
Worum geht es? Zum ersten kann nun im restitutionsbelasteten Mietwohnungsbestand erleichtert modernisiert und instandgesetzt werden. Zuerst kann ein Anmelder mit einem berechtigten Restitutionsanspruch, wenn er will, das Mietshaus selbst zurücknehmen. Dann kann er sofort investieren. Wenn nicht, kann durch den neuen Investitionsgrund Modernisierung und Instandsetzung im Investitionsvorranggesetz ein Investor oder die Wohnbaugesellschaft bis zu 50 000 DM je Wohneinheit selbst investieren. Das hat zwei positive Aspekte. Erstens. Die Häuser werden saniert. Zweitens. Nach Angaben der Wohnungswirtschaft können die zur Zeit fast 10 Milliarden DM geparkten Mieteinnahmen in Bauleistungen umgesetzt werden, was gut für die Bauwirtschaft ist.
Das zweite zu lösende Problem wird am folgenden Beispiel deutlich: Im Fall der BGH-Entscheidung vom 17. März 1996 wurde 1988 in der DDR ein baufälliges Haus auf Grund eines auf das Baulandgesetz gestützten Beschlusses enteignet. Der BGH stellt fest, daß ein die Enteignung rechtfertigender Zweck vorgelegen hat. Der Enteignungsbeschluß wurde dem Eigentümer jedoch nicht zugestellt. Im Anschluß an die Enteignung wurde das Haus an den Mieter mit der Auflage der Instandsetzung verkauft und ein Nutzungsrecht an dem Grundstück verliehen. Der BGH kommt zum Ergebnis, daß die Enteignung mangels Zustellung der Enteignungsurkunde unwirksam sei. Somit sei kein Volkseigentum entstanden. Der heutige Besitzer konnte demnach das Eigentum am Gebäude nicht wirksam erwerben und kein Nutzungsrecht verliehen bekommen.
Gesetzt den Fall, daß kein die Enteignung rechtfertigender Grund vorgelegen hätte oder daß der Enteignungszweck nur vorgeschoben gewesen wäre, also unlautere Machenschaften eine Rolle gespielt hätten, dann würde es sich um einen Fall nach dem Vermögensgesetz handeln.
In der BGH-Entscheidung vom 7. Juli 1995 wird ausgesagt: Ein zusätzlicher Mangel, der zivilrechtlich zu beachten sein könnte, schließt den Vorrang des Vermögensgesetzes nicht aus. Die nicht zugestellte Enteignungsurkunde spielt also keine Rolle. Das Vermögensgesetz würde zwar den Restitutionsanspruch wegen § 1 Abs. 3 für gerechtfertigt erklären; es würde aber den redlichen Erwerber schützen. Der heutige Besitzer bliebe Eigentümer; der Alteigentümer bekäme in diesem Falle das Grundstück nicht zurück.
Fazit: Beim moralisch verwerflicheren Enteignungsvorgang kommt es zu keinem Eigentumswechsel, weil der redliche Erwerber geschützt ist. Bei einer Regelenteignung, die lediglich nicht ganz formrichtig erfolgt ist, kommt der alte Eigentümer wieder in den Besitz, mit der Folge, daß ein redlicher Erwerb nicht geprüft wird. Es kommt zu keinem sozialverträglichen Interessenausgleich. Das kann nicht Ziel des Einigungsvertrages gewesen sein. Deshalb haben wir uns zu einer Bestandsschutzregelung entschlossen.
Welche Wirkung hat die Regelung? Wenn der Enteignungszweck bei einer Enteignung zum Beispiel nach Bauland-, Straßenbau- oder Bergbaugesetz nicht vorgeschoben war und wenn ein Fehler im damaligen Verwaltungsakt nur auf schlampiges Verwaltungshandeln zurückzuführen ist, dann bleibt ein solcher zivilrechtlicher Mangel unbeachtlich. Die Überführung in Volkseigentum für diesen öffentlichen Zweck hat Bestand.
Wenn es sich aber zum Beispiel um einen Willkürakt im Einzelfall gehandelt hat, dann wird die Über-
Dr. Michael Luther
führung in Volkseigentum aufgehoben. Der Alteigentümer wird wieder Eigentümer. Dem redlichen Erwerber steht ein Ankaufsrecht nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz zu.
Wie kam es zu der heutigen problematischen Rechtslage? Es wurde meines Erachtens versucht, frühere Rechtsvorgänge heute unter rechtsstaatlichen Vorzeichen neu zu bewerten.
Herr Kollege Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hirsch?
Ich würde gerne komplett vortragen.
Das unterstellt, daß die jeweiligen vermeintlichen Rechtspositionen in der früheren DDR tatsächlich durchzusetzen gewesen wären. Daß dem nicht so ist, sieht jeder leicht ein. Deshalb, so meine ich, ist eine wenn auch mangelbehaftete Regelenteignung eine durch Art. 19 des Einigungsvertrages geschützte Verwaltungsentscheidung. Zu beachten ist allerdings: Willkürliche Verwaltungsakte wollen wir nicht mit der Bestandsschutzlösung heilen.
In der Zeit des Gesetzgebungsverfahrens ist ein weiteres Problem erkannt worden. Auch das wird nun gelöst. Auf Grund von zwei BGH-Urteilen von Dezember 1995 und Januar 1996 sind heute alle Kaufverträge nichtig, die auf Grund des Gesetzes über den Verkauf volkseigener Gebäude der DDR vom 7. März 1990 nach dem 17. Mai 1990 abgeschlossen worden sind und in denen der Verkäufer sich als „Rat der Stadt" oder „Rat der Gemeinde" bezeichnet hat. Da ein Untergegangener nichts verkaufen kann, sind diese Verträge nichtig. Vom BGH wird nicht bewertet, ob tatsächlich ein Nichtbevollmächtigter den Verkauf vorgenommen hat oder ob er sich nur falsch bezeichnet hat.
Der Bundestag geht davon aus, wir gehen davon aus, daß die Kommunen im Frühjahr und Sommer 1990 den Unterschied zwischen „Gemeinde" und „Rat der Gemeinde" nicht kannten. Es wird nunmehr klargestellt, daß entsprechend dem allgemeinen Rechtsgedanken die notariellen Verträge nicht deshalb nichtig sind, weil sich eine Vertragspartei lediglich falsch bezeichnet hat. Somit bleiben die notariellen Kaufverträge aus dem Jahre 1990 in der Regel gültig. Das setzt aber voraus, daß tatsächlich eine Vollmacht für den Verkäufer von kommunalem Eigentum vorlag. Deshalb wird ein Ratsbeschluß oder zumindest eine Billigung der Kaufverträge durch die Kommune im nachhinein verlangt.
Meine Damen und Herren, der Sachverhalt ist schwierig. Für Rechtspolitiker aus den alten Bundesländern ist er eher grauenvoll. Um so mehr danke ich denen, die sich hier um eine Lösung bemüht haben.
Sie haben an der deutschen Einheit mitgewirkt. Noch einmal recht herzlichen Dank!
Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege Dr. Hirsch.
Herr Kollege Luther, nach dem, was Sie eben ausgeführt haben, räumen Sie offenbar ein, daß das Nutzerschutzgesetz nur dann eine Rechtswirkung entfaltet, wenn bisher eine Enteignung nach dem DDR-Recht nicht wirksam zustande gekommen ist; denn sonst wäre es überflüssig. Das heißt, dieses Gesetz führt eine Enteignung herbei,
muß also den Voraussetzungen des Art. 14 unserer Verfassung folgen.
Sind Sie sich klar darüber, daß nun bei der Frage, was geheilt werden soll, die Begründung heißt, daß nicht nur die gesetzlichen Bestimmungen der DDR zu beachten seien - dem könnte man ja folgen -, sondern daß außerdem selbst die Verwaltungserlasse eine Rechtsgrundlage für eine Enteignung sein sollen, die dem damaligen DDR-Recht widersprechen? Das wird begründet mit der Formel, es gehe um „das gelebte DDR-Recht". Ich sage Ihnen: Es geht dann um das gelebte DDR-Unrecht.
Es geht nicht etwa darum, daß nun Westdeutsche sich irgendwelche Grundstücke unter den Nagel reißen wollen. Vielmehr werden von den Enteignungsmaßnahmen diejenigen getroffen, die damals in der DDR Vermögen hatten, also ehemalige Bürger der Deutschen Demokratischen Republik.
Nun muß ich Ihnen sagen, daß dieses Gesetz die Voraussetzungen des Art. 14 nicht erfüllt und nach meiner Überzeugung verfassungswidrig ist.
Herr Dr. Luther, möchten Sie erwidern? - Bitte.
Herr Hirsch, mir ist die Rechtsauffassung, die Sie vertreten haben, durchaus bekannt. Ich bin Ihnen dankbar, daß ich durch Ihre Intervention noch einmal die Gelegenheit habe, eine deutlich andere Position zu vertreten. Nach meiner Meinung wird versucht, DDR-Verwaltungsentscheidungen bzw. DDR-Verwaltungsakte sowie die Gesetze, die zu DDR-Zeiten beschlossen worden sind, heute unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zu werten. Nur dann kann man meines Erachtens zu dem Ergebnis kommen, wie Sie es soeben vorgetragen haben,
Der Einigungsvertrag aber, der auch verfassungsrechtlichen Charakter hat, meint genau etwas anderes. Dort wird nämlich in Art. 19 deutlich festgestellt, daß Verwaltungsentscheidungen der DDR Bestand haben, es sei denn, sie sind mit rechtsstaatlichen
Dr. Michael Luther
Grundsätzen unvereinbar. Dabei steht nicht geschrieben, daß geprüft werden muß, ob die Verwaltungsentscheidungen unter heutigen Bedingungen Bestand haben. Wenn das so wäre, dann hätten viele Verwaltungsakte keinen Bestand. Denn die DDR war kein Rechtsstaat. Das war den Unterzeichnern des Einigungsvertrages auch bewußt. Deswegen hat man gerade diese Regelung eingeführt.
Nun wollte man aber nicht alle Verwaltungsakte heilen, sondern hat ausdrücklich gesagt, daß der Bundesgesetzgeber Verwaltungsakte aufheben kann, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sind. Dazu sind Gesetze geschaffen worden. Wir haben das Vermögensgesetz und das verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz. Es gibt noch weitere Verwaltungsakte. Wir haben auch das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz. Willkürakte werden hierdurch ausdrücklich aufgehoben.
Mit der Regelung, die wir heute beschließen, gehen wir, so denke ich, weiter, als es der Einigungsvertrag vorsah. Wir sagen nämlich: Auch bei zivilrechtlichen Vorgängen, wo Willkürakte eine Rolle gespielt haben - das steht jetzt in dem neuen § 22 des Vermögenszuordnungsgesetzes; hier wird ausdrücklich auf Willkürakte hingewiesen -, wird kein Bestandsschutz gewährt. Ich denke, wir liegen damit voll auf der Linie des Einigungsvertrages. Es wird aus meiner Sicht keine verfassungsrechtlichen Bedenken geben können.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute wenden wir uns wieder einem sensiblen Thema aus dem Einigungsprozeß zu: der Frage des Schutzes der redlichen Nutzer und Erwerber sowie angrenzenden Fragen. Zunächst ist es als erfreulich anzusehen, daß es nach monatelangen Verzögerungen in der Beratung der Vorschläge der Opposition und des Bundesrates jetzt endlich gelungen ist, das Nutzerschutzgesetz in der Fassung des Wohnraummodernisierungssicherungsgesetzes in die zweite und dritte Lesung des Deutschen Bundestages einzubringen.
Ich will hervorheben, daß die SPD-Bundestagsfraktion die in den Berichterstattergesprächen erreichten Kompromisse zu den investiven Maßnahmen für Mietwohnungen im restitutionsbelasteten Wohnungsbestand und zur Klarstellung der Rechtsposition von NS-Verfolgten und NS-Vermögensgeschädigten ausdrücklich unterstützt. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht auch das Bemühen der Koalition, in zwei entscheidenden Bereichen Regelungen zu finden, die der Klarstellung von Rechtsstandpunkten bzw. der Heilung von Formmängeln bei Verwaltungsverfahren sowie beim Abschluß von Kaufverträgen während der DDR-Zeit dienen.
Bei diesen Regelungskomplexen aber, die verkürzt mit „Briefkopfurteilen des BGH" und mit „Mängeln bei der Begründung von Volkseigentum" bezeichnet werden können, bleibt sich die Koalition treu: Die Regelungen bleiben unvollkommen und inkonsequent - zum Schaden der redlichen Erwerber und Nutzer.
Meine Damen und Herren, es war ein besonderes Anliegen des Antrages der SPD-Bundestagsfraktion und des Gesetzentwurfes des Bundesrates, die auf diesem Gebiet bestehenden Unklarheiten und Verunsicherungen zu beseitigen, was jedoch mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wieder nicht gelungen ist.
- Ich wäre schon zufriedenzustellen, lieber Herr Geis, wenn Sie den beiden Anträgen zustimmten, die ich gleich noch vorstellen werde.
Lieber Herr Geis, diese Tatsache ist um so verwunderlicher, als die Berichterstatter mit tatkräftiger Unterstützung des Bundesjustizministeriums - ich erinnere an die Formulierungshilfe vom 11. Oktober 1996 - schon fast eine zufriedenstellende Lösung erreicht haben.
Dann kamen die bekannte Pressekampagne, Herr Geis, und die massive Blockade - leider aus Ihrer Fraktion und natürlich aus der F.D.P.
Meine Damen und Herren, wir haben nur geringe Hoffnung, daß es heute gelingen wird, die dringend erforderlichen Klarstellungen bei den Formmängeln zu erreichen. Trotzdem stellt meine Fraktion zwei Änderungsanträge, die genau dieses Ziel verfolgen.
Die im Gesetzentwurf enthaltene Regelung zum Bestandsschutz in § 22 des Vermögenszuordnungsgesetzes ist unvollkommen und führt für die Betroffenen nicht zu der gewünschten und notwendigen Klarheit. Für die Bestandskraft der Begründung von Volkseigentum werden nicht die Kriterien des üblichen Verwaltungshandelns zugrunde gelegt, worunter weder Machtmißbrauch noch Unredlichkeit zu verstehen sind. Die Folge dieser von der Koalition vorgeschlagenen halbherzigen Heilung ist, daß betroffene Käufer nun doch an Verwaltungsfehlern der DDR-Behörden scheitern können
Hans-Joachim Hacker
und einen neuen Kaufvertrag zu den Bedingungen des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes abschließen müssen.
Das ist nicht sachgerecht, weil bei der Heilung von Mängeln im Zusammenhang mit der Begründung von Volkseigentum die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nunmehr nach Prinzipien erfolgen soll, die im Verwaltungsverfahren der DDR nicht üblich gewesen sind. Die SPD will eine klare und endgültige Regelung, die nicht neuen Streit zuläßt. Deshalb stellen wir zu § 22 des Vermögenszuordnungsgesetzes einen entsprechenden Änderungsantrag.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag findet seine Unterstützung durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, die am heutigen Donnerstag veröffentlicht worden ist und in der es heißt - ich zitiere auszugsweise -, daß laut Einigungsvertrag Verwaltungsakte, die nach der damaligen DDR-Praxis als wirksam angesehen worden seien, auch heute noch gültig sind. Ausnahmen gälten nur, wenn sie auf besonderer Rechtsgrundlage aufgehoben worden seien oder Ansprüche nach dem Vermögensgesetz bestünden. Dies ist genau unsere Rechtsposition.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Problem: Die sogenannten Briefkopfurteile des BGH haben das reale Leben in der Endphase der DDR nicht beachtet, ja völlig verkannt. Nach der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofes sollen Kaufverträge nach dem sogenannten Modrow-Gesetz allein schon deswegen unwirksam sein, weil nach Inkrafttreten der DDR-Kommunalverfassung am 17. Mai 1990 statt des richtigen Namens der Kommune - zum Beispiel Stadt Schwerin - noch der überholte Begriff „Rat der Stadt" - um bei meinem Beispiel zu bleiben: Rat der Stadt Schwerin - verwendet worden ist. Auch diese Problematik wird weder von Fragen des Machtmißbrauchs noch von Fragen der Unredlichkeit tangiert. Ich bin daher der Meinung, daß hier eine einfache Lösung zu finden sein dürfte.
Die von der Koalition vorgeschlagene Formulierung in Art. 231 § 8 EGBGB bringt jedoch keine sachgerechte Lösung der dargestellten Probleme. Diese ist allein mit dem Ihnen vorliegenden Änderungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion zu erreichen. Aber worin liegt hier nun eigentlich das Problem? Es liegt allein darin, daß die Koalition völlig sachfremd und unnötigerweise in Verbindung mit der Falschbezeichnungsproblematik, auf die ich eingegangen bin, neue Fragen aufgeworfen und in den Gesetzgebungsprozeß einbezogen hat.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Warum führen Sie in das Gesetz die Bedingung ein, daß für das Handeln des bevollmächtigten Vertreters der Kommune zusätzlich ein Ratsbeschluß vorgelegen haben muß bzw. derartige Beschlüsse nachträglich gefaßt worden sein müssen?
Hier wird der Interpretation der jetzt zur Verabschiedung anstehenden Regelung freier Raum gegeben.
Ich frage Sie weiter, Herr Geis: Wie kann ein Ratsbeschluß eigentlich gefaßt werden, wenn doch ein Rat gar nicht mehr existierte?
Wir haben doch die Räte am 16. Mai abgeschafft. Dann kann aber auch kein Ratsbeschluß gefaßt werden. Warum fordern Sie also Ratsbeschlüsse, wenn das Verkaufsgesetz vom 7. März 1990 eine solche Regelung nicht vorschrieb?
Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, teilt auch das BMJ meine Bedenken. Wie sonst ist das Schreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs, Herrn Funke, vom 14. März 1997 zu verstehen, in dem ausgeführt wird: Von der im Rechtsausschuß vorgelegten Formulierung, nämlich von
diesem Textvorschlag rate ich allerdings ab. Er läuft nämlich im praktischen Ergebnis darauf hinaus, daß die politische Billigung des Vertrages geprüft wird. Es wäre meines Erachtens konsequenter, sich dann gleich für die Vorschrift in der Fassung der Formulierungshilfe vom 11. Oktober 1996 zu entscheiden und auf die politische Billigung als Tatbestandsmerkmal zu verzichten.
Genau dies ist die Zielrichtung des SPD-Antrages. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung.
Meine Damen und Herren, auch nach dem Wortlaut der Begründung zum Gesetz ist mit der Billigung lediglich eine politische Billigung gemeint, nicht eine Genehmigung im Rechtssinne, weil - so die Begründung des Gesetzes - hierfür rechtlich kein Raum war. Wenn kein rechtlicher Raum war, frage ich Sie: Warum führen wir eine solche Kondition in das Gesetz ein? Warum soll hier eine derartige Bedingung eingeführt werden, die in der Praxis immer wieder zu Konflikten führt?
Lieber Kollege Luther, ich hoffe, ich schade Ihnen nicht, wenn ich an dieser Stelle sage: Sie waren einer der Mitstreiter aus der Koalition, die es überhaupt ermöglicht haben, heute über dieses Gesetz in zweiter und dritter Lesung zu diskutieren.
Um so erstaunlicher wird für Sie die Tatsache sein, daß Sie, wenn Sie die Richtigkeit der vorgelegten Vorschläge begründen, doch selber merken, wie Ihre eigenen Ausführungen in der Presse mißverstanden
Hans-Joachim Hacker
werden. Die Unschärfen, die im Gesetzestext enthalten sind, werden für Rechtsanwälte, für Restitutionsantragsteller genau diese Verunsicherung bringen, die ich heute kritisiert habe.
Auf eine Frage zum Sachenrechtsproblem werden Sie in der „Sächsischen Zeitung" vom 20. März 1997 - das ist heute - zitiert: In den Fällen, wo die sachen- rechtliche Lösung ansteht, soll nunmehr eine Klärung der verschleuderten Grundstücke nach dem Modrow-Kaufvertrag erfolgen. Das ist völlig sachfremd. Genau so sachfremd wird dann auch bei der Umsetzung des heute anstehenden Gesetzes durch interessierte Kreise argumentiert werden.
Eine weitere Verwirrung des heutigen Tages ist darin zu sehen, daß eine parlamentarische Initiative der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen in Magdeburg, die eine Klärung dieser Problematik erreichen wollte - sie wollte das umsetzen, was von den Bundespolitikern in den Wahlkreisen immer versprochen wird, daß nämlich diese Fragen in Bonn endlich gelöst werden -, im Landtag von Sachsen-Anhalt von der CDU durch eine Nicht-Unterstützung der SPD- Anträge abgeschmettert wurde. Diese Anträge halte ich aber für sachgerecht, weil sie in der Sache auch vom Bundesverwaltungsgericht unterstützt und von Praktikern für richtig gehalten werden. Deren Unterstützung ist dort von der CDU verweigert worden. Ich bedauere das ausdrücklich.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es besteht noch dringender Handlungsbedarf. Es besteht dringender Nachbesserungsbedarf. Ich bin der Hoffnung, daß es gelingen wird, die Erwartungen zu erfüllen, die die betroffenen Bürgerinnen und Bürger an unsere Tätigkeit beim Nutzerschutzgesetz geknüpft haben, daß das Gesetz im Bundesrat noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt und gegebenenfalls im Vermittlungsverfahren nachgebessert wird. Diese Punkte sind dringend korrekturbedürftig.
Ich bin der festen Überzeugung, daß es uns am Ende gelingen wird, die notwendige Rechtssicherheit wiederherzustellen und die dringend notwendige Sicherheit für den Grundstücksverkehr zu geben, damit die angesprochenen Probleme endgültig einer Lösung zugeführt werden. Zuvor, meine Damen und Herren von der Koalition, haben Sie noch die Chance, den beiden SPD-Änderungsanträgen beizutreten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, das wir hier und heute behandeln, soll wirklich eine Reihe von gordischen Knoten lösen, da in vielen Fällen die Interessen der Alteigentümer und der Neueigentümer oder Nutzer fast unversöhnbar einander gegenüberstehen. Oft stehen als Hauptbetroffene auch noch die Mieter dazwischen, auf deren Rücken viele der Auseinandersetzungen um den Eigentumstitel ausgetragen werden. Ich bitte darum, das nicht zu vergessen.
Bei einer Vielzahl von Fällen sind obendrein die eigentumsrechtlichen Entscheidungen deshalb sehr schwer, weil wir es mit zwei aufeinanderfolgenden Phasen der Willkür im Umgang mit Eigentum zu tun haben, dem Nazi-Regime und der SED-Diktatur. Beide Regime sind mit dem Eigentum und der Vergabe von Eigentum vielfach räuberisch und sehr willkürlich umgegangen. Letztlich müssen wir uns eingestehen, daß wir alle das heute ausbaden müssen.
Ein zentraler Fehler des Vermögensgesetzes ist die in § 3 Abs. 3 verhängte Verfügungssperre für restitutionsbehaftete Grundstücke. Mit der geltenden Rechtslage hat die Regierung die Fortdauer der von der DDR eingeleiteten Desinvestition für eine Vielzahl von Altgrundstücken perfektioniert. Am meisten davon betroffen sind bewohnte Mietshäuser, weil sie nach dem Investitionsvorranggesetz praktisch nicht an Investoren weitergegeben werden konnten.
Mit der im neuen § 21 b des Investitionsvorranggesetzes vorgesehenen vereinfachten Rückübertragung und mit dem im § 21 a vorgesehenen neuen Investitionsspielraum für den jetzigen Verfügungsberechtigten wird es voraussichtlich zu einer schnelleren Rückgabe von einer Reihe von Grundstücken kommen, aber es wird nur in relativ wenigen Zufallstreffern auch wirklich zu der von Ihnen erwünschten und im Gesetzestitel dargestellten Investitionstätigkeit kommen, also zu Instandsetzung und Modernisierung.
Die betroffenen Mieter stehen zwischen Baum und Borke. Entweder es tropft weiter durchs Dach, und die Klos frieren auch im nächsten Winter ein, oder man wird da, wo die Sonderabschreibungen noch für zwei Jahre greifen, zum Spielball von steuersubventionierter Luxusmodernisierung und Eigentumsumwandlung.
Wir haben deswegen einen Antrag mit der Aufforderung gestellt: Geben Sie den Mietern das Recht, durch Eigeninvestitionen die gröbsten Mängel selbst zu beseitigen, und verpflichten Sie die Alteigentümer zur Anerkennung von Mieterinvestitionen.
Geben Sie den Mietern außerdem ein Vorkaufsrecht, damit sie ihr Haus selbst erwerben können und schrittweise erneuern können. Ich denke, es ist die beste Form von Eigentum, wenn Nutzung und Eigentum zusammenfallen.
Ich will zu den anderen Punkten, die in den Ausführungen meiner Vorredner die Hauptrolle spielten, wenig sagen, sondern nur so viel, daß ich tatsächlich mit großer Sorge das Problem sehe, daß mit den Lösungen, die Sie als Koalition jetzt gefunden haben,
Franziska Eichstädt-Bohlig
sowohl für die Enteignungen in der DDR-Zeit und die vielfachen Formfehler, über die wir heute diskutieren, als auch im Umgang mit den Verkäufen nach dem Modrow-Gesetz wieder eine neue Welle von Klagen und rechtlichen Auseinandersetzungen auf uns zukommt. Das ist der Grund, weswegen wir den Anträgen der SPD zustimmen.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Was ich gut und richtig und wichtig finde, ist die Regelung zur Entschädigung und Rückgabe von den in der Reichspogromnacht und während des Nazi-Regimes zerstörten und dann enteigneten Synagogen. Ich finde auch, daß das Problem des Ausgleichs zwischen den kommunalen Gesellschaften und den Interessen der Gewerkschaften und der jüdischen Miteigentümer im doppelten Durchgriff einigermaßen korrekt gelöst ist, auch wenn ich weiß, daß die kommunalen Gesellschaften damit nach wie vor sehr große Probleme haben.
Lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Wir werden uns bei diesem Gesetz der Stimme enthalten, weil es auf einem Vermögensrecht aufbaut, das unserer Ansicht nach sehr viel Schaden, viel Streit und Haß in die neuen Länder und zwischen Ost und West getragen hat. Ich möchte trotzdem nicht verkennen, daß sich bei der Formulierung dieses Gesetzes alle Beteiligten, Regierung, Koalition und Opposition, sehr viel Mühe gegeben haben, ein Gesetz des Interessenausgleichs zu schaffen. Wir enthalten uns, weil ich skeptisch bin, daß dies wirklich so gelungen ist, wie es nötig ist.
Trotzdem möchte ich gerade auch in Richtung FAZ und veröffentlichte Meinung die Bitte aussprechen, nicht länger Alteigentümer gegen Neueigentümer aufzuhetzen, wie das immer noch der Fall ist.
Ein allerletztes Wort an die PDS, auch wenn ich meine Zeit etwas überziehe: Herr Heuer, ich erwarte von Ihrer Partei, daß sie nicht nur Klage über die Fehler der Regierung führt, sondern ich erwarte von ihr als SED-Nachfolgerin eine deutliche und öffentliche Entschuldigung für die Enteignungen und den Umgang mit Eigentum in der DDR-Zeit,
und zwar sowohl bei den enteigneten Alteigentümern und bei den neuen Rechtsträgern, für die Sie sich sehr einsetzen - das finde ich auch insoweit okay -, als auch insgesamt bei unserer Bevölkerung, die mit unendlich großem Aufwand an Geldern das wiedergutmachen muß, was dort falsch gemacht worden ist.
Das Wort hat der Kollege Hildebrecht Braun.
Meine Damen und Herren! In vier Minuten das Ergebnis monatelanger intensivster Beratungen zu einer ungeheuer schwierigen Materie wiederzugeben und erläutern zu wollen ist nicht möglich. Warum uns trotz Zehntausender Betroffener für die Behandlung dieses Gesetzes so wenig Redezeit eingeräumt wurde, erscheint unverständlich,
geht es doch heute um den Versuch, ein weiteres Stück DDR-Vergangenheit aufzuarbeiten und Rechtsfrieden zu schaffen.
Wir wissen, daß die Modernisierung von Wohnraum von überragender Bedeutung beim Aufholprozeß in Deutschlands Osten ist. Deprimierend schlechte Wohnverhältnisse würden auch bei einer Angleichung der sonstigen Lebensbedingungen bei den Menschen in den neuen Bundesländern das Gefühl stärken, gegenüber den Westdeutschen benachteiligt zu bleiben.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Modernisierung auch derjenigen Gebäude ermöglicht, die von Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz betroffen sind und deren Erneuerung bisher wegen des unsicheren Ausgangs oft mehrjähriger Verfahren weder vom Nutzungsberechtigten noch vom möglichen Alteigentümer in Angriff genommen wurde. Die rechtliche Unklarheit über die Eigentumsverhältnisse geht zu Lasten der Menschen, die in diesen Häusern wohnen. Das wird mit einer wohlabgewogenen Lösung in Zukunft verhindert. Soweit ich weiß, haben Mitarbeiter des Justizministeriums den Lösungsansatz gefunden, der überall Zustimmung hervorgerufen hat. Für diesen kreativen und gestalterischen Beitrag der damit befaßten Beamten bedanke ich mich besonders herzlich.
Ich will einige Worte zum neuen § 22 des Vermögenszuordnungsgesetzes sagen, der nicht nur uns Abgeordneten besondere Schwierigkeiten bereitet hat. Es ist ein sprachliches Gebilde herausgekommen, das jeden Sprachästheten erschrecken muß. Nur wer die außerordentlich schwierigen Verhandlungen zwischen sehr engagierten, aber auch sehr kenntnisreichen Abgeordneten und dem Bundesjustizministerium über die Formulierung dieses Paragraphen erlebt hat, wird Verständnis für den Gesetzeswortlaut haben, der Voraussetzung für die Zustimmung aller Beteiligten war.
Der Gesetzgeber mußte handeln, da zwei Bundesgerichte den gleichen Sachverhalt unterschiedlich bewerteten. Es ist für mich nicht verständlich, warum nicht der gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes angerufen wurde,
als klar wurde, daß Bundesverwaltungsgericht und Bundesgerichtshof zu einer entgegengesetzten rechtlichen Bewertung kamen. Dafür haben wir nämlich diese Einrichtung.
Hildebrecht Braun
Bei der Überführung - meist Enteignung - von Privateigentum in sogenanntes Volkseigentum wurden die hierfür maßgeblichen Rechtsakte den betroffenen Eigentümern, die zum Teil im Ausland lebten, oft nicht zugestellt. Nach westdeutschem und nun auch gesamtdeutschem Rechtsverständnis, aber auch nach dem geschriebenen Recht der DDR hätte eine Zustellung erfolgen müssen. Diese ist in einem Rechtsstaat unverzichtbar, da nur derjenige, dem eine Information zugeleitet wird, gegen die dieser Information zugrunde liegenden Tatsachen Rechtsbehelfe einlegen kann.
Nun weiß jeder, daß in der DDR Rechtsbehelfe wie Gegenvorstellungen, Beschwerden oder möglicherweise gar eine Klage keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Es gab ja keine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Handlungen der öffentlichen Hand hätte korrigieren können. Es ist daher grundsätzlich richtig, wenn wir damalige Formmängel in der Regel als heute unbeachtlich bewerten, während wir Verstöße gegen materielles DDR-Recht, zum Beispiel gegen inhaltliche Vorschriften des Aufbaugesetzes, sehr wohl als relevant ansehen.
Wir haben uns auch zu Recht dafür entschieden, Verkäufe aus Volkseigentum nach dem Modrow-Gesetz dann anzuerkennen, wenn die Verkäufe seitens der Kommunen von einem Ratsbeschluß gedeckt waren oder gedeckt werden. Es ist aber für uns von der Koalition entscheidend, daß das frei gewählte Vertretungsorgan der verkaufenden Kommune damals oder in der Zwischenzeit den Verkauf gebilligt hat oder ihn heute billigt.
Wir schaffen Rechtssicherheit in einem außerordentlich sensiblen Bereich. Wir helfen dem redlichen Erwerber von Grundstücken. Wir heilen aber nicht materielles DDR-Unrecht. Wir verstehen das Unverständnis von Bürgern, die sich nicht in die Rechtspraxis des real existierenden Sozialismus zu DDR-Zeiten hineinversetzen können. Wir verwahren uns aber gegen Verunglimpfungen, nach denen die Abgeordneten des Deutschen Bundestags die willigen Vollstrekker des DDR-Unrechts wären. Das sind wir nicht.
Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verwahrung von Herrn Braun galt der FAZ. Selten ist die Rolle des Lobbyismus so deutlich geworden wie bei diesem Gesetz. Die FAZ begleitete liebevoll jede Sitzung des Rechtsausschusses, so auch die letzte, mit ihren Hinweisen, das alles sei verfassungs- und rechtsstaatswidrig.
Was ist herausgekommen? Mein Vorwurf ist, daß der jetzige Entwurf trotz bestimmter Fortschritte, die ich nicht bestreiten will, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden nur ungenügend schafft.
Das gilt zunächst einmal für die sogenannten Briefkopfurteile; dazu ist hier schon etwas gesagt worden. Es handelt sich um falsa demonstratio; das war auch die Meinung des Bundesjustizministeriums. Es ist also jemand hingegangen - der Kollege Hacker hat das erklärt - und hat für seine Behörde eine falsche Bezeichnung genannt; im übrigen aber war alles in Ordnung.
Wir waren uns alle einig: Diese Entscheidung des BGH widerspricht der allgemeinen Vorstellung, daß eine falsa demonstratio nicht schadet. Jetzt aber sagt man leider nicht: „Wir heben auf, was gesagt worden ist. Wir entscheiden anders." Jetzt werden vielmehr neue Haken eingebaut und neue Probleme aufgeworfen. Im Grunde wird eine politische Billigung gefordert.
Das halte ich nicht für besonders gut; denn jetzt soll politisch bewertet werden, und es hängt im Grunde von der Mehrheit der Gemeinde ab, wie sie damit umgeht. Es handelte sich damals doch nur - darin sind wir uns einig - um eine falsche Bezeichnung. Jetzt aber soll politisch darüber entschieden werden, ob dieser oder jener das zu Recht bekommen hat.
Interessant ist auch, daß man hier beim BGH außerordentlich vorsichtig ist. Beim Bundessozialgericht - das haben wir heute gesehen - ist man mit der Umwerfung seiner Urteile viel großzügiger, viel schneller. Da wird eine Entscheidung nach einer Woche gekippt. Bei dem BGH hat man sich weit schwerer getan.
Ein weiterer Punkt betrifft die Heilung. Es ist gesagt worden - das ist vernünftig -, daß bestimmte Sach- und Formfehler geheilt werden sollen. Jetzt aber ist der Begriff „ordnungsgemäße Verwaltungspraxis" enthalten, und niemand weiß genau, wie das ausgelegt werden wird.
Nun hat Herr Hirsch gesagt, das alles sei schlimm und nicht rechtsstaatlich. Ich möchte nur aus der Begründung zitieren:
Wenn man anders verfahre, würde man die Verhältnisse in der DDR mit einem strengeren Maßstab messen als in den alten Ländern. Dort gilt nämlich der Grundsatz, daß Verfahrens- und Formfehler unerheblich sind, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte ergehen können, die angestrebte Entscheidung sachlich also möglich war.
Hier wird das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes und der Länder zitiert.
Man heilt auch hier. Es ist also durchaus nichts Fürchterliches, DDR-Formfehler zu heilen.
Herr Kollege Heuer, darf ich Sie einmal unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hirsch?
Ja, bitte schön.
Herr Professor Heuer, wollen Sie etwa allen Ernstes behaupten, daß in der Bundesrepublik selbst solche Verwaltungserlasse rechtliche Bedeutung erhalten, die dem Gesetz widersprechen? Wollen Sie das ernsthaft behaupten?
Ich habe nur das zitiert, was in der Begründung vom Bundesjustizministerium gesagt worden ist, daß auch in den alten Ländern Verfahrens- und Formfehler geheilt werden, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte ergehen können.
Warum soll man dies nicht zitieren? So sehe ich das.
Ich möchte noch auf einen letzten Punkt eingehen. Wir haben einen Änderungsantrag eingebracht. Folgendes ist geschehen: Wir hatten ein Nutzerschutzgesetz. Dieses Nutzerschutzgesetz ist in gewisser Weise entkernt worden. Das heißt, viele Regelungen zugunsten der Nutzer sind herausgenommen worden, andere sind hineingebracht worden. Wir haben zwei Vorschriften, die zugunsten der Nutzer aufgenommen worden waren, wieder aufgenommen. Zum einen soll festgelegt werden, daß die nach der Nutzungsentgeltverordnung im Herbst mögliche Steigerung nicht durchgeführt wird; das stellen wir heute zur Abstimmung. Zum anderen geht es um eine Sache zur Gleichstellung von Nutzern beider Seiten hinsichtlich des Wertes des Gebäudes.
Zwischendurch achten Sie aber bitte einmal auf die Uhr.
Ja. Ich danke Ihnen für den Hinweis, Herr Präsident, und Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Dann hat jetzt der Kollege Dr. Dietrich Mahlo, CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Das sogenannte Wohnraummodernisierungssicherungsgesetz unternimmt, wie Sie wissen, den Versuch, in einem Teilbereich der offenen Vermögensfragen in den neuen Ländern die Rechtslage geringfügig zu ändern. Es behandelt unterschiedliche, zum Teil extrem komplizierte Sachverhalte, denen man mit Fünf-Minuten-Beiträgen nicht gerecht werden kann. Es ist daher auch nicht möglich, im einzelnen auf die sehr speziellen Einwendungen, die hier vorgegeben sind, nun einzugehen.
Herr Kollege Hacker, es ist eben doch in einem gewissen Umfange bezeichnend, daß Sie nun Anstoß daran nehmen, daß in einem Gesetz der Hinweis zu finden ist, gröbliche Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien sollen nicht geheilt werden. Das genau ist es, was Sie aus dem Gesetz herausstreichen wollen. Ich finde das problematisch.
Die Rechtsstellung der Alteigentümer, obgleich von vielen auch als korrekturbedürftig angesehen, wurde nicht nachgebessert. Andererseits werden die Versuche des Bundesratsentwurfes, fehlgeschlagene Enteignungsbemühungen der DDR und Grundstückskäufe nach dem Modrow-Gesetz unter schlechthin allen Umständen nachträglich zu heilen, abgewehrt, da eine Totalsanktionierung sieben Jahre nach Untergang der DDR weder angemessen noch verfassungskonform wäre.
Die begleitenden Kommentare zu den Beratungen - das ist hier schon gesagt worden - durch Medien und Betroffene waren nicht immer frei von Irreführungen. Den Beamten des BMJ verdanken wir außerordentliche Hilfe. Buchstäblich zu allen Tages- und Nachtzeiten waren sie für uns da, was ich hier dankbar anerkennen möchte.
Herr Kollege Dr. Mahlo, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hacker?
Etwas später, Herr Kollege.
Das geht nicht. Er fragt jetzt.
Jetzt nicht. Wenn Sie einen Fünf-Minuten-Beitrag unterbrechen, dann wird es nichts.
- Also, bitte schön. Ich ändere meine Meinung.
Lieber Herr Kollege Mahlo, Sie haben eben die Modrow-Verträge angesprochen und ausgeführt, daß es nicht darum gehen kann, alle Schludrigkeiten und vor allen Dingen alles Unrecht in der Weise zu korrigieren, daß wir heilen. Das war nie unser Ziel. Das ist auch nicht das Ziel unseres Antrages. Das Ziel unseres Antrages ist lediglich, daß wir eine Korrektur der Falschbezeichnung durchführen und daß wir an die Stelle des verkehrten Begriffes - -
Herr Kollege Hacker, Frage, bitte.
Jawohl. - Stimmen Sie nicht mit mir darin überein, daß man insofern dem Antrag der SPD beitreten muß?
Herr Kollege Hakker, ich halte die Auffassung - das sage ich auch zu Herrn Heuer -, es handele sich hier irgendwo um die Beseitigung von Falschbezeichnungen, für einen Mythos, den die Beamten des BMJ erfunden haben. Wie Falschbezeichnungen, die rechtlich unschädlich
Dr. Dietrich Mahlo
sind, zu behandeln sind, steht im Gesetz und wird vom höchsten deutschen Fachgericht im Zivilrecht selbstverständlich berücksichtigt. Es handelte sich hier zu gar keiner Zeit darum, daß hier Falsa-demonstratio-Fälle vorlagen, sondern es handelt sich darum, daß Leute, die nicht bevollmächtigt waren, Verträge abgeschlossen haben.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Heuer?
Bitte schön.
Herr Mahlo, Sie sagten eben, daß es darum geht, daß keine Vollmacht vorlag. Wenn keine Vollmacht vorlag - so steht es ausdrücklich im Gesetz -, dann ist es sowieso aus. Jetzt wird nur eben zusätzlich zur Vollmacht ein Beschluß des Rates oder eine spätere Heilung gefordert.
Frage, bitte.
Geben Sie mir nicht recht, daß eine Vollmacht schon vom Gesetz gefordert wird? Sie wird sowieso gefordert. Geben Sie mir darin recht?
Eine Vollmacht ist erforderlich.
Es geht um eine Reihe von ganz unterschiedlichen Fehlermöglichkeiten, die hier insgesamt nach den Kriterien bereinigt werden sollen, die ich gleich noch vortragen werde und die hier auch schon genannt worden sind. Es soll nämlich entscheidend sein, ob das legitimierte Entscheidungsorgan der verkaufenden Kommune diesen Verkauf gebilligt hat - sei es vorher oder hinterher - oder ob es ihn nicht gebilligt hat. Wenn er gebilligt worden ist, dann ist er Rechtens und bleibt bestehen.
Das ist die Lösung.
Ich war bei der Hilfe durch die Beamten des BMJ. Allerdings möchte ich sagen, daß manches Stück Philosophie der Ministerialbürokratie, das nicht in den Gesetzestext Eingang fand, in der Begründung untergebracht worden ist, so daß ich Anlaß habe, zukünftige Richter daran zu erinnern, sich an den Gesetzestext zu halten - nur an diesen - und ihn verfassungskonform auszulegen. Das gilt namentlich für die Begründung zu dem neuen § 22 Vermögenszuordnungsgesetz.
Die Auseinandersetzungen in den Verhandlungen und Beratungen gingen im wesentlichen um drei Punkte. Der erste Punkt betraf die Modrow-Verträge. In der Zeit der zusammenbrechenden DDR konnte man vorübergehend für ein Taschengeld Grundstücke erwerben; das habe ich bereits dargestellt.
- Sie hatten kein anderes Geld. Die Tatsache bleibt gleichwohl bestehen, daß Personen für einen Preis zwischen 10 und 15 000 Ost-Mark Grundstücke kaufen konnten, die wenige Monate später 300 000 bis 500 000 DM wert waren. Das ist eine Tatsache. Ich sehe das nicht nur kritisch. Nur, vor dem Hintergrund dieser Tatsache debattieren wir heute. Man sollte diese Wahrheit auch nicht unter den Tisch kehren.
Die zweite Frage, ob nämlich Volkseigentum zu DDR-Zeiten mit Wirksamkeit auch gegen den Alteigentümer entstanden sein kann, obwohl bei dem Vorgang noch nicht einmal DDR-Recht respektiert wurde, soll nach meiner Auffassung in diesem Gesetz so beantwortet werden, daß die DDR-typische Schlamperei, namentlich im formalen Bereich, unschädlich bleibt, daß aber gezielte Gemeinheiten und grobe Verstöße gegen Rechtlichkeit, Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit heute nicht nachträglich sanktioniert werden können. Das kann nicht geschehen, weil es gegen Art. 14 Abs. 3 Grundgesetz verstoßen würde. Wer die Auffassung vertritt, Art. 14 Grundgesetz könne hier außer Betracht bleiben, weil Art. 135 a Grundgesetz Art. 14 praktisch auf Null herunterfährt, der soll das vor dem deutschen Volk und vor diesem Gremium sagen, damit wir wissen, worüber wir abstimmen.
Mein letzter Punkt bezieht sich auf den doppelten Durchgriff. Der doppelte Durchgriff für Nazigeschädigte gilt mit gewissen Absicherungen für die Neueigentümer in bezug auf Aufwendungsersatz und Splitterbruchteilseigentum. Der doppelte Durchgriff, den es auch im alten Entschädigungsrecht gab, bleibt bestehen. Soweit es sich um jüdische Geschädigte handelt, ist diese Regelung unumstritten. Nach allem, was ihnen in Deutschland angetan wurde, wird niemand mit ihnen über die Rückgabe von Vermögenswerten rechten wollen, auch wenn es sich heute um Erben und Erbeserben handelt. Soweit es um nichtjüdische Geschädigte geht, bleibt der Widerspruch, daß der von den Nationalsozialisten Beraubte auch noch nach einem halben Jahrhundert entschädigt wird - das kann bis in das zweite und dritte Glied gehen -, während der zwischen 1945 und 1949 durch den Stalinismus Beraubte gänzlich leer ausgeht.
Das Durcheinander, das zwei ideologisierte und verbrecherische Diktaturen in Deutschland hinterlassen haben, versuchen wir durch vermittelnde Lösungen zu regeln. Es gibt dabei keinen Königsweg.
Das Wort hat
jetzt Herr Bundesminister Schmidt-Jortzig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Hauptbereiche des vorliegenden Entwurfs eines Wohnraummodernisierungssicherungsgesetzes sind folgende: zum einen die Frage der Wohnraummodernisierung auf Grundstücken, die von Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz betroffen sind, zum anderen die Behandlung von Fehlern beim Erwerb oder der Übertragung von Immobiliareigentum.
Ich will mich wegen der Kürze der Zeit auf diesen letzten Bereich konzentrieren und mich nur dazu äußern.
Zu seiner Regelungsmaterie gehören die unterschiedlichsten Sachverhalte, die den Erwerb zum oder in das Volkseigentum, aber auch Übertragungsakte aus dem Volkseigentum an Private betreffen.
Sie lassen sich alle auf dieselbe Ursache zurückführen, nämlich auf die fehlerhafte Handhabung der eigenen Rechtsvorschriften durch die Behörden der DDR selbst. So ist eine Vielzahl von Eigentumsverhältnissen entstanden, die nach unseren rechtsstaatlichen Standards zweifelhaft sind, um nicht eindeutig zu sagen: rechtswidrig gewesen wären, die aber unter den Bedingungen der DDR als bestandskräftig angesehen wurden.
In den vergangenen Jahren wurden diese Eigentumspositionen immer häufiger angefochten, mit der Folge einer flächendeckenden Verunsicherung der Bevölkerung, mit allen wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Die Unterschiedlichkeit in der Rechtsprechung zweier oberster deutscher Bundesgerichte kam hinzu. Es ist deswegen in meinen Augen unerläßlich, daß der Gesetzgeber hier handelt und Rechtssicherheit schafft.
Eine pauschale Heilung des DDR-Unrechts kann und wird es aber nicht geben. Die Koalition hat sich jetzt vielmehr auf Regelungen verständigt, die eine differenzierte Behandlung unterschiedlicher Sachverhalte ermöglicht. Insbesondere ist festgelegt, daß - ich zitiere - „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlechthin unvereinbare" Praktiken auf keinen Fall geduldet werden können.
Ich meine allerdings, meine Damen und Herren von der Opposition, lieber Herr Hacker, daß der Gesetzgeber diese Grenze des Bestandsschutzes deutlich ziehen muß. Ich hatte von Ihnen eigentlich erwartet, daß Sie diese rechtlich unverzichtbaren Einschränkungen des Bestandsschutzes nicht durch Ihre Änderungsanträge in Zweifel ziehen.
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich der Gruppe in der Koalition danken, die dieses Ergebnis in langwierigen und mühsamen Verhandlungen zustande gebracht hat. Wenn ich einen hervorhebe, dann ist das der Kollege Michael Luther. Diese Verhandlungen haben wirklich viel Kraft und Einsatz verlangt.
Meine Damen und Herren, zuletzt ist ein gravierender Einwand aufgetaucht, nämlich, die jetzt gefundene Bestandsschutzregelung sei verfassungswidrig. Das indessen trifft ersichtlich nicht zu; denn der strikten Anwendung der Eigentumsgarantie steht die Sonderkonstellation der deutschen Einigung gegenüber. Art. 135a Abs. 2 und Art. 143 Abs. 3 Grundgesetz machen das deutlich.
Deshalb war zwischen rechtsstaatlichem Eigentumsschutz und einem Grundprinzip der deutschen Vereinigung abzuwägen, nämlich der Hinnahme der DDR-Rechtswirklichkeit. Art. 19 des Einigungsvertrages dokumentiert dies. Darauf haben Sie zu Recht hingewiesen. Gerade am heutigen Tag hat auch das Bundesverwaltungsgericht das bestätigt.
Außerdem hat auch die in letzter Zeit schon häufiger angeführte Gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Regierungen vom 15. Juni 1990, die das vermögensrechtliche Fundament der deutschen Wiedervereinigung bildete und bildet, in ihrem Eckpunkt 3 b eindeutig den Schutz derjenigen festgeschrieben, die „Eigentum oder dingliche Nutzungsrechte in redlicher Weise erworben haben". Da ich auch an anderer Stelle immer für Ernstnahme und Ausschöpfung dieses im übrigen verfassungsfesten Postens eintrete, fordere ich auch hier seine Beachtung ein.
Insgesamt jedenfalls liegt jetzt ein Gesetzentwurf vor, der nach meiner Auffassung von allen Beteiligten getragen werden kann. Ich bitte Sie, ihm in der Koalitionsfassung zuzustimmen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, muß ich darauf hinweisen, daß eine Reihe von Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen. Ich will sehen, ob ich sie ordnen kann; denn mir sind noch bis zum letzten Augenblick welche gereicht worden. Es liegt eine Erklärung von Graf von Waldburg-Zeil 1) vor. Dieser Erklärung haben sich die Kollegen Hinsken und Deß 2) angeschlossen. Ferner gibt es eine Erklärung von Freiherr von Stetten, der sich der Kollege Hirsch 3) angeschlossen hat. Darüber hinaus liegen Erklärungen der Kollegen Lattmann 4), Uelhoff 5), Warnick 7) und Freiherr von Schorlemer 6) vor. Diese werden im Protokoll so vermerkt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Nutzerschutzgesetzes in der Ausschußfassung; das sind die Drucksachen 13/2022 und 13/7275 Buchstabe a. Dazu liegen vier Änderungsanträge vor.
1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4
4) Anlage 5
5) Anlage 6 6) Anlage 7 7) Anlage 8
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7288 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD, dem Bündnis 90/Die Grünen und der PDS bei einigen Enthaltungen aus der F.D.P. abgelehnt.
Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 13/7289. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS abgelehnt.
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/ 7290. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen und der Gruppe abgelehnt.
Wir kommen jetzt zum Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/7291. Die Fraktion der SPD verlangt zu einer Nummer getrennte Abstimmung. Wir stimmen deshalb jetzt zunächst über die Nr. 1 des Änderungsantrages der PDS auf Drucksache 13/7291 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Nr. 1 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Wir stimmen jetzt ab über Nr. 2 bis 4 des Änderungsantrages der PDS auf Drucksache 13/7291. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Nr. 2 bis 4 sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt. Damit ist der Änderungsantrag der PDS insgesamt abgelehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des größten Teils der Koalitionsfraktionen gegen eine Stimme aus der PDS und sechs Kollegen aus den Fraktionen von F.D.P. und CDU/CSU bei Stimmenthaltungen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und den restlichen Stimmen der PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen einige Stimmen aus den Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS und von Teilen der CDU/ CSU angenommen worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS zum verbesserten Schutz der Nutzerinnen und Nutzer von Grundstükken in den neuen Bundesländern. Das ist die Drucksache 13/2822. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/7275 Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden. Damit entfällt nach der Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verlängerung und Vereinheitlichung sachenrechtlicher Fristen. Das ist die Drucksache 13/5982. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/7275 Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 13/5982 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen bei im übrigen nicht ganz klarer Abstimmung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Vorrang für die Nutzer in Ostdeutschland. Das ist die Drucksache 13/7275 Buchstabe d. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/803 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
- Bei unterschiedlicher Beteiligung.
Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einem Moratorium zum Schutze der redlichen Nutzer und Nutzerinnen vor der zivilrechtlichen Durchsetzung von Rückübertragungsansprüchen im Beitrittsgebiet. Das ist die Drucksache 13/7275 Buchstabe e.
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/613 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
tungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei guter Beteiligung einstimmig angenommen.
(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie Zusatzpunkt 10 auf:
8.a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Maritta Böttcher, Rosel Neuhäuser, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Antje Hermenau und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 1996
- Drucksachen 13/4555, 13/5802, 13/5817, 13/ 5835, 13/6769 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr.-Ing. Rainer Jork Günter Rixe
Antje Hermenau
Dr. Karlheinz Guttmacher
Maritta Böttcher
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Rixe, Stephan Hilsberg, Franz Thönnes, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Investieren in eine lebenswerte Zukunft: Die Modernisierung des dualen Systems vorantreiben
- Drucksache 13/6743 -
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Rixe, Stephan Hilsberg, Franz Thönnes, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Grundsatzerklärung zur Entwicklung der Ausbildungsberufe
- Drucksache 13/7255 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Die Reden der Kollegen Hilsberg, Wülfing, Laermann, Jork, Seib, Rixe und Neuhäuser sind zu Protokoll gegeben worden. Ich stelle fest, daß keine weiteren Wortmeldungen vorliegen. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zum Berufsbildungsbericht 1996 auf Drucksache 13/6769 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 13/ 4555 zur Kenntnis zu nehmen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß das gesamte Haus bis auf ein anwesendes Mitglied beschlossen hat, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen.
Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zum Berufsbildungsbericht 1996 auf Drucksache 13/6769 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/5835 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! -Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Berufsbildungsbericht 1996 auf Drucksache 13/6769 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/5817 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung desselben Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS zum Berufsbildungsbericht 1996 auf Drucksache 13/6769 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/ 5802 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD zur Modernisierung des dualen Systems auf Drucksache 13/6743. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Druck-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
sache 13/7255 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Annelie Buntenbach und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Außenpolitische Betätigung des Bundesinnenministeriums
- Drucksachen 13/4188, 13/5457 -
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten sollte. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
Es sind die Reden der Kollegen Koschyk, Stadler, Buntenbach, Welt, Jelpke und des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Horst Waffenschmidt zu Protokoll gegeben worden.
Ich stelle fest, daß keine weiteren Wortmeldungen vorliegen. Ich schließe damit die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7262 federführend an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Ferner, Ingrid Becker-Inglau, Tilo Braune, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Telematik im Verkehr
- zu dem Antrag der Abgeordneten Albert Schmidt , Rainder Steenblock, Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Telematik für die Verkehrswende nutzen
- Drucksachen 13/4019, 13/4441, 13/6911 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Brunnhuber
Auch hierfür war nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich nehme an, daß diesbezüglich Einverständnis besteht.
Zu Protokoll gegeben worden sind die Reden der Abgeordneten Schmidt, Brunnhuber, Hiller, Nietsch, Friedrich und Frau Dr. Dagmar Enkelmann.
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Telematik im Verkehr, Drucksache 13/6911. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4019 abzulehnen. Wer für die Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der übrigen Mitglieder des Hauses angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Nutzung der Telematik für die Verkehrswende, Drucksache 13/6911. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4441 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei unterschiedlichem Stimmverhalten des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 11:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Vermögenszuordnung von Vermögenswerten an ostdeutsche kommunale Gebietskörperschaften nach dem Vermögenszuordnungsgesetz
- Drucksachen 13/5769, 13/7230 -
Auch hierfür ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
Zu Protokoll gegeben worden sind die Reden der Kollegen Hacker, Thiele, Gerald Häfner und Manfred Kolbe. Zu Wort gemeldet hat sich der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel. Ihm erteile ich hiermit das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie so oft, wenn es um spezifisch ostdeutsche Themen oder gar um Tagesordnungspunkte der PDS geht, ist es sehr spät abends. Das kann uns aber nicht daran hindern, auf ein die ostdeutschen Gemeinden sehr bedrückendes Vermögens- und Finanzproblem aufmerksam zu machen und Lösungswege einzufordern.
Die Kreditmarktschulden der ostdeutschen Kommunen belaufen sich schon jetzt kumulativ auf 45 Milliarden DM, womit die Pro-Kopf-Verschuldung im Osten das Niveau der Westgemeinden sogar noch überschreitet. Allein für laufende Zinszahlungen waren in ostdeutschen Rathäusern und Landratsämtern im Vorjahr 2 Milliarden DM erforderlich; in diesem Jahr sind es über 3 Milliarden DM. Gleichzeitig bie-
Dr. Uwe-Jens Rössel
tet der Bundesfinanzminister den Ostgemeinden als Ausgleich für die Einnahmeausfälle aus der nicht erhobenen Gewerbekapitalsteuer lediglich das Recht auf eine noch höhere Verschuldung an.
Mancherorts, wie in Sachsen oder in Brandenburg, regiert wegen Zahlungsunfähigkeit der Gemeinden an Stelle der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters beziehungsweise der Vertretung schon jetzt der Kommissar aus der Landeshauptstadt. Hier ist von kommunaler Selbstverwaltung keine Rede mehr; sie ist beerdigt.
Nicht genug, daß der Bundeshaushalt auf Kosten der Gemeinden saniert werden soll, auch bei der Zuordnung des den ostdeutschen Kommunen zustehenden Vermögens langt das Bundesfinanzministerium mitunter schon einmal kräftig hin, was wir ganz entschieden verurteilen.
Diese Ignoranz der Bundesregierung gegenüber den berechtigten Anliegen der ostdeutschen Gemeinden zeigt sich ganz besonders deutlich in der nun endlich vorliegenden Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Vermögensübertragung an ostdeutsche kommunale Gebietskörperschaften. Ich frage mich wirklich, was die Bundesregierung eigentlich in den fünf Monaten seit der Einbringung dieser Anfrage getan hat. Immer dann, wenn wir in dieser Anfrage nach konkreten Zahlen bezüglich der zu übertragenden Vermögenswerte, also einer grundsätzlichen Angelegenheit, fragen, verweist die Bundesregierung lakonisch darauf, daß eine nachträgliche Erhebung dieser Zahlen nur mit einem unvertretbar hohen Aufwand möglich gewesen wäre. Das ist die Antwort an vielen Stellen.
Auf welcher Grundlage wurde eigentlich die DM-Eröffnungsbilanz der Treuhandanstalt erarbeitet, wenn offensichtlich überhaupt keine oder nur eine geringe Vorstellung darüber existierte, welche Vermögenswerte aus dem ehemaligen Volkseigentum nicht privatisiert werden durften, da darauf andere Ansprüche lagen? Wie wurde eine solche Eröffnungsbilanz erstellt, wenn bei dieser Frage überhaupt keine Klarheit bestand? Allein das zeigt die unseriöse Praxis der Arbeit der Treuhandanstalt.
Ich frage die Bundesregierung weiterhin, wie es möglich ist, daß offensichtlich bis zum heutigen Tag kein Überblick darüber besteht, welche Vermögenswerte durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolgerin, die Bundesanstalt für vereinigungsbedingtes Sondervermögen, verscherbelt wurden, obwohl zumindest eine Kommune darauf Anspruch gehabt hätte. Was nützt eine sogenannte Erlösauskehrregelung - so heißt dieses Rechtskonstrukt -, wenn der Erwerber - ich nenne nur einen früheren Ministerpräsidenten aus Norddeutschland - für den Erwerb nur 1 DM bezahlt hat?
- Jawohl, Frau Kollegin Enkelmann, das ist unerhört.
Das soll schließlich kein Einzelfall gewesen sein. Im Rechnungsprüfungsausschuß haben wir uns mit diesem Fall bereits mehrfach beschäftigen müssen.
Es ist vollkommen unverständlich, wenn aus den Antworten auf unsere Fragen hervorgeht, daß auch sieben Jahre nach Inkrafttreten des Einigungsvertrages die ostdeutschen Kommunen noch immer auf die Zuordnung von zirka 40 Prozent ihrer Eigentumswerte warten müssen. Das ist unvertretbar.
Bis zum heutigen Tag sieht sich die Bundesregierung weitestgehend außerstande, dem Hohen Hause mitzuteilen, wie viele Vermögenswerte in Ostdeutschland überhaupt veräußert wurden, obwohl Ansprüche daraus von kommunalen Gebietskörperschaften angemeldet waren.
Der eigentliche Skandal besteht aber darin, daß die kommunalen Gebietskörperschaften nicht einmal Ausgleichsansprüche haben sollen, wenn der Vermögensgegenstand der Kommune im Rahmen eines Unternehmensverkaufs veräußert wurde. Hier gab und gibt es ja viele Fälle. Hier werden ostdeutsche Kommunen auf kaltem Wege neu enteignet. Schon zu DDR-Zeiten waren sie ja bekanntlich enteignet worden, indem 1952 die kommunale Selbstverwaltung abgeschafft worden ist. Das war in der Tat kein glorreicher Akt.
- Wer das gemacht hat, ist auch klar. Das lag in der Verantwortung der DDR; das ist eindeutig, das wollen wir überhaupt nicht ignorieren.
- Es war nicht nur die SED, es waren natürlich auch die Organe des Staates. Es waren selbstverständlich noch andere beteiligt, Herr Heinrich, aber deren Bedeutung will ich jetzt nicht erwähnen. Sie wissen ja, die Bedeutung war gering.
Die Öffentlichkeit wird wohl nie erfahren, um welche Werte die Ostkommunen auf diese Weise jetzt geprellt worden sind. Mir liegt ein Schreiben der von mir sehr geschätzten Oberbürgermeisterin von Wismar vor, eine sehr gute Kommunalpolitikerin,
die Ansprüche auf ehemals kommunale Grundstücke geltend gemacht hatte. Im Rahmen der Privatisierung wurde seitens der Stadt gegenüber der Treuhandanstalt mehrfach auf diesen Fakt hingewiesen. Sie hat mir den Schriftverkehr zugeschickt. Trotzdem veräußerte die Treuhandanstalt diese Grundstücke im Rahmen eines Unternehmensverkaufs. Und die Stadt Wismar, die auch Kredite am Kapitalmarkt aufnehmen mußte, soll nicht einmal einen Pfennig Ausgleich erhalten.
Dr. Uwe-Jens Rössel
- Das ist eine unerhörte Situation. Herr Abgeordneter Hacker; hier stimmen wir völlig überein.
Nicht nur in dieser Frage; ich hätte gerne Ihre Rede gehört.
Eine Reihe von Anträgen auf Übertragung von Vermögenswerten wurden von der BvS - so der Konstrukt hier - ohne Bescheid erledigt. Das ist ein sehr ominöser Begriff. Die Aufzählung der Bundesregierung über die Gründe dafür läßt viele Deutungen offen. Wie viele Kuhhändel - man kann es auch Erpressungsversuche nennen - mögen sich wohl dahinter verbergen, daß eine Reihe von Anträgen der Kommunen - es sind mehrere tausend - ohne Bescheid erledigt worden ist? Die Kommunen wurden im Regen stehengelassen, ihre Schulden nehmen zu.
Die restriktiven Regelungen des Vermögenszuordnungsgesetzes führen auch dazu, daß den Kommunen kein Anspruch auf Finanzvermögen zugebilligt werden soll, welches bereits vor 1949 - da gab es noch die kommunale Selbstverwaltung in Ostdeutschland - im Eigentum der Kommunen stand.
Ich habe dazu parteiübergreifend viele Beispiele erhalten. Ich verlange - das ist die Forderung der PDS -, daß jetzt endlich die dramatische Situation in der Vermögensübertragung beendet wird und eine
Situation geschaffen wird, daß die kalte Enteignung der Gemeinden in Ostdeutschland - ich betone ausdrücklich: die zweite; Herr Heinrich, wir wollen die ganze Sache seriös behandeln - beendet wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Eine Beschlußfassung zu diesem Tagesordnungspunkt ist nicht vorgesehen. Ich schließe daher diesen Punkt ab.
Ich will zur Klarstellung für das Protokoll noch einmal folgendes sagen, weil das eben etwas schnell gegangen ist: Wir haben vorhin bei den Abstimmungen über den Antrag der Fraktion der SPD zur Modernisierung des dualen Systems auf Drucksache 13/6743 mitbeschlossen, diesen Antrag an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ich will das nur für das Protokoll klarstellen. Ich nehme an, daß das Haus dem zustimmt.
Damit, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich rufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 21. März 1997, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.