Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.Ich komme zunächst zu den amtlichen Mitteilungen.Die Amtszeit der Mitglieder im Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank läuft aus. Daher müssen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 des Ausgleichsbankgesetzes wieder fünf Mitglieder vom Deutschen Bundestag in den Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank entsandt werden. Die Fraktion der CDU/CSU, die das Vorschlagsrecht für drei Mitglieder hat, verzichtet zugunsten der F.D.P. auf die Benennung eines Mitglieds. Für den Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank werden demnach benannt: von der Fraktion der CDU/CSU die Abgeordneten Dietrich Austermann und Ernst Hinsken; von der Fraktion der SPD die Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk und Hans Martin Bury; von der Fraktion der F.D.P. der Abgeordnete Uwe Lühr. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die genannten Kollegen als Mitglieder im Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank bestimmt.Aus dem Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt scheidet die Kollegin Margitta Terborg als stellvertretendes Mitglied aus. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der SPD den Abgeordneten Günter Graf vor. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege in den Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:2. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den anstehenden Castor-Transporten3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Köhne, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Ausstieg aus der Atomenergie - Drucksache 13/7062 -4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Adler, Doris Barnett, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD: Umsetzung der Aktionsplattform von Peking - Frauenpolitik der Vereinten Nationen stärken - Drucksache 13/7070 -5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Steinbach, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Erwin Marschewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Thomas Krüger, Gunter Weißgerber, Uta Titze-Stecher, Wolfgang Thierse und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Max Stadler, Cornelia Schmalz-Jacobsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Gemeinschaftliche Finanzierung eines Neubaus des Museums der Bildenden Künste in Leipzig - Drucksache 13/7059 -b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heide Mattischeck, Elke Ferner, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schienenwegeausbau zwischen Bayern, Thüringen und Sachsen - Drucksache 13/7081 -6. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu den Schlußfolgerungen der XV. COSAC (Konferenz der Sonderorgane für EU- Angelegenheiten) am 16. Oktober 1996 in Dublin und zu dem Beratungsdokument der Regierungskonferenz zur Revision des Maastrichter Vertrages - Aufzeichnung des irischen Vorsitzes vom 19. November 1996 - Drucksachen 13/6357 Nr. 3.1 und 3.2, 13/6891 -7. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen über die Zukunft der solidarischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme8. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Leistungsausschluß bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit - Drucksache 13/7061 -9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Ludwig Elm und der Gruppe der PDS: Neunzehntes Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes - Drucksache 13/7058 -10. Beratung des Antrags des Abgeordneten Matthias Berninger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BAföG-Strukturreform in Gang setzen - Drucksache 13/ 7071 -H. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über Arbeitsstrukturen und Arbeitsprogramm der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform der Ausbildungsförderung - Drucksache 13/7080 -
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14322 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Februar 1997
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.Weiterhin ist vereinbart worden, daß nach der heute um 9 Uhr beginnenden Regierungserklärung zu den anstehenden Castor-Transporten die Vorlagen unter Tagesordnungspunkt 4 vorgezogen werden.Außerdem sollen Tagesordnungspunkt 11 c - Beschlußempfehlung und Bericht zum Antrag „Konvention zur Ächtung und Abschaffung aller Atomwaffen" - und die für Freitag vorgesehene zweite und dritte Beratung zum Nutzerschutzgesetz - Tagesordnungspunkt 13 - abgesetzt werden.Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 g sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:ZP2 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den anstehenden Castor-Transporten4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Schönberger, Gila Altmann , Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRücknahme der Weisung gegen das Land Niedersachsen im KONRAD-Verfahren- Drucksache 13/4362 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschußb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungUmweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1995- Drucksache 13/5572 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für GesundheitAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und Technikfolgenabschätzungc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhard Weis , Dr. Uwe Küster, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), Kristin Heyne, Dr. Manuel Kiper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRücknahme der Weisung für die Einlagerung mittelradioaktiver Abfälle im Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut Wilhelm , Michaele Hustedt, Dr. Manuel Kiper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinstellung des Betriebs im Endlager Morsleben
- Drucksachen 13/2365, 13/1378, 13/4320 -Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Harald KahlWolfgang Behrendt Michaele Hustedt Birgit Homburgerd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Schönberger, Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSofortige Stillegung der Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland- Drucksachen 13/4405, 13/5949 -Berichterstattung: Abgeordnete Kurt-Dieter GrillWolfgang Behrendt Ursula Schönberger Birgit Homburgere) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Köhne, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDSVerbleib von 2 400 Tonnen wiederaufgearbeiteten Urans deutscher Energieversorgungsunternehmen- Drucksache 13/1958 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger AusschußAusschuß für Wirtschaftf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Schönberger, Elisabeth Altmann , Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBeendigung der Castor-Transporte- Drucksache 13/6997 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Verkehrg) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Schönberger, Gila Altmann , Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPräsidentin Dr. Rita SüssmuthAusstieg aus der Atomenergie und Lösungsansätze für das Atommüllproblem statt Absicherung des Weiterbetriebs- Drucksache 13/7008 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Köhne, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDSAusstieg aus der Atomenergie - Drucksache 13/7062 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschußZur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung zur Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1995 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Debatte über die Entschließungsanträge namentlich abstimmen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Innern, Manfred Kanther.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen! Meine Herren! Die Demokratie lebt vom offenen Austrag politischer Gegensätze, deutlich, manchmal hart; das kann auch polemisch sein. Deshalb kann in diesem freien Land jeder, der es will, die Verwendung von Kernenergie ablehnen, dagegen reden, schreiben, senden, demonstrieren. Jedermann kann sich mit Gleichdenkenden zusammenschließen, Parteitage veranstalten, Wahlkämpfe führen, Bürgerinitiativen gründen, Mehrheiten suchen, finden - oder verpassen. All dies ist selbstverständlich. Daran braucht nicht herumdisputiert zu werden. Denn um all dies geht es nicht, wenn wir heute das Thema Castor-Transporte erneut diskutieren müssen.
Es geht vielmehr darum, daß die Demokratie nicht nur von diesem Ausleben der eigenen Meinung, sondern mindestens gleichwertig von der Beachtung ihrer Rechtsordnung lebt.
Der Rechtsbruch, gar der organisierte, vor allem der politisch verbrämte, fordert die Demokratie und den Staat, der sie schützt, zentral heraus. Diese Rechtsordnung umfaßt alle ihre Elemente: die Einhaltung
internationaler Verträge, die Achtung des geltenden Energierechts und die Einhaltung der Straf- und Sicherheitsgesetze gleichermaßen. Niemand ist berechtigt, sich den Teil der Rechtsordnung herauszupicken, der ihm paßt, und den Rest zu mißachten.
Die Spitze der Herausforderungen für den demokratischen Staat ist erreicht, wenn der in Gesetzen ausgedrückten Rechtsordnung mit Gewalt entgegengetreten wird.
Dies fordert die Demokratie frontal heraus. Beugt sie sich schwächlich, wenden sich die Menschen von ihr ab. Reagiert sie entschieden, kann es die Situation des harten Austrags geben. Wenn der demokratische Staat, dem Verfassung, Gesetze und Mehrheitswille das Gewaltmonopol in die Hand gegeben haben, gegen ihn gerichtete Gewalttätigkeiten hinnimmt, verliert er einen entscheidenden Teil seiner Legitimation.
Wer das nicht will, der darf nicht nur nicht selbst gewalttätig sein, sondern muß sich auch der Begünstigung von Gewalttätigkeit, ihrer Bemäntelung, der Halbherzigkeit bei ihrer Bekämpfung und der Verwirrung der Volksmeinung durch politische Widersprüchlichkeit enthalten.
Nur wenige wagen es - glücklicherweise -, selbst Gewalt anzuwenden,
indem sie Schienen zersägen, Bahndämme unterminieren, Krampen auf Oberleitungen werfen, auf Hubschrauber schießen oder Polizisten verletzen. Wer dies dennoch tut, wird Polizei und Justiz zu spüren bekommen, auch wenn der Aufwand groß ist. Diese Herausforderung kann und muß die Gesellschaft bestehen.
Es ist allerdings unerträglich, den Rechtsbruch zu dosieren, zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen mit selbstgestrickter Moral zu unterscheiden. Das gilt auch für den Fraktionssprecher der Grünen, falls er sich, wie angekündigt, entschiede, „in Frankfurt Bahnschienen zu blockieren" .
- Herr Fischer, Maßstab für die Antwort des Staates ist der Rechtsbruch, nicht die private selbstgestrickte Pseudomoral.
Bundesminister Manfred Kanther
Wer knallharte Gewalt und Kriminalität nicht will, darf sie nicht nur dünn verbal ablehnen, sondern darf den Gewalttätern auch nicht den kleinsten Finger reichen. Ebensowenig dürfen Bürger, Gruppen, Politiker oder Parteien zu Bedienern von Kulissen werden, aus denen die nackte Gewalt hervorbricht.
Wer im Zusammenhang mit den schlimmen Erfahrungen früherer Castor-Transporte zu gewaltlosem Widerstand aufruft, der weiß, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit der Gewalttätigkeit Schützenhilfe leistet.
Ein anderes nicht erfreuliches Beispiel: Wer als SPD-Fraktionsvorsitzender im Landtag in Hannover den Castor-Transport eine „unsinnige und unnötige Provokation" nennt
und sich gleichzeitig hinter den für den Polizeieinsatz verantwortlichen Innenminister stellt, muß zynisch wirken.
Die endlose Kette solcher Widersprüchlichkeiten ließe sich beliebig fortsetzen. Die Gehässigkeit einer langjährigen Antikernkraftpolemik
ist nicht dadurch wiedergutzumachen, daß schließlich ein unbezweifelbar rechtsstaatlich gesonnener Innenminister in Niedersachsen seine Pflicht tun wird.
Der Ton macht die Musik - auch in der Kernkraftdebatte.
Wie soll sich ein Bürger, ein Betroffener vor Ort oder ein 20jähriger Bereitschaftspolizist in der jahrelangen Verwirrung der Desinformationslandschaft noch zurechtfinden?
Erst war das Entsorgungskonzept der Wiederaufbereitung des Teufels und die Endlagerung von abgebrannten Kernbrennelementen die Lösung. Jetzt sind
End- und Zwischenlager die Katastrophe, und es sollen die Rückstände in den Kernkraftwerken verbleiben, was noch vor Jahren als übelste Massierung von Gefahren ausgegeben worden wäre.
Schließlich ist der Transport von Castor-Behältern in ein Zwischenlager Gegenstand selbst ministerieller Polemik, wenn die niedersächsische Umweltministerin, während sie gleichzeitig die süddeutschen Länder zur Errichtung einer eigenen Lagerstätte auffordert,
verbal immer wieder an die Seite von Demonstranten tritt, die ganz in der Nähe von Gewalttätigkeit operieren.
Man überlege sich die Konsequenz dessen, die süddeutschen Länder zur Errichtung einer eigenen Unterbringungsmöglichkeit für abgebrannte Kernbrennelemente aufzufordern. Als ob die Kernkraftgegner in Gorleben weniger militant wären, wenn es um die Verbringung norddeutscher Abfälle ginge!
Dabei versteht sich, daß kein Kernkraftgegner je ein Wort darüber verliert, daß es die Verbringung von abgebrannten Kernbrennelementen ja auch geben müßte, wenn heute alle Kernkraftwerke abgeschaltet würden; denn der sogenannte Atommüll ist nun einmal da.
Das sind alles Widersprüchlichkeiten. Die Verbringung von abgebrannten Kernbrennelementen müßte einschließlich Transport stattfinden. Daran kann doch überhaupt kein Zweifel bestehen, nicht einmal für Grüne.
Eine solche Widersprüchlichkeit in der politischen Debatte um einen Gegenstand, bei dem man zugegebenermaßen unterschiedliche Positionen beziehen kann,
führt dann in der Wirklichkeit einer Region, zum Beispiel im Landkreis Lüchow-Dannenberg, dazu, daß trotz der gemachten Gewalterfahrungen Kommunalparlamente der Polizei jene Turnhallen zur Unterbringung verweigern, die sie den Demonstranten anbieten,
daß die Feuerwehr mit der Verweigerung von Wasser
für die Polizeieinsatzkräfte droht und daß Kinder als
Bundesminister Manfred Kanther
Blockierer von rechtmäßig seitens der Bezirksregierung beschlagnahmten Räumen instrumentalisiert werden.
Wem das in diesem Land keine Sorge bereitet, den kann ich nicht begreifen.
Hier droht Wiederholung. Deshalb ist der Staat aufgefordert, ersten Versuchen dieser Art entschlossen entgegenzutreten.
Es geht ja niemandem um diese eine Einrichtung in Gorleben unter speziellen Sicherheitsaspekten. Es geht wieder um einen der vielen Schauplätze des grundsätzlichen Kampfes gegen die Kernenergie. Was heute Gorleben ist, waren zuvor Brokdorf oder Wackersdorf und viele andere Plätze. Wir wollen und dulden nicht, daß sich diese Liste der Gewalttätigkeit fortsetzt.
An der Notwendigkeit der Kernenergienutzung kann in Deutschland auf absehbare Zeit kein Zweifel bestehen.
Ihre Gegner haben kein eigenes Konzept zur sicheren Energieversorgung unseres Landes. Wir ringen um den wirtschaftlichen Aufschwung
und können keine energiepolitische Unsicherheit zusätzlich zu vielen Schwierigkeiten vertragen.
Arbeitsplätze entstehen nicht durch grüne Kernenergie- oder Technikfeindlichkeit, sondern durch Nutzung modernster technologischer Möglichkeiten.
Die friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland hat deshalb sehr viel mit dem wichtigsten Politikpunkt unserer Tage zu tun: der Festigung und Neugewinnung von Arbeitsplätzen.
Diese Einsicht ist wichtig auch unter dem hier vordringlichen Gesichtspunkt des Verzichts auf jegliche Gewalt in Gorleben. Denn dort wird von den Sicherheitskräften nicht irgendeine politische Marotte, sondern ein entscheidender Aspekt einer unverzichtbaren Energiepolitik verteidigt. Die Polizei sichert dort ein wichtiges Anliegen für alle Bürger, die es mit dem Standort Deutschland gut meinen,
nicht aus Liebe zur Kernenergie, sondern weil sie in unserer Zeit unentbehrlich ist.
Hier schließt sich der Kreis. Diese Ansicht muß man nicht teilen; dagegen kann man friedlich antreten. Aber es muß klar sein, daß die Bundesregierung mit dieser Politik nicht durch Gewalt in die Knie gezwungen werden kann. Es muß jedem klar sein: Wer Gewalt dennoch verübt, duldet oder befördert, der wird auf eine entschlossene Antwort der Staatsgewalt treffen.
Der dennoch herausgeforderte Rechtsstaat wird abgewogen, aber nicht unentschieden reagieren. Er wird die Staatsmacht gegen Gewalttäter situationsgerecht, aber nicht weggeduckt einsetzen.
Nach den vorangegangenen Erfahrungen mit den Castor-Transporten fordere ich Solidarität mit dem durch Gewalttäter herausgeforderten Rechtsstaat.
Das ist in mehreren Punkten zu fassen:
Erstens. Die glasklare Trennung zwischen freier Meinungsäußerung und Gewaltanwendung verträgt keine Grauzone, in der parteipolitische Süppchen gekocht werden.
Zweitens. Keine politische Gruppe darf durch die Bemäntelung von Rechtsbrüchen Gewalttätern eine Pseudolegitimation verschaffen.
Drittens. Auf jede anhebende Gewalttätigkeit müssen einzelne Bürger und Gruppen durch sofortiges Verlassen der Szene reagieren. Geistige und körperliche Distanz zur Gewalt in Gorleben ist notwendig.
Viertens. Jede Kenntnis von beabsichtigter Gewalttätigkeit muß der Polizei angezeigt werden. Schweigen kann Mitschuld an schweren Schäden für Menschen oder Eigentum bedeuten.
Fünftens. Die eingesetzten Polizeikräfte verdienen den Dank und die Solidarität der Bürger und aller politisch Verantwortlichen für die Erfüllung ihrer schwierigen Aufgabe.
Bundesminister Manfred Kanther
Ich hoffe sehr, daß uns in den nächsten Tagen im Zusammenhang mit dem Castor-Transport Gewalttätigkeiten erspart bleiben.
Die Bundesregierung wünscht keine Kraftprobe zwischen Gewalttätern und dem Staat. Sie kann und darf ihr aber nicht ausweichen, wenn es dennoch darauf angelegt wird.
Danke sehr.
Das Wort hat der niedersächsische Innenminister, Gerhard Glogowski.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Kanther, ich denke, daß Sie mit dieser Rede doch ein wenig zu kurz gegriffen haben. Sie haben ausschließlich auf diejenigen abgestellt, die in unserem Staat Gewalt anwenden und denen wir mit staatlicher Macht antworten müssen. Sie haben aber kein Wort zu den vielen tausend jungen Menschen gesagt, die dort demonstrieren, ohne Gewalt anzuwenden, weil sie eine andere Energiepolitik wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Castor ist zum Symbol für den Widerstand gegen die ungelösten Probleme der Energiepolitik der Bundesrepublik Deutschland geworden.
Hierfür ist nicht der Castor verantwortlich. Hierfür ist, wie auch bei Wackersdorf, die verfehlte Atompolitik dieser Bundesregierung verantwortlich. Das möchte ich deutlich sagen.
Wir müssen heute feststellen, daß es eine breite Volksbewegung innerhalb und außerhalb Niedersachsens und der Region Lüchow-Dannenberg gibt. Der Widerstand im Wendland hat eine 20jährige Tradition.
Sie hat unter der CDU-Regierung Albrecht begonnen, als die Standortentscheidung getroffen worden ist. Albrecht hat diese Reaktionen initiiert. Er hat damals, als es nicht weiterging, gesagt: Die Entscheidung war richtig; sie ist aber politisch nicht durchsetzbar. Damit hat er die damaligen Konflikte beendet. Er hat den Impetus der Vernunft in die Diskussion eingebracht, den diese Bundesregierung leugnet.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grill?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mix steht nur eine kurz bemessene Zeit zur Verfügung. Ich bitte, sie nutzen zu dürfen.
Das würde nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Seit 20 Jahren steht die Polizei immer wieder im Zentrum des Konflikts. Das Bohrloch 1004, die gewaltigen Auseinandersetzungen Anfang der 80er Jahre und letztlich die Castor-Transporte stehen für Ereignisse, bei denen sich die Polizei ohne jede Chance zur Konfliktminimierung durchsetzen mußte und auch durchgesetzt hat. Als Innenminister sage ich aber ganz deutlich: Auf dem Rücken und mit der Polizei können und dürfen keine gesellschaftlichen Probleme in unserem Staat gelöst werden.
Die Frage, ob der Castor-Transport mit abgebrannten Brennelementen notwendig ist, beantworte ich nach meiner Kenntnis mit Nein; denn an den Kernenergieanlagen selber kann zwischengelagert werden, oder es könnte ein Zwischenlager geschaffen werden. Anders sieht es mit der Rücknahme der Glaskokillen aus La Hague aus. Hier haben wir internationale Verpflichtungen.
Alle atomrechtlichen Regelungen, die den Anschein erwecken, die Transporte seien zwingend erforderlich, sind Menschenwerk und bei vernünftigem politischen Willen veränderbar. Das muß man immer sehen.
Ich bin der Auffassung, daß die Transporte jetzt nicht erforderlich sind, nicht nur, weil sie mindestens so lange unsinnig sind, wie nicht feststeht, wo der atomare Abfall einmal endgelagert wird. Ein Zwischenlager an dem symbolträchtigsten Ort der AntiAKW-Bewegung ist politisch unvernünftig. Das wird in der nächsten Zeit immer deutlicher werden, meine Damen und Herren.
Minister Gerhard Glogowski
Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere ist: Wenn der Transport erst einmal in Bewegung gerät, muß und wird er zum Zwischenlager erfolgen. Das ist die Rechtslage. Das ist nicht erst jetzt so. Wir haben schon zu Zeiten der rot-grünen Koalition ein Gutachten anfertigen lassen, das beinhaltet, daß der niedersächsische Innenminister die Transporte begleiten lassen muß und dabei keinen Ermessensspielraum hat. Auch Herr Trittin und Frau Schoppe - das sage ich den Grünen ganz deutlich - haben dem zugestimmt. Ich verstehe es nicht, wenn heute andere Eindrücke erweckt werden. Das ist eine Flucht aus der damaligen Verantwortung.
In einem Rechtsstaat muß sich jeder darauf verlassen können, daß sein Recht durchgesetzt wird, daß er, wenn er recht hat, auch Recht bekommt. Diesen Anspruch haben auch die Betreiber von Kernenergieanlagen.
Das gilt auch dann, wenn die Durchsetzung dieses Rechtes politisch unvernünftig ist. Die Polizei erfüllt ihre rechtliche Pflicht. Ich trage dafür die Verantwortung und werde das auch weiterhin durchhalten. Die Durchsetzung des Rechts darf nicht der politischen Beliebigkeit anheimgestellt werden.
Wir alle müssen uns aber die Frage stellen, um welchen Preis dieses Recht mittlerweile durchgesetzt wird, welche Kosten für die Gesellschaft dadurch verursacht werden.
Der Grundsatz „Koste es, was es wolle, der Rechtsstaat wird sich durchsetzen" ist falsch.
Auch das Argument der ökonomischen Kostenminderung ist falsch.
Im Wendland stehen Schüler und Jugendliche aus allen Bereichen, alte Menschen, friedliche Demonstranten, Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, die gegen Kernenergie sind, der Polizei gegenüber. Das muß nicht sein, man kann das ändern.
Nach dem letzten Castor-Transport habe ich mit vielen jungen Menschen diskutiert, die im Gegensatz zu denen, die wir schon verloren haben, unserem Staat zugewandt sind. Aber auch denen ist nur schwer erklärbar gewesen, warum ein solcher Transport mit einem so großen Polizeiaufgebot durchgesetzt werden müsse. Wir müssen die Diskussion in
unserem Lande mit mehr Sensibilität führen, sonst verlieren wir die junge Generation. Das darf nicht sein.
Der Widerstand in der Region verfestigt sich. In den Gemeinden und im Kreistag wurde mit großer Mehrheit parteiübergreifend beschlossen, daß Turnhallen wohl den Demonstranten, nicht jedoch der Polizei zur Verfügung gestellt werden. Ein solcher Beschluß ist nicht in Ordnung, um das ganz deutlich zu sagen. Solche Beschlüsse sind unvernünftig.
Das zuständige Verwaltungsgericht hat entschieden, daß die Polizei die an der Transportstrecke befindlichen und von ihr benötigten Einrichtungen während des Einsatzes nutzen kann. Ich zitiere aus dem Beschluß des Verwaltungsgerichtes Lüneburg:
Das bedeutet, daß, soweit das Land verpflichtet ist, die Sicherheit des Castor-Transportes zu gewährleisten, diese Pflicht für den Antragsteller - also den Landkreis Lüchow-Dannenberg - ebenfalls gilt. Demzufolge hat er aus diesem Grund schon die Bezirksregierung bei der Organisation des Polizeieinsatzes nach Kräften zu unterstützen.
Selbst wenn dieses Verhalten auch nach Auffassung des Gerichtes rechtswidrig ist, macht es aber das Ausmaß des Widerstandes vor Ort deutlich.
Bei der Entscheidung, die wir mit der Bezirksregierung getroffen haben, ein Demonstrationsverbot durchzusetzen, haben auch Teile der CDU in Lüchow-Dannenberg dafür gestimmt, daß diese Entscheidung zurückgenommen und dem Landrat anheimgestellt wird, obwohl dieser erklärt, daß er das Demonstrationsverbot nicht verfügen wird. Das heißt, der Widerstand geht weit über den Bereich hinaus, auf den Sie, meine Damen und Herren, sich in der Öffentlichkeit immer wieder beziehen.
Auch den Grünen möchte ich sagen, daß sie, als sie noch in der Landesregierung in Niedersachsen waren, ebenfalls deutlich gemacht haben, daß die Transportbehälter auch mit polizeilichem Einsatz in die Zwischenlager gebracht werden müssen. Nun versuchen ihre Leute, das Medienereignis Castor für sich zu nutzen, indem sie ankündigen, sich in den Weg setzen zu wollen. Dies ist, das sage ich deutlich, kein Beitrag zur Deeskalation. Es ist ein Herausschleichen aus der damaligen Verantwortung. Es ist nichts anderes, als dieses Medienereignis für die eigenen politischen Ziele zu nutzen.
Glaubwürdigkeit erreichen Sie damit nicht. Ich weiß nicht, wie Herr Trittin denkt, wenn er sich daran
Minister Gerhard Glogowski
erinnert, daß er den Beschluß in der Landesregierung mit gefaßt hat. Aber ich weiß, daß er sich scheinheilig verhält.
Ich habe immer wieder gehört, der Widerstand werde abklingen. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist der Fall. Hunderte von Transporten gehen durch die Bundesrepublik Deutschland, das ist richtig - auch nach Ahaus; wo nordrhein-westfälische Abfälle gelagert werden. Aber zu keinem Transport fahren Funk und Fernsehen und die schreibende Zunft so gerne wie nach Gorleben. Gorleben hat für alle Beteiligten, auch für die AKW-Gegner, zwischenzeitlich eine symbolhafte Bedeutung bekommen. Ich sage es Ihnen deutlich: Wer an einem Ort einer solchen symbolhaften Bedeutung ein Zwischenlager füllen will, verhält sich politisch unverantwortlich.
Der Widerstand gegen Gorleben ist der Widerstand gegen das Symbol Gorleben. Von daher wird, solange dort zwischengelagert wird, eine Auseinandersetzung stattfinden, die auf dem Rücken der Polizei ausgetragen wird. Es geht dabei um politische Verhältnisse.
Für mich als den in Niedersachen dafür verantwortlichen Minister ist vor allem besorgniserregend, daß die breite und friedliche Widerstandsbewegung von Straftätern mit hoher krimineller Energie mißbraucht und diskreditiert wird. Die vielen Anschläge gegen Bahnanlagen, bei denen auch der Tod von Menschen in Kauf genommen wird, belegen das. Bundesweit 13 Hakenkrallenanschläge mit Schäden in Millionenhöhe allein 1997 sprechen für sich.
Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden haben sich zahlreiche autonome Gliederungen auch außerhalb Niedersachsens dieses Themas angenommen, um es mit krimineller Energie als Vehikel für ihren Kampf gegen Staat und Gesellschaft insgesamt zu benutzen. Alle - egal, wo sie im demokratischen Spektrum stehen - müssen sich davon distanzieren. Sie müssen dieser Gewalt den Boden entziehen, weil sie sich sonst auch an ihren eigenen Idealen versündigen.
Der Staat kann und wird Gewalt nicht hinnehmen - ob sie gegen Personen oder Sachen gerichtet ist. Das Gewaltmonopol ist ausschließlich bei der Polizei angesiedelt. Da muß es bleiben, weil politische Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik Deutschland sonst fruchtbar nicht mehr möglich sind. Von daher muß dieses durchgesetzt werden.
Die verschärfte Sicherheitslage macht für den anstehenden Transport bundesweit den Einsatz von fast
30 000 Polizeibeamtinnen und -beamten einschließlich des Bundesgrenzschutzes erforderlich. Davon wird rund die Hälfte im Lande Niedersachsen eingesetzt, die anderen in den Ländern, die Transitländer für diesen Transport sind.
An dieser Stelle möchte ich meinen Kollegen noch einmal ausdrücklich für die personelle Unterstützung danken, ohne die dieser Einsatz nicht durchführbar wäre. Schon 1995 waren von den 19 000 Beamten 9 000 in Niedersachsen eingesetzt, plus Bundesgrenzschutz. Zu den 46 Millionen DM, die dieser Einsatz gekostet hat, kamen die in Baden-Württemberg und Hessen anfallenden Kosten und die des BGS hinzu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, innerhalb des Arbeitskreises II, also des Polizeiarbeitskreises der Innenministerkonferenz, ist beschlossen worden, daß es zu einer Bündelung kommen sollte, damit wir die Transportanzahl in der Bundesrepublik Deutschland verringern; denn dieser Einsatz ist nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftspolitisch unvernünftig.
Es kann nicht sein, daß wir einmal pro Monat ein solches Ereignis haben. Dies hält die Bundesrepublik Deutschland nicht aus. Nicht nur die Sicherheitskräfte, sondern auch unsere Gesellschaft hält das nicht aus. Es ist also allemal besser, einmal sechs als sechsmal einen Castor-Behälter zu transportieren. Ich sage aber ganz deutlich: Lieber keinen. Das ist das eigentliche politische Credo.
Bei den Castor-Transporten waren im Jahr 1995 15 000 Beamte im Einsatz. Der erste Transport dieser Art kostete 25 Millionen DM, der zweite 46 Millionen DM. Diese Zahlen, diese Kosten sind es nicht, die mich erschrecken, weil der Rechtsstaat sie aus den Gründen, die ich dargestellt habe, hinnehmen muß. Was die Transporte in diesem Jahr kosten, mag sich im übrigen jeder selbst ausrechnen. Wir werden sie später ermitteln. Auch dazu sind wir da.
Dies ist aber nur der personelle und der finanzielle Aufwand. Hinzu kommt der eben von mir erläuterte gesamtgesellschaftliche Schaden durch den immer größer werdenden Konflikt in der Region. Wer darauf spekuliert, daß dieser Konflikt in den nächsten Jahren minimiert wird, verhält sich falsch, glaubt an Falsches.
Für mich ergibt sich daraus zwingend: Erstens. Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland für diese nationale Aufgabe unverzüglich einen Konsens über den Umgang mit der Kernenergie, aus dem auch ein Konzept für Lagerung unabweisbarer Transporte abgeleitet werden muß.
Zweitens. Die Polizeien von Bund und Ländern können nicht weiterhin als Nothelfer der Politik eingesetzt werden. Sie müssen ihren primären Aufgaben, insbesondere der Kriminalitätsbekämpfung, aber auch der Konfliktminimierung vor Ort, genü-
Minister Gerhard Glogowski
gen. Sie dürfen diesen Aufgaben durch solche Großeinsätze nicht entzogen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der bevorstehende Transport muß unter den jetzt gegebenen politischen Rahmenbedingungen nach meiner festen Überzeugung der letzte gewesen sein. Ein kluger Rechtsstaat geht nicht mit dem Kopf durch jede Wand, die ihm hingestellt wird.
Ein kluger Rechtsstaat überlegt sich das, was er tut, und entscheidet nach der politischen Vernunft.
Nur ein dummer Staat geht durch jede Wand.
Es hat nach dem Bohrloch 1004 die Entscheidung Albrechts gegeben. Wackersdorf gibt es heute nicht mehr. Eines Tages wird es auch die Castor-Transporte nicht mehr geben. Das ist eine Frage der politischen Vernunft in der Bundesrepublik Deutschland und nicht des polizeilichen Einsatzes.
Das Wort in der Debatte nimmt jetzt der Kollege Professor Dr. Rupert Scholz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der anstehende Transport von nuklearen Brennstäben droht wieder zu massiven Ausschreitungen zu führen. Das ist das Entscheidende, was wir zunächst - und ich denke, gemeinsam in diesem Haus - zu verurteilen haben. Manche glauben ja, daß diese Demonstrationen und Gewalttätigkeiten die Republik im Kern erschüttern könnten. Davon kann nicht die Rede sein, aber Alarmsignale ersten Ranges sind es.
Das Szenario ist wahrhaft gespenstig: Jene Transporte gefährden niemanden. Weltweit hat es seit Beginn der friedlichen Nutzung der Kernenergie keine Transportunfälle mit bestrahlten Brennelementen gegeben, bei denen radioaktive Stoffe freigesetzt oder irgendein Mensch gefährdet worden wäre. Gleichwohl, unabhängig davon, jene gewaltsamen Ausschreitungen in Gorleben: Bahnlinien werden lahmgelegt, der Zugverkehr auf vielen Strecken behindert, „Sabotage überall" - wörtliches Zitat - wird angekündigt. Personenschäden hat es zum Glück bisher noch nicht gegeben. Aber ich frage: Was passiert, wenn irgendwo ein Zug entgleist und Menschen, die vielleicht auf dem Wege von oder zur Arbeit sind, dabei verunglücken? Hat sich das schon einmal jemand
überlegt? Hat man jemals von Ihnen dazu etwas gehört? Leider nicht!
Zehntausende Polizisten müssen zusammengezogen werden, obwohl diese Transporte niemanden gefährden. Das deutsche und das europäische Recht garantieren ein Höchstmaß an Sicherheit für Arbeitskräfte, Bevölkerung und Umwelt. Deshalb verurteilen wir mit Nachdruck jede Aussage, die mitunter fahrlässig, oft aber auch wider besseres Wissen, aus politischer Ablehnung der friedlichen Nutzung der Kernenergie darauf abzielt, durch bewußte Desinformation Unsicherheit und Angstgefühle in der Bevölkerung zu erzeugen.
Hieran, Herr Glogowski, hat sich auch die Niedersächsische Landesregierung in unverantwortlicher Weise beteiligt.
Sie hat schon seinerzeit, etwa im April 1995, zumindest indirekt zu den damaligen verheerenden Krawallen beigetragen. Denn sie war es, die von Anfang an und auch jetzt wieder entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung dem Bund gegenüber versucht hat, diese Transporte zu sabotieren.
Ich zitiere eine Ihrer Aussagen in einem Interview, das Sie, Herr Glogowski, am 20. Februar im „Morgenmagazin" gegeben haben:
Wir wollen diesen Transport nicht. Wir denken, daß die Castor-Behälter an den Kernkraftwerkeinrichtungen stehenbleiben können.
Das ist die Auffassung einer Regierung, die in einer gesetzlichen Verpflichtung steht.
Die Konsequenz davon ist, daß die Menschen vielfältig, man könnte sagen: quasi regierungsamtlich aufgewiegelt, verängstigt und verunsichert werden.
Dabei wird nie mit der gebotenen Deutlichkeit, die eigentlich erforderlich wäre, wenn man verantwortliche Politik zu machen bereit ist, gesagt, daß in den vergangenen Jahren unzählige solcher Transporte von Deutschland in das Ausland ohne jede Beanstandung und ohne jedes Risiko durchgeführt wurden. Ich frage mich: Soll für Deutschland anderes als für das Ausland gelten? Ich glaube, doch wohl nicht.
Es gibt kein Land in der Welt, das einen so hohen Sicherheitsstandard für die friedliche Nutzung der Kernenergie vorschreibt wie unseres. Gerade Deutschland ist in besonderer Weise auf die friedliche Nutzung der Kernenergie angewiesen, weil wir im Bereich der fossilen Brennstoffe über kaum wettbewerbsfähige Ressourcen verfügen, Stein- und Braunkohle eingeschlossen. Gerade ein so wirtschaftlich und technisch hochentwickeltes Land wie
Dr. Rupert Scholz
das unsere braucht gesicherte, braucht wirtschaftlich wettbewerbsfähige Energiequellen.
Jedermann weiß, daß das Thema der regenerativen Energiequellen in Deutschland besonders intensiv gepflegt und vorangetrieben wird,
daß jene Energiequellen aber nach wie vor technologisch wie wirtschaftlich keine Grundlage für eine gesicherte, für eine wirtschaftlich tragfähige Energieversorgung bieten.
So beläuft sich der Anteil der Kernenergie an der öffentlichen Stromversorgung im vereinten Deutschland auf 32,4 Prozent. Gerade Niedersachsen ist in hohem Maße von der Kernenergie abhängig; der Anteil dort beträgt 63 Prozent. Angesichts dieser Zahlen frage ich mich: Was ist das für eine Politik, die Sie da machen?
Es geht doch wohl auch um den Wirtschaftsstandort Niedersachsen. Aber ganz offensichtlich wird das aus vordergründigem Opportunismus verdrängt.
Meine Damen und Herren, es ist nun einmal so: Die Entscheidung für die friedliche Nutzung der Kernenergie ist in unserem Lande gefallen und gesetzlich geregelt. Und sie ist vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsmäßig erkannt worden. Das heißt, wer dies ändern will, der muß auf dem demokratisch rechtstaatlichen Wege, also hier im Deutschen Bundestag, andere Mehrheiten haben.
Diese Mehrheiten bestehen aber nicht.
Herr Glogowski, Sie haben in Ihrer Rede von einer Volksbewegung gesprochen. Volksbewegungen, meine Damen und Herren, sind in einer parlamentarischen Demokratie darauf angewiesen, im Parlament die Mehrheit zu haben. Wenn sie diese Mehrheit nicht haben - sie werden sie im übrigen auch nicht bekommen -,
dann lautet die Konsequenz, daß der demokratische Wille der Mehrheit dieses Hauses gilt, daß die politische Entscheidung im Sinne des Atomgesetzes wirtschaftlich vernünftig und richtig für unser Land ist und die friedliche Nutzung der Kernenergie rechtmäßig, wirtschaftlich und verfassungsmäßig ist.
An diese Verfassungs- und Rechtlage sind auch die Länder gebunden. Das gilt auch für das Land Niedersachsen. Dort steigert sich jedoch die Verweigerungshaltung - so scheint mir - mitunter fast ins Absurde. Abgesehen davon, daß bei früheren CastorTransporten die niedersächische Landespolizei, die auf der Grundlage des geltenden Rechts in eigener Zuständigkeit für die Sicherung dieser Transporte verantwortlich war, dieser Verantwortung mitunter nur zögerlich und gegenüber gewalttätigen Protesttätern keineswegs ausreichend Rechnung trug, geht es ganz und gar nicht an, daß etwa das niedersächsische Innenministerium, Herr Glogowski, am 3. August 1995 schlicht erklärte, daß niedersächsische Polizeibeamte Castor-Transporte nicht mehr begleiten würden, solange die Gefährlichkeit der von den Brennelementen ausgehenden Strahlung nicht eingeschatzt werden könne.
Die entsprechende Sicherheit der Castor-Transporte stand von Anfang an fest und wurde mit Schreiben vom 16. August 1995 durch den Bundesinnenminister allen zuständigen Landesministern, auch dem des Landes Niedersachsen, mitgeteilt. Darauf allerdings wurde nicht reagiert. Die erwähnte Ankündigung ist - wenn ich richtig informiert bin - bis auf den heutigen Tag nicht zurückgenommen.
Die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Obstruktionspolitik sind eminent. Der von den Ländern schleichend betriebene Ausstieg aus der Kernenergie hat nach zuverlässigen Schätzungen in den vergangenen Jahren über 18 Milliarden DM gekostet. Das sind Kosten, die ausschließlich der Steuerzahler zu tragen hat. Auch das sollte bei diesen Fragen mit beachtet werden.
Es muß mit der klammheimlichen, halbamtlichen Tolerierung von gewalttätigen, militanten Protesten gegen die Castor-Transporte Schluß sein.
In unserem freiheitlich demokratischen Staat hat jedermann das Recht, seine politische Meinung frei zu äußern und dafür auch frei zu demonstrieren. Das schließt ein, daß jedermann auch gegen die friedliche Nutzung der Atomenergie sein und dagegen demonstrieren kann, aber das maßgebende Grundrecht der Versammlungsfreiheit in Art. 8 garantiert freie Meinungsäußerung und freie Demonstration ausschließlich in friedlicher Form.
Zu dieser Grundrechtsgarantie gehört eindeutig nicht, daß man Wurfanker wirft, Züge gefährdet und Gleisanlagen blockiert. Vor allem gehört dazu ebenfalls nicht, daß man Entscheidungen des Parlaments und unserer Gerichte gewaltsam unterlaufen und sabotieren will.
Gewalttätigkeiten gegenüber Personen oder - wie es so schön in Anführungsstrichen heißt - „nur" gegen Sachen werden vom Demonstrationsrecht nie und nimmer abgedeckt. Sie genießen in einem freiheitlichen Rechtsstaat keinen Grundrechtsschutz.
Der demokratische Rechtsstaat basiert auf dem verfassungsmäßigen Gesetz und dem diesem zugrunde liegenden parlamentarischen Mehrheitsentscheid. Er schließt kategorisch alle Formen von Gewalt - das gilt auch für das, was von politisch Verant-
Dr. Rupert Scholz
wortlichen mittel- oder unmittelbar dazu beigetragen wird - aus.
Natürlich ist die friedliche Nutzung der Kernenergie für viele ein sensibles Thema. Nach wie vor gilt aber die politisch maßgebende Entscheidung zugunsten der Nutzung der Kernenergie. Dagegen kann man protestieren, dagegen darf man aber nicht gewaltsam vorgehen. Wer Gewalt übt, führt unseren Rechtsstaat im Ergebnis zum anarchischen Faustrecht.
Der staatlich gesicherte Rechtsfrieden und das damit verbundene Gewaltmonopol, zu dem Sie sich, Herr Glogowski, erfreulicherweise bekannt haben - das war auch das einzige, was ich in Ihrer Rede als erfreulich empfunden habe -, sind die maßgebenden Grundsätze eines funktionierenden Rechtsstaats.
Der Kleinkrieg, der auch politisch gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie und damit gegen die Castor-Transporte geführt wird, ist sicherlich hier und dort bei Menschen von Sorge oder Angst getragen. Natürlich ist das so; das ist legitim und zu respektieren.
Aber genau an dieser Stelle beginnt die Aufgabe, die Verpflichtung, die Verantwortung der Politik. Gerade die Verantwortlichen in Niedersachsen sind verpflichtet, den Menschen nicht nur die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit dieser Transporte zu erklären, sondern sie rechtzeitig vor Gewalt und Ausschreitungen zu warnen. Statt dessen spricht ein Herr Trittin davon, daß ein „massiver Mißbrauch von Polizeibeamten zur Durchsetzung politischer Ziele" stattgefunden habe. Das ist eine Unverschämtheit - auch den Polizisten gegenüber, die nichts anderes als ihre Pflicht tun.
Von SPD-Politikern wird davon gesprochen, das sei eine „politische Provokation". Was sollen die Menschen in unserem Lande denn denken? Was sollen sie glauben? Es wird ihnen in übelster Form etwas vorgemacht, etwas vorgetäuscht. Menschen werden auf Wege geführt, die sie im Ergebnis nicht einschätzen und verantworten können. Das ist schlechterdings politische Unverantwortbarkeit.
Wir verurteilen das mit allem Nachdruck.
Die monatelangen Weigerungen der niedersächsischen Regierung, sich ihrerseits an die gesetzlichen Vorgaben zu halten, sind ebenfalls provokativ. Die Länder haben nach Maßgabe von Art. 85 und Art. 87 c des Grundgesetzes das Atomgesetz ordnungsgemäß auszuführen. Sie haben nicht das Recht auf dem Wege des Gesetzesvollzuges jene materiell rechtliche Grundentscheidung zu konterkarieren, zu behindern, oder gar auszuhöhlen. Ein Verhalten dieser Art verstößt unmittelbar gegen die Verfassung, verstößt unmittelbar gegen den Grundsatz der Bundestreue, der jedem Bundesland obliegt. Auch das muß an dieser Stelle deutlich gesagt werden.
Eine Provokation liegt auch in der Forderung, Herr Glogowski, die Kosten für die Bewachung des Castor-Transports von der Bundesregierung einzufordern oder diese gar einzuklagen.
Nach der Kompetenzverteilung unserer Verfassung - das wissen Sie ganz genau - ist die Sicherstellung des Transports originäre Länderaufgabe, weil die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Landessache ist und in deren Zuständigkeit und Verantwortung liegt.
Wenn Ihr Herr Ministerpräsident, der Herr Schröder, diese Kosten abwälzen will, dann mache ich ihm einen anderen Vorschlag. Er soll sich doch gefälligst an die unfriedlichen und gewalttätigen Demonstranten wenden, die als Störer die eigentlichen Verursacher dieses aufwendigen Polizeieinsatzes sind.
Schon bei den Ausschreitungen im Jahre 1995 wurden die Kosten für den Polizeieinsatz auf 55 Millionen DM geschätzt. Wo sind Ihre Kostenbescheide? Warum haben Sie nicht versucht, das Geld wieder einzufordern? Wenn es jetzt um 66 Millionen DM geht, würde ich an Ihrer Stelle das tun.
Meine Damen und Herren, es geht wirklich um Grundfragen und Grundlagen unseres freiheitlichen Rechtsstaates.
Thomas Löffelholz hat gestern in der „Welt" - ich glaube, zu Recht - mit der Bezeichnung „Spiel mit dem Feuer" vor dem, was Sie tun, gewarnt. Sie spielen wirklich. Sie spielen nicht mit Radioaktivität, die nicht existiert, sondern mit dem Feuer.
- Sie spielen mit dem Feuer! Wenn solches Verhalten in unserem Land Schule macht, dann geht es im Ergebnis in der Tat um die Grundlagen unseres Rechtsstaates - eines Rechtsstaates, der entscheidend auf das auch von der Politik verantwortlich zu pflegende Rechtsbewußtsein unserer Bürger angewiesen ist.
Wer das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung so unverantwortlich verunsichert und erschüttert, der vergeht sich an unserem Rechtsstaat, der vergeht sich an unserem Gemeinwesen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn Sie meinen, ich solle einmal schön zündeln, dann will ich versuchen, auch Ihnen ein Licht aufzusetzen. Ich bezweifele allerdings, daß es mir gelingen wird.
Die Regierungserklärung kam spät. Sie wurde spät angekündigt und mußte zusätzlich auf die Tagesordnung aufgesetzt werden. Die Regierung hat dazu heute gewichtige, sachliche Gründe vorgetragen.
Aber es fügt sich, daß ausgerechnet der Bundesinnenminister diese Regierungserklärung abgibt.
Dieser Bundesinnenminister - so fügt es sich ein weiteres Mal - ist gleichzeitig Landesvorsitzender eines überaus erfolgreichen Landesverbandes, nämlich der hessischen Union.
Es fügt sich weiterhin, daß in Hessen am Sonntag ein Ereignis stattfindet, nämlich die Kommunalwahl. Also ist man versucht, hier Wahlkampf zu machen.
Das liegt voll auf der Linie, die die Union gegenwärtig vor allem in Bayern vertritt: Man schielt auf den rechten Rand.
Wenn diese Regierungserklärung heute morgen einen Sinn gemacht haben soll, dann kann ich dazu nur sagen: Sie hat weder etwas zur Energiepolitik, geschweige denn zu einem zukünftigen Energiekonsens beigetragen. Sie hat nichts dazu beigetragen, junge Menschen davon zu überzeugen, von Gewalt Abstand zu nehmen. Sie hat nichts dazu beigetragen, Polizisten von der Sinnhaftigkeit des kommenden Einsatzes zu überzeugen. Das einzige, was sie im Sinn hatte, ist Stimmen am rechten Rand für die Union am kommenden Sonntag zu mobilisieren.
In der Art, wie Sie es machen, wird das schiefgehen.
Wir können die Gewaltdebatte sofort und unmittelbar beenden. In einem Rechtsstaat gibt es keinen Platz für außergesetzliche Gewalt, auch wenn Sie zehnmal behaupten, wir sähen das anders. Genauso sehen wir dieses als gewaltfreie Partei.
Herr Kanther, wenn Sie ein Interesse an einem gewaltfreien Protest gehabt hätten - das Grundgesetz
garantiert immer noch, daß sich Bürgerinnen und Bürger friedlich versammeln können -, dann hätten Sie hier als verantwortlicher Innenminister all die Stimmen aus der Protestbewegung zitieren müssen, die ganz aktuell zur Gewaltfreiheit aufrufen. Daß Sie das nicht getan haben, entlarvt Ihr Interesse.
Ich möchte aus der „Frankfurter Rundschau" vom gestrigen Tag, einer Zeitung, die uns beiden, da wir aus Hessen stammen, vertraut ist, eine Anzeige zitieren, die selbst dem kurzsichtigsten CDU-Innenminister aufgefallen sein müßte; ganz so klein ist sie nicht. Dort wurde ein Aufruf von Greenpeace geschaltet. Diese Anzeige wurde nicht nur von Greenpeace unterschrieben, sondern auch von Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative „Umweltschutz Lüchow-Dannenberg", und vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland. Ich kann diese Anzeige nur unterstützen.
Dort heißt es unter der Überschrift „Gegen CastorTransporte - für gewaltfreie Proteste!":
Wer bei Protesten
- jetzt hören Sie gut zu -
gegen Atomtransporte die Gefährdung von Menschen in Kauf nimmt, geht unkalkulierbare Risiken ein und bringt den Widerstand in Mißkredit. Wir appellieren an alle, ihr Recht auf Widerstand mit friedlichen Mitteln in Anspruch zu nehmen.
Weiter heißt es:
Wer gegen den erklärten Willen der Bevölkerung Atomtransporte durchsetzt, provoziert und trägt zur Eskalation des Konfliktes bei.
Wir appellieren an Bundesregierung und Atomkraftwerksbetreiber: Stoppen Sie die CastorTransporte! Setzen Sie eine falsche Energiepolitik nicht mit polizeistaatlichen Mitteln durch.
Das ist die Position, die Sie als gewaltverherrlichende Position diffamieren.
Sie wissen doch so gut wie ich, daß wir alle schon einmal weiter waren. Es gab Energiekonsensgespräche auf der Grundlage, einen zukünftigen Energiekonsens unter Einschluß der Anti-Atom-Opposition in diesem Lande zu finden. Das war ein vernünftiger Schritt. Sie haben völlig recht: Wir werden das Problem der strahlenden Hinterlassenschaft dieser verfehlten, nicht verantwortbaren Politik des Einstiegs in das Atomzeitalter zu lösen haben.
Wir wissen aber heute nicht, was wir mit dem atomaren Müll tun sollen. Es wurde immer prophezeit, es gäbe eine Entsorgungslösung. Es gibt sie aber weltweit nicht. Es ist unverantwortlich, weiterhin Atomkraftwerke am Netz zu lassen, wenn man
Joseph Fischer
nicht weiß, was man mit diesem verdammten, lange Zeit strahlenden Müll machen soll.
Deswegen gibt es diesen massenhaften Protest.
Aber darum geht es der Union nicht. Ich habe vorhin gesagt, daß es um Wahlkampf geht. Herr Innenminister, Herr Bundeskanzler, wenn Sie so entschieden dagegen sind, daß Gewalttätern Kulissen gestellt werden, und wenn Sie die Demokratie deswegen gefährdet sehen, dann hätte ich mir im zweiten Teil der Regierungserklärung entsprechende Ausführungen gewünscht. Herr Dr. Kohl kann das ja gleich nachholen; Herr Waigel wäre eigentlich der richtige Adressat.
- Ihnen wird das Lachen gleich vergehen. Sie sollten öfters den „Bayernkurier" lesen. Dort schreibt Florian Stumfall unter der Überschrift „Wie Deutsche diffamiert werden":
Es ist daher empörend, daß gerade Vertreter der Linken ... nun, 50 Jahre nach dem Krieg, daran arbeiten, die Strafmaßnahmen von Nürnberg gegenüber Deutschland
- ich wiederhole: „die Strafmaßnahmen von Nürnberg gegenüber Deutschland"; dort wurden die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt -
noch zu verschärfen und einen moralischen Vernichtungsfeldzug
- ich wiederhole: „einen moralischen Vernichtungsfeldzug" -
gegen das deutsche Volk zu führen.
Unrühmliche Handlanger sind dabei die Vertreter des linken Spektrums im Münchner Rathaus.
Man könnte das noch als Entgleisung hinnehmen, Herr Bundesinnenminister, wenn Herr Gauweiler hier nicht die Kulisse für Neonazismus und rechte Gewalttäter stellen würde, die europaweit für eine Demonstration am Samstag mobilisieren. Da hätte ich mir vom zuständigen Innenminister und vom Bundeskanzler eine klare Positionierung gewünscht.
Ich möchte Ihnen eines sagen: Diese Einäugigkeit werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Wir stehen hier klar
zu der Position des demokratischen Verfassungsstaates, in dem der friedliche, gewaltfreie Protest ein wesentlicher Bestandteil davon ist. Gewalt kann es gegen diesen Verfassungsstaat nicht geben. Aber wir
erwarten eindeutig, daß Herr Stoiber, Herr Waigel
und Herr Kohl gegenüber diesen neonazistischen
Umtrieben in der eigenen Partei, angeführt von Peter
Gauweiler, klar Position beziehen und sich hier distanzieren.
Das Wort hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Fischer, Sie haben hier mit dem Hinweis begonnen, das sei doch alles Wahlkampf vom Bundesinnenminister gewesen. Wer eine solche Rede so am Thema vorbei hält, der hält in diesem Hause eine Wahlkampfrede, wie Sie das hier getan haben.
Sie hätten sich hier hinstellen und sagen müssen, zu welcher Form von Distanzierung von Gewalt Sie bereit sind. Sie sagen, Sie seien gegen Gewalt, aber Abgeordnete Ihrer Partei rufen öffentlich zur Gewalt gegen Sachen auf. Das ist eine scheinheilige Doppelmoral, die Sie hier vorgeführt haben.
Sie sind nicht liberal, Sie sind für die Liberalität dieses Landes gefährlich. Das ist nämlich der Punkt, um den es hier geht.
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
So heißt es in Art. 8 unseres Grundgesetzes. Jeder hat das Recht, gegen Kernkraft und auch gegen Castor-Transporte zu demonstrieren. Jedermann ist es unbenommen, auch gegen gerichtliche Entscheidungen zu protestieren, die solche Transporte ausdrücklich erlaubt haben. Wer aber Gewalt anwendet, ob gegen Sachen oder gegen Personen, stellt sich außerhalb des demokratischen Grundkonsenses und muß mit seiner strafrechtlichen Verfolgung und seiner zivilrechtlichen Belangung rechnen.
Ich finde es schon bemerkenswert, daß die gleichen, die hier die hohen Kosten der Polizeieinsätze beklagen, letztendlich die Verursacher dieser hohen Kosten mit ihrer Politik und ihren Aufrufen sind.
Wenn Sie an einer Stelle sagen, Herr Glogowski - ich habe Ihre Rede sehr differenziert verfolgt -, der Rechtsstaat dürfe nicht mit dem Kopf durch die Wand, dann ist das so richtig wie falsch. Wenn Sie nämlich erklären, daß der Rechtsstaat nicht um jeden Preis durchgesetzt werden muß, dann, muß ich
Dr. Guido Westerwelle
sagen, bin ich einigermaßen entsetzt darüber: Wie teuer darf das Recht den Rechtsstaat kommen?
Was muß der Rechtsstaat an Kosten aufwenden, um Recht durchzusetzen, und ab wann lohnt es sich nicht mehr?
Wieviel Recht darf dann ein Rechtsstaat überhaupt noch durchsetzen?
Ich finde, daß wir in unserem Rechtsstaat ein Kernelement haben, das wir als Demokraten nicht in Zweifel ziehen dürfen, und das lautet: Das Recht darf dem Unrecht nicht weichen. Wenn wir das einmal außer acht lassen, öffnen Sie Tür und Tor zu Entwicklungen, die in diesem Lande niemals wieder Platz greifen dürfen.
Recht und Gesetz gelten für alle. Eigene Maßstäbe mit noch so moralischer Begründung dürfen sich eben nicht über den Rechtsstaat erheben. Alles andere wäre ein Rückfall in die Zeit vor Einführung des modernen liberalen Verfassungsstaates. Die Überwindung des Faustrechtes und die Einführung des Gewaltmonopols des Staates sind mit die wichtigsten Errungenschaften unserer Zivilisation.
Das Faustrecht hat es in diesem Lande lange Zeit - nicht nur in diesem Jahrhundert - gegeben, beispielsweise in Form der Fehde des Mittelalters. Es zählt zu den Grundfesten jedes zivilisatorischen Zusammenlebens, daß das Faustrecht kein Mittel in der Politik ist. Das Widerstandsrecht, das Sie für sich in Anspruch nehmen und mit höherer Moral begründen, wird morgen der nächste und übermorgen wieder ein anderer für sich behaupten. Dann entsteht ein Aufschaukeln von Verhältnissen bis hin zu Straßenkämpfen, die wir als Demokraten niemals akzeptieren können.
Wer das Recht nämlich nur auf seiner Seite glaubt, ist nicht gerecht, sondern selbstgerecht.
Ich füge aber genauso hinzu: Die F.D.P. respektiert die friedlichen Demonstranten gegen die CastorTransporte; sie verurteilt jedoch die Gewalttaten und fordert die entschiedene Verfolgung und Bestrafung der Gewalttäter. Für die Freie Demokratische Partei möchte ich klar sagen: Wir danken den Polizeibeamten, die das Recht vor Ort im Auftrag der Demokratie und ihrer Institutionen durchsetzen.
Wie müssen sich diese Polizeibeamten fühlen, wenn Abgeordnete von den Grünen und der PDS öffentlich zur Schienendemontage und damit zur Gewalt gegen Sachen aufrufen? Gewalt ist kein Mittel
der Politik und darf es nie wieder werden. Es wird eben nicht nur eine Eisenbahnschiene demontiert, sondern es werden die Rechtsschranken demontiert, die für ein gedeihliches Zusammenleben unserer Gesellschaft unerläßlich sind. Recht und Gesetz gelten für alle. Freiheit in der Gesellschaft gibt es nur unter dem Recht.
Der Beschluß der Grünen, an den Demonstrationen gegen die Castor-Transporte teilzunehmen, ist eine heikle Gratwanderung zwischen der Hinnahme von Gewalt und dem Recht auf Demonstration.
Da Sie die Kulisse, die Sie selbst geschoben haben, nicht wahrhaben wollen und ausführlich aus Tageszeitungen zitieren, möchte ich in diesem Hause darauf hinweisen, daß im letzten Jahr in der „taz" Abgeordnete des Deutschen Bundestages von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und von der Gruppe der PDS öffentlich zur Schienendemontage aufgerufen haben. Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie mit diesen Dingen nichts am Hut. Es sind Ihre Leute, die dazu aufrufen.
In jedem Kiosk war dieser Aufruf zur Schienendemontage erhältlich. Das nennen Sie gewaltfrei? Ich habe von gewaltfrei ein anderes Verständnis, als daß Gewalt gegen Sachen ausgeübt werden darf. Das ist der Irrweg, auf dem Sie zur Zeit marschieren. Sie konstruieren den Unterschied zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen und glauben, das eine sei hinzunehmen und das andere nicht. Aber Gewalt gegen Sachen wird früher oder später immer zur Gefährdung von Personen führen. Über dieses Problem streiten wir doch hier.
Ich bin schon einigermaßen entsetzt darüber, wie einfach darüber hinweggegangen wird, als hätte es nicht schon Verletzte gegeben. Wir haben in diesem Monat, im Februar, durch die Wurfanker bereits einen ersten Verletzten gehabt, nämlich einen Lokomotivführer, der durch Glassplitter an den Augen verletzt worden ist. Für Sie mögen das Bagatellen sein. Ich bin der Auffassung: Wehret den Anfängen! So etwas darf man in diesem Lande nicht zulassen, egal welche moralischen Argumente man hat.
Aber Herr Fischer hat mit alledem ja gar nichts zu tun. Staatstragend stellt er sich im grünen Tuch hier hin
- das mittlerweile sehr grau geworden ist; also: im
feinen Tuch - und ruft alle dazu auf: Seid schön fried-
Dr. Guido Westerwelle
lieh! Dabei ignoriert er, was in seiner eigenen Partei vor sich geht. Herr Fischer, Sie hätten hier erklären sollen, ob Sie sich, wie es Zeitungsmeldungen berichten, an den Sitzblockaden beteiligen werden. Dann hätte beim Wegtragen Ihre Fastenkur wenigstens einen Sinn gehabt.
Meine Damen und Herren, einen Monat später erklärte die bündnisgrüne Europaabgeordnete Undine von Blottnitz im ARD/ZDF-Frühstücksfernsehen, sie „findet zivilen Ungehorsam total in Ordnung".
Sie fügte hinzu - jetzt wörtlich -: „Ich gehe sogar so weit zu sagen: Wenn auf dem Stück, wo exakt nur der Castor langfährt, Schrauben gelockert werden, das würde ich auch machen, das ist gar keine Frage. "
Der Vorstandssprecher der Grünen, Herr Trittin, bezeichnet die polizeiliche Sicherung der CastorTransporte als Methoden eines Polizeistaates. Sie als Fraktionsvorsitzender der Grünen in diesem Hause, Herr Fischer, sprechen ebenfalls von polizeistaatlichen Methoden, mit denen das Ganze durchgesetzt werden müsse.
Frau Griefahn spricht vom Atomstaat. Sie sprechen vom Polizeistaat. Wenn Sie so einen Popanz in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie aufbauen, dann darf man sich nicht wundern, daß junge Menschen Irrwegen erliegen. Sie schaffen im Grunde genommen doch die Ursachen dafür.
Die Grünen bereiten mit diesen skandalösen Aufrufen und mit den Äußerungen, die sie in diesem Parlament wieder gemacht haben, den Humus, auf dem die Gewalt gedeiht. Das ist die eigentlich gefährliche Entwicklung, weil die Gewaltbereitschaft in der Vergangenheit ständig zugenommen hat.
Es ist erneut damit zu rechnen, daß Schienen zersägt, Bahntrassen vergraben und Oberleitungen herabgerissen werden. Militante Castor-Gegner machen sich mit diesen Sabotageaktionen, die immer mehr koordiniert und abgestimmt sind, nicht nur einer massiven Sachbeschädigung schuldig, sondern sie gefährden auch Menschenleben. Ich sage Ihnen mit allem Ernst: Die Grünen rufen Geister, die sie nicht mehr loswerden. Sie zündeln. Sie sind der Brandstifter, und anschließend verhalten sie sich wie der Biedermann.
Die F.D.P. fordert die Grünen deshalb auf, sich öffentlich und verbindlich von Gewaltaktionen gegen die Castor-Transporte zu distanzieren. Sonst geben sie potentiellen und tatsächlichen Gewalttätern das Gefühl politischer Unterstützung und Billigung. Es reicht mir nicht aus, daß sie sich gegen Gewalt ein bißchen distanzieren und sagen: Diese Gewalt nicht mit uns, aber jene Gewalt ist vielleicht noch ganz in Ordnung. - Das ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Der kann in einem Rechtsstaat nur schiefgehen.
Freiheitlicher Rechtsstaat bedeutet nicht nur die Gebundenheit staatlichen Handelns an das Gesetz. Der Staat ist nicht alles, der Staat darf nicht alles. Die Mehrheit ist nicht alles, die Mehrheit darf nicht alles. Rechtsstaat ist aber vor allen Dingen jener Staat, der die Freiheitsrechte anderer schützt. Es gibt im Rechtsstaat kein Freiheitsrecht, mit Gewalt das Eigentum oder die körperliche Integrität anderer zu beschädigen.
Politik, Polizei und Justiz müssen all jenen entschieden entgegentreten, die das liberale Versammlungsrecht in Deutschland mißbrauchen.
Demokratie lebt von der Akzeptanz rechtsstaatlicher Entscheidungen. Wer die Politik verändern will, mag dies über die demokratischen Institutionen unseres Rechtsstaates betreiben. Wer behauptet, Mehrheit zu sein, mag dies bei Wahlen beweisen. Wer die Politik verändern will, muß dies über die demokratischen Institutionen unseres Rechtsstaats betreiben.
Auch wer den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie fordert, kommt um die Entsorgung des bereits angefallenen Atomabfalls nicht herum. Es ist bemerkenswert, daß die Proteste gegen Transporte von Castor-Behältern ins Ausland ohne größere Beachtung stattfanden. Wenn sogar der Atomkritiker Michael Seiler vom Darmstädter Öko-Institut sagt, die Blockade von Gorleben führe zwangsläufig zur Wiederaufbereitung von Plutonium im Ausland und das sei ökologisch die schlechtere Alternative, sollte das, so meine ich, auch Sie als Atomkraftgegner zum Nachdenken bringen.
Wer in Castor-Transporten ein Sicherheitsrisiko sieht, darf diese Transporte doch nicht gleichzeitig gefährden. Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Hermann Lutz, hat zu Recht erklärt: Wer mit hohen moralischen Ansprüchen gegen Kernenergie demonstriert, wird unglaubwürdig, wenn er durch sein Verhalten Polizeibeamte in Gefahr bringt.
Der Streit um Castor ist in der Tat auch ein Streit um die friedliche Nutzung der Kernenergie. Wir brauchen eine gesicherte Entsorgung für radioaktive Abfälle aus Kraftwerken, aus Medizin- und Forschungseinrichtungen. Wer die Kernenergie ablehnt, muß Verantwortung für die sichere Entsorgung übernehmen. Deshalb ist es richtig, daß ein neuer Anlauf zur Konsensfindung in der Politik unternommen wird.
Die Option für die friedliche Nutzung der Kernenergie muß offengehalten werden. Die Frage nach einer weiteren Nutzung der Kernenergie darf nicht losgelöst von der Entsorgung, der Reaktorsicherheit, der CO2-Problematik und der Versorgungssicherheit behandelt werden.
Dr. Guido Westerwelle
Die Entwicklung geht weiter. Wenn in zehn Jahren Entscheidungen über den Einsatz der dann außer Betrieb gehenden Kernkraftwerke anstehen, werden wir sehen, ob wir die Kernenergie noch brauchen oder ob Energieeffizienz, Energiesparen und die Entwicklung erneuerbarer Energien neue Kernkraftwerke überflüssig machen.
Natürlich wäre es wünschenswert, auch diese Form der Energiegewinnung durch andere Formen der Energiegewinnung zu ersetzen. Aber es ist ebenfalls richtig, daß für eine neuere sicherere Reaktortechnik geforscht wird - nicht nur für uns, sondern für die weltweite Entwicklung. Selbst wenn Deutschland eines Tages aus der Kernenergie aussteigen würde, muß das noch lange nicht weltweit so sein. Deshalb ist es gut, wenn wir die Sicherheit dieser Technik vorantreiben und so auf die internationalen Sicherheitsstandards einwirken können.
Wer den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie fordert, schließt die Tür für Forschung und Export von Sicherheitstechnologien.
Die Grünen machen es sich sehr leicht. Sie sind gegen jede Energiegewinnungsform: gegen die Kernenergie und gegen die Verbrennung fossiler Rohstoffe; in Niedersachsen stellen sie sich hin und sind gegen die Windgeneratoren. Das ist der Unterschied zwischen den Grünen und der F.D.P. Es ist der Unterschied zwischen Romantik und Aufklärung, meine Damen und Herren.
Der Standortentwurf der Grünen für Deutschland im ausgehenden 20. Jahrhundert ist das Hüttendorf der Republik des Freien Wendlands. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht Weimar. Das stimmt, und das ist gut so. Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Das ist ebenfalls richtig und falsch zugleich; denn wir sollten die Gefährdungen der Zeit erkennen. Hohe Arbeitslosigkeit ist eine Gefährdung. Gesinnungsdiktate sind auch eine Gefährdung.
Stefan Zweig hat dazu etwas geschrieben, das ich Ihnen mit auf den Weg geben möchte:
Geschichte ist Ebbe und Flut, ewiges Hinauf und Hinab; nie ist ein Recht für alle Zeiten erkämpft und keine Freiheit gesichert gegen die immer anders geformte Gewalt. Immer wird jeder Fortschritt noch einmal der Menschheit bestritten sein und auch das Selbstverständliche von neuem in Frage gestellt.
Das ist eine Verpflichtung, so meine ich, für alle Demokraten in diesem Hause. Kehren Sie um von einem Irrweg, mit dem Sie letzten Endes selber nicht einverstanden sein können. Distanzieren Sie sich von Gewalt. Distanzieren Sie sich nicht halbherzig, sondern eindeutig. Beenden Sie das Ganze, und wirken Sie auf junge Menschen ein, anstatt sie aufzuwiegeln.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Elisabeth Altmann.
Wenn man den Worten des Kollegen Westerwelle gelauscht hat, dann weiß man, was Gehässigkeit in der Atomkraftdiskussion bedeutet; um einmal Herrn Kanther zu zitieren.
Man bekommt den Eindruck, das Problem der Atomkraft seien nicht die Verstrahlung von Boden, Wasser und Luft, von Mensch und Tier, sondern gewalttätige und undemokratische Bürger und Bürgerinnen. Dazu zählen Sie mich und andere, die friedlich demonstrieren. Das halte ich für Desinformationspolitik, für Polemik, wie Herr Kanther eben gesagt hat.
Immer, wenn Sie das Stichwort Castor hören, blinkt bei Ihnen ein Licht: Es heißt Gewalt. Die Stimmung ist doch schon genug aufgeheizt, Herr Westerwelle. Es liegt auch an Ihnen, sie nicht weiter aufzuheizen und nicht weiter zu eskalieren.
Eskalation, Herr Westerwelle, ist es doch auch, wenn Sie symbolische Aktionen und Blockaden als Gewalt bezeichnen und mich und viele andere Atomkraftgegnerinnen und -gegner bewußt kriminalisieren und in ein falsches Licht rücken.
Damit versuchen Sie, den unvermeidlichen Ausstieg aus der Atomkraft zu verzögern. Sie verschleiern damit das Fehlen eines in die Zukunft gerichteten Energiekonzeptes. Sie, Herr Westerwelle, blokkieren damit nicht nur symbolisch die ökologische Wende in dieser Gesellschaft.
- Jawohl, weil ich wußte, was er sagt und was andere sagen.
Das war mir völlig klar.
- Sie haben vor Weihnachten, Herr Westerwelle - -
- Ich möchte gern weiterreden.
Frau Präsidentin, Sie haben meine Immunität und die - -
Frau Altmann, darf ich eines sagen?
Ja.
Die Kurzintervention hat in freier Rede zu erfolgen.
Ja, ja. - Sie haben meine Immunität und die meiner Kollegin aufgehoben, weil wir dort den symbolischen, friedlichen Widerstand unterstützt haben. Ziviler Ungehorsam - als solchen verstehe ich unsere symbolische Aktion - kennt keine Heimlichkeit. Das ist eine Grauzone;
das ist angekündigt und geschieht im Licht der Öffentlichkeit. Das ist keine scheinheilige Doppelmoral, wie Herr Westerwelle es eben genannt hat.
Ich wiederhole: Unser Aufruf zum friedlichen, symbolischen Widerstand in Gundremmingen - -
Frau Altmann, kommen Sie bitte zum Schluß! Die Zeit ist abgelaufen.
Wir stellen uns weiter quer. Wir stellen uns weiter hinter die Menschen, die dort vor Ort demonstrieren. Wir wollen keine Atompolitik. Wir möchten den Übergang in eine ökologische Wende. Wir möchten eine ökologische Energiepolitik. Dafür stehen wir.
Herr Kollege Westerwelle.
Ich finde es geradezu entlarvend, wenn Sie das, was Sie tun, als selbstverständlich hinnehmen und auch noch so nennen; das bewege sich in einer Grauzone. - Im Rechtsstaat kann es solche Grauzonen nicht geben.
Das müssen Sie doch verstehen.
Wenn ausgerechnet Sie, Frau Kollegin Altmann, hier mit einer vorbereiteten Erklärung die Debatte bereichern, dann möchte ich doch einmal darauf aufmerksam machen, was Sie selber - Sie sind ja Elisabeth Altmann, wenn ich es richtig weiß; es gibt zwei Altmanns bei den Grünen - unterschrieben haben. Ich möchte dem Haus einen Satz vorlesen. Dieser Aufruf lautet unter der Überschrift „Ausrangiert!":
Um hochradioaktive Atommülltransporte nach Gorleben zu verhindern, um Menschen, Tiere und Natur zu schützen, rufen wir dazu auf, an diesem Tag gemeinsam die Schienen vor dem AKW Gundremmingen mit einfachen handwerklichen Mitteln gewaltfrei und festlich zu demontieren.
Und, Frau Kollegin Altmann, das haben Sie nicht einfach nur mit Ihrem Namen unterschrieben. Vielmehr steht hier: „Elisabeth Altmann ".
Es ist geradezu unverschämt, daß ein Abgeordneter dieses Deutschen Bundestages, der Recht setzt und Gesetze verabschiedet, dazu aufruft, Recht und Gesetz zu mißachten.
Es wäre an Ihnen, sich hier hinzustellen und zu sagen: Das war ein Fehler,
das hätte ich nicht unterschreiben dürfen.
Es wäre an Ihnen, Herr Fischer, klarzustellen, daß das nicht Ihre Meinung ist. Statt dessen reden Sie über München, über Dinge, über die man sehr wohl kritisch reden muß,
überhaupt keine Frage.
Aber Sie reden eben nicht über das Thema, weil Sie selber ganz genau merken: Ein großer Teil Ihrer Partei ist in einer verdächtigen Nähe zu den Dingen, die wir hier zu kritisieren haben.
Da ändert auch das graue Tuch, das Sie tragen, nichts.
Denn was unter „einfachen handwerklichen Mitteln" und „gewaltfrei" zu verstehen ist, das wird auf der gegenüberliegenden Seite der „taz" berichtet. Da wird mit großen Bildern schön gezeigt, was das ist: Mit „einfachem Handwerkszeug" wird den Schienen zu Leibe gerückt - als ob es sich dabei um ein Pfadfinderlager handelte! Diese Bagatellisierung, diese Verharmlosung von Gewalt ist eine der Ursa-
Dr. Guido Westerwelle
chen dafür, warum Demokratien auf Dauer von innen ausgehöhlt werden können.
Von seinem Rederecht möchte der niedersächsische Innenminister Glogowski Gebrauch machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei kurze Bemerkungen.
Erste Bemerkung. Herr Kollege Scholz, Sie haben zum einen davon gesprochen, daß sich für Sie der Anspruch des Landes Niedersachsen auf Kostenerstattung nicht aus dem Gefüge der Bundesrepublik Deutschland ergibt. Ich darf darauf aufmerksam machen, daß die Bundesregierung der damaligen niedersächsischen Regierung von Ministerpräsident Albrecht die Kosten finanziert hat - die Polizeieinrichtungen in Lüchow-Dannenberg sind praktisch vom Bund bezahlt - und auch an den Landkreis LüchowDannenberg und die Stadt Salzwedel für die besonderen Belastungen, die sich aus der Kernenergie ergeben, Zahlungen geleistet hat. Das nur für Ihr Gedächtnis, damit Sie darauf nicht noch einmal hinweisen.
Zweite Bemerkung. Sie haben festgestellt, daß ich gesagt habe, Transporte sollten nicht begleitet werden, wenn sich für die Polizisten Strahlenrisiken ergäben. Dieses Risiko ergab sich aus dem Gutachten von Kuni. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Solange ich in Niedersachsen Innenminister bin, wird immer dann, wenn ich Sorge habe, daß Beamtinnen und Beamte durch das Transportgut selber zu Schaden kommen könnten, die Polizei diesen Transport nicht begleiten, bis Klarheit darüber herrscht, daß Beamtinnen und Beamte nicht geschädigt werden.
Denn sie müssen sich sicher sein, daß bei der Begleitung solcher Transporte in Niedersachsen der Fürsorgepflicht für die Beamten Genüge getan wird. Der Innenminister des Landes Niedersachsen jedenfalls wird niemals fahrlässig seine Beamten irgendwo hinschicken.
Herr Kollege Scholz.
Herr Glogowski, erstens freue ich mich, daß Sie sich zu Ihrer Fürsorgepflicht für Ihre Beamten bekennen. Dazu gehört aber zunächst einmal - das würde ich als erstes erwarten; das ist Ihre politische Verantwortung -, daß Sie dafür sorgen, daß Ihre Beamten nicht in fast bürgerkriegsähnlichen Situationen mit Gewalttätern konfrontiert werden.
Selbstverständlich ist es so, daß man auch Beamte nicht irgendwelchen Strahlengefahren aussetzen kann. Das habe ich nicht in Zweifel gezogen. Sie aber haben gesagt - ich denke, ich habe richtig zitiert -, daß niedersächsische Beamte Castor-Transporte so lange nicht begleiten werden, solange nicht geklärt ist, ob Gefahren bestehen. Nachdem Sie, wie alle anderen Innenminister, von der Bundesregierung klare Auskünfte erhalten haben, daß solche Gefahren nicht vorhanden sind, haben Sie diese ursprüngliche Aussage nicht zurückgenommen. Das ist die entscheidende Verunsicherung und bedeutet eine Verweigerung der Erfüllung Ihnen gesetzlich obliegender Verpflichtungen.
Herr Glogowski, zweitens zu dem Aspekt der Kosten. Hier können Sie sehen, wie der Bund kooperativen Föderalismus versteht,
indem er da, wo besondere Lasten bestehen, auch hilft. Dazu bekennen wir uns. Ihr Ministerpräsident aber hat gesagt - angeblich ist er ein erfolgreicher Wirtschaftspolitiker, offenkundig hat er hier aber Schwierigkeiten -: Wir können das nicht mehr bezahlen. Das ist uns zu teuer. Der Bund hat das Ganze zu verantworten. Der soll dafür zahlen. Wir haben einen Rechtsanspruch auf Erstattung - diesen wollen Sie ja angeblich sogar einklagen.
Hierzu sage ich Ihnen ganz deutlich: Sie haben weder einen gesetzlichen noch einen verfassungsrechtlichen Anspruch. Sie sollten sich in der Tat mit dem Bund arrangieren, indem Sie auf Ihrer Seite das leisten, was Bundestreue und kooperativer Föderalismus Ihnen aufgeben. Das ist zunächst die Forderung.
Ich hätte mich drittens gefreut - ich wiederhole das -, wenn Sie in Ihrer Stellungnahme zu folgendem ein Wort gesagt hätten. Herr Glogowski, ich frage Sie noch einmal: Warum nehmen Sie nicht gewalttätige Störer, die hier massive volkswirtschaftliche Schäden auslösen - beispielsweise jene Herrschaften, wie sie von Herrn Westerwelle soeben zitiert wurden, die Gleise demontieren usw. -, polizeirechtlich in kostenmäßige Verantwortung? Ich bin sicher, daß manche unserer ober-moralinspritzenden Gewalttäter sehr schnell aufhören würden, wenn es an ihr Portemonnaie ginge. Denken Sie darüber einmal nach!
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention hat die Kollegin Saibold. Ich entscheide, daß wir dann in der Debatte weitermachen, weil wir noch mehr auf der Tagesordnung haben.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe Ihnen recht, daß wir noch eine ganze Reihe anderer Punkte zu besprechen haben. Aber die Art, in der dieses Problem des Castor-Transportes und der
Halo Saibold
Atomenergie, die damit verbunden ist, hier diskutiert wird, auf diese kalte, herzlose Weise,
ohne zu berücksichtigen, welche Ängste und welche Bedrohung von dieser Energie, von dem Müll usw. für die Bevölkerung ausgehen, finde ich einfach unerträglich.
Ich kenne die Ängste; ich bin seit 1980 in Gorleben und Wackersdorf dabeigewesen. Ich war bei den Leuten und weiß, welche existentiellen Ängste dort vorhanden sind, wie stark man die Bedrohung empfindet und wie hilflos man sich diesem Vorhaben gegenüber fühlt, insbesondere deshalb, weil überhaupt nicht abzusehen ist, daß mit der weiteren Produktion von Atommüll endlich Schluß ist. Das ist das, was die Leute wahnsinnig macht und was sie zu allen möglichen Taten hinreißt, um in unserem demokratischen System die Möglichkeiten des Widerstandes auszubauen.
Es ist niemand gegen Demokratie, im Gegenteil. Aber ich frage Sie: Wer macht denn die Gesetze?
Die Gesetze werden unter Berücksichtigung der Interessen der Industrie erstellt, die eine Weiterführung der Atompolitik will. Das muß man doch sehen.
Ich frage Sie: Warum sind Sie denn nicht bereit, endlich einen Volksentscheid einzuführen, damit man in Sachfragen die Bevölkerung abstimmen lassen kann?
Warum sind Sie dagegen? Warum nehmen Sie nicht einmal Volksbefragungen ernst, die Ihnen ganz klar sagen, daß über 80 Prozent der Bevölkerung aus der Atomenergie aussteigen wollen? Das ist Ihnen doch alles egal. So kann es nicht gehen. Deswegen müssen Sie auch damit rechnen, daß der Protest weitergeht, bis hier eine andere Politik durchgesetzt wird.
Wir fahren in der ersten Runde fort. Als letzter Redner in dieser Runde spricht der Kollege Rolf Köhne.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kanther, Herr Scholz, Herr Westerwelle, Sie bauen einen Popanz auf. Sie verwechseln hier dauernd friedlichen Protest und Akte des zivilen Ungehorsams mit Terror und Gewalt.
Damit Sie sehen, worum es geht, möchte ich Ihnen zunächst aus einem Beschluß der Samtgemeinde Dannenberg vortragen:
Der Samtgemeinderat unterstützt hiermit ausdrücklich und aktiv die friedlichen Protestaktionen gegen den geplanten Castortransport im besonderen sowie gegen Atommülltransporte im allgemeinen. Er ist der Meinung, daß alle, sowohl hiesige als auch auswärtige Demonstrationsteilnehmer, die in friedlicher Absicht ihr Demonstrations- und Widerstandsrecht wahrnehmen, den Menschen in Lüchow-Dannenberg einen großen Dienst erweisen, indem sie das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit schützen helfen. Außerdem wird mit den friedlichen Protesten lebendige Demokratie ausgeübt, auf die unser Gemeinwesen in zunehmendem Maße angewiesen sein wird.
Dieser Teil des Beschlusses ist mit 24 Ja-Stimmen bei 2 Nein-Stimmen und 2 Enthaltungen im Samtgemeinderat Dannenberg angenommen worden, das heißt, auch mit Stimmen von CDU und F.D.P.
Es geht also darum - ich möchte das hier noch einmal betonen -, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Herr Scholz, Sie spielen mit dem Feuer,
wenn Sie fordern, den Menschen, die sich friedlich und ohne Waffen versammeln, wie es das Grundgesetz will, die Kosten von Polizeieinsätzen aufzudrükken. Sie unterlaufen damit dieses demokratische Grundrecht, und genau das ist Ihre Absicht.
Sie sollten erkennen, worum es hier wirklich geht. Wir haben es in mehrfacher Weise mit einem Verfassungskonflikt zu tun.
Erstens. Die durch Wahlen legitimierte Regierung steht mit ihrer Atompolitik in diesem speziellen Punkt im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung des Volkes. Selbstverständlich muß die Regierung in einer Demokratie auch zwischen den Wahlen die Mehrheitsmeinung des Volkes respektieren. Im übrigen, Herr Scholz - das sage ich speziell Ihnen -: Die bulgarische Regierung hatte die absolute Mehrheit im Parlament. Sie hatten nichts dagegen einzuwenden, als sie vom Volk ohne Wahlen zum Teufel gejagt wurde.
Zweitens. Viele Menschen sehen durch die Risiken der Atomkraftnutzung ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Gefahr. Dieses Recht ist prinzipiell nicht verhandelbar. Daß Risiken vorhanden sind, ist ja wohl unbestreitbar. Da diese Risiken das Leben von Menschen betreffen, ist es die Sache dieser Menschen, dieses Risiko zu bewerten. Jede demokratische Regierung muß diese individuelle Risikobewertung respektieren. Wenn der Staat bewußt eine Politik betreibt, die das Recht auf Leben gefähr-
Rolf Köhne
det - das tun Sie mit Ihrer Atompolitik -, steht diesen Menschen ein Notwehrrecht zu.
Drittens. Ich halte es für ein fundamentales Prinzip der Demokratie, daß Entscheidungen später auch widerrufen werden können. Dieses Prinzip wird jedoch mit der Atomenergienutzung verletzt. Obwohl eine Regierung nur auf vier Jahre gewählt ist, treffen Sie mit Ihrer Atompolitik Entscheidungen, deren Konsequenzen noch in 1 000, ja sogar in 10 Millionen Jahren zu spüren sein werden. Mit jedem Tag vergrößern Sie das Entsorgungsproblem, für das es weltweit, auch nach 30 Jahren friedlicher Atomkraftnutzung, noch immer keine Lösung gibt.
Auch diese Frage sollten Sie sich noch stellen: Wie sollen die Gemeinschaftskundelehrer den Schülern in Dannenberg, die momentan ihre Turnhallen besetzen, erklären, was sich um sie herum abspielt? Was sollen diese Schüler über unseren Staat lernen?
In einer Situation, in der ein solcher Verfassungskonflikt zu eskalieren droht, kann eine Bundesregierung natürlich auf ihr Recht pochen und weiter Öl ins Feuer gießen. Genau das tun Sie, wenn Sie mit einer Bürgerkriegsarmee von 30 000 Polizisten den CastorTransport durchsetzen wollen. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel - auch dies ist ein rechtsstaatlicher Grundsatz - bleibt nicht gewahrt.
Lassen Sie deshalb Vernunft einkehren! Eine Regierung, die ihren Amtseid ernst nimmt, die Verantwortungsbewußtsein hat, muß in einer solchen Situation die Castor-Transporte sofort stoppen. Leiten Sie einen gesellschaftlichen Verständigungsprozeß über die weitere Nutzung der Atomenergie ein! Lassen Sie die 30 000 Polizisten zu Hause! Auch für sie wäre es angenehmer, das nächste Wochenende im Freundes- und Familienkreis zu verbringen.
Für viele Polizisten ist es unangenehm, unter Ihren Fehlentscheidungen leiden zu müssen. Haben Sie gestern die Tränen der Polizisten in Dannenberg gesehen?
Außerdem, Herr Kanther, ist es unerträglich, daß Sie Ihren Machtapparat, das Bundesamt für Verfassungsschutz, dazu mißbrauchen, Bürger zu bespitzeln, die nichts anderes tun, als ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen.
Es ist unerträglich, daß Sie den gewaltfreien und friedlichen Widerstand kriminalisieren und Teile davon in die Nähe des Terrorismus rücken. Rufen Sie Ihre IMs zurück, Herr Kanther!
Herr Köhne, der Ausdruck „IM" kann hier nicht stehenbleiben.
Ich nehme diesen Ausdruck zurück, Frau Präsidentin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der Regierungskoalition, heute liegt es auch an Ihnen, Vernunft einkehren zu lassen. Ich fordere Sie deshalb auf, dem vorliegenden Entschließungsantrag der Grünen zuzustimmen und den bevorstehenden Castor-Transport zu stoppen. Das ist das mindeste, was Sie heute tun müssen.
Aber ich werbe natürlich auch für unseren Antrag. Wir gehen angesichts der vorhandenen Überkapazitäten in der Stromerzeugung davon aus, daß der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie jederzeit möglich ist, ohne daß ein Licht zu flackern beginnt. Auch ohne Atomkraftwerke hätten wir bei Abruf der Winterspitzenlast noch 15 Prozent Leistungsreserve.
Wir schlagen deshalb vor, durch Änderung der gesetzlichen Grundlagen binnen eines Jahres die Atomkraftnutzung zu beenden. Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, die Betriebsgenehmigungen der ältesten und unsichersten Reaktoren gemäß § 17 des Atomgesetzes sofort zu widerrufen. Hierzu rechnen wir ausdrücklich auch das AKW Krümmel, weil angesichts der ungeklärten Ursache der überdurchschnittlich großen Zahl von Leukämieerkrankungen in der dort ansässigen Bevölkerung ein Weiterbetrieb nicht länger zugemutet werden kann.
Wir halten den Ausstieg aus der Atomenergie für unumgänglich, um zu einem Konsens über die zukünftige Energieversorgung zu kommen. Wir wollen, daß unter breiter Bürgerbeteiligung dann von Grund auf neu über ein Entsorgungskonzept nachgedacht wird. Natürlich ist es eine nationale Aufgabe, den bisher produzierten radioaktiven Müll irgendwie einer sicheren Endlagerung zuzuführen. Das können und wollen wir anderen Ländern und Völkern nicht aufbürden. Aber ich erinnere daran: Es gibt weltweit noch keine Antwort auf die Frage, wie denn dieser Müll sicher zu entsorgen ist. Solange das so ist, ist es völlig unsinnig, den Müll quer durch Deutschland zu kutschieren. Übergangsweise sollte man über eine trockene Zwischenlagerung bei den - hoffentlich stillgelegten - Atomkraftwerken nachdenken.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer den Verlauf der bisherigen Debatte aufmerksam aufgenommen hat, wird zunächst einmal feststellen, daß leider Gottes das, was die Menschen - ich meine damit nicht nur die Einwohner von Lüchow-Dannenberg, sondern auch die Polizeibeamten - vor Ort an Belastung aus dem Konflikt, über den wir hier disku-
Kurt-Dieter Grill
tieren, haben, kaum eine Rolle spielt. Ich sage das, weil mir natürlich bewußt ist - gerade auch nach dem gestrigen Besuch vor Ort -, wie wenig wir eigentlich in der Lage sind, von hier aus die konkreten Probleme des Tages und des tagtäglichen Erlebens wirklich zu lösen. Ich sage das, weil ich der Meinung bin, daß viele, die hier - gerade von der linken Seite des Hauses - zu dieser Frage geredet haben, sich die Frage vorlegen lassen müssen, warum sie mit dem, was sie an Kampagnen vor Ort veranstalten, die Menschen in Lüchow-Dannenberg in eine unerträgliche Situation treiben und sich anschließend hier darüber beschweren, daß es diese Situation gibt, meine Damen und Herren.
Herr Köhne, ich habe eigentlich gar keine Lust, auf Ihren Beitrag einzugehen. Aber wenn man hört, daß jemand von der PDS über die Mehrheit des Volkes auch zwischen Wahlen spricht, daß jemand, der Greifswald und Morsleben zu verantworten hat, so über die Kernenergienutzung redet, dann fällt mir wirklich nichts mehr ein, als Ihnen zuzurufen, daß Sie sich schämen sollten, hier heute eine solche Rolle zu spielen.
Das zweite, meine Damen und Herren: Der Kollege Fischer ist nicht mehr im Raum; ich hätte ihm sonst gerne gesagt, daß das Bild, das er hier von den Grünen entworfen hat
- ja, er zieht sich um -, nicht stimmt. Vor Ort ist auch von dein Grünen der Aufruf zum Schienensägen verteilt worden. Es gibt da keine Gewaltfreiheit, sondern die Planung von Gewalt - auch von den Grünen. Die Gewalt wird von Ihnen politisch mitgetragen.
Wenn Herr Fischer dazu übergegangen ist, hier eine Anzeige über angebliche Gewaltfreiheit vorzustellen, die von der Bürgerinitiative, von Greenpeace und anderen gefordert wird, dann muß man sich einmal mit der Frage dessen, was hier als Gewaltfreiheit definiert wird, auseinandersetzen. Es ist eben so, daß wir es hier mit einer Doppelstrategie zu tun haben, gerade von dem Sprecher der Bürgerinitiative, Herrn Ehmke. Er tritt in Rundfunk, Presse und Fernsehen als der Gewaltfreie, als der Friedliche auf. Dann wird man aber wohl nachfragen dürfen, was er denn eigentlich macht.
Ich will zunächst einmal darauf hinweisen, daß manches, was sich vor Ort ereignet, schon geplant war, als es die Debatte über Castor-Transporte noch gar nicht gab. Es ist die Ausprägung der „Freien Republik Wendland" mit dem Ziel - was Anfang der 80er Jahre dokumentiert wurde -, den Landkreis Lüchow-Dannenberg nach Art. 29 GG aus dem Bundesgebiet auszukoppeln. Das ist die Realität!
Schauen wir uns einmal an, was Herr Ehmke schreibt. Ich zitiere aus seinen eigenen Schriften. Das
ist also nichts, was ich mir mit gezielter politischer Diffamierung aneignen müßte. Da heißt es:
Es ist wieder an der Zeit, durch gezielte, verantwortungsvolle Sabotage den Preis der Bahn für die Durchführung dieser Transporte in die Höhe zu treiben.
Weiter heißt es:
... sich zusammenzuschließen, in Gruppen zu organisieren und Banden zu bilden.
Wer zur Bandenbildung aufruft, hat kein friedliches Bild - weder im Kopf noch im Herzen.
Dann kommt der entscheidende Satz aus der „Anti Atom Aktuell" vom April 1996: „Es darf keine Spaltung der Bewegung in friedlich und militant geben." Genau dieser Satz ist der Schlüssel zu der Frage, wie wir mit dem angeblich friedlichen Widerstand vor Ort umgehen müssen.
Es gibt keine Trennung von friedlich und militant; Kontaktadresse: Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, Telefon 46 84. - Das ist die Realität!
Deswegen hätte ich ganz gerne gesehen, wenn der eine oder andere, der sich kritisch mit der Frage auseinandersetzt, was denn in diesen Tagen in LüchowDannenberg und in den Nachbarkreisen passiert, ein kritisches Wort zu dem gesagt hätte, was seit Monaten und Jahren vor Ort an Hetzkampagnen, an Angstmache abläuft. Wir haben keine rationale Auseinandersetzung, sondern wir haben den Versuch, mit einer totalen Emotionalisierung der Bevölkerung den Ausstieg aus der Atomenergie zu erreichen.
Es geht nicht um die Castor-Transporte, sondern es geht um mehr.
Denn der gleiche Herr Ehmke hat nach dem ersten Castor-Transport schriftlich niedergelegt - man muß sich keine große Mühe machen, das zu finden -, daß es eben nicht um den Castor-Transport geht, sondern um die Neuordnung der linken Politik nach dem Zusammenbruch der DDR. Wer dies so sagt, der instrumentalisiert die Ängste der Menschen für politische Ziele und nicht gegen den Castor-Transport;
dem geht es nicht um die Sicherheit der Menschen, dem geht es nicht um ihre Ängste. Vielmehr instrumentalisiert er schamlos Menschen, vor allen Dingen - ich komme darauf zurück - Kinder, für seine politischen Zwecke.
Herr Glogowski, ich fand es interessant, daß Sie einen historischen Ausflug gemacht haben. In dem Zusammenhang haben Sie aber vollkommen vergessen, zu sagen, daß die Regierung Albrecht im November
Kurt-Dieter Grill
1976 - ich schreibe es Ihnen noch einmal ins Stammbuch -
unter Druck der Regierung Schmidt innerhalb einer Woche einen Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum ausweisen sollte. Damals hätte man unter Beteiligung Ihres Parteifreundes Kreibohm beinahe die drei Vertreter der Bundesregierung rausgeschmissen, weil sie sich auf eine Zusage des SPD-Ministerprasidenten Kubel beriefen und der Meinung waren, das Kabinett Albrecht habe nichts weiter zu tun, als diese Zusage einzuhalten. Das ist die Realität.
Ein weiterer Punkt: Die Doppelstrategie der Sozialdemokraten nahm damals ihren Anfang. Helmut Schmidt hat sich am Ende des Gorleben-Hearings nicht an die Seite von Ernst Albrecht und Carl Friedrich von Weizsäcker gestellt, um zu sagen „Dies ist meine Verantwortung; dies ist auch die Verantwortung des Bundes", sondern hat sich 14 Tage vor dem Versuch, in einer sechstägigen Veranstaltung über die gesellschaftspolitischen, die technischen Konflikte eines solchen Projektes zu diskutieren, mit den Kernkraftgegnern getroffen und Ernst Albrecht im Stich gelassen. Das ist die Doppelstrategie, die wir bei Ihnen bis heute erleben.
Und dann sprechen Sie von Moral und klugem Rechtsstaat. Wenn Sie akzeptieren, daß andere Wände aufstellen, gegen die der Rechtsstaat läuft, und dann fordern, daß Schluß sein müsse mit diesem Rechtsstaat, dann haben wir nicht darüber zu diskutieren, wann mit dem Rechtsstaat Schluß ist.
Vielmehr geht es darum, meine Damen und Herren, ob wir die Wände akzeptieren, die andere uns mit politischen Absichten in den Weg stellen wollen.
Ich hätte mir gewünscht, Herr Glogowski, daß heute nicht nur Frau Griefahn, sondern auch der Ministerpräsident neben Ihnen gesessen hätte. Denn Sie müssen als Innenminister des Landes Niedersachsen mit Ihren Polizisten einen Teil dieser Doppelstrategie von Schröder und Griefahn bis in die jüngste Zeit hinein aushalten.
Frau Griefahn war es, die vor Ort gehetzt hat.
Frau Griefahn hat von Leichtbauhalle und Tennishalle gesprochen. Frau Griefahn hat das Recht gebrochen mit dem Ziel, den Bund in Schwierigkeiten zu bringen. Sie haben noch nicht einmal das Geld, um die Schäden, die Frau Griefahn dem Lande Niedersachsen in Höhe von 100 Millionen DM zugefügt hat, zu begleichen.
Meine Damen und Herren, wer so wie Frau Griefahn, wer so wie die niedersächsische Landesregierung dafür gesorgt hat, daß Rechtsbruch zum Mittel der Politik wird - ich kann Ihnen das haarklein beweisen -, der sollte sich heute nicht wundern, daß sich andere genau darauf berufen und damit ihr Widerstandsrecht und anderes mehr legitimieren. Was hat Gerhard Schröder bei dem persönlichen Angriff auf ihn in Hitzacker gesagt, als er selber betroffen war, und zwar durch die Leute, die als friedlich gelten? Er hat sich in Hitzacker in das Kurhaus gestellt und genau das gesagt, worüber wir diskutieren müssen. Er hat nämlich ausgeführt, es handele sich um totalitäre Ansätze; an diesem Widerstand sei nichts demokratisch.
Das ist das, was Ihr Ministerpräsident sagt, wenn die große Öffentlichkeit nicht zuhört.
Es ist, Herr Glogowski - da sind wir durchaus einer Meinung -, schon eine Katastrophe, was der Hauptverwaltungsbeamte des Landkreises Lüchow-Dannenberg macht und was die Landesregierung letztendlich schlicht und einfach akzeptieren muß. Vor mir liegt die Verfügung der Bezirksregierung Lüneburg zu der Frage des übertragenen staatlichen Wirkungskreises, des Versammlungsrechts. Der Landrat des Landkreises Lüchow-Dannenberg hat seine Ablehnung eines Demonstrationsverbotes nicht juristisch begründet. Er hat keinerlei Argumente im Sinne des Rechtes. In der Verfügung steht vielmehr:
In der Besprechung hat der Landrat des Landkreises Lüchow-Dannenberg sehr deutlich zu erkennen gegeben, daß mit Rücksicht auf die Koalitionsvereinbarung unter keinen Umständen in den zuständigen Gremien mit einem Beschluß für ein Demonstrationsverbot gerechnet werden kann.
In der Koalitionsvereinbarung heißt es:
Die drei Fraktionen unterstützen den gewaltfreien, demonstrativen Widerstand gegen die Castor-Transporte und alle Atomanlagen.
Meine Damen und Herren, wer politische Beschlüsse zur Maßgabe des Rechts nimmt, ist am Anfang des Endes des Rechtsstaates; denn er akzeptiert, daß politische Meinungen Recht setzen können.
- Schreien Sie ruhig, Sie kommen nicht darum herum: Wenn jemand seinen politischen Willen an die Stelle des mehrheitlich beschlossenen Rechts setzt, dann ist dies das Ende des Rechtsstaates und der Demokratie, weil sich der Bürger auf gewählte
Kurt-Dieter Grill
Mehrheiten nicht mehr verlassen kann. Das ist die Realität.
In Wahrheit ist das auch gar keine technische Blokkade, sondern es ist eine politische Blockade. Es ist schon schlimm, wenn diejenigen, die wie Joschka Fischer gegen die nationale Entsorgung sind, auch noch sagen, moralisch und ethisch sei es unverantwortlich, Brennelemente im Ausland zu entsorgen. Herr Jüttner von der SPD ist dafür, die Brennstäbe im Ausland zwischenzulagern. Herr Lafontaine hat am 24. Februar 1997 gesagt: „Wir wollen kein Atomklo in Niedersachsen, wir wollen kein Atomklo hier, und wir wollen kein Atomklo dort." Ich sage Ihnen einmal, was diejenigen, deren Rede vor Moral trieft, zum Atomklo Deutschlands machen: 134 Transporte abgebrannter Brennelemente aus Niedersachsen, aus Hessen, aus Schleswig-Holstein gingen nach La Hague. Das ist Ihr Atomklo!
Sie sind nicht in der Lage, Ihren eigenen ethischen und moralischen Maßstäben gerecht zu werden.
- Regen Sie sich ruhig auf, Herr Fischer! Sie sind zwar gegen die Plutoniumwirtschaft, aber Sie schikken die Castor-Brennelemente unter dem Vorwand der Wiederaufarbeitung nach Frankreich.
- Da kommen keine Weisungen.
Sie machen das so. Herr Fischer, Sie sind der letzte, der uns irgendwelche moralischen Vorträge zu halten hat.
Ihr Ministerium hat im Januar 1993 bescheinigt, daß der Brennelemente-Transport nach Gorleben gegebenenfalls zurückkommen könne, wenn der CastorDeckel unsicher ist. Das war im Januar 1993, da waren Sie hessischer Umweltminister.
Ich halte es für schlimm, daß diejenigen, die bei diesem Transport die Moral, das Recht und die friedliche
Bürgerschaft so hochhalten, die einen einzigen Castor-Transport nach Gorleben zu einer nationalen Katastrophe erklären, sonst auf Transporte nach Frankreich setzen, bei denen null Polizei anwesend ist.
Ein letztes Wort - ich will auf vieles verzichten, was mir heute morgen so durch den Kopf gegangen ist -:
Wenn Herr Ehmke und die, die Sie zitiert haben, wirklich Interesse an einem friedlichen Widerstand haben, dann bitte ich Sie sehr herzlich von dieser Stelle aus: Setzen Sie den Planungen des Widerstandes in Lüchow-Dannenberg ein Ende! Herr Ehmke hat in der Zeitung „Restrisiko" der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, Ausgabe Februar 1997, eine Errichtung von Camps entlang der Castor-Strecke veröffentlicht. Das macht nicht einer, der Friedlichkeit im Kopf und im Herzen hat.
Das Land Niedersachsen hat dieser Bürgerinitiative jetzt übrigens endlich die Gemeinnützigkeit aberkannt; sie war vorher nämlich gemeinnützig.
- Das ist ein alter Spruch, den mag ich nicht so gerne.
In diesen Planungen für Camps - nur darauf will ich noch hinweisen -, die die Castor-Transporte überfallen sollen, ist auch ein Kindercamp vorgesehen.
Wer gestern in Lüchow-Dannenberg bei der Kundgebung acht- bis zehnjährige Kinder erlebt hat, wer ein Kindercamp zum Zwecke des Widerstands gegen den Castor plant, der hat nicht Demokratie, der hat nicht den Castor im Sinn, sondern treibt die Menschen in eine unendlich unverantwortliche Auseinandersetzung. Er instrumentalisiert die Polizei
und hat nicht diesen Staat, die Sicherheit der Menschen im Kopf, sondern nur sein politisches Ziel: eine
neue linke Politik, den Ausstieg aus der Kernenergie.
Dafür darf nicht jedes Mittel recht sein. Dafür sind Wahlkämpfe da, das geht nur mit Mehrheiten in Parlamenten. Holen Sie sich diese, dann können Sie entscheiden. Aber solange die Mehrheit in diesem deutschen Bundestag entscheidet, wie das Recht in diesem Lande aussieht, werden wir uns nicht damit abfinden dürfen, daß Leute wie Ehmke und andere Kinder in einen unverantwortlichen Kampf schicken.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Eva BullingSchröter.
Herr Grill hat der PDS vorgeworfen, sie habe kein Recht, über Demokratie zu reden. Ich finde es sehr interessant, zu hören, welche Partei welcher sagen darf, ob sie über Demokratie reden darf oder nicht. Das ist sehr interessant!
Sie haben uns weiter vorgeworfen, wir hätten Morsleben und Greifswald zu verantworten. Das ist richtig, das stimmt so. Aber die Genehmigung von Morsleben läuft im Jahre 2000 aus, und die Betreiber versuchen jetzt, von der Bundesregierung die Genehmigung zum Weiterbetrieb bis zum Jahre 2005 zu erhalten. Das ist Ihre Politik; dafür sind nicht mehr wir verantwortlich.
Ferner möchte ich sagen: Die PDS ist eine gesamtdeutsche Partei. In ihr gibt es nicht nur Mitglieder aus den neuen Bundesländern, sondern auch aus den alten. Wir haben uns gegen Atomkraft eingesetzt, beispielsweise in Wackersdorf in Bayern.
Ich möchte kurz berichten, was dort abgegangen ist: Wir fuhren mit einem Bus des BUND-Naturschutz in Bayern nach Wackersdorf. Das ist sicher keine linke Organisation; in ihr sind sehr viele CSU-Mitglieder. Die Leute, die in diesem Bus mitgefahren sind, haben dann gelernt, was Demokratie ist, als älteren Frauen, die strickend im Bus saßen, Maschinengewehre unter die Nase gehalten wurden. Sie haben ganz schnell gelernt, was Demokratie in diesem Lande heißt.
Sie haben es auch gelernt, als wir in Wackersdorf am Zaun standen und mit CS-Gas besprüht wurden. Ein älterer Herr, der an Asthma litt, mußte sehr schnell ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ich muß dazu sagen: Wenn das Ihr Verständnis von Demokratie ist, dann haben wir sicher ein sehr unterschiedliches Verständnis von Demokratie.
Es wurde hier über Gewalttätigkeit gesprochen. Dazu muß ich sagen: Wir, die PDS, lehnen Gewalttätigkeit ab. Sie aber haben nur ein Ziel: Sie wollen die parlamentarische und die außerparlamentarische Opposition spalten; Sie wollen uns auseinanderdividieren. Das werden wir nicht zulassen. Ich denke, nur gemeinsam können wir etwas erreichen.
Natürlich geht es um den Ausstieg aus der Atomkraft. Um was denn sonst? Dafür werden wir, die Opposition, gemeinsam kämpfen.
Es wird keine Antwort gegeben. - Als nächster spricht der Kollege Dietmar Schütz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Grill hat gerade darauf hingewiesen, daß die Bevölkerung vor Ort und die Polizisten in unserer Debatte keine Rolle spielten. Herr Grill, genau das Gegenteil ist der Fall.
Die Bevölkerung vor Ort und sogar Teile der CDU in den Kreistagen wollen Ihre verfehlte Atompolitik nicht und demonstrieren deshalb in ihrer Mehrheit dagegen. So ist die Situation.
Der eigentliche Konflikt ist doch, daß eine Regierungsmehrheit bei einem politischen Einzelthema gegen die Bevölkerung agiert, die in ihrer Mehrheit gegen die Nutzung der Kernenergie ist. Zur Zeit sind über 70 Prozent der Bürger für einen mittelfristigen Ausstieg aus der Kernenergie. Nach den bisherigen Großeinsätzen der Polizei ist fraglich, ob dieser Dauerkonflikt zwischen der Regierungsmehrheit in dieser Einzelfrage und der Mehrheit der Bevölkerung nur durch Polizeieinsatz gelöst werden kann. Das ist doch unsinnig.
Eine „Politik mit dem Kopf durch die Wand" verkennt, daß wir ein politisches Abwägungsgebot beachten müssen; der Grundsatz „Recht darf dem Unrecht nicht weichen" verkennt, daß wir politisch nicht sprachunfähig werden dürfen.
Ich will darauf hinweisen, daß Sie, Herr Grill, den Konflikt, den wir mit Herrn Albrecht hatten, auf eine falsche Ebene gehoben haben. Es geht nicht um die Frage von 1976, als sich Herr Albrecht mit der Bundesregierung angelegt hatte, sondern es geht um die Frage aus dem Jahre 1979, als die Wiederaufbereitungsanlage im Wendland nicht mehr installiert werden sollte. Damals hat Herr Albrecht gesagt: Das ist politisch nicht durchsetzbar. - Recht hat er gehabt, auf eine solche Situation anders zu reagieren, als Sie es heute tun; Sie wollen sich nur durchsetzen.
Es muß doch die Frage gestellt werden dürfen, welcher unabdingbare Zwang besteht, diese Transporte durchzuführen.
Dieser Druck kann doch nicht allein darin bestehen, daß man juristisch im Recht ist. Muß und darf dieser Rechtsanspruch immer nachdrücklich durchgesetzt werden, oder sind nicht vorher alle Wege, die Lösungen mit höherer Akzeptanz anbieten, politisch auszuloten?
Der naheliegende Ausweg aus dieser Konfrontation, nämlich sofort mit dem Ausstieg aus der Kernkraftnutzung zu beginnen, ist durch die Mehrheit dieses Hauses verstellt. Wir aber bleiben bei der Ausstiegsposition, weil Reaktorkatastrophen mit unabsehbarem Schadensausmaß immer noch nicht auszuschließen sind, weil die Entsorgung immer noch nicht geklärt ist und weil wir die Gefahr der Proliferation von Plutonium immer noch nicht ausschließen können.
Die Koalition verweigert sich nach wie vor diesen Einsichten. Deshalb ist natürlich die Fragestellung legitim, wie man unbeschadet der unterschiedlichen Grundpositionen über die Nutzung der Kernenergie zu einem Weg findet, der keine Festlegung nach der einen oder anderen Seite verlangt. Wir müssen in diesem Hause einen politischen Ausweg aus der
Dietmar Schütz
schon rituellen Mobilisierung von Polizei und Demonstranten aufzeigen.
Dazu hat Herr Kanther in seiner Regierungserklärung mit keinem einzigen Wort beigetragen. Es wurde eine reine „Law and order" -Rede ohne einen Beitrag zur Lösung der Eskalation gehalten.
Es wurde in dieser Frage nicht abgerüstet, sondern aufgerüstet.
Ich finde es sehr schade, wie dort geschürt worden ist.
Gespräche, die allein die Fragestellung der Entsorgung zum Gegenstand haben, um wichtige Schritte im Rahmen der jeweiligen Positionen auszuloten, sind geboten. Diese Gespräche sind kein Verrat am Ausstiegsbeschluß der Sozialdemokratie und natürlich auch kein Kurswechsel in der Atompolitik. Unsere Vorstellung, Entsorgungswege konkret festzuschreiben und eine Verständigung über notwendige Zwischenschritte zu erzielen, ist nicht nur naheliegend, sondern auch vernünftig. Dabei ist völlig klar, daß der Castor-Sammeltransport zum jetzigen Zeitpunkt ein derartiges Gespräch sehr belastet. Wie seine beiden Vorgänger ist dieser Transport zwar rechtlich zulässig, in der Sache aber in hohem Maße politisch unvernünftig, und er belastet jedes Gespräch in dieser Frage.
Wir alle wissen, daß auf Grund der Lagerkapazitäten in den Kernkraftwerken keine zwingenden Gründe für den sofortigen Transport abgebrannter Brennelemente bestehen. In einer Antwort auf eine schriftliche Frage der Grünen hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr selbst festgestellt, daß mit Ausnahme von Neckarwestheim I alle Kernkraftwerke über zum Teil erhebliche freie Zwischenlagerkapazitäten verfügen würden. In Neckarwestheim ist der Nachbarblock II mit erheblichen Zwischenlagerkapazitäten ausgestattet. Es besteht also überhaupt kein Anlaß, den Transport hic et nunc durchzuführen, nur um den Rechtsstandpunkt durchzusetzen.
In Wirklichkeit geht es nur um eine politische Willensbekundung und um eine Demonstration des ProAtom-Kurses dieser Bundesregierung. Mit diesem Kurs der Konfrontation und des energiepolitischen Fundamentalismus kommen wir nicht mehr weiter.
Ich fordere Sie auf: Genehmigen Sie sich eine Denkpause - nicht als Pause vom Denken, sondern als Pause zum Nachdenken. Setzen Sie die CastorTransporte aus, und lassen Sie uns gemeinsam nach einer sinnvollen Lösung suchen! Ein Transportmoratorium macht Sinn, denn es leistet einen Beitrag zu einer gebotenen Deeskalation zwischen Demonstranten und Ordnungskräften und holt unsere jungen Polizisten aus einer politisch zu verantwortenden Konfliktsituation heraus, für die weder sie persönlich noch die Gesellschaft weiter in Anspruch genommen werden können.
Ein solches Moratorium würde diese wahnsinnigen Kosten und die riesigen Polizeiaufgebote nicht länger erforderlich machen. Es ist doch nicht mehr hinnehmbar, daß wir bei der vorigen Demonstration das größte Polizeiaufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik hatten und es dieses Mal erneut haben werden. Wenn Sie nichts ändern, haben wir es möglicherweise auch das nächste Mal. Wir können in dieser Frage doch nicht so weitermachen. Wir brauchen ein Moratorium.
Für eine Denkpause ist das sogenannte Arbeitspapier zu den Konsensgesprächen zumindest in dem Teil, der sich mit der Entsorgungsfrage beschäftigt, eine vernünftige Diskussionsgrundlage. Ich gehe darauf im einzelnen gleich noch einmal ein.
Allerdings, liebe Frau Merkel, wenn unbeschadet der Grundpositionen verhandelt werden soll, tangiert eine Option auf die Realisierung einer nächsten Reaktorgeneration die Grundsatzposition der Sozialdemokratie zum Ausstieg. Eine Verknüpfung der Entsorgungsfrage mit der Option auf eine nächste Reaktorgeneration, wie sie auch Herr Minister Rexrodt in der Debatte am vorherigen Mittwoch vertreten hat, widerspricht diesem Beschluß und läßt eine gemeinsame Lösung überhaupt nicht zu. Wir sollten wirklich und ehrlich nur entlang bestimmter Entsorgungskonzeptionen diskutieren und unsere Gespräche nicht immer wieder mit diesen Positionen, die in der Sache nicht weiterführen, zusätzlich belasten.
Wir Sozialdemokraten haben bereits vor geraumer Zeit ein Gesamtkonzept zur Weiterentwicklung der Entsorgungspolitik vorgelegt. Seine Eckpunkte sind nach wie vor richtig. Es handelt sich um die Begrenzung des radioaktiven Inventars, Festschreibung der direkten Endlagerung als des einzigen Entsorgungspfades und mehrere Zwischenlagerstandorte mit Lastenteilung unter allen Bundesländern, ein sogenanntes „burden sharing" .
Ich sehe Anzeichen dafür, daß auf Grund der geänderten Parameter zu Fortschritten in der Entsorgung eine Verständigung möglich ist; denn klar ist: Weder das Ja noch das Nein zum Ausstieg befreit uns von der gemeinsamen Verantwortung für eine sichere und der Bevölkerung zumutbare Entsorgung.
Wir können heute in dieser Frage zumindest für einen Zeitraum leichter eine gemeinsame Antwort finden als noch vor wenigen Jahren, weil sich einige Parameter in der Einschätzung der Endlager- und Zwischenlagerkonzeptionen geändert haben. Diese Parameter sind eine im Vergleich zu früheren Prognosen deutlich reduzierte Menge der mittel- und hochaktiven Abfälle, die Möglichkeit der direkten Endlagerung von Abfällen aller Kategorien in einem Lager, Abklingzeiten für hochaktive Stoffe, die uns eine definitive Entscheidung über ein Endlager für die Stoffgruppen erst nach 35 bis 40 Jahren auferlegen. Hier
Dietmar Schütz
könnten und hier sollten wir ansetzen, um zu einer Verständigung zu gelangen.
Auf folgenden Feldern, die wir schon diskutiert haben, sehe ich dazu Möglichkeiten:
Erstens. Schaffung von regionalen Zwischenlagerkapazitäten. Wir haben immer betont, daß wir aus Gründen der regionalen Ausgewogenheit und des „burden sharing" und auch aus den Prinzipien der Transportoptimierung und der Sicherung das Zwischenlager Gorleben nur für norddeutsche Kraftwerke vorhalten wollen. Das Zwischenlager in Ahaus wird hinsichtlich der Kapazitäten für abgebrannte Brennelemente erweitert, um mit den regional nahegelegenen Kraftwerken kooperieren zu können. In Süddeutschland wird zusätzliche Zwischenlagerkapazität geschaffen.
Zweitens: direkte Endlagerung. Die direkte Endlagerung wird als einziger Entsorgungspfad geschaffen. Dadurch entfallen die Gefahren der Strahlenbelastung und auch der zusätzlichen Belastung durch Plutonium. Eine Konditionierungsanlage, auch eine Pilotkonditionierungsanlage wird nicht mehr erforderlich sein.
Drittens: die unverzügliche Schließung von Morsleben. Für das Endlager Morsleben wird unverzüglich und ausschließlich ein Planfeststellungsverfahren auf Schließung durchgeführt. An dem auf Grund des Einigungsvertrages fixierten Datum Juni 2000 als Enddatum der Einlagerung wird nicht gerüttelt; das Datum wird beibehalten. Davon unabhängig ist die Frage, wieweit ein Planfeststellungsverfahren zu reichen hat.
Herr Kollege, Sie achten bitte auf die Zeit.
Ich achte auf die Zeit.
Das Arbeitspapier formuliert hierzu eine andere Position.
Eine Verlängerung der Einlagerungszeit würde vom Einigungsvertrag abweichen und würde, so glaube ich, verfassungsrechtlich gar nicht durchsetzbar sein.
Viertens. Die Frage der Endlagerung in Gorleben bleibt offen. Wir haben immer noch keine Endlagerung.
Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten sind zu konstruktiven Gesprächen über diese Modalitäten bereit. Wir sollten endlich auf eine Deeskalation hinwirken und mit dem Transportmoratorium beginnen. Auf diese Weise können wir weitermachen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Walter Hirche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schütz, ich begrüße sehr, daß Sie etwas zum Thema Energiekonsens gesagt haben und auch das Stichwort Deeskalation genannt haben. Ich hätte von Ihnen dann aber auch erwartet, daß Sie - Stichwort: Zwischenlager an anderer Stelle - für die SPD erklären, daß Zwischenlager, egal wo sie sich in der Bundesrepublik befinden, überall ungefährlich sind, daß Transporte, gleich wohin sie gehen, überall ungefährlich sind. Dies wäre ein Beitrag der SPD zur Deeskalation in der Frage, die jetzt ansteht.
Eine zweite Bemerkung. Herr Schütz sagt, wir brauchten als einzigen Weg ein direktes Endlager. Diese Möglichkeit ist ins Atomgesetz aufgenommen worden. Aber genau in diesem Zusammenhang brauchen wir Zwischenlager. Sie lassen es jetzt zu, daß überall Verdächtigungen gegen diese Zwischenlager aufkommen, als ginge davon eine Gefahr aus. Das heißt, Sie tragen in keiner Weise zur Deeskalation bei.
Ein Drittes. Wenn Sie sagen, die Wiederaufarbeitung würde auf diesem Wege ausgeschaltet, dann frage ich Sie, wie sich das mit der lockeren Bernerkung von Innenminister Glogowski verträgt, daß nämlich gegen die Glaskokillen, die aus Frankreich kommen, richtigerweise völkerrechtlich nichts zu unternehmen ist. Treiben Sie nicht, indem Sie dieser Position über angebliche Gefährlichkeit nicht öffentlich widersprechen, die Leute dazu, Transporte erst nach Frankreich zu schicken, in die Wiederaufarbeitung zu bringen und damit den Weg zu favorisieren, den Sie anschließend für den gefährlicheren halten? Das heißt, alles was Sie tun, widerlegen Sie im nächsten Moment. Sie tragen in keiner Weise etwas zur Deeskalierung bei.
Auch hätte ich mir gewünscht, daß Sie zum Thema Instrumentalisierung von Kindern etwas gesagt hätten;
denn seit der Geschichte um die radioaktive Molke im Emsland, bei der ungefährliches Material ohnehin weiter hätte verwendet werden können, als Kinder losgeschickt wurden, um mit Kerzen zu demonstrieren, wobei eindeutig war, wie hier instrumentalisiert wird, ist das ein Thema der Politik.
Dazu Schweigen der SPD.
Sie heizen die Leute mit Vokabeln an, statt an irgendeiner Stelle zu deeskalieren. Es ist schade, daß Sie diese Chance, einen Beitrag zur Vernunft zu leisten, hier völlig vertan haben.
Herr Kollege Schutz.
Herr Kollege Hirche, Sie haben drei Fragen gestellt. Die Frage der Endlagerung bleibt offen, weil wir in der Tat noch nicht wissen, was in Gorleben herauskommt und wie wir uns dann entscheiden. Wir wollen heute keine Entscheidung ohne gründliche Untersuchung.
Zur zweiten Frage. Eine Zwischenlagerung in den Standorten hat eine ganz massive Transportminimierung zur Folge. Möglicherweise können wir auch in Süddeutschland an den Atomkraftstandorten Zwischenlagerkapazitäten durch den Bau von Lagerhallen schaffen. Dann brauchten wir so gut wie überhaupt keine Transporte.
Zum dritten Punkt. Instrumentalisierung bei der Frage von Gewalt. Wir haben, genauso wie die Grünen, eindeutig gesagt, daß wir mit diesen Bereichen nichts zu tun haben und daß wir uns dagegen aussprechen. Die Sozialdemokraten erklären noch einmal, daß Gewalteskalation eher kontraproduktiv als unterstützend hinsichtlich des Willens der Demonstranten ist. Bei dieser Position bleiben wir.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Ursula Schönberger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Westerwelle,
ich habe in Ihrer Rede über den liberalen Rechtsstaat kein Wort zu Gauweiler und der rechten Demonstration am nächsten Samstag gehört. Ist das Ihre Vorstellung von einem liberalen Staat, daß eine Volkspartei wie die CSU Deckung für Rechtsradikale und Alt- und Neonazis gibt?
Was hier heute von Ihrer Seite und von der rechten Seite des Hauses an Vorstellungen vom mündigen Bürger geäußert worden ist, der immerhin in der Lage sein soll, alle vier Jahre diese Regierung zu wählen, der verhetzt und emotionalisiert werden muß, damit er auf die Straße geht, hat mit der Realität doch überhaupt nichts zu tun.
Das sind Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, daß diese Bundesregierung nichts von ihrem verbohrten Pro-Atom-Kurs abbringen kann: nicht die besten Argumente, nicht das unermeßliche Leid infolge der Katastrophe von Tschernobyl, nicht der erklärte Wille der Mehrheit der Bevölkerung. Wenn
Menschen auf die Straße gehen, ist das eine Volksbewegung, ob Ihnen das paßt, Herr Scholz oder nicht. Das sind Landwirte, das sind Hausfrauen, das sind Schülerinnen und Schüler, die nicht instrumentalisiert werden, sondern die Verantwortung spüren, sich um ihre eigene Zukunft selbst kümmern zu müssen, weil sie von Ihnen nur verraten und verkauft werden.
Das sind Kirchen, die ihre Gemeindehäuser für die erschöpften Demonstranten öffnen wollen. Das ist der Wasserbeschaffungsverband, der sich weigert, die Munition für die Wasserwerfer herzugeben.
Das sind auch Kolleginnen und Kollegen der CDU, die diesmal gesagt haben: Bringt die Transporte nicht ins Wendland!
Eine wirklich souveräne Regierung würde auf die Bevölkerung hören und den Transport noch stoppen. Das ist kein Zurückweichen des Rechtsstaates, sondern der Sieg der Demokratie über eine Politik, die mit Macht und Gewalt diese Transporte durchsetzen will.
Meine Damen und Herren, die öffentliche Auseinandersetzung ist in diesen Tagen durch den CastorTransport bestimmt. Es ist gut, daß wir es geschafft haben, diese öffentliche Diskussion gegen die Versuche von Bundesregierung und Teilen der SPD, das Ganze auf der Ebene einer großkoalitionären Verständigung zu diskutieren, durchzusetzen.
Grundlage der heutigen Debatte aber war, daß wir die gleichen Probleme, die wir mit den Castor-Transporten haben, an jedem Standort haben, an dem es um Atommüll geht: beim Endlager Gorleben, beim Endlager Schacht Konrad, beim Endlager Morsleben, bei den Atommülltransporten und bei der Wiederaufbereitung. Jeder dieser Punkte birgt das gleiche sachliche Risiko und den gleichen sozialen Sprengstoff. An jedem Endlagerstandort gibt es die gleichen Probleme mit der Sicherheit. Es gibt die gleichen Probleme, weil rein nach politischen und ökonomischen Opportunitäten agiert wird. Nicht überall gibt es bisher die gleichen heftigen Auseinandersetzungen wie in Gorleben, aber alle Fälle bergen das Potential, daß sich diese entzünden könnten.
Nehmen wir doch als Beispiel das Endlagerprojekt Morsleben, bei dem das Aufgeben von Sicherheitsaspekten zugunsten rein ökonomischer Kriterien am krassesten ist. Wie wir gestern noch einmal im Umweltausschuß von Herrn Staatssekretär Klinkert gehört haben, soll nach Planung der Bundesregierung der Einigungsvertrag revidiert und das marode Endlager Morsleben nach dem 30. Juni 2000 weiterbetrieben werden. Dafür verschleppt die Bundesumweltministerin sogar das Planfeststellungsverfahren. Seit Mitte letzten Jahres liegt die Vorhabensbeschreibung vom Bundesamt für Strahlenschutz auf dem Tisch der Bundesumweltministerin. Doch an-
Ursula Schönberger
statt diese dem Land Sachsen-Anhalt als Planfeststellungsbehörde zu übersenden, schmort sie dort, und nichts geht voran. Die Sicherheitsmängel im Endlager sind gravierend. Der Verdacht liegt nahe, daß dies auch die Ursache für die Verschleppung des Planfeststellungsverfahrens ist. Müßten dann doch die Standsicherheit, das Schließungskonzept und die Langzeitsicherheit auf den Prüfstand.
Wir fordern - und es ist sehr erfreulich, daß Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, in Ihrem Entschließungsantrag trotz des Schröderschen Konsensentwurfes das gleiche tun - den Stopp der Einlagerung in Morsleben, und wir fordern die Bundesumweltministerin auf: Bringen Sie endlich die notwendigen Unterlagen für das Planfeststellungsverfahren für Morsleben bei.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition: Wenn Sie sagen, das gehe am Thema vorbei, dann schauen Sie sich an, welche Anträge jetzt hier diskutiert werden. Es geht nämlich um das Gesamtproblem der verfehlten Atom- und Entsorgungspolitik.
Beim hochaktiven Müll setzt die Bundesregierung weiter auf das Herumkutschieren und das Verschieben des Atommülls. Perfide ist das Argument, das wir auch heute morgen wieder gehört haben, die Castor-Transporte nach Gorleben würden stattfinden, weil deutscher Müll nicht ins Ausland gebracht werden soll. Tatsächlich dient das Zwischenlager in Gorleben als Stützpunkt für die Internationalisierung der deutschen Atommüllproblematik. Zum einen ist es Auffangbecken für den Müll aus der Auslandsaufarbeitung deutscher Brennelemente, zum anderen soll es laut dem großkoalitionären Verständigungspapier als Wartestation dienen, bis es vielleicht in 30 Jahren eine Lösung geben könnte, vielleicht eine internationale. Immer nach dem Motto: Mal sehen, was sich dann durchsetzen läßt.
Allerdings - da bin ich mir sicher - wird sich ein Verschieben des Atommülls ins Ausland nicht so leicht durchsetzen lassen. Ich sehe, daß in der Gesellschaft die Verantwortung für den hier entstandenen Müll größer ist als bei der Bundesregierung, die von nationaler Verantwortung redet und dann doch anders handelt. Verbieten Sie doch erst einmal die Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente im Ausland. Dafür bekämen Sie sofort die Zustimmung von dieser Seite des Hauses.
Seit Beginn der Produktion von Atommüll in den 50er Jahren fehlt es an Konzepten, die dieser großen Gefahr Rechnung tragen. Schließlich haben wir es
mit einem Müll zu tun, der über Hunderttausende von Jahren radioaktiv strahlt. Wer aber kann heute sagen, wie man einen solchen Müll für Hunderttausende von Jahren tatsächlich von der Biosphäre abschließt? Das kann ich nicht, aber das können auch Sie nicht. Der Unterschied ist: Wir nehmen das Problem ernst und denken darüber nach. Für Sie ist das Problem mit dem Ende der Legislaturperiode erledigt.
Es ist an der Zeit, Verantwortung für die zukünftigen Generationen zu übernehmen. Ich weiß, daß meine Kinder und viele Tausende Generationen nach ihnen mit dem Atommüll werden leben müssen. Das ist ein Erbe, das sie leider nicht ausschlagen können. Aber ich fühle die Pflicht - das ist es, was mich und meine Fraktion mit vielen Menschen in diesem Land und denen, die in diesen Tagen in Wendland auf die Straße gehen, verbindet und was uns von Ihnen, Frau Merkel, und von Ihnen, Herr Kanther, trennt -, wenigstens dafür zu sorgen, daß nicht noch mehr von dem strahlenden Müll unseren Nachkommen aufgebürdet wird, sondern daß die Produktion neuen Atommülls gestoppt wird.
Wir haben die Pflicht, wenigstens dafür zu sorgen, daß ihnen von dem vorhandenen Atommüll möglichst wenig Gefahr droht. Wir müssen verhindern, daß nach dem Motto verfahren wird: Möglichst billig vergraben und vergessen. - Der Müll wird sich sehr schnell zurückmelden, und dann wird es teuer. Wir müssen vielmehr ein wissenschaftlich fundiertes Entsorgungskonzept erarbeiten, das den Gefahren der radioaktiven Altlasten gerecht wird und das den sicheren Schutz von Mensch und Umwelt vor radioaktiver Verseuchung als oberste Leitlinie hat.
Das Wort hat Frau Bundesministerin Dr. Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im vorigen Jahr eine Debatte geführt, die dieser heute sehr ähnelt. Damals ging es auch um einen Castor-Transport nach Gorleben. Wir haben auch damals über das gesprochen, worüber wir heute wieder sprechen müssen, nämlich über die Frage: Was sind die Aufgaben des Rechtsstaates? Es ging auch um die Frage: Was kann jeder in diesem Hause dazu beitragen?
Ich sage jedem, der im Deutschen Bundestag sitzt: Er hat mit seiner Wahl zum Mitglied dieses Parlamentes eine Verantwortung für diesen Rechtsstaat.
Ich sage ganz bewußt: Auch jeder Bürger und jede
Bürgerin im Wendland, egal welcher Meinung er
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
bzw. sie ist, hat eine Verantwortung für diesen Rechtsstaat. Ansonsten ist die Demokratie am Ende.
- Ich will meine Verantwortung - deshalb stehe ich hier - überhaupt nicht verleugnen. Ich werde dazu eindeutig sprechen.
Frau Saibold, Sie haben beklagt, daß die Debatte herzlos ist. Es ist hier heute schon darüber gesprochen worden: Was hat es mit dem Herzen zu tun, wenn man Polizisten, die ganz unzweifelhaft für den Rechtsstaat im Einsatz sind, zum Beispiel kein Wasser gibt, damit sie nicht duschen können? Ich sage auch noch einmal: Was hat es mit dem Herzen zu tun, wenn man Kinder - ich sage das ganz ruhig und auch ganz vorsichtig - nicht davon abhält, Polizisten zu bespucken und damit wirklich in die Verzweiflung zu treiben? Ich sage jedem, der hier sitzt, egal wie er über den Transport und die Energiepolitik denkt: Dies muß verhindert werden.
Es gehört sicherlich zu den spannendsten Fragen in diesen Tagen, wie man in dieser Situation im Wendland Gemeinschaftskundeunterricht durchführt, Herr Köhne. Man führt ihn sicherlich nicht so durch, daß man den Kindern nichts entgegensetzt, wenn es gegen Polizisten und andere Menschen geht, weil man Kindern als erstes beibringen muß, daß jeder Mensch, egal in welcher Funktion er vor einem steht, ein Recht auf gewaltfreien Umgang hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verantwortlich handeln heißt sicherlich auch mit Augenmaß handeln und von dem, was als Wirkung über die Medien bei der Bevölkerung und den Agierenden, egal welcher Meinung sie sind, entsteht, verantwortlich Gebrauch machen.
Herr Glogowski, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Ich finde, Sie sprechen zweizüngig. Auf der einen Seite sagen Sie: Es gibt polizeitaktische Überlegungen, die Transporte nicht einzeln durchzuführen. Ich respektiere es, daß es solche Überlegungen gibt.
- Das ist ein Beschluß der Innenministerkonferenz; mir ist das bekannt.
Das sind polizeitaktische Überlegungen, keine atomrechtlichen. Aber es ist doch zweizüngig, wenn Sie im nächsten Halbsatz - nicht einmal durch einen Punkt getrennt - sagen: Aber lieber wäre mir gar keiner.
- Ja, aber Herr Glogowski steht hier als Vertreter einer Landesregierung, die Genehmigungen für Transporte ausgesprochen hat.
Er kann dann anschließend nicht einfach sagen: Aber lieber wäre mir gar keiner.
Sie spielen in Ihrer verantwortlichen Position mit dem Feuer, Herr Glogowski. Davon gehe ich nicht ab.
- So ist es aus meiner Sicht. Ich habe auch ein Recht auf freie Meinungsäußerung.
Sie spielen mit dem Feuer, wenn Sie jeden Tag beklagen, was die Transporte kosten, wenn Sie sagen, daß sie immer teurer werden und die Bevölkerung quasi ohne jegliche Beantwortung ihrer Fragen vor die Frage stellen: Was darf der Rechtsstaat kosten, und wie lange machen wir es?
Ich muß Ihnen an dieser Stelle ebenfalls ganz klar sagen: Es wäre redlich, wenn Sie auch einmal ein Wort über die verlorenen Prozesse Niedersachsens im Zusammenhang mit atomrechtlichen Genehmigungen, wenn es schon um Kosten geht, sagten.
Ich würde die Debatte, wieviel der Rechtsstaat kosten darf, nicht in dieser Art und Weise führen, jeden Tag wieder die Menschen darüber zu informieren, was das für ein Transport ist, wie alles zusammenhängt und wie viele Polizisten man braucht. Unterschätzen Sie nicht die Wirkung; denn Ihre Polizisten und unser aller Polizisten, die für uns im Einsatz sind, brauchen die Gewißheit, daß die Politik nicht zweizüngig hinter ihnen steht, sondern voll und ganz.
Ansonsten kommen sie in einen unüberwindlichen Zwiespalt.
Wir haben uns heute alle auf den Rechtsstaat berufen, ganz besonders Herr Fischer. Das nehme ich ihm auch ab.
Aber auch ihn, Bündnis 90/Die Grünen und den Bundesvorstand muß ich angesichts ihrer gestrigen Annonce „Kohl und Merkel setzen auf Wasserwerfer und Gummiknüppel" zur Rede stellen. Ich habe Herrn Glogowski kritisiert. Aber ich würde mir einen solchen Satz wegen Andersdenkender und derer, die Recht und Gesetz ausführen, wirklich ersparen, wenn ich auf den Rechtsstaat setze. Ich bitte Sie ganz herzlich darum, nachzudenken, welche Wirkungen Sie damit auf andere ausüben. Das sage ich in ganz freundlicher Art und Weise.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ursula Schönberger?
Ich beantworte jetzt keine Zwischenfragen.
Deshalb sage ich Ihnen: Nehmen Sie solche Anzeigen zurück, weil sie nicht der politischen Wahrheit entsprechen.
Frau Saibold, wenn es um Herzlosigkeit geht, wie Sie es heute genannt haben, dann muß ich Ihnen sagen: Das Herzloseste ist für mich, wenn man mit der Angst spielt.
Daß Menschen Angst haben, weiß ich. Es sind sehr häufig Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, sich wie wir Informationen zu beschaffen, diese zu überprüfen, und die deshalb Angst bekommen.
Ich muß Ihnen als diejenige sagen, die verantwortlich ist für die Strahlenbelastung, die im Zusammenhang mit den Castor-Transporten jetzt auf Menschen und auf Polizisten zukommen könnte: Es wird von Greenpeace - Greenpeace wurde heute von verschiedenen in anderem Zusammenhang zitiert - in einer unglaublichen Art und Weise mit der Angst gespielt.
Herr Glogowski, in dem Punkt sind wir uns ja wohl einig: Sie haben die Transporte genehmigt, das Land Niedersachsen und wir haben sie genehmigt, weil wir davon ausgehen, daß keine Gefahr der Strahlenbelastung für die Bevölkerung und die Polizisten entsteht. Ich denke, das sollten wir mehr als einmal laut und deutlich jeden Tag nach außen betonen, weil genügend Menschen unterwegs sind, die andere in der Region und aus der Polizei in dieser Frage verwirren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß wie Sie alle auch: Politisches Handeln besteht nicht aus der Durchsetzung des Rechtsstaats allein. Diese Bundesregierung weiß, daß sie politisch handeln muß. Das tun wir bei der Steuerreform und bei der Rentenreform. Das tun wir auch bei der Lösung von Fragen der Energiepolitik.
Genau aus diesem Grunde haben wir vor einer Woche eine ganz gute Debatte über Fragen der Zukunft, der Energiepolitik und insbesondere der Entsorgung geführt. Ich sage Ihnen: Ich setze weiter auf dieses Arbeitspapier, weil ich es für eine vernünftige Grundlage halte, die Regionen, über die wir heute diskutieren, zu entlasten, die Belastungen auf das notwendige Maß zu beschränken und damit eine gerechtere Verteilung auf die Regionen zu erreichen. Darauf haben die Menschen in dieser Region genauso ein Recht wie die Menschen in anderen Regionen.
Aber dazu gehört doch auch, daß wir - darum bitte ich Herrn Schütz, der gerade nicht da ist - redlich mit diesem Arbeitspapier umgehen, damit daraus eine politische Entwicklung entstehen kann. Deshalb nutzt es jetzt überhaupt nichts, schon wieder in Halbzitate Dinge hineinzuinterpretieren, die überhaupt nicht dem Arbeitsstand entsprechen. Ich sage das in bezug auf Morsleben; ich sage das auch in bezug auf andere Dinge.
Ein Wort zu Morsleben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch richtig, daß wir gesagt haben: Wir wollen ein Planfeststellungsverfahren zur Schließung machen. Es ist aber genauso richtig, daß jeder weiß, daß, wenn dieses Planfeststellungsverfahren vernünftig durchgeführt werden soll, es dann bis zum Jahre 2000 nicht abgeschlossen sein wird. So wie für die Wismut die Genehmigungen verlängert wurden, wollen wir, daß auch im Bereich von Morsleben die Genehmigungen so lange verlängert werden, bis dieses Planfeststellungsverfahren in vernünftiger Weise durchgeführt ist, und nichts weiter.
Ein letztes Wort zu der Frage: Wie kann man die Entsorgungsfragen und die Frage des Betriebs der Kernkraftwerke auseinanderhalten? Es gibt Standorte in der Bundesrepublik Deutschland, an denen ein Kernkraftwerk steht, und es gibt Orte, an denen Entsorgungsaufgaben zu erledigen sind. Es gibt als rechtliches Bindeglied den Entsorgungsvorsorgenachweis. Der muß für den sicheren Betrieb der Kernkraftwerke erbracht werden. Sie betreiben zum Teil das Spiel derer, die auf dem Entsorgungsvorsorgenachweis bestehen, die sagen, daß wir unsere Kraftwerke nur weiterbetreiben können, wenn wir wissen, wohin die Castor-Behälter kommen, und die anschließend gerade die Entsorgung verhindern wollen. Genau das geht nicht.
Ich sage Ihnen auch - das sage ich als Umweltpolitikerin -: Wer sich heute hinstellt und sagt, wir bräuchten keine Weiterentwicklung der Sicherheit unserer Kernkraftwerke, wer dies zwar in rechtlichen Bestimmungen fordert, aber anschließend der Wirtschaft nicht die Möglichkeit gibt, zu überprüfen, ob sie sich den zukünftigen rechtlichen Bestimmungen entsprechend verhält, der leistet keinen Beitrag zur Verbesserung der Kernkraftwerke in Deutschland und vor allem in der Welt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren hier heute über einen Castor-Transport. Sie alle wissen, daß die eigentlichen Gefährdungen durch Kernenergie - das ist eigentlich das Bedauerliche - in anderen Ländern dieser Erde bestehen und daß wir dagegen konsequent angehen müssen.
Ich würde überglücklich sein, wenn mich ein Vertreter von Greenpeace auch dann einmal begleiten würde, wenn wir über den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke in Bulgarien sprechen, wenn wir über Tschernobyl und viele andere Fragen sprechen.
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Dort steht die Bundesregierung allein. Und dann sagen Sie, wir machten faule Kompromisse zugunsten der Kernenergie. Nehmen Sie an diesen Gesprächen ernsthaft teil!
Weil wir die Sicherheit von Kernkraftwerken weltweit mitbestimmen können, haben wir eine Verantwortung für die Sicherheit von Kernkraftwerken, aus der wir uns nicht herausstehlen dürfen, zumal es um Gegenden geht, die verdammt dicht an der Bundesrepublik Deutschland liegen.
Deshalb müssen wir in der Sicherheitsforschung weitermachen. Deshalb haben wir auch die Aufgabe, in den nächsten Tagen nach außen nicht ein Bild zu vermitteln, bei dem unsere Glaubwürdigkeit in Richtung Bulgarien, Ukraine, Rußland und Litauen völlig verlorengeht, weil man sagt: Die wissen überhaupt nicht, worüber sie sprechen.
Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Hirsch.
Frau Minister, bevor ich eine kritische Bemerkung mache, möchte ich hier ausdrücklich Ihren Mut rühmen, daß Sie den Versuch gemacht haben, in Gorleben mit den Kernkraftgegnern zu sprechen. Ich habe das im Fernsehen gesehen. Ich finde, das war ein außerordentlich wichtiger Versuch, auch wenn er von der anderen Seite nicht so angenommen wurde, wie er gemeint war. Ich möchte das in besonderer Weise hervorheben.
Ich möchte in der gleichen Weise sagen, daß alle Versuche, den Begriff der Gewalt einzuebnen, nicht akzeptiert werden können. Wir haben vor vielen Jahren bei dem Versuch, zwischen Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen zu differenzieren, gesehen, zu welchen katastrophalen Ergebnissen das führt. Jede Verharmlosung der Gewaltanwendung führt natürlich dazu, daß diese Gesellschaft in einer Kette von Gewalt und Gegengewalt versinkt. Das kann keiner wollen, der seine fünf Sinne beisammenhat.
Frau Minister, man muß doch auf der anderen Seite auch die Lektion lernen, daß man die Menschen nicht mit Hilfe der Polizei in den Wohlstand treiben kann. Die Polizei kann zwar äußere Sachverhalte verändern, aber nicht die Köpfe der Menschen, also das, was sie denken, beeinflussen. Wir haben schon mehrfach bei solchen Versuchen unsere Erfahrungen gemacht. Gorleben ist erwähnt worden. Ich kann genausogut Wackersdorf hinzufügen. Das war die unmittelbare Folge des ersten Versuches, Atommüll in Gorleben abzulagern. Ich kann genausogut Kalkar hinzufügen.
Wir haben gelernt, daß das Geschehen absurd ist. Die Polizei steht da wie die alten Römer: mit Helm, Schild und Kurzschwert, heute Schlagstock genannt. Mit der Technologie von vor 2000 Jahren versuchen wir, etwas zu erreichen, was die Mehrheit für sinnvoll hält.
Kernenergie ist Konsensenergie geworden. Sie ist in der Gesellschaft, in der wir leben, nur möglich, wenn es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt. Der ist mit Hilfe der Polizei nicht herbeizuführen.
Daher müssen Sie die Frage, auf die ich gewartet habe, beantworten, nämlich, warum es gerade zum jetzigen Zeitpunkt - bevor ein Konsens herbeigeführt wurde - notwendig und unvermeidbar ist,
durch den Transport der Castor-Behälter die Situation in einer Weise zu verschärfen, daß es fast hoffnungslos ist, zu einem Konsens zu kommen.
Auch das gehört dazu, nicht nur das Gefühl, eine sichere Mehrheit zu haben. Es ist vielmehr der Versuch zu unternehmen, die Minderheit von der Notwendigkeit dessen zu überzeugen, was die Mehrheit will.
Diesen Versuch vermisse ich.
Bitte, Frau Ministerin.
Herr Kollege Hirsch, ich hatte in meiner Rede sehr wohl versucht, den Unterschied zwischen der Verantwortung, die wir hier als Politiker tragen, und der Frage, was die Polizei für den Rechtsstaat leisten kann und muß, deutlich zu machen. Deshalb finde ich es so wichtig, daß wir als Politiker - egal, was wir denken - die Polizei nicht überfordern, indem wir sagen: Kohl und Merkel setzen auf Knüppel oder anderes mehr, und sie sozusagen in Konflikte bringen, die sie zum Schluß gar nicht lösen kann. Ich weiß das. Deshalb betraf der letzte Teil meiner Rede den Gesichtspunkt, daß wir natürlich aufgefordert sind, politische Lösungen zu finden.
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Nur, wir wissen doch auch, daß die schwierige Frage zu beantworten ist: Was macht man an welcher Stelle, und wie setzt man etwas durch?
Ich habe mir in den letzten Tagen viele Gedanken gemacht, zum Beispiel über den damaligen Protest gegen die Pershing-2-Raketen und die Wiederaufrüstung. Ich habe damals in der DDR gesessen und - ich will es Ihnen ganz ehrlich sagen - hatte Zweifel, ob man nicht eine riesige Eskalation heraufbeschwört. Heute muß ich in der Rückschau sagen: Es war damals - leider gegen viele - eine richtige Entscheidung.
Ich weiß von Politikern, daß es nicht jedem leichtgefallen ist, eine solche Entscheidung zu treffen.
Es geht doch in unserem Land zur Zeit nicht nur um die Kernenergie. Ich erwähne hier noch einmal ganz deutlich Mittel- und Osteuropa. Es geht um die Gentechnologie, um die Braunkohle in Garzweiler usw. Es geht um den verantwortungsvollen Umgang mit Technologien. Dabei wird uns allein die Polizei nicht helfen. Vorschnelles Abgehen von einer Idee kann uns aber verdammt viel kosten, was die Zukunft unseres Landes angeht.
Jetzt haben wir - jeder für sich - die Fragen zu beantworten: Wie weit gehe ich dabei, und mit welchen Mitteln tue ich das? Ich sage Ihnen dazu, daß ich mich seit dem letzten Jahr ganz bewußt für energiepolitische Gespräche eingesetzt habe, weil ich glaube, daß es ohne sie nicht geht.
Die Transporte, um die es jetzt geht, sind vom November letzten Jahres auf den jetztigen Zeitpunkt verschoben worden. Teil der Gespräche ist, daß wir Castor-Transporte streitlos stellen.
Nun kann man sicherlich fragen: Sollen es diese sechs sein? Muß es sein? Ich komme für mich zu der Überzeugung, daß jetzt ein Verschieben das Problem, das wir haben, nicht löst. Aber ich sage Ihnen auch: Ich respektiere, daß man danach fragt. Aber insgesamt sind diese Entscheidungen schwierig zu treffen. Wir müssen sie hier im politischen Haus treffen, und wir werden sie nicht treffen, wenn manche sagen: alles oder nichts, und andere aufgefordert werden, Kompromisse zu machen.
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention hat die Kollegin Gila Altmann.
Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede von Verantwortung gesprochen. Ich möchte Sie fragen: Wo ist eigentlich Ihre Verantwortung für die Menschen, die es nicht mehr hinnehmen wollen, verstrahlt zu werden?
Seit Tschernobyl wissen wir, daß die Strahlung keine
Grenzen kennt. Ich frage Sie: Wo ist die Verantwortung für die Kinder zum Beispiel in der Nähe des AKW Krümmel, die schon heute an Leukämie erkrankt sind? Wo ist Ihre Verantwortung für die Menschen in einer Region, die für den Atommüll geopfert werden soll, die auf die Straße gehen, um zu versuchen, ihr Recht auf eine unverstrahlte Zukunft zu verwirklichen? Wo ist Ihre Verantwortung für die 30 000 Polizisten, die das ausbaden müssen, was hier bisher an verfehlter Energiepolitik gemacht worden ist?
Ich möchte Sie fragen, wie Sie damit umgehen wollen, wenn heute der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft im Beamtenbund selbst sagt, es gebe keinen sicheren Transport, es herrsche die Angst vor Verstrahlung, und Sie mögen doch bitte nach Alternativen suchen.
Ich möchte Ihnen als letztes sagen: Wir distanzieren uns nicht von der Anzeige, in der wir zu einem gewaltfreien Widerstand aufrufen. Wir werden uns auch das Recht auf einen gewaltfreien Widerstand nicht nehmen lassen. Ich fordere Sie aber auf: Distanzieren Sie sich von der Gewaltandrohung eines Herrn Kanther hier im Bundestag oder eines Herrn Dregger, der in einer Pressemitteilung gesagt hat: Wasserwerfer reichen noch lange nicht!
Frau Ministerin.
Ich möchte meine Antwort darauf beschränken: Die meisten Ihrer Fragen enthalten Unterstellungen, von denen Sie eigentlich selber wissen, daß sie nicht stimmen.
Deshalb brauche ich nicht detailliert darauf zu antworten.
Das Wort für eine weitere Kurzintervention hat der Kollege HansPeter Kemper.
Herr Kanther, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung heute morgen die Gesetzestreue aller Beteiligten angemahnt. Ich will ganz deutlich sagen: Ich schließe mich dieser Forderung an; ich unterstütze Sie in dieser Forderung. Ich komme aus einem Wahlkreis, in dem es ein Zwischenlager und auch Transporte gibt. Die CastorTransporte sind bisher friedlich verlaufen. Die Bürger haben sich absolut friedlich und gesetzestreu verhalten.
Die Polizei hat keinerlei Schwierigkeiten gehabt.
Nun kommt Frau Ministerin Merkel und fordert die Einbeziehung von Ahaus in die Diskussion um
Hans-Peter Kemper
die Einlagerung des Kalkarer Kerns in Ahaus, zum wiederholten Male gegen alle bisherigen Absprachen. Sie begründet diese Forderung mit der Feststellung, in Ahaus sei es bisher ruhig gewesen und die Menschen in Ahaus hätten keinen großen Widerstand geleistet. Sie vermittelt dadurch den Ahauser Bürgern das Gefühl: Weil wir uns bisher gesetzestreu verhalten und friedlich demonstriert haben, bekommen wir jetzt den Dreck vor die Tür gekippt, den niemand anderes will. Durch ihre Aussagen vermittelt sie den Ahauser Bürgern das Gefühl: Wer sich gesetzestreu verhält, wird bestraft. Wer Widerstand leistet, wird belohnt.
Ich sage Ihnen, Frau Merkel, diese Äußerungen sind in tiefstem Maße schädlich. Unterlassen Sie solche Äußerungen! Sie gefährden den bisherigen Frieden in Ahaus und schaffen Konfliktpotential, wo bisher keines war.
Frau Ministerin.
Herr Präsident, es tut mir leid, daß durch mich die Sitzung wieder etwas verlängert wird.
Herr Kemper, ich fordere Sie auf: Bringen Sie mir das Zitat, das Sie gerade genannt haben! Ich habe das nicht gesagt. Bevor das kolportiert wird, bitte ich um das direkte Gespräch.
Natürlich muß der Kern des Schnellen Brüters irgendwann einmal irgendwohin. Ich habe aber - ich hätte fast scherzhaft gesagt: zu meinem eigenen Leidwesen - nicht gefordert, daß er nach Ahaus gebracht werden soll, weil ich weiß, welche Problematik damit verbunden ist. Ich kenne alle Landtagsbeschlüsse, auch die meiner Partei. Ich sage Ihnen: Selbst wenn über Regionalisierung geredet wird, ist es schwierig, zu sagen, wer in diesem Lande welche Aufgaben erfüllen soll.
Weil ich um die Problematik weiß, habe ich mich weder definitiv festgelegt, noch habe ich die Begründung angeführt, daß dort keine Proteste stattfinden, was ich außerordentlich begrüße. Man sollte die Proteste dort auch nicht hervorrufen.
Ich bitte, daß Sie sich davon distanzieren oder mir das Zitat bringen, auf das Ihre Ausführungen fußen, damit wir darüber sprechen können.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Müller, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es muß ein unbestrittener Eckpunkt unserer Demokratie sein, daß es ein staatliches Gewaltmonopol gibt und daß daran nicht zu rütteln ist. Dies steht außerhalb der Diskussion und
wird hier auch nicht in Frage gestellt. Da gibt es keine Relativierungen.
Eine wesentliche Grundlage der Demokratie ist aber auch die Fähigkeit der Politik, zum Ausgleich zu kommen, den Konsens mit der Bevölkerung zu berücksichtigen und nach Wegen zu suchen, die zu einer Deeskalation führen, anstatt die Konfrontation zu schüren.
Sie haben heute - den Vorwurf kann man Ihnen nicht ersparen, Herr Kanther - zur Sache selbst, nichts gesagt. Sie haben aber durch eine Law-andOrder-Rede die Konfrontation geschürt. Dies ist kein Beitrag zu einer friedlichen Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema.
Wir lassen es nicht zu, daß die Bürgerinnen und Bürger, die im Wendland demonstrieren, als eine Minderheit von Uninformierten abgetan werden. Soeben hörten wir den Satz der Frau Ministerin - ich hoffe, er war so nicht gemeint -, daß mit der Angst der Bürger gespielt werde und diese, weil sie uninformiert seien, dem auf den Leim gingen. Dies ist falsch. Jeder Besuch im Wendland zeigt, daß die Bürger dort sehr gut informiert sind. Ich würde sagen: Sie sind sogar weitaus besser informiert als die meisten hier im Raum. Das ist die Wirklichkeit. Deshalb sollte man solche Äußerungen unterlassen.
Natürlich ist Angst vorhanden. Im Wendland gibt es aber die Tradition, daß sich die Menschen sehr intensiv - es ist eine sehr bodenständige Bevölkerung - mit Themen auseinandersetzen. Sie wissen, wovon sie reden. Sie sind nicht durch Dritte instrumentalisierbar.
Meine Damen und Herren, wenn wir einen Beitrag zur Deeskalation leisten wollen, dann müssen wir uns mit dem dahinterstehenden Problem anders auseinandersetzen, als es hier bisher der Fall war.
Die Wahrheit ist: Es geht um einen Grundsatzstreit in der Energiepolitik. Sie halten an etwas fest, was keine Zukunft hat, anstatt einen Kompromiß zu suchen, wie wir uns auf der Basis einer zukunftsorientierten Energiepolitik wieder verständigen können. Das ist der eigentliche Konflikt.
Meine Damen und Herren, Sie behaupten - das wurde hier mehrfach ausgesprochen -, für die Zukunft der deutschen Wirtschaft sei entscheidend, daß wir uns wieder in Richtung Atomenergie bewegen.
Die Wahrheit ist: In der Bundesrepublik denkt niemand ernsthaft daran, ein neues Atomkraftwerk zu
Michael Müller
bauen. Wahr ist auch, daß in den letzten 15 Jahren die Zahl der Abschaltungen von Atomkraftwerken weltweit sehr viel höher war als die Zahl neugebauter Atomkraftwerke. Wahr ist auch, daß ein Festhalten an der bisherigen Struktur der Versorgung verhindert, daß wir in die modernen, effizienten solaren Energietechniken einsteigen.
Meine Damen und Herren, Sie müssen endlich akzeptieren, daß die Mehrheit der Bevölkerung Ihren Kurs nicht mittragen will. Insofern ist Ihre Politik per se kein Beitrag zur Befriedung der Bevölkerung, sondern sie ist ein Konfrontationskurs, weil Sie an einer Energiepolitik festhalten, bei der es in Wahrheit um harte wirtschaftliche Interessen geht.
Jeder weiß, daß die Energieunternehmen kein neues Atomkraftwerk bauen wollen, aber sie verdienen mit den heute abgeschriebenen Atomkraftwerken viel Geld. Das ist der eigentliche Grund, warum sie daran festhalten.
In der Zwischenzeit wurde mehrfach belegt, daß man aus der Atomenergie aussteigen kann, ohne daß das einen Einfluß auf die Versorgungssicherheit hat.
In den letzten vier Jahren lag der höchste Verbrauch in der Bundesrepublik an einem Tag bei 61 000 Megawatt Stromleistung. Wir haben in der Bundesrepublik über 100 000 Megawatt Stromleistung installiert. Selbst wenn Sie eine hohe Leistung von 20 000 Megawatt Reserve annehmen, könnten Sie immer noch die rund 19 500 Megawatt Atomkraft, die wir in der Bundesrepublik haben, sofort stillegen. Und die Atomkraft ist auch der Grund, warum sich in der Bundesrepublik in Richtung Klimaschutz, moderne Energieeffizienz beispielsweise, auch in Richtung Veredelung der Kohlebasis nichts bewegt. Das ist der eigentliche Grund, aber das wollen Sie nicht zugestehen.
Außerdem ist die Atomenergie kein Beitrag, die weltweiten Energieprobleme zu lösen. Oder wollen Sie ernsthaft in jedes Land der Welt diese Technik setzen? Wollen Sie das ernsthaft, besonders bei der engen Verbindung zwischen militärischer und ziviler Nutzung? Das kann nicht verantwortet werden.
Um so wichtiger ist es deshalb, insbesondere in den Industriestaaten einen anderen Energiepfad einzuleiten, einen Energiepfad, der erstens das gewaltige Einsparpotential nutzt - es liegt in der Bundesrepublik unbestritten bei 40 bis 45 Prozent - und der zweitens nicht das festschreibt, was wir heute haben, nämlich einen nur kümmerlichen Anteil an der Solarenergie.
Wir haben in der Bundesrepublik einen Anteil an I der Solarenergie von rund 2,3 Prozent. Nach der Untersuchung von Prognos wird dieser Anteil in den nächsten 25 Jahren nur auf 3,5 Prozent steigen. Solange Sie die heutigen Energiestrukturen festschreiben, wird der wichtige Solarmarkt an der Bundesrepublik vorbeigehen. Auch das ist eine Frage, die in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Sie blockieren die Zukunft mit dieser Konfrontationspolitik.
Meine Damen und Herren, wir hatten gehofft, daß der Erdgipfel von Rio als Chance begriffen würde, auf eine effiziente und solare Energieversorgung ohne Atomkraft umzusteigen. Diese Chance bestand einige Jahre. Wir müssen heute feststellen: Obwohl in unserem Land nur die Bundesregierung von der Neubelebung der Atomkraft träumt, ist diese Chance bisher verspielt worden. Sie werden damit nicht nur für innenpolitische Konfrontationen mitverantwortlich, sondern auch dafür, daß die Weichen für eine Energieversorgung, die zukünftigen Generationen gerecht wird, nicht gestellt werden.
Das sind alles Fragen, die weit über den örtlichen Konflikt von Gorleben hinausgehen, aber sie sind mit Gorleben verbunden. Es geht bei Gorleben nicht nur um einen regionalen Konflikt. Es geht bei Gorleben um die ganz entscheidende Frage, ob wir mit der Bevölkerung einen Konsens für einen Zukunftspfad finden, den alle tragen können und der zukunftsverträglich ist.
Wir sehen in dem risikobehafteten Mülltourismus keinen Weg, den wir verlängern dürfen. Deshalb sage ich an dieser Stelle noch einmal: Stoppen Sie endlich die Castor-Transporte! Sie sind überflüssig. Lassen Sie uns statt dessen eine sinnvolle Entsorgungskonzeption finden, bei der der Zielpunkt eine direkte Endlagerung ist. Für die Übergangszeit können wir eine endlagerorientierte Konditionierung bei den Kraftwerkskapazitäten ansiedeln. Das ist ein möglicher Weg. Weil wir eine Mitverantwortung für den strahlenden Abfall haben, sind wir auch bereit zusammenzuarbeiten. Aber wir machen keine Politik mit, bei der nur Lösungen möglich sind, wenn die SPD bei der Frage des Ausstiegs aus der Atomkraft einknickt. Da werden Sie sich die Zähne an uns ausbeißen. Das wird nicht gehen.
Das heißt, wir wollen eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft. Weil wir das wollen und weil wir dafür kämpfen, sagen wir: Wir sind an der Seite der friedlichen Demonstranten. Wir bitten die Demonstranten, friedlich zu demonstrieren; denn friedliche Demonstrationen überzeugen.
Wir wissen, daß die Bürger des Wendland friedlich
demonstrieren. Deshalb werden auch sie sich ein-
Michael Müller
deutig von Gewalt distanzieren. Ich bin sicher, sie tun es.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Birgit Homburger.
Herr Kollege Müller, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben, ist wieder einmal typisch für die Haltung der SPD. Sie erklären allen Ernstes, die Atomkraft sei schuld daran, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland zum Thema Klimaschutz nichts bewege, insbesondere auch nichts hinsichtlich einer Sicherung auf Kohlebasis. Sie machen das mit der völligen Zustimmung Ihrer Fraktion, sagen aber überhaupt nicht, daß Ihre Meinung widersprüchlich ist. In der Klimaschutzpolitik geht es insbesondere auch um die Reduzierung der CO2Emissionen, und die sind unmittelbar verknüpft mit dem Energieträger Kohle.
Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen und nicht auf der einen Seite pro Kohle, auf der anderen Seite pro Klimaschutz und dann auch noch kontra Kernenergie sein. Das paßt einfach nicht zusammen.
Der zweite Punkt, Herr Kollege Müller: Sie haben gesagt, der eigentliche Konflikt sei der Grundsatzstreit in der Atompolitik. Damit haben Sie genau das zum Ausdruck gebracht, um das es geht. Es geht nämlich darum, daß Sie mit der Verweigerung einer sicheren Entsorgung in der Kernenergie und mit Ihrem Antrag, in dem in Punkt 3 steht: „Die CastorTransporte müssen unterbleiben, um Gefahren für Leib und Leben abzuwehren", versuchen, eine Änderung zu erzwingen. Es ist unredlich und unverantwortlich, was Sie hier tun.
Ich kann Ihnen nur sagen - das geht auch an Frau Kollegin Altmann, die sich vorher zu Wort gemeldet hat -: Wer zu den Castor-Transporten sagt, seit Tschernobyl wissen wir, daß Strahlung keine Grenzen kennt, der will damit die Menschen glauben machen, daß die Castor-Behälter unsicher seien, daß ihnen Strahlung entweiche. Das ist unredlich, und es ist vor allen Dingen auch nicht richtig. So kann man nicht arbeiten. Damit schürt man schlicht und ergreifend Ängste. Genau das dürfen wir nicht tun.
Herr Kollege Müller, dies ist der letzte Punkt, den ich Ihnen sagen will. Herr Glogowski hat ausdrücklich gesagt, er habe vor der Genehmigung des Castor-Transports geprüft, ob er ungefährlich sei, und nur nach der Prüfung und nach der Feststellung, daß er ungefährlich sei, habe er diesen Castor-Transport genehmigt. Wenn das so ist, dann ist der Punkt 3 des Antrags der SPD schlicht und ergreifend eine Ohrfeige für Herrn Glogowski und zeigt die Zerrissenheit der SPD.
Herr Kollege Müller.
Ich will darauf nicht in Ihrer vereinfachenden Form antworten, weil ich glaube, daß Sie als Umweltpolitikerin besser informiert sind, als Sie hier tun. Deshalb will ich der Sache entsprechend noch einmal versuchen, den Zusammenhang darzulegen.
Ihr entscheidender Gedankenfehler ist, daß Sie einen Energieträger gegen den anderen auszuspielen versuchen, also in dem Fall Atomkraft gegen Kohle. Das steht aber überhaupt nicht zur Debatte. Entscheidend ist die Frage: Wie muß ein Energiesystem insgesamt aussehen, um zu einer drastischen Reduktion des Energieumsatzes zu kommen?
Wenn Sie sich informieren, werden Sie feststellen: Alle weltweiten Energieszenarien der Weltenergiekonferenzen - sei es Madrid, Tokio, Montreal, oder Cannes -, die an der Atomkraft festhalten, lösen das CO2-Problem nicht; ich kann Ihnen das alles vorlegen. Das CO2-Problem wird nur gelöst, wenn es zu einem Umschalten in Richtung auf Effizienzsteigerung, Einsparungen und Brücke ins Solarzeitalter kommt.
Dies setzt aber eine völlig andere Energiestruktur voraus als die, die heute durch die Großkapazitäten der Atomenergie geprägt wird. Sie dürfen deshalb nicht Energieträger gegen Energieträger ausspielen, sondern Sie müssen die Energieversorgung insgesamt als Einheit betrachten.
Ich möchte überhaupt keine Verweigerungspolitik machen. Ich bin nicht in den Bundestag gekommen, um Blockadepolitik zu betreiben. Aber das entscheidende Problem ist: Wenn es eine Mehrheit gibt, die im Kern nur noch aus Beton besteht, dann kann man nichts mehr gestalten.
Das Wort hat Herr Bundesminister Rexrodt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich mit denen auseinandersetzen, die ernsthafte Argumente gegen die Kernkraft vortragen, und
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
auch mit jenen - das sind nicht wenige in unserem Land -, die sich fragen, ob die Kernkraft im allgemeinen und die Castor-Transporte im besonderen diesen enormen öffentlichen Aufwand rechtfertigen.
Mir liegt daran, daß ich mich in dieser Argumentation von Ideologien freimache
- daß Sie hier aufheulen, sagt alles - und auf eine Reihe von Fakten verweise. Es ist so, daß der Transport in den Castor-Behältern keine Gefahr für Leib und Leben der Polizisten und der anderen Menschen, die den Transport begleiten, bedeutet. Das war die Grundlage für die Genehmigung der Transporte.
Ich kann nicht nachvollziehen, daß man sich dafür einsetzt, daß sogenannter Atommüll in den Kraftwerken verbleibt, weil er dort keine Gefahr darstelle, und daß man eine Verbringung in ein sicheres Zwischenlager verhindert, weil das Leib und Leben von Menschen gefährde. Dies ist in sich nicht schlüssig und nicht akzeptabel.
Deshalb ist das, was die SPD in ihrem Entschließungsantrag fordert, von vornherein abzulehnen.
Ich möchte den Menschen, die sich im Zusammenhang mit den Transporten Fragen stellen, sagen: Meine Damen und Herren, die Kernenergie ist in Deutschland in einem Mix mit anderen Energieträgern eine tragende Säule. 31 Prozent unseres Stroms kommen aus der Kernenergie. Alle wissen, daß man Kraftwerke heute nicht abstellen kann; denn das wäre das Ende unserer Volkswirtschaft.
All diejenigen, die vorzeitig aussteigen wollen, müssen wissen, daß damit der Strom verteuert wird, daß die Preise erheblich belastet werden und daß dies in unserem Land Arbeitsplätze gefährdet. Wir sind vielmehr dabei, den Strom wettbewerbsfähiger zu machen. Wir wollen einen Energiemix finden, in dem Kernenergie neben anderen Energieträgern auf absehbare Zeit ihren Platz hat.
All denjenigen, die den langfristigen Ausstieg wollen - darüber kann man ja reden -, muß man die Frage stellen, was das für die Erreichung der Klimaschutzziele bedeutet.
Herr Müller, Kernkraft ist der einzige Energieträger, ist die einzige Möglichkeit, Strom zu erzeugen - mal abgesehen von der Solarenergie, zu der ich noch etwas sagen werde -, ohne daß es zu CO2-Emissionen kommt.
- Wasserkraft auch. Aber wie wollen wir über Wasserkraft und über Solarenergie den enormen Strombedarf in den entwickelten Ländern, in den Industrieländern decken? Das ist völlig unmöglich. Das wird von keinem, der etwas davon versteht, bestritten. Wir können über regenerative Energien mehr tun; und wir wollen mehr tun. Aber die Kernkraftwerke quasi aus der Welt zu schaffen ist von vornherein verfehlt, ist eine Utopie.
Der zweite Aspekt, den ich beleuchten möchte, ist der, daß die Kernenergie nach meinem Verständnis eine Hochtechnologie ist. Wir können es uns in Deutschland nicht leisten, uns von einer weiteren Hochtechnologie zu verabschieden. Wir brauchen das Forschungspotential in diesem Bereich, und wir brauchen die Arbeitsplätze. Ich kann mit allem Nachdruck sagen, daß Kernenergie in unserem Lande nach menschlichem Ermessen beherrschbar ist. Deutsche Kraftwerke haben einen Sicherheitsstandard, der unvergleichlich hoch ist. Dieser Sicherheitsstandard ist auch eine Exportware und eine Exportchance für Deutschland.
In vielen Ländern der Welt werden Kernkraftwerke gebaut. So große Länder wie Indonesien proben in diesen Tagen und Wochen den Einstieg in die Kernenergie. Wenn wir die Fähigkeit zur Beherrschung der Kernenergie behalten, dann haben wir eine große Chance, dafür Sorge zu tragen, daß überall in der Welt, wo man sich für die Nutzung von Kernenergie entschlossen hat, sichere Kernkraftwerke, Kernkraftwerke unseren Standards, entstehen.
Es geht heute nicht um die Frage, ob weitere Kernkraftwerke gebaut werden sollen; dazu ist schon viel gesagt worden. Diese Entscheidung haben nicht wir, sondern hat eine künftige Generation zu treffen. Aber die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß die Option für die weitere Nutzung der Kernenergie offengehalten wird.
Sie wollen zum Ausstieg beitragen, indem Sie die Entsorgungsfrage problematisieren. Wir wollen Forschung und Entwicklung und das genehmigungstechnische Know-how in Deutschland erhalten, nicht mehr und nicht weniger. Deshalb darf es keine rechtswidrigen Blockaden geben. Für den Betrieb der Kraftwerke ist eine gesicherte Entsorgung, wie sie mittels des Castors stattfindet, unverzichtbar.
Wir müssen die Erforschung der Endlager zügig zu Ende führen. Wir müssen eine Verständigung über Zwischenlager erreichen. Regierung und Opposition müssen sich einer gemeinsamen Verantwortung stellen. Ich begrüße es sehr, daß es in diesen Fragen zu Gesprächen mit der SPD gekommen ist. Gemeinsam muß es uns gelingen, eine vernünftige Energiepolitik zu formulieren.
Wir haben einen sinnvollen Energiemix - mit der Kohle, mit anderen Energieträgern und mit der Kernenergie -, und machen eine Politik, die darauf zielt, Wettbewerbsnachteile für die deutsche Wirtschaft abzuwenden, Arbeitsplätze zu sichern. Diese Politik ist nicht am Tagesgeschehen und nicht an Ideologien
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
orientiert, sondern setzt auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und orientiert sich an den Arbeitsplätzen.
Bei den Fragen der Menschen in unserem Lande zum Castor-Transport und auch in dieser Debatte geht es um Recht und Demokratie. Es geht aber auch um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, um Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze.
Die Menschen im Lande müssen wissen, daß der Bundesregierung auch und gerade daran etwas gelegen ist.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Arne Fuhrmann, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zum Kern meiner Rede komme, muß ich noch etwas zu Herrn Kanther sagen: Ihre Rede unter der Überschrift Regierungserklärung war im Grunde nichts anderes als die Diffamierung einer friedlichen Gruppe von Menschen, die sich in einem mit dem Grundgesetz durchaus konformen Widerstand befinden.
Wenn Sie glauben, Herr Kanther, daß sie durch reaktionäre Worte - und ihnen möglicherweise folgende Taten - staatsmännisches Wesen beweisen können, so muß ich Ihnen sagen: Sie beweisen nichts anderes als Schwäche.
Herr Westerwelle - er ist gerade nicht da -, der letzte „Liberale" dieser kleinen Gruppe, hat heute auf dem Altar von Machterhalt und Konsolidierung der Koalition den letzten liberalen Gedanken geopfert. Das war toll, das hat mir gut gefallen.
Und mein Kollege Grill, von dem in der Zwischenzeit jeder im Hause weiß, daß zumeist nicht mehr als 50 Prozent seiner Aussprüche wahren Inhalts sind,
wagt es, hier zu behaupten, im Wendland plane man Camps, auch ein Kindercamp, aus denen heraus Angriffe auf den Castor geplant seien. So viel Irrsinn und Widersinnigkeit, wie ich heute gehört habe, ist
mir selbst bei Herrn Grill bisher noch nicht untergekommen. Das erstaunt mich schon.
Um auch noch die relativ dummen Sprüche derer, die sich anmaßen, uns vorzuwerfen, wir würden Politik betreiben, indem wir Angst schürten, ad absurdum zu führen, möchte ich den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei - falls Sie nicht wissen, wer das ist: Herr Hermann Lutz - zitieren. Der fordert die Demonstranten auf, mit der Polizei behutsam umzugehen, damit weder Frauen noch Männer von den Beamten zu dicht an den Castor-Transport herangedrängt werden, weil die Strahlen unberechenbar seien.
- Ja, das ist komisch. Den habe ich beauftragt, oder halten Sie ihn nicht für einen ganz freien Menschen, der auf freier Scholle das äußert, was er für richtig hält?
Wie muß den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zumute sein, wenn Sie sich als die für den CastorTransport Verantwortlichen nach wie vor im Bundestag und an anderer Stelle hinstellen und behaupten, es gebe überhaupt keine Unsicherheiten? Daß sich Wissenschaftler wie Kuni und andere darüber streiten, ist die eine Seite der Medaille; die andere ist die Unverfrorenheit, mit der Sie sich hier hinstellen und Behauptungen aufstellen, für die es überhaupt keine Belege gibt.
Die falschen Beurteilungen und die Fehlinformationen im Zusammenhang mit dem Castor haben dazu geführt, daß der Gewaltbegriff in der Zwischenzeit von Ihnen im wahrsten Sinne mißbraucht wird. Wenn Sie von mir verlangen, daß ich mich zum Gewaltmonopol dieses Staates bekenne, dann tue ich das noch einmal, obwohl ich das bereits 1995 und 1996 in Verbindung mit diesen Diskussionen sehr nachdrücklich getan habe. Wenn Sie heute aber den Gewaltbegriff als Blockade gegen Denkanstöße und andere Überzeugungen benutzen, dann ist das infam und höhlt den Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1985 aus; denn dort wurden ganz andere Dinge im Zusammenhang mit Demonstrationen und dem Recht auf Versammlungsfreiheit geäußert.
- Wissen Sie, wenn Sie nichts weiter auf Lager haben
als dumme Sprüche, dann lassen Sie sie lieber; denn
Arne Fuhrmann
das, was ich sage, ist durchaus im Interesse von alten Menschen,
von Kindern und Jugendlichen.
Das Erstaunliche in der Gesamtdebatte - leider ist der niedersächsische Innenminister nicht mehr da - besteht in der Widersinnigkeit Ihrer Behauptung, eine kriminelle Handlung jage die andere. 1995 gab es im Vorfeld nichts anderes als Bekennerschreiben. Es ist 1995 niemand vor dem Castor-Transport deshalb verhaftet worden, weil er eine Kralle geworfen hat oder weil er an irgendeiner Stelle ganz schlimme Dinge vollbrachte.
1996 gab es dasselbe Phänomen, 1997 bislang ebenfalls. Ich komme aus Niedersachsen und habe gelegentlich den Eindruck, daß das an das Celler Loch erinnert.
Das ist schon eine Weile her; es liegt bekanntlich schon Jahrzehnte zurück. Aber das Erstaunliche ist, daß von den angekündigten Hunderten und Aberhunderten von Straftatsverfolgungen 1995 und 1996 lediglich 20 durchgeführt worden sind.
Herr Kanther, ich frage mich, was es soll, beim Widerstand von Demonstranten immer wieder von Terroristen, Randalierern und Autonomen zu reden. Die Polizei weiß genau, welche Gruppen sich in den autonomen Blöcken zusammenschließen, und die Polizei wäre durchaus auf der Grundlage des niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes in der Lage, diese autonomen Blöcke vor Einreise in das Land Niedersachsen festzusetzen.
Die Diffamierung gegen die Bevölkerung in Gorleben kann ich bald nicht mehr ertragen. Gorleben ist nicht ein Symbol für einen, zwei oder drei CastorTransporte, sondern für den Ausstieg aus der Kernenergie.
Gorleben ist ein Symbol für den friedlichen Widerstand gegen unsinnige und überflüssige Transporte von radioaktivem Abfall. Gorleben ist ein Symbol für die einigende Kraft politisch denkender Menschen. Und Gorleben ist seit einigen Wochen das Symbol für den aufrechten Gang von Kommunalpolitikern, egal welcher Couleur.
Die Regierungserklärung ein paar Tage bevor der Castor-Transport rollen wird, ist nichts anderes, als Benzin auf ein Feuer zu gießen, das Sie angezündet haben, und zwar, Herr Kanther, bereits 1996 mit Ihren Bemerkungen, die zumindest den Demonstranten in Gorleben immer noch in den Ohren dröhnen. Sie haben sie als „unappetitliches Pack und Chaoten" bezeichnet. Damit haben Sie sich mit Sicherheit zeit Ihres Lebens Freunde in der Region gemacht. Aber wahrscheinlich ist Ihnen das ziemlich egal.
Ich glaube fest, daß Wurfanker und Hakenkrallen über Bahnstrecken überhaupt nichts mit dem Widerstand gegen Kernenergie und Atomanlagen im Wendland zu tun haben.
Ich glaube aber genauso fest, daß Ihre Entscheidung, diesen Transport mit Brachialgewalt durchzuführen, genausowenig mit der wirklich fruchtbaren Diskussion und fruchtbaren Auseinandersetzung um einen Konsens zu tun hat wie die reale Einschätzung, die Sie, was den Castor-Transport indirekt und direkt angeht, haben.
In diesem Zusammenhang gilt meine Bitte allen Medien - Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen -, in den nächsten Tagen aus dem Wendland nicht wie aus einem Kriegsgebiet zu berichten, sondern eine sachliche und faire Berichterstattung vorzunehmen. Im Wendland findet kein Krieg statt; es wird auch kein Krieg stattfinden. Im Wendland finden Demonstrationen statt. Es werden Zigtausende von Polizistinnen, Polizisten und BGS-Beamten im Wendland sein, denen bei der ganzen Geschichte genauso unwohl ist wie denen, die dort sitzen oder stehen und die ihre friedliche Absicht bekunden, etwas anderes zu wollen als diese Bundesregierung.
Meine Bitte, auf diesen Transport zu verzichten, wird wahrscheinlich ins Leere laufen. Aber eins will ich Ihnen gerne zum Schluß noch in Ihr Stammbuch schreiben: Größe liegt nicht in der Demonstration von Macht, sondern in der Fähigkeit, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. In diesem Sinne wäre es sinnvoll, wenn Sie den Fehler weiterer Transporte von vorneherein gar nicht machen würden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Teiser, CDU/CSU.
- Kurzinterventionen müssen angemeldet werden, und es muß gesagt werden, wozu. Ist das jetzt eine Anmeldung zu einer Kurzintervention?
- Bitte in Zukunft etwas rechtzeitiger.
Warten Sie bitte noch einen Moment, Herr Kollege Teiser.
Bitte, Herr Grill.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fuhrmann, ich weise das, was Sie zu der Wahrheit meiner Aussage gesagt haben, nachdrücklich zurück. Ich habe aus Unterlagen zitiert, die von den Gegnern des Castor-Transports hergestellt worden sind. Ich brauche dem überhaupt nichts hinzuzufügen. Das ist das erste.
Kurt-Dieter Grill
Das zweite. Ich erinnere Sie daran, daß Ihre eigenen Parteifreunde in Lüneburg auf einem Parteitag im letzten Jahr massivst öffentlich kritisiert haben, daß Sie sich als gewählter Abgeordneter auf die Straße gesetzt und selber an der Blockade teilgenommen haben.
- Herr Kollege Fischer, ich möchte Ihnen einmal etwas sagen: Ihr dummes Geschwätz berührt mich wirklich nicht mehr.
Ich möchte Sie im Zusammenhang dessen, was Sie über die Frage von Gewalt und Gewalttätern in Lüchow-Dannenberg gesagt haben, auf folgende Passagen der Rede des niedersächsischen Innenministers Glogowski im Niedersächsischen Landtag am 13. Februar 1997 hinweisen. Herr Glogowski hat damals gesagt:
27 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sind bei dem letzten Einsatz verletzt worden. Mit zulässigem Protest hat das meiner Auffassung nach nichts mehr zu tun.
Das führt der Innenminister, Ihr Parteifreund Gerhard Glogowski, aus. Er zitiert die Große Anfrage der Grünen - das will ich im Hinblick auf die Frage des Symbols Gorleben sagen -:
Gewalttätige Auseinandersetzungen sind in keinem Fall und im Hinblick auf keine Seite zu rechtfertigen. Diese Aussage gilt selbstverständlich auch für Bürgerinnen und Bürger und schließt prinzipiell die Zerstörung von Sachen ein, so sie nicht rein symbolischer Bedeutung sind.
Dann sagte Herr Glogowski - vielleicht lassen Sie sich das auch einmal durch den Kopf gehen -:
Man muß sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen, meine Damen und Herren. Wenn ich das richtig verstehe, sollen hier offensichtlich unter der verharmlosenden Ansage „Symbolhaftigkeit" Straftaten verübt werden dürfen. Das kann nicht sein!
Ich habe dem nichts hinzuzufügen, Herr Fuhrmann.
Herr Kollege Fuhrmann.
Im Grunde genommen ist es eine klare Sache, daß sich mein Lieblingsabgeordneter der CDU wieder selbst bestätigt, indem er hier
sagt, ich sei von meiner Partei kritisiert worden, weil ich auf der Straße gesessen hätte.
- Das ist wirklich schlimm; Sie haben völlig recht.
Ich habe nie auf einer Straße gesessen. Das habe ich auch Ihrem Fraktionsvorsitzenden im Niedersächsischen Landtag, Herrn Wulff, geschrieben. Meine Partei macht Gott sei Dank nicht den Fehler, den Ihre Partei macht. Wir diskutieren vielmehr miteinander, sind unterschiedlicher Meinung und einigen uns dann. Das haben wir in Lüneburg so gemacht.
Das Zweite, Herr Grill, um die Situation der von Ihnen angeführten Camps im Wendland klarzustellen: Es wird selbstverständlich Camps geben.
Es wird eine Zeltstadt geben; es wird Stroh und Heu geben, damit die Menschen, die ins Wendland kommen, so etwas wie ein Dach über dem Kopf haben und im Trockenen sein werden, wenn es regnet. Die Behauptung, daß aus diesen Camps heraus in irgendeiner Form ein Angriff auf den Castor-Transport geplant ist, ist genauso dummes Zeug wie die Behauptung, es gebe ein Kindercamp. Es wird ein Camp geben, in dem Frauen, Männer und Familien mit Kindern willkommen sind,
in dem für Kinder auch bestimmte Spielsachen und Möglichkeiten, sich aufzuhalten, vorhanden sein werden. Ich finde das toll und ausgesprochen demokratisch.
Ihnen allen, die Sie hier sitzen und jetzt genau das machen, was wir Wendländer von Ihnen kennen, kann ich nur empfehlen, den Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Mai 1985 aufmerksam zu lesen und möglicherweise daraus auch irgendwann einmal Lehren zu ziehen. Wie es schon vorhin gesagt worden ist: Ihre Arroganz wird nur noch von der Betonschwere Ihrer Köpfe übertroffen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Teiser, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer mehrstündigen Debatte, in der mit Kurzinterventionen 25 bis 30 Redner gesprochen haben, steht man leicht in der Gefahr, nach der Devise zu handeln: Es ist vieles und alles gesagt, aber noch nicht von mir. Deshalb will ich betonen: Ich möchte mich jetzt ausschließlich mit dem Debat-
Michael Teiser
tenverlauf und mit dem, was von der Seite der Opposition vorgebracht worden ist, beschäftigen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
damit sich diese darauf verlassen können, daß ihre Argumente, die sie vor Ort vorbringen, von Ihnen im Parlament aufgenommen werden.
Das sind Wechselspiele, die Sie mit denjenigen machen, die vor Ort Gewalt ausüben.
Innenminister Glogowski aus Niedersachsen hat zu Recht deutlich gemacht - das mag im Einzelfall zutreffen -, daß der Rechtsstaat nicht durch jede Wand gehen muß. Aber ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wenn diese Wand eine Wand aus Gewalt ist, dann muß diese durchbrochen werden, notfalls auch mit 30 000 Polizisten, notfalls für 100 Millionen DM und notfalls alle drei Monate.
Wir werden nicht dulden, daß dieser Rechtsstaat und diese Demokratie in Frage gestellt werden.
Uns beeindrucken auch keine Landwirte, die mit Plakaten auftreten, auf denen Polizeistaat steht, und
sich dagegen wenden. Es wäre sinnvoller, wenn sie gegen diesen Subventionsstaat auftreten würden. Da hätten sie viel mehr und auch viel mehr Gründe, das zu tun. Wir lassen uns auch nicht von Schülern beeindrucken, die von ihren Lehrern aufgehetzt und von den Medien mißbraucht werden, weil mit Kindern so trefflich Politik gemacht werden kann.
Es wurde vorhin von den Grünen so treffend und emotional vorgetragen: Wir wollen in der Zukunft keine verstrahlten Kinder. Solche infamen Äußerungen sind so etwas von unverschämt. Als ob irgend jemand in diesem Hause das wollte! Sie sollten sich für solche Äußerungen schämen.
- Herr Kollege Fischer, Sie lächeln immer so freundlich und machen sich durch spaßige Zwischenrufe zum Parlamentskasper.
Ich sage Ihnen noch einmal ganz kurz und deutlich: Lautstärke ersetzt keine Argumente
und auch witzige Späßchen nicht.
Wenn Sie hier deutlich machen, daß es doch alles ganz einfach sei, die Regierung brauche doch nur dem Druck der Straße nachzugeben, dann rufe ich Ihnen nur zu: Das mag einfach sein. Aber es ist eben auch eine Tatsache: Dem Einfachen ist eben alles einfach. Das fällt letztendlich auf Sie zurück.
Von seiten der Grünen ist vorhin die Frage aufgeworfen worden - ich habe es erst gar nicht geglaubt, als ich das gehört habe -, für wen Recht und Gesetz in dieser Republik gemacht werden.
Ich glaube nicht, daß sie diese Frage ernst gemeint haben. Sie haben damit den Ruf nach Volksbefragung verbunden. Sie haben deutlich gemacht, wie sich diese Regierung angeblich von der Mehrheit der Volksmeinung entfernt hat.
Ich will gar nicht ausschließen, daß möglicherweise sogar eine Mehrheit bei den Argumenten, die sie Ihnen seziert zukommen lassen, dieser Meinung ist.
- Herr Fischer, hören Sie doch einmal auf, dazwischenzubabbeln! Sie haben vorhin Zeit und die Gele-
Michael Teiser
genheit gehabt, Argumente vorzubringen. Sie haben diese Gelegenheit versäumt. Jetzt versuchen Sie nicht, sich vor den Kameras zum Spaßvogel zu machen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben versucht, deutlich zu machen, man müsse doch in die Zielrichtung von Volksbefragungen kommen. Das sind schon Punkte, die überlegenswert sind.
Ich hätte beim Ausländer- und Asylrecht sehr wohl Lust, Volksbefragungen durchzuführen und einmal zu untersuchen, wieweit Sie sich bei diesen Fragen von der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung entfernt haben.
Aber Sie suchen sich immer das aus, was Ihnen politisch gerade in Ihr Spielchen paßt. Da werden Sie bei uns vor verschlossene Türen laufen.
Der Kollege Müller von der SPD - das zeigt wieder die Intention der SPD - hat an Minister Kanther den Vorwurf von Law and order erhoben.
- Dem stimmen Sie zu; das sehen auch Sie so. - Recht und Gesetz als Vorwurf ist Ihre Intention.
Wer Recht und Gesetz nicht nur als Begriffe, sondern als Vorwurf an den Minister, daß er dafür eintritt, erhebt, der entlarvt in dieser Debatte seine Doppelzüngigkeit.
Ich möchte zum Schluß auf einen Beitrag eingehen, der besonders hervorzuheben ist, nämlich den des Kollegen Fuhrmann von der SPD. Mir brauchen Sie nicht zu erzählen, vor welchem Problem man steht, wenn man als letzter oder vorletzter Redner in einer solchen Debatte spricht, wenn man wie Sie mit einer vorgefertigten Rede den Versuch unternehmen muß, Dreifach- und Vierfachwiederholungen zu vermeiden. Das, was Sie sich hier geleistet haben, war nichts anderes als Unverschämtheiten und Kollegenbeleidigungen.
Diese sind für dieses Parlament unangemessen. Ich hoffe, daß Sie das bei den nächsten Debatten, an denen Sie teilnehmen werden, vermeiden.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dietmar Schütz.
Herr Teiser, das, was Sie jetzt hier gerade gesagt haben, insbesondere der Satz, wir von den Grünen und von der SPD wollten ein legales Umfeld für Gewalttäter und Terroristen bilden, halte ich in so einem Maße für unverschämt, daß man darauf eigentlich gar nicht eingehen sollte.
Ich habe mich etwas gewundert, daß eine solche Verunglimpfung von Fraktionen hier im Hause geäußert werden kann.
Es ist völlig legitim und jedem Polizeirechtler und Juristen natürlich klar, daß man bei Rechtspositionen auch Abwägungsprozesse hinter sich hat und sogar politische Abwägungsprozesse auf sich nehmen muß. Genau das haben wir an der Frage des CastorTransportes deutlich gemacht. Daß Sie das möglicherweise nicht wissen, will ich Ihnen durchgehen lassen. Uns aber hier einen solchen Satz vorzuwerfen, ist schon angesichts der Kultur in diesem Hause unverschämt.
Ich frage, ob Sie diesen Satz zurücknehmen.
Herr Kollege Teiser, wollen Sie etwas dazu sagen? Sie müssen nicht.
Zumindest die Höflichkeit gebietet es, dem Kollegen mitzuteilen, daß ich nichts zurückzunehmen habe.
Herr Kollege Schütz, da Sie mit Blick auf mich Ihre Verwunderung geäußert haben, erlaube ich mir die Feststellung, daß die Vorwürfe von Fraktion zu Fraktion in diesem Hause wechselseitig sind. Es ist nicht Aufgabe des Präsidenten, die Qualität der wechselseitigen Vorwürfe zu beurteilen. Er interveniert, wenn es den Charakter einer individuellen Beleidigung annimmt.
Auf diese Ordnung haben wir uns verständigt. Daß ich zu verschiedenen Dingen eine Meinung habe, will ich nicht verschweigen, aber es nicht meine Aufgabe, diese hier offen zu sagen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Ich schließe jetzt die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen.
Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/7083. Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Darf ich fragen, ob alle Urnen besetzt sind? - Das scheint der Fall zu sein; dann eröffne ich die Abstimmung.
Darf ich fragen, ob noch ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das noch nicht abgestimmt hat? - Das ist der Fall.
Ich frage noch einmal: Haben alle anwesenden Abgeordneten ihre Stimme abgegeben? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.*) Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Das geht aber nur, wenn Sie Platz nehmen und wenigstens den Innenraum freiräumen. Sonst fehlt mir der nötige Überblick.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7073 wurde zurückgezogen.
Wir stimmen deshalb jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7084 ab, und zwar, wie mir mitgeteilt worden ist, ohne die Ziffer 3, weil sie in II Nr. 7 enthalten ist. Ist das richtig, Herr Kollege Struck?
- Dann ist klar, worüber wir abstimmen.
Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer wiederum, ihre Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Nein, das scheint hier vorne noch nicht der Fall zu sein.
Alle Urnen sind nun besetzt. Dann eröffne ich jetzt die Abstimmung. Darf ich noch einmal fragen, ob alle Anwesenden ihre Stimmkarte abgegeben haben? - Ich höre keinen Widerspruch.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird später bekannt gegeben. **)
Wir setzen die Beratungen fort. Um es spannender zu machen, gebe ich Ihnen das Ergebnis der ersten namentlichen Abstimmung zum Entschließungsantrag der CDU/CSU und der F.D.P. zu der Regierungserklärung der anstehenden Castor-Transporte auf Drucksache 13/7083 bekannt. Abgegebene Stimmen: 630. Mit Ja haben gestimmt: 324, mit Nein: 75. Enthaltungen: 231. Der Entschließungsantrag ist angenommen.
*) Seite 14362 C **) Seite 14365 A
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 627 davon
ja: 322
nein: 74
enthalten: 231
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Rudolf Braun Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Ulf Fink
Dirk Fischer
Leni Fischer
Klaus Francke
Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Detlef Helling
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe Peter Jacoby
Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr. -Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter
Dr. -Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Christian Lenzer Peter Letzgus
Editha Limbach Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Rauen
Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer
Hannelore Rönsch Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee
Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Marion Seib
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall Wolfgang Vogt
Dr. Horst Waffenschmidt Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann
Dr. Fritz Wittmann
Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer Wolfgang Zöller
F.D.P.
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Burkhard Hirsch Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr. Otto Graf Lambsdorff Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting
Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Hans-Werner Bertl Monika Ganseforth Reinhold Hemker
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Elisabeth Altmann
Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Angelika Beer
Matthias Berninger Annelie Buntenbach
Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner Antje Hermenau Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger Kerstin Müller
Winfried Nachtwei Christa Nickels
Egbert Nitsch Cem Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst Halo Saibold
Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt
Ursula Schönberger
Werner Schulz
Marina Steindor Christian Sterzing Manfred Such
Dr. Antje Vollmer Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm
Dr. Ruth Fuchs Andrea Gysi
Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller
Rosel Neuhäuser Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf Gerhard Zwerenz
Fraktionslos
Kurt Neumann
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Enthalten
SPD
Brigitte Adler Gerd Andres Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt
Hans Berger
Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Arne Börnsen Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht
Ursula Burchardt
Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler Freimut Duve Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger
Annette Faße Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Dagmar Freitag Anke Fuchs
Arne Fuhrmann Norbert Gansel Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck
Achim Großmann
Karl Hermann Haack Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Dr. Liesel Hartenstein
Dr. Ingomar Hauchler
Dieter Heistermann
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum
Uwe Hiksch
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Nicolette Kressl Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel
Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Klaus Lennartz
Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß Winfried Mante Dorle Marx
Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese Doris Odendahl
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick Joachim Poß
Rudolf Purps
Hermann Rappe
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse
Renate Rennebach Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Günter Rixe
Reinhold Robbe Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Dieter Schanz Rudolf Scharping Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Scully
Dieter Schloten Günter Schluckebier
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt
Dr. Emil Schnell Walter Schöler Ottmar Schreiner Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
Brigitte Schulte Reinhard Schultz
Volkmar Schultz (Köln)
Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Lisa Seuster
Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Dr. Peter Struck Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Margitta Terborg Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Karsten D. Voigt Josef Vosen
Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf Heidi Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley
PDS
Dr. Willibald Jacob
Der Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7064 wurde zurückgezogen. - Es steht hier und ist mir so mitgeteilt worden. Dann gehe ich davon aus, daß das richtig ist.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7085. Die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen verlangt ebenfalls namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, die Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle Mitglieder des Hauses, die anwesend sind, ihre Stimmkarten eingeworfen? - Nein, die Kollegin Lemke noch nicht.
Ich glaube, jetzt haben alle Mitglieder ihre Stimmkarten eingeworfen. - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird ebenfalls später bekanntgegeben. *) Wir setzen die Beratungen fort.
Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na-
*) Seite 14372C
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
mentlichen Abstimmung zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Regierungserklärung zu den anstehenden Castor-Transporten bekannt. Das ist die Drucksache 13/7084. Abgegebene Stimmen: 629. Mit Ja haben gestimmt: 278. Mit Nein haben gestimmt: 324, Enthaltungen: 27. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 628 davon
ja: 277
nein: 324
enthalten: 27
Ja
SPD
Brigitte Adler Gerd Andres Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Arne Börnsen Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht
Ursula Burchardt Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler Freimut Duve Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger
Annette Faße Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Dagmar Freitag Anke Fuchs
Arne Fuhrmann Monika Ganseforth
Norbert Gansel Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck
Achim Großmann Karl-Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein
Dr. Ingomar Hauchler
Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte Barbara Imhof Gabriele Iwersen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Nicolette Kressl Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel
Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Klaus Lennartz
Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß Winfried Mante Dorle Marx
Ulrike Mascher Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha)
Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese
Doris Odendahl
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Rudolf Purps
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Rudolf Scharping Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Ulla Schmidt
Dagmar Schmidt Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Brigitte Schulte Reinhard Schultz (Everswinkel)
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal Lisa Seuster
Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Dr. Peter Struck Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Margitta Terborg Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Karsten D. Voigt Josef Vosen
Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf Heidi Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Elisabeth Altmann
Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Angelika Beer
Matthias Berninger Annelle Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Antje Hermenau Kristin Heyne
Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller Winfried Nachtwei Christa Nickels
Egbert Nitsch Cem Özdemir
Gerd Poppe
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Simone Probst
Halo Saibold
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt (Langenfeld)
Ursula Schönberger
Werner Schulz Marina Steindor
Christian Sterzing
Manfred Such
Dr. Antje Vollmer
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
PDS
Klaus-Jürgen Warnick
Fraktionslos
Kurt Neumann
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Rudolf Braun Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert
Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Ulf Fink
Dirk Fischer Leni Fischer (Unna)
Klaus Francke Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres
Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Detlef Helling
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken
Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid
Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus
Editha Limbach Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wollgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer
Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold Anton Pfeifer
Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber
Peter Rauen
Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz
Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik
Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee
Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Erika Schuchardt Wollgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Marion Seib
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth
Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann Dr. Klaus Töpfer
Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall
Wolfgang Vogt Dr. Horst Waffenschmidt
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann Dr. Fritz Wittmann
Dagmar Wöhrl
Michael Wonneberger Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer
Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer
Wolfgang Zöller
SPD
Hermann Rappe
F.D.P.
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff Horst Friedrich Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr. Otto Graf Lambsdorff Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Sohns Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Ulla Jelpke
Steffen Tippach Dr. Winfried Wolf
Enthalten
CDU/CSU
Vera Lengsfeld
SPD
Hans Berger Brunhilde Irber
F.D.P.
Dr. Burkhard Hirsch
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs Andrea Gysi
Dr. Barbara Höll Dr. Willibald Jacob
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz
Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Gerhard Zwerenz
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4362, 13/5572, 13/1958, 13/ 6997, 13/7008 und 13/7062 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Gruppe der PDS zum Verbleib von 2 400 Tonnen Uran auf Drucksache 13/1958 - das ist
der Tagesordnungspunkt 4 e - soll jedoch nicht an den Rechtsausschuß überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Rücknahme der Weisung für die Einlagerung mittelradioaktiver Abfälle im Endlager Morsleben, Drucksache 13/4320. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2365 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Einstellung des Betriebs im Endlager Morsleben. Das ist die Drucksache 13/4320. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1378 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS angenommen.
Weitere Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur sofortigen Stillegung der Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist die Drucksache 13/ 5949. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4405 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 2 a bis 21 sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
2. Frauenpolitische Debatte
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn, Bärbel Sothmann, Renate Diemers und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger und der Fraktion der F.D.P.
Gleichberechtigung verwirklichen - Nationale Strategien nach der Vierten Weltfrauenkonferenz
- Drucksache 13/7057 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die 4. Weltfrauenkonferenz vom 4. bis 15. September 1995 in Peking
- Drucksache 13/6736 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritter Bericht der Bundesregierung über
die Förderung der Frauen im Bundesdienst
- Berichtszeitraum 1992 bis 1994 -
- Drucksache 13/5991 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Chancengleichheit für Frauen - Konsequenzen aus der Vierten Weltfrauenkonferenz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Christel Hanewinckel, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nachbereitung der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking 1995
- Drucksachen 13/4357, 13/4366, 13/6659 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Grießhaber
Christel Hanewinckel
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Heidemarie Lüth
Bärbel Sothmann
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Rita Grießhaber, Marieluise Beck (Bremen), Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umsetzung von Frauenförderprogrammen
- Drucksachen 13/4116, 13/6660 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Diemers
Rita Grießhaber
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Heidemarie Lüth
Hanna Wolf
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Heidi Knake-Werner, Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Einrichtung einer ständigen Kommission zur Umsetzung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
- Drucksachen 13/4102, 13/6696 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Brudlewsky Rita Grießhaber
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Heidemarie Lüth
Hanna Wolf
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Schoppe, Rita Grießhaber, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verwirklichung der Frauenrechte in Bosnien-Herzegowina im Rahmen des in Dayton geschlossenen Friedens
- Drucksachen 13/3991, 13/7060 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Schmidt
Dr. Elke Leonhard Gerd Poppe
Ulrich Irmer
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Grießhaber, Waltraud Schoppe, Gila Altmann , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Menschenrechte von Frauen in Afghanistan wiederherstellen
- Drucksache 13/5958 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf Bindig, Volker Neumann , Ulla Schmidt (Aachen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wiederherstellung der Menschenrechte - insbesondere der Rechte von Frauen - in Afghanistan
- Drucksache 13/5968 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Adler, Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Frauen und nachhaltige Entwicklungspolitik
- Drucksache 13/6738 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Ganseforth, Christel Hanewinckel, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Forum für Frauen auf der Expo 2000
- Drucksache 13/6590 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Heidi Knake-Werner, Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Beobachterstatus des Vatikans bei den Vereinten Nationen
- Drucksachen 13/4100, 13/6557 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Hanewinckel
Rita Grießhaber
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Heidemarie Lüth
Erika Reinhardt
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Adler, Doris Barnett, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umsetzung der Aktionsplattform von Peking - Frauenpolitik der Vereinten Nationen stärken
- Drucksache 13/7070 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuß
Zum Bericht der Bundesregierung über die Vierte Weltfrauenkonferenz liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Claudia Nolte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche und vollziehen dabei an der Schwelle des 21. Jahrhunderts den Übergang von einer Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. Wir stehen im globalen Wettbewerb, der letztlich alle Bereiche mit einbezieht: Bildungssysteme, fiskalische Systeme, Sozialsysteme bis hin zur Frage der Effektivität von Verwaltung. Niemand bestreitet, daß wir Reformen brauchen. Wir können und wollen die Globalisierung nicht ignorieren, sondern wir sind vielmehr gefordert, diese Entwicklung mit Strukturveränderungen positiv zu begleiten.
Die notwendigen Veränderungen wecken aber auch Ängste, die wir sehen und ernst nehmen müssen. Gerade Frauen fürchten, in dieser Umbruchphase abgedrängt zu werden. Wir erleben diese Problematik besonders deutlich in den neuen Bundesländern. Die Situation der Frauen auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt mit einer kontinuierlich hohen Arbeitslosigkeit von Frauen stellt eine enorme Belastung für sie dar. Ich halte es für nicht akzeptabel, wenn manche nun davon reden, das habe mit einer höheren Erwerbsneigung - was auch immer dies in diesem Zusammenhang sein soll - zu tun, die sich dann schon legen würde.
Es ändert sich aber nicht nur die Welt der Wirtschaft. Auch das Selbstverständnis und die Lebensplanung von Frauen haben sich stark gewandelt, im Osten wie im Westen. Die Mehrzahl der Frauen heute will erwerbstätig sein. Das ist auch möglich. Im wachsenden Dienstleistungs-, Informations- und Mediensektor wird zunehmend Flexibilität gefordert. Moderne Formen der Arbeitszeitgestaltung entstehen. Hohe Kompetenz im kommunikativen und im sozialen Bereich sind notwendige Schlüsselqualifikationen. Diese bringen gerade Frauen mit.
Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den alten Bundesländern bestätigt, daß Frauen von den Veränderungen in der Wirtschaft profitieren. In der Zeit von 1983 bis 1992 wurden von den drei Millionen neuen Arbeitsplätzen, die geschaffen worden sind, zwei Millionen von Frauen besetzt. Auch ein Vergleich der Arbeitslosenquoten in Westdeutschland belegt, daß die Arbeitslosenquote von Frauen seit 1994 nicht mehr höher war als die der Männer.
Sicher hat zu dieser Entwicklung mit beigetragen, daß die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit wesentlich verbessert worden sind. Stichworte dafür sind Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht, Eingliederungshilfen nach einer Erziehungspause, aber auch ein vermehrtes Angebot an Teilzeitarbeit. Auch die berufliche Qualifikation von Frauen ist besser als je zuvor. Beispielsweise nehmen heute wesentlich mehr Frauen ein Studium auf als Männer. Um so beschämender ist es, daß es heute im Vergleich kaum mehr C-3- und C-4-Professorenstellen bei Frauen als vor 25 Jahren gibt.
Ich wünsche mir, daß wir in Zusammenarbeit von Bund und Ländern hier in den nächsten Jahren eine deutliche Steigerung erreichen. Dem dritten Hochschulsonderprogramm kommt als Instrumentarium für Frauenförderung eine ganz entscheidende Funktion zu. Neben frauenfördernden Maßnahmen sind
Bundesministerin Claudia Nolte
dort auch beispielhafte Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Qualifikation und Erziehungsarbeit enthalten. Gerade die Tatsache, daß Familienarbeit noch immer hauptsächlich von Frauen geleistet wird, führt dazu, daß Frauen in ihrem beruflichen Werdegang benachteiligt bzw. auf dem Arbeitsmarkt einem stärkeren Druck ausgesetzt sind. Deshalb müssen wir dem gezielt entgegensteuern, und zwar gerade dort, wo wir direkte Einflußmöglichkeiten haben, nämlich im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Wir schreiben mit der Reform des Arbeitsförderungsgesetzes erstmals Frauenförderung in einer eigenständigen gesetzlichen Vorschrift fest. Es muß zielgenau gefördert werden, gerade in einer Zeit enger Haushaltsspielräume. Es ist wahr, und niemand kann es leugnen: Die finanziellen Möglichkeiten sind geringer geworden. Das ist wohl eine Tatsache, der man sich beugen muß.
Wir haben den Arbeitsämtern durch die im Arbeitsförderungs-Reformgesetz festgelegte Dezentralisierung der Arbeitsverwaltung aber auch mehr Spielräume und flexiblere Möglichkeiten eingeräumt, um spezifische Bedürfnisse von Frauen besser zu berücksichtigen. Zudem werden Ansprüche für Frauen erweitert, indem wir die Rahmenfristen entsprechend verändert haben. Auch die Absicherung von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die jetzt zusätzlich in die Arbeitslosenversicherung einbezogen werden, ist verbessert worden. Das heißt, wir haben die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Teilzeit verbessert. Aber nun müssen auch die Tarifpartner diese Möglichkeiten ausschöpfen. Im Betrieb werden die Arbeitsabläufe und die Arbeitszeiten festgelegt. Im Betrieb wird entschieden, ob Arbeitszeiten flexibel sowie familien- und frauenfreundlich sind. In den Betrieben wird entschieden, ob Teilzeit auch in qualifizierten Positionen möglich ist, so daß sie auch für Männer interessant wird.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat recht, wenn er sagt: Wir werden Teilzeit nicht gesellschaftsfähig machen können, wenn das immer nur etwas für die niedrigen Lohngruppen und für die Frauen ist. Deshalb muß gerade in diesem Bereich eine Änderung erfolgen. Hier sind die Unternehmen, die Tarifpartner insgesamt gefordert.
Es ist in der Vergangenheit gelungen, die Beschäftigungsangebote über die aktive Arbeitsmarktförderung - wie ABM, § 249h, Fortbildung und Umschulung - gezielt Frauen zugute kommen zu lassen. Der Anteil der geförderten Frauen in ABM liegt seit 1994 bei über 60 Prozent, im letzten Jahr sogar bei 65,4 Prozent. Im Bereich Fortbildung und Umschulung beträgt der Anteil 63,5 Prozent.
Ich sage aber ganz klar: Eine solche Entwicklung darf nicht dazu führen, daß wir zu einer Arbeitsmarktteilung kommen nach dem Motto: der erste Arbeitsmarkt den Männern, der zweite den Frauen. So wichtig diese arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien - gerade auch für Ostdeutschland - sind: Wir
brauchen die Eingliederung von Frauen und Mädchen vor allen Dingen in den ersten Arbeitsmarkt. Dies verlangt eine hervorragende Ausbildung, eine Qualifikation von Frauen und Mädchen,
neue Betätigungsfelder und ein breiteres Berufsspektrum, als es bislang gewählt wurde.
Wir haben deshalb gemeinsam mit den Ländern den „Förderschwerpunkt Mädchen und Frauen" im Bildungswesen mit einer Vielzahl von Modellvorhaben eingerichtet. Das ist ein Ansatz, das Qualifikationspotential von Frauen zu verbessern und damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu steigern.
Dem dient auch das 1996 eingeführte MeisterBAföG. Durch die darin enthaltenen Regelungen für Frauen mit Kindern zur Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen auch während des Erziehungsurlaubs können wir die Chancen für die Qualifikation und die Karrieremöglichkeiten für Frauen gerade in Handwerksbetrieben wesentlich verbessern. Wir wissen, viele Handwerksbetriebe stehen vor einem Generationswechsel und suchen Nachfolger. Mit einer entsprechenden Meisterausbildung ist die Chance für junge Frauen entsprechend größer.
Aber insgesamt sind die Unternehmen stärker gefordert, ihre Personalpolitik so zu betreiben, daß Frauen besser gefördert werden und mehr Chancen haben. Um dies zu unterstützen, sind Total-EqualityPrädikate erarbeitet worden, deren Verleihung jetzt erstmals stattgefunden hat. Wir unterstützen dies in der Hoffnung, Multiplikationseffekte zu erreichen.
Ein wichtiger Grund für Frauen, erwerbstätig zu sein, ist nicht zuletzt die soziale Absicherung im Alter. Sie erfolgt in unserem Gesellschaftssystem grundsätzlich über die Erwerbstätigkeit. Aber, meine Damen und Herren, es gehört doch zu einem gerechten Belastungsausgleich, wenn wir gerade für die Frauen eine bessere Alterssicherung schaffen, die auf Grund von Erziehungs- und Pflegetätigkeiten in der Familie bewußt ihre eigene Berufstätigkeit zurückgestellt haben.
Ich sage klipp und klar: Die Anerkennung der Kindererziehungszeiten im Rentenrecht ist keine versicherungsfremde Leistung.
Ich halte es vielmehr für geboten, daß es innerhalb des Versicherungssystems zu einem Belastungsausgleich zwischen Kinderlosen und denjenigen kommt, die Kinder erziehen, und zwar zu deren Gunsten.
Deshalb setze ich mich sehr dafür ein, daß wir die jetzige Rentenreform dafür nutzen, die Erziehungszeiten von Frauen stärker als bisher anzuerkennen.
Bundesministerin Claudia Nolte
Es ist doch nicht einzusehen, warum Erziehungszeiten immer noch schlechter bewertet werden als Erwerbszeiten. Wir sagen alle: Familienarbeit und Erwerbstätigkeit sind doch gleichwertige Tätigkeiten. Das muß sich auch bei der Bewertung in bezug auf die Rente widerspiegeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz aller Maßnahmen, Aktionen und Verbesserungen in den vergangenen Jahren können wir uns mit dem Stand der Gleichberechtigung nicht zufriedengeben. Wir merken auch in den Nachbarländern, in allen Industrieländern, wie wenig sich Chancengleichheit ausschließlich über Gesetze, Verordnungen oder den Weg von oben durchsetzen läßt. Wir haben eine ganze Reihe von rechtlichen Regelungen, mehr als je zuvor. Wir hatten noch nie so viele Instrumentarien und Institutionen in Bund, Ländern und Kommunen, die dazu beitragen sollen, die Durchsetzung der Gleichberechtigung zu erreichen. Trotzdem ist es nicht gelungen. Es geht eben nicht, wenn nicht alle gesellschaftlichen Kräfte daran mitwirken. Wir brauchen die Tarifpartner, die Unternehmen und die Organisationen, um gleiche Rechte und Chancen von Frauen und Männern im Alltag, in politischen Entscheidungsgremien, in wirtschaftlichen Führungspositionen durchzusetzen.
Deshalb brauchen wir einen kontinuierlichen gesellschaftlichen Dialog zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Mit der Verabschiedung der Aktionsplattform auf der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking haben wir uns selber verpflichtet, zusammen mit den gesellschaftlichen Kräften gemeinsame nationale Strategien zu einer besseren Umsetzung der gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen zu erarbeiten. Es gibt eine große Übereinstimmung bei den drei strategischen Hauptschwerpunkten: Der gleichberechtigte Zugang von Frauen zu Entscheidungspositionen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft muß verbessert werden. Verbessert werden muß die Situation der Frauen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Die Menschenrechte und die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen sind ein weiterer Schwerpunkt, der mir ein besonderes Anliegen ist. Wir müssen weiter das Bewußtsein dafür schärfen, daß es keinerlei Rechtfertigung für jegliche Form der Gewaltanwendung, besonders gegen Mädchen und Frauen, geben kann. Wir erleben zur Zeit in erschreckender Weise die Zunahme beim Handel mit Frauen, gerade auf Grund der Nähe zu Osteuropa. Ich habe deshalb initiiert, daß wir den Arbeitskreis „Frauenhandel" einrichten, der heute seine Arbeit aufnehmen wird, um Verantwortungsträger aus unterschiedlichen Bereichen zusammenzubringen - es gibt ja eine unterschiedlich verteilte Verantwortung in diesem Bereich -, um wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Frauen zu erarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Erstellung der nationalen Strategie ist ein sehr intensiver Diskussionsprozeß vorangegangen, angefangen mit der nationalen Nachbereitungskonferenz in Zusammenarbeit mit Bundesländern und mit gesellschaftlichen Organisationen. Dennoch ist es - was ich sehr bedauere - nur in Teilbereichen gelungen, auch andere gesellschaftliche Kräfte und Verantwortungsträger dazu zu motivieren, daß sie sich für ihren Verantwortungsbereich gleichermaßen verpflichten und Handlungsaktivitäten aufzeigen und benennen. Bislang haben nur die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen im einzelnen die Forderungen der Aktionsplattform für sich konkretisiert.
Aber die nationalen Strategien sind ein Prozeß. Mit der Vorlage des Papiers ist dieser Prozeß nicht abgeschlossen, sondern es ist ein fortlaufender Prozeß, so daß weiterhin alle gesellschaftlichen Kräfte gefordert sind und die Chance und die Möglichkeit haben, sich in eine effektive Umsetzung der nationalen Strategie einzubringen, damit wir eine bessere Teilhabe von Frauen und Männern auf allen Ebenen unserer Gesellschaft erreichen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Niehuis?
Wie könnte ich das verwehren?
Ich bedanke mich. - Sie haben die Bundesländer gelobt, die ihre Vorschläge nach der Weltfrauenkonferenz bei Ihnen eingereicht haben. Bei den bayerischen Vorschlägen steht, daß Bayern von jetzt ab plant, in die Verfassung aufzunehmen, daß Säuglingskurse für Mädchen Pflicht werden.
Halten Sie das im Sinne der Weltfrauenkonferenz für sinnvoll?
Mir ist, ehrlich gesagt, die-
Bundesministerin Claudia Nolte
ser Punkt bei der Aufnahme in die Aktionsplattform so nicht aufgefallen.
Ich hatte den Eindruck, daß Bayern genau diesen Punkt in der Verfassung ändern will, Frau Niehuis. Da würde ich noch einmal genau nachschauen.
Im Grundsatz ändert das nichts an der Tatsache, daß ich mir gewünscht hätte, daß auch andere Länder, die von sich sagen, daß sie sehr fortschrittlich sind und viel gemacht haben, ihre Zuarbeit geleistet hätten, so daß wir sie hätten aufnehmen können und sie sich auch hätten präsentieren können.
- Ich bin davon überzeugt, daß das so in der Sache auch nicht okay ist.
Natürlich müssen die nationalen Strategien auch überprüft werden. Nach meiner Einschätzung bietet sich die Weltausstellung Expo 2000 in hervorragender Weise an, national eine Zwischenbilanz der Gleichberechtigung zu ziehen. Deshalb setze ich mich dafür ein, daß Frauen bei der Expo 2000 die Möglichkeit der Begegnung und des Austausches haben und daß Anliegen und Forderungen der Frauen aus dem Zusammenhang der Vierten Weltfrauenkonferenz dort mit eingebracht werden können und in vielen Ausstellungsbereichen und Veranstaltungen ihre Berücksichtigung finden. Der Beitrag von Frauen zum Prozeß der nachhaltigen Entwicklung muß sich auf dieser Weltausstellung deutlich widerspiegeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer am Ende des 20. Jahrhunderts meint, die Herausforderungen und Probleme, die sich stellen, ohne Frauen meistern zu können, verpaßt den Einstieg in das 21. Jahrhundert.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Regierungserklärung der Bundesregierung zu den anstehenden Castor-Transporten - Drucksache 13/7085 - bekannt. Abgegebene Stimmen: 633. Mit Ja haben gestimmt: 295. Mit Nein haben gestimmt: 323. Es gab 15 Enthaltungen. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 631; davon
ja: 293
nein: 323
enthalten: 15
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Arne Börnsen Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht
Ursula Burchardt
Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Freimut Duve
Ludwig Eich
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Dagmar Freitag
Anke Fuchs
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Norbert Gansel
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Achim Großmann
Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach
Dr. Ingomar Hauchler Dieter Heistermann Reinhold Hemker
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum
Uwe Hiksch
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Nicolette Kressl Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel
Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga Winfried Mante Dorle Marx
Ulrike Mascher Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese Doris Odendahl
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick Joachim Poß
Rudolf Purps
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse
Renate Rennebach
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Ulla Schmidt
Dagmar Schmidt Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Lisa Seuster
Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller
Antje-Marie Steen Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Margitta Terborg
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Karsten D. Voigt Josef Vosen
Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner
Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier Dr. Norbert Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf Heidi Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Elisabeth Altmann
Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Angelika Beer
Matthias Berninger Annelie Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Antje Hermenau Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller Winfried Nachtwei Christa Nickels
Egbert Nitsch Cem Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Halo Saibold
Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt
Ursula Schönberger Werner Schulz Marina Steindor Christian Sterzing Manfred Such
Dr. Antje Vollmer Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs
Andrea Gysi
Dr. Gregor Gysi Dr. Barbara Höll Dr. Willibald Jacob
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz
Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf
Gerhard Zwerenz
Fraktionslos
Kurt Neumann
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Rudolf Braun Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert
Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Ulf Fink
Dirk Fischer Leni Fischer (Unna)
Klaus Francke
Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres
Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl
Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Detlef Helling
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken
Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr. -Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter
Dr. -Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Reiner Krziskewitz
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus
Editha Limbach Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer
Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch
Ulrich Petzold Anton Pfeifer
Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Rauen
Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz
Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik
Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee
Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Dr. -Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Marion Seib
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer
Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall
Wolfgang Vogt Dr. Horst Waffenschmidt
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann Dr. Fritz Wittmann
Dagmar Wöhrl
Michael Wonneberger Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer
Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer
Wolfgang Zöller
SPD
Hans Berger
Rolf Hempelmann Hermann Rappe
F.D.P.
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn
Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff Horst Friedrich Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr. Otto Graf Lambsdorff Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Enthalten
CDU/CSU
Vera Lengsfeld
SPD
Peter Enders
Norbert Formanski Dieter Grasedieck
Dr. Liesel Hartenstein Hans-Ulrich Klose Werner Labsch
Klaus Lennartz
Dieter Maaß Dieter Schanz
Horst Schild
Brigitte Schulte Wolfgang Weiermann Peter Zumkley
F.D.P.
Dr. Burkhard Hirsch
Nun rufe ich als nächste Rednerin die Abgeordnete Dr. Edith Niehuis auf.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir blicken auf eine Reihe von Weltfrauenkonferenzen zurück, angefangen 1975 in Mexiko, 1980 in Kopenhagen, 1985 in Nairobi und 1995 in Peking. Vieles wurde auf diesen Konferenzen beschlossen, um die Situation der Frauen in der Welt zu verbessern - das heißt auch immer, die Situation der Frauen in Deutschland zu verbessern.
Die Pekinger Konferenz unterscheidet sich von ihren Vorgängerinnen in einem ganz wesentlichen Punkt. Hier wurden nicht nur frauenpolitische Ziele beschlossen. Vielmehr haben sich die Regierungen
Dr. Edith Niehuis
der Welt verpflichtet, konkret zu handeln. Frau Ministerin, ich hätte von Ihrer Rede erwartet, daß Sie uns heute das konkrete Handeln der Bundesregierung vorgestellt hätten.
Aber Ihre Rede paßt genau zu den „Nationalen Strategien zur Umsetzung der Aktionsplattform der 4. Weltfrauenkonferenz", die Sie vorgelegt haben. Wenn es einen Preis dafür gäbe, auf viel Papier wenig auszusagen, dann hätten Sie diesen Preis verdient.
Nun weiß ich sehr wohl, daß Frauenministerinnen es nicht leicht haben. Es gibt viele Kräfte, die sich wehren, wenn Fraueninteressen durchgesetzt werden sollen. Aber der heutige Parlamentstag ist wieder einmal exemplarisch. Da kommt der Innenminister und läßt sich ganz kurzfristig einfallen, daß er - und nur er - heute vormittag reden soll. Und was macht die Regierungsmehrheit? Sie schiebt ohne Widerstand die Frauendebatte nach hinten.
Dieses Zurückweichen - das sage ich insbesondere an Sie, meine Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU - auf Kosten der Frauen steht exemplarisch für Ihre Regierungspolitik.
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten dem Schlußwort der norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland auf der 4. Weltfrauenkonferenz besser zugehört. Sie hat nämlich damals daran erinnert, daß Rechte nicht gewährt werden, sondern immer erkämpft werden müssen. Das erwarte ich auch von unserer Frauenministerin.
Doch wenn ich mir Ihre nationalen Strategien anschaue, dann stelle ich fest: Es sind eine Reihe von Modellprojekten, die Sie da angeben. Modellprojekte haben ihren Sinn. Aber ich habe etwas gegen Modellprojekte, wenn sie der einzige Inhalt von Politik werden und die Bundesregierung darauf verzichtet, die Gesetze, die sie für Frauen schaffen könnte, zu beschließen.
Wenn man Ihre nationalen Strategien liest, könnte man eigentlich meinen, daß die Bundesregierung gesetzesmüde ist. Sie, Frau Ministerin, haben Gesetze für Frauen ja in Ihrer Rede abgelehnt. Leider stimmt das mit der Gesetzesmüdigkeit nicht. Wir alle wissen: Von Woche zu Woche jagen Sie ein Kürzungsgesetz nach dem anderen durch dieses Parlament, und immer gehen diese Gesetze insbesondere zu Lasten von Frauen und ihren Familien.
So ist die Umsetzung der Ergebnisse der Weltfrauenkonferenz in Deutschland mit Sicherheit nicht gemeint gewesen.
Nun haben Sie, Frau Ministerin, davon geredet, daß die Zahl der erwerbstätigen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland zugenommen habe. Im zweiten Teil Ihrer Rede haben Sie gesagt, Sie würden eine Situation nicht mitmachen, in der der zweite Arbeitsmarkt für die Frauen und der erste für die Männer ist. Was meinen Sie denn nun eigentlich? Haben die Frauen auf dem ersten Arbeitsmarkt zugewonnen, oder sind sie auf den zweiten Arbeitsmarkt angewiesen? Da müssen Sie sich schon entscheiden.
Das Problem ist, daß Sie in der Tat recht haben, daß die Zahl der erwerbstätigen Frauen zugenommen hat. Aber wo hat sie zugenommen? - Bei den nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Dazu möchte ich gerne einmal zitieren, was Sie vor einem Jahr in der „Weltbild" zu den sogenannten 590-DM-Jobs gesagt haben:
Diese 590-DM-Jobs sind in meinen Augen ein ganz klarer Mißbrauch der sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse, der zu Lasten von Frauen geht.
Sie haben recht. Die schätzungsweise 6 Millionen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse gehen immer zu Lasten der Frauen.
Sie haben vor einem Jahr in Aussicht gestellt, daß die Bundesregierung prüfen werde, ob man diesem Mißbrauch nicht gesetzlich begegnen könnte. Ein Jahr später legen Sie nationale Strategien vor, und von diesem Mißbrauch zu Lasten der Frauen ist keine Rede, auch nicht von irgendeinem Gesetz, das Sie hier vorlegen möchten. Schauen Sie sich an, was die SPD dazu vorgelegt hat. Wir können heute gern anfangen, die 610-DM-Jobs gemeinsam zu bekämpfen.
Sie stellen zu Recht fest, daß Frauen bei Einstellungen und Beförderungen benachteiligt sind. Das spüren die Frauen im Westen schon seit Jahren. Ganz besonders hart trifft es jetzt aber die Frauen im Osten. Viele werden unmittelbar oder mittelbar diskriminiert. Leider wird es den Frauen in Deutschland auf Grund unserer Gesetzeslage - und Ihr sogenanntes Gleichberechtigungsgesetz ist da auch zahn- und bißlos - sehr schwergemacht, eine Benachteiligung auf Grund ihres Geschlechts nachzuweisen.
Darum war es begrüßenswert, daß die EU-Kommission einen Richtlinienvorschlag gemacht hat, der bei den vielen feinsinnigen Diskriminierungen die Beweislast nicht nur bei den Frauen belassen, sondern auch die Arbeitgeber zwingen wollte, nachzu-
Dr. Edith Niehuis
weisen, daß sie im konkreten Fall nicht die Absicht hatten, die Frau auf Grund ihres Geschlechts zu benachteiligen. Doch was ist passiert? Die Bundesregierung hat ihre ganze Kraft aufgebracht, diesen frauenpolitischen Fortschritt in Europa zu verhindern. Das ist nach der Weltfrauenkonferenz ein Skandal.
Die Folge ist: In Deutschland werden Frauen es weiterhin schwerhaben, ihre Benachteiligung bei Bewerbungen nachzuweisen. Der Dank möge an diese Bundesregierung gehen.
Dieses Verhalten der Bundesregierung nach der Weltfrauenkonferenz paßt überhaupt nicht zu ihrem Ziel, das sie selbst propagiert: die Situation der Frauen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.
Gern erinnere ich Sie daran, daß die SPD bereits in der letzten Legislaturperiode ein Gleichstellungsgesetz vorgelegt hat, das schon damals den Weg gehen wollte, den die EU-Kommission jetzt vorgeschlagen hat. Es wäre sehr schön gewesen, wenn Sie - mit Verzögerung - zumindest jetzt eingesehen hätten, daß das der richtige Weg ist.
Die Bundesrepublik Deutschland wird in den nächsten vier Jahren Mitglied der bei den Vereinten Nationen angesiedelten Kommission für die Rechtsstellung der Frau. Ich habe meine Probleme, mich darüber ehrlich zu freuen. Weil ich befürchte, daß Sie dann auch auf internationaler Ebene die Blockadepolitik gegen Frauen vollziehen, die Sie schon auf europäischer Ebene betreiben, bitte ich Sie, diese Position nicht anzunehmen. Warten Sie bis 1998; dann kann eine andere Regierung Frauenpolitik auch international durchsetzen.
Regelrecht empört war ich über Ihre Äußerungen, die Sie hier hinsichtlich der Anerkennung von Erziehungsleistungen bei der Rente gemacht haben. Als Sie vor ein paar Monaten das Renteneintrittsalter für erwerbstätige Mütter heraufgesetzt haben, haben Sie den Frauen die Anerkennung für ihre Erziehungsleistungen bei der Rente im Grunde entzogen, anstatt ihnen bessere Anerkennung zu geben.
- Natürlich!
Sie haben den Frauen im Zuge der Rentenreform jetzt wieder eine bessere Anerkennung der Erziehungsleistungen in Aussicht gestellt. Das, was Sie in Ihrer Kommission vorgelegt haben, was sich Familienkasse nennt, ist allerdings eine reine Mogelpakkung. Das, was Sie hier als Familienkasse bezeichnen, ist im Grunde ein Dokument, daß Kinder- und Erziehungsleistungen nichts mit der Rentenkasse und auch nichts mit einem Rentenanspruch zu tun haben sollen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie hier wieder einmal gesagt haben. Wir werden verfolgen, ob Sie in der Rentenreformkommission erfolgreich sein werden, in diesem Bereich irgend etwas durchzusetzen.
Sie haben Menschenrechte und Schutz der Frauen vor Gewalt zu einem Schwerpunktthema gemacht. Auch dies können wir nur begrüßen. Leider steht in den nationalen Strategien auch hierzu nichts, was den Frauen Hoffnung machen könnte.
Ich möchte Sie an dieser Stelle doch einmal daran erinnern: Es wird dringend Zeit, daß die Vergewaltigung in der Ehe ebenso strafrechtlich verfolgt werden kann wie die Vergewaltigung außerhalb der Ehe.
Ich bitte Sie eindringlich, von der Widerspruchsklausel Abstand zu nehmen. Sonst müssen Sie der Öffentlichkeit irgendwann einmal erklären, warum die Ehefrau für Sie eine Frau minderen Rechts ist.
Ausländischen Frauen muten Sie nach wie vor zu, daß sie auch bei außergewöhnlicher Härte ein Jahr in der Ehe verbleiben müssen, wenn sie nicht ausgewiesen werden sollen. Was „außergewöhnliche Härte" ist, haben Sie, Frau Ministerin, in einem „Express" -Interview am 14. November 1996 anschaulich beschrieben. Ich zitiere:
Ausländische Ehefrauen erdulden über lange Zeit schlimmste Mißhandlungen, sexuelle Erniedrigungen und andere Grausamkeiten und sind dabei in einer absolut menschenunwürdigen Lage.
Können Sie einmal erklären, warum die Frauen ein Jahr lang diese menschenunwürdige Lage ertragen müssen, bevor die Bundesregierung sie endlich erhört? Das ist eine Menschenrechtsverletzung auf deutschem Boden.
Die Bundesregierung hat sich auf der 4. Weltfrauenkonferenz verpflichtet, die dort beschlossene Aktionsplattform politisch umzusetzen. Mit Ihren jetzt vorgelegten nationalen Strategien kommen Sie Ihren Verpflichtungen nicht nach. Sie werden wortbrüchig. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie Ihre Vorschläge anreichern mit Gesetzesvorhaben, die den Frauen wirklich dienen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Rita Grießhaber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Peking sollte ein Aufbruch sein für die Frauen weltweit. Aber was wir hier in der Bundesrepublik seither frauenpolitisch erlebt haben, waren bittere Abwehrkämpfe - meistens erfolglos: Bayern hat den § 218 verschärft, kranken Schwangeren wird die Lohnfortzahlung gekürzt, und Frauen sollen später in Rente gehen. Diese Politik setzt auf Einschüchterung, Verunsicherung und Kürzungen, während sich die Frauen den gesellschaftlichen Umbrüchen stellen.
Die Frauen haben im Zuge von Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen ihre Handlungsspielräume erweitert. Mehr Frauen als früher machen zum Beispiel von der Möglichkeit Gebrauch, sich aus tradierten Bindungen zu lösen, und Frauen können heute einen gewalttätigen Partner verlassen.
Mit dem Gewinn von Unabhängigkeit geht dabei aber ein Verlust überkommener Versorgungszusammenhänge einher, zum Beispiel bei Scheidung. Dieser Individualisierungsprozeß hat für die Frauen sehr ambivalente Auswirkungen: Einerseits gewinnen sie Freiräume, andererseits werden sie in ihrer materiellen Lebensgestaltung zunehmend abhängig vom Arbeitsmarkt. Und daß der ihnen nicht die besten Chancen bietet, wissen wir alle.
Frauen sind in ihrer heutigen Lebensplanung einem erhöhten Anpassungsdruck in Richtung eines erwerbszentrierten Männerlebens ausgesetzt. Aber sie sollen nicht ganz so wie das männliche Vorbild leben. Denn Frauen, die nicht auf Familie verzichten, bleiben daneben weiterhin zuständig für den Abwasch, für das Windelwechseln und für die Pflege der Alten. Die Frauen sind in der Alltagsrealität die Alleinerziehenden, die erwerbstätigen Mütter, die berufstätigen Töchter von pflegebedürftigen Eltern. Diese Lebenslagen zeigen, welch belastetes Leben sie zum Teil führen.
Oft reicht die Erwerbstätigkeit aber nicht, um eine eigene Existenz abzusichern. Flexibilisierung und Pluralisierung der Beschäftigungsformen verweisen Frauen auf Teilzeit oder - noch viel mehr - auf ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse. Frauen erfüllen doch schon zu einem großen Teil alle Deregulierungswünsche der Wirtschaft. Daß sie so anpassungsfähig sind, macht sie teilweise zu Gewinnerinnen auf dem Dienstleistungsmarkt. Aber der Preis, den sie bezahlen, ist hoch: Denn trotz enormer Belastung erzielen viele nur armutsnahe oder nicht existenzsichernde Einkommen.
Für die Politik heißt das: Frauen sind stärker auf soziale Unterstützung und soziale Dienstleistungen angewiesen als Männer, und das in einer Zeit, wo genau diese Leistungen mehr und mehr zurückgefahren statt ausgebaut werden. Wohin mit dem Kind unter drei Jahren? Wo bleibt die Ganztagsschule mit Mittagessen? Es ist viel vom Umbau des Sozialstaats die Rede. Aber statt immer wieder seine Existenzberechtigung in Frage zu stellen, müssen wir doch alle
sehr viel mehr danach fragen, welche Unterstützung soziales Leben in dieser Gesellschaft braucht.
Jedem System sozialer Sicherung, egal welcher Ausprägung, liegt eine Geschlechterordnung zugrunde. Diese formuliert Normen, Erwartungen an die Geschlechter. Wer soll für das kleine Kind sorgen? Wer übernimmt den finanziellen Part? Wird die Hausarbeit an Dienstmädchen delegiert? Welche sozialen Kosten welcher Art sollen jeweils in Kauf genommen werden, von den einzelnen, von der Gemeinschaft?
Wir müssen von der Fixierung des Blicks auf Erwerbsarbeit wegkommen, wenn es um soziale Sicherung geht. Erziehungs- und Pflegearbeit sind gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die auch eine entsprechende Anerkennung bekommen müssen. Sie sollen nicht aus dem Rentensystem herausdividiert werden.
Die Normalbiographie, die für Männer immer mehr bröckelt, gab es für eine große Zahl von Frauen nie.
Natürlich ist Politik und besonders Sozialpolitik auch eine Frage des Geldes - das bestreitet hier keiner -, aber eben nicht ausschließlich. Sie ist auch und ganz stark von den gesellschaftlichen Werten und damit in unserem Fall vom zugrunde liegenden Frauen- und Männerbild beeinflußt.
Hier liegt meiner Meinung nach der größte Reformbedarf in der Bundesregierung.
Politik muß endlich den Rahmen für die Akzeptanz von Widersprüchen schaffen: Ein- und Ausstiege in verschiedenste Gebiete ermöglichen, sei es Vollerwerbstätigkeit, Erziehung, Pflege, Weiterbildung oder Teilzeit. Sie darf nicht bestrafen, und zwar weder Frauen noch Männer.
Individualrechte sind in unserer Gesellschaft glücklicherweise ein hohes Gut, aber die Kosten zunehmender Individualisierung dürfen dabei nicht tabuisiert werden. Soziale Netze, die oft von Frauen aufrechterhalten wurden, fallen weg, eine Obernahme von mehr sozialer Verantwortung durch die Männer findet nicht statt. Das ist auf Dauer kein tragfähiges Gerüst für eine soziale Gesellschaft.
Wie groß das Desaster einer Gesellschaft ohne individuelle Rechte für Frauen ist, hat mir ein Besuch in Afghanistan drastisch vor Augen geführt. Als die islamistischen Taliban-Milizen Kabul eingenommen haben, war das Entsetzen im Westen über die Zerstörung der städtischen Kultur und die Verbannung der Frauen aus der Öffentlichkeit groß.
Inzwischen ist der Protest verstummt, ja, teilweise hat in der Berichterstattung sogar eine Relativierung stattgefunden: Die Taliban brächten Ruhe und Ord-
Rita Grießhaber
nung, und überhaupt sei das, was sie vertreten, sowieso Realität in den ländlichen Gebieten.
Ich war in Kabul, ich habe gehört, was die Mullahs über die Frauen sagen: ein bißchen Bildung, wenn das Erziehungswesen eines fernen Tages geschlechtsgetrennt organisiert sein wird, Erwerbstätigkeit im medizinischen Bereich, weil man den Frauen die medizinische Behandlung schließlich nicht verweigern darf, keine Arbeit in der öffentlichen Verwaltung, kein Recht auf öffentliche Verkehrsmittel.
Männer reden dort in der Öffentlichkeit nicht mit Frauen, und Frauen müssen sich unter der Burka verstecken. Ich habe so eine Burka ausprobiert: Die Frau hat ein eingeschränktes Blickfeld durch ein Stoffgitter vor den Augen, durch die verdeckten Ohren hört sie so gut wie nichts, und ihre Stimme wird abgedämpft.
Die Not und das Elend in Afghanistan sind groß. Kabul ist zu großen Teilen zerstört. Die Perspektiven sind bedrückend. Die Taliban bringen Ordnung und Friedhofsruhe, und sie zerstören die Zivilisation. Ihr Regime lechzt nach Anerkennung, die Mullahs wollen, daß die deutsche Regierung einen der ihren in der Botschaft hier akkreditiert. Wer sich einmischen will, muß das jetzt tun. Dieses Mullah-Regime darf von uns nicht anerkannt werden!
Meine Damen und Herren, über ein Jahr ist es her, daß die Weltfrauenkonferenz in Peking stattgefunden hat. Von der Aufbruchstimmung der Frauen dort ist hier sowieso nicht viel angekommen. Nun sieht es ganz danach aus, als würden ihre Ergebnisse und Beschlüsse im Klein-klein des bundesdeutschen Politik- und Sparalltags untergehen.
Ihr Ministerium, Frau Nolte, hat den Umsetzungsplan vorgelegt. Sie sprechen darin von Strategien, aber viel Strategisches kann ich in diesem Bericht wirklich nicht entdecken. Sie beklagen, daß die gesellschaftlichen Gruppen bei der Umsetzung nicht mitmachen, aber es ist doch Ihr Job, Ihrer Regierung Beine zu machen.
Wenn Sie wie die Koalitionsfraktionen in ihrem heutigen Antrag Frauenpolitik als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe begreifen, dann gelten unsere Fragen auch Ihren abwesenden Kollegen: Wo sind denn die Verbesserungen für die Frauen in der Steuerreform von Herrn Waigel? Der Wirtschaftsminister ist nur zu hören, um die einseitige Berufswahl von Frauen zu diffamieren. Wo bleibt denn Herr Rexrodt mit einem Konzept für Existenzgründungen für Frauen?
Die F.D.P. hat es nicht fertiggebracht, eine Frau als Außenministerin zu benennen. Muß aber deswegen Herr Kinkel den auswärtigen Dienst als Männerbastion halten?
Der Anspruch, Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe zu begreifen, wird jedenfalls von Ihnen nicht eingelöst.
In der Halbzeitbilanz dieser Regierung herrscht „Kanzlerdämmerung". Da Frauenpolitik in diesem Kabinett noch nie Strahlkraft hatte, ist ihr Dämmern leider schon Dauerzustand. Auch wenn wir als Grüne durchaus für Energiesparkonzepte sind, in der Frauenpolitik sind sie wahrhaftig nicht angebracht.
Unsere Gesellschaft - Frau Nolte, Sie haben es gesagt - ist im Umbruch. Aufgabe von Frauenpolitik ist es, diesen als Chance für die Frauen zu nutzen. Ich kann Ihnen sagen: Ich wünsche mir für alle Frauen in diesem Hause das, was die Devise von Peking war: „Empowerment für Frauen".
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Lisa Peters.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren! Meine Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr hat 365 Tage. An allen Tagen im Jahr erwartet man von Frauen - besonders von Müttern - Präsenz, Aktivität, Fröhlichkeit, Zuwendung, Verstehen, Geben und im Ernstfall auch Verzichten - Verzichten auf materielle Vorteile, Verzichten im beruflichen Bereich. Es ist uns immer noch nicht gelungen, die Erwartungshaltung, die die Familie an das berufliche Umfeld hat, in normale Bahnen, die von Frauen akzeptiert werden können, zu lenken. Ich gebe zu: Wir arbeiten alle daran, aber es ist noch viel zu tun.
Einmal im Jahr, am 8. März, begehen wir den Weltfrauentag. Auch dazu werden wir schon wieder gefragt: Muß das sein? Es heißt dann: Warum gibt es eigentlich keinen Männertag? An was sollen wir noch alles denken?
Jetzt auch noch ein Frauentag! Ich denke, es ist schon wichtig, einmal im Jahr alle Bereiche umfassend anzusprechen, die Frauen betreffen. Dabei neige ich persönlich nicht dazu, mich zu beklagen. Für mich hat Hilfe zur Selbsthilfe in allen Lebenslagen immer Vorrang gehabt.
- Sie können ruhig darüber lachen. Ich werde heute einmal etwas richtig Hausgemachtes erzählen, nicht etwas Theoretisches, das kann man überall nachlesen.
Meine Herren und meine Damen, leider gibt es im Leben von Frauen viele Situationen ohne Hängematte. Wir können nicht immer davon ausgehen, daß
Lisa Peters
wir aufgefangen werden und daß im richtigen Moment Hilfe von außen kommt.
Im Grundgesetz wird in Art. 3 - den wir vor kurzem ja noch erweitert haben - ganz klar formuliert:
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Ich denke, das ist eine ganz klare Formulierung, der wir uns täglich stellen müssen. Das Ganze müssen wir zum Tragen bringen. Wir müssen dafür aber einen langen Atem haben.
Überall, wo ich gefragt werde, sage ich das laut und deutlich, und, Frau Niehuis, ich meine das auch so.
In jedem Jahr werden aber zum Weltfrauentag noch bestehende Defizite aufgezeigt. Ich will - nun kommt das Hausgebackene - mein Frauenleben an meiner eigenen Biographie aufzeigen und zu einzelnen Abschnitten Anmerkungen machen.
Ich bin in einer bäuerlichen und bodenständigen Familie aufgewachsen. - Ich denke, das sieht man noch heute.
Es war eine Familie, die Halt gab und Werte vermittelte, uns aber gleichzeitig auch früh Verpflichtungen auferlegte und gewisse kleine Arbeitsleistungen verlangte. Wir haben das in diesem Hause oft diskutiert.
Heute - so müssen wir feststellen - hat sich die Familienstruktur verändert. Viele Kinder und damit auch Mädchen haben niemanden, der Rat und Halt gibt und in entscheidenden Situationen beratend und helfend zur Seite steht.
Für mich und meine Generation gab es im Krieg und in der Nachkriegszeit nur wenige Möglichkeiten, eine gute Schul- und Berufsausbildung zu erlangen. Ich möchte feststellen - für mich ist das eine sehr positive Bilanz -, daß es heute allen Kindern und damit auch Mädchen vom Ansatz her möglich ist, die ihren Anlagen und Begabungen entsprechende Schulbildung zu erhalten. Ich weiß, daß sie vom Elternhaus her nicht immer richtig gefördert und ermutigt werden. Ich habe aber die Hoffnung, daß es immer noch Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen gibt, die Kinder und auch Mädchen fördern und sie ermutigen, den richtigen schulischen und beruflichen Weg zu gehen.
Wir sind weiterhin auf engagierte Pädagogen und ganz besonders auf jüngere Pädagogen angewiesen.
Für mich als langjährige Elternvertreterin im Schulelternrat war ein Stück Bildungsarbeit erreicht,
als der Schulbus bis ins letzte Dorf fuhr und auch aus den entlegendsten ländlichen Räumen die Kinder kostenlos zur Schule brachte. Das sind einfache Bedingungen. Gerade am Montag dieser Woche haben wir bei den Haushaltsplanberatungen im Kreistag die Beförderung und die 2-Kilometer-Grenze für die Beförderung trotz schlechter Finanzlage festgeschrieben.
Nach wie vor bleibt der entsprechende Schulabschluß der Einstieg in eine qualifizierte berufliche Bildung. Ich denke, dies müssen wir jungen Frauen immer wieder klarmachen und sie auch überzeugen.
Ich fahre fort und stelle fest, daß ich einen Beruf erlernt habe, der zu Unrecht wenig Ansehen hat. Die Hauswirtschaft ist hier sehr oft abqualifiziert worden. Sie wurde in die Ecke gestellt und als geringwertige Arbeit bewertet. Sehr oft wurde vom Dienstmädchenprivileg gesprochen und damit die Arbeit abgewertet. Die F.D.P. ist schon der Meinung, daß sowohl die Lehrberufe in der Hauswirtschaft als auch die Arbeit in einem Haushalt einen hohen Qualitätsanspruch haben.
Wir stellen fest, daß es in diesem Berufsfeld nun wieder sozial abgesicherte Arbeitsverhältnisse geben kann und sicher auch geben wird.
Die Qualifikation von Frauen ist eine Forderung, die zu Recht gestellt wird. Es werden mehr Meisterinnen in allen Berufen gewünscht. Das ist richtig. In diesem Bereich muß gefördert, unterstützt und oft gut zugeredet werden. In meinem Fachbereich Hauswirtschaft habe ich 25 Jahre lang Meisterinnen geprüft. Es war oft sehr schwierig. Man mußte wirklich gut zureden und fördern. Ich hoffe, daß dies nun durch die Förderung - die Frau Ministerin hat schon davon gesprochen - gelingt.
Im weiteren Verlauf meiner Arbeit im ehrenamtlichen und kommunalpolitischen Bereich war es mein Ziel, Frauen und Familien zu fördern. In unserer Stadt konnten noch Ansätze verwirklicht werden, die uns Frauen genutzt haben. Man muß nur rechtzeitig bei kommunalen Bauleitplanungen und bei Planungen überhaupt daran denken, daß sie familienfreundlich gestaltet werden. Hier ist noch viel zu tun.
Dem Wohnumfeld müssen wir in der Zukunft mehr Gewicht geben: Spielplätze, Auslauf für Kinder und Bolzplätze in erreichbarer Nähe. Kinder, meine Herren und meine Damen, müssen noch laut lachen und auch schreien dürfen. Wir sind inzwischen zu einer Gesellschaft geworden, die selbst dies nicht mehr zuläßt. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht; keine Sportplätze mehr im Wohngebiet. Auch in unserer Stadt hat man sie herausgeklagt. Eltern müssen daher weite Wege fahren, um ihre Kinder zum Fußballspielen zu bringen.
- Das gehört alles dazu.
Lisa Peters
Dies sind die Gründe, warum unsere Gesellschaft so geworden ist. Das lasse ich mir nicht ausreden. Da können Sie gerne lächeln.
Wir haben es einmal vor 20 Jahren als ganz große Errungenschaft gefeiert, daß wir reine Wohngebiete ausweisen konnten. Heute wissen wir, was uns das Ganze genutzt hat.
Ich komme zu weiteren ganz praktischen Handhabungen. Die heißen: stadtnahe Gewerbegebiete schaffen, rechtzeitig mit Unternehmern und Unternehmerinnen über Frauenarbeitsplätze reden, und zwar im Vorfeld. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Wirtschaftsförderung müssen diese Forderungen ständig mit berücksichtigen und sie im Nakken haben, weil die Kommunalpolitik es ihnen so aufgegeben hat.
Arbeitsplätze müssen von Frauen wahrgenommen werden können. Dies ist nur möglich, wenn die Kinderbetreuung gewährleistet ist. Dafür ist die Kommunalpolitik - nicht nur auf finanziellem Gebiet - zuständig. Ich gebe zu, daß es auch mich viel Mühe gekostet hat, meinen Ratskollegen - ich sage bewußt: Kollegen - klarzumachen, daß wir - in unserer Stadt haben wir das schon vor 10 Jahren eingeführt - Kindergärten mit Öffnungszeiten zwischen 5.30 Uhr und 18.30 Uhr haben mußten. Die Einführung gelang uns nur auf Probe. Aber Frauen, die erwerbstätig sein können - dies ist nur möglich, wenn die Kindererziehung gewährleistet ist -, haben ein höheres Selbstwertgefühl, und ihre Rentenbilanz ist hinterher positiv.
Es muß selbstverständlich sein, daß in Zukunft die Kindererziehungszeiten vernünftig auf die Rente angerechnet werden.
Wichtig ist auch - das ist ebenfalls ein praktischer Gesichtspunkt -, daß wir in unseren Gemeinden Dreiviertelplätze in den Kindergärten mit Mittagessen und Abholung nach 14.30 Uhr zur Verfügung stellen. Unter diesen Bedingungen ist eine Erwerbstätigkeit möglich, aber nicht, wenn ich bis 12 Uhr antanzen muß und so den Zeitdruck im Rücken habe. Das ist die Praxis in der Kommunalpolitik.
Die Frau Ministerin und auch Frau Niehuis haben es schon gesagt: Wenn aber im Grundschulalter von diesen Veränderungen nichts übrigbleibt und wir wieder hinterwäldlerisch in der Bundesrepublik sind, dann sollten wir, meine ich, in Europa einige Modelle studieren. Ich betrachte dies im Moment noch als kommunale Aufgabe und werde weiterhin dafür tätig sein.
Sonntagsreden, meine Herren und meine Damen, nutzen uns nicht fürchterlich viel. Frauen und Männer müssen sich wieder mehr zur Familie bekennen und auch bereit sein, Kinder zu haben. Die demographische Entwicklung in der Bundesrepublik - ich arbeite in der entsprechenden Kommission - weist
keine gute Bilanz auf. Wir müssen die Bilanz verändern und dazu die Voraussetzungen schaffen.
Täglich schlagen wir uns mit der Rentendiskussion, dem Geburtenrückgang und der längeren Lebenserwartung herum. Es diskutieren Alt gegen Jung und Jung gegen Alt. Diese Diskussion, so meine ich wirklich, sollten wir abbrechen. Hier ist weiterhin Solidarität über die Generationen hinaus gefragt.
- Auch mit Herrn Westerwelle habe ich das längst besprochen. Er sieht das nicht anders.
Die Politik hat erkannt, daß sie einen Rahmen setzen muß. Es muß wieder Ruhe in der Bevölkerung herrschen. Über den Weg, meine Herren und meine Damen, werden wir uns noch einige Monate streiten. Aber er wird zu Ende geführt werden.
Für mich - das ist ganz klar - wird die Familie Vorrang haben, in welcher Form auch immer.
Frauen haben einen Anspruch auf Berufstätigkeit, Weiterbildung und auch auf Führungspositionen. Allerdings - das sage ich hier ganz bewußt - muß in der Familie geregelt und besprochen werden, wie die berufliche Tätigkeit von Mann und Frau zu vereinbaren ist und wie sie aussehen soll.
Eine Verpflichtung gegenüber den Kindern kann man aber nicht nur in Geld aufrechnen, wie es immer mehr getan wird.
Ich stelle einfach fest, daß man Glück und Zufriedenheit noch nicht in D-Mark und Dollar bezahlen kann und daß Glück und Zufriedenheit auch noch nicht an der Börse gehandelt werden.
Nach meiner Ansicht sind die Kinder das Fundament in unserer Gesellschaft.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Ja.
Frau Kollegin, Sie sagten, für Sie stände die Berücksichtigung der Familie und der Familie mit Kindern im Vordergrund, was ich Ihnen persönlich sehr wohl abnehme. Aber können Sie mir dann erklären, warum es so unglaublich schwer war, gegen Sie als Koalition die längst beschlossene Kindergelderhöhung um 20 DM Wirklichkeit werden zu lassen?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, diese Kindergelderhöhung von 20 DM ist sicher für Familien unheimlich wichtig, aber nicht im Verhältnis zu den Dingen, die wir dann nicht machen konnten. So einfach war das zu diesem Zeitpunkt. Die Erhöhung stand mit anderen Dingen zur Debatte. Deshalb haben wir das zu dem Zeitpunkt abgelehnt. Sie ist nun gekommen. Das hat nicht nur den Familien, sondern auch den kommunalen Haushalten sehr viel gebracht; das wissen Sie. Die erhöhte Kindergeldleistung ist so zum Tragen gekommen, daß bei der Sozialhilfe in den Kreishaushalten wesentlich weniger gezahlt werden muß. Das muß man sagen.
Es besteht ein Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage der Kollegin von Renesse.
Gut.
Frau Kollegin Peters, ich komme noch einmal zu der Kindergelderhöhung, die die Regierungskoalition nicht wollte. Ist Ihnen damals eigentlich klar gewesen, daß das, was Sie wollten, praktisch eine Steuererhöhung ausgerechnet für Familien mit Kindern war, daß Sie die Steuern für Familien mit Kindern erhöhen wollten?
Nein, das wollten wir nicht, Frau von Renesse.
- Nein, das haben wir nicht getan. Das ist nicht so gewesen. Sie können das so nennen.
Meine Herren und meine Damen, ich wünsche mir für die Zukunft Väter und Mütter, die ihre Söhne und Töchter zur Partnerschaft erziehen. Partnerschaft heißt für mich Übernahme von Pflichten, in der freien Zeit für die Familie und den Haushalt. Das fällt oft schwer. Frauen brauchen eine lückenlose Erwerbsbiographie, damit auch im Alter ein normales Leben möglich ist. Das wird heute von Frauen deutlicher erkannt. Es sind sicher Gründe dafür gegeben, daß deshalb keine Familien gegründet werden.
Besonders schmerzlich - das ist hier schon erwähnt worden - haben es die Frauen in den neuen Bundesländern erfahren müssen. Sie waren gewohnt, Familie und Beruf vereinbaren zu können. Die Frauen haben eine hohe Erwerbsquote gehabt. Sie sind heute vermehrt arbeitslos. Hier - die Ministerin hat es schon gesagt - müssen wir mit Programmen und Hilfe einsetzen.
Bei allem kommen wir ohne Vernetzung, ohne Nachbarschaft, ohne Vereine und Verbände und Hilfe von Dritten nicht aus. Ich möchte wirklich an alle appellieren, wieder mehr das Gespräch mit Freunden und Nachbarn zu suchen. Es geht nicht anders. Es ist so leichter; denn nicht alle Arbeiten können von bezahlten Kräften erledigt werden.
Ich denke, wir können auch viel von den Ländern lernen, die jetzt und in Zukunft noch mehr unsere Märkte beherrschen werden und die uns immer weiter dahin zwingen, daß wir nicht mehr konkurrenzfähig sind. Fast alles passiert in diesen Ländern in einem Familienverband. Gemeinsam ist man stärker. Man kann vieles ausgleichen.
Anläßlich der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 sind viele berechtigte Forderungen gestellt worden, die es gilt umzusetzen. Dazu wird Frau Schwaetzer aber noch Stellung beziehen. Die Familie, Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Gewerkschaften sind gefragt und müssen mitziehen. Ich denke, auch wir im Deutschen Bundestag haben noch viel zu tun.
Meine Mitarbeiterin im Büro hat vier Jahre lang zwei Söhne erzogen; jetzt sind die Söhne in den Kindergarten gekommen. Der Kindergarten des Bundestages öffnet um 8 Uhr und schließt um 17 Uhr, montags, glaube ich, schon um 16 Uhr. Das sind natürlich Zeiten, die nicht immer passen, wenn man Büroarbeit, die manchmal auch bis in die frühen Abendstunden geht, gewährleisten will. Da können wir ansetzen; ich hoffe nur, daß in Berlin - so ist es ja wohl besprochen - auch diese Dinge, die der Bund zu erledigen hat, dann erledigt werden.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Die Kollegen hier kann man ja fast persönlich begrüßen.
- Das ist ja keine Beleidigung für die, die hier sind.
Was lange währt, muß noch lange nicht gut sein. Die im Januar 1997 von der Bundesregierung vorgelegten nationalen Strategien zur Umsetzung der Aktionsplattform der Vierten Weltfrauenkonferenz sind, gemessen an dem an sie anzusetzenden Maßstab, ein zahnloser Papiertiger. Zu Recht wird immer betont, daß die Beschlüsse der Pekinger Aktionsplattform eine wichtige Grundlage für die Rechtssituation von Frauen und der politisch-ökonomische Handlungsrahmen für die Verantwortlichen sind.
Die Arroganz, mit der Sie von der Regierungskoalition darauf verweisen, daß ein Großteil der geforderten Maßnahmen in der Bundesrepublik bereits umgesetzt sei, zeugt von einer unheimlichen Ignoranz gegenüber dem tatsächlichen Ausmaß an Frauendiskriminierung hierzulande. Es ist Ihre Politik des Sozialraubbaues, die die Rahmenbedingungen für Frauen derzeit massiv verschlechtert. Ob es die Verschlechterung des Kündigungsschutzes, die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Änderung
Petra Bläss
der Ladenöffnungszeiten, die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes oder die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters ist - all diese Maßnahmen treffen Frauen in besonderem Maße. Jeder Ihrer Gesetzesvorstöße war und ist ein Verstoß gegen das, was in Peking unterzeichnet worden ist.
Frau Nolte, solange bei all diesen die soziale und geschlechtsspezifische Spaltung dieser Gesellschaft vertiefenden Deregulierungsmaßnahmen Ihr Einspruch als Frauenministerin nicht zu hören ist und Sie gebetsmühlenhaft die Parolen der Arbeitgeberseite predigen, heißt es zu Recht: Frauen haben in Bonn keine Lobby.
Es ist schon bezeichnend, daß die vorgelegten Strategien mit keiner Silbe auf das politisch-ökonomische Rollback eingehen, mit dem Ostfrauen seit über sechs Jahren konfrontiert sind. Ich verweise nur auf das erschreckende Ausmaß der Frauenerwerbslosigkeit und der Dequalifizierung, womit Sie sich anscheinend abgefunden haben.
Anstelle tatsächlich, wie immer wieder angekündigt, in einen produktiven Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen zu treten und die konkreten Forderungen des Deutschen Frauenrates oder des NRO-Frauenforums aufzunehmen, haben Sie mal wieder ein Dokument der unverbindlichen Absichtserklärungen vorgelegt, das sich obendrein durch eine gewisse Peinlichkeit auszeichnet. Als etwas anderes kann ich diese Aufzählung von laufenden und geplanten Modellprojekten, Kampagnen, Studien und sogar Filmen nicht bezeichnen. Alles nach dem Motto: Bloß nicht an die patriarchalen Strukturen herangehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Die einen füllen Papier, die anderen handeln. "
Heute wird im Magdeburger Landtag das novellierte Frauenfördergesetz verabschiedet, das die Quote, Frauenförderung in der Privatwirtschaft und mehr Kompetenz für Gleichstellungsbeauftragte festschreibt.
Kurz zu den im übrigen durchaus richtig ausgewählten Hauptschwerpunkten. Grundsätzlich bleibt anzumerken: Solange Sie sich so energisch gegen verbindliche Festlegungen und das unabdingbare Mittel zum Zweck - die Quote - weigern, wird es keine durchgreifende Verbesserung bei der Teilhabe von Frauen an Entscheidungspositionen geben.
Die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, d. h. eine aktive Arbeitsmarktpolitik verbunden mit Frauenförderung, wird ein zentrales Anliegen der Gleichberechtigungspolitik der Bundesregierung in den nächsten Jahren sein.
So heißt es in den Strategien. In diesem Zusammenhang ausgerechnet auf die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes zu verweisen, ist schon ein starkes Stück.
Was nutzt die Festschreibung von Frauen als Ziel der aktiven Arbeitsförderung, wenn gleichzeitig die Mittel und die Zugangsbedingungen drastisch gekürzt bzw. verschlechtert werden? Auf die Frauenfeindlichkeit gerade dieses Gesetzes haben Frauenverbände und Gewerkschaften immer wieder verwiesen.
Mit Recht sehen sie den Handlungsbedarf beim strategischen Hauptschwerpunkt „Verbesserung der Situation der Frauen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt" bei der eigenständigen Sicherung der Frauen.
Gerade weil sie so vollmundig darauf verweisen, daß die Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung von Frauen ein Beitrag zur Vorbeugung der Altersarmut von Frauen ist, frage ich mich, wer denn hier seine Schularbeiten nicht gemacht hat. Ich verweise auf die noch immer nicht umgesetzte Entschließung von 1991 zur Reform der Alterssicherung. Denn das, was die Blümsche Rentenkommission vorgelegt hat - einschließlich der Mogelpackung Familienkasse -, wird dieser Aufgabe nicht gerecht, im Gegenteil.
Meine Damen und Herren, ein Skandal sondergleichen ist es, daß sich in den Strategien - was Wunder - kein einziges Wort darüber findet, daß Frauen nach wie vor und zunehmend in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ohne soziale Absicherung gedrängt werden. Noch vor einem Jahr, Frau Nolte, haben Sie auf der nationalen Nachbereitungskonferenz unter Beifall des Publikums verkündet, hier tätig zu werden. Aber da sind Sie offensichtlich zurückgepfiffen worden. In dem Blümschen Rentenkommissionsbericht steht noch einmal schwarz auf weiß, daß sich die Bundesregierung weigert, hier tätig zu werden. Bitte kommen Sie jetzt nicht mit Ihrer Dienstmädchenoffensive! Sie löst dieses Problem gerade nicht, sondern schafft im Gegenteil neue, wie die Verfestigung geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung.
Gerade weil die 520- bzw. 610-DM-Jobs eine massenhafte Form der Frauenerwerbstätigkeit sind und eine mittelbare Diskriminierung darstellen und weil die Zahl dieser prekären Beschäftigungsverhältnisse drastisch angestiegen ist -
Frau Kollegin, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
- das ist der Schluß -, zum Beispiel durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten oder die Privatisierung bei der Post, hat sich ein bundesweites Bündnis in der vergangenen Woche unter dem Motto zusammengefunden: „Mittendrin und trotzdem draußen - geringfügig Beschäftigte sozialversichern". Wir als Gesetzgeber werden damit aufgefordert, hier endlich eine Lösung zu schaffen,
Petra Bläss
alle Arbeitsstunden in der Sozialversicherung zu berücksichtigen und gerade diese Frauen in die Solidargemeinschaft mit aufzunehmen.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Frau Kollegin Dr. Rita Süssmuth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen kurz vor dem 8. März wieder einmal eine Debatte über Frauenfragen und empfinden das inzwischen eher als peinlich. Warum? Weil wir gleichsam zu ritualisierten Veranstaltungen inmitten einer Situation, die voller Probleme ist, kommen.
Zu Beginn meiner Rede möchte ich sagen: Man kann es sich aus der Opposition heraus natürlich leichtmachen. Es gehört zu ihrer Funktion und ihrem Recht, heftig zu kritisieren. Aber ich halte es für unverzichtbar, daß wir einmal auf alle Bundesländer und auch auf unsere Nachbarländer schauen, was die globale Umstrukturierung, die Arbeitsmarktkrise und die Finanzkrise innerhalb und außerhalb Deutschlands an Problemen mit sich bringen.
Dabei verkenne ich nicht: Es trifft die Frauen in vielen Bereichen härter als die Männer, weil die Frauen der Entwicklung erheblich hinterherhinken. Dennoch müssen wir auch hier sagen: Es gibt unter den Frauen einen beträchtlichen Teil von Gewinnerinnen und einen Teil von Verliererinnen. Manchmal habe ich den Eindruck, daß die Gewinnerinnen nicht mehr daran denken, daß die Verliererinnen auch noch da sind und daß wir beide in einem Zusammenhang sehen müssen.
Denn diejenigen, die im öffentlichen Dienst, in der Wirtschaft oder an Hochschulen arriviert sind, vergessen dies häufig. Ich als 60jährige erlebe es oft, daß junge Frauen kaum mehr Verständnis für unser frauenpolitisches Engagement haben: ob das im Bereich der Quote ist, ob das im Bereich der Frauenförderpläne ist. Sie haben eher den Eindruck, wir wollten sie diskriminieren. Manchmal sehen sie erst mit der Geburt des ersten Kindes, wo die tatsächlichen Probleme liegen.
Als ich eben zugehört habe, habe ich gedacht: Noch immer reden wir über Kinderbetreuung, noch immer reden wir über Teilzeit. Sie, Frau Peters, haben das soeben mit guten Gründen sehr plastisch getan. Aber wie lange machen wir das eigentlich noch? Bei mir ist der Geduldsfaden zu Ende. Gleichzeitig sehe ich, daß wir uns gegenwärtig auf das, was das Unabdingbare ist, konzentrieren müssen. Wir können nicht in allen Feldern tätig sein.
Um so wichtiger ist es - ich glaube, Frau Grießhaber hat es eben gesagt -, daß wir an Einfluß gewinnen. Es genügt nicht, daß wir mehr werden, sondern wir müssen tatsächlich mehr Macht bekommen; denn sonst sind wir dabei, ohne wirklich Macht zu haben und ohne etwas verändern zu können.
Der jüngste Bericht - es ist keine acht Tage her - beinhaltet auch nach Peking nicht, daß wir mehr Parlamentarierinnen in Europa haben, beinhaltet nicht, wenn Sie etwa die Diskussion in den skandinavischen Ländern sehen, daß diese voller Euphorie sind, obwohl sie weiter sind als wir in Deutschland. Das heißt, dieser Teil ist ein ganz wichtiger, auch nach Peking.
Deswegen sage ich auch den jüngeren Frauen: Ich habe nie starre Quoten vertreten, aber wo wären denn die Frauen heute ohne Frauenförderpläne und ohne Quotendiskussion? Ich wage zu behaupten, sie wären nicht da, wo sie jetzt sind. Diejenigen, die immer noch dagegen sind, haben kräftig profitiert von denen, die die Gleichberechtigung vorangetrieben haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf?
Ja.
Bei der Quotendiskussion hatten Sie uns auf Ihrer Seite. Jetzt habe ich aber einmal eine andere Frage. Wir sind hier im Parlament, europaweit gemessen, sicherlich ganz gut vertreten. Wir sind auf jeden Fall doch so vertreten, daß wir eine Mehrheit auch über die Fraktionsgrenzen hinaus bezüglich der Fragen Gewalt gegen Frauen hätten. Ich frage Sie - das hat nichts mit Globalisierung zu tun, sondern schlicht und einfach damit, daß wir hier zusammenhalten und eine Mehrheit schaffen, Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen, ohne Widerspruchsklausel, wie Sie auch selber verlangen -: Warum nutzen wir nicht einfach unsere Mehrheit, die wir herstellen könnten, unsere Macht hier im Parlament? Sie wären dazu eine Schlüsselfigur.
Kurze und knappe Antwort: Wir haben im vergangenen Jahr nach diesen Mehrheiten gesucht und hatten unterschiedliche Auffassungen. Es hat keinen Zweck, im Parlament nicht zu sagen, wo wir unsere Schwierigkeiten haben. Wir waren in unserer Fraktion eine Minderheit an Frauen und haben unsere Auffassung bisher nicht durchgesetzt. Noch ist nicht aller Tage Abend, aber ich kann hier keine Versprechungen abgeben.
Ich kann zunächst einmal nur sagen, daß ich für mich entschieden habe, was ich zu tun habe. Wir reden ja untereinander und fragen - es wird oft draußen nicht deutlich -: Haben wir bisher alles Notwendige getan? Haben wir überzeugt? Warum sagen uns diejenigen, die vor Ort damit zu tun haben: Laßt die
Dr. Rita Süssmuth
Finger davon? Auf den ersten Blick scheint es so, als habe diese Widerspruchslösung auch Vorteile.
Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, sie dient den Frauen nicht. Vielleicht finden wir doch noch eine gemeinsame Lösung.
Aber jetzt möchte ich meinen Faden wieder aufnehmen. In der Tat gehört nicht nur dieses Anliegen dazu. Wir gehen als Frauen auch eine Menge von Kompromissen ein, die wir nicht möchten. Natürlich ist es leicht zu sagen, das Renteneintrittsalter für Frauen bleibt so, wie es ist. Wir haben dann die Hälfte durchgesetzt.
Jetzt geht es darum: Was ist bei der Rente zu gewährleisten? Ich muß Ihnen sagen, es gibt zwei Stränge, die gegenwärtig unabdingbar sind - für mich sind es drei, aber ich nenne erst einmal die zwei.
Das erste ist, daß wir im Bereich einer sich total verändernden Berufswelt dafür Sorge tragen müssen, daß die nachwachsende Generation von Frauen nicht erneut von wer weiß wie vielen Berufen abgeschnitten wird, sondern gleiche Zugangsmöglichkeiten hat und dort auch ihren Zugang findet.
Die Konzentration auf die wenigen Berufe und die Tatsache, daß sie nicht den Anschluß finden, sind nach wie vor ein Haupthandikap.
Das zweite ist, daß ein Teil der Frauen - darin liegt die Wichtigkeit - soziale Absicherung und sozialen Schutz braucht. Denn bei allem Wissen um die Notwendigkeit und den Wert von Familie und kleinen Lebensgemeinschaften brechen immer mehr auseinander. Das Auseinanderbrechen hat auch damit zu tun - da spreche ich uns Frauen noch einmal an -, daß die Berufsbildung das eine ist, die Erziehung für Partnerschaft und Familie das andere. Ich will keine Reduktion auf Säuglingspflege. Aber daß Männer und Frauen nicht mehr auf diesen Bereich vorbereitet werden und daß er nicht für Frauen und Männer gleiche Wichtigkeit hat, darin besteht das eigentliche Defizit unserer Gesellschaft.
Die Erziehung ist seit Jahren nur auf berufliche Qualifikation und Karriere ausgerichtet. Da bleibt jeder auf der Strecke, der noch andere Wertvorstellungen hat, die für die gesamte Gesellschaft lebenswichtig sind. Wenn wir uns auf diese Wertevereinbarung einigen würden, dann hätten wir im Bereich der Kinderbetreuung längst wenigstens so viel getan wie unsere Nachbarländer. Bisher waren wir davon offenbar nicht überzeugt. Statt dessen heißt es: Sorge jede für sich selbst und sehe sie zu - heißt es immer -, wie sie klarkommt; dann wird es schon laufen.
Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die Dinge, die gegenwärtig nach wie vor nicht rückgängig zu machen sind.
Natürlich ist die Erwerbslosigkeit bei den Frauen in den neuen Bundesländern erheblich höher als in den alten: 19,5 Prozent; 12,7 Prozent sind es bei den Männern. In der jüngsten Studie wurde öffentlich die Frage aufgeworfen, wieso denn mehr Frauen in den neuen Ländern auf den Arbeitsmarkt drängten und ob das wohl seine Berechtigung habe. Ich denke, in keinem Land sollten wir noch die Frage stellen, ob die Frauenerwerbstätigkeit ihre Berechtigung habe. Es gilt gleiches Recht für Frauen und Männer. Dabei gilt aber, daß die Frauenerwerbstätigkeit nach wie vor hauptsächlich in Mobilzeit oder Teilzeit, jedenfalls nicht in einer vollen Erwerbstätigkeit besteht und sich von daher die Frage der sozialen Sicherung für die Zukunft der heute jüngeren Frauen erneut unter ganz anderen Bedingungen stellt.
Ich weiß, wir haben hier im Parlament keine Einigkeit über die Frage der geringfügig Beschäftigten. Für mich ist sie eines der größten Probleme bei der sozialen Zukunftssicherung der Frauen.
Es stimmt nicht, daß das in den Rentenbericht nicht aufgenommen sei. Der Schritt, den wir sofort tun wollen, ist die Einbeziehung der geringfügig Beschäftigten in die Rentenversicherung wie die Hauptbeschäftigten. Die zweite Forderung ist, daß uns die Regierung noch in dieser Wahlperiode einen Bericht vorlegt, wie dieses Problem zu lösen ist. Denn Studien dazu haben wir inzwischen genug. Wir brauchen vernünftige Lösungen.
- Doch, wir brauchen diesen Bericht, damit wir Lösungsvorschläge in diesem Zusammenhang haben. Denn über die alte Form der vollen Erwerbstätigkeit regeln wir in den nächsten Jahren nicht die Zukunftssicherung, weil sich die Arbeitszeitverhältnisse der Beschäftigten bei uns und weltweit ganz entscheidend verändert haben.
Ich möchte einen letzten Gesichtspunkt nennen. Im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme - auch dort müssen wir Prioritäten setzen - ist die wichtigste Forderung von uns Frauen, daß die Erziehungs-, Familien- und Pflegearbeit nicht mehr geringer bewertet wird als die Erwerbsarbeit, nämlich mit 100 Prozent des Durchschnittseinkommens und nicht länger mit 75 Prozent.
Die gegenwärtige Situation führt nämlich dazu, daß die Durchschnittsrenten der Frauen sich auf einem Niveau befinden, das fast 1 000 DM unter den Durchschnittsrenten der Männer liegt.
Wir haben in den verschiedenen Bereichen eine Menge zu tun. Aber ich denke, das Wichtigste ist die Förderung der beruflichen Bildung; denn an den Universitäten haben wir zur Zeit mehr Frauen als Männer. Es gilt, sich zu vernetzen. Es gilt aber auch,
Dr. Rita Süssmuth
den vielen innovativen Wegen, die Frauen in Kinderbetreuung, Medizin, Raumplanung, Architektur, in der Wissenschaft und in der Wirtschaft begangen haben, endlich mehr Breitenwirkung zu geben. Denn meine Auffassung ist: Das Geld, das wir zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit ausgeben, könnten wir in vielen Bereichen sinnvoller ausgeben:
für Jugendarbeit, für Kinderbetreuung, für Kulturarbeit. Deswegen sind solche innovativen Ansätze von uns Frauen dringend umzusetzen, so daß wir nicht immer nur in den alten Bereichen verbleiben.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, nach dem Lesen Ihrer nationalen Strategien zur Umsetzung der Ergebnisse der Vierten Weltfrauenkonferenz, nach Ihrer heutigen Rede, nach Ihren Versprechungen in Peking und nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Süssmuth, muß ich gestehen: Ich bin ernüchtert. Ich bin ernüchtert, weil klar ist, daß keine Frau und kein Mann in diesem Saal sagen können, sie wüßten nicht, wie die Situation der Frauen in Deutschland ist. Viele in diesem Hause verfahren lieber nach der Vogel-Strauß-Methode und stecken den Kopf in den Sand, anstatt wirklich etwas für Frauen zu tun.
Frau Kollegin Süssmuth, Sie haben gesagt, daß es leider so ist, daß die Gewinnerinnen in diesem Lande die Verliererinnen vergessen. Ich frage Sie: Haben Sie einmal darüber nachgedacht, daß vielleicht auch das Verhalten von Frauen wie Ihnen mit dazu beitragen kann, daß die Gewinnerinnen die Verliererinnen vergessen, weil auf der einen Seite die Rechte von Frauen und die Chancengleichheit für Frauen eingefordert werden und Sie im gleichen Atemzug mit vielen Abstimmungen auf der anderen Seite die Ausgangsbedingungen für Frauen in diesem Lande verschlechtert haben.
Deshalb will ich mich heute hier nicht mehr groß damit aufhalten, darüber zu sprechen, wie die Situation von Frauen ist. Ich will nur an wenigen Punkten aufzeigen, wie es sich verhält.
Ich bitte auch die Frau Ministerin, einmal zuzuhören. Denn ich glaube, daß eine Frauenministerin Anwältin der Frauen sein sollte. Statt dessen haben wir im letzten halben Jahr hier eine Politik gehabt, die die Frauen nicht nur enorm enttäuscht, sondern sie auch getäuscht hat und ihnen angesichts dessen,
was man in Deutschland machen kann, im Grunde genommen geschadet hat.
Sie erklären und fordern in Ihrem Bericht: Ein zentrales Anliegen der Gleichberechtigungspolitik der Bundesregierung ist es, Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.
Was geht denn eigentlich in Ihrem Kopf vor, wenn Sie das schreiben? Denn es ist ja noch gar nicht so lange her, daß Sie der Aufweichung des Kündigungsschutzes durch die Anhebung des Schwellenwertes bei Kleinbetrieben zugestimmt haben. Sie haben doch mit dafür gesorgt, daß zirka fünf Millionen Frauen vom gesetzlichen Kündigungsschutz ausgeschlossen wurden. Seitdem habe ich viele Briefe dazu erhalten, weil insbesondere ältere Frauen erleben und befürchten, daß sie ihren Arbeitsplatz verlieren.
Frau Ministerin, Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Sie erleichtern den Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt nicht; Ihre Politik und das, wofür Sie gestimmt haben, erleichtern vielmehr deren Entlassung.
Damit dies alles sozusagen abgerundet wird, haben Sie gleichzeitig mit dafür gestimmt, daß auch in den Großbetrieben der Kündigungsschutz gelockert wird. Mit dem Kriterium „Unterhaltspflichten" wurde Frauen die denkwürdige Rolle der Zuverdienerin verliehen, und der Mann wurde als Hauptverdiener prämiert. Sie müßten in Ihrer Zeit als Frauenministerin zumindest soviel gelernt haben, daß Sie wissen: Bei Entlassungen wird Frauen diese Rollenzuschreibung zum Verhängnis. Sie sind die ersten, die gehen müssen, weil die anderen - die Verdiener - ihre Arbeit behalten.
In vollem Bewußtsein um diese Tatsachen haben Sie bei der entsprechenden Abstimmung am 13. September 1996 Ihre Hand gehoben. Heute stellen Sie sich hier hin und sagen: Es ist beschämend, daß nicht mehr Frauen in Führungspositionen vertreten sind.
Das ist beschämend. Frau Nolte, ich sage Ihnen eines: Dies hat weder für Frauen in Ostdeutschland noch für Frauen in Westdeutschland etwas mit Gleichberechtigung zu tun.
In Ihren nationalen Strategien haben Sie wiederum schöne Sätze formuliert. Es passiert aber nichts. Ich kann Ihnen in Ihrem eigenen Interesse nur wünschen, daß Sie auf der Fünften Weltfrauenkonferenz nicht Rechenschaft ablegen müssen über das, was Sie bisher getan haben. Mir klingt der Satz noch gut in den Ohren, als Sie in Peking sagten: Wir werden uns daran messen lassen müssen, inwieweit wir das Aktionsprogramm dieser Konferenz umsetzen. Ich war zufällig anwesend, als Sie das sagten.
Ulla Schmidt
Frau Ministerin, hatten Sie damals eigentlich das chinesische Sprichwort „words don't cook rice" -Worte bringen den Reis nicht zum Kochen - im Kopf?
Haben Sie damals gedacht: Versprechen kann ich, was ich will, ich brauche es ja nicht zu halten? Das ist keine Solidarität mit Frauen. Das sage ich jetzt auch einmal zu Ihrem Antrag, der heute hier vorliegt.
Der zweite Punkt. Wo bleibt eigentlich Ihre Erinnerung? Sie fordern in Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Wiedereingliederung und zur Frauenförderung konsequent umzusetzen. Es ist noch keinen Monat her, da haben Sie in diesem Hause drastische Einschnitte bei der Arbeitsförderung beschlossen. Ich frage mich nach der Verabschiedung dieses Gesetzes: Was gibt es denn da noch umzusetzen? Haben Sie vergessen, daß Sie mit dem sogenannten Arbeitsförderungs-Reformgesetz den Korb für die Inanspruchnahme einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme so hoch gehängt haben, daß die Mehrzahl der Frauen keine Chance mehr hat, diesen Korb überhaupt zu ergreifen?
Haben Sie vergessen, daß Sie mit diesem Gesetz das Kriterium der Langzeitarbeitslosigkeit und gleichzeitig das Kriterium des Leistungsbezugs eingeführt haben? Dies macht Frauen chancenlos, weil nur jede dritte arbeitslose Frau in Deutschland, die arbeitslos gemeldet ist und Anspruch auf Arbeitslosenhilfe hat, überhaupt Geld in Mark und Pfennig ausgezahlt bekommt, weil das Einkommen des Ehepartners angerechnet wird.
Alle diese Frauen können in Zukunft in keine einzige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mehr einbezogen werden. Ich bitte ich Sie: Seien Sie so ehrlich und streichen Sie diese Passage aus Ihrem Antrag; denn das ist wirklich Verhöhnung!
Beteiligen Sie sich, Frau Kollegin Süssmuth und Frau Kollegin Nolte, doch am bundesweiten Frauenbündnis, damit es uns endlich gelingt, daß jede regelmäßige Arbeit auch sozialversicherungspflichtig wird und Frauen einen sozialen Schutz erhalten.
Wie lange wollen Sie denn noch zusehen, daß mehr als vier Millionen Beschäftigte, meistens Frauen, dieser Form von Tagelöhnerei ohne irgendeine Absicherung im Alter unterworfen sind?
Sie wissen, daß die Renten von Frauen schon heute sehr gering sind.
Frau Kollegin Süssmuth, Sie haben hier gesagt, wir müßten etwas dafür tun, daß die Altersarmut von Frauen bekämpft wird, wir müßten die Renten für
Frauen anheben und mehr familienpolitische Leistungen einführen. Ich frage Sie: Haben Sie denn vergessen, daß Sie die kleinen Renten von Frauen weiter gekürzt haben? Ich habe Frauen aufgefordert: Fragen Sie einmal nach, wie hoch Ihre Anwartschaften vor dem 13. September vorigen Jahres waren und wie hoch sie heute sind. - Ich will Ihnen hier ein paar Beispiele bringen.
Die erste Frau: Vor dem 13. September hatte sie einen Anspruch auf 306,60 DM eigene Rente. Das ist selbst als Taschengeld zuwenig. Nach dem 13. September. an dem Sie. Frau Süssmuth; und Sie, Frau Ministerin, für das sogenannte Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz gestimmt haben, hatte die Frau noch 201,51 DM.
Eine zweite Frau: Sie hatte vor dem schwarzen Freitag 424,44 DM Rentenansprüche. Nachdem Sie für die Kürzung ihrer Anwartschaften gestimmt haben, hat die Frau jetzt noch einen Anspruch auf 272 DM.
Eine dritte Frau: Sie hatte vor dem schwarzen Freitag 408,39 DM eigene Rentenansprüche. Nachdem Sie ihre Rente gekürzt haben, hat sie noch Anspruch auf 292,98 DM.
Eine vierte Frau: Vor dem schwarzen Freitag hatte sie Anspruch auf 482,84 DM. Nachdem Sie für die Kürzung gestimmt haben, sind es noch 359,26 DM, die sie bekommt.
Wenn es so ist, daß das, was auf der Seite der Regierung geredet wird, meilenweit mit dem auseinanderklafft, was die Realität für Frauen in Deutschland ist,
dann müssen wir uns doch nicht wundern, daß es so schwierig ist, ein gesellschaftliches Bündnis zu schließen. Wir haben ausdrücklich einen Antrag eingebracht, mit dem sich die Frauen solidarisch erklären und gegen die Kürzungen von Renten votieren sollten. Das ist gescheitert. Auch dieser Hinweis gehört an einem solchen Tag dazu, wenn wir uns überlegen: Wie sind denn die Ausgangsbedingungen, und was muß geändert werden?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichhorn?
Frau Schmidt, die Beispiele, die Sie genannt haben, können wir jetzt nicht überprüfen. Es ist immer leicht, solche Beispiele zu bringen.
Würden Sie mir aber zugestehen, daß das, was die Frau Ministerin angesprochen hat, Maßnahmen sind,
Maria Eichhorn
die nicht allein Frauen betroffen haben, sondern in gleicher Weise auch Männer?
Sie können dies nicht nur auf die Frauenpolitik schieben.
Vielen Dank, Frau Kollegin Eichhorn, daß Sie mir die Zeit verschaffen, jetzt auch noch auf die Kürzung der Männerrenten einzugehen.
Sie haben, was vielen Menschen in diesem Lande verborgen blieb, nicht nur die Lebensarbeitszeit verlängert. Sie haben damals, ohne daß dies groß in die öffentliche Debatte kam, bestehende Rentenanwartschaften drastisch gekürzt.
Ich habe eben Beispiele von Frauen gebracht, die in einer Petition niedergelegt sind; Sie können dies dort überprüfen. Diese Petition kommt auch in den Deutschen Bundestag.
Die Kürzungen bei den Frauen betragen hier bis zu 40 Prozent. Frauen haben eine unterbrochene Erwerbsbiographie. Deshalb treffen sie die Kürzungen bei der Anerkennung von Ausbildungszeiten stärker als Männer mit einer durchgängigen Erwerbsbiographie. Sie treffen Frauen auch deshalb besonders, weil Frauen in den sogenannten frauentypischen Berufen heute noch immer im Durchschnitt 30 Prozent weniger verdienen als Männer. Die Kumulation dieser Fakten führt zu einer so dramatischen Auswirkung.
Da sich an dieser Petition auch ein Herr beteiligt hat, kann ich Ihnen sagen, daß Männer ebenso Kürzungen hinzunehmen haben, aber in viel geringerem Umfang. Der besagte Petent hatte vorher 493,39 DM an erworbener Rentenanwartschaft; es ist noch ein junger Mann. Nach den von Ihnen gefaßten Beschlüssen hat er immerhin noch eine Rentenanwartschaft von 417,33 DM.
Ich glaube, diese Zahlen - von 408 DM auf 290 DM, von 493 DM auf 417 DM - zeigen, daß Sie alle Menschen in diesem Land um bestehende Rentenanwartschaften betrogen haben, daß es aber Frauen härter trifft.
Das wird dazu führen, daß die Altersarmut von Frauen in Deutschland leider auch in Zukunft noch auf die Tagesordnung gehört.
Frau Ministerin, nach der Vierten Weltfrauenkonferenz wurden keine Nachteile für Frauen abgebaut. Im Gegenteil, die Bundesregierung hat draufgesattelt. Ich sehe daher, daß die Zahl derer, die arm sind, wachsen wird. Schon heute leben über 5 Millionen Menschen von der Sozialhilfe.
Da fällt mir das Wort von Bertolt Brecht ein - auch im Hinblick auf die Ausführungen der Frau Bundestagspräsidentin -: „Die im Dunkeln sieht man nicht"; und die anderen, die im Licht - so wie Sie -, verschließen die Augen.
Diese Frauenministerin ist für mich leider keine Anwältin der Frauen, was sie sein sollte. Sie dient als ein Feigenblatt. Sie beschönigt die Politik dieser Bundesregierung, die die Ausgangsbedingungen für Frauen in diesem Lande immer weiter verschlechtert und den Frauen ihren demokratischen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe verwehrt.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Debatte hat sich wieder entlang der üblichen Linie der Auseinandersetzung entwickelt.
Man kann wie bei anderen Debatten in diesem Hause, die eher männerbestimmt sind, auch über Themen, die lange strittig gewesen sind, sehr viel differenzierter reden, als ich das heute hier erlebt habe. Ich muß das so offen sagen.
Ich finde, daß allein schon die Präsenz in dieser Debatte zeigt, daß sich Frauenpolitik in diesem Parlament im Getto bewegt. Ich finde das schade. Ich finde es bedauerlich, daß von den Mächtigen dieses Parlaments und dieser Regierung kaum jemand da ist.
Herr Geißler hat den Kreis inzwischen erweitert; aber auch erst gerade in diesem Moment.
Wir haben feststellen können: Bei der Regierungserklärung des Innenministers hat es sozusagen eine Präsenzpflicht des Kabinetts gegeben. Bei der Erklärung von Frau Nolte - ich würde mich sehr freuen, wenn Sie dies im Kabinett ansprächen - hat es diese Präsenzpflicht offensichtlich nicht gegeben.
Das betrifft übrigens alle Fraktionen hier. Auch bei den Grünen hat der einzige Mann, der da war, Herr Berninger, eben fluchtartig den Saal verlassen.
- Ich habe uns da nicht ausgenommen.
Dr. Irmgard Schwaetzer
Ein Teil der Begründung ist schon, daß diese Debatten wie ein Ritual ablaufen. Alle Stichworte sind gefallen, und deswegen muß ich sie zumindest aufnehmen.
Zu den geringfügig Beschäftigten: Frau Kollegin Süssmuth, Sie wollen doch wohl nicht im Ernst den Frauen vorgaukeln, daß bei einer Sozialversicherungspflicht der 610-DM-Beschäftigungsverhältnisse die daraus resultierenden Mini-Renten eine angemessene Sicherung des Lebensabends darstellen. Das ist doch Augenwischerei! Wir dürfen den Frauen nicht solche Sachen vormachen.
Lassen Sie den Frauen die selbständige Entscheidung! Sie können nicht auf der einen Seite immer dafür eintreten, daß Frauen selbständig sind - so verstehe ich auch viele Debattenbeiträge -, aber an der nächsten Ecke sagen, das dürfen sie nicht alleine entscheiden, da müssen wir sie bevormunden. Das kann ja wohl nicht wahr sein!
Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schmidt zu?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Schwaetzer, Sie sind von Ihrer Partei häufig dabei, wenn davon geredet wird, daß wir den Mißbrauch eindämmen müssen. Gerade die massenhafte Zunahme der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse stellt einen Mißbrauch sondergleichen eines Angebots dar, das einmal gemacht wurde, um auch eine kurzfristige Beschäftigung und nicht allein die normale regelmäßige Beschäftigung zu ermöglichen.
Jetzt wollen Sie den Frauen sagen, daß die Rente dann sehr niedrig ist. Ich würde den Frauen nie sagen, daß sie sich mit 610-DM-Arbeit eine eigene Rente erarbeiten können, aber ich sage immer: Wer in einem Land regelmäßig arbeitet und lohnabhängig beschäftigt ist, muß auch in die Sozialversicherungskassen einzahlen, so wie jeder andere das tut.
Wenn schon dieses Argument bei Ihnen nicht ankommt, würden Sie denn dann zustimmen, daß wir zumindest diejenigen, die eine 610-DM-Arbeit als Zweitbeschäftigungsverhältnis neben dem regulären Beschäftigungsverhältnis haben und damit ihre Rente aufbessern könnten, weil es etwas höhere Einzahlungen gibt, in die Sozialversicherungspflicht einbeziehen?
Erstens, Frau Kollegin, werden Behauptungen auch dadurch nicht richtiger, daß man sie ständig wiederholt. Es gibt
keine massenhafte Zunahme dieser Beschäftigungsverhältnisse.
Zweitens möchte ich gerne wissen, wie Sie es bewerten, daß Frauen - das ist wohl auch von Ihnen unbestritten -, wenn sie eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten bekommen, diese nicht annehmen, sondern lieber woanders hingehen, wo sie nicht sozialversicherungspflichtig arbeiten können. Das ist doch eine von Ihrer Seite total ideologisierte Debatte. Das ist vollig an den Realitäten der Bundesrepublik Deutschland vorbei.
- Ich mache keine Politik, nur um Ideologien zu befriedigen. Deswegen werden wir versuchen, auch dieses Thema, wie wir es in der Vergangenheit schon getan haben, weiterhin nach den Regeln der Vernunft zu behandeln.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Schmidt?
Frau Kollegin, ich glaube nicht, daß das jetzt noch weiterführt. Sie können dazwischenfragen, weil es nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Ich hatte mir für meinen Beitrag einen Einstieg überlegt, und den will ich jetzt doch noch bringen. Ich bin in Peking auf der Weltfrauenkonferenz gewesen; einige Kolleginnen von hier ebenfalls. Wir haben in Huairou auf dem Forum der Nichtregierungsorganisationen Tausende von Frauen aus aller Welt getroffen. Die Ärmsten aus den Entwicklungsländern waren nicht einmal dabei, weil sie sich die Fahrt überhaupt nicht leisten konnten. Aber es waren Frauen aus vielen Staaten dabei, die Gewalt und Unterdrückung haben erleiden müssen.
Ich denke, denjenigen, die da waren, ist es genauso ergangen wie mir: Da relativieren sich die Probleme, die wir in Deutschland zweifellos noch haben, ziemlich. Deswegen finde ich es sehr bedauerlich, daß die heutige Debatte fast ausschließlich um innenpolitische Themen kreist. Ich möchte gerne noch ganz kurz drei Themen ansprechen, weil sie hier abgehandelt werden müssen.
Das erste ist die Frage der massenhaften systematischen Vergewaltigung von Frauen in Bosnien. Das ist eine Menschenrechtsverletzung, die nicht geahndet wird, weil diese Tausende von Vergewaltigern angeblich nicht identifiziert werden können. Der Gerichtshof in Den Haag ist offensichtlich nicht in der Lage, das Problem zu bewältigen. Ich frage mich, wie ein Land Frieden bekommen will, wenn Verbrecher in Freiheit über ihre Opfer höhnen können, wenn
Dr. Irmgard Schwaetzer
Tausende von gequälten, mißhandelten, vergewaltigten Frauen mit ihrer Scham und ihrer seelischen Verletzung weiterleben müssen. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich dieses Themas bei den Konferenzen zum Wiederaufbau Bosniens verstärkt anzunehmen.
Ich werde das Protokoll dieser Debatte natürlich auch an das Auswärtige Amt mit besonderem Gruß weitergeben.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der in den Bereich geht, den auch die Kollegin Lisa Peters eben schon angesprochen hat und den ich bei Ihnen von der SPD besonders vermißt habe, nämlich die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung für die Verbesserung der Situation von Frauen. Von Ihnen habe ich Vorwürfe an die Bundesregierung gehört,
nach dem Motto: Das muß jetzt alles den Frauen auf dem Silbertablett serviert werden.
In der Tat gibt es noch einiges, was verbessert werden muß. Aber ich wünsche mir, daß auch die Männer in diesem Parlament ganz klar in der Öffentlichkeit dazu Stellung nehmen, daß es ein Verbrechen ist, Frauen, mit denen Menschenhandel begangen worden ist, hier zur Prostitution zu zwingen und sich dieser Frauen. zu bedienen. Ich schäme mich für die
deutschen Männer, die so etwas tun.
- Dann sagen Sie es auch in der Öffentlichkeit!
Ich schäme mich für die deutschen Männer, die augenzwinkernd mit ihren Kollegen nach Ostasien fahren und sich dort der Frauen bedienen, die überhaupt keine andere Möglichkeit haben, als sich der Prostitution hinzugeben, damit ihre Familie überleben kann. Ich fordere auch da die Bundesregierung auf, in ihrer Handelspolitik, in ihrer Außenwirtschaftspolitik und in ihrer Außenpolitik - in allen Politikbereichen - dafür zu sorgen, daß Frauen in diesen Ländern einen angemessenen rechtlichen Schutz bekommen. Frauenpolitik ist Querschnittspolitik, auch im internationalen Bereich.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin, bevor Sie 1995 zur Weltfrauenkonferenz nach Peking fuhren, konnten Sie noch behaupten, Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung sei kein Thema für uns in Deutschland. Aber diese schöne Fassade beginnt zu bröckeln; denn die Pekinger Plattform und die Stellungnahmen der Nichtregierungsorganisationen zeigen doch sehr eindrucksvoll, wo überall Frauen Gewalt erleiden, wo ihnen der Schutz dagegen fehlt und wie ihre Rechte mißachtet werden - und das auch in der Bundesrepublik.
Frauen, die von ihrem Ehemann vergewaltigt wurden, müssen hinnehmen, daß dieses Verbrechen als Kavaliersdelikt geahndet werden kann. Behinderte Frauen, die zum Widerstand gegen sexuelle Gewalttäter nicht in der Lage sind, werden durch das Strafrecht weniger geschützt als andere Frauen. Behinderte Frauen in Einrichtungen haben keinen ausreichenden gesetzlichen Schutz vor sexuellen Übergriffen. In der Therapie mißbrauchte Frauen können keine strafrechtlichen Folgen gegen die Täter erwirken.
Auch bei Gewalt gegen Migrantinnen zeigt sich die unheilige Allianz zwischen Patriarchat und Staat. Immer noch wird ausländischen Ehefrauen in den ersten vier Ehejahren in der Bundesrepublik ein eigenständiges Aufenthaltsrecht verweigert. Auch nach den neuen Vorschlägen müssen sich die Frauen noch ein Jahr von ihren Ehemännern mißhandeln lassen, um nicht ausgewiesen zu werden.
Ich finde, das ist ein Skandal.
Noch immer werden frauenspezifische Fluchtgründe im Asylrecht nicht anerkannt. Migrantinnen werden sogar dann abgeschoben, wenn sie als Zeuginnen gegen Frauenhändler aussagen Wollen. Wie können Sie da, Frau Nolte, in Ihrem Bericht über die Vierte Weltfrauenkonferenz behaupten - ich zitiere -, daß Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung jeglicher Form von Gewalt gegen Frauen seit Jahren einen wichtigen Schwerpunkt der Gleichberechtigungspolitik der Regierung bilden? Wo haben Sie Gewalt gegen Frauen bekämpft? Wo ist das von Ihnen beschriebene umfangreiche Instrumentarium, um Menschenrechtsverletzungen in jeder Form wirksam entgegenzutreten?
. Frau Nolte, die Plattform von Peking hat Sie als Frauenministerin gezwungen, Stellung zu beziehen und zu sagen, was Sie tun wollen. Ihre Vorschläge dazu sind mehr als dürftig. Mehr als Modellprojekte, Studien und Broschüren kommt aus Ihrem Hause nicht.
Sie fördern eine öffentliche Kampagne zu dem Thema Gewalt gegen Frauen, statt einen wirksamen rechtlichen Schutz für alle Opfer sexueller Gewalt durchzusetzen. Sie geben eine Untersuchung über die Zuweisung der Ehewohnung in Auftrag, statt eine Gesetzesreform vorzusehen, die es den von ihren Ehemännern mißhandelten Frauen erleichtert, in der ehelichen Wohnung zu bleiben.
Sie finanzieren eine Broschüre zum Thema Beschneidung, statt Genitalverstümmelung als frauen-
Irmingard Schewe-Gerigk
spezifischen Asylgrund auszuweisen. Das ist eine Broschüre, bei der mir, als ich sie las, an einer Stelle der Atem stockte. Da schlagen Sie tatsächlich vor, daß - um den Symbolwert der Beschneidung zu erhalten - den Mädchen an Stelle der Verstümmelung der Genitalien eine kleine Narbe beigebracht werden könnte. Damit fallen Sie den Afrikanerinnen in den Rücken, die in Peking erklärt haben, daß sie diese Praxis eben nicht als kulturell oder religiös, sondern als Menschenrechtsverletzung ansehen.
Wie können Sie das alles noch als politische Strategie zur Umsetzung der Forderungen von Peking ausgeben? Wie - das ist mir ganz unbegreiflich - kommen Sie dazu, gerade die Widerspruchsregelung bei Vergewaltigung in der Ehe als nationale Strategie zu verkaufen, die Frauen stärker vor Gewalt schützen soll? Strategien zielen auf Veränderung von Politik. Ihre Politik ist eine Art Politik-Ersatz, eine Alibipolitik und keine Politik für Frauen. In der Konsequenz bedeutet Ihre Politik eine Entpolitisierung der Frauenpolitik „von oben". Sie, Frau Nolte, werden von der Männerriege der Koalition auf eine Ministerin der Modellprojekte reduziert - und lassen es geschehen.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen von der Koalition, Frauenrechte sind Menschenrechte. Darüber sind wir uns hier im Hause einig. Eine Demokratie muß sich daran messen lassen, wieviel sie gegen die Ungleichheit der Geschlechter tun will, deren schlimmster Ausdruck die Gewalt gegen Frauen ist. Sie könnten viel für die Frauen hier im Lande tun. Ein allererster Schritt wäre, wenn Sie gemeinsam mit uns für die Streichung der Widerspruchsklausel stimmten, damit Vergewaltigung in der Ehe endlich ohne Wenn und Aber unter Strafe gestellt wird.
Noch eines zum Schluß: Hier wurde heute morgen eine sehr engagierte Gewaltdebatte geführt. Es ging um die Castor-Transporte; und es ging um die Gewalt gegen Einrichtungen und Gegenstände. Es war eine Debatte, bei der ich mir wünschte, daß die, die sie so engagiert geführt haben, das auch bei diesem Thema tun. Leider gibt es davon nur sehr wenige. Offensichtlich ist die Gewalt gegen Frauen nachrangig gegenüber der Gewalt, die gegen Einrichtungen und Gegenstände gerichtet ist. Ich finde das fatal.
Ich danke Ihnen.
Eine Kurzintervention der Kollegin Schwaetzer.
Liebe Frau Kollegin, Sie haben eben wieder die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe und die Widerspruchsklausel angesprochen. Ich hätte Ihnen gern die Frage gstellt - aber Sie hatten Ihre Rede schon beendet -, warum Sie es, als das Thema hier im Bundestag zur Abstimmung stand, nicht geschafft haben, Ihre Kollegen an Bord zu haben. Wir hätten das Thema längst erledigt, wenn alle Kollegen der Sozialdemokraten, der grünen Fraktion und der PDS im Plenum gewesen wären.
Ganz abgesehen davon: Ich hätte mir gewünscht, daß auch aus der CDU/CSU die eine oder andere Frau den Mut gehabt hätte, mit uns zu stimmen. Gescheitert ist das Vorhaben aber nicht daran, daß die Koalition nicht genügend Stimmen geliefert hat, sondern daran, daß Sie Ihre Leute nicht an Bord hatten.
Bitte schön, Frau Schewe-Gerigk.
Frau Schwaetzer, die Frage, die Sie gerade gestellt haben, geht wirklich in eine etwas merkwürdige Richtung. Wir haben uns natürlich bemüht, alle anwesend zu sein, um das Gesetz endlich zu verabschieden, und zwar ohne Widerspruchsklausel.
Ich kann Ihnen sagen, was mit den Kolleginnen war, die bei der Abstimmung nicht dabei waren: Eine Kollegin war schwanger, hatte vorzeitige Wehen. Wollen Sie in Kauf nehmen, daß da etwas passiert, nur damit die Frau hier im Parlament erscheint? Die andere Kollegin war im Krankenhaus.
Ich finde es ziemlich schändlich, eine solche Frage zu stellen und diesen beiden Frauen, von denen eine schwer krank war und die andere in Wehen lag, die Schuld daran zu geben, daß das Gesetz nicht durchgekommen ist, nur weil einige Frauen in der CDU/ CSU zu feige waren, ihr Gewissen sprechen zu lassen und die Koalitionsmehrheit in dieser Frage zu vereiteln.
Kurzintervention des Kollegen Geißler.
Frau Kollegin, ich wollte für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Ihrer Bemerkung zur Beschneidung von Mädchen und Frauen nur folgendes sagen: Solche Eingriffe bei Mädchen und Frauen sind - gleichgültig, ob das im Namen Allahs, eines Propheten oder in wessen Auftrag sonst geschieht - nach unserer Auffassung eine schwere Körperverletzung, die bestraft werden muß, und ein Verstoß gegen Art. 2 des Grundgesetzes.
Die Frau Ministerin hat in der von ihrem Haus herausgegebenen Broschüre auf nichts anderes hinge-
Dr. Heiner Geißler
wiesen - als Warnung und Information für diejenigen, die beispielsweise in Arztpraxen mit dieser Problematik konfrontiert werden.
Kurzintervention der Kollegin Schmidt.
Das paßt jetzt nicht unbedingt zu dem, was Herr Geißler gesagt hat. Aber das, was Frau Schwaetzer hier gesagt hat, kann so nicht im Raum stehenbleiben.
Frau Kollegin Schwaetzer, Sie wissen doch ganz genau, daß es zwischen den großen Parteien, der CDU/CSU - aber auch der F.D.P. als Mitglied der Regierungskoalition - und der SPD, für den Fall von Erkrankungen oder der Teilnahme an internationalen Konferenzen Pairing-Vereinbarungen gibt.
Genau für diesen Tag gab es Pairing-Vereinbarungen zwischen Kollegen Ihrer Fraktion, Kollegen der CDU/CSU-Fraktion und auch Kollegen unserer Fraktion. Es ist einfach ungebührlich, den Kollegen und Kolleginnen kleinerer Parteien Abwesenheit wegen Erkrankungen vorzuwerfen; denn diese können sich nicht, wie es Mitgliedern der Koalitionsfraktionen zusteht, mit Hubschraubern abholen lassen, um hier im Plenum die Kanzlermehrheit zu sichern.
Im übrigen wissen Sie: Wären unsere Leute dagewesen, wären die Kranken alle hierher „gekarrt" worden. Es ging um die einfache Mehrheit und nicht um die Kanzlermehrheit oder eine sonstwie geartete Mehrheit.
Frau Kollegin Schmidt, solche Debatten sind eigentlich entgegen der Geschäftsordnung, zumal die Kollegin Schewe-Gerigk schon auf die Kollegin Schwaetzer geantwortet hatte.
- Das können wir jetzt nicht immer weiter so fortsetzen. Sie wollen jetzt auf Frau Schmidt antworten? - Nein, das ist nun wirklich nicht mehr möglich. Wenn jemand gegen die Regeln verstoßen hat, hat nicht jemand anders das Recht, das zu wiederholen. Das ist nun leider so.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben das Recht, noch auf Heiner Geißler zu antworten.
Herr Geißler, ich bin froh, daß Sie das so klargestellt haben. Es hat früher Vorbehalte gegeben dergestalt, daß Geschlechtsverstümmelung etwas mit Kultur, mit Religion zu tun habe. Wir haben in den letzten Jahren erfahren, daß die Afrikanerinnen selbst es ablehnen und es für sie keine kulturelle, keine religiöse Angelegenheit ist.
Wir haben in Peking viele Gespräche zu diesem Thema geführt und sind gebeten worden, uns überall, wo wir politisch tätig werden, massiv in dieser Angelegenheit einzusetzen. Angesichts dessen finde ich es wirklich eine Farce, daß die Frauenministerin diese „traditionelle Angelegenheit" akzeptiert. Ich kann ihre Ausführungen zitieren - ich habe mir schon gedacht, daß es da Probleme geben würde -:
Die Frauen könnten während der Festlichkeit anstelle der Beschneidung den Mädchen beispielsweise eine kleine Narbe beibringen, die ähnlichen Symbolwert hat, aber die Mädchen unversehrt läßt. Auf eine solch behutsame Art läßt sich die Beschneidung auch bei den Traditionalisten bekämpfen.
Sie sagen also, Frau Nolte, um die Traditionalisten zufriedenzustellen wollen Sie die kleinen Mädchen mit einer Narbe versehen. Das ist ein ungeheuerlicher Vorschlag. Warum sprechen Sie nicht mit den Afrikanerinnen und fragen sie, was sie dazu sagen, ob sie das richtig finden? Bevor eine solche Broschüre herausgegeben wird, muß man sich doch kundig machen, muß man recherchieren und kann nicht den Traditionalisten in die Hände arbeiten.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Beginn meiner Rede möchte ich eines klarstellen: Frau Kollegin Schwaetzer, Frau Kollegin Schmidt, die Streichung der Widerspruchsklausel bei der Vergewaltigung in der Ehe ist nicht am Pairing-Verfahren an sich gescheitert, sondern daran, daß weder die Bündnisgrünen noch die PDS in das Pairing-Verfahren mit einbezogen worden sind. Das möchte ich hier klarstellen.
- Nein, Frau Schwaetzer! Lassen Sie sich einmal darüber informieren, was Gegenstand des Pairing-Verfahrens ist.
Ich komme jetzt zum Gegenstand meiner Rede. - Ein Schwerpunkt der nationalen Umsetzungsstrategien, über die wir heute diskutieren, ist die Gewalt gegen Frauen. Ich begrüße diese Diskussion ausdrücklich. Aber - das muß klar gesagt werden -: Die Projekte und Maßnahmen, mit denen Frau Nolte Gewalt bekämpfen will, nehmen die Ursachen der Gewalt nicht zur Kenntnis und ignorieren darüber hin-
Christina Schenk
aus die seit Jahren existierenden Erkenntnisse in diesem Bereich.
Ich möchte einige Beispiele nennen: Von der groß herausgestellten Einrichtung der Koordinierungsstelle erfuhren die autonomen Frauenhäuser erst aus der Presse. Ausgerechnet das Frauenministerium betreibt hier eine „Politik von oben" in absolut paternalistischer Manier. Das ist ein unglaublicher Vorgang.
Dazu kommt die Behauptung, es sei die erste bundesweite Vernetzungsstelle. Die autonomen Frauenhäuser haben seit 20 Jahren eine zentrale Informationsstelle, die sie ohne jegliche finanzielle Unterstützung von außen betreiben. Diese Stelle hat eine ähnliche Funktion wie die, die in Frau Noltes jüngstem Projekt eingerichtet worden ist.
Ein weiteres Beispiel: Das Interventionsprojekt in Berlin ist eine ähnliche Luftnummer. Die Bundesregierung beteiligt sich mit knapp 1,4 Millionen DM, aber die Berliner Frauenhäuser haben sich längst daraus zurückgezogen, und sie haben gute Gründe, am Sinn dieses Projekts zu zweifeln.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse, nämlich das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, werden ignoriert. Statt dessen wird davon ausgegangen, daß gewalttätige Männer von einer Art rätselhafter Krankheit befallen seien, die man einfach nur therapieren muß. Jahrelange Erkenntnisse aus der praktischen und theoretischen Arbeit mit den mißhandelten Frauen und aus den Strukturen solcher Gewaltbeziehungen werden einfach nicht wahrgenommen.
Wieder einmal will Frau Nolte etwas untersuchen lassen - diesmal die Zuweisung der Ehewohnung, nachdem es zu massiven Gewalttätigkeiten gekommen ist. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte: Die Untersuchungen, die das Ministerium in Auftrag gibt, sind oft sehr hilfreich und fundiert. Nur scheint sie im Ministerium niemand zu lesen; denn anders kann ich mir nicht erklären, warum ich meine Argumente gegen die Politik der Bundesregierung ausgerechnet in ihren eigenen Studien wiederfinde. Statt also weitere Untersuchungen zu vergeben und zu fördern, empfehle ich Frau Nolte, erst mal auf den bereits vorhandenen Kenntnisstand zurückzugreifen. Damit könnten Sie eine ganze Menge Geld sparen.
Zur Kampagne des Ministeriums „Gewalt gegen Frauen - ein Thema für Männer" kann ich nur sagen, daß außer Hochglanzbroschüren, die kaum jemand kennt, dabei nicht viel herausgekommen ist. Auch hier wurden - man kann schon sagen: selbstverständlich - keine Frauen aus der Praxis einbezogen. Warum, Frau Nolte, mißachten Sie in dieser Art und Weise die Erfahrungen und auch die Forderungen, die aus den Frauenhäusern und Notrufgruppen kommen? Das kann doch nur heißen, daß es Ihnen nicht wirklich um Veränderungen geht, sondern lediglich darum, Handeln vorzutäuschen.
Zum Schluß muß ich doch noch etwas zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe sagen. Es zeugt von einer unglaublichen Verwirrung, wenn Sie, Frau
Nolte, das Widerspruchsrecht als Gewaltprävention uminterpretieren. In das Widerspruchsrecht wird ausdrücklich Körperverletzung und schwere Körperverletzung mit einbezogen. Was heißt das? Wenn der Ehemann seine Frau nicht nur vergewaltigt, sondern sie zusätzlich mit einer Waffe schwer verletzt, kann er, wenn die Frau vom Widerspruchsrecht Gebrauch macht, nicht mehr strafrechtlich belangt werden. Das ist Verharmlosung und damit Begünstigung von Gewalt gegen Frauen - nichts anderes.
Dieser Stil zieht sich durch die gesamte Politik der Bundesregierung, namentlich durch die Politik des Frauenministeriums. Es zeigt sich wiederum - das muß ich zum Schluß sagen -, daß von seiten der Bundesregierung und von Frau Nolte alles vermieden wird, was als entschiedene Politik für Frauen, für die Gleichstellung von Frauen und Männern gewertet werden könnte.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! So wie die Debatte heute geführt wird, ist sie, denke ich, kein Aushängeschild für uns, meine Damen und Herren von der Opposition.
Statt auf die wirklichen Probleme einzugehen, üben Sie sich in altgewohnten Ritualen, die ideologisch geprägt sind.
Angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen stehen wir vor großen Herausforderungen.
Daher werde ich in meinem Redebeitrag dieses Thema ganz besonders ansprechen.
Es geht um die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Gerade für uns Frauen stellt sich die Frage: Wohin geht die Entwicklung? Für die meisten Frauen ist Erwerbstätigkeit heute selbstverständlich. In den alten Bundesländern sind heute etwa ein Fünftel mehr Frauen erwerbstätig als vor zehn Jahren. Das ist eine ganz deutliche Zunahme. Die Arbeitslosenquote liegt hier inzwischen leicht unter der der Männer. In den neuen Bundesländern jedoch sind Frauen überproportional von der Arbeitslosigkeit betroffen.
Wir sind am Anfang eines entscheidenden Jahres. Wir brauchen die Trendwende am Arbeitsmarkt. Wir brauchen einen starken Aufschwung. Die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards steht vor einer Be-
Maria Eichhorn
währungsprobe. Deswegen müssen wir jetzt die Rahmenbedingungen auf die neuen Herausforderungen abstimmen.
Wir haben große Reformvorhaben eingeleitet, um das Problem der Arbeitslosigkeit an der Wurzel zu packen. Mit Steuersenkungen und mit Strukturreformen der Steuer wollen wir den Verbrauch und die Investitionen anregen. Mit Reformen im Sozialbereich werden wir die Lohnnebenkosten senken, um so die Sozialleistungen in der Zukunft zu sichern. Mit dem „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" haben wir im letzten Jahr den Grundstein dazu gelegt. Wir könnten jedoch schon viel weiter sein, wenn die einzelnen Gesetze, die im Bundestag beschlossen worden sind, nicht jedesmal im Bundesrat blockiert worden wären.
Frau Schmidt, Ihre Einlassung heute hat gezeigt, daß Sie noch nicht begriffen haben, daß diese Gesetze notwendig sind, um Arbeitsplätze auch für Frauen zu erhalten und zu schaffen. Natürlich können Sie bestimmte Beispiele anführen; das ist Ihr Recht. Aber es ist unredlich, so zu tun, als würden diese Maßnahmen nur Frauen betreffen und als würden Männer von solchen Maßnahmen in keiner Weise betroffen sein.
Durch die verbesserte steuerliche Absetzbarkeit der Beschäftigung im Privathaushalt, die wir im Jahressteuergesetz 1997 beschlossen haben, werden wir mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze schaffen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Knoche?
An dieser Stelle nicht mehr, weil ich im Text schon etwas weiter bin.
Denn von den über 750 000 Beschäftigten in Privathaushalten sind derzeit nur etwa 5 Prozent sozialversicherungspflichtig. 90 Prozent der geringfügig Beschäftigten sind Frauen. Ich räume gerne ein, daß auch Frauen diese Art der Beschäftigung oft selbst anstreben. Wir dürfen jedoch nicht außer acht lassen, daß gerade hierin die Ursache für niedrigere Altersrenten der Frauen liegt. Ich halte es für erforderlich - selbstverständlich werden wir darüber zu reden haben -, daß geringfügig Beschäftigte zumindest dann versicherungspflichtig werden, wenn sie es in der Hauptbeschäftigung schon sind.
Frauen leiten fast 800 000 der 3 Millionen Unternehmen in Deutschland. Jede dritte betriebliche Existenzgründung erfolgt heute durch eine Frau. Im Rahmen des „Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung" geben wir steuerliche Anreize, um
Existenzgründungen - auch die von Frauen - zu unterstützen. Wir müssen aber dafür Sorge tragen, daß Frauen. die sich selbständig machen, auf mehr Akzeptanz stoßen. Denn es soll immer noch Männer geben, die sich nicht vorstellen können, daß eine Frau Unternehmerin sein kann. Es ist notwendig, das Beratungsangebot für Existenzgründerinnen weiter auszubauen und die Beratungsstellen zu vernetzen.
Das neue Arbeitsförderungsgesetz enthält eine Vielzahl von Regelungen, die Chancen der Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Der Grundsatz, wonach Frauen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden sollen, hat sich bewährt und wird auch in Zukunft als Leitlinie für die Arbeitsverwaltung gelten.
Für uns war wichtig, daß Berufsrückkehrerinnen und -rückkehrer als besonders förderungswürdig eingestuft werden. Selbst wenn Mütter oder Väter ihre Erwerbstätigkeit für die Kinderbetreuung für längere Zeit unterbrechen, haben sie bei der Berufsrückkehr einen Rechtsanspruch auf einen Einarbeitungszuschuß sowie die Möglichkeit, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Das ist eine konkrete Maßnahme, um den Wiedereinstieg zu erleichtern.
Für Frauen ist die verbesserte Erstattung von Kinderbetreuungskosten eine wichtige Hilfe. Gerade jungen Müttern bietet sich dadurch die Chance, ihre Ausbildung fortzusetzen und zu beenden. Mütter, die Erziehungsurlaub nehmen, behalten ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld. Auf unsere Initiative hin wurde sichergestellt, daß der Anspruch auch bei der Erziehung mehrerer Kinder und bei Ausschöpfung des längstmöglichen Erziehungsurlaubs erhalten bleibt. Das sind ganz konkrete Maßnahmen, um arbeitslosen Frauen zu helfen. Von den neuen Frauenbeauftragten in den Arbeitsämtern erwarte ich mir außerdem zusätzliche, wichtige Impulse zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit.
Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist doch gezielte Unterstützung von Frauen!
2 Millionen Menschen in Deutschland suchen Teilzeitarbeit. Das muß doch die Tarifpartner endlich veranlassen, sowohl im Interesse der Arbeitslosen als auch der Familien mehr zu tun. Teilzeitarbeit ist heute überwiegend eine reine Frauenfrage. Es würde jedoch der ganzen Familie sehr zugute kommen, wenn sich Vater und Mutter Erwerbsarbeit und Familienarbeit teilen würden. Dazu brauchen wir aber Teilzeitarbeitsplätze auf allen Ebenen, bis hin zu Führungsfunktionen und generell flexiblere Arbeitszeiten.
Den Wunsch nach lebensphasengerechter Arbeitszeit dürfen die Arbeitgeber nicht überhören. Für Unternehmen ist es sinnvoll und auch effektiver, Arbeitskonzepte zu entwickeln, die es zulassen, Familie und Berufe beider Partner unter einen Hut zu bringen. Einzelne Pionierunternehmen haben bereits ein
Maria Eichhorn
attraktives Arbeitsplatzangebot mit flexiblen Arbeitszeiten, Vier-Tage-Woche, Jahresarbeitszeit, Teilzeit, und Job-Sharing anzubieten. Diese Lösungen sind praxiserprobt und rentieren sich; denn die Erfahrungen zeigen, daß die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens erhöht wird, wenn die Arbeitsbedingungen den Bedürfnissen und den Erwartungen der Arbeitnehmer entgegenkommen.
Es gibt noch immer viel zuwenig Frauen in Führungspositionen. Zur Frauenförderung in den Unternehmen gehört es, die traditionelle Rollenverteilung zu hinterfragen und spezielle Weiterbildungsangebote und Kurse, die den Frauen Mut machen, sich für anspruchsvolle Aufgaben zu bewerben, anzubieten. Ich wende mich aber auch an uns Frauen selbst; denn es ist wichtig, daß wir uns neuen Berufsfeldern zuwenden. Der Aufruf von Bildungsminister Rüttgers an die Abiturientinnen, sich mehr technischen Studiengängen, insbesondere der Informatik, zuzuwenden, kann nur unterstützt werden.
In Zukunft werden wir mit einer zunehmenden Zahl von Telearbeitsplätzen zu rechnen haben. Was Telearbeit für die Menschen und auch für die Familien bedeutet, ist noch umstritten. Sie bietet jedoch die große Chance, die Trennung von Arbeitsstätte und Privatwohnung Stück für Stück rückgängig zu machen. So werden zum Beispiel beim Chemiekonzern BASF attraktive, individuelle Arbeitszeitmodelle in Kombination mit Telearbeitsplätzen ausprobiert.
Zäh und beharrlich sind wir mit manchen Hilfsmitteln vorangekommen, die der einen mehr, dem anderen weniger gefallen, als da sind: Frauenbeauftragte, Frauenförderung, Frauenministerien bis hin zu den Quoten.
Es hat sich jedoch gezeigt - ganz gleich, wie man zu diesen Instrumenten steht -: Ohne diese Hilfsmittel stünden wir nicht da, wo wir heute stehen. Wir werden wohl auch weiterhin diese Unterstützung benötigen.
Die Verwirklichung der Chancengleichheit von Frauen kann aber nicht allein Aufgabe isolierter Frauenpolitik sein. Sie ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe im umfassenden Sinn, die alle Politikbereiche betrifft. Dies gilt besonders in wirtschaftlich schweren Zeiten. Auch ich möchte noch einmal betonen, daß es nicht einzusehen ist, warum die Kindererziehungszeiten niedriger zu bewerten sind als die Erwerbstätigkeit. Wir werden alles daransetzen, daß diese Forderung auch umgesetzt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauenministerin Nolte hat die nationalen Strategien zur Umsetzung der Vierten Weltfrauenkonferenz vorgelegt. Sie bilden für die Zukunft einen wichtigen Handlungsrahmen, den wir auch mit unserem Antrag unterstützen. Der Vorwurf der SPD, hier nichts getan zu haben, ist völlig unberechtigt. Sie haben selbst keine echten Alternativen anzubieten.
Noch kurz zu Ihnen, Frau Niehuis: Sie haben in der Zwischenfrage zu Frau Nolte gesagt, daß die Säuglingspflege in der bayerischen Verfassung erst verankert werden sollte. Tatsache ist, daß es in Art. 131 der bayerischen Verfassung eine Bestimmung gibt, in der es heißt, daß Mädchen in Säuglingspflege und Kindererziehung zu unterweisen sind. Tatsache ist, Frau Niehuis, daß Bayern eine Änderung dahin gehend anstrebt, daß auch Buben in diese Regelung mit einbezogen werden. Ich denke, das stellt Sie zufrieden.
Wir haben noch einen weiten Weg, um unsere Ziele zu verwirklichen. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen!
Eine Kurzintervention der Kollegin Niehuis.
Vollkommen zu Recht haben Sie, Frau Eichhorn, meine Zwischenfrage an die Frau Ministerin angesprochen. Ich habe mir das jetzt einmal geben lassen. Das Wort „vorschreibt" habe ich falsch gelesen. Ich habe es so verstanden, als ob eine entsprechende Regelung, Säuglingskurse für Mädchen zur Pflicht zu machen, jetzt kommen sollte. Sie haben recht, sie ist bereits in der bayerischen Verfassung enthalten. Für meinen Irrtum möchte ich mich entschuldigen.
Aber Sie sollten darüber nachdenken, warum ich überhaupt nicht skeptisch gewesen bin, daß Bayern so etwas vorhat. Darüber hätten Sie wirklich nachdenken müssen! Daß es so etwas überhaupt in einer Landesverfassung gibt, macht mich vollkommen fertig. Insofern wäre es gut, Sie nähmen diese Verfassungspassage heraus. Dafür, daß ich etwas falsch gefragt habe, möchte ich mich entschuldigen.
Frau Eichhorn, bitte.
Frau Kollegin Niehuis, es gibt in der bayerischen Verfassung, die 1946 geschaffen worden ist, einen Passus in Art. 131, der lautet: „Mädchen sind in Säuglingspflege, Hauswirtschaft und Kindererziehung besonders zu unterweisen." Das ist sicher nichts Schlechtes. Ich denke, es ist richtig, daß Buben dies genauso lernen. Da stimmen Sie mir ja zu.
Wenn Sie aber sagen, Sie schließen mit Ihrer Einlassung darauf, wie sich Bayern insgesamt darstellt, dann haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, wie fortschrittlich Bayern zum Beispiel in manchen Dingen ist. Ich erinnere nur daran, daß Bayern jetzt dabei ist, an Schulen eine Mittagsverpflegung einzuführen. Ich frage Sie, wo es das in anderen Ländern gibt. Ich frage Sie, in welchen anderen Bundesländern - wir in Bayern planen dies - die Kindergartenöffnungszeiten von staatlicher Seite generell verlängert werden sollen - das soll also nicht nur in die
Maria Eichhorn
Hand der Kommunen gelegt werden -, so daß Erwerbstätige jederzeit, bevor sie zur Arbeit gehen, ihre Kinder in den Kindergarten geben und unbesorgt ihrer Arbeit nachgehen können.
Ich denke, hier wäre bei Ihnen noch viel Nachhilfeunterricht erforderlich. Dann wären Sie überzeugt, daß Bayern eines der fortschrittlichsten Bundesländer ist.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Hanewinckel, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Innenpolitisch stinkt die Frauenpolitik der Bundesregierung und der Koalition gen Himmel. - Frau Schwaetzer hat sich vorhin darüber beschwert, daß wir darüber heute nur innenpolitisch reden. Leider ist sie jetzt nicht da.
Aber Sie können es ihr weitersagen. - Wir müssen heute unter anderem so deutlich - es wird von unserer Seite nachher noch über anderes geredet werden - über die innenpolitische Situation der Frauen in Deutschland reden, weil sie wirklich katastrophal ist.
Die Bundesrepublik hat sich mit ihrer Unterschrift in Peking dazu verpflichtet, die Aktionsplattform umzusetzen und dafür nationale Strategien zu entwickeln. Lange genug haben wir auf diese Strategien warten müssen. Das, was uns jetzt vorgelegt worden ist und worauf die Frauen gehofft haben, ist in hohem Maße enttäuschend. Die nationalen Strategien bestehen im wesentlichen aus Ankündigungen - das haben wir hier heute schon vermehrt gehört - von Modellvorhaben, Studien und Kampagnen.
Nun haben wir mit Ihnen, Frau Nolte,
und auch mit Ihren Vorgängerinnen die Erfahrung gemacht, daß Sie aus Analysen und Modellvorhaben keine Konsequenzen ziehen, obwohl diese genau dafür vorgenommen werden. Wie wäre es, Frau Nolte, wenn Sie das Potential Ihrer qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ihrem Haus dafür einsetzen würden, um konkrete Gesetzentwürfe zu erarbeiten, die dann die Rahmenbedingungen für Gleichstellung in diesem Land tatsächlich schaffen?
Wir brauchen eine Frauenpolitik, die Gleichberechtigung und Gleichstellung wirklich will. Dazu brauchen die Frauen in Deutschland aber auch eine Ministerin, die Gleichberechtigung und Gleichstellung wirklich durchsetzen will. Ihre Konsequenzen, Frau Nolte, für Deutschland sind aber:
Erstens: unverbindliche Aussagen über unverbindliche Vorhaben.
Zweitens: Kampagnen zur Sensibilisierung für Gleichberechtigung. Wen auch immer Sie da sensibilisieren wollen, die Frauen haben es mit Sicherheit nicht nötig.
Drittens haben Sie die Nichtregierungsorganisationen und die Bundesländer aufgefordert, ihre Vorstellungen zu konkretisieren. Wo aber sind Ihre konkreten Vorhaben, und was haben Sie tatsächlich getan? In Ihrer Rede heute konnten wir nichts Konkretes hören.
Vielleicht schauen wir aber immer in die falsche Richtung. Die konkreten Vorhaben der Frau Ministerin und der Koalition und damit auch von Frau Süssmuth und Frau Eichhorn schlagen sich in Gesetzen nieder, die in den letzten Monaten von der Koalition verabschiedet wurden: dem Gesetz für mehr Wachstum und Beschäftigung, dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz und nicht zu vergessen dem GKV-Neuordnungsgesetz. Diesen Gesetzen haben Sie, liebe Kolleginnen, zugestimmt, obwohl diese Gesetze die Gleichstellung von Frauen verhindern.
Der Forderung von Peking versetzen diese Gesetze gleich mehrere Ohrfeigen. Ich zitiere aus der Aktionsplattform:
Die Aktionsplattform ist ein Programm zur Herbeiführung der Machtgleichstellung der Frau. Ihr Ziel ist es, die Umsetzung der Zukunftsstrategien von Nairobi zur Förderung der Frau zu beschleunigen und
- hören Sie gut zu -
alle Hindernisse zu beseitigen, die der aktiven Teilhabe der Frau an allen Bereichen des öffentlichen und des privaten Lebens entgegenstehen, indem ihre volle und gleichberechtigte Mitwirkung an den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entscheidungsprozessen sichergestellt wird.
Ihre nationale Strategie ist nicht dazu geeignet, den Anspruch der Aktionsplattform von Peking zu erfüllen.
Was brauchen die Frauen in Deutschland? Sie brauchen Chancengleichheit im Berufsleben, ein Gleichstellungsgesetz auch für die Privatwirtschaft. Was bieten Sie, Frau Nolte? Ein Gleichberechtigungsgesetz für den öffentlichen Dienst, das dort nicht einmal ausgenutzt wird.
Die Frauen in Deutschland brauchen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Was bieten Sie? Nichteinmischung.
Sie brauchen gleichen Zugang zur Berufsausbildung, denn trotz besserer Schulabschlüsse haben Mädchen weniger Möglichkeiten in der Berufswahl
Christel Hanewinckel
und bekommen weniger Ausbildungsplätze. Was bietet Frau Nolte? Sie bietet Motivation für Mädchen, sich auch für technische Berufe zu interessieren.
Frau Nolte, das ist Verhöhnung angesichts der derzeitigen Situation auf dem Ausbildungsmarkt und des Verhaltens der Betriebe dazu. Diese müßten Sie motivieren, aber nicht die Mädchen.
Frauen in Deutschland brauchen Ganztagseinrichtungen für Kinder aller Altersgruppen, damit Frauen und Männer ihren Vorstellungen entsprechend Familien- und Erwerbsarbeit vereinbaren können. Was tun Sie? Sie verweigern jegliche Beteiligung des Bundes an den Investivkosten für Kindergartenplätze vor allem im Westen Deutschlands.
Frauen brauchen Teilzeit bzw. flexible Arbeitszeiten; das gilt aber nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer, wenn es sich um Mütter und Väter handelt. Was bieten Sie? Sie legen die zumutbare Wegezeit für Teilzeitarbeitende auf zweieinhalb Stunden fest. Wenn mobile Arbeitszeit, wie Sie, Frau Nolte, es nennen, Ihrem Modell entspricht, warum stimmen Sie dann solchen Vorhaben hier im Hause eigentlich zu?
Was die Frauen in Deutschland brauchen? Eine eigenständige Alterssicherung. Was bieten Sie? Nichts, obwohl schon 1992 vom Deutschen Bundestag festgelegt wurde, ein Konzept dafür zu erarbeiten. Jegliche Vorschläge von Ihrer Seite fehlen.
Die Frauen brauchen volle Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Was bieten Sie? Ein bißchen mehr Anerkennung dieser Zeiten, und gleichzeitig wird bei Ihnen eine Familienkasse diskutiert, die diese Leistungen als versicherungsfremd qualifiziert.
Die Erhöhung des Kindergeldes auf 220 DM für 1997 war nur gegen den größten Widerstand von Ihnen durchzusetzen.
Was brauchen die Frauen in Deutschland noch? Finanzielle Sicherheit und zeitliche Flexibilität während des sogenannten Erziehungsurlaubes. Was bieten Sie? Seit zehn Jahren keine Anpassung der Einkommensgrenzen, keinen Rechtsanspruch auf gesicherte Teilzeitarbeit, keine gleichzeitige Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub durch Mutter und Vater, noch nicht einmal während des Mutterschutzes. Also nichts Neues von Ihrer Seite.
Frauen in Deutschland brauchen soziale Absicherung für bisher geringfügige Beschäftigung statt der Ausbeutung der Frauen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen. Was bieten Sie an? Eine Ausweitung dieser unsozialen Arbeitsverhältnisse, zum Beispiel durch das neue Ladenschlußgesetz.
Meine Zeit reicht nicht aus, um alles zu benennen, wo Sie als Familienministerin und Frauenministerin gefordert sind und nichts tun. Nur noch ein paar Stichworte. Art. 19 des Ausländergesetzes bedarf dringend einer Korrektur für die betroffenen Frauen. Die Widerspruchsklausel bei Vergewaltigung in der Ehe wird von Ihnen akzeptiert. Sie muß weg.
Für das Forum der Frauen auf der Expo 2000 machen Sie Angebote und tolle PR-Aktionen im Ausland - und hier in Deutschland keine müde Mark für die Finanzierung des Forums.
Die Kürzungsgesetze, die Sie beschlossen haben, treffen Frauen doppelt und dreifach. Sie haben es heute hier schon mehrfach gehört. Aber ich habe den Eindruck, Nachhilfeunterricht ist hier nötig. Frauen sind bei der Kürzung der Lohnfortzahlung betroffen. Sie sind bei der Kürzung des Krankengeldes, beim eingeschränkten Kündigungsschutz und beim Draufzahlen für Kuren betroffen, und zwar mehr - falls diese Frage wieder gestellt wird - als die Männer in dieser Gesellschaft, weil die Frauen auch noch für ihre Kinder einstehen müssen und weil sie in der Regel diejenigen sind, die weniger verdienen.
Von der Situation der ostdeutschen Frauen ist eigentlich ganz zu schweigen; denn von der reden Sie so gut wie nie, jedenfalls nicht in Form von konkreten Vorschlägen, wie sich diese Situation verändern wird.
Die Arbeitslosigkeit der Frauen in den ostdeutschen Bundesländern hält sich seit 1992 konstant auf hohem Niveau. Im Januar 1997 lag die Quote der arbeitslosen Frauen bei 21,5 Prozent. Das bedeutet, daß fast eine dreiviertel Million Frauen im Osten Deutschlands arbeitslos gemeldet ist. Genau sind es 727 000. Wenigstens in diesem Bereich können Sie eine Steigerung verzeichnen. Gegenüber dem Januar 1996 ist nämlich die Zahl der arbeitslosen Frauen um 2,8 Prozent gestiegen. Vielleicht ist es das, was Sie mit Ihrer Politik erreichen wollten.
Was tut aber Frau Nolte? Sie stimmt den Kürzungen im AFRG zu, von denen wir wissen, daß vorrangig Frauen, vor allen Dingen die Frauen im Osten, betroffen sind. Ich nehme als Beispiel Sachsen-Anhalt. Dort waren 1996 zwei Drittel der ABM- Stellen mit Frauen besetzt. Eine positive Bilanz, denn Sachsen-Anhalt achtet darauf, wie wir vorhin schon einmal gehört haben, daß der Anteil der Frauen an der aktiven Arbeitsförderung ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit entspricht. Bei den Maßnahmen nach § 249h lag der Anteil der Frauen bei den Beschäftigten im sozialen Dienst bei über 86 Prozent, in der Jugendhilfe bei über 64 Prozent. Das hört sich gut an; aber durch die Reform des AFG haben Sie, Frau Nolte, zugestimmt und es damit mit zu verantworten, daß der Bundesanstalt für Arbeit nicht mehr genü-
Christel Hanewinckel
gend Finanzmittel für die weitere Förderung zur Verfügung stehen.
Das bedeutet zweierlei: erstens, daß der größte Teil der Frauen in diesen Maßnahmen arbeitslos wird. Über die erschwerten Bedingungen, weiterhin wenigstens auf dem öffentlichen Arbeitsmarkt gefördert zu werden, haben wir vorhin von Frau Schmidt etwas gehört. Zweitens - das ist nicht ein Nebeneffekt, sondern ein ganz erheblicher Effekt -: Die sozialen Dienste und die Jugendhilfe werden in den östlichen Bundesländern in ihren Strukturen zusammenbrechen, weil nämlich der größte Teil auf die Förderung durch das AFG angewiesen war. Ihr Abstimmungsverhalten, Frau Nolte, widerspricht Ihren artigen Reden über Frauenförderung und Gleichberechtigung.
- Ihren artigen Reden, ja. Durch Ihr Handeln und vor allen Dingen durch Ihr Nichthandeln verbauen Sie die Machtgleichstellung der Frau in Deutschland. Sie müssen sich fragen lassen - und das unablässig -, wofür eigentlich Ihre Unterschrift unter der Aktionsplattform von Peking steht.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heiner Geißler.
Frau Hanewinckel, Sie haben die Kindererziehungszeiten im Zusammenhang mit der vorgesehenen Rentenreform angesprochen. Das veranlaßt mich, zunächst einmal darauf hinzuweisen - weil Sie das Ganze in einem sehr polemischen Ton vorgetragen haben -, daß die Anerkennung von Kindererziehungszeiten von der CDU/ CSU und der F.D.P. initiiert und im Deutschen Bundestag durchgesetzt worden ist. Das war im Jahre 1985. Ich weiß es deswegen genausogut wie Sie vielleicht auch, weil ich damals, als wir dies initiiert haben, noch der dafür zuständige Minister war. Ebenfalls von dieser Koalition initiiert und beschlossen wurde die Anerkennung von Kindererziehungszeiten von drei Jahren für ein Kind seit 1992.
Die Frage, die jetzt in der Rentenreform für die Zukunft entschieden werden muß, lautet nicht nur, ob man den Zeitraum von drei Jahren weiter ausweiten kann. Das ist eine sehr wichtige Frage. Es geht auch darum, ob diese Kindererziehungszeiten in der Rentenbiographie der Frauen additiv zu sonstigen Erwerbszeiten anerkannt werden sollen. Das ist unsere Auffassung. Man wird darüber debattieren müssen, mit welchen Punktwerten die Erziehungszeiten in der Zukunft bewertet werden sollen. Das ist noch nicht entschieden.
Ich trete Ihrer Behauptung entgegen - weil sie nicht wahr ist -, daß in dem Rentenreformkonzept, das die Rentenreformkommission der CDU und auch die Bundesregierung vorgelegt haben, die Anerkennung von Erziehungszeiten als versicherungsfremde Leistung bezeichnet worden sei. Das ist völlig absurd. Natürlich ist die Anerkennung von Erziehungszeiten keine versicherungsfremde Leistung, sondern eine versicherungskonforme, eine versicherungsadäquate Leistung. Niemand trägt mehr zur Sicherung des Generationenvertrages bei als die Männer und Frauen, die Kinder erziehen.
Es ist aber die Frage - und die hat die Rentenkommission eindeutig beantwortet -, ob die Beiträge, die für die Renten bezahlt werden sollen, welche auf Grund von Kindererziehungszeiten später den Frauen ausbezahlt werden, von den Handwerkern, den Arbeitnehmern usw. durch Sozialversicherungsbeiträge allein finanziert werden sollen oder ob die Anerkennung von Erziehungsjahren und die daraus resultierenden Renten nicht eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sind.
Da hat die Rentenkommission nach meiner Auffassung völlig zu Recht gesagt: Diese Aufgabe darf in der Finanzierung nicht auf die Beitragszahler beschränkt werden. Vielmehr ist es eine Aufgabe von uns allen, das heißt von den Mitgliedern der Bundesregierung, der Landesregierung und uns Abgeordneten, von über 2 Millionen Beamten, von Ärzten, Zahnärzten, Architekten und Rechtsanwälten, die keine Beiträge bezahlen; es ist eine Aufgabe des Steuerzahlers. Das ist die Meinung der Rentenreformkommission der CDU.
Frau Kollegin Hanewinckel.
Herr Kollege Geißler, ich bin etwas überrascht über Ihre Wortwahl. Sie sagten, Sie hätten das Ganze 1986 initiiert und durchgesetzt. Das dürfte ja bei den damals herrschenden Mehrheitsverhältnissen nicht ganz so schwergefallen sein.
Aber Sie haben ja eigentlich etwas anderes gefragt. Ich denke, Sie wissen genausogut wie ich, daß in den letzten Wochen mehrfach durch die Presse gegangen ist, daß verschiedentlich von Kolleginnen und Kollegen von Ihrer Seite genau andersherum argumentiert worden ist. Ihnen persönlich nehme ich ab, daß Sie nicht der Meinung sind, daß Kindererziehungszeiten eine versicherungsfremde Leistung darstellen.
Aber daraus, wie das Ganze jetzt gelöst werden soll, indem Sie eine Familienkasse bilden und die Leistungen aus der Rentenversicherung herausnehmen, wird, denke ich, deutlich, daß der Trend bzw. die Definition in Richtung versicherungsfremde Leistung geht. Dann wäre es angemessen gewesen, Sie hätten sich zuerst - vor einigen Jahren - darum gekümmert, das, was nun tatsächlich versicherungsfremd ist, nämlich all die Transfers, die für die deutsche Einheit in Richtung Ostdeutschland gewandert sind, durch Steuern zu finanzieren. Dann hätten wir an dieser Stelle auch nicht die Debatte über die Rentenkasse.
Christel Hanewinckel
Wenn Sie sagen, Sie sehen das nicht als versicherungsfremd an, nehme ich Ihnen das ab. Kindererziehungszeiten sind nicht beitragsfinanziert. Sie wollen sie aber herausnehmen; insofern definieren Sie für mich nach wie vor Kindererziehungszeiten nicht als zur Rente gehörig.
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Sothmann, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alain Delon, der französische Frauenheld, hat kürzlich in einem Interview gesagt:
Frauen haben eine solche Macht über uns. Sie sind es, die die Welt führen, weil sie den Mann führen. So einfach ist das.
Schön wär's, meine Herren! Aber keine Angst, wir streben nicht die Weltherrschaft an. Es reicht uns, wenn wir gleichberechtigt sind.
Damit ist es nicht so weit her, wie wir alle wissen. Die Gleichberechtigung steht zwar auf dem Papier, doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Ich meine, das müssen wir immer wieder anmahnen.
Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt mit 4,66 Millionen arbeitslosen Menschen gefährdet die Gleichberechtigung mehr als alles andere.
Für Frauen besteht die Gefahr, daß sie wie immer das Nachsehen haben werden. Frauen werden als erste entlassen und als letzte wiedereingestellt.
Liebe Kollegin Schmidt, das hat wahrlich nichts mit der Änderung des Kündigungsschutzgesetzes zu tun.
- Nein, hat es nicht. Im Gegenteil: Das gibt mancher Frau jetzt eher eine Chance als vorher.
Hinzu kommt: Frauen haben öfter als Männer einen Arbeitsplatz, der unter der Qualität ihrer Ausbildung liegt, und sie verdienen ein Drittel weniger als Männer.
- Ich möchte keine Frage zulassen.
- Ja. Aber ich kenne eigentlich Ihre Fragen und Sie auch fast meine Antworten, Frau Niehuis.
Dies alles hat negative Konsequenzen, und zwar bis hin zur Rente. Frauen bekommen gerade einmal 70 Prozent der Rente von Männern.
Die hohe Arbeitslosigkeit steigert auch die Aggressivität auf den Straßen und in den Familien. Nicht ohne Grund suchen rund 40 000 Frauen jährlich mit ihren Kindern Zuflucht in den Frauenhäusern, um ihren gewalttätigen Männern zu entkommen.
Meine Damen und Herren, auch sonst liegt bei uns bei der Gleichberechtigung noch einiges im argen. Berufstätige Mütter haben nach wie vor große Probleme, Familien- und Erwerbsarbeit miteinander zu verbinden; wir haben es laufend gehört. Es fehlt an Kinderbetreuungseinrichtungen. Wir brauchen mehr Teilzeitarbeitsplätze. Mobilzeit ist das Stichwort. Was möglich ist, zeigen uns beispielsweise die Niederländer mit einer Teilzeitquote von 34 Prozent. Bei uns liegt sie zwischen 17 und 18 Prozent.
In Führungspositionen sind Frauen immer noch eine Minderheit. In Entscheidungsgremien sind sie nur mit 7 Prozent vertreten, in Führungsetagen der Wirtschaft mit 3 Prozent, und weltweit haben Frauen nur jeden neunten Parlamentssitz inne. Wir wissen das alles.
Wissenschaft und Forschung leiden ebenfalls an Frauenmangel. Nur rund 4 Prozent aller C-4-Professuren sind in Frauenhand, und das, obwohl nie zuvor so viele Frauen so gut ausgebildet waren wie heute. Diese Situation ist unhaltbar.
Im übrigen reichen da einige wenige Vorzeigefrauen nicht aus.
Volle Gleichberechtigung ist die Voraussetzung für Demokratie. Wir brauchen Gleichberechtigung; wir brauchen Teilhabe und Partnerschaft. Was ist nun zu tun? - Die aktuelle Lage und die nationalen Strategien von unserer Bundesministerin Claudia Nolte zur Umsetzung der Aktionsplattform der Weltfrauenkonferenz in Peking weisen, meine ich, einen Weg.
Wir müssen uns im wesentlichen auf Verbesserungen in drei Bereichen konzentrieren: erstens Frauen und Arbeitsmarkt, zweitens Frauen in Macht- und Entscheidungspositionen - das halte ich für ganz besonders wichtig -, drittens Gewalt gegen Frauen.
In unserem Antrag zur Gleichberechtigung haben wir unsere Forderungen dazu ausführlich genannt. Vorrangig müssen wir die hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen. Grundvoraussetzung für die Schaffung von Arbeitsplätzen ist eine starke Wirtschaft mit dem Willen zu Investitionen,
- auch wenn es 60 Stunden sein müßten. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen schaffen.
Bärbel Sothmann
Unser „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" - Frau Eichhorn hat es bereits erwähnt -, mit dessen Umsetzung wir im letzten Jahr gegen den erbitterten Widerstand von SPD und den Grünen begonnen haben, wird die Wirtschaft ankurbeln. Um die Abgabenlast zu senken, brauchen wir auch die Neuorientierung unseres Steuersystems und unserer sozialen Sicherungssysteme. Das ist lebensnotwendig für uns alle. Die entsprechenden Reformen haben wir auf den Weg gebracht. Ich hoffe sehr, daß sich die SPD in den Spitzengesprächen über diese Reformen endlich konstruktiv verhält.
Meine Damen und Herren, spezielle Verbesserungen für Frauen sind ein Muß. Unter anderem das Arbeitsförderungs-Reformgesetz und das Jahressteuergesetz 1997 enthalten bereits solche Verbesserungen. Wir wissen aber auch, daß das zuwenig ist. Wir fordern darüber hinaus, daß Erziehungsarbeit endlich mit Erwerbsarbeit gleichgestellt wird. Wir fordern außerdem eine bessere Hilfestellung für Frauen als Existenzgründerinnen, vor allem eine speziell auf Frauen zugeschnittene Beratung.
Wir müssen auch die zunehmende Globalisierung als Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland nutzen. Beim Wettbewerb um die globalen Standorte siegt allein die Kompetenz. Daher heißt die Antwort auf die Strukturprobleme unserer Wirtschaft und auf das Problem der Arbeitslosigkeit: technischer Fortschritt, neue Technologien. Nur durch innovative, hochwertige Produkte und neuartige Produktionsprozesse werden wir international wettbewerbsfähig bleiben und unsere Arbeitsplätze sowie unseren Wohlstand auch künftig sichern. Darin liegt unsere Zukunft. Darin liegt auch die Zukunft der Frauen. Das heißt, wir Frauen müssen uns den Herausforderungen des technischen Fortschritts stellen.
Ein Beispiel dafür ist der Bereich Multimedia. Wir sind auf dem Weg in das Informationszeitalter und befinden uns mitten in der „digitalen Revolution". In den nächsten 15 Jahren werden in Deutschland etwa 1,5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in der Medien- und Datenwelt erwartet. Information wird zum wichtigsten Produktionsfaktor werden. Doch leider ist die Welt der Informationen eine Männerwelt. Nur maximal 10 Prozent der Internet-Benutzer sind Frauen. Bei den Informatik-Studiengängen ist die Zahl der Studentinnen auf unter 5 Prozent gesunken.
Dabei bietet die neue Multimedia-Welt gerade Frauen sehr viele Möglichkeiten. Multimedia ermöglicht moderne „Heimarbeit", nämlich Telearbeit. Dadurch können Frauen und Männer Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren. Telearbeit bietet gerade Frauen mit Kindern gute Chancen, ein eigenes Unternehmen zu gründen.
Das Motto „Gleichberechtigung - Teilhabe - Partnerschaft" gilt auch und gerade für Frauen im wissenschaftlich-technischen Bereich. Gerade Deutschland als eine der führenden Industrienationen kann es sich nicht leisten, die Kompetenz von Frauen in Wissenschaft, Forschung und Technik brachliegen zu lassen. Die Weichen für eine höhere Beteiligung von
Frauen in diesen Bereichen sind bereits in Schule und Ausbildung zu stellen. Mädchen müssen ermutigt werden, naturwissenschaftliche und technische Berufe zu ergreifen. Wir müssen die Lehrpläne auf die Vermittlung von Medienkompetenz einstellen. Die Initiative der Bundesregierung „Schulen ans Netz" ist, wie ich glaube, ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung.
Daneben werden derzeit viele neue Berufsprofile - auch das hatte Frau Eichhorn bereits erwähnt -, unter anderem in den Bereichen Multimedia und Technik, entwickelt. Die Mädchen müssen gezielt darauf hingewiesen werden.
Ein positives Signal für Frauen ist die Einführung des Meister-BAföGs. Es umfaßt unter anderem Zuschüsse für die Kinderbetreuung und gibt daher auch jungen Müttern die Chance, einen Meisterkurs oder eine ähnliche Aufstiegsfortbildung zu machen.
Wir brauchen aber darüber hinaus neue Formen der Frauenförderung im Wissenschaftsbereich. Wir brauchen Mobilzeitmodelle und mehr Kinderbetreuung an den Universitäten. Für die Frauenförderung im Hochschulbereich besonders wichtig ist das neue Hochschulsonderprogramm, das HSP III. Rund 920 Millionen DM sind speziell für Wissenschaftlerinnen vorgesehen. Auch bei der jetzt anstehenden Novellierung des Hochschulrahmengesetzes muß der Förderung von Frauen besonders Rechnung getragen werden.
Wir müssen Frauen darin unterstützen, ihre Technikdistanz zu überwinden. Die genannten Fördermaßnahmen müssen deshalb fortgeführt und verstärkt werden. Damit die notwendigen Reformen zur Stärkung der Wirtschaft und zur Schaffung von Arbeitsplätzen wirksam werden können, ist mehr denn je Gemeinsinn gefordert. Wir alle müssen bereit sein, notwendige Veränderungen und Einschränkungen anzunehmen und gemeinsam zu tragen. Dies gilt auch für die Verwirklichung der Gleichberechtigung. Männer müssen auf einen Teil ihrer Macht zugunsten von Frauen, zugunsten der Gleichberechtigung verzichten. Es lohnt sich, meine Herren. Denn Sie wissen: Die Zukunft der Menschheit ist abhängig von der Zukunft der Frauen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Adelheid Tröscher, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frauenpolitik und Entwicklungspolitik sind die beiden Politikfelder, die in diesem Hause immer wieder geschoben werden. Das ist wie im richtigen Leben. Wenn sich diese Mißachtung nur nicht eines Tages bitter rächen wird!
Adelheid Tröscher
Als Entwicklungspolitikerin möchte ich einen Bogen spannen und aufzeigen, wie Frauenpolitik weltweit zusammenhängt. Ob es sich um gesellschaftliche Arbeitsteilung und politische Macht, Zugang zu Dienstleistungen und Darlehen, Boden und Beschäftigung, Eigentum und Einkommen handelt - die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern prädestiniert Frauen zu Armut. Wenn Frauen auf der Welt 80 Prozent der Nahrungsmittel erzeugen und zwei Drittel der Weltarbeitsstunden verrichten, gleichzeitig aber nur ein Zehntel des Welteinkommens erhalten, nur 1 Prozent des Eigentums besitzen und zwei Drittel aller Analphabeten der Welt stellen, dann wird es Zeit, daß wir diese vielfältigen Formen der Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen schleunigst beseitigen.
Die auf der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking verabschiedete Aktionsplattform stellt insofern eine deutliche Verbesserung gegenüber den Ergebnissen der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz und der Wiener Menschenrechtskonferenz dar, als die Rechte von Frauen noch nie so umfassend definiert worden sind. Nur, allein mit der Definition ist es nicht getan. Es geht darum, die wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen zu verändern, den Frauen Macht zu Gestaltung und Umgestaltung in Gesellschaft und Entwicklungsprozessen zu geben. Dies gilt nicht nur für die Länder der sogenannten dritten Welt, sondern auch für die reichen Industrienationen. Frauen müssen Verfügungsrechte über Ressourcen und Entscheidungsrechte im öffentlichen und privaten Bereich gewinnen. Auch das Problem der Armut ist nicht lösbar ohne Umverteilung. Menschenrechte bleiben Utopie, solange Menschen nicht in die Lage versetzt werden, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und die Menschenrechte für sich selbst einzufordern.
Frau Grießhaber hat schon über die Taliban-Milizen in Afghanistan gesprochen. So kann ich das ein bißchen verkürzen. Die Staatengemeinschaft kann und darf diesem Treiben in Afghanistan nicht tatenlos zusehen.
So fordern wir auch die Bundesregierung auf, durch tatkräftige Unterstützung der Vereinten Nationen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union und mit eigenen Maßnahmen und Ideen dazu beizutragen, daß die Achtung der Menschenrechte in Afghanistan wiederhergestellt und insbesondere die Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben aufgehoben wird.
Die Globalisierung der Wirtschaft in den vergangenen Jahren schneidet tief in die Lebens- und Arbeitsbedingungen ein. Internationale Institutionen und Konzerne gewinnen immer mehr an Bedeutung. Hinzu kommt ein ökonomischer Strukturwandel, der überall, vor allem im sozialen Bereich, zu Mittelkürzungen und zu wachsenden Einkommensunterschieden führt. Betroffen sind vor allem Frauen. 70 Prozent der Armen in der Welt sind weiblich, hieß es im letztjährigen Bericht des Entwicklungsprogramms der UN. Armut trifft nicht nur Frauen, aber sie ist auch nicht geschlechtsneutral. Bereits Ende der 70er Jahre prägte die US-amerikanische Soziologin Diana Pearce den Slogan von der Feminisierung der Armut.
Zwei Ursachen trugen bisher zur Verschärfung des Armutsrisikos von Frauen bei: Sie werden in den meisten traditionellen Kulturen benachteiligt und sind auch die Verliererinnen im herrschenden Entwicklungsmodell. Stets wird zuallererst Männern der Weg zu gesellschaftlichen Ressourcen, Beschäftigung und politischer Macht geebnet. Frauen sind dagegen nur bei der Zuweisung unbezahlter Arbeit privilegiert, dafür aber sehr. Wo Nahrung, Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung knapp sind, wirken kulturelle Auswahl- und Verteilungsregeln für Frauen armutsverstärkend.
Ein zentraler Schlüssel für das hohe Armutsrisiko von Frauen ist auch der Gegensatz von Arbeitsbelastung und Verdienst. Überall arbeiten Frauen mehr und länger als Männer, in den Ländern des Südens um durchschnittlich 20 Prozent. Dabei leisten sie zwei Drittel ihres Arbeitspensums unbezahlt, während Männer zwei Drittel ihres Arbeitspensums bezahlt bekommen. Zudem haben Männer die besser dotierten Vollzeitjobs, weil Frauen das Stigma der Zuverdienerin anhaftet - wie auch bei uns -, auch wenn sie Haupt- und Alleinernährerin der Familie sind.
Alle Weltreligionen registrieren eine höhere Erwerbslosigkeit von Frauen als von Männern. Und im globalen Durchschnitt verdienen Frauen 30 bis 40 Prozent weniger als Männer.
550 Millionen Frauen in ländlichen Regionen leben unter der Armutsgrenze. Ihre Zahl verdoppelte sich in den 70er Jahren, während sich die Zahl armer Männer auf dem Land nur um 30 Prozent erhöhte. Bei der Kodifizierung von Landrechten und Agrarreformen wurden Frauen nicht berücksichtigt und verloren häufig traditionelle Nutzungsrechte.
In Afrika produzieren Frauen bis zu 80 Prozent aller Nahrungsmittel, erhalten aber nur 1 Prozent aller landwirtschaftlichen Kredite. Hier könnte zum Beispiel ein großzügiges Programm für Kleinstkredite helfen. Das wäre außerordentlich sinnvoll. Die Entwicklungspolitiker sind dabei, dies zu forcieren.
Wo Regierungs- und Entwicklungsprogramme ausländischer Geber nicht direkt entgegenwirken, setzt sich die Benachteiligung der Frauen fort. Dies gilt auch für die wachsende Zahl von Flüchtlingen und
Adelheid Tröscher
Vertriebenen. 80 Prozent von ihnen sind nach Angaben der UN Frauen und Kinder.
Diese Beispiele, die ein rapides Anwachsen der Armut belegen, verdeutlichen einmal mehr, daß diese Probleme weder in den letzten Jahrzehnten gelöst werden konnten noch innerhalb des derzeitigen Rahmens von Entwicklung zu bewältigen sind. Das bedeutet, daß die Rahmenbedingungen menschlicher Entwicklung neu bestimmt werden müssen. Globale Reformen im Sinne einer modernisierten, nachhaltigen Reform des westlichen Entwicklungsmodells reichen nicht mehr aus.
Voraussetzung für ein neues Verständnis von Entwicklung ist, daß wir Gerechtigkeit zwischen dem Norden und dem Süden schaffen, daß Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern geschaffen wird und die Grundbedürfnisse der Menschen auf nachhaltige, umweltverträgliche und generationsverträgliche Weise sichern.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher die Bundesregierung nachdrücklich auf, aktuelle Programme, Projekte und politische Aktionsfelder daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie die Gleichberechtigung der Geschlechter fördern, und sicherzustellen und sich dafür einzusetzen, daß „empowerment" von Frauen zum festen Bestandteil jeglicher entwicklungspolitischer Entscheidung wird.
Wir fordern, einen Aktionsplan zur Etablierung von Frauenpolitik als entwicklungspolitische Querschnittsaufgabe zu formulieren, um eine Sensibilisierung und Identifikation der Entscheidungsträger mit frauenpolitischen Inhalten zu erreichen und die Zusammenarbeit der Regierungen mit den Nichtregierungsorganisationen zu intensivieren.
Dabei ist festzustellen, daß eine sozial gerechte, ökologische und ökonomisch effiziente Entwicklung für alle heutigen und künftigen Generationen auf nationaler Ebene allein nicht mehr erreicht werden kann. Die Politik muß sich vielmehr angesichts der Globalisierungsprozesse von der Vorstellung regional begrenzter Problembewältigung lösen und neue Wege internationaler Zusammenarbeit beschreiten.
Sozialdemokratische Eine-Welt-Politik stellt sich daher der Perspektivlosigkeit einer national eingeengten Sichtweise entgegen. Sie fordert eine aktive und demokratische Gestaltung der Globalisierungsprozesse auf der Basis von Solidarität und Verständigung zwischen den verschiedenen Völkern und Kulturen. Wir plädieren für die Errichtung einer internationalen Wirtschaftsordnung, welche die marktwirtschaftlichen Kräfte reguliert und in einen sozialökologischen Rahmen einbettet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die großen Weltkonferenzen der 90er Jahre haben für die drängenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme der Menschheit politische Lösungskonzepte
ausgehandelt und Wegweiser aufgestellt. Diese Weltkonferenzen stellen den Menschen ins Zentrum einer nachhaltigen Entwicklung, die ökologisch tragfähig, ökonomisch effizient und sozial gerecht ist sowie durch demokratische Partizipation und Gleichstellung der Geschlechter geprägt ist.
Die beschlossenen Aktionsprogramme zur Lösung der globalen Probleme leiden jedoch unter zwei schweren Mängeln: Sie sind erstens nicht verbindlich und setzen keine Fristen. So bleiben sie leicht Absichtserklärungen. Zweitens fehlen Finanzmittel für ihre Umsetzung in den ärmeren Ländern.
Mit beiden Schwächen sollte von unserer Seite offensiv umgegangen werden: Zum einen sollten Deutschland und die Europäische Union ein Zeichen setzen und die Beschlüsse verbindlich nehmen. Außerdem müssen Folgekonferenzen stattfinden, auf denen verbindliche Ziele und Fristen festgelegt werden.
Zum anderen müssen OECD-Länder die seit Jahren stagnierenden Mittel der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit endlich erhöhen.
Wir setzen uns dafür ein, daß die von Willy Brandt eingeforderte Friedensdividende, also das Abschmelzen der Rüstungshaushalte nach dem Ende des OstWest-Konflikts, zugunsten von Entwicklungszusammenarbeit zur langfristigen Friedenssicherung umgesetzt wird. Außerdem müssen neue Vorschläge zur globalen Entwicklungsfinanzierung mit Nachdruck verfolgt werden.
Die weltweiten Veränderungen haben auch Deutschland vor neue Herausforderungen in der Entwicklungspolitik gestellt. Probleme wie die Massenarbeitslosigkeit oder Haushaltsprobleme dürfen jedoch nicht dazu führen, daß Entwicklungspolitik so vernachlässigt wird, wie die Bundesregierung das jetzt tut. Entwicklungspolitik ist und bleibt vielmehr eine wichtige Aufgabe, um zu einer menschenwürdigen, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung beizutragen. Entwicklungspolitik orientiert sich an den globalen Problemen von Armut, Umweltzerstörung und Bevölkerungsdruck, um wirksame Beiträge dafür zu leisten, diese Risiken für die Entwicklung der einen Welt zu mindern.
Die Sozialdemokraten setzen sich deshalb für eine Stärkung der Entwicklungspolitik ein. Sie ist eine staatliche Aufgabe, die auf einer gesetzlichen Grundlage gestaltet werden muß.
Und für Frauen gilt: Sie sind das Rückgrat der Entwicklung in den Ländern des Südens. In Fähigkeiten von Frauen zu investieren und sie mit mehr Macht auszustatten ist der sicherste Weg zu Wirtschaftswachstum und nachhaltigerer Entwicklung.
Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Tröscher, Sie haben sich ganz zu Unrecht unter Druck setzen lassen. Wenn auf der Uhr am Rednerpult die Null erscheint, haben Sie noch eine Minute Redezeit. Erst wenn ein Minuszeichen kommt, ist die Redezeit abgelaufen. Die Unsicherheit hängt damit zusammen, daß am Rednerpult die Sekunden nicht angezeigt werden, während sie bei mir zu sehen sind.
Jetzt hat die Kollegin Monika Brudlewsky, CDU/ CSU, das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war leider nicht in Peking dabei, aber ich habe gut hingehört, wie die Reaktionen darauf waren. Unsere Bundesministerin bekam für ihre mutigen Worte durchweg und weltweit Anerkennung ausgesprochen. Nur bei uns in Deutschland versuchten Vertreter der Opposition, alles negativ zu werten.
Frau Nolte unternahm auch den Versuch, auf ihrer Reise Kontakt zu den Frauen aufzunehmen, die aus Not zu Prostituierten wurden. Aber bis auf eine drastische Schlagzeile wurde dies kaum zur Kenntnis genommen. So geht es ständig.
Frau Hanewinckel, in Ihrer unnachahmlichen Art sprachen Sie ziemlich herablassend über die moderate Art unserer Ministerin. Als Pastorin kennen Sie vielleicht den Satz von Martin Luther:
Es ist keine größere Plag noch Kreuz auf Erden denn ein böses, wunderliches, zänkisches Weib.
Recht hat er.
Ich meinte damit nicht Frau Hanewinckel. Ich zitiere Martin Luther und sage: Recht hat er.
Ich finde es jedenfalls besser, eine Ministerin zu haben, die, wie Sie sie im Ausschuß kennengelernt haben, vernünftig mit der Opposition umgeht und im Gespräch stets zum Kompromiß bereit ist, als Schimpftiraden als politisches Mittel zu benutzen; denn das haben wir Frauen doch gar nicht nötig. Das wollte ich damit zum Ausdruck bringen.
Frau Brudlewsky, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hanewinckel?
Ich habe Frau Hanewinckel nicht persönlich gemeint. Das wollte
ich nicht. Eine Zwischenfrage möchte ich jetzt nicht beantworten.
In einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Zeit, die auch in den SPD-regierten Ländern die Sozial- und Familienminister zum Sparen zwingt, erwartet man vom Bund und von der Bundesministerin wahre Wunder. Es ist für die Opposition immer gut, Dinge zu fordern, die sie ja nicht zu erfüllen braucht. Ich bin der Überzeugung, daß Frau Nolte eine der engagiertesten Familienministerinnen ist.
Sie leistet eine Kuliarbeit. Wie aber auch eines der sozialsten Länder, nämlich Schweden, gerade im Sozial- und Arbeitsmarktbereich zum Sparen gezwungen ist, so sind auch die meisten anderen Länder in Europa dazu gezwungen, auch Deutschland.
Es wird beklagt, daß sich die Gleichberechtigung, obwohl sie seit Gründung der Bundesrepublik zu den wesentlichen Grundsätzen unserer Verfassung gehört, noch immer nicht richtig in allen Lebensbereichen durchgesetzt hat. Es liegt jedoch maßgeblich an der Gesamtgesellschaft und nicht nur am Gesetzgeber, dafür zu sorgen, daß trotz vielfacher Verbesserungen in der Rahmengesetzgebung nicht nur die rechtliche, sondern auch die tatsächliche Gleichberechtigung gefördert wird.
Die Bundesregierung hat gerade dies in den letzten Jahren durchaus bewiesen oder zu beweisen versucht, auch wenn es kaum gewürdigt wird. Ich erinnere nur an das Zweite Gleichberechtigungsgesetz, die Teilzeitoffensive der Bundesregierung und die Vielzahl von Frauenförderprogrammen, die in den letzten Jahren in Gang gekommen sind. Sicherlich sind dies keine großen Schritte; aber wir wissen alle, daß Politik nur von kleinen Schritten leben kann.
Auch die Modellprojekte, liebe Frau Niehuis, sind gerade in den neuen Bundesländern sehr begrüßt worden. Man beschwört uns stets, diese Modellprojekte aufrechtzuerhalten.
Seit der Wiedervereinigung hat die Erwerbstätigkeit der Frauen auch in der bundesdeutschen Politik einen anderen Stellenwert bekommen; denn die soziale Stellung der Frau in der DDR unterschied sich doch wesentlich von der in den alten Bundesländern. Angefangen von der Erwerbsquote bis hin zur Familienpolitik gab es eine Reihe fundamentaler Unterschiede. Ich möchte jetzt gar nicht im einzelnen auf sie eingehen; das würde eine riesige Debatte auslösen.
Gleichberechtigungspolitik, die Frauen und Männern die gleichen Chancen bietet, ein selbstbestimmtes Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, erhofften wir nach der Wende. Wir hatten jetzt endlich die Freiheit, die wir uns wünschten: Wir hatten Reisefreiheit, wir hatten Redefreiheit. Zuvor hatten wir ja jahrelang einen Maulkorb gehabt.
Monika Brudlewsky
Aber so erfreulich die neugewonnene Freiheit für uns aus der ehemaligen DDR einerseits ist, so schwierig stellt sie sich als arbeitsmarktpolitisches Problem dar. Folglich ist die Frauenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern auch gravierender als im Westen.
Die Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt stellte und stellt daher auch für die Koalition im Bereich des Aufbaus Ost eine besondere Herausforderung dar. So konnten durch massive Förderung und durch Transferleistungen des Bundes wichtige strukturelle Rahmenbedingungen für eine Annäherung der Lebensverhältnisse und auch der familienpolitischen Leistungen des Bundes geschaffen werden. Die Umsetzung des § 2 Nr. 5 AFG, wonach Frauen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden sollen, sowie gezielte Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose trugen maßgeblich zu einer Verbesserung bei.
Der Wochenbericht 7/97 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat diese Entwicklung im Bereich der Arbeitseinkommen und der Renten noch einmal ausdrucksvoll unterstrichen. Allerdings weist er gleichzeitig auf das Problem der zu hohen Lohnstückkosten in den neuen Ländern als Investitionshemmnis hin.
Liebe Frau Schmidt, Sie beklagen unter anderem die Aufweichung des Kündigungsschutzes. Wir wollten Wege finden, um zum Beispiel den kleinen Betrieben Mut zu machen, mehr Leute einzustellen. Dazu gehört aber auch, sich eventuell von unwilligen Mitarbeitern leichter trennen zu können.
Wir wollten auch die Solidarität der Arbeitenden mit den Arbeitslosen.
Frau Brudlewsky, ich muß Sie noch einmal fragen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schmidt?
Nein.
- Ich hoffe, Sie sind nicht zu enttäuscht.
Strukturelle Krisen wie bei uns in den neuen Bundesländern treffen zuallererst die Frauen; das müssen wir zugeben. Sie sind überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen und müssen sich oft mit weniger qualifizierten Arbeitsplätzen zufriedengeben. Dies ist für viele Frauen auch bei uns ein psychisches Problem.
Oft will man - ich gehe nur ganz kurz darauf ein - den Menschen auch heute noch immer das Glanzbild der DDR vermitteln. Gerade die Frau hatte damals die ganze Last - Familie und Beruf - zu tragen, wie das viele berufstätige Frauen auch heute tun. Es hing immer von dem partnerschaftlichen Verhältnis ah, inwieweit eine Frau entlastet wurde. Das war damals so; und das gilt auch heute noch.
Wir sollten die Chance nutzen, unsere Söhne und Enkelsöhne so zu erziehen, daß es für sie eine Selbstverständlichkeit wird, einen Teil der Pflichten im Haushalt zu übernehmen.
Das können wir per Gesetz nicht erzwingen. Die Männer der Frauen, die hier im Parlament sind, sind ein Beispiel dafür.
Als Mitglied des Unterausschusses Menschenrechte liegen mir aber auch die Rechte der Frauen in anderen Regionen unserer Welt am Herzen; denn Menschenrechte sind auch Frauenrechte. Über all unseren Sorgen in Deutschland dürfen wir nicht die vergessen, denen es noch viel schlechter geht, die oft nur dahinvegetieren. Gerade in den Reihen der Frauen der Gesamtfraktion der CDU/CSU versuchen wir hier stets, Einfluß zu nehmen. Die Universalität der Menschenrechte ist unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung gleicher Rechte für Frauen.
Wenn - wie in Afghanistan durch die fundamentalistischen Taliban-Krieger - den Frauen unter Androhung von Strafen der Besuch von Schulen und die Teilnahme am öffentlichen Leben verwehrt werden, so muß dies Konsequenzen für die Beziehung zu diesen Staaten haben, und sei es durch die ständige Anmahnung dieser Menschenrechte. Wir dürfen es nicht hinnehmen, daß Frauen in ihren unveräußerlichen Grund- und ureigensten Persönlichkeitsrechten eingeschränkt werden. Dies ist auch nach dem Selbstverständnis des Islam in dieser Form nicht vorgesehen.
Genauso eingehend haben wir uns mit der für uns unvorstellbaren Qual der Beschneidung von Mädchen und Frauen auseinandergesetzt und Resolutionen verfaßt. Wir sind uns in der Überzeugung einig, daß nur internationaler Protest solch schrecklichen Praktiken Einhalt gebieten kann.
Nun will ich noch kurz auf den Vorschlag in der Broschüre eingehen, der Kritik hervorgerufen hat: die Narbe, die den kleinen Mädchen symbolisch beigebracht werden soll, um die Tradition zu wahren, die Verstümmelung der Kinder aber abzuwehren. Warum erregen wir uns so sehr über diesen Satz? Ich frage Sie ernsthaft: Müssen wir jetzt auch einen Feldzug gegen die jahrtausendealte Tradition der Beschneidung der kleinen Jungen bei den Juden starten? Auf einen entsprechenden Antrag aus Ihren Reihen wäre ich sehr gespannt.
Monika Brudlewsky
- Ja, eben; das wäre peinlich. Deswegen frage ich Sie, ob so etwas möglich wäre. Deshalb sollte man nicht mehr darüber reden.
Immer sind es Frauen, Kinder und alte Menschen, die der Gewalt zum Opfer fallen. Wir müssen durch die Ächtung von Gewalt und Gewalttätern dafür sorgen, daß diese sich nicht hinter Grenzen oder anderen Hürden verstecken können. Es gibt dazu in diesem Hause gute Zeichen.
Ich erinnere hier nur an den Erfolg der parteiübergreifenden Resolution gegen den Putsch und die Gewalt in Burundi. Es wäre gut, wenn wir in Zukunft des öfteren solche Gemeinsamkeiten finden könnten. Es wäre für viele Menschen, besonders aber für die Frauen in aller Welt, ein positives Signal, zu erfahren, daß sie in dem Ringen um ihre Rechte nicht allein sind.
Ich mache noch eine Schlußbemerkung:
Mein Dank an die Frauen wird daher zum eindringlichen Appell an alle, besonders an die Staaten und die internationalen Institutionen, alles Notwendige zu tun, um den Frauen die volle Achtung ihrer Würde und ihrer Rolle wiederzugeben.
In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, meine Bewunderung für die Frauen guten Willens zu bekunden, die sich der Verteidigung der Würde der Frau durch die Erringung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Grundrechte gewidmet und diese mutige Initiative zu einer Zeit ergriffen haben, in der ihr Einsatz als eine Übertretung, als Zeichen mangelnder Fraulichkeit, als großtuerisches Gehabe, sogar als Sünde angesehen wurde.
Diese Sätze der Anerkennung der Frauen stammen vom Papst Johannes Paul II.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Hanewinckel.
Frau Kollegin Brudlewsky, ich bedanke mich für diese von Ihnen vermutlich als Beschimpfung gedachte Belobigung. Luther hat sich zum zänkischen Weib geäußert; das ist richtig. Aber Sie wissen vielleicht nicht, daß er das vor allen Dingen im Hinblick auf seine Frau Käthe getan hat.
Käthe Luther war eine Frau, die ihrem Mann sehr deftig, deutlich und klar gesagt hat, was möglich ist, was Sache ist, wo es langgeht. Dazu hatte sie auch allen Grund. Sie hatte nämlich außer einem Mann, der von Familie und wirtschaftlichen Dingen keine Ahnung hatte, auch noch das Haus voller Kinder. Ihr Mann brachte zwar kein Geld nach Hause - da waren die Verhältnisse umgekehrt -, dafür aber Kinder und vor allen Dingen eine ganze Reihe von Studenten. Das führte dann des öfteren zu erheblichen wirtschaftlichen Krisen bei der Familie Luther. Seine Frau Käthe hat ihm deshalb nicht nur ins Gewissen geredet, sondern, so könnte man auch sagen, ihm den Marsch geblasen.
Käthe Luther wäre heute eine Existenzgründerin,
und in diesem Sinne wäre sie mit ziemlicher Sicherheit mit der Politik der Bundesregierung nicht zufrieden. Denn sie hätte sich nicht in eine geringfügige Beschäftigung abdrängen lassen.
Sie wäre äußerst zänkisch geworden, und das zu Recht.
Sie können diese These auch noch an einem anderen Punkt überprüfen: Luther hat seine Frau nicht nur ein „zänkisches Weib" genannt. Er hat von seiner Frau sehr oft auch als „Herr Käthe" gesprochen. In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für das Kompliment.
Gegenrede wird nicht gewünscht. - Dann schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/7057, 13/6736, 13/5991, 13/ 5958, 13/5968, 13/6738, 13/6590 und 13/7070 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7072 und 13/7076 sollen an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden wie der Bericht der Bundesregierung über die Vierte Weltfrauenkonferenz. Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zu Konsequenzen aus der Vierten Weltfrauenkonferenz; das ist die Drucksache 13/6669 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4357 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Nachbereitung der Vierten Weltfrauenkonferenz, Drucksache 13/6659 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4366 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Umsetzung von Frauenförderprogrammen; das ist die Drucksache 13/6660. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4116 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Einrichtung einer ständigen Kommission zur Umsetzung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, Drucksache 13/6696. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4102 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Verwirklichung der Frauenrechte in Bosnien-Herzegowina. Das ist die Drucksache 13/7066. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3991 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einem Beobachterstatus des Vatikans bei den Vereinten Nationen. Das ist die Drucksache 13/6557. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4100 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit
- Drucksache 13/6549 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Scheinselbständigkeit haben wir es keineswegs mit einem neuartigen Problem zu tun. Der Begriff Scheinselbständigkeit - ein harmloses Wort - bezeichnet einen höchst problematischen Aspekt der Arbeitsmarktentwicklungen der letzten Jahre.
Die Folgen dieser Entwicklung bestehen in Hunderttausenden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die gänzlich schutzlos geworden sind. Die gesamte Existenzlast ruht auf ihren eigenen Schultern, es gibt keine sozialrechtlichen Absicherungsmechanismen mehr. Auf der anderen Seite sind sie aber auch Arbeitgeber, die im Einzelfall in eine existenzbedrohende Situation hineingeraten können. Schließlich kann es in einem beängstigenden Ausmaß zur finanziellen Auszehrung der Sozialversicherungskassen kommen. Das sind im wesentlichen die drei Entwicklungstendenzen, die den Begriff der Scheinselbständigkeit in den letzten Jahren begleitet haben.
Ich will das an einem kleinen Beispiel demonstrieren: In einer westdeutschen Kleinstadt - es kann auch eine ostdeutsche sein, das ist gänzlich unabhängig von der regionalen Lage - entläßt ein Fuhrunternehmer seine 20 Kraftfahrer und stellt sie wenige Stunden später formal als freie Mitarbeiter wieder ein, um die Sozialversicherungsbeiträge zu sparen, um seine Auftragslage zu verbessern und um billiger anbieten zu können.
Wenn in der gleichen Kleinstadt der Fuhrunternehmer von einem konkurrierenden Spediteur mit der Begründung, er habe sich dadurch, daß er widerrechtlich die Sozialversicherungsbeiträge einspare, unlautere Wettbewerbsvorteile verschafft, weil seine freien Mitarbeiter in Wahrheit Arbeitnehmer nach der klassischen Definition seien, angezeigt wird, dann können dem Spediteur, der nunmehr auf der Basis der freien Mitarbeiterschaft operiert, in Einzelfall Nachzahlungen bis zu einer Größenordnung von mehreren 100 000 DM drohen, sofern sich der zuständige Sozialversicherungsträger, in diesem Fall die Allgemeine Ortskrankenkasse, der Rechtsauffassung des sich beschwerenden Konkurrenten anschließt. Allein die gebotenen Nachzahlungen für mehrere Jahre in Höhe von beispielsweise mehreren 100 000 DM können zu einem Ende der unternehmerischen Existenz führen, die zu erwartende Strafe gar nicht eingerechnet.
Ich will mit diesem kurzen Beispiel nur andeuten, daß es hier nicht nur um preisgegebene soziale Schutzrechte der Arbeitnehmerschaft geht, sondern auch, zumindest im Einzelfall, um existenzbedrohende Entwicklungen für das jeweilige Unternehmen.
Dabei geht es nicht um wenige, möglicherweise vernachlässigbare Einzelfälle. Nach den jüngsten Untersuchungen, über die wir verfügen, beläuft sich die Schätzzahl der in diesen Verhältnissen tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vielmehr in einer Größenordnung von zirka 500 000, rund eine halbe Million, mit deutlich steigender Tendenz. Man kann für die Vergangenheit sagen: In dem gleichen Maße,
Ottmar Schreiner
in dem die Arbeitslosigkeit gestiegen ist, ist auch die Summe der Scheinselbständigen gestiegen. Nochmals die Schätzgröße der Bundesanstalt für Arbeit: rund eine halbe Million mit steigender Tendenz. Auf den ersten Blick bieten diese Arbeitsverhältnisse für die Arbeitgeber durchaus Vorteile: Sie sparen die Sozialversicherungsbeiträge, sie können vom vereinbarten Tariflohn abweichen, und insgesamt können sie einen erheblichen Teil des unternehmerischen Risikos auf die Betroffenen abwälzen.
Für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt häufig überhaupt keine andere Wahl. Sie stehen unter der Drohung, sonst den Arbeitsplatz ganz zu verlieren, und unterschreiben Verträge auf der Basis von freien Mitarbeitern, obwohl sich die Arbeitsbedingungen ganz erheblich verschlechtern, die sozialen Sicherungen bei Kündigung, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter gänzlich entfallen und sie letztlich das gesamte Existenzrisiko alleine zu tragen haben.
Schließlich belaufen sich die Schätzgrößen beim finanziellen Ausfall der Sozialversicherungssysteme auf inzwischen rund 10 Milliarden DM jährlich. Wir haben es also mit einem ernstzunehmenden Problem der finanziellen Auszehrung, der finanziellen Austrocknung der Sozialversicherungssysteme zu tun.
Eine Lösung ist längst überfällig. Die SPD-Bundestagsfraktion konzentriert sich mit ihrem vorliegenden Gesetzentwurf auf die Bekämpfung der Mißbrauchssachverhalte. Wir haben sehr bewußt darauf verzichtet, andere, ähnlich gelagerte Sachverhalte in die Gesamtregelung einzubeziehen, wie etwa eine Regelung im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Miniteilzeitarbeitsverhältnisse - der sogenannten 610-DM-Verhältnisse -, die wir einer gesonderten Regelung zuführen wollen.
Wir haben uns also bewußt auf den Mißbrauch in diesem Bereich konzentriert, um anderen Fraktionen die Zustimmung zu dem Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion nicht allzu schwer zu machen. Im Kern geht es nicht um eine Ausweitung der Sozialversicherungspflicht, sondern um die tatsächliche Erfassung eines bisher bereits grundsätzlich versicherten Personenkreises.
Folgende Maßnahmen stehen im Mittelpunkt des Gesetzentwurfes. Zunächst haben wir einen Kriterienkatalog für nicht selbständige Arbeit entwickelt, der den zuständigen Einrichtungen die Definition erleichtern soll, ab wann es in der Tat um selbständige Arbeit geht und bis wann es sich um lohnabhängige Beschäftigung handelt. Bislang haben wir eine kaum erträgliche definitorische Grauzone, die durch den Kriterienkatalog, den wir Ihnen vorschlagen, beseitigt werden soll. Zudem schlagen wir für das jeweilige Beschäftigungsverhältnis eine Beweislastumkehr im Sinne einer widerlegbaren Vermutung vor. Schließlich schlagen wir eine subsidiäre Haftung des Arbeitgebers für den jeweiligen Subunternehmer vor.
Man kann uns auch nicht entgegenhalten, dabei handele es sich wieder einmal um eine originäre Leistung in der Bundesrepublik Deutschland, in den
Nachbarländern werde anders verfahren. Die Kolleginnen und Kollegen der F.D.P., aber auch der Koalition insgesamt verweisen häufig auf Österreich und bemühen sich dann darum, österreichische Regelungen für die eigenen Vorstellungen zu gewinnen. In Österreich gibt es - um das an diesem Beispiel deutlich zu machen - seit geraumer Zeit eine Regelung, die sehr dicht an dem Vorschlag liegt, den wir Ihnen mit dem Gesetzentwurf vorlegen. Seit dem 1. Juli 1996 sind in Österreich freie Mitarbeiter und Personen, die Arbeiten in arbeitnehmerähnlicher Stellung verrichten, in die gesetzliche Renten-, Kranken- und Unfallversicherung für unselbständige Arbeitnehmer eingebunden. Im Kern ist das also die gleiche Regelung. Dort ist bereits seit geraumer Zeit Wirklichkeit, was wir Ihnen für die Bundesrepublik Deutschland vorschlagen.
Im übrigen: Wenn Sie sich neuerdings wieder um Gemeinsamkeiten - das läßt sich in den letzten Wochen ja verstärkt beobachten - im Bereich der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung bemühen, hätten Sie an dieser Stelle einen hervorragenden Einstieg, erste Gemeinsamkeiten zu demonstrieren. Denn die Beitragsausfälle in der gesetzlichen Rentenversicherung sind ganz horrend. Ich habe eben die Gesamtzahl der finanziellen Ausfallsumme auf Grund der Problematik der Scheinselbständigentätigkeit genannt: etwa 10 Milliarden DM im Jahr. Sie hätten also eine ganz hervorragende Gelegenheit, im Bereich des Arbeitsmarktes und der Beschäftigungspolitik eine wesentliche Ursache für den Schlingerkurs der finanziellen Situation der Rentenversicherung zu beseitigen, indem nämlich die prekären Arbeitsverhältnisse, insbesondere das Problem der Scheinselbständigkeit, in geordnete arbeitsmarktliche Bahnen zurückgeführt werden und indem zudem eine ähnliche Lösung für die sozialversicherungsfreien sogenannten 610-DM-Verhältnisse angestrebt und in absehbarer Zeit realisiert wird.
Das wäre die erste Möglichkeit - auch für Sie, Herr Kollege Weng von der F.D.P. -, im Bereich der Konsolidierung der arbeitsmarktlichen Grundlagen der Rentenfinanzierung zu einem gemeinsamen Standpunkt mit der sozialdemokratischen Partei zu kommen.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie in den anschließenden Debattenbeiträgen zeigen würden, daß Sie das Problem ernst nehmen.
: Das ist aber nicht zu
erwarten!)
- Ja, ich bin sehr gespannt auf die Argumentation, denn der Bericht der Regierungskommission zur langfristigen Konsolidierung der Finanzgrundlagen der Rentenversicherung greift das Problem sehr wohl auf, ohne allerdings Vorschläge zu entwickeln, wie wir sie dem Parlament vorgelegt haben. Aber das Problem ist zumindest erkannt worden. Das ist ja schon ein großer Fortschritt. Man freut sich schon, wenn die Koalition und die Bundesregierung zumin-
Ottmar Schreiner
dest in der Lage sind, ein Problem zu erkennen. Man ist dann zwar noch meilenweit von einer Problemlösung entfernt, aber das Problem ist immerhin erkannt.
Deshalb bin ich sehr gespannt auf die Argumentation der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung.
Wir leben in einer Zeit stürmischer Veränderungen. Die Stichworte für die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft lauten: Globalisierung, europäischer Binnenmarkt, Währungsunion. Neue Techniken verändern die Arbeitswelt. Wir können - ich glaube, daß dies ein ganz zentraler Gesichtspunkt bei der Beurteilung aller anstehenden Reformmaßnahmen ist - von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nur dann die notwendige Bereitschaft zur Veränderung auch am eigenen Arbeitsplatz verlangen, wenn nicht gleichzeitig pausenlos ihre Existenzgrundlagen in Frage gestellt werden. Daher ist es gegenwärtig wichtiger denn je, daß wir den Menschen materielle Sicherheit und Vertrauen in die Zukunft zurückgeben. Deshalb dürfen wir gerade jetzt wiederum weniger denn je die Grundlagen der sozialen Sicherung in Frage stellen.
Niemand von uns bestreitet die Notwendigkeit von sozialpolitischen Reformen. Notwendig aber sind Reformen, die die Grundlagen der sozialen Sicherung nicht preisgeben, sondern zukunftsfest machen. Dazu sind wir bereit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Das ist ein haariges und schwieriges Gebiet", so urteilt der Experte für Existenzgründungen bei der IHK Frankfurt über das Problem der sogenannten Scheinselbständigkeit. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, klare Abgrenzungen in der Grauzone zwischen selbständiger und abhängiger Erwerbstätigkeit vorzunehmen.
Dabei ist es umgangssprachlich schnell gesagt, was gemeint ist. Ich zitiere dazu einmal zwei Definitionen: „Erwerbstätige, die vertraglich als Selbständige behandelt werden, de facto jedoch wie abhängig Beschäftigte arbeiten"; oder: „Sogenannte Scheinselbständige sind jene Menschen, die in klassischen Arbeiter- und Angestelltenberufen scheinbar ihre eigenen Chefs sind, aber das volle Risiko tragen." Die Schwierigkeiten liegen dennoch in einer klaren Abgrenzung, die wir gesetzlich vornehmen könnten, sollten und müßten.
Warum ist die sogenannte Scheinselbständigkeit überhaupt ein Thema? Es geht um die Frage, wie bei einer Erwerbstätigkeit Sozialversicherungsbeiträge eingespart werden können - im Gegensatz zur abhängigen Beschäftigung, die sozialversicherungspflichtig ist. Bei Ausgliederungen aus dem Arbeitnehmerbereich in den Seibständigenbereich rechnet sich das für beide Seiten; ich will das einmal so sagen. Der bisherige Arbeitgeber spart Sozialversicherungsbeiträge, entlastet sein Unternehmen von Kosten; er spart gar die Lohnkosten ein. Der bisherige Arbeitnehmer hat als selbständig Erwerbstätiger, als Scheinselbständiger, ein höheres Nettoeinkommen. Er kann die Kosten für Auto und Büro von der Steuer absetzen.
Er hat möglicherweise - das ist vielleicht zunächst einmal sein Eindruck - einen höheren Status. Dennoch hilft ihm das nicht weiter.
Dieses Beispiel zeigt aber - deswegen habe ich es einmal so deutlich vorgetragen -, daß diese Form der Selbständigkeit der weitverbreiteten Nulltarifmentalität unserer Gesellschaft in bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge entgegenkommt. Diese Mentalität finden wir in anderen Bereichen auch. Für beide Seiten rechnet sich die Scheinselbständigkeit; deswegen läßt man sich schnell darauf ein: Man spart Kosten,
man kann gut damit leben, man hat einen neuen Status als Selbständiger.
Ich sage aber deutlich: Die Probleme sind dabei für den ausgegliederten Selbständigen nicht zu übersehen. Er hat keine Altersabsicherung. Er ist im Krankheitsfall nicht ausreichend abgesichert. Möglicherweise fehlt selbst der Urlaub, weil das Geld nicht da ist. Der Rentenversicherung fehlen die Beitragszahlungen. Das ist der zweite Teil des Problems.
Ich finde, es ist vor allem dann ein Problem - man sollte das auch sehr deutlich ansprechen -, wenn solche neuen Formen der Selbständigkeit bewußt und zunehmend mit dem Ziel verfolgt werden, sich der Solidargemeinschaft und den Sozialversicherungssystemen zu entziehen. Das geht in Richtung Mißbrauch und muß auch Mißbrauch genannt werden. Das ist die Stelle, die uns zum Handeln bringt.
Was die Kostenfrage angeht, so weise ich in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die anstehenden Reformen, die wir versuchen - teils gegen, teils mit Ihrer Hilfe -, durchzusetzen, natürlich ein Beitrag sind, den Kostendruck, der offensichtlich vorhanden ist, zu reduzieren. Bei der Steuerreform streben wir niedrige Tarife an. Das hilft. Bei der Rentenreform, bei der Gesundheitsreform, bei der Reform der Arbeitsförderung geht es um die Reduzierung der Lohnnebenkosten. Auch das ist letztlich ein Beitrag. Aber es wird nicht ausreichen. Es besteht trotzdem Handlungsbedarf.
Ich will es auch einmal von der anderen Seite beleuchten. Wir dürfen, wenn wir etwas regeln, keine zusätzlichen Belastungen zulassen. Ich denke an das Thema der Existenzgründungen. Wir brauchen Existenzgründer. Das ist Teil des Programms der Koali-
Wolfgang Meckelburg
tion und der Bundesregierung. Es ist notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir wissen, daß Ein-Mann-Betriebe häufig die Keimzelle für neue Arbeitsplätze sind. Im Durchschnitt - das weiß man - schafft jede neue Existenzgründung vier zusätzliche Arbeitsplätze. In der Existenzgründungsphase - da ist die Frage, ob man mit Kriterien, die man dabei anlegt, möglicherweise schon in den Bereich der Scheinselbständigkeit kommt - dürfen wir keine zu große Belastung zulassen. Auch das muß im Blick behalten werden.
Die Frage der Größenordnungen ist eine der interessantesten, weil durch die Presse Zahlen geistern - wir haben das in den letzten Jahren verfolgen können -, ohne daß jemand konkret sagen kann, wie hoch sie sind. Es geht um die Größenordnung sowohl der betroffenen Personen als auch der Sozialversicherungsbeiträge. Nach einer Schätzung des DGB, Dr. Adany, sind es mindestens 200 000 sogenannte Scheinselbständige. Bei den Sozialversicherungsbeitragsausfällen spricht er von mindestens 3,5 Milliarden DM.
- Ich gebe zu: Das ist eine Zahl aus dem letzten Jahr. Das mag dann möglicherweise heute vom DGB etwas höher angesetzt werden.
- Ja, ich komme gleich auch noch zum IAB. Bitte gedulden Sie sich ein wenig.
Die Schätzungen gehen zum Teil bis 900 000 Scheinselbständige. Die SPD spricht in ihrem Antrag bei den Beitragsausfällen von mindestens 10 Milliarden DM, sagt aber auch, sichere Zahlen über Umfang und Entwicklung gebe es nicht.
Auch das steht gleichzeitig drin. Das zeigt die Schwierigkeit dieses Problems.
Lassen Sie mich zur IAB-Studie ein paar Dinge sagen. Es geht um die Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit über empirische Befunde zur Scheinselbständigkeit. Ich mache einmal den Versuch, darzustellen, was in der Studie angegeben ist. Da der Kollege Schemken heute wegen Krankheit ausfällt, habe ich ein paar Minuten mehr Zeit, die ich auch nutze.
In der IAB-Studie werden drei verschiedene Kriterienkataloge - das ist interessant, Herr Schreiner; vielleicht können wir uns darüber im Ausschuß unterhalten - der Abgrenzung zwischen selbständiger und abhängiger Beschäftigung zugrunde gelegt. In der Studie wird versucht, eine eindeutige Zuordnung zu machen. Dabei wird festgestellt: Es bleibt eine Grauzone über, die man schlecht zuordnen kann.
Diese Grauzone wird dann in der Studie durch Befragung differenziert und die Ergebnisse dann entsprechend hochgerechnet.
Ich will die Ergebnisse kurz darstellen, weil ich schon meine, daß es eine gewisse Hilfestellung ist. Andererseits merkt man aber auch, daß man an Grenzen stößt. Die Ergebnisse sind: Im Haupterwerbstätigenbereich sind es 938 000 Menschen, die in dieser Grauzone, die zunächst nicht differenziert ist, sind. Bei der Nebenerwerbstätigkeit sind es 1,5 Millionen Menschen. Wenn man dann versucht, im Bereich der Haupterwerbstätigen nach selbständig Erwerbstätigen und abhängig Erwerbstätigen zuzuordnen - die letzten wären die für uns interessanten -, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß es sich bei den abhängig Erwerbstätigen in dieser Grauzone um 180 000 bzw. um 410 000 nach dem zweiten Modell handelt.
Es kommt dann ein interessantes Ergebnis, das man, wie ich glaube, bei der Beratung des Entwurfs berücksichtigen muß, nämlich die Tatsache, daß es sogenannte Semiabhängige gibt. Zu diesen sagt die Studie, daß man sie gar nicht den Kriterien der vorliegenden Modelle zuordnen kann. Das sind klassischerweise die Fälle, die man auch bei einer Kontrolle nicht schnell aufdecken kann, sondern die vor Gericht landen und dort im Einzelfall geklärt werden müssen.
Semiabhängige, die nicht zuzuordnen sind und Merkmale beider Formen gleichermaßen aufweisen, machen etwa 24 bis 30 Prozent aus, je nachdem, welches Modell man anlegt. Also ein Viertel bis ein Drittel sind nach den Kriterien nicht zuzuordnen. Hier liegen die Schwierigkeiten. Möglicherweise - ich will das auch als Frage einbringen - ist das ein Hinweis darauf, daß es neue Formen der Selbständigkeit in der Arbeitswelt gibt, die sich der klassischen Zweiteilung entziehen.
Ich will mir den Blick auf die Nebenerwerbstätigen ersparen und nur den Hinweis geben, daß man dabei berücksichtigen muß, daß es in dieser Grauzone etwa 600 000 Nebenerwerbstätige - bei diesen spielt die Frage der Scheinselbständigkeit keine große Rolle - oder 950 000 Personen gibt, die dem Bereich Schüler, Studenten, Hausfrauen, Arbeitslose und Frührentner zuzuordnen sind. Auch bei diesen stellt sich die Frage der Scheinselbständigkeit nicht, da wir hier in den Bereich der geringfügig Beschäftigten kommen. Ich erspare es mir heute, darauf einzugehen, so reizvoll das auch wäre.
Lassen Sie mich kurz auf den Gesetzentwurf der SPD eingehen.
Ich sehe an zwei Stellen Schwierigkeiten: Sie haben dort vier Kriterien angegeben, unter anderem als drittes Kriterium für die Scheinselbständigkeit, daß es sich um typische Arbeitsleistungen für Beschäftigte handeln müsse.
Wolfgang Meckelburg
Dieses Kriterium ist interessanterweise - jetzt greife ich einmal auf die IAB-Studie zurück, Herr Schreiner - in dem dritten Modell enthalten. In der Studie heißt es zum „ Verbandsmodell" , daß nach der Verkehrsanschauung für Beschäftigte typische Arbeitsleistungen zu erbringen sind. Dies führt dazu - das halte ich für ein sehr interessantes Ergebnis, das auf Seite 9 des Berichtes steht -, daß zirka
40 Prozent der Befragten hinsichtlich der Haupterwerbstätigkeit in diesem Modell nicht eindeutig zuzuordnen sind, da hier das Kriterium . . .
- jetzt wird Ihr drittes Kriterium zitiert -
empirisch nur näherungsweise operationalisiert werden konnte und nur bei einem Teil der Befragten erhoben werden konnte.
Dies bedeutet doch, daß dieses Kriterium nicht hilfreich ist, um zu einer eindeutigen Differenzierung zu kommen. Das heißt, wir werden nach dem Modell 40 Prozent nicht zuordnen können, die nach klassischer Vorgehensweise individuell - notwendigerweise vor Gericht - einzuordnen wären. Ich finde, darüber muß man nachdenken.
- Aber das eine ist ja wichtig, weil es ein neues ist; es führt gerade in dem einen Modell dazu, daß wir zu keiner klaren Lösung kommen. Wir sollten dies in der Ausschußberatung berücksichtigen.
Ein weiterer Punkt. Sie kehren die Beweislast um, indem Sie sagen: Wenn von den vier Kriterien zwei erfüllt sind, dann vermuten wir, daß Scheinselbständigkeit vorliegt. Wenn wir aber gleichzeitig feststellen, daß es sogenannte Semiabhängige gibt, die nicht zugeordnet werden können, und daß in einem Modell 40 Prozent nicht zuzuordnen sind, dann halte ich es nicht für vertretbar, die Beweislast umzukehren, weil wir damit wirklich ein absolutes Chaos produzieren. Das ist kein praktikables Instrument.
Ein letzter Hinweis: Es gibt in dem Bericht der Rentenreformkommission der Bundesregierung auch Hinweise auf diesen Bereich. Die Kommission ist der Auffassung, daß die arbeitnehmerähnlichen selbständig Erwerbstätigen eines solidarischen Schutzes gegen die Risiken der Invalidität und des Alters bedürfen, um Not und Fürsorge im Alter zu vermeiden. Das ist die Gruppe, die sonst als Scheinselbständige bezeichnet wird.
- Das ist eine Frage, über die man sprechen muß. Ich halte es erst einmal für wichtig, die Frage der Alterssicherung, die in vielen Bereichen eine Rolle spielt, zu klären. Jedenfalls ist dies hier angesprochen.
Die Kommission sieht hier Handlungsbedarf. Nach Auffassung der Kommission muß der Gefahr begegnet werden, daß neue Formen der Selbständigkeit vornehmlich zu dem Ziele genutzt werden, sich der Solidargemeinschaft und der Rentenversicherung zu
entziehen. Die damit verbundene Erosion der Finanzierungsgrundlage ist nicht hinnehmbar.
Dieses Problem soll nicht dadurch gelöst werden, daß dieser Personenkreis ganz oder teilweise durch eine Ausweitung des Arbeitnehmerbegriffs in die Rentenversicherungspflicht einbezogen wird. Denn Erfahrungen in der Vergangenheit haben gezeigt, daß eine solche Regelung durch entsprechende Vertragsgestaltungen umgangen werden könnte. Außerdem wäre die Einhaltung entsprechender Vorschriften kaum zu kontrollieren. Ich habe eben an Beispielen der Formulierungen der SPD gezeigt, daß das schwierig wird. Vielmehr spricht sich die Kommission dafür aus, Personen - ich sage es noch einmal - mit arbeitnehmerähnlichen Erwerbstätigkeiten als Selbständige in die Rentenversicherungspflicht einzubeziehen. Sie denkt dabei insbesondere an Personen, die keine Beschäftigten haben, im wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind, auf dem Arbeitsmarkt nicht als eigenständige Unternehmer auftreten.
Man muß auch berücksichtigen, daß auf neu in die Rentenversicherungspflicht einzubeziehende Personen Rücksicht genommen werden muß und daß man befristete Befreiungsmöglichkeiten einräumen muß, um Übergänge zu schaffen; denn es könnten eine ganze Reihe von Fällen betroffen sein, die bisher geregelt sind, dann aber in einem neuen Licht erscheinen.
Ich finde, das sind Anmerkungen aus dem Bericht der Rentenreformkommission, die Hilfestellung leisten können, in diesem Bereich zu Ergebnissen zu kommen.
Ich habe nach der Studie der IAB den Eindruck, daß das Problem nicht diese gewaltige Größenordnung hat, die es auf Grund der Diskussion haben müßte. Wir müssen vor allem in den Fällen handeln, in denen wirklich Mißbrauch betrieben wird. Aber wir müssen auch aufpassen, daß wir die Fälle, die geregelt sind, nicht zerstören und daß wir bei den Existenzgründungen keine zusätzlichen Lasten schaffen. Das wäre die richtige Richtung. Ob wir sie einschlagen, werden die Ausschußberatungen zeigen.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ein Arbeitgeber seinem Transportfahrer einen Bulli verkauft, ihn verpflichtet, zukünftig Vertretung für Urlaub und Krankheit selbst zu organisieren und zu bezahlen, ihn dann als Arbeitnehmer entläßt und als Unternehmer unter Vertrag nimmt, dann ist er die Kosten für die Sozialversicherung losgeworden. Er entzieht sich seiner sozialen Mitverantwortung und bürdet die Risiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter allein dem Arbeitnehmer auf. Solange der „worst case" nicht eintritt, der Mensch
Annelie Buntenbach
also jung und fit ist, gibt es auch kein Problem. Aber da beim Paketdienst niemand so gut bezahlt wird wie im Profifußball, ist der gemütliche Lebensabend mit der individuellen Vorsorge leider der unwahrscheinliche Fall.
Der Transportfahrer beim Paketdienst ist nur ein Beispiel für die immer größer werdende Gruppe der Scheinselbständigen. Andere Beispiele sind Fahrradkuriere, Versicherungskaufleute, Ein-Mann-Subunternehmen im Baugewerbe oder - auch das gibt es inzwischen - die selbständige Regalauffüllerin im Handel. Diese Art der Selbständigkeit hat für die Betroffenen überhaupt nichts mehr gemein mit einem größeren, unabhängigen, also selbständigen Entscheidungsspielraum. Im Gegenteil: Sie haben nichts gewonnen, sondern etwas Wesentliches verloren, nämlich ihre soziale Absicherung. Wenn die Betroffenen jetzt abstürzen, dann ohne Netz, nämlich direkt in die Sozialhilfe.
Der Arbeitgeber entledigt sich der Kosten für die Sozialversicherung, zahlen muß dann letztlich die Allgemeinheit. Da frage ich mich, ob das „die neue Kultur der Selbständigkeit" ist, die der Kanzler einklagt.
Ich halte das eher für einen Schritt zurück zu den sozialen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts.
Herr Schäuble hat am Wochenende von den „immer teurer werdenden Zwangseinrichtungen unserer sozialen Sicherungssysteme" gesprochen. Halten Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, es denn für eine Werbekampagne für die solidarischen Sicherungssysteme, wenn Sie sie weiter so durchlöchern, wenn Sie die Systematik der hälftigen Finanzierung einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen brechen wollen und dann noch von „Zwangseinrichtungen" sprechen, als sei der Anspruch auf Beteiligung, also auf solidarische Versicherung, illegitim, als sei es etwas Heroisches, sich dagegen aufzulehnen oder sich zumindest zu entziehen?
Diesen Affront bewerte ich um so größer, als gerade Herr Schäuble, der dies bei der Preisverleihung für öffentliche Rede gesagt hat, ganz genau weiß, wie wichtig in der politischen Auseinandersetzung Begriffe sind. Zwang wird die Pflichtversicherung für diejenigen, die nicht den Schutz und die Solidarität im Vordergrund sehen, weil sie meinen, sie seien nicht darauf angewiesen, ihre eigene Stärke und gegebenenfalls ihr Reichtum mache sie über solche Solidarsysteme erhaben.
Für die anderen bedeuten die Existenz und die Funktionsfähigkeit der Solidarversicherungen ein Stück Freiheit, nämlich Freiheit von existentiellen Angsten vor Risiken, die sie allein nicht abfangen können, wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter und Pflege. Von dieser Freiheit spricht Herr Schäuble nicht. Die Freiheit, die er meint, ist die Freiheit des Stärkeren. Ausgerechnet er, der doch so gern auf Nation und Staatsräson verweist, ruft damit indirekt auf, sich gesellschaftlicher Verantwortung zu entziehen.
- Der Vorgang ist unglaublich; das ist richtig.
Die Sozialversicherungen sind auf die Beteiligung aller angewiesen. Statt aber ihre Basis zu verbreitern, hat die Bundesregierung in den letzten Jahren immer mehr Möglichkeiten für die Arbeitgeberseite geschaffen, sich um die Sozialversicherungskosten zu drücken. Allein durch Scheinselbständigkeit - das hat Herr Kollege Schreiner vorhin schon gesagt - entgehen den Sozialversicherungen jährlich mindestens 10 Milliarden DM; die anderen Formen von prekären Beschäftigungsverhältnissen und die Dunkelziffer nicht eingerechnet. Statt weiterer Deregulierung und Erosion der sozialen Sicherungen müssen wir neu regulieren, um die Lücken zu schließen, durch die immer mehr Menschen aus den sozialen Sicherungssystemen fallen.
Der Vorschlag der SPD, über den wir heute sprechen, ist ein Schritt in diese Richtung. Diese Regelung würde zumindest einen Teil des Problems lösen. Das - als dringende Aufforderung an die Regierungsfraktionen - hat einen weiteren Vorteil: Sie ist sofort umsetzbar. Was nicht selbständige Arbeit ist, soll demnach neu definiert werden, um künftig auch für diejenigen den sozialrechtlichen Schutz zu sichern, die nur der Form nach selbständig sind.
Damit wird das bestehende Recht konkretisiert, indem Merkmale ergänzt werden, nach denen keine Selbständigkeit vorliegen soll. Das heißt, es gibt schärfere Konturen. Einfach, Herr Meckelburg, ist das sicher nicht. Aber das macht es nicht weniger nötig, sich dem dringenden Problem zu stellen.
Immerhin habe ich der Debatte entnommen: Wir sind uns darüber einig, es gibt ein Problem. Es gibt Handlungsbedarf. Gespannt bin ich darauf, was die Initiative der Regierungsfraktionen konkret sein wird. Das wird sich spätestens in den Ausschußberatungen zeigen. In dem Zuge werden wir an einem konkreten Punkt sehen können, wieweit die Bundesregierung die Ergebnisse der Rentenkommission praktisch in die Politik umsetzen will.
Ich halte den SPD-Entwurf für einen sinnvollen sozialversicherungsrechtlichen Lösungsansatz, der allerdings die beträchtlichen arbeitsrechtlichen Fragen noch nicht beantwortet.
Dafür brauchen wir eine umfassende Klärung des Arbeitnehmerbegriffs, am sinnvollsten in einem neuen
Arbeitsvertragsrecht. Darüber werden wir uns mit
Annelie Buntenbach
der Bundesregierung sicherlich streiten müssen. Ein Vorschlag des Landes Brandenburg dazu liegt schon vor.
Die Beschäftigungsverhältnisse haben sich in den letzten Jahren so verändert, daß die Art und Weise, wie Arbeit organisiert wird, allzuoft nicht mehr der Struktur der sozialen Sicherungen entspricht. Gravierende Einzelprobleme wie die Scheinselbständigkeit, die Sozialversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte müssen sofort angegangen werden. Aber wenn wir nicht ständig neuen Lücken, die die Arbeitgeber immer wieder auffinden werden, hinterherlaufen wollen, dann müssen wir uns grundsätzlich die Frage stellen, wie die Sozialversicherungen auf eine breitere Basis gestellt werden können, und dies, wie Kollege Schreiner schon gesagt hat, auch mit Blick auf Europa.
Warum sollen wir nicht darüber nachdenken, zum Beispiel alle Selbständigen einzubeziehen: Besserverdienende, Beamte, Abgeordnete?
Daß dies nicht alles ohne Probleme geht und sofort realisierbar ist, Frau Babel, das weiß ich auch. Aber wesentlich ist doch, mit welcher Grundrichtung die Fragen gestellt werden.
Uns, Frau Babel, geht es eben um mehr Solidarität und nicht um die Freiheit des Stärkeren, der sich aus der Verantwortung für die Allgemeinheit herausstiehlt.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt eine neue, etwas geheimnisvolle Zielgruppe in unserer Gesellschaft, der sich die SPD annimmt,
eine Gruppe, die im Schriftdeutsch nur zwischen Anführungszeichen oder mit dem davorgesetzten Wort „sogenannt" bezeichnet wird: Es sind „Scheinselbständige". Von Scheinselbständigkeit kann man wie von Krankheit betroffen werden, vor allem Frauen - steht im SPD-Antrag.
Meine Damen und Herren, ich stelle immer wieder fest, daß diese SPD-Fraktion weit hinter den viel moderneren Gewerkschaften steht, was Wortwahl anbelangt. Wenn Sie sich die Konferenz der Gewerkschaften der Post und der Medien vor Augen führen, dann stellen Sie fest, daß die schon von dem Begriff „Scheinselbständigkeit" weg sind, well sie wissen, daß das ein Begriff ist, der neue Formen im Arbeitsleben diskriminiert. Man kann sich sehr wohl darüber unterhalten, ob es bei dieser Gruppe Schutzbedürftigkeit gibt. Aber sie nun mit dem Wort „Scheinselbständigkeit" - das ist wie „Scheinasylant"; das ist wie „Scheinblüte"; das ist wie „Scheinproblem" - zu bezeichnen, ist außerordentlich engstirnig.
Jetzt kommen wir zu den großen Vorwürfen: Scheinselbständige umgehen die Sozialversicherung; sie enthalten den Sozialkassen 10 Milliarden DM vor. Aber sie sind natürlich keine Täter. Sie sind Opfer, ausgebeutet von skrupellosen Unternehmern.
„ Sichere Zahlen ... gibt es ... nicht" - trotz der eben genannten; dies steht übrigens auch in dem Antrag -
Frau Kollegin Dr. Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischer?
- nein, ich bin gerade so schön im Zug -, auch nicht durch die von der Bundesregierung in Aufrag gegebene Studie. Aber das hält die SPD natürlich nicht davon ab, hier tätig zu werden.
Offen bleibt, was Sie eigentlich bewegt. Ich nehme nicht an, das Papier der Regierungskommission; es kann nicht sein, daß das Sie so inspiriert. Ob es die mögliche Schutzbedürftigkeit der Betroffenen ist? Das könnte ich noch am ehesten nachempfinden. Das fehlende Geld in der Kasse? Das scheint mir das eigentliche Motiv zu sein: Wir wollen möglichst viel Geld in die Sozialversicherung tun, damit man da nur keine Reformen machen muß.
Oder - das würden Sie nun überhaupt nicht zugeben - treibt Sie die Sorge um Einbußen an der Macht der Gewerkschaften um, die bei diesen Scheinselbständigen gar nichts mehr zu regeln hätte?
Auf alle Fälle geht die SPD in ihrem Gesetzentwurf gründlich zu Werke.
Dr. Gisela Babel
Zu der Frage, ob jemand selbständig oder abhängig beschäftigt ist
- Herr Schreiner, lassen Sie mich noch ein bißchen reden - -
Ganz generell, Frau Dr. Babel?
Na gut. Dann muß ich es natürlich der Frau Fischer nachher auch gestatten. - Also, Herr Schreiner.
Also bitte.
Ich bin sehr dankbar, daß Sie die Zwischenfrage zulassen, Frau Dr. Babel, weil Sie eben versucht haben, vom Wort „Scheinselbständigkeit" ausgehend den Eindruck zu erwecken, allein die Begrifflichkeit der SPD sei ein beredtes Zeugnis für - -
Sie drücken es gut aus: ein beredtes Zeugnis.
Na gut. Ich wollte Sie fragen, ob es Sie nicht zumindest erstaunt, daß es in der Sprachwahl der SPD eine außerordentlich bedenkenswerte Nähe zur Sprachwahl der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 10. Dezember 1996 gibt, die unter der großen Überschrift „Immer mehr Arbeitnehmer werden zum Schein selbständig" schreibt: „Arbeitgeber sparen Lohnnebenkosten und Sozialversicherungsbeiträge" . Das Problem der Scheinselbständigkeit ist auf Dauer sozialpolitisch nicht hinnehmbar. Versetzt es Sie nicht zumindest in Erstaunen, daß es auf der sprachlichen wie inhaltlichen Ebene eine besorgniserregende Nähe zwischen SPD und „Frankfurter Allgemeine Zeitung" gibt?
In der Tat: Es läßt einen etwas an der „FAZ" zweifeln. Das gebe ich zu.
Ich habe Sie nur auf die Sprachzweifel und auf die Sprachskrupel der Gewerkschaft hinweisen wollen, was für Sie vielleicht zumindest ein Hinweis ist, dem Sie nachgehen könnten.
Meine Damen und Herren, zu der Frage, ob jemand selbständig oder abhängig beschäftigt ist. Das ist keine neue Frage; das ist eine ganz alte Rechtsfrage, in vielen strittigen Urteilen vom Bundessozialgericht entschieden. Diese Rechtsprechung stellt bei der Unterscheidung im wesentlichen auf die Merkmale örtliche, zeitliche und inhaltliche Weisungsgebundenheit, die Intensität der Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Auftraggebers und die Benutzung der Arbeitsmittel des Auftraggebers ab. Gerade die Rechtsprechung hat immer wieder betont, daß es auf den konkreten Einzelfall ankommt.
Im Schrifttum wird dies schon ein wenig weiter gefaßt. Die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger ziehen aus sehr verständlichen Interessen - denn auch sie wollen möglichst viel Geld in ihre maroden Kassen -
den Kreis der sogenannten Scheinselbständigen noch weiter.
Nach ihrer Definition ist scheinselbständig oder sozialversicherungspflichtig, wer erwerbsmäßig tätig ist, keine eigenen Arbeitnehmer beschäftigt, regelmäßig nur für einen Auftraggeber tätig ist und eine für Beschäftigte typische Arbeitsleistung erbringt.
In ihrem Gesetzentwurf zur sogenannten Scheinselbständigkeit setzt die SPD nun noch eins drauf. Sie übernimmt die weite Auslegung der Sozialversicherungsträger. Sie fügt ein weiteres Tatbestandsmerkmal hinzu, nämlich daß scheinselbständig auch derjenige ist, der nicht auf Grund unternehmerischer Tätigkeit am Markt auftritt - was immer das heißen mag. Dann aber schlagen Sie zu: Auch wenn schon zwei Merkmale von den vieren erfüllt sind, soll die Vermutung bestehen, daß es sich um Scheinselbständigkeit handelt. Die Rentenversicherung treibt die Beiträge - notfalls zwangsweise - ein, und das Prozeßrisiko liegt beim armen Selbständigen, der angeblich den Schein nicht wahrt.
Ein Ehepaar, das keine weiteren Angestellten beschäftigt, eine Existenz gründet und zunächst nur einen Auftraggeber hat, wäre demnach scheinselbständig. Ein Einzelanwalt, der regelmäßig von einer größeren Kanzlei mit Fällen beliefert wird, wäre schon scheinselbständig.
Es gibt weder in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch im wissenschaftlichen Schrifttum Rückhalt für einen so ausgedehnten Begriff der Scheinselbständigkeit und eine Rechtfertigung für das Instrument der Beweislastumkehr. Es gibt aber schon jetzt sehr ernsthafte Bedenken einiger Branchen - der Versicherungskaufleute, der Anwälte und der Versicherungswirtschaft - gegen Ihren Gesetzentwurf.
Daß sich die Arbeitswelt verändert, sich das Bild des abhängig Vollzeitbeschäftigten wandelt und Selbständigkeit zunimmt, sieht auch die F.D.P. Gerade im Bereich Multimedia wird das sehr deut-
Dr. Gisela Babel
lich. Wir haben hier schon einiges von diesem sogenannten Vertragsmix des Arbeitnehmerstatus gehört. Das ändert sich in der Tat.
Selbst bei den Gewerkschaften macht man sich Gedanken, wie man Schutzbedürfnisse formulieren kann. Es ist keineswegs so, daß wir uns, wie hier der Anschein erweckt wird, mit einem Gesetzentwurf gegen neue Formen dieser Mitarbeit wenden sollten. Die Schutzbedürftigkeit in bezug auf die Alterssicherung ist sicher ein Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Ich weise darauf hin, daß wir eine Versicherungspflicht zum Beispiel für Beschäftigte von Handwerksbetrieben eingeführt haben. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir gerade bei der Frage der Schutzbedürftigkeit sehr wohl unterscheiden könnten und müßten, wie weit sie nicht auch durch andere Formen der Alterssicherung, zum Beispiel der privaten Vorsorge, abgedeckt ist.
Das sind Gedanken, die Ihnen fernliegen. Deswegen nähren Sie bei mir mit Ihrem Gesetzentwurf den Verdacht, es gehe Ihnen nur darum, wieder jemanden zum Melken zu finden, um Sozialkassen zu füllen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Babel, Scheinselbständigkeit ganz ohne jeden Mythos ist ein weiteres erschreckendes Beispiel für die zunehmende Auflösung von Vollzeitarbeitsverhältnissen und dafür, daß prekäre ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, auf die sich immer mehr Menschen in diesem Land einlassen müssen, weil sie keine andere Chance auf bezahlte Arbeit haben. Angesichts des Wortes „bezahlt" will ich gleich hinzufügen, daß dies sehr häufig mit Hungerlöhnen verbunden ist, die in Kauf genommen werden. Die Unternehmen nutzen die Lage vieler Betroffener kaltschnäuzig aus. Sie drängen sie in diese Scheinselbständigkeit, schädigen damit bewußt die sozialen Sicherungssysteme und betrügen sie um Millionen von Einnahmen.
Ich fand in dieser Beziehung den gestrigen Bericht im Ausschuß zu den Mißbräuchen auf der Unternehmerseite sehr erhellend. Er hat sehr deutlich gemacht, daß die Mißbraucher dieses Sozialstaats ganz woanders sitzen, als die Bundesregierung uns das bisher hat glauben machen wollen.
Scheinselbständige treten nur formal als Selbständige auf. Bei einer Gesamtwürdigung ihrer Arbeitsumstände entpuppen sie sich als abhängig Beschäftigte, diesmal im vollen Wortsinn. Die Unternehmer
sind in der Regel deren Auftraggeber, und ihre Unternehmensstrategie besteht darin, die Personalkosten zu senken und sich andere Vorteile zu verschaffen, wie es in dem SPD-Gesetzentwurf zutreffend geschildert wird. Für sie, die Scheinselbständigen, gelten keine Tarifverträge, keine arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften, kein Urlaubsanspruch, und im Falle der Arbeitslosigkeit landen sie sofort in der Sozialhilfe und fallen in der Tat der Allgemeinheit zur Last.
Mit dieser Strategie, Beschäftigte zunehmend aus der Sozialversicherungspflicht auszugrenzen und sie anderer Schutzrechte zu berauben, leisten die Arbeitgeber der Bundesregierung Schützenhilfe bei Deregulierung und der Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme. Zwar stellt auch die Bundesregierung in ihrem Achten Bericht zum AUG fest - insofern wundere ich mich eigentlich, daß Sie sich über den Begriff Scheinselbständigkeit so aufregen, Frau Babel -: Scheinselbständigkeit findet sich in nahezu allen Wirtschaftsbereichen. Aber über das Ausmaß besteht dort völlige Unklarheit. Das IAB und andere Experten gehen von Zahlen von 450 000 bis 1 Million aus. Die Dunkelziffern sind riesig; das kann man sich vorstellen.
Allein im Baugewerbe sind es nach Schätzung der IG Bau zirka 60 000 Scheinselbständige. Gastronomie, Telearbeit, Reinigungsgewerbe, Transportwesen und Medienbereich sind andere Bereiche, in denen sich Scheinselbständigkeit häuft. Im Handel werden vor allem Frauen im Kaufhaus als Regalauffüllerin, als Propagandistin, für Shop-in-shop-Konzepte und als Haushaltsgeräteverkäuferin von den Arbeitgebern in die Scheinselbständigkeit gezwungen. Das Entscheidende ist, daß sich dabei Arbeitsinhalte, Arbeitsmittel und Arbeitsergebnis überhaupt nicht ändern, sondern weiterhin von diesen Auftraggebern bestimmt werden. Meist sind die Selbständigen sogar ausschließlich an Weisungen gebunden. Das ist ein Kriterium - darauf möchte ich einfach nur hinweisen -, das in Ihrem Katalog vielleicht noch fehlt.
Ansonsten finde ich, daß der SPD-Gesetzentwurf diesbezüglich in eine richtige Richtung geht, wenn es darum geht, wie Ottmar Schreiner hier betont hat, den Mißbrauch an den Sozialversicherungssystemen zu verhindern. Natürlich ist es wichtig, auch die Scheinselbständigen in die Sozialversicherungssysteme mit hineinzunehmen und den Verlust einzudämmen, der dort durch versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse ansonsten entstünde.
Es geht aber bei der Scheinselbständigkeit nicht vor allem um ein Problem der sozialen Sicherungssysteme. Insofern habe ich ein kleines Problem mit Ihrer Gewichtung. Den Unternehmern geht es bei ihren neuen Unternehmensstrategien des Outsourcing meiner Auffassung nach doch vor allem darum, die betriebliche Interessenvertretung zu schwächen und das Tarifvertragssystem auszuhöhlen. Das ist doch das eigentliche Problem. Wenn man Scheinselbständigkeit wirklich im Interesse der Betroffenen bekämpfen will, muß unserer Auffassung nach neben all dem, was Sie fordern, der Arbeitnehmerbegriff neugefaßt und den heutigen Erfordernissen ange-
Dr. Heidi Knake-Werner
paßt werden. Ich möchte dies - im Unterschied zu Annelle Buntenbach - gerne im Betriebsverfassungsgesetz ändern. Ich denke, daß es notwendig ist, hier endlich einen Arbeitnehmerbegriff zu finden, der zeitgemäß ist. Ich gebe gerne zu, daß es schwierig ist, dafür die entsprechenden Mehrheiten zu finden. Aber nur so kann es wirklich gelingen, dem Umbau des Arbeitssystems mit der Auflösung der Normalarbeitsverhältnisse entsprechend Rechnung zu tragen.
Die IG Post - das ist in der Tat wahr - und die IG Medien - sie haben das, Frau Babel, nicht wegen ihrer Sprachskrupel getan, sondern deshalb, weil sie ein Problem erkannt haben, dessen sie sich annehmen wollen -
haben diesbezüglich neue Wege versucht, indem sie Beschäftigte am heimischen PC in Tarifverträge und Mitbestimmungsregelungen aufnehmen.
Ich denke, daß wir diesen Komplex in die weitere Beratung mit einbeziehen sollten, daß wir aus der Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses Konsequenzen ziehen und daß wir Wege finden sollten, die sozial- und arbeitsrechtlich gegangen werden müssen. Nur so können wir diesem Problem wirklich gerecht werden.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorweg sagen: Das Phänomen der Scheinselbständigkeit muß uns allen auf den Nägeln brennen.
- Meine Kolleginnen und Kollegen, hören Sie doch erst mal zu. Mir ist völlig egal, ob dieser Begriff verwendet wird oder ein anderer. Wichtig ist, was wir über die Inhalte denken und wie wir mit ihnen umgehen. Das ist entscheidend.
Ich streite mich nicht über den Begriff. Er ist nun einmal eingeführt. Deshalb bleibe ich in meiner Rede dabei.
Frau Kollegin Buntenbach, wenn ich sage: Das brennt uns allen auf den Nägeln, dann schließe ich unseren Fraktionsvorsitzenden mit ein. Weil die CDU/CSU-Fraktion keinen Redner mehr hat und ich ihr angehöre, will ich die Feststellung treffen, daß das, was Sie gesagt haben, eine vielleicht sogar bösartige Unterstellung gegenüber dem Kollegen Schäuble ist, die ich hiermit zurückweise.
Ich fürchte aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß das, was die SPD vorgelegt hat, keine Lösung des Problems sein wird. Der Gesetzentwurf ist sicher gut gemeint. Wir meinen jedoch: Er verfehlt sein Ziel.
Der Entwurf greift Kriterien auf, die in Praxis und Rechtsprechung entwickelt worden sind, fügt eine widerlegbare Vermutung hinzu
- Moment, Kollege Gilges, ich komme gleich dazu; ich bin noch lange nicht fertig - und verkauft das Ganze als Lösung des Problems. Das, so fürchte ich, ist leider nicht der Fall.
Schon bisher müssen die Einzugsstellen die im Gesetzentwurf genannten Kriterien zur Abgrenzung selbständiger Tätigkeit von abhängiger Beschäftigung in jedem Einzelfall prüfen und würdigen. Die von der SPD vorgeschlagene gesetzliche Normierung dieser Kriterien und die in diesem Zusammenhang vorgesehene Vermutung machen diese Prüfung nicht entbehrlich. Andererseits besteht die Gefahr, daß sich die Praxis durch entsprechende Vertragsgestaltungen sehr schnell auf die neue Rechtslage einstellt. Damit wird das Gegenteil von dem erreicht, was gewollt ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Mai 1996 hinweisen - sie ist also noch gar nicht so alt -, in der das Gericht die bestehende Rechtslage zum Begriff des Beschäftigungsverhältnisses begrüßt. Das Bundesverfassungsgericht führt aus, daß der systematische Ansatz der geltenden Rechtslage über Jahrzehnte hinweg den geänderten sozialen Strukturen am besten gerecht werden konnte und auf dieser Grundlage Umgehungen im Versicherungs- und Beitragsrecht zum Nachteil abhängig Beschäftigter wirksam bekämpft werden konnten.
Dieser Wertung stimme ich zu. Kollege Schreiner, nur eine weite Definition ermöglicht der Praxis, flexibel auf neue Erscheinungsformen der Arbeitswelt einzugehen. Dies zeigen vor allem neuere Urteile von Sozialgerichten im Bereich des Transportgewerbes, des Verkaufs und der Versicherung. Zum eigentlichen Problem, wie die Scheinselbständigkeit besser erfaßt und aufgedeckt werden kann, schweigt der Entwurf meiner Meinung nach.
Auch mit der Aussage zu den finanziellen Wirkungen nimmt es die SPD nicht so genau. Jedenfalls sind die Angaben über die erwarteten Mehreinnahmen in Höhe von mindestens 10 Milliarden DM nicht näher begründet. Sie lassen sich auch nicht nachvollziehen.
Der vorliegende Entwurf ist inhaltsgleich mit einem von den Ländern Nordrhein-Westfalen und Hes-
Parl. Staatssekretär Horst Günther
sen Ende vergangenen Jahres im Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf.
Die Beratungen im Bundesrat sind noch nicht abgeschlossen.
Inzwischen liegen erste Stellungnahmen von Selbständigengruppen, zum Beispiel von den Handelsvertretern, vor, die von dem Gesetzentwurf, wenn er realisiert würde, betroffen wären. Sie kritisieren vor allem, daß der Gesetzentwurf historisch gewachsene Gruppen von Selbständigen zu Arbeitnehmern und ihre Auftraggeber zu Arbeitgebern machen will. Diese Kritik läßt sich nicht einfach vom Tisch wischen.
Die von allen Seiten begrüßte Förderung von Existenzgründungen würde erschwert, viele Jungunternehmer müßten in der Aufbauphase als Arbeitnehmer eingestuft werden.
Das macht die ganze Problematik des Themas aus, das man sachlich diskutieren sollte.
Die Bundesregierung hat sich dem Problem der Scheinselbständigkeit nicht verschlossen.
- Nein, das stimmt nicht. Sie hat sich nicht verschlossen.
Sie hat immer wieder deutlich gemacht, daß sie der Entwicklung in diesem Bereich sehr große Aufmerksamkeit widmet.
Sie sieht neben der Gefahr von Defiziten beim sozialen Schutz für die Betroffenen auch die Gefahr der Erosion der Beitragsbemessungsgrundlage in der Sozialversicherung.
Wir sind auch nicht tatenlos geblieben, auch wenn Sie das eben mit Ihren Zwischenrufen zum Ausdruck gebracht haben.
Seit 1995 werden Gewerbeanzeigen regelmäßig an die Einzugsstellen übermittelt. Seit Mitte 1996 sind die Prüfbefugnisse nach der Beitragsüberwachungsverordnung verbessert worden. Seitdem können die Betriebsprüfer, auch ohne dies besonders begründen zu müssen, über den Bereich der Lohn- und Gehaltsabrechnung hinaus zum Beispiel auch die Finanzbuchhaltung einsehen, also auch Verträge mit freien Mitarbeitern.
Die Scheinselbständigkeit wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Das wissen wir. Es liegen viele Zahlenspiegel vor. Ihnen ist allerdings gemeinsam, daß sie nur eine begrenzte statistische Aussagekraft haben. Deshalb hat das Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung ein Forschungsprojekt „Scheinselbständigkeit" in Auftrag gegeben, um Qualität und Quantität dieses Problems zu ermitteln. Der Bericht des IAB liegt seit kurzem vor. Ich möchte gerne ein paar wichtige Zahlen nennen, weil das auch zur Versachlichung der Diskussion beiträgt.
Nach den Ergebnissen der IAB-Untersuchung waren 1995 je nach Abgrenzung zwischen 180 000 und 430 000 Personen Scheinselbständige. Bezogen auf die Zahl aller Erwerbstätigen sind damit zwischen 0,5 und 1,2 Prozent als scheinselbständig einzustufen. Je nach Abgrenzung dürften zwischen rund 330 000 und rund 1 Million Personen eine scheinselbständige, das heißt tatsächlich abhängige Nebentätigkeit ausüben.
Als Fazit stelle ich fest: Scheinselbständigkeit als Form der Erwerbstätigkeit im Haupterwerb spielt zahlenmäßig eher eine geringe Rolle, wird aber deshalb nicht unwichtiger, ich sage sogar: im Gegenteil. Dagegen ist die Scheinselbständigkeit bei vermeintlich selbständigen Nebentätigkeiten offensichtlich höher.
Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission „Fortentwicklung der Rentenversicherung" hat sich auch mit dieser Thematik befaßt und in ihrem Abschlußbericht am 27. Januar 1997 einen nach meiner Auffassung sachgerechten Regulierungsvorschlag vorgelegt, der doch etwas aussagt, Kollege Schreiner. Sie meinten eben, da werde nichts ausgesagt.
Die Kommission schlägt vor, Personen mit arbeitnehmerähnlicher Erwerbstätigkeit als Selbständige in die Rentenversicherungspflicht einzubeziehen. Sie denkt dabei insbesondere an Personen, die keine Beschäftigten haben, im wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind und nicht als eigenständige Unternehmer auftreten.
Damit hat diese Kommission, wie ich meine, einen wichtigen Beitrag in der Debatte um neue Formen der Selbständigkeit geleistet.
- Kollege Dreßen, Sie sind doch gleich dran. Da können Sie alles noch sagen.
Den Begriff „Scheinselbständigkeit" hat die Kommission bewußt vermieden. Dabei hat die Kommission für diesen Personenkreis ein Schutzbedürfnis vor allem für die Risiken der Invalidität und des Alters bejaht. Ein vergleichbares Schutzbedürfnis in anderen Zweigen der Sozialversicherung sieht sie nicht.
Nach Auffassung der Kommission sollte dem von ihr gesehenen Handlungsbedarf nicht durch eine Ausweitung des Arbeitnehmerbegriffs entsprochen werden. Erfahrungen in der Vergangenheit haben nämlich gezeigt, daß solche Regelungen durch entsprechende Vertragsgestaltungen umgangen werden können. Außerdem wäre die Einhaltung solcher Vorschriften kaum zu kontrollieren. Der Gesamtvorschlag wird derzeit von der Bundesregierung geprüft.
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es wird im Interesse der betroffenen Menschen eine wichtige Aufgabe der Einzugsstellen bleiben, Scheinselbständigkeit aufzudecken, also Gestaltungen, in denen in Wirklichkeit Arbeitnehmertätigkeit und nicht selbständige Tätigkeit vorliegt. Die differenziertesten Kataloge zur Abgrenzung von Beschäftigten gegenüber Selbständigen helfen überhaupt nicht, wenn die Fälle nicht erkannt werden und im dunkeln bleiben. Dafür ist es notwendig, daß alle Betroffenen sich ihrer Verantwortung wahrscheinlich noch mehr als bisher bewußt werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Peter Dreßen, SPD.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Meckelburg, Sie haben in Ihrer Rede davon gesprochen, daß wir Existenzgründer brauchen. Da stimmen wir Ihnen natürlich voll zu. Warum haben wir denn so dafür gekämpft, daß das Meister-BAföG wiederkommt, das Sie einmal abgeschafft haben?
Das ist auch eine Voraussetzung für Existenzgründungen. Warum fordern denn unsere Wirtschaftspolitiker in der SPD-Fraktion, daß wir Wagnis- und Risikokapital brauchen, um Existenzen zu gründen? Da sind wir uns sicher ganz schnell einig.
Frau Babel, als Sie die maroden Kassen angeführt haben, ist mir der Spruch von demjenigen eingefallen, der in einem Laden die Kasse klaut, auf die Straße rennt und schreit: „Haltet den Dieb! " Etwas anderes fällt mir dazu wirklich nicht ein.
Erst machen Sie das kaputt, und jetzt bejammern Sie das und sprechen von maroden Kassen. Das eine geht mit dem anderen nicht mehr zusammen.
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie haben es in den letzten 14 Jahren geschafft, eine Aushöhlung der sozialen Sicherung zu bewerkstelligen, die sich 1982 eigentlich niemand vorstellen konnte.
- Herr Laumann, doch, so ist es.
Mancher in diesem Haus vertritt ja die Auffassung, daß Normalarbeitsplätze nicht mehr zeitgemäß seien. Heute sei mehr Flexibilität als früher gefordert.
Ihre Art von Flexibilität haben Sie in den letzten 15 Jahren in vielfältiger Form durchgesetzt. Ich nenne dafür ein paar Beispiele. Auf der arbeitsrechtlichen Seite gehört dazu das Beschäftigungsförderungsgesetz mit der erweiterten Möglichkeit für befristete Beschäftigung, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und die i
610-DM-Jobs. Niemand bestreitet, daß diese
Arbeitsverhältnisse anschließend zugenommen haben. Aber zugleich hat eben die Normalbeschäftigung abgenommen. Das alles sind Gesetze, mit denen die Rechte der Arbeitnehmer erheblich eingeschränkt wurden.
Auf der leistungsrechtlichen Seite hat die Koalition die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ausgehöhlt. Der letzte Baustein in diesem unendlichen Katalog der Grausamkeiten war das Arbeitsförderungs-Reformgesetz mit seinen verschärften Zumutbarkeitskriterien.
Trotzdem ist die beschäftigungspolitische Bilanz dieser Bundesregierung für unser Land eine Katastrophe ersten Ranges. Die fortgesetzte Deregulierung hat hier nicht geholfen, sondern nur ein Chaos geschaffen und die Unordnung auf dem Arbeitsmarkt in unerträglicher Weise erhöht. In der Beschäftungs- und Arbeitsmarktpolitik bestehen zwischen Regierung und Opposition also grundlegende Unterschiede über den richtigen Weg.
Unstrittig war bisher aber, daß in diesem Lande eine Reihe von Unternehmen die Lücken im Arbeitsrecht nutzten, um ihr unternehmerisches Risiko auf die Beschäftigten abzuwälzen. Man glaubt ja gar nicht, wie einfach das ist. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, einen regulären Arbeitsplatz abzubauen und mit der Tätigkeit einen Selbständigen zu beauftragen. Diese Auslagerung von Arbeitsplätzen gehört inzwischen leider zum System dieser Marktwirtschaft. Allerdings entstehen dadurch nicht nur neue lebensfähige Unternehmen, Frau Babel. Der Zuwachs von Klein- und Kleinstunternehmen sowie der Einmannbetriebe deutet vielmehr an, daß in vielen Fällen nur Risiken auf die neuen Selbständigen verlagert werden.
Die Betroffenen sind aber vielfach nur zum Schein selbständig. Andere sprechen von „abhängiger Selbständigkeit". Wie Sie das nennen wollen, ist mir egal; aber auf jeden Fall trifft es des Pudels Kern. Sie haben nur einen Auftraggeber oder sind nach allen Umständen von ihm abhängig. Sie verrichten typische Tätigkeiten eines Arbeitnehmers und sollten damit auch einen Anspruch auf die sozialen Schutzsysteme unserer Gesellschaft haben.
Aber genau das wird durch diese Art von Outsourcing umgangen. Die Auftraggeber sparen dadurch Sozialabgaben, während die Betroffenen ihre Krankenversicherung und Altersversorgung alleine sicherstellen müssen. Nebenbei bemerkt, entfällt der Versicherungsschutz gegen Arbeitslosigkeit ganz. Im
Peter Dreßen
übrigen entziehen Sie durch Ihre Politik der Sozialversicherung Milliardenbeiträge. Das muß ein Ende haben, Kolleginnen und Kollegen.
Wie weit die Moral in diesem Lande schon gesunken ist, zeigen jüngere Entwicklungen. Inzwischen geben sogenannte Unternehmermagazine sogar Rechtstips, wie man solche Verträge sozialrechtlich wasserdicht gestalten kann.
Die Bundesregierung plant nun im Rahmen der Rentenreform - der Herr Staatssekretär hat es ja erwähnt Scheinselbständige zur Pflichtmitgliedschaft in der Rentenversicherung zu zwingen. Den Betroffenen wird dadurch aber letztendlich nicht geholfen. Schon heute haben Selbständige die Möglichkeit, freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden, Herr Staatssekretär. Wenn sie das nicht tun, dann deshalb, weil sie formal selbständig und nicht dazu verpflichtet sind. Bei den Scheinselbständigen spielt aber etwas anderes eine ganz entscheidende Rolle: Ihr Einkommen ist oft so knapp bemessen, daß sie es sich gar nicht leisten können, freiwillig Mitglied zu werden. Die Konsequenz ist, daß die Menschen ein Leben lang schuften und im Alter im Sozialamt anstehen, um Sozialhilfe zu beantragen. Dies halte ich für unerträglich.
Außerdem müßten die Betroffenen nach dem Modell der Koalition ihre Beiträge zur Rentenversicherung alleine tragen. Ihr Auftraggeber kommt also weiterhin um den Arbeitgeberanteil herum. Damit bleibt alles beim alten. Die Kosten der sozialen Absicherung tragen nach wie vor die, die sich nicht wehren können.
Zusätzlich würden durch die Zwangsmitgliedschaft nach dem Rentenmodell von Blüm Betriebsmittel gebunden, die diese „Unternehmer", wenn sie welche wären, für Investitionen in ihrem Betrieb vielleicht dringend brauchten. Sie behindern damit also zusätzlich auch die Entwicklungschancen dieser „Unternehmer" .
Warum sollte ausgerechnet die Partei der Besserverdienenden bei alledem mitmachen? Das liegt auf der Hand: Die sozialen Sicherungssysteme werden erneut ausgehöhlt, unterlaufen, ausgezehrt. Darauf kommt es dem Abbruchunternehmen in Sachen Sozialstaat im Namen der Drei-Punkte-Partei an.
Statt die Konsequenzen zu ziehen und den Arbeitnehmerstatus der Schutzbedürftigen wieder anzuerkennen, entsteht ein sozialversicherungsrechtlicher Zwitter: Rentenversicherung ja, Arbeitslosenversicherung nein. Ein bißchen Unternehmer und ein bißchen Arbeitnehmer - das paßt selbst in Zeiten der Deregulierungswut nicht zusammen.
Letztlich erkennt die Bundesregierung aber nicht nur ausdrücklich an, daß die Betroffenen keine Selbständigen im eigentlichen Sinne des Wortes sind. Ich warne deshalb vor diesem Modell; denn damit würde die Scheinselbständigkeit noch mehr als bisher gesellschaftsfähig.
Bisher hat die Bundesregierung dieses Problem nur totgeschwiegen, Herr Staatssekretär. Es ist nicht
so, wie Sie das vorhin erwähnt haben. Mit dem Blüm-Modell erhält die schleichende Aushöhlung der sozialen Schutzfunktionen und der Sicherungssysteme quasi den regierungsamtlichen Segen.
Das, meine Damen und Herren, wollen wir von der SPD nicht. Daher ist der Gesetzentwurf meiner Fraktion so angelegt, daß auf dem Arbeitsmarkt ein Stück Ordnung wiederhergestellt wird. Darauf kommt es uns sehr an, da Sie permanent Unordnung provozieren.
Meine Damen und Herren, es macht keinen Sinn, das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht immer weiter aufzuweichen, nur um die Idee der Marktorthodoxie zu retten. Ein Blick in die Arbeitslosenstatistik oder auf die Situation in Ostdeutschland zeigt überdeutlich: Ein funktionierendes System sozialer Sicherung ist Voraussetzung für das in Deutschland praktizierte Modell der Marktwirtschaft. Mit der Deformation dieses Schutzsystems muß daher endlich Schluß gemacht werden. Fehlentwicklungen, die diese Regierung zu verantworten hat, müssen korrigiert werden.
Neue Fehler, wie sie jetzt bei dem Problem der Scheinselbständigkeit drohen, müssen wir vermeiden. Die betroffenen Scheinselbständigen haben oft nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, nämlich zwischen einem Job in der Scheinselbständigkeit und der Arbeitslosigkeit. Diejenigen, die es wagen, einen solchen Job anzunehmen, sind für mich größere Leistungsträger, weil sie Mut haben. Sie werden aber oft ausgenutzt, enttäuscht und wenden sich daher von der Gesellschaft ab.
Die Entwicklung zeigt aber auch, wie dringend wir ein modernes Arbeitsvertragsgesetz in unserem Land brauchen - Kollegin Buntenbach hat es schon gesagt -, das den heutigen Anforderungen entspricht. In ihm könnte man den Arbeitnehmerbegriff noch sauberer definieren.
Was wir außerdem brauchen, ist ein Arbeitszeitgesetz, mit dem verhindert wird, daß in den Betrieben bis zu 60 Stunden gearbeitet werden kann. Wer all diese Forderungen nicht mitträgt, der darf in der Öffentlichkeit auch nicht laut sagen, daß er die Arbeitslosigkeit bekämpft; denn in Wirklichkeit tut er es ja nicht, sondern läßt Überstunden usw. zu. Damit wird die Arbeitslosigkeit aber erhöht statt verringert.
Meine Damen und Herren, es ist genug Handlungsbedarf da. In diesem Sinne - Sie sehen, die SPD hat die besseren Argumente und auch die bessere Alternative - lade ich die besonnenen Kräfte in der Koalition ein, mit uns zu diskutieren. Herr Meckelburg, Ihr Vortrag hat mich da ein bißchen ermutigt. Allerdings bin ich durch die Vorstellungen von Frau Babel gleich wieder gestoppt worden. Auch über die Ausführungen des Herrn Staatssekretärs war ich sehr unglücklich.
Peter Dreßen
- Ja. Aber ich glaube, mit Herrn Meckelburg und der CDA könnte man ein Ergebnis erreichen,
bei dem im Interesse der Betroffenen - -
- Ja, aber ich habe den Ausführungen entnommen, daß die Möglichkeit besteht, sich zu treffen. Nur bin ich dann durch die Reden von Frau Babel und dem Herrn Staatssekretär wieder enttäuscht worden. Von Ihnen hätte ich mir etwas mehr erwartet.
Wir laden auf jeden Fall die besonnenen Kräfte in der Koalition ein, den Gesetzentwurf im Sinne der Sache ideologiefrei zu analysieren. Sie werden dann zu der Auffassung gelangen, daß unser Vorschlag die bessere Alternative ist, und ihm zustimmen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/6549 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15i sowie die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:
15. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bunderat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Kennzeichnung und steuerlichen Förderung von umweltfreundlicheren Kraftstoffen
- Drucksache 13/6913 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuß
Ausschuß für Verkehr
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 13/6914 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ergänzenden Protokoll vom 22. August 1996 zum Ems-Dollart-Vertrag zur Regelung der Zusammenarbeit zum Gewässer- und Naturschutz in der Emsmündung
- Drucksache 13/6919 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. April 1996 über die Internationale Kommission zum Schutz der Oder gegen Verunreinigung
- Drucksache 13/6920 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 28. April 1995 über den Beitritt der Republik Osterreich zu dem am 19. Juni 1990 unterzeichneten Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985
- Drucksache 13/7012 —
Überweisungsvorschlag: Innenausschuß
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Schaich-Walch, Lilo Blunck, Tilo Braune, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen
- Drucksache 13/6828 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Sonnenbergsiedlung, Ludwigsburg, an den Zweckverband Pattonville/Sonnenbergsiedlung und die Wohnungsbau Ludwigsburg GmbH
- Drucksache 13/6875 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
h) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß j 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung einer bundeseigenen Liegenschaft in Hongkong
- Drucksache 13/6946 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
i) Beratung des Antrags der Präsidentin des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1996 - Einzelplan 20 -
- Drucksache 13/6928 -
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
ZP5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Steinbach, Dr. Klaus Dieter Uelhoff, Erwin Marschewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Thomas Krüger, Gunter Weißgerber, Uta Titze-Stecher, Wolfgang Thierse und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Max Stadler, Cornelia Schmalz-Jacobsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Gemeinschaftliche Finanzierung eines Neubaus des Museums der Bildenden Künste in Leipzig
- Drucksache 13/7059 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heide Mattischeck, Elke Ferner, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schienenwegeausbau zwischen Bayern, Thüringen und Sachsen
- Drucksache 13/7081 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a bis 16o sowie den Zusatzpunkt 6 auf. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 16 a:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Geheimschutzübereinkommen der WEU vom 28. März 1995
- Drucksache 13/5320 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/6863 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann
Johannes Singer Manfred Such Dr. Max Stadler Dr. Ludwig Elm
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 6863, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 b:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 5. September 1980 über die Ausstellung von Ehefähigkeitszeugnissen
- Drucksache 13/4339 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/6898 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ronald Pofalla Margot von Renesse
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 6898, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist, wenn ich das recht gesehen habe, einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 c:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 13. November 1991 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen
- Drucksache 13/5468 -
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/6956 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Altmaier Dr. Jürgen Meyer
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 6956, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksache 13/6617 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
- Drucksache 13/7053 -
Berichterstattung: Abgeordnete Gisela Frick
Dieter Grasedieck Dr. Barbara Höll Reiner Krziskewitz Christine Scheel
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen, Mehrheitsverhältnisse wie zuvor.
Tagesordnungspunkte 16e bis 16k:
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Weitere überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 642 01
- Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz -
- Drucksachen 13/6678, 13/6760 Nr. 1.9, 13/ 6990 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Jürgen Koppelin
Dr. Rolf Niese
Oswald Metzger
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 642 07
- Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschußgesetzes -
- Drucksachen 13/6664, 13/6760 Nr. 1.8, 13/ 6991-
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Jacoby Ina Albowitz
Siegrun Klemmer
Kristin Heyne
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 656 51
- Zuschüsse zur Alterssicherung der Landwirte -
- Drucksachen 13/6661, 13/6760 Nr. 1.5, 13/ 6992 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Jürgen Koppelin
Ilse Janz
Kristin Heyne
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 03 Titel 820 11
- Erwerb bebauter Grundstücke -
Drucksachen 13/6559, 13/6760 Nr. 1.3, 13/ 6993 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Erich Riedl
Ina Albowitz
Eckart Kuhlwein
Antje Hermenau
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 11 Titel 642 01
- Kriegsopferfürsorge -
- Drucksachen 13/6662, 13/6760 Nr. 1.6, 13/ 6994 -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel
Antje Hermenau
Ina Albowitz
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 01
- Arbeitslosenhilfe -
- Drucksachen 13/6560, 13/6760 Nr. 1.4, 13/ 6995 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Ina Albowitz
k) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 616 31
- Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit -
- Drucksachen 13/6663, 13/6760 Nr. 1.7, 13/ 6996 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Ina Albowitz
Wer stimmt für diese sieben Beschlußempfehlungen? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 161:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
- Drucksache 13/7011 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Wiefelspütz
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 16m:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
- Drucksache 13/6982 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 n:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 180 zu Petitionen - Drucksache 13/6983 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 180 ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 0:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 183 zu Petitionen
- Drucksache 13/6986 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 183 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 6:
Beratung des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß § 93a Abs. 4 der Geschäftsordnung
zu den Schlußfolgerungen der XV. COSAC am 16. Oktober 1996 in Dublin
und
zu dem Beratungsdokument der Regierungskonferenz zur Revision des Maastrichter Vertrages - Aufzeichnung des irischen Vorsitzes vom 19. November 1996
- Drucksachen 13/6357 Nr. 3.1 und 3.2, 13/ 6891 -
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Gero Pfennig
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Kann ich davon ausgehen, daß Sie den Bericht des Ausschusses einschließlich der Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung zur Kenntnis genommen haben? - Das ist der Fall.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen über die Zukunft der solidarischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht jeder Streit in der Bundesregierung oder in der Koalition muß Anlaß für eine Aktuelle Stunde sein. Das geht bei dieser Regierung auch gar nicht; denn wer die Streitsucht in der Koalition aus den letzten Monaten bilanzierte, der käme auf einen Vorrat an Aktuellen Stunden, der bis weit in die nächste Legislaturperiode hineinreichen würde.
Der Anlaß für die heutige Aktuelle Stunde allerdings hat es in sich. Der Versuch von Herrn Seehofer, die paritätische und somit solidarische Beitragsfinanzierung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der gesetzlichen Krankenversicherung abzuschaffen und zukünftig durch eine mehrheitliche Arbeitnehmerfinanzierung zu ersetzen, ist nicht nur ein einfacher Bruch mit den bisher geltenden Prinzipien der Sozialversicherung, es ist der ungenierte Versuch, von der Gesellschaft gemeinschaftlich getragene und damit auch von ihr zu finanzierende Risiken zu privatisieren. Es ist der Einstieg in den Ausstieg aus der solidarischen Gesellschaft.
Der Vorschlag von Herrn Seehofer zerstört die Gemeinsamkeit in der gesellschaftspolitischen Grundphilosophie dieses Landes, die trotz zum Teil heftiger Auseinandersetzungen unter den Parteien 50 Jahre lang zur politischen Grundausstattung unserer Republik gehört hat.
Die Überzeugung, daß es vernünftig ist, wenn die beiden großen gesellschaftlichen Gruppen - die Arbeitnehmerschaft einerseits und die Unternehmerschaft andererseits - die soziale Ausgestaltung dieses Landes gemeinsam und gleichgewichtig regeln und finanzieren, eben diese Grundphilosophie ist das Herz des deutschen Modells. Sie gehört zu den Voraussetzungen belastbarer und stabiler Sozialbeziehungen und hat uns beispiellosen sozialen Frieden beschert. Wer das aufgeben will, wird auf den entschiedenen, ja erbitterten Widerstand der großen Mehrheit unserer Bevölkerung und nicht zuletzt auf den Widerstand der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion stoßen.
Herr Geißler und viele andere in der CDU/CSU hegen wohl ähnliche Empfindungen. Mit der Aufgabe der gleichgewichtigen Beitragsfinanzierung in der Krankenversicherung wird der Rubikon überschritten und eine Umkehr schwerlich möglich. Daß CDU/ CSU und F.D.P. die Beseitigung der gleichgewichtigen Beitragsfinanzierung auf die Krankenversicherung beschränken wollen, mag in diesem Hause glauben, wer will - ich tue das nicht.
Danach soll es erst richtig losgehen. Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung sind ja schon ins Visier genommen. Ganz ungeniert kündigt der Kollege Möllemann in seiner neuesten Funktion als sozialpolitische Plaudertasche der Regierungskoalition vom Dienst das Ziel an: Die Beitragszahlung für die gesamte Sozialversicherung soll ausschließlich Sache der Arbeitnehmer werden. Bei Herrn Möllemann kann man nie sicher sein, meine Damen und Herren, aber bei Herrn Seehofer bin ich mir sicher: Eine solch grundlegende Richtungsänderung in der Gesellschaftspolitik kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist mit den beiden führenden Köpfen der Union, mit dem Bundeskanzler und dem Fraktionsvorsitzenden Dr. Schäuble, abgestimmt.
Die anhaltenden öffentlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Union um die Beitragshälftelung in der Sozialversicherung werfen aber eine zweite grundsätzliche Frage auf, nämlich die Frage, inwieweit Volksparteien von einer klientelistischen Kleinpartei auf der rechten Seite dieses Hauses durch eine Politik der Bedienung von Gruppeninteressen gezwungen werden können, um des Machterhaltes willen ihren Volksparteicharakter aufzugeben.
Diese Frage kann nicht parteipolitisch beantwortet werden. Vielmehr ist sie von grundlegender Bedeutung für die Stabilität unserer Demokratie.
Zugegebenermaßen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, tut sich die SPD in der Opposition mit der Beantwortung dieser Frage leichter als die Union in der Regierung. Aber auch den Kolleginnen und Kollegen in der Union wird eine Antwort auf diese Frage bei Strafe des Verlustes der politischen Identität nicht erspart werden. Politikgestaltung nach Art des Eros-Centers - „Wer zahlt, der wird bedient - Sonderwünsche gehen extra" -
mag für eine Klientelpartei wie die F.D.P. möglich sein. Aber im Hinblick auf die CDU/CSU bin ich mir sicher: Eine Volkspartei wird das umbringen.
Angesichts eines vernichtenden Presseechos auf diese Vorschläge des Herrn Seehofer fühlte sich Herr Möllemann berufen, sich schützend vor Herrn Seehofer zu stellen. Er forderte ihn letzte Woche auf, durchzuhalten und im Amt zu bleiben. Nach der langjähri-
Rudolf Dreßler
gen Erfahrung und der altbekannten Männerfreundschaft zwischen diesen beiden Herren ist eine solche
Aufforderung eine besonders subtil plazierte Bosheit.
Herr Seehofer, ich habe gelernt: Ein echter Bayer läßt sich auch einmal durch den Kakao ziehen - selbst von Möllemann. Jetzt bin ich gespannt, ob dieser echte Bayer Seehofer bereit ist, den Kakao, durch den ihn Möllemann gezogen hat, um des puren Machterhalts willen auch noch auszutrinken.
Laut „FAZ" hat Herr Seehofer gesagt, in Sachen Beseitigung der hälftigen Beitragszahlung sei er zu keinem Kompromiß mehr bereit. Das bedeutet im Umkehrschluß: Wenn Ihre eigene Fraktion, Herr Seehofer, Sie per Mehrheitsentscheidung doch zu einem Kompromiß zwingt und Ihnen die Beibehaltung der hälftigen Beitragszahlung abringt, ziehen Sie die politischen Konsequenzen und gehen. Das ist nach dieser Aussage ja wohl logisch. Ich darf Ihnen versichern, Herr Seehofer, Sie haben in diesem Hause nicht oft die Chance, von der SPD-Seite Beifall zu bekommen. Wenn Sie diesen Schritt vollziehen, werden Sie ihn bekommen. Dann haben Sie ihn nämlich auch verdient.
Schönen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst sollte man einmal festhalten - das ist auch schon im Protokoll geschehen -, daß der Kollege Dreßler offensichtlich die kaufmännischen, angebots- und nachfrageorientierten Usancen in bezug auf das Eros-Center kennt; sonst hätte er nicht darüber eine Lehrstunde halten können.
Es ist ganz gut, daß wir darüber etwas Neues erfahren haben.
Wenn man Herrn Dreßler nicht schon viele Jahre kennen würde - ich habe seit 1983 die Freude -, dann könnte man von dem Vorwurf zusammenschrecken, man habe wieder etwas Fürchterliches, etwas Systemzerstörerisches, etwas Solidaritätsbeschädigendes in die Diskussion gebracht.
Aber man weiß ja, wie Ihre Diskussionsbeiträge, Herr Kollege Dreßler, ablaufen: Zunächst wird ein Popanz aufgebaut, dann wird ihm der Name CDU/ CSU oder F.D.P. oder auch beides umgehängt, und dann wird kräftig, nicht florettmäßig, sondern mit schwerem Säbel, auf ihn eingeschlagen. Weil das immer so abläuft, gewöhnt man sich im Laufe der Zeit daran. Die Wirkung auf mich ist dann nicht mehr ganz so groß wie die Wirkung auf jemanden, der das nicht gewöhnt ist.
Ich komme zur Sache und möchte fragen: Worum geht es denn eigentlich? Sie haben einen vernünftigen Vorschlag für die dritte Stufe der Gesundheitsreform im Bundesrat abgelehnt. Daraufhin haben wir uns alle erdenkliche Mühe gegeben, ein zustimmungsfreies Gesetzeswerk - im 1. NOG bereits beschlossen; im 2. NOG im Verfahren - auf den Weg zu bringen. Es wird noch über Ergänzungen bzw. Verbesserungen diskutiert.
Die Leitlinie für unser Gesetzesvorhaben ist immer gewesen, daß wir dieses großartige System - ich sage das ohne Übertreibung -, das wir in Deutschland haben, erhalten wollen, und zwar unter den Bedingungen eines solidarischen Krankenversicherungssystems.
- Die Schreierei hilft Ihnen gar nichts; Sie müssen einmal argumentieren.
Das heißt für uns, allen Menschen sollen in Zukunft ohne Ansehen der Person, ohne Ansehen des Alters und ohne Ansehen des Einkommens die Leistungen zugesagt werden können, die wir bisher in unserem System entwickelt haben und die wir auch in Zukunft im Hinblick auf die weitere medizinischtechnische Entwicklung erwarten können. Das können wir nach unserer Überzeugung nur, wenn wir endlich den Mut haben - Sie haben ihn bisher nicht -, den Menschen zu sagen: Um das zu erreichen, brauchen wir einen größeren Anteil von Eigenverantwortung, in diesem Zusammenhang auch Eigenleistung und Eigenzahlung genannt, als bisher.
Weil wir also die Synthese von der Erzeugung des notwendigen Drucks auf die Krankenkassen, Wirtschaftlichkeitsreserven - von denen auch Sie immer sprechen - auszuschöpfen, und von dem Verlangen nach Zuzahlungen, also Eigenleistung, erreichen wollen, haben wir das Erste Neuordnungsgesetz sozusagen auf den Markt gebracht. Das heißt, Erhöhung des Beitrages gibt es nur noch dann, wenn damit zugleich Zuzahlungen verbunden sind. Dieser Gesetzentwurf, der zunächst noch im Bundesrat hängt, ist so wirksam, daß die Krankenkassen in ganz besonderem Maße dagegen Sturm laufen, weil sie zum erstenmal gezwungen werden, anstatt sich zurückzulehnen und zu sagen: „Gesetzgeber, entscheide du", sich selbst ans Werk zu machen, weil sie Angst vor Zuzahlungserhöhungen haben.
Wir haben festgestellt, daß die Kritik an dem Ersten Neuordnungsgesetz wegen der zu erwartenden unterschiedlichen Zuzahlungserhöhungen bei unterschiedlichen Beitragsentscheidungen der verschiedenen Kassen dazu führen kann, daß es Unsicherheiten unter den Beteiligten gibt. Der Wunsch nach Beantwortung der folgenden Frage ist immer größer geworden: Muß es denn diese Lösung sein, oder gibt es nicht möglicherweise eine andere Lösung, um zu dem gleichen Ziel zu kommen, die Arbeitskosten
Wolfgang Lohmann
nicht stärker zu belasten, aber das notwendige Geld zu schöpfen, das wir brauchen - das auch Sie brauchen werden, wenn Sie eine vernünftige Lösung vorlegen?
In diesem Zusammenhang ist eine weitere Frage in das Verfahren eingebracht worden: Warum kann nicht die Erhöhung auf den Arbeitnehmerteil übertragen werden, um der Kasse die Möglichkeit zu geben, die entsprechende Zuzahlungserhöhung, die offenbar sehr gescheut wird, zu unterlassen und einen anderen Weg zu gehen?
Man muß die Möglichkeit geben, eine dieser beiden Lösungen zu wählen.
Daß dies eine Diskussion in der CDU/CSU-Fraktion auslöst, ist eine Selbstverständlichkeit. Ich bin stolz darauf, dieser Fraktion anzugehören, die die ganze Breite der denkbaren soziologischen Gruppierungen umfaßt und infolgedessen über verschiedene Dinge auch unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich gehöre nur nicht zu denen, die, bevor überhaupt ein Diskussionsprozeß begonnen hat, ihre Meinung festlegen, diese schon verbreiten und sagen: Mit mir nicht. - Deswegen bin ich froh, daß die Diskussion eröffnet worden ist. Sie kann ruhig geführt werden.
Ich kann - das sage ich eindeutig und habe es immer gesagt - mit jeder Entscheidung meiner Fraktion leben und werde sie auch mittragen. Ich bin bloß dagegen, daß man sich entscheidet, bevor ein Diskussionsprozeß abgeschlossen worden ist.
Als nächste spricht die Kollegin Kerstin Müller.
Meine Damen und Herren! Herr Minister Seehofer, vor einem Jahr wollten Sie noch „mit allen Mitteln" gegen eine höhere Selbstbeteiligung kämpfen. Ich zitiere Sie: „Ich möchte sogar sagen, mit mir wird sie nicht kommen." Jetzt schlagen Sie Selbstbeteiligungen in chaotischer Form und in enormer Höhe vor.
Vor einem Jahr haben Sie auch über die F.D.P. noch zutreffend gesagt: „Eine Partei, die keine Wähler hat, hat nicht das Recht, den Sozialstaat abzuschaffen."
Jetzt, Herr Seehofer, lassen Sie sich von eben dieser F.D.P. am Nasenring durch das Land führen.
Mit Ihrem Vorschlag, die Arbeitgeberbeiträge einzufrieren und damit jede Kostensteigerung künftig
auf die Beschäftigten abzuwälzen, stellen Sie die Basis unserer sozialen Sicherungssysteme in Frage.
Die Folgen beschreibt der Herr Minister Blüm so:
Die Arbeitgeber können sich ab sofort auf die Zuschauerbänke setzen und sagen: Pharmaindustrie, schlag doch zu, wir bezahlen es nicht! Die Risiken bezahlen die Schwachen.
: Genau falsch
herum!)
Meine Damen und Herren, der Herr Minister Blüm hat recht.
Damit werden die Arbeitgeber aus der Pflicht entlassen, sich ebenfalls um Kostendämpfung zu bemühen.
Was Sie, Herr Minister Seehofer, und Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., jetzt vorgeschlagen haben, ist ein Systembruch von ganz zentraler Bedeutung. Warum das alles? Um der F.D.P. eine Frischzellentherapie zu verpassen, auf Kosten der Patienten und zur Freude der Ärzte und der Pharmaindustrie?
Ihre Reform verfolgt als oberstes Ziel doch nur noch die Geldbeschaffung für eben diese Klientel.
Wenn Sie sich mit diesem Vorschlag durchsetzen, dann bleibt es doch nicht beim Systembruch in der Krankenversicherung; denn Herr Möllemann und auch Sie, Herr Thomae, von der F.D.P. sprechen vom sogenannten Modellcharakter auch für andere Sozialversicherungen. Deshalb befürchtet Herr Geißler zu Recht einen „Dammbruch".
Ich glaube, im Kopf von Herrn Schäuble ist dieser Dammbruch offenbar schon eingetreten. Die solidarische Sozialversicherung beschreibt er in einer Rede vom letzten Samstag als - ich zitiere - „die immer teurer werdenden Zwangseinrichtungen unserer sozialen Sicherungssysteme" . Zwangseinrichtungen! Das muß man wirklich einmal zu Ende denken.
Wenn soziale Solidarität als Zwangssystem bezeichnet wird, wenn individuelle Entfaltung bedeutet, daß jeder einzelne nur noch sein eigenes Wohl verfolgt, weil alles andere ja Zwangssystem wäre, dann bekommen wir keine solidarische, sondern eine brutale Ellenbogengesellschaft, eine Gesellschaft der rücksichtslosen Bereicherung der Starken auf Kosten der Schwachen. Dahin wird es diese Koalition treiben, wenn sie nicht gestoppt wird. Herr Schäuble hat hier offenbar die wichtigen Worte gesprochen.
Kerstin Müller
Die Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland haben sich in guten und in schlechten Zeiten seit 100 Jahren im großen und ganzen bewährt. Nun stehen wir heute vor einer Richtungsentscheidung. Entweder sie werden im Sinne von Herrn Schäuble als Zwangssysteme behandelt und zerschlagen, oder wir erhalten sie, indem wir sie endlich reformieren und dabei vor allem wieder mehr Akzeptanz in der Bevölkerung für diese sozialen Sicherungssysteme gewinnen. Diese Sicherungssysteme sind heute in der Tat reformbedürftig, weil sich die Verhältnisse vielfach verändert haben und weil diese Koalition jahrelang geschlafen und jeden Reformbedarf bestritten hat, wie zum Beispiel in der Rentenversicherung.
Die Sozialversicherungen müssen durch die ökologische Steuerreform von den sachfremden Kosten befreit werden, die ihnen die Koalition auferlegt hat.
Ihre Leistungsfähigkeit, ihre Qualität und ihre langfristige Stabilität können durch Reformen erheblich verbessert werden, vielfach sogar bei geringeren Kosten.
Meine Damen und Herren von der CDA - einige wenige sind ja da -, wir Bündnisgrüne werden alles daransetzen, diese Pläne zur Zerschlagung des Sozialsystems zu stoppen.
Eine große Verantwortung liegt jetzt aber auch bei Ihnen. Solche Pläne zum Bruch mit dem Solidarprinzip bedürfen nämlich sehr wahrscheinlich nicht der Zustimmung des Bundesrates.
Herr Geißler - er ist jetzt nicht da -, Herr Fink, Herr Link, Herr Vogt und Herr Keller, Sie haben in den letzten Tagen erfreulich klare Worte zu diesen Vorstößen gefunden und immer wieder betont: Wir bleiben da hart. Ich kann nur hoffen, daß Sie dabei bleiben;
denn Sie sehen es an den Ideen von Herrn Schäuble: Der Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme hat mit diesem Vorstoß erst begonnen. Lassen auch Sie nicht zu, daß ein Grundpfeiler unseres Sozialsystems zerschlagen wird!
Danke schön.
Als nächster der Kollege Jürgen Möllemann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den nächsten Tagen wird die Bundesanstalt für Arbeit die Zahl der Arbeitslosen für den zurückliegenden Monat bekanntgeben, die erneut um eine dreistellige Tausenderzahl gestiegen sein wird.
Unter den Arbeitslosen sind zunehmend solche, die aus Klein- und Mittelbetrieben entlassen worden sind.
Sie sind arbeitslos geworden, weil Klein- und Mittelbetriebe Konkurs angemeldet haben.
Die Frage, die wir in einer solchen Situation zu beantworten haben, lautet: Was müssen wir tun, um mit den Ursachen für den Abbau von Arbeitsplätzen vor allem in den kleineren und mittleren Unternehmen fertig zu werden?
Das ist zum einen die überhöhte Steuerbelastung. Sie wissen aus der letzten OECD-Statistik, daß Unternehmen in Deutschland - Kapitalgesellschaften, aber auch andere Unternehmensformen - der höchsten Steuerlast von allen OECD-Staaten unterliegen.
Es scheint sich nach den ersten Reaktionen auf die Gespräche über die Steuerreform abzuzeichnen, daß die Bereitschaft in der Koalition, die Steuerlast für die Unternehmen zu senken, von einer Bereitschaft in der SPD ergänzt wird. Das wäre gut.
- Ihr Dröhnen, Herr Kollege Dreßler, ersetzt kein Argument.
Darf ich dazwischengehen, damit Sie die Möglichkeit haben, das zu Ende zu führen.
Mich erinnert Ihr Verhalten an Leute auf der Titanic: Willkommen auf der Titanic! In den Bleiwesten ist noch zu wenig Blei. Machen Sie ruhig so weiter!
Ich kann nur sagen, wir haben eine zu hohe Steuerbelastung vor allen Dingen der Klein- und Mittel-
Jürgen W. Möllemann
betriebe. Es geht jetzt darum, ob wir die Steuerbelastung senken können.
Die Steuerbelastung - das sagen auch Ihre Sprecher - soll gesenkt werden. Der Vorschlag, die Unternehmensteuern zu senken, kommt auch von Ihnen. Oder meinen Sie ihn nicht ernst?
Nur die Senkung der Steuerbelastung mindert unsere Möglichkeiten, Aufgaben, die heute die Sozialkassen haben, künftig durch Steuern zu finanzieren. Wenn wir die steuerlichen Einnahmen senken, können wir nicht gleichzeitig die Aufgaben, die heute die Kassen belasten, steuerlich finanzieren.
Die zweite Komponente stellen die hohen Lohnzusatzkosten dar, die sich aus den Beiträgen zu den vier sozialen Sicherungssystemen ergeben. Wir stellen die Frage, ob wir den Zyklus und Teufelskreis - höhere Beitragssätze, höhere Lohnzusatzkosten, höhere Arbeitslosigkeit und damit weniger Einnahmen - beibehalten wollen. Das kann so nicht gehen.
Deshalb haben wir gesagt, daß wir alle vier Komponenten des sozialen Sicherungssystems reformieren wollen. Das ist unabweislich.
Wenn wir das nicht täten, würden die Rentenbeiträge demnächst bei 28 Prozent liegen. Schon heute aber werden die Rentenzahlungen nicht paritätisch aus Beiträgen von Betrieben und Beschäftigten finanziert, sondern allein in diesem Jahr mit 69 Milliarden DM aus Steuermitteln ergänzt.
Wir würden die Arbeitslosigkeit, wenn sie sich so weiterentwickelt, nicht finanzieren können wie bisher. Schon heute wird die Arbeitslosigkeit nicht paritätisch aus Beiträgen von Unternehmen und Beschäftigten finanziert, sondern in diesem Jahr mit 14 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt.
Schon heute wird die Krankenversicherung nicht paritätisch von Beschäftigten und Firmen finanziert, sondern die Versicherten zahlen wegen ihrer Selbstbeteiligung einen bestimmten höheren Anteil.
Führen Sie hier doch keine Scheindebatte! Die Menschen draußen wissen längst, daß die Showdebatten, die hier ablaufen, nur noch eins sind: anödend, widerlich und unehrlich.
Die Arbeitslosigkeit steigt jeden Monat weiter an, weil Sie meinen, mit Ihrem Stentorgedröhne, mit billigen Puffwitzchen, Herr Dreßler, mit denen Sie hier kommen, Kollegen, die sich Gedanken darüber machen, wie man aus diesem Dilemma herauskommen
kann, diffamieren zu müssen. Auf dieses Spiel lasse ich mich jedenfalls nicht ein.
Deswegen sage ich: Der Bundesgesundheitsminister hat einen Vorschlag gemacht, der eine Alternative anbietet. Die F.D.P. hatte ihrerseits vorgeschlagen - und sie steht zu diesem Vorschlag -: Laßt doch die Betriebe das Geld, das sie heute für ihre Beschäftigten an die Krankenkassen zahlen, direkt als steuerfreien Lohnzuschlag an die Beschäftigten auszahlen! Das bedeutet nicht, aus der Versicherung auszusteigen, sondern das Geld den Beschäftigten zu geben. Diese mögen sich dann bei der Versicherung ihrer Wahl - die Versicherungen stehen im Wettbewerb miteinander - mit diesem Geld versichern, damit sie sehen, was ihre Arbeit wert ist und daß dieses Geld auch für ihre Gesundheit aufgewandt wird. Damit wäre der verhängnisvolle Automatismus durchbrochen, der darin besteht, daß jede Verteuerung in einem der sozialen Sicherungssysteme automatisch zur Verteuerung der Arbeit auch und gerade bei den Klein- und Mittelbetrieben führt.
Sie werden der Frage nicht ausweichen können, was man tun kann, damit endlich wieder mehr Menschen Arbeitsplätze bekommen können und solche, die Arbeitsplätze haben, sie behalten können.
Herr Möllemann, Sie müssen zum Schluß kommen.
Mit Ihrer plumpen Polemik, mit der Sie der Debatte ausweichen, schaffen Sie keinen einzigen Arbeitsplatz. Sie kränken Ihre Kollegen auf eine unnötige Weise. Die billige Art und Weise, wie Sie das getan haben, Herr Dreßler, fällt auf Sie zurück.
Als nächstes spricht die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Möllemann, ich frage mich, wer hier in den letzten Wochen und Monaten die Showdebatten inszeniert hat. Sie sind dafür doch nun wirklich der prädestinierte Vorturner schlechthin.
Herr Kollege Seehofer, als die Kollegin Müller dankenswerterweise noch einmal Ihre Rede von vor einem Jahr zitiert hat, sah ich förmlich über Ihnen den Spruch hängen: Was stört mich mein Geschwätz von gestern!
Petra Bläss
Herr Kollege Lohmann, von dem von Ihnen zitierten solidarischen System haben Sie sich doch schon längst verabschiedet. Genau vor vier Jahren beklagte die PDS den Einstieg in den Ausstieg aus dem Solidarprinzip, als mit der Kompensation der Arbeitgeberanteile bei den Pflegeversicherungsbeiträgen die Parität de facto gebrochen wurde.
Der Anlaß der heutigen Aktuellen Stunde, das Ansinnen Bundesminister Seehofers, bei speziellen Belastungen in der Krankenversicherung alleinig die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steigen zu lassen, ist nicht nur ein neuerlicher Angriff auf das Solidarprinzip, sondern logische Folge der vorherrschenden neoliberalen Strategie.
Wenn nun einige CSU-Vertreter und der Arbeitnehmerflügel in der CDU sich als Wahrer der Sozialversicherung produzieren, ist das zwar sehr ehrenwert, aber auch scheinheilig; denn als kleineres Übel wird die höhere Zuzahlung angesehen. Aber was ist denn diese Selbstbeteiligung der Patientinnen und Patienten vom Wesen her? Die Selbstbeteiligung hat sukzessiv die Parität aufgehoben.
Eines ist klar: Die Lösung der Finanzierungskrise der Sozialversicherungen steht an. Insofern ist Herrn Seehofer zuzustimmen, wenn er im CDU-Bundesvorstand geäußert haben soll: Wer eine separate Erhöhung nicht will, muß eine adäquate Ersatzlösung bieten.
Wir meinen, durch die Veränderungen in der Arbeitswelt und die demographische Entwicklung stehen alle Sozialversicherungszweige in der Tat vor neuartigen Problemen, aber die angebotenen Lösungsansätze sind alte Hüte. Obwohl die Einsparvorhaben eine unbeschreibliche Einfaltsvielfalt bezeugen, dienen diese einzig der Leistungskürzung und Belastung der Versicherten. Zu den erforderlichen neuen Lösungsansätzen ist die Bundesregierung nicht fähig bzw., direkter und offener gesagt, angesichts ihrer Verpflichtung dem Kapital gegenüber wohl auch nicht willens.
Wir meinen, die Beitragsparität muß nicht allein gewahrt werden, sondern erst einmal wiederhergestellt werden. Was ist denn Parität? Wo bleibt heute die gleichberechtigte Belastung des Leistungsvermögens von Arbeitgebern, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, wenn alleinig die Lohnsumme der Maßstab des Beitragseinzugs ist? Drängt nicht die Schere zwischen Lohn- und Gewinnentwicklung dazu, nach neuen Bemessungsgrundlagen zu suchen?
Wir meinen, die Zukunft der solidarischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme - was unser heutiges Thema sein soll - kann nur über eine neuartige Wiederherstellung der Parität erreicht werden. Um das Leistungsvermögen tatsächlich widerzuspiegeln, müßte der Arbeitgeberbeitrag nicht mehr an die Lohnsumme, sondern zukünftig an den Gewinn, an die Wertschöpfung der Unternehmen gebunden
werden. Das ist bekanntlich keine Erfindung der PDS. Das wissen Sie alle hier im Hause ganz genau.
Bei einer Wertschöpfung als Beitragserhebungsmaßstab käme es zudem zu einer gerechteren Sozialbelastung zwischen den Unternehmen. Arbeitsintensive Unternehmen könnten von den Sozialabgaben entlastet werden, weil kapitalintensive stärker belastet würden. Zu alledem wäre ein größeres Einsparvolumen möglich - übrigens Einnahmeschübe, die nie mit der Erstattung sogenannter versicherungsfremder Leistungen zu erzielen wären.
Wir meinen, wenn alle die gleiche Energie in eine gangbare Umsetzung der Wertschöpfungsabgabe verwenden würden, wie alltäglich neue Kürzungsvorschläge kreiert werden, wären wir in der Tat der Zukunft schon ein Stück näher.
Es ist an der Zeit, meine Damen und Herren, sich endlich von traditionellen, verstaubten Lösungsmustern zu trennen und Zukunftsträchtigem zuzuwenden. Dieses Land braucht nicht neoliberale Deregulierung und Privatisierung,
sondern einen neuen Start in soziale Gerechtigkeit. Aber letzteres scheint für Sie mittlerweile ein Fremdwort geworden zu sein.
Das Wort hat der Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesvorstand der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft hat mir am 31. Oktober 1996, also im letzten Jahr, in einem Brief sehr ausführlich dargelegt, wie sich die Gewerkschaft der deutschen Angestellten künftig die Beitragsfinanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung vorstellen könnte.
Ich zitiere aus diesem Brief:
Eine Problemlösung, deren politische Diskussion wir in diesem Zusammenhang angeregt haben, will ich Ihnen noch einmal kurz skizzieren.
1. Der Arbeitgeberbeitrag für alle Kassen der GKV wird auf den hälftigen Durchschnittsbeitrag festgelegt.
Bundesminister Horst Seehofer
2. Soweit der tatsächliche Beitrag der einzelnen Kasse vom Durchschnittsbeitrag abweicht, ergeben sich entsprechende höhere oder geringere Beitragsanteile für die versicherten Arbeitnehmer/innen. Insgesamt bleibt es aber in der GKV bei der - formalen - paritätischen Finanzierung.
3. Der hälftige Durchschnittsbeitrag der Arbeitgeber wird jährlich auf der Grundlage des sich rechnerisch ergebenden neuen Durchschnittsbeitrags ... festgesetzt.
Es heißt in dem Brief weiter:
Sehr geehrter Herr Bundesminister, das oben skizzierte Denkmodell hatte ich Ihnen im übrigen bereits im Rahmen unseres letzten persönlichen Gesprächs am 17. Januar 1995 vorgestellt . . .
Unsere Überlegungen sind aber auch Inhalt eines Positionspapiers der DAG zur Gesundheitsstrukturreform,
das auch Ihrem Ministerium zugeleitet worden ist, das ich aber vorsorglich noch einmal auszugsweise für Sie beifüge.
In diesem Auszug wird darauf hingewiesen:
Diskussionswürdig wäre hingegen, bei einer Krankenversicherung mit Wahlfreiheit, Risikostrukturausgleich und wettbewerblicher Vertragspolitik den Arbeitgeberanteil auf die Hälfte des durchschnittlichen Beitragssatzes aller Krankenversicherungsträger festzulegen und entsprechend der Ausgabenentwicklung fortzuschreiben.
Meine Damen und Herren, wenn die große Deutsche Angestellten-Gewerkschaft angesichts der riesigen Herausforderungen, in denen wir sind, es für „diskussionswürdig" hält, den Arbeitgeberbeitrag an den durchschnittlichen Beitragssatz in der Bundesrepublik Deutschland anzubinden,
mit der Folge, daß Arbeitnehmer in all den Kassen, wo der Beitrag überdurchschnittlich ist, andere, also höhere Arbeitnehmeranteile zu tragen haben,
dann, sage ich, kann es keine Zerschlagung des Sozialstaats sein, wenn ein Bundesgesundheitsminister einen ähnlichen Vorschlag in die öffentliche Diskussion einbringt.
Ich sage noch einmal: Der Vorschlag ist nicht identisch mit dem der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft; aber auch er beschäftigt sich mit der Frage, ob es für die Zukunft möglich ist, zwischen der Höhe des Arbeitgeberbeitrags und des Arbeitnehmerbeitrags unter bestimmten Voraussetzungen zu differenzieren.
Zweitens. Es ist Gott sei Dank - der letzte Steuergipfel hat es gezeigt - Konsens, daß die hohen gesetzlichen Lohnnebenkosten in der Bundesrepublik Deutschland eine wesentliche Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit sind und daß deshalb die Politik ihre Aufgabe erfüllen muß, die gesetzlichen Lohnnebenkosten nicht nur zu stabilisieren, sondern im Laufe der Zeit zurückzuführen.
Bei diesem Steuergipfel wurde auch übereinstimmend festgehalten, daß dazu unter anderem das Instrument dienen kann, versicherungsfremde Leistungen nicht aus Beitragsmitteln, sondern aus Steuermitteln zu finanzieren. Aber es ist auch festgehalten, daß eine solche Umfinanzierung Reformen in den Sozialsystemen mit dem Ziel, die Finanzgrundlagen dieser Sozialsysteme zu stabilisieren, nicht ersetzen kann.
Meine Damen und Herren, wenn in diesen Tagen so viel von der Solidarität die Rede ist, dann, finde ich, sollten wir solche Grundsatzerklärungen, daß Reformen notwendig sind, viel ernster nehmen. Denn ich glaube, daß in der Bundesrepublik Deutschland im Moment ein ganz gehöriges Stück an ausreichender Solidarität mit den fünf Millionen Arbeitslosen fehlt.
Drittens. Wir in der Koalition haben auch den Auftrag, Reformen in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Stabilisierung der Finanzgrundlagen einzuleiten, durchgeführt. Das 1. GKV-Neuordnungsgesetz zur Stabilisierung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung ist bereits vom Deutschen Bundestag verabschiedet;
es muß die Hürde des Bundesrates noch nehmen.
Gegenstand dieses Gesetzes ist, daß künftig mit jeder Beitragserhöhung in der gesetzlichen Kranken-
Bundesminister Horst Seehofer
versicherung die Erhöhung der Zuzahlung bei dieser Krankenkasse verbunden ist.
Die Funktion dieser Koppelung von Beitrags- und Zuzahlungserhöhung ist erstens, bei den Krankenkassen dafür zu sorgen, daß sie vor einer solchen Beitragserhöhung alle Wirtschaftlichkeitsreserven ausnutzen, weil es auch moralisch nicht verantwortbar wäre, daß man auf der einen Seite nicht genügend Geld zur Versorgung kranker Menschen hat, aber auf der anderen Seite Geld für Unwirtschaftlichkeiten verschleudert,
zweitens aber auch, der gesetzlichen Krankenversicherung zu ermöglichen, mehr Mittel für diese Versorgung der Kranken aufzuwenden, wenn es der medizinische oder gesundheitspolitische Fortschritt nötig macht.
Nun habe ich monatelang die öffentliche Kampagne erlebt, daß mit dieser Koppelung Beitragserhöhung - Zuzahlungserhöhung eine Bestrafung der Kranken vorgesehen sei.
Deshalb zitiere ich ein zweites Schreiben, und zwar nicht aus irgendeiner Zeit, sondern vom 20. Februar dieses Jahres von der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen, unterschrieben von dem zur Zeit führenden Gewerkschaftler der deutschen Krankenkassen und vom Arbeitgebervertreter, an unseren Fraktionsvorsitzenden Dr. Wolfgang Schäuble.
Die Vertreter der sozialen Krankenversicherungen treten daher heute mit der dringenden Bitte an Sie heran, ... für den Fall, daß eine Zuzahlungsregelung als unvermeidlich angesehen wird, eine konkrete Obergrenze für Zuzahlungen politisch festzulegen und die Zuzahlungsregelung für die GKV-Versicherten in jedem Fall einheitlich zu gestalten.
Das ist heute die Position der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung. Denn sie haben auf Grund der Diskussion der letzten Monate eingesehen, daß, wenn wir für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung nicht ein Stück mehr Eigenverantwortung, und zwar sozialverträglich, einführen, dann für kranke Menschen dieser Versicherung das bestehende Leistungsniveau nicht mehr gewährleistet werden kann. Die Position der gesetzlichen Krankenversicherung ist, sich nicht mehr absolut gegen die Zuzahlung zu wenden, sondern sie für alle gesetzlichen Kassen einheitlich zu gestalten.
Viertens. Die Bundesregierung - unter diesem Titel steht ja auch diese Aktuelle Stunde - hat noch keine abgeschlossene Meinungsbildung zu meinem Vorschlag. Wir befinden uns in einem Meinungsbildungsprozeß. Wolfgang Lohmann hat dies für meine Fraktion und die Koalition gesagt. Bei einem so schwierigen Thema ist dies ein völlig selbstverständlicher Prozeß.
Die Lösung des Problems der Anbindung der Kosten der sozialen Sicherung an die Arbeitskosten ist so drängend geworden, daß es sich schon lohnt, sich darüber tiefere Gedanken zu machen, als das gelegentlich bei Reformen in der Bundesrepublik Deutschland geschieht.
Ich persönlich habe überhaupt keine Schwierigkeiten damit, daß darüber auch innerhalb meiner eigenen Fraktion eine kontroverse Diskussion stattfindet, solange diese auf der Basis sachlicher Argumente verläuft.
Herr Dreßler, freuen Sie sich nicht zu früh. Ich habe immer gesagt: Das ist mein Vorschlag. Mein Vorschlag lautet: Ich sehe für die Krankenkassen angesichts eines möglichen Finanzbedarfs an Stelle des Mechanismus, daß eine Beitragserhöhung eine Zuzahlungserhöhung bewirkt, die Option vor, diesen Finanzbedarf nur auf die Arbeitnehmer umzulenken. Das ist eine Option! Niemand zwingt die Kassen. Nichts kann in der gesetzlichen Krankenversicherung gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter bestimmt werden. Das heißt, wenn dies einmal bei irgendeiner Krankenkasse Realität werden sollte, müßten die Arbeitnehmervertreter dieser Krankenkasse zustimmen. Das ist, wie gesagt, eine Option.
Ich habe immer gesagt: Das ist mein Vorschlag. Ich halte seine Umsetzung für notwendig, um einmal für längere Zeit stabile Finanzgrundlagen für die gesetzliche Krankenversicherung zu schaffen. Wer den Vorschlag nicht umsetzen will, muß statt dessen - das habe ich in der Tat vor dem CDU/CSU-Bundesvorstand gesagt - eine adäquate Ersatzlösung anbieten.
Herr Dreßler, freuen Sie sich nicht zu früh. Ich bin sehr optimistisch, daß wir uns sowohl in meiner Fraktion als auch insgesamt in der Koalition auf eine für alle verträgliche Lösung werden verständigen können. Hier bin ich sehr optimistisch.
Mein letzter Punkt. Der Aspekt der Solidarität ist in dieser Diskussion wichtig. Ich hätte mir heute schon gewünscht, daß wir auch einmal über die Solidarität diskutieren, also darüber, weshalb die gesetzliche Krankenversicherung überhaupt geschaffen worden ist. Die Menschen verstehen unsere Diskussion über die Organisations- und Finanzierungsparität ja überhaupt nicht mehr.
Entscheidend ist, daß wir durch unsere Reform dazu beitragen, daß auch künftig Solidarität gegenüber jenen Menschen praktiziert werden kann, die krank oder behindert sind und über unsere gesetzliche Krankenversicherung auf höchstem Niveau versorgt werden sollen. Das ist wirkliche Solidarität und nicht das Funktionärsgeschwafel, das bei uns gele-
Bundesminister Horst Seehofer
gentlich schon eingerissen ist, indem wir nur noch über soziologische Begriffe und nicht mehr über die Menschen sprechen.
Herr Kollege Küster.
Frau Präsidentin! Wir haben uns jetzt eine Zeitlang Argumente angehört, die sehr wacklig waren. Sie wissen, daß wir eine eindeutige Regelung haben. Anlage 5 unserer Geschäftsordnung in Verbindung mit § 44 Abs. 3 der Geschäftsordnung erlaubt, daß wir über diese Ausführungen erneut debattieren. Ich beantrage also namens meiner Fraktion eine offene Aussprache über diese Dinge, die wir soeben gehört haben.
Ich fahre jetzt fort. Als nächste Kollegin Gudrun Schaich-Walch.
Verehrte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, es ist immer recht einfach, Briefe zu nehmen und sich aus denen einige Versatzstücke herauszugreifen, die einem in der Situation, in der man darüber redet, gut gefallen. Die Menschen, die zuhören, sind dann vielleicht zum Teil zutiefst davon beeindruckt, welche Stellungnahme eine Gewerkschaft überraschenderweise abgibt, und sie haben nicht die Chance, zu hinterfragen, warum diese Stellungnahme abgegeben wird.
Der Hintergedanke und die Diskussionsgrundlage bei der DAG ist doch die Tatsache, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Zeit umtreibt, daß nämlich die Arbeitgeber ihnen die Krankenkasse aussuchen, in denen sie versichert sind, und sie selber es nicht mehr können, weil man nicht nachschaut: Wie ist die Leistung? Wie ist man mit dem Service der Kasse zufrieden?, sondern: Welche ist letztendlich die billigere Kasse? Das heißt, man nimmt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Entscheidung ab. Das ist die Problemlage.
Dieses Modell hat mit Ihrem überhaupt keine Ähnlichkeit.
Sie haben vorgeschlagen: 60 Prozent zahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die gesamten Zuzahlungen für kranke Versicherte, die schon zum 1. Januar beschlossen sind, kommen noch einmal hinzu. 40 Prozent zahlt der Arbeitgeber. Das ist die tatsächliche Zerstörung der Parität. Das ist der eine Punkt.
Jetzt der nächste Punkt: Ihre Krankenkassen. Sie sagen auf einmal, die Krankenkassen seien mit einer Selbstbeteiligung einverstanden. Für die Krankenkassen im Wettbewerb bedeutet es eine Bedrohung, wenn die Zuzahlungshöhe an der Beitragssatzsteigerung der Krankenkassen festgemacht werden soll. Die Krankenkassen haben im Augenblick ein Defizit von 10 Milliarden DM. Dieses Defizit von 10 Milliarden DM resultiert aus Ihrer verfehlten Politik der letzten 14 Jahre und aus gar nichts anderem.
Die Krankenkassen müssen damit fertig werden. Krankenkassen, die bisher knapp kalkuliert haben, haben ein noch größeres Problem als andere. Wenn ich die DAK nehme, die ihre Beitragssätze vermutlich um 0,4 Prozent erhöhen muß, dann heißt das in der Realität: Eine Packung Arzneimittel, die jetzt für den Versicherten 4 DM kostet, kostet dann 8 DM, die für 6 DM wird dann 10 DM kosten, und die 8-DMPackung wird 12 DM kosten.
- Genau. Aber das ist der Punkt. Es ging den Krankenkassen darum, daß nicht jede Kasse eine andere Zuzahlung hat, daß es für die Apotheker nicht verschiedene Zuzahlungen gibt,
daß man den Wettbewerb mit diesem Instrument nicht unerträglich verschärft. Genau das machen Sie.
Es geht den Kassen nicht darum, Zuzahlungen reinzufahren, sondern es geht ihnen darum, daß sie Zuzahlungen, wenn sie sie schon nicht vermeiden können, möglichst niedrig und auf einem Niveau lassen. Das ist der Punkt.
Warum beschließen Sie dann überhaupt Zuzahlungen? Sie beschließen Zuzahlungen deshalb, weil Sie derzeit nicht den Mut zu irgendwelchen Reformen haben.
- Jawohl, ich habe Leute nach Bonn geschickt, damit hier etwas passiert, damit Sie den Unfug mit den Gestaltungsleistungen lassen, der den Leuten an die Substanz geht. Auch Ihre Zuzahlungen und Ihr Reha-Bereich gehen den Menschen, die krank sind, an die Substanz. Das müssen Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
Sie haben keinerlei Beschränkungen mehr im Arzneimittelbudget.
Sie hoffen, daß das mit der einvernehmlichen Arbeit der Ärzte funktioniert. Sie haben letztlich keine Begrenzungen bei den Anbietern mehr vorgesehen. Sie schaffen einfach durch Zuzahlungen von den Versi-
Gudrun Schaich-Walch
cherten Geld herbei und erdreisten sich dann noch, die Parität zu zerstören. Das ist wirklich der Gipfel.
Sie haben in den letzten Wochen und Monaten eine permanente Debatte geführt, die da lautete: „Wir haben eine Kostenexplosion", ohne zu berücksichtigen, daß wir einen Einnahmerückgang in erheblicher Höhe haben, auch aus der Arbeitslosigkeit heraus. Sie haben bewußt und sehr gezielt eine Kostenpanik erzeugt, um den Leuten unverzichtbare Notopfer vorgaukeln und diese anderen letztlich wieder an Gewinn zuspielen zu können. Das ist es, was Sie als Gerechtigkeit ansehen.
In Ihrer Vorlage finde ich nirgendwo einen Ansatz dafür, daß Sie wirklich Geld sparen. Das ist doch der Punkt. Das hätten Sie mit uns machen können. Es gibt aber keine Einsparungen. Sie beschaffen einfach neue Mittel.
Dafür haben Sie sich zwei Wege ausgesucht. Sie haben nicht nur den einen Weg gewählt, weil Sie sicher dachten, er sei unsicher. Es könnte vielleicht doch nicht so kommen, wie Herr Möllemann sagt: Wir müssen hundert Jahre Sozialversicherungsstruktur überwinden. Sie hatten vielleicht schon ein Gespür dafür, daß die Bevölkerung dies nach den Jahren Ihrer Regierung nicht einfach schluckt.
Sie haben sich einen zweiten Weg ausgesucht, der da heißt: Es gibt die Möglichkeit des Selbstbehaltes. Es gibt die Möglichkeit der Rückzahlung. Es gibt die Möglichkeit der Kostenerstattung. Das ist letztendlich der Weg, mit dem Sie dieses solidarische System zu einer privaten Krankenversicherung vergleichbar einer PKZ, nämlich einer Risikoversicherung, machen. Mit diesem Modell geben Sie die wichtigsten Säulen der Krankenversicherung auf. Sie geben das Prinzip auf, daß Junge für Alte, Gesunde für Kranke und diejenigen, die Arbeit haben, für die zahlen, die keine haben.
- Oh doch; denn Ihr Privatisierungsmodell hat folgenden Nachteil: Es gibt eine Gruppe von Versicherten, die sehr viele Leistungen benötigt. Diese Gruppe schließen Sie von Ihren Wohltaten, von der Rückerstattung, im Prinzip aus. Sie werden die Rückerstattung nämlich nie in Anspruch nehmen können - und das sind fast 90 Prozent.
- 90 Prozent der Leistungen werden von 10 Prozent der Versicherten in Anspruch genommen. Um diese Gruppe handelt es sich. Für diese Gruppe des Systems wird es massiv teurer. Das ist Ihr zweites Element.
Sie zerstören die Parität und machen aus der Solidarversicherung eine PKV, wissend, daß das Risiko besteht, daß die soziale Krankenversicherung als solche nicht mehr anerkannt wird, weil zu viele Privatisierungselemente enthalten sind. Das nehmen Sie letztendlich wissend in Kauf.
Sie hätten die Chance gehabt, die Rationalisierungsreserven in diesem System zu mobilisieren.
Dazu haben Sie nicht den Mut gehabt. Sie haben sich die Leute herausgesucht, von denen Sie glaubten, das Geld ohne viel Gegenwehr bekommen zu können. Sie haben sich nicht darauf konzentriert, die Situation zu beseitigen, daß wir in den Krankenhäusern immer noch hohe Fehlbelegungsraten haben, weil die ambulante Versorgung nicht verbessert ist. Sie haben nicht dafür gesorgt, daß Doppeluntersuchungen abgeschafft werden. Sie haben nicht dazu beigetragen, daß das Doktor-Hopping unterbleibt. Sie haben keine Koordinierung innerhalb der Krankenversicherung vorgenommen. Sie haben nicht die wirkliche Chance gegeben, neue Versorgungsmodelle zu erproben.
Sie haben nur eines gemacht: Sie, Herr Minister, haben in der Krankenversicherung in relativ kurzer Zeit ein unglaubliches Chaos herbeigeführt. Keiner Ihrer Vorgänger hat jemals so viele verunsicherte Patientinnen und Patienten zurückgelassen. Keiner hat je so viele protestierende Mitarbeiter aus Pflegeeinrichtungen und Gesundheitsberufen nach Bonn geholt.
Keiner von ihnen hat so viel Angst um Arbeitsplätze geschürt wie Sie.
In Hessen sind allein im Reha-Bereich im Januar über 1 700 Arbeitsplätze weggefallen.
Die Kollegin Babel von der F.D.P. hat vorgeschlagen, man könne dieses Problem lösen, indem man die Einrichtungen der BfA privatisiert, schlicht jemandem verkauft. Vor dem Hintergrund dessen, daß in Brandenburg gerade Einrichtungen schließen und das Land 100 Millionen DM aus Bürgschaften auf den Tisch zu legen und damit ganz massive Haushaltseinbußen hinzunehmen hat, frage ich mich: Kann ein solcher Vorschlag ernst gemeint sein? Damit werden doch schlicht die Leute auf den Arm genommen. Es wird ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Es wird gesagt: Verkauft etwas! Wer soll denn kaufen, was heutzutage auf Grund Ihrer Gesundheitspolitik an allen Ecken und Enden geschlossen wird?
Es spricht der Kollege Wolfgang Zöller.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion in unserer Fraktion über eine Option in der gesetzlichen Krankenversicherung - Beitragserhöhung plus Zuzahlung oder Beitragserhöhung nur für die Arbeitnehmer - war, wie ich finde, sehr sachlich und informativ. Wie die Diskussion allerdings in der Öffentlichkeit stattfindet, das hat mit einer Diskussionskultur nichts mehr zu tun.
Dort verhindern manche mit von vornherein festgelegten ideologischen Grenzpositionen eine zielgerichtete Diskussion: „Einstieg in den Ausstieg", „Politik auf Kosten der Kranken" und ähnliches.
Der Ehrlichkeit halber sollte man jedoch folgendes zur Kenntnis nehmen: Eine rein paritätische Finanzierung gibt es in der gesetzlichen Krankenversicherung schon heute nicht. Wir haben 1992 gemeinsam mit der SPD Zuzahlungen für Kranke festgelegt, zum Beispiel bei Arzneimitteln.
Die Zuzahlungsgrenze für Kranke lag bei 4 bzw. 2 Prozent des Bruttoeinkommens.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das heißt im Klartext, daß bei einem durchschnittlichen Beitragssatz von 13,4 Prozent der Kranke rund 30 bis 60 Prozent mehr zahlen mußte als ein Gesunder. Dies fanden die Sozialdemokraten sozialverträglich.
Aber den Optionsvorschlag, der den Kassen die Möglichkeit gibt, die Mehrkosten nicht allein auf die Kranken, sondern auf die Versichertengemeinschaft insgesamt zu verteilen, was zum Beispiel bei einer Beitragssatzerhöhung von 0,5 Beitragssatzpunkten zu einer Mehrbelastung von 7,5 Prozent führen würde, hält man für unsozial.
Ich weiß, daß manche ihre Schwierigkeiten mit Brutto und Netto haben, aber eines ist doch unbestritten: Wenn 30 bis 60 Prozent Zuzahlung für Kranke, mit der SPD zusammen beschlossen, solidarisch sind, dann können 7,5 Prozent kein Ausstieg aus der solidarischen Finanzierung sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ist es deshalb nicht überlegenswert, über folgende Alternative vorurteilsfrei zu diskutieren: Die Kassen bekommen die Möglichkeit, anstelle der Zuzahlung für Kranke eine Beitragserhöhung für eine Versichertengemeinschaft vorzunehmen. Diese Regelung führt dazu, daß die Lohnzusatzkosten vermindert werden. Wenn zum Beispiel das Ziel der Senkung der Arbeitslosenzahlen auf 5 Prozent erreicht wäre, könnte man
wieder zur bisherigen Finanzierung zurückkehren. Dies wäre auch ein Beitrag derer, die Arbeit haben und gesund sind, zugunsten der Arbeitslosen.
Des weiteren bietet diese Option den Kassen die Möglichkeit, einen Teil von notwendigen Beitragserhöhungen nach wie vor paritätisch und den Rest über die Arbeitnehmer zu finanzieren.
Und noch ein Hinweis: Diese Regelungen können nur mit Zustimmung der Versichertenvertretung erfolgen. Lassen Sie uns doch mit etwas mehr Ehrlichkeit den sinnvollen Weg gemeinsam suchen.
Da ich das Wort „Ehrlichkeit" ausgesprochen habe, muß ich sagen, daß ich von Ihnen, Frau Schaich-Walch, etwas enttäuscht bin, weil Sie gesagt haben, man erreiche mit dem Aufheben des Arzneimittelbudgets, daß einer bestimmten Klientel mehr Geld zukomme. Sie kennen sich so gut aus, daß Sie genau wissen, daß mit Einführung der Richtgrößen gerade das Gegenteil erreicht wird.
Wozu führte denn unser Arzneimittelbudget? Es führte dazu, daß es Ende des Jahres plötzlich zu einer Rationierung kam: Man hat im November/Dezember bestimmte Arzneien nicht mehr verordnet mit dem Ergebnis, daß die Patienten sie voll bezahlen mußten. Man hat also ausgegrenzt.
Herr Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?
Nein.
- Vielleicht darf ich erst einmal den Gedanken zu Ende führen, der Frau Schaich-Walch betrifft. Dann können wir gerne darüber sprechen.
Das hat dazu geführt, daß das Budget wirkungslos war, weil dann wieder nachverhandelt wurde. Viele Ärzte haben sich gefragt, warum sie sich wirtschaftlich verhalten sollten. Wenn sich das Kollektiv der Ärzte nämlich nicht so verhält, wurde der einzelne Arzt ohnehin mit in Haftung genommen. Das hat also zu einer unwirtschaftlichen Verhaltensweise geführt.
Deshalb sind die Richtgrößen wesentlich zielgerichteter und vor allem wesentlich gerechter, weil sie den Arzt betreffen, der sich nicht an die in Frage kommenden Richtgrößen hält. Sie haben noch einen weiteren Vorteil: Mit Richtgrößen können zeitnahe Entscheidungen getroffen werden. Das heißt im Klartext: Der Arzt sieht täglich, wöchentlich, monatlich, ob und wie er sich im Rahmen seiner Richtgrößen verhält. Bisher - seien wir doch ehrlich - hat er beim Arzneimittelbudget ein halbes Jahr später erfahren, welche Budgetsumme er überhaupt zur Verfügung hatte.
- Das ist sehr ärgerlich und deshalb auch nicht zielführend. Sie werden mir zugestehen, daß Richtgrö-
Wolfgang Zöller
ßen mit Sanktionen für den einzelnen Arzt sinnvoller und gerechter als ein Arzneimittelbudget mit einer Kollektivhaftung sind. Deshalb sollten wir ehrlich nach besseren Lösungen suchen.
Ich danke Ihnen.
Als nächste Rednerin die Kollegin Monika Knoche.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Nichts liegt mir ferner, als zu bestreiten, daß es Reformnotwendigkeiten im Gesundheitswesen gibt. Aber ich möchte eine grundsätzliche Bemerkung machen. Wir können zielgerichtet zur Verbesserung der Qualität und zur sinnvollen Steuerung der Mittel eine Gesundheitsreformpolitik nur dann betreiben, wenn wir die Basis ihrer Finanzierung und den Kerngehalt erhalten, nämlich die solidarische Risikoabsicherung.
Dazu gehört die beitragshälftige Finanzierung durch die Arbeitgeber. Sie haben in der Tat die Verantwortung für die Zukunft der Sozialstaatlichkeit und für die Weiterentwicklung der Sicherungssysteme zu tragen. Die Tatsache, daß die Massenarbeitslosigkeit und das Wachstum ohne Beschäftigung die eigentliche Krise der gesetzlichen Krankenkassen bewirkten, legitimiert in keinster Weise, die Arbeitgeber jetzt großzügig zu bedienen und aus der Verantwortung zu entlassen.
Wenn ich Ihnen zuhöre, stelle ich immer wieder eine Süffisanz fest, mit der Sie zum Ausdruck bringen, weil Sie in den letzten Jahren die Antwort auf die Einnahmekrise bei den gesetzlichen Kassen nicht gegeben haben und schon deshalb sukzessive aus der Parität ausgestiegen sind, macht es doch jetzt nichts aus, diesen Weg einfach fortzuschreiben.
Nein, heute geht es wirklich um einen qualitativen Unterschied. Es ist richtig, die Zuzahlung hat immer nur die Kranken belastet, aber heute aus dem System der Parität auszusteigen - -
- Doch, Sie haben es für mehr als nur diskussionswürdig erachtet. Es geht um die Frage: 40 oder 60 Prozent. Wenn Sie das zu einer Zuschußregelung erklären, dann wird alles, was sich an weiteren Kostensteigerungen ergibt, einseitig nur zu Lasten der
Versicherten gehen. Das ist dann ein anderes System.
Wenn es ein ernsthaftes Bemühen gäbe, dieses System zu erhalten, dann würden Sie sagen, daß in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit die Verbreiterung und die Stabilisierung der Finanzierung dieses Systems gefragt sind. Genau das aber tun Sie nicht. Sie könnten es tun. Wir haben Vorschläge für die Finanzierung: Schaffen Sie ein Stück mehr Gerechtigkeit, indem Sie die Beitragspflicht und die Bemessungsgrenze an die der Rentenversicherung angleichen!
Schaffen Sie ein Stück mehr Gerechtigkeit, und privilegieren Sie nicht die schon ohnehin Privilegierten durch eine Politik für die privaten Kassen! Machen Sie bitte sehr folgenden Schritt: Beziehen Sie die Selbständigen und die Beamtinnen und Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung ein! Wir bräuchten dann keine einzige Diskussion um Zuzahlungen mehr zu führen.
Die vorhandenen enormen Potentiale nutzen Sie nicht. „Rationalisierungspotentiale" wäre der falsche Begriff. Es sind Potentiale zur Qualitätsverbesserung in der gesamten Gesundheitsversorgung durch Zusammenführung des ambulanten und des stationären Bereichs.
Jedes Jahr gehen Versichertengelder in Höhe von 20 Milliarden DM verloren.
Sie erreichen keine Qualitätssteigerung - im Gegenteil. Jetzt haben Sie auch im ambulanten Bereich vor, die Budgetierung zu streichen und ihn völlig steuerungslos zu machen.
Ich werde jetzt wieder ein bißchen ruhiger. Ich könnte mich in dieser Frage unglaublich echauffieren. Sie betonen so sehr die Auswirkungen auf die Lohnnebenkosten durch Maßnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Dies ärgert mich deshalb so sehr, weil Ihnen in sämtlichen Sachverständigenanhörungen die ökonomischen Wahrheiten gesagt werden.
Die Lohnnebenkostenentwicklung, die Beitragsentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung sind nicht das Problem. Das Gesundheitswesen ist ein großer Dienstleistungssektor mit hochqualifizierten Arbeitsplätzen. Bei den Kassen sind insgesamt 2 Millionen Menschen beschäftigt, im gesamten Gesundheitswesen nahezu 4,5 Millionen Menschen.
Auf Grund Ihrer Kürzungsgesetze der zurückliegenden Zeit haben Sie real Arbeitsplätze vernichtet.
Monika Knoche
Da frage ich mich: Wie können Sie das noch mit Beitragsstabilität und Lohnnebenkosten begründen?
Gehen Sie doch mal in die Regionen und schauen Sie sich an, was sich in den Krankenhäusern und im Kurbereich abspielt! Es gehen nicht nur Arbeitsplätze verloren, sondern es geht auch eine kochentwickelte Kultur der Rehabilitation verloren.
Diese Punkte betreffen nicht nur das Finanzierungssystem, das wir heute zum Thema haben, sondern auch die Entwicklungsfähigkeit der Gesundheitspolitik insgesamt, da wir daran interessiert sein müssen, die Patientinnen und Patienten auf einem hohen Niveau alle gleich zu versorgen.
Es geht nämlich wirklich um das Grundprinzip der Gleichstellung im System. Die Gleichstellung und die Chancengleichheit der Menschen im Gesundheitssystem sind nur auf der Basis einer breiten Solidarversicherung zu erreichen. Anders geht es nicht.
Insofern besteht die Frage, ob Ihnen bürgerrechtliche Ideale in Zeiten der Krise etwas wert sind. Denn nur soziale Systeme können Chancengleichheit herstellen.
Ich will jetzt noch etwas zu dem Konflikt, der sich innerhalb der CDU entwickelt hat, sagen.
Die Grundfeste der sozialen Marktwirtschaft zum Spielkampf eines Richtungsstreites innerhalb der CDU zu machen zeigt mir auf sehr dramatische Weise, wohin die Republik treibt: Die radikalen Systemveränderungen werden in der Koalition im Machtkampf entschieden.
- Sie haben hier doch ein Plädoyer für ein marktradikales Prinzip gehalten.
Herr Möllemann, ich verstehe sehr gut, welches System Sie sich vorstellen. Aber ich sage Ihnen: Hier ist nicht Amerika. Hier ist Deutschland. Wir wollen keinen Thatcherismus.
- Ja, wir wollen Arbeitsplätze. Wir wollen vor allen Dingen auch die Arbeitsplätze im Gesundheitswesen erhalten, Herr Kollege.
Es wäre doch falsch, nicht zuzugeben, daß sich in der CDU ein Paradigmenwechsel vollzogen hat.
Das, was sich durch die Diskussion, die zum Teil sehr präzise war, zeigt, ist doch, daß es in der CDU einen enormen Verfall alter Werte gegeben hat.
Was so aussieht wie ein Richtungsstreit oder eine Machtfrage zwischen den jungen und den alten Sozialpolitikern, geht wirklich an die Substanz des Sozialstaatsverständnisses als solches, auch wenn Sie hier heute oder vielleicht in den nächsten Tagen sagen, Sie werden die Entscheidung nicht treffen. Wir wissen, daß das erst das Vorgeplänkel war. Wenn diese Diskussion nicht eindeutig als Tabubruch zurückgewiesen wird, wenn Sie in der CDU nicht selber sagen, daß Sie bei dem alten Prinzip bleiben, dann, so kann ich mit großer Sicherheit sagen, war das erst der Anfang. Wenn Sie sich nicht dafür entscheiden, solche Begehrlichkeiten zurückzuweisen, werden wir in der nächsten Legislaturperiode die Auswirkungen eines vollkommen anderen Staatsverständnisses erleben.
Ich möchte daran erinnern: Alles, was in der Gesundheitsstrukturpolitik von Ihrer Seite zurückgenommen worden ist, rührt daher, daß Sie sich vollkommen verschätzt haben in der Frage, was die Bevölkerung noch alles zu erdulden bereit ist. Die Betroffenen - die Krankengymnastinnen und Krankengymnasten, die Masseurinnen und Masseure - wissen, daß es an ihre Existenz geht. Die Verbände der Patientinnen und Patienten haben dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen, weil sie wissen wollten: Welches System wollt ihr uns zumuten? Wie groß soll der Abstand in der Zweiklassenmedizin denn noch werden? - Erst als Sie gemerkt haben, daß Sie Ihre eigene Klientel verprellen, sind Sie ein Stück zurückgegangen.
Was Sie im weiteren vorhaben, ist nicht sehr viel besser. Aber an dieser Stelle haben Sie den Druck der Bevölkerung gespürt und gemerkt, daß die Kultur des Sozialen ein fest verankerter Wert in der Gesellschaft ist, den die Gesellschaft nicht preisgibt. Sie haben nicht das Recht, diesen Konsens mit Ihrer Kanzlermehrheit aufzukündigen. Sie haben bei der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von den Gewerkschaften gelernt: Wenn Sie an das Rückgrat der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland gehen, dann werden Sie sich kräftig verheben.
Herr Hubert Hüppe hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte mir gewünscht, heute endlich einmal konkrete Vorschläge von der Opposition zu hören:
Vorschläge zur Sicherung der Sozialsysteme oder zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
- Hören Sie lieber zu, da können Sie wenigstens noch etwas lernen. Sie sollten solch wichtige Beiträge nicht unterbrechen.
Statt dessen müssen wir uns wieder einmal darüber unterhalten, was die Opposition auf jeden Fall nicht tun will.
- Die Menschen werden Sie auch daran messen, ob Sie Gegenvorschläge haben. Die hätten Sie heute einmal auf den Tisch legen müssen.
Herr Hüppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?
Gerne.
Herr Kollege Hüppe, da Sie die in Gesetzesform vorliegenden Vorschläge der SPD-Bundestagsfraktion offenbar nicht zur Kenntnis nehmen wollen: Darf ich anbieten, Ihnen die in Broschürenform, mit Bildern versehen, zukommen zu lassen?
Frau Kollegin, ich denke, daß Sie diese Frage nicht ernst gemeint haben.
Aber ich glaube schon, daß Sie Bilder brauchen, um Ihre Forderungen der Bevölkerung klarzumachen. Hier in dieser Debatte hat die SPD, angefangen bei Herrn Dreßler, keinen konkreten Vorschlag gemacht, wie wir dieses System verbessern und wie neue Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden können.
Sie sollten sich angesichts der Arbeitslosenzahl von 4,7 Millionen fragen, welchen Eindruck die Menschen davon haben müssen, daß Sie die wichtige Zeit, die wir zur Durchsetzung von Reformen bräuchten, hier mit solch polemisch geführten Debatten vergeuden.
Denn es geht doch um diese Menschen, wenn wir versuchen, die Lohnnebenkosten zu senken, ohne gleichzeitig ein Loch in das soziale System zu reißen.
Ich sage das ganz deutlich: Diese beiden Ziele sind und bleiben Grundlage unserer Reformbemühungen. Wenn ich mich auf die Gesundheitspolitik beziehe - nur darum geht es heute -, dann muß ich jede Möglichkeit und jede Alternative durchdenken.
Auch ich war Arbeitnehmer. Ich war sogar Sprecher der Jugendvertreter. Es fällt mir überhaupt nicht leicht, über eine Option innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung nachzudenken, wonach notfalls Beitragserhöhungen - allerdings nur mit Zustimmung der Arbeitnehmerseite - allein von den Arbeitnehmern zu tragen sind.
Mir ist auch nicht leichtgefallen, zuzustimmen - ich will, daß das deutlich wird -, daß Zuzahlungen für bestimmte Leistungen möglich werden. Gerade deshalb wird in unserer Fraktion so intensiv diskutiert. Sie hätten dabeisein sollen, Frau Knoche, dann hätten Sie lernen können, welche Diskussionskultur wir dort pflegen.
Was ich nicht akzeptieren kann, ist, wenn kranke, behinderte oder alte Menschen nicht mehr Zugang zu allen medizinischen Leistungen haben sollen. Das ist die entscheidende Frage.
Ich kann mich als Arbeitnehmervertreter nicht damit abfinden, wenn wegen immer höher werdender Lohnnebenkosten immer mehr Menschen keinen Arbeitsplatz finden. Das würde im übrigen noch mehr Probleme für die Sozialversicherung bedeuten. Daher ist es schon mehr als opportunistisch, wenn Sie als Opposition auf jeder Demo - seien es die Masseure, die Krankengymnasten oder das Pflegepersonal - lauthals fordern, es dürfe keine Einschnitte bei den Gesundheitsleistungen geben, und sich heute als Kläger aufspielen, wenn wir um Wege zum Erhalt und zur Finanzierung dieses Gesundheitssystems ringen. Das sollten Sie sich anhören.
Nennen Sie doch die Alternativen!
- Sie sagen: Es muß noch mehr Leistungen geben, es dürfen keine Gesundheitsberufe belastet werden, und es soll noch weniger Geld ausgegeben werden. Aber Sie sagen nicht, wie Sie die Leistungen bezahlen wollen. Das ist keine Politik.
Wer wie Sie behauptet, das System sei nur noch durch eine weitere Budgetierung zu retten, vielleicht sogar nur durch ein Globalbudget, wird, ob er will
Hubert Hüppe
oder nicht - ich unterstelle Ihnen ja gar nicht, daß Sie das wollen, aber es ist faktisch so -, den Weg in die Rationierung gehen.
Schon das Arzneimittelbudget hat gezeigt, daß nicht selten am Jahresende auch notwendige Maßnahmen nicht mehr verordnet wurden. Wer leidet denn am meisten darunter, wenn solche Maßnahmen nicht mehr verordnet werden? Es sind gerade die Schwachen, die sich am wenigsten dagegen wehren können.
Herr Hüppe, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Wenn sie sachlicher ist als die erste, gern.
Ist sie jetzt konditioniert oder unkonditioniert?
Unkonditioniert.
Verehrter Kollege Hüppe, Sie haben gesagt, wir würden mit dem Globalbudget Rationierungen vornehmen. Ich möchte Sie fragen: Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß seit dem 1. Januar 1997 Ihr sogenanntes Beitragsentlastungsgesetz Rationierungen vorsieht, indem für die Jahrgänge 1979 und später in Zukunft kein Zuschuß mehr zum Zahnersatz und für Kronen gewährt wird? Ist das keine Rationierung? Oder wie nennen Sie das, was Sie bereits ins Gesetz geschrieben haben?
Herr Kirschner, ich dachte, Sie hätten eine Frage gestellt, zu der Sie eine ehrliche Antwort erwartet hätten.
Sie wissen selber, daß wir sagen: Wir wollen Prophylaxemaßnahmen. Diese haben wir bei der Zahnpflege von Kindern und Jugendlichen eingeführt. Wir haben gesagt: Wo es trotzdem nicht vermieden werden kann, zum Beispiel bei Unfällen oder genetischer Veranlagung, soll auch weiterhin gezahlt werden.
Wir haben die Gruppen schützen wollen, damit keiner der Rationierung unterliegt und eine notwendige Maßnahme nicht verordnet bekommt. Deswegen enttäuscht mich Ihre Frage. Sie wissen das genau und haben unsere Argumentation oft genug gehört.
Meine Damen und Herren, es würde die Schwachen treffen; denn das wären diejenigen, die sich am wenigsten gegen den Arzt wehren könnten, der ihnen eine Leistung nicht verschreibt. Das wären diejenigen, die sich auch am wenigsten gegen die Krankenkassen wehren könnten. Die Krankenkassen sind
nämlich gar nicht daran interessiert, die Schwachen weiter bei sich zu versichern. Auf der anderen Seite wissen Sie doch so gut wie ich - Sie haben die Zahlen doch auch gelesen -, daß die Budgetierung im letzten Jahr nicht zu weniger Kosten, sondern zu einer Kostensteigerung geführt hat. Wenn ich das weiß, dann kann ich doch nicht den falschen Weg weitergehen.
Die Budgetierung war für einen begrenzten Zeitraum ein richtiger Schritt. Zugegebenerweise war sie eine Notbremse. Aber als Kollektivhaftungsmaßnahme auf alle Zeit taugt sie eben nicht. Das haben wir erkannt, und deswegen haben wir neue Wege - zum Beispiel die Richtgrößen - beschritten.
Um es noch einmal klarzustellen: Wir wollen mit unseren Maßnahmen erreichen, daß die Beiträge nicht steigen - weder für die Arbeitgeber noch für die Arbeitnehmer. Wir wollen erreichen, daß die Krankenkassen endlich selbst die Wirtschaftlichkeitsprüfung in die Hand nehmen. Die Instrumente dafür sind im Gesetz längst vorhanden. Wir wollen erreichen, daß die Krankenkassen von selber anfangen, die Kosten zu minimieren. Aber eine Krankenkasse, die meint, sie bräuchte das auch weiterhin nicht zu tun, wird sich zukünftig nicht am Markt halten, und zwar nicht, weil die Politik sie bestraft, sondern weil sie bei unwirtschaftlichem Verhalten von ihren Mitgliedern verlassen wird.
Darin liegt der Unterschied zum Beispiel zur Rentenversicherung. Deswegen kann unser Ansatz auch kein Einstieg in eine Veränderung der Rentenversicherung sein. Denn dort können die Mitglieder eben nicht frei entscheiden, wo sie sich rentenversichern. Vielmehr sind sie entweder an die LVA oder an die BfA gebunden. Unser Ansatz ist also kein Beispiel für andere Sozialversicherungssysteme - zumindest ist das mit mir nicht zu machen.
Wer ernsthaft will, daß die Lohnnebenkosten - gerade bei den Klein- und Mittelbetrieben - und damit die Arbeitslosenzahlen nicht weiter steigen, wer will, daß das medizinisch Notwendige weiterhin für alle in der bisherigen Qualität geleistet werden kann, der kann sich keine Denkverbote leisten.
Herzlichen Dank.
Der Kollege Jürgen Möllemann hat noch einmal das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf einen Sachverhalt hinweisen, der eingangs erwähnt wurde und der für uns den Ausgangspunkt dieser Debatte darstellt. Im Augenblick haben wir bei jeder Mark Lohn, die von Betrieben in Deutschland bezahlt wird - ich rede jetzt wieder einmal von den kleineren und mittleren, denn die beschäftigen mehr als drei Viertel der Menschen -, 86 Pfennig Lohnzusatzkosten. Das ist weltweit die höchste Quote; es gibt in keinem anderen Land so
Jürgen W. Möllemann
viele Lohnzusatzkosten, die die Betriebe aufbringen und in Rechnung stellen müssen. Einen erheblichen Anteil an diesen Lohnzusatzkosten machen die sozialen Sicherungssysteme aus.
Ludwig Erhard, dessen Geburtstag vor einigen Tagen gefeiert wurde, hat gesagt, er habe große Zweifel, ob es sinnvoll sei, einen Automatismus zu entwikkeln, nach dem jede Veränderung in den sozialen Sicherungssystemen die Lohnzusatzkosten automatisch verteuern würde. Dieser Automatismus rächt sich jetzt, weil ganz einfach mehr und mehr kleine und mittlere Betriebe nicht mehr dagegen ankommen.
Davon kann man in der Tat auf verschiedene Weisen herunterkommen. Eine Weise ist, zu sagen: Wir klammern eine Reihe von heutigen Leistungen dieser sozialen Sicherungssysteme aus und finanzieren sie über Steuern. Wenn man das will, dann wird man schon sagen müssen, welcher Spielraum noch für Steuersenkungen bleibt. Anders gesagt: Wenn man das beispielsweise - wie es Herr Schröder und andere sagen - über eine erhöhte Mehrwertsteuer machen will, kann man doch fragen, wer die wohl bezahlt. Ist das dann noch Parität auf seiten der Betriebe, oder ist es nicht doch eine Verlagerung der Schwerpunkte hin zu den Beschäftigten? Geschieht das nicht heute schon durch den Bundeszuschuß zur Arbeitslosenversicherung? Geschieht das nicht schon durch die Inanspruchnahme eines Feiertags bei der Pflegeversicherung? Geschieht das nicht durch den riesigen Zuschuß - 69 Milliarden DM - zur Rentenversicherung? Deswegen kann ich nicht nachvollziehen, daß hier ein Popanz aufgebaut wird, als gäbe es die Parität bei den Gesamtleistungen. Es gibt sie nicht. Es wäre ja auch ganz fatal, wenn auch noch diese Beträge von den kleinen und mittleren Betrieben aufgebracht werden müßten.
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will, betrifft die Behauptung, im ersten Neuordnungsgesetz und in der Debatte um das zweite seien keine strukturellen Veränderungen vorgesehen, die eine effizientere Verwendung der Mittel beinhalten. Genau das Gegenteil ist der Fall: Künftig soll es den Leistungserbringern und den Kassen möglich sein, stringenter vorzugehen. Aber auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben eine ganze Reihe von Leistungen im System halten wollen - da besteht in einigen Bereichen Konsens -, und eine Reihe von Leistungen, die möglicherweise Kosten erhöhen, sind - wenn ich das richtig verstanden habe - auch von Ihnen gewollt: Das gilt für den Wegfall von Gestaltungsleistungen und Pflichtleistungen; das gilt für die Verbesserung der Einkommenssituation der Hebammen; das gilt, wenn ich das richtig sehe, beim Hospiz; das gilt auch - Sie wollen doch auch nicht, daß künftig die Leistungserbringer in den ärztlichen Berufen in dem Moment, in dem sie eine Leistung erbringen, gar nicht wissen, was sie dafür bekommen - für floatende Punktwerte. Es ist doch unwürdig, zu sagen: Arbeite ruhig fleißig! Du wirst nach drei Monaten hören, was du dafür bekommst. - Wir wollen deshalb feste Punktwerte, damit auch die in diesen Berufen Beschäftigten in dem Moment, in dem sie ihre Leistung erbringen, wissen, was sie dafür bekommen.
Es bleiben also nur die folgenden Möglichkeiten: Erstens. Man reduziert den Leistungskatalog; das lehnen Sie ab. Zweitens. Steuerfinanzierung. Da bin ich einmal gespannt, welche Steuern Sie dafür heranziehen wollen. Die dritte Alternative, von der wir hier sprechen, ist die alleinige Anlastung von Mehrausgaben bei den Versicherten respektive höhere Selbstbeteiligung. Aber auch die höhere Selbstbeteiligung wird nicht von den Betrieben mitfinanziert.
Ich finde deshalb, daß diese Diskussion, die ganz klar erkennbar mit Blick auf den kommenden Sonntag angezettelt worden ist, nicht ehrlich geführt wird, daß sie in der Sache nichts bewegt
und daß sie davon ablenkt, daß wir den vielen Arbeitslosen keine Antwort geben können, wenn wir nicht an die Ursache der Arbeitslosigkeit gehen. Sie wollen den kleinen und mittleren Betrieben weiter die große Last aufbürden, die sie heute tragen müssen. Damit sind wir nicht einverstanden.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Lange.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Geißler ist nicht hier, aber ich habe sein Interview mitgebracht. Wer sich die Ausgabe der „Zeit" heute morgen geholt hat, kann die Überschrift „Wir müssen uns wehren" lesen. Er hat recht!
In dem Interview gibt es einen Passus, meine Damen und Herren von der Koalition, der wie ein Hammer ist. Ich empfehle Ihnen, ihn nachzulesen. Herr Geißler sagt:
Die Partnerschaft in unserem Sozialsystem ist noch immer ein wichtiger Standortvorteil.
Er sagt das mit Blick auf die Entscheidung: paritätische Finanzierung - ja oder nein.
Er sagt in dem Interview weiter:
Deshalb müssen wir uns wehren gegen die altliberale Atmosphäre,
- wie alt sie ist, weiß ich nicht; sie erscheint mir auch eher neu -
die die Parole ausgibt:
- jetzt wird es sehr interessant -
Brigitte Lange
Je weniger Sozialstaat, desto mehr Arbeitsplätze. Eine völlig unbewiesene These.
Ich darf das für Sie wiederholen: „Je weniger Sozialstaat, desto mehr Arbeitsplätze. Eine völlig unbewiesene These." Woran haben Sie eigentlich 15 Jahre lang gearbeitet?
War nicht „Standort, Standort über alles" Ihr Kredo, schlug nicht die F.D.P. den Trommelwirbel und wärmte so alte Theorien wie die Pferdeäpfel-Theorie - Wirtschaft füttern, dann fällt vielleicht etwas ab - auf?
Alle Reformen der letzten Zeit wurden von dieser chaotischen Theorie bestimmt. Erfolge hatten Sie keine.
Wir haben frühzeitig vor dem Desaster gewarnt. Wir haben es nicht deswegen getan, weil wir einen „Sozialhelferfimmel" haben, wie es in einer Zeitung zu lesen war und weil Sozialpolitiker immer schreien. Nein, wir haben dies getan, weil wir Entwicklungslinien gesehen haben und weil Ihre Politik zwangsläufig auf die Grundsatzfragen zuführen mußte: Sozialstaat - ja oder nein? Soziale Versicherung - ja oder nein?
Ganz klar entschieden hat sich die F.D.P.: Sie sagt nein. Elemente paritätisch finanzierter Versicherungen sind für sie verzichtbar. „Eine zu überwindende Hürde" hat Herr Sohns gesagt; er meint damit, daß die CDU/CSU sie noch nicht überspringen könne. Die hessischen Wahlen lassen grüßen; denn nicht Ihre Überzeugung bestimmt Ihr Verhalten, sondern die Angst, was die hessischen Wählerinnen und Wähler am 2. März dazu sagen könnten. Aber ich sage Ihnen: Selbst wenn Sie von der Abschaffung der paritätischen Finanzierung absehen würden - gegen Ihre Überzeugung, aus Angst -, bleiben Ihre Folterinstrumente erhalten. Wir brauchen für ein soziales, solidarisches System eben nicht nur die paritätische Finanzierung, sondern auch die solidarische Finanzierung.
Nachdem mit Ihrer Chaosreform das Sachleistungsprinzip, der einheitliche gesetzliche Leistungskatalog und alle Versicherten gleich betreffende Beitragssätze unter die Räder geraten sind, haben Sie völlig andere Instrumente eingebracht, die ebenso gefährlich sind. Mit den Elementen Selbstbehalt, Kostenerstattung und Beitragsrückzahlung hebeln Sie die solidarische Versicherung aus.
Ein hochexplosiver Sprengsatz des sozialen Systems ist die Koppelung von Beitragserhöhungen mit einer drastischen Anhebung der Selbstbeteiligung, die ausschließlich von Kranken bezahlt werden muß. Wenn man das noch mit der Möglichkeit eines Kassenwechsels verbindet, dann ist klar, daß ausschließlich Gesunde die Kassen wechseln können
und daß diejenigen, die in den Kassen verbleiben, die durch weniger Einnahmen entstandenen Lasten tragen werden.
Sie haben einen ausschließlich marktorientierten Wettbewerb eröffnet, gegen den - entgegen Ihren Aussagen - auch die paritätisch besetzten Verwaltungsgremien machtlos sein werden. Was Sie hier betreiben, ist ein Schwarzer-Peter-Spiel. Sie haben nicht mehr den Mut, sich mit den Anbietern auseinanderzusetzen. Sie haben nicht den Mut, eine wirksame Kostenbegrenzung vorzusehen.
Deswegen sind es dann die Krankenkassen, in deren Belieben es gestellt wird, Beiträge zu erhöhen oder nicht.
- Das ist die Frage. Für sehr lernfähig halte ich Sie jedenfalls nicht mehr. Das ist richtig.
Sie haben uns immer das Märchen von der Kostenexplosion erzählt, um keine Wege finden zu müssen, die Kosten tatsächlich einzugrenzen, und die Belastungen einseitig auf die Versicherten zu schieben. Was von mir als besonders perfide empfunden wird, ist, daß Sie diese ganzen Gesetze unter die Überschrift „Förderung von Wachstum und Beschäftigung" gestellt haben. Recht haben Sie: Die Arbeitslosigkeit ist gewachsen. Die Förderung bestand darin, daß Menschen, die Arbeit hatten, in die Arbeitslosigkeit befördert worden sind.
Deutlich wird das im Reha-Bereich. Besonders Hessen als ein Land, das sehr viele Kur- und RehaEinrichtungen anbietet, ist davon heftig betroffen.
- Nein, Herr Möllemann. Ich habe Veranstaltungen besucht. Ich bin im Gegensatz zu Ihnen und den hessischen Abgeordneten von der CDU/CSU und der F.D.P., die sich geweigert haben, den Aufruf meiner Kollegin Barbara Imhof zu unterschreiben, in dem es um Arbeitsplätze geht, die dort abgebaut werden - und das in strukturschwachen Gebieten, in denen keine Alternative besteht -, zu den Menschen hingegangen.
- Entschuldigen Sie! Gesundheit ist ein riesiger Markt. Da werden viele Arbeitsplätze gesichert. Aber eine Bundesregierung, die in einem Gesetz Ar-
Brigitte Lange
beitsplatzabbau beschließt, hat es vorher noch nicht gegeben.
Frau Lange, kommen Sie zum Schluß.
Im Gegensatz zu Ihren Versprechungen haben Sie weder die Lohnnebenkosten gesenkt noch die Beiträge stabilisiert,
weder die Einnahmeseite verbessert noch die Ausgaben begrenzt. Sie haben die Gesundheitsreform völlig an die Wand gefahren.
Ich sage Ihnen eines: Wenn Bundeskanzler Kohl in Hessen nicht überall dafür geworben hätte, die hessischen Kommunalwahlen zur Richtungswahl über diese Politik zu machen, würde ich es gar nicht erwähnen:
Witzigerweise hat er den Ratschlag erteilt, keine Leute zu wählen, die gelogen haben. Dazu fällt mir eine Menge ein; ich denke, den Wählerinnen und Wählern auch.
Das Wort hat die Kollegin Editha Limbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht ohne Konzept, aber ohne schriftliches Konzept.
Vorhin hat die Kollegin Knoche gesagt, sie würde sich echauffieren. Ich will Ihnen einmal sagen, worüber ich mich echauffiere: Seit über einer Stunde reden wir im Grunde - das gilt insbesondere für die linke Seite des Hauses - nur über theoretische Dinge.
- Ja, das will ich Ihnen sagen. Sie sind für mein Gefühl nicht ehrlich,
weil Sie nämlich etwas ganz Wichtiges auslassen. Sie setzen zwar an einem Punkt an, an dem es um Lösungsfragen für schwierige Probleme geht, über die man unterschiedlicher Meinung sein kann. Sie leugnen aber den Grund für diese Diskussion, für die es sogar mehrere Gründe gibt.
Ich erlaube mir einmal einen zu nennen, der vielleicht ein wenig vordergründig ist: Wir hätten uns diese Diskussion heute sparen können, wenn die im vorigen Jahr auf den Weg gebrachte dritte Stufe der Gesundheitsreform nicht im Bundesrat blockiert worden wäre.
Es ist ja immer so: Wohltaten zu verteilen ist leicht, aber notwendige Konsequenzen aus veränderten Situationen zu ziehen ist sehr schwer.
Ich habe hier vermißt, daß man den Menschen einmal ehrlich sagt, welche Gründe denn zu unseren Überlegungen führen, am Gesundheitssystem etwas zu verändern - wie übrigens auch an anderen Systemen, die wir haben. Daß es Reformbedarf gibt, kann man eben nicht nur theoretisch abhandeln. Statt dessen muß man den Menschen sagen: Wenn auch in Zukunft ein älterer Mensch oder einer, der kein Geld hat, eine notwendige Herzoperation, eine Hüftoperation oder sonst irgendeine teure Leistung bekommen soll, müssen wir uns überlegen, bei welchen weniger teuren Leistungen wir verlangen können, daß die Bürgerinnen und Bürger, denen es erfreulicherweise - sofern sie Arbeit haben - heute besser als vor 10 oder 20 Jahren geht, mehr bezahlen, als es vielleicht früher nötig war. Das ist leider unausweichlich, weil es eine Konsequenz des Systems ist.
Wir müssen den Menschen auch sagen: Die veränderte Altersstruktur unserer Bevölkerung hat - so erfreulich es ist, daß die Menschen älter werden und länger leben - für die Zahl derer, die im Erwerbsleben stehen - nicht nur, aber auch wegen der Arbeitslosigkeit -, Konsequenzen, wenn die Menschen auch im Alter noch eine vernünftige und finanzierbare Gesundheitsvorsorge bekommen sollen. Das läßt sich nicht voneinander trennen. Immer nur zu sagen „Alles bleibt wie es ist; ihr kriegt alles, was nötig ist; zu bezahlen braucht es aber im Grunde keiner" führt dazu, daß man immer neue, abstrakte Kühe, die man melken kann, erfindet.
Frau Limbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
- Nein, sehen Sie, genau das ist der Punkt. Wir haben seinerzeit in Lahnstein mit Ihnen einen Kompromiß gesucht. Im Bereich der Finanzierung von Medikamenten war Ihre Idee: Zuzahlung statt Festbeträge. Das war nicht unsere Idee. Wir haben es natür-
Editha Limbach
lich in einem Kompromiß - bei dem bekanntlich der eine gibt und der andere nimmt und umgekehrt - mitgetragen. Es ist doch eigentümlich: Wenn Sie einen Vorschlag zur Zuzahlung bei Medikamenten durch die Kranken machen - wer soll die Medikamente denn sonst bezahlen als der, der ein Medikament braucht, weil er krank ist? -, ist es eine große soziale Tat. Wenn die CDU/CSU es vorschlägt, dann schreien Sie Zeter und Mordio, dann ist es Lastenverteilung - nach oben oder nach unten, wie es Ihnen gerade gefällt. Das ist das, was mich ärgert, was mich echauffiert: die nicht stringente Diskussion und die Unehrlichkeit, die darin steckt.
Ich denke, das haben unsere Bürgerinnen und Bürger nicht verdient.
Da in der Rede der Kollegin Lange deutlich wurde, daß Sie die Debatte heute im wesentlichen dazu benutzen, möglicherweise noch etwas im hessischen Wahlkampf zu erreichen,
kann ich nur sagen: Das erschreckt mich vollends. Denn es kann doch wohl nicht wahr sein, daß Entscheidungen deshalb getroffen werden, um den Leuten angst zu machen, sie könnten in Zukunft die Kosten zur Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit nicht mehr bezahlen. Einen solchen Eindruck kann man gewinnen, wenn man mit solchen Zahlen arbeitet, wie Sie es hier getan haben, zum Beispiel was das Kurwesen angeht. Es ist denen, die im Ausschuß sind, schon mehrfach vorgerechnet worden: Wenn es 30 oder 60 Prozent Rückgang geben sollte - wie behauptet wird -, dann kann das aber nicht daran liegen, daß es etwa 8 Prozent Rückgang auf Grund der veränderten Situation in der Krankenversicherung gibt. Das muß dann andere Gründe haben. Denen muß man nachgehen und für Abhilfe sorgen, wenn man kann. Man darf das aber nicht für Wahlkampfparolen mißbrauchen.
Als letzter in dieser Aussprache hat der Kollege Ottmar Schreiner das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst einige Sätze an den Kollegen Möllemann richten, weil ich glaube, daß er - wie so häufig - wirklich mit gezinkten Karten spielt. Lieber Kollege Möllemann, Ihr strategisches Ziel ist nicht die Entlastung der mittelständischen Wirtschaft. Ihr strategisches Ziel ist die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme. Das werde ich Ihnen nachzuweisen versuchen.
Wenn Ihr Ziel die Entlastung des Mittelstandes wäre, dann müßten Sie sich hier zu dem Vorwurf erklären, warum die Koalition seit vielen, vielen Jahren gesamtstaatliche Aufgaben primär über die Erhöhung der Arbeitskosten und damit über die Belastung des Mittelstandes finanziert und bis zur Stunde nicht bereit ist, auch nur einen einzigen Pfennig dieser Kosten zurückzunehmen.
Sie finanzieren den größten Teil der deutschen Einheit seit 1991 über eine massive Erhöhung der Lohnnebenkosten und damit zu Lasten des Mittelstandes. Sie sind bis zur Stunde nicht bereit, davon auch nur eine müde Mark zurückzunehmen.
Sie haben eine öffentliche Diskussion über die Reduktion, die Abschaffung des Solidarzuschlags angezettelt, der einzigen Finanzierungsart, die auch Teile Ihrer eigenen Wählerschaft berührt. Wenn es wirklich Entlastungsmöglichkeiten bei der Finanzierung der deutschen Einheit gäbe, dann müßten Sie vorschlagen - wenn es mit dem Mittelstand ernst gemeint ist -, den Solidarzuschlag innerhalb der Sozialversicherungssysteme abzuschwächen, zu reduzieren und abzuschaffen. Das machen Sie gerade nicht. Was Sie betreiben, ist eine reine Klientelpolitik zugunsten Hochverdienender und Hochvermögender. Das ist die ganze Kunst, die Sie hier zelebrieren. Das kleiden Sie in schmuckes Beiwerk.
Lieber Herr Kollege Möllemann, der zweite Punkt, um den es geht, ist: Wenn Sie über Mittelstand wirklich ernst reden würden, dann müßten Sie über die Probleme des Risikokapitals reden, dann müßten Sie darüber reden, warum die deutschen Banken bei der Bereitstellung von Krediten für junge Menschen, die sich selbständig machen wollen, nur sehr zögerlich sind - das gibt es in keinem anderen Land. Über all diese Dinge reden Sie kein Wort. Sie vergießen Ihre Krokodilstränen ausschließlich im Bereich der Arbeitskosten.
- Die machen hier ein Geschrei, das ist ja ungeheuerlich.
Lieber Herr Kollege Möllemann, es gibt die segensreiche Einrichtung der Heiligsprechung. Wenn es die Einrichtung der Scheinheiligsprechung gäbe, wären Sie der erste Kandidat.
Das kann ich Ihnen nach all dem, was ich hier gehört habe, wirklich sagen. Sie wären der erste Kandidat und hätten gute Aussichten, das hinzukriegen.
Ottmar Schreiner
Sie haben vor wenigen Tagen gesagt, es gehe darum, 100 Jahre deutsche Sozialversicherung zu überwinden.
Sie wollen von der hälftigen Finanzierung zugunsten einer grundlegenden Änderung der Paritäten abweichen. All dies ist nichts anderes als der Hinweis auf die von Ihnen gewünschte Privatisierung. Das ist überhaupt keine Frage, das ist Ihr strategisches Kernziel. Wer die deutsche Sozialversicherung überwinden will, will sie privatisieren. Es ist doch überhaupt keine Frage, daß das Ihr Ziel ist. Sie sollten zumindest so ehrlich sein, diese strategische Zielsetzung hier einzuräumen; dann hätten wir eine faire Diskussionsgrundlage, auf der man reden kann. Dazu fehlt Ihnen der Mut. Sie sind zu feige, Ihr eigentliches Ziel zu offenbaren und als Diskussionsgrundlage zur Verfügung zu stellen.
Herr Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?
Ja, ich will den Kollegen Möllemann gerade eben mal fragen, ob er mir zustimmt,
daß ein primär privat organisiertes Gesundheitssystem wie in den Vereinigten Staaten von Amerika über 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes kostet, während ein überwiegend staatlich organisiertes Gesundheitssystem wie in Deutschland gerade mal 8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes kostet. Welche Kostengründe treiben Sie eigentlich, in Deutschland die Privatisierung voranzubringen?
Jetzt ist der Fragesteller, Jürgen Möllemann, an der Reihe.
Bitte sehr, Herr Kollege Möllemann, Sie haben jetzt die Möglichkeit, im Rahmen einer Gegenfrage meine Frage zu beantworten.
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie mit Rückendeckung Ihrer Fraktion erreichen wollen, daß ich gleich noch einmal ans Rednerpult gehe und mich zur Sache äußere, dann will ich das gerne tun, aber nur mit der Maßgabe, daß das so akzeptiert wird. Aber so weit kommt es nicht, daß
Sie mir eine Frage stellen, wenn ich mich zu einer Frage melde - bei allem Respekt.
Ich frage Sie angesichts Ihrer Behauptung, ob Sie vielleicht nicht richtig gelesen haben oder ob Sie absichtsvoll falsch zitiert haben.
Sie haben behauptet, ich hätte gesagt, ich wollte 100 Jahre Sozialversicherung überwinden. Ich habe gesagt: Es gilt, die bestehende Sozialversicherungsstruktur zu verändern.
- Nein, das ist schon ein Unterschied.
Ich habe damit gemeint - und möchte Sie fragen, ob Sie bereit sind, das zur Kenntnis zu nehmen -, daß der Automatismus, der dazu führt, daß bei jeder Erhöhung der Kosten in einem der Sozialversicherungssysteme automatisch die Lohnzusatzkosten - sprich: die Arbeitskosten - erhöht werden, verhängnisvoll ist in einer Situation, in der wir darum ringen, daß gerade in Klein- und Mittelbetrieben bestehende Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden können. Können Sie sich dieser Logik nicht anschließen?
Herr Kollege Möllemann, ich bin gerne bereit, Ihre rabulistischen Bemühungen zur Tarnung Ihrer wahren Absichten zur Kenntnis zu nehmen.
Im übrigen gibt es von seiten der sozialdemokratischen Fraktion etliche Vorschläge zur Entlastung der Arbeitskosten, die dem Parlament vorliegen. Wir haben einen langen Antrag vorgelegt, der immerhin zu einer Entlastung der Arbeitskosten mit einem Gesamtvolumen von rund 30 Milliarden DM im Bereich der Arbeitslosenversicherung führen würde. Wir haben immer wieder, ähnlich wie der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker, öffentlich darüber nachgedacht, ob es nicht einen Sinn machen würde, die deutsche Einheit in den nächsten Jahren überwiegend über einen Lastenausgleich zu finanzieren. Es macht überhaupt keinen Sinn, die Einheit primär über die beitragszahlenden mittelständischen Betriebe, über die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu finanzieren. Im gleichen Atemzug schafft diese Koalition - meine Güte! - die Vermögensteuer für Hochvermögende gänzlich ab. Was hat das noch mit einer gerechten Finanzierung zu tun, was hat das noch mit einer zusätzlichen Belastung der Arbeitskosten zu tun?
Wenn Sie es wirklich gewollt hätten, hätten Sie in den letzten Jahren Dutzende von Gelegenheiten gehabt, die Arbeitskosten im Sinne von wirklich systemimmanenten, vernünftigen Reformen abzusenken. Sie haben all diese Vorschläge von uns abgelehnt. Sie betreiben hier nichts anderes als Rabuli-
Ottmar Schreiner
stik. Sie sind die Speerspitze der Privatisierung der deutschen Sozialsysteme. Dazu sollten Sie stehen; dann hätten wir eine faire Diskussionsgrundlage.
Meine Damen und Herren, wenn Sie die Umfinanzierung wollen, wenn Sie die paritätische Finanzierung aufgeben - das ist doch völlig klar -, dann wollen Sie - sonst macht das Ganze überhaupt keinen Sinn - einen Teil der Lasten auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich abwälzen, und zwar zu Lasten der verfügbaren Einkommen. Sonst machen die ganzen Überwälzungsstrategien von Ihnen und Ihrem neuen Kompagnon Seehofer überhaupt keinen Sinn. Wenn das aber richtig ist, dann provozieren Sie in der nächsten Zukunft Tarifkonflikte, Verteilungskonflikte, wie dieses Land sie noch nicht gesehen hat.
Dagegen wäre die Auseinandersetzung um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eine gesetzgeberische Posse allererster Güte, geradezu ein müdes Beispiel im Vergleich zu dem, was in den nächsten Jahren an Verteilungskämpfen auf diese Republik zukommt.
Meine Güte: Bei 5 Millionen Arbeitslosen treiben Sie die Tarifparteien mit Ihren abenteuerlichen und verantwortungslosen Vorschlägen in eine absolut provokative Situation.
Ich will Ihnen noch ein Letztes sagen.
- Nein, nein. - Sie haben doch den sehr verehrten Herrn Seehofer
auf das dünne Eis Ihrer eigenen Vorschläge gelockt.
Anschließend hat Herr Solms gesagt, von diesen Vorschlägen könne man sehr schnell wieder herunterkommen. Jetzt sitzt Herr Seehofer mit seinem schmalen Hintern auf dem dünnen Eis;
er sitzt dort weiterhin.
Sie haben ihn dorthin gelockt, Sie haben sich entfernt, und er sitzt dort.
Nun sage ich dem Herrn Seehofer, der sich offenkundig als Sozialpolitiker verabschiedet hat und dem
augenscheinlich die Ehrenmitgliedschaft in der F.D.P. winkt:
Lieber Herr Seehofer, mich erinnert das an einen alten Reim des berühmten Liedermachers Franz Josef Degenhardt.
DPr hat einmal gereimt: Spiel nicht mit den - -
- Ja. -
Lieber Herr Kollege Möllemann, um den Reim für Herrn Seehofer verständlich zu machen, bitte ich Sie um das Einverständnis, daß es nicht ehrenrührig ist, Sie als sozialpolitisches Schmuddelkind zu bezeichnen, daß das eher eine Ehrenbezeichnung ist, angesichts der Absichten, die Sie verfolgen.
Dann macht Degenhardt einen Sinn, bezogen auf Herrn Seehofer:
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder!
Geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder!
In die Oberstadt hat sich inzwischen wieder Herr Geißler in der neuesten Ausgabe der „Zeit" abgeseilt; versuchen Sie einmal, ihm zu folgen.
Schönen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erteile das Wort jetzt unserem Kollegen Professor Martin Pfaff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gründungsväter der sozialen Krankenversicherung haben mit genialer Einfachheit einige Grundprinzipien, einige Fixsterne festgelegt, die für den Erfolg dieses Exportschlagers Deutschlands, nämlich der sozialen Krankenversicherung, verantwortlich waren: Das ist das Bedarfsprinzip bei der Inanspruchnahme, das ist das Solidarprinzip bei der Finanzierung, das ist das Sachleistungsprinzip, und das ist die paritätische Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Es ist ein Zeichen der Hilflosigkeit, ein Zeichen dafür, daß Sie mit Ihrem Latein wirklich am Ende sind, daß Sie alle
Dr. Martin Pfaff
diese Grundprinzipien jetzt ohne Not zur Disposition stellen.
Sie stellen ohne Not das Bedarfsprinzip bei der Inanspruchnahme in Frage, daß Prinzip, daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Krankheitsfall Leistungen nach dem Bedarf und eben nur nach dem Bedarf und nicht nach der Dicke der Geldbörse in Anspruch nehmen soll.
Sie erhöhen die Zuzahlungen, die weder Ausgaben steuern noch sozialverträglich sind. Wenn sie sehr hoch angesetzt sind, haben sie sehr negative Wirkungen. Wir wissen, daß die Selbstbeteiligung zwar insgesamt nicht steuert, sich aber um so härter auswirkt, je geringer die Einkommen sind.
Wenn Sie das zu akzeptieren bereit sind, dann sollten Sie gleich sagen: Wir schaffen die soziale Krankenversicherung ab. Wir sind nicht bereit, Ihnen auf diesem Weg zu folgen.
Sie privatisieren die Finanzierung, Sie privatisieren die Leistungen. Heute reden wir über die paritätische Finanzierung. Es ist sehr sinnvoll, daß die Arbeitgeber ein vitales Interesse an den Ausgaben für die Gesundheit haben. Es ist sehr sinnvoll, daß sie sich um die Arbeitsunfähigkeit, die Fehlzeiten Sorgen machen und für eine Humanisierung der Arbeit auch im Eigeninteresse sorgen.
Es ist zum zweiten sehr sinnvoll, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einer Gesellschaft, wo sie einander im Arbeitsmarkt als Widerpart gegenüberstehen, in der gesetzlichen Krankenversicherung parallele Interessen haben. Das ist eine Qualität unserer Gesellschaft, die Sie schlicht und einfach ignorieren. Wir sagen: Auch auf diesem Wege sind wir nicht bereit, Ihnen zu folgen.
Zur Privatisierung der Finanzierung und zur Kostenerstattung. Sie geben vor, Sie wollten die Freiheit der Versicherten erhöhen, Sie wollten die Information verbessern. In Wirklichkeit unterlaufen Sie die Kontrollfunktion der Kassenärztlichen Vereinigung, der Kassenzahnärztlichen Vereinigung. Im Endeffekt zeigt jede Empirie: Kostenerstattungssysteme sind teurer. Kostenerstattungssysteme mit Beitragsrückgewähr sind ein Instrument der Starken und nicht der Schwachen, der Jungen und nicht der Alten, der Alleinstehenden und nicht der Familien. Auch das privatisieren Sie ohne Not.
Ohne Not stellen Sie das Prinzip der solidarischen Finanzierung in Frage. Sie grenzen die Prävention als Regelleistung aus. Sie haben für bestimmte Generationen den Zahnersatz als Regelleistung ausgegrenzt. Sie privatisieren auch auf der Leistungsseite.
Herr Möllemann, einige wenige Worte zu Ihnen. Die Befunde, die uns vorliegen, zeigen doch, daß die Sozialleistungsquote seit einigen Jahrzehnten durchaus konstant ist. Sie zeigen auch, daß der Anteil der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch die Arbeitgeber eher leicht gesunken, aber sicher nicht gestiegen ist. Das zeigt die Empirie.
- Kommen wir doch einmal zu Ihrem Thema der Lohnzusatzkosten. Sie sind zu hoch, weil Sie den Beitragszahlern völlig mißbräuchlich die Kosten der deutschen Einheit aufgehalst haben.
11 Milliarden DM im Rahmen des Fremdrentengesetzes, Auffüllbeträge für Ostdeutschland in einer Höhe von Hunderten von Millionen DM, Mittel im Rahmen des Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes usw. wurden auf die Beitragszahler umgelegt. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Ich möchte von Ihnen niemals mehr das Klagelied über die Lohnnebenkosten hören, wenn Sie nicht bereit sind, diese Fehlfinanzierung zu beseitigen.
- Herr Möllemann, wir wollen die Energiesteuer erhöhen und die Arbeitskosten reduzieren. Wir wollen eine ökologische Steuerreform, die es uns ermöglicht, die Arbeitskosten und die Beiträge zu senken. Wenn Sie das wirklich ernst meinen, was Sie sagen, dann sollten Sie an dieser Front kämpfen.
Es wurde schon vorhin der plastische Vergleich zwischen den USA und Deutschland angestellt. Herr Möllemann, bei einer Tagung von BMW in Washington, bei der ich die Ehre hatte, einer der drei eingeladenen Referenten zu sein, kam ein Vertreter der Ford Motor Company zu mir und sagte: Herr Professor Pfaff, was Sie uns über das deutsche Gesundheitswesen geschildert haben, ist völlig richtig. Wenn wir dieses System in Amerika hätten, würde mein Kleinwagen, mein Mittelwagen bzw. mein Großwagen um etliche Hunderte Dollar billiger sein. Sie sind wettbewerbsfähig, weil Sie ein hervorragendes Gesundheitswesen haben und weil Sie ein hervorragendes System der beruflichen Ausbildung haben.
Dies wollen Sie zur Disposition stellen.
Dr. Martin Pfaff
Ich fasse zusammen: Die Rezeptur, die Sie jetzt anbieten, führt in die Irre.
- Nein, ich orientiere mich an dem, was wir in der Wirklichkeit vorfinden.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ja, ich komme gerne zum Schluß, wenngleich unter den jetzigen Rahmenbedingungen keine Redebeschränkung existiert.
- Also doch. In Ordnung.
Herr Möllemann, ich fasse zusammen: Wenn es wirklich so wäre, daß das eine oder andere aus den Rezepten, die Sie uns wie saures Bier anbieten, die Systeme kosteneffektiver und verteilungsgerechter machen würde, dann könnten wir mit Ihnen sachlich darüber streiten. Die Realität ist, daß die Instrumente der Privatisierung und der Entsolidarisierung das System weniger kosteneffektiv und weniger verteilungsgerecht machen. Dafür sind wir nicht zu haben.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, man muß sich in dieser Debatte zunächst einmal mit Nachdruck mit den Positionen von Herrn Möllemann auseinandersetzen. Ich finde es in der Zwischenzeit in der Tat unerträglich, wie Herr Möllemann mit einem leichten Tremolo in der Stimme und mit ernster Besorgnis vorträgt - sei es, daß man morgens den Deutschlandfunk anschaltet, sei es, daß man hier der Diskussion zuhört -, daß am kommenden Monatsanfang die Zahl der offiziell bekanntgegebenen Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland um oder über fünf Millionen liegen wird.
- Herr Möllemann, auch mir macht das große Sorgen. Ich halte es für einen Skandal, daß dieser Tatbestand eintritt.
Was ich aber für schamlos halte, ist, daß Sie in allen Diskussionen den Eindruck erwecken, als hätten
Sie - Ihre F.D.P. und die Regierungskoalition - mit diesem Tatbestand überhaupt nichts zu tun.
Sie regieren seit über 14 Jahren in diesem Land. Sie tragen die Verantwortung für den höchsten Steuerbelastungssatz in der Geschichte dieser Republik. Sie tragen die Verantwortung für die höchste Beitragsbelastung in der Geschichte dieser Republik. Sie tragen die Verantwortung für die höchste Arbeitslosigkeit in dieser Republik.
Was ich darüber hinaus für schamlos halte - das will ich auch noch sagen -, ist, daß Sie den Eindruck erwecken, als würde Ihr Vorschlag der Entkoppelung der Arbeitgeberbeiträge den Arbeitslosen und der Beschäftigungssituation in diesem Lande helfen. Ich halte das schlicht für schamlos, was Sie da tun.
Ich will eine zweite Position von Ihnen ansprechen, Herr Möllemann. Sowohl Sie als auch Herr Seehofer sind hier in dieser Debatte aufgetreten und haben von „ernstzunehmenden Vorschlägen" gesprochen, die Sie gemacht haben.
- Ich habe Sie nicht beleidigt.
Nun lese ich Ihnen eine Tickermeldung von gestern vor, in der festgehalten wird:
Spitzenpolitiker der Koalitionsparteien, Union und F.D.P., sind bereit, auf den Vorschlag einer einseitigen Belastung von Arbeitnehmern zur Finanzierung der Krankenkassen zu verzichten.
Ihr Fraktionsvorsitzender hat das, wofür Sie hier massiv eingetreten sind, faktisch gestern offiziell von der politischen Bühne genommen, weil Sie natürlich genau wissen, daß mit dieser Position für eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus der Union - Herr Geißler ist hier schon zitiert worden; ich kann Ihnen Herrn Keller und eine ganze Reihe anderer nennen -
- Vogt - ein Endpunkt in der Diskussion erreicht ist. Dazu will ich nur sagen, daß diese Kolleginnen und Kollegen der Sozialausschüsse in der Union kräftig aufgefordert werden, bei ihren Positionen zu bleiben. Denn nur wenn sie bei ihren Positionen bleiben, kann verhindert werden, daß Sie sich mit Ihren konzeptionellen Vorschlägen - da kann ich Herrn Stoi-
Gerd Andres
ber zitieren: „die Partei der sozialen Kälte " - in einer solchen Debatte überhaupt durchsetzen können.
Nun möchte ich etwas zu Herrn Seehofer sagen. Ich halte das, was Herr Seehofer hier in der Zwischenzeit präsentiert hat, wirklich für tragisch. Wer einmal beobachtet, wie sich die gesundheitspolitische Debatte entwickelt hat, der muß eigentlich feststellen, daß Herrn Seehofer seit 1994, seit Herr Möllemann in den Gesundheitsausschuß gekommen ist, Stück für Stück das Rückgrat herausgenommen wurde.
Um das einmal zu belegen, will ich Herrn Seehofer zitieren. Zum Thema Leistungskatalog hat Herr Seehofer im Jahre 1995 erklärt:
Es besteht ein hohes Maß an Übereinstimmung darüber, daß der Leistungskatalog, den wir heute haben, im Grunde ein notwendiger und auch qualitativ hochwertiger Leistungskatalog ist.
Ein zweites Zitat aus diesem Jahr - das ist ja noch nicht lange her -:
Das, was wir heute haben, ist der Leistungskatalog der Zukunft.
Alles Geschwätz von gestern.
Zum Thema Selbstbeteiligung Zitat Seehofer:
Ich halte die Selbstbeteiligung der Versicherten für ausgereizt; Selbstbeteiligung hat keine Steuerungswirkung, sondern ist reine Einnahmenbeschaffung. Wenn jemand Einnahmen beschaffen will, ist es zutiefst unsozial, daß er die chronisch Kranken belastet . . .
Ihre heutige Position hat damit überhaupt nichts mehr zu tun.
Nun sage ich zum Abschluß: Herr Seehofer, was ich geradezu für zynisch halte, ist, daß Sie sich hier hinstellen und erklären, die Entkoppelung der Arbeitgeberbeiträge sei sozusagen die Alternative zu einer höheren Selbstbeteiligung. Das, was Sie den Menschen und den Kassen anbieten, ist nichts anderes als die Auswahl zwischen Pest und Cholera.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich sage Ihnen, Herr Seehofer: Wenn Sie noch ein Stück Rückgrat haben, dann werden Sie dafür sorgen, daß Ihre eigene Glaubwürdigkeit bei dem, was Sie überall öffentlich erklärt haben, ernstgenommen wird. Wenn sich das, was sich hier ankündigt, durchsetzt, muß die Konsequenz sein, daß Sie Ihren Hut nehmen und das Amt des Bundesgesundheitsministers abgeben, schon aus eigener Selbstachtung vor dem, was Sie bisher vertreten haben.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Grießhaber, Marieluise Beck , Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elternurlaub als Zeitkonto gestalten - Drucksache 13/4526 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Arbeit und Sozialordung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildegard Wester, Christel Hanewinckel, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Elterngeld und Elternurlaub für Mütter und Väter
- Drucksache 13/6577 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unsere Kollegin Hildegard Wester.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
So steht es in Art. 6 Abs. 2 unseres Grundgesetzes.
In Art. 18 der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes heißt es:
Die Verfassungsstaaten bemühen sich nach besten Kräften, die Anerkennung des Grundsatzes sicherzustellen, daß beide Elternteile gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind.
Meine Damen und Herren, ich wähle diesen Einstieg in meine Rede, um deutlich zu machen, daß es nicht ausreicht, Konventionen zu ratifizieren oder
Hildegard Wester
sich ständig auf das Grundgesetz zu berufen. Nein, es muß auch in der gesellschaftlichen Realität und vor allen Dingen in den politischen Förderungen und Vorhaben deutlich werden, daß der Wille der Umsetzung solch hehrer Gedanken vorhanden ist. Genau diesen Willen vermisse ich in dem Bereich der Familienpolitik, hier konkret bei der Gesetzgebung zum Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.
Auf internationaler Ebene liegt jetzt ein neues Dokument vor, die EU-Richtlinie zu der Rahmenvereinbarung der europäischen Tarifpartner über Elternurlaub. In den Erläuterungen der EU-Kommission zu dieser Richtlinie heißt es:
Wenn beide Elternteile erwerbstätig sind, erhalten sowohl der Vater als auch die Mutter einen Anspruch auf Elternurlaub. Beide Elternteile können von diesem Recht zur selben Zeit Gebrauch machen.
Die gemeinsame Verantwortung beider Elternteile für die Kinder bedeutet dagegen für die Bundesregierung und die Familienministerin auch heute noch, nach jahrelanger zäher Diskussion: Der eine Teil geht seiner Erwerbstätigkeit nach, und der andere - in der Regel: die andere - bleibt zu Hause. Derjenige, der arbeitet, ist - das braucht man eigentlich nicht mehr zu erwähnen - der Mann.
Sehr häufig werden von den Frauen nebenher ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse eingegangen. Diese versetzen sie zwar in die Lage, einen Beitrag zum Unterhalt der Familie zu leisten; sie selbst sind aber weder für den Augenblick noch für die Zukunft in irgendeiner Weise sozial abgesichert.
Auch vor dieser Tatsache verschließt die Bundesregierung die Augen. Sie verkennt die Realität in vielen Familien und wird zum Hemmschuh für die echte Chance, die grundgesetzlich geforderte gemeinsame Pflege und Erziehung der Kinder ausüben zu können.
Auch die Forderung der UNO-Konvention, daß beide Elternteile für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sein sollen, ringt der Bundesregierung nur die Bemerkung ab, dies sei nur in einer „intakten" Ehe verwirklichbar. Hier wird wieder einmal deutlich, daß es jenseits der Vorstellungskraft der Bundesregierung liegt, daß auch in sogenannten intakten Familien ein Kind in der Regel nur von einem Elternteil erzogen wird, nämlich von der Mutter.
- Ich erkläre Ihnen das jetzt, falls Ihnen entgangen ist, was ich damit meine.
Wir haben es in unserer Gesellschaft nämlich mit einem Phänomen zu tun, das man die vaterlose Gesellschaft nennt. Mehrere unabhängige Untersuchungen haben ergeben, daß sich die Väter nach der Geburt eines Kindes noch mehr ihrer Berufstätigkeit widmen als zuvor; sie machen noch mehr Überstunden. Viele Väter haben nach der Geburt eines Kindes einen Karriereaufstieg zu verzeichnen. Während die Mutter ihre Arbeitszeit nach der Geburt eines Kindes
in der Regel drastisch reduziert, ist der Vater wöchentlich 2,5 Stunden mehr an seinem Arbeitsplatz vorzufinden.
Das heißt: In den Familien, in denen der Mann der Haupternährer ist, fällt er als Bezugsperson für sein Kind mehr und mehr aus. Aber Kinder brauchen beide Elternteile, und sie haben - das habe ich gerade zitiert - auch ein Recht darauf. Sie brauchen sie für ihre Rollenidentifikation, als Lernmuster für das Verhalten in bestimmten Situationen wie zum Beispiel zum Erlernen von Konfliktlösungen, Entscheidungsstrategien, Durchsetzungsvermögen und vieles andere mehr.
Weil ein Elternteil für die Erziehung eines Kindes nicht ausreicht, wollen wir den Erziehungsurlaub zu einem Elternurlaub und das Erziehungsgeld zu einem Elterngeld fortentwickeln, wie es auch die EU- Richtlinie. vorsieht. Im Gesetz soll künftig deutlich werden, daß Kindererziehung die Sache beider Elternteile ist.
Daß die Väter als Erziehungsperson stärker in den Hintergrund treten, liegt sicher auch an der katastrophalen Arbeitsmarktsituation: Die Menschen, die Arbeit haben, stehen unter wachsenden Zwängen und Ängsten, aus denen heraus sie Forderungen nach kürzeren, weil familienfreundlichen Arbeitszeiten kaum zu stellen wagen. Die, die außen vor sind, wären froh, wenn sie wenigstens in Teilzeit arbeiten könnten. Diese außen vor Stehenden sind wieder einmal zu einem großen Teil Frauen, die - obwohl zunehmend gut qualifiziert - trotzdem hauptsächlich Erziehungsarbeit leisten.
In einer solchen Situation, in der sich ein Lösungsstrang aus familien- und arbeitsmarktpolitischen Erfordernissen und auch aus verfassungsrechtlicher Sicht quasi aufdrängt, verharrt die Bundesregierung, wie bei vielen anderen Fragen auch, wieder einmal in Untätigkeit. Was läge eigentlich näher, als endlich einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der es beiden Elternteilen ermöglicht, für die partnerschaftliche Erziehung und Betreuung ihrer Kinder ihre Erwerbsarbeit zu reduzieren?
Es schadete niemandem, aber es würde vielen nutzen: den Kindern, die beide Bezugspersonen hätten, den Vätern, die den Teil ihrer Persönlichkeit nicht unterdrücken müßten, der eine familiäre Verantwortung jenseits der Existenzsicherung übernehmen will, den Müttern, die über den familiären Bereich hinaus ihre Fähigkeiten einsetzen und zu ihrer Existenzsicherung beitragen könnten, der Wirtschaft, die auf die wertvolle Ressource gut ausgebildeter Frauen nicht zu verzichten brauchte.
Zwar geht neuerdings der Bundeskanzler mit der Zauberformel „Teilzeitarbeit gegen Arbeitslosigkeit" hausieren - ich nehme an, das hat er von uns gelernt -, aber daß dies auch konkret realisiert werden kann,
Hildegard Wester
muß sich vielleicht auch noch bis zu ihm durchsprechen.
- Das nehme ich auch an.
Konkret heißt dies: Es muß möglich werden - das ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Antrages -, daß beide Eltern gleichzeitig während der Zeit des Erziehungsurlaubs ihre Arbeit reduzieren. Sie müssen einen Rechtsanspruch darauf haben, denn nur so ist sicherzustellen, daß dem einzelnen Arbeitnehmer oder der einzelnen Arbeitnehmerin die Reduzierung der Arbeit auch ermöglicht wird. Gleichzeitig müssen sie das Recht haben, auf ihren alten Vollzeitarbeitsplatz zurückzukehren, wenn die Zeit des Erziehungsurlaubs vorüber ist.
Weil Familienarbeit die Sache beider Eltern ist, müssen auch beide Eltern von dem Kündigungsschutz während der ersten drei Lebensjahre des Kindes profitieren können. Es ist mir völlig unverständlich, warum die Bundesregierung an ihrer starren 19Stunden-Regelung festhält, die festschreibt, daß die erziehungsgeldberechtigte Person nur bis zu 19 Stunden pro Woche arbeiten kann. Der andere Elternteil kann aber praktisch unbeschränkt bis zur gesetzlichen Möglichkeit von 60 Stunden pro Woche arbeiten. Dies liegt weder im Interesse des Kindes noch in dem der Eltern. Es scheint mir ein rein ideologisches Festhalten an alten Normen und Werten zu sein, das nicht mehr zu den Vorstellungen und Wünschen der Menschen und zu den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft paßt.
Anders kann ich Ihre Mitteilung, Frau Dempwolf, an den Petitionsausschuß nicht interpretieren.
- Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, wenn Sie zusätzlich zu dem, was ich hier zu sagen habe, etwas von mir wissen wollen.
Sie schreibt nämlich bezüglich der Petition eines Elternpaares, das für beide die Arbeitszeit auf 24 Stunden reduzieren wollte:
Sie
- die Bundesregierung -
ist zu der Auffassung gelangt, daß im Interesse des Kindes an der jetzigen Lösung, insbesondere an der 19-Stunden-Grenze, festgehalten werden muß. Die Erziehungsleistung soll auch in Zukunft nur dann honoriert werden, wenn sich ein Elternteil, Vater oder Mutter, vorrangig der Betreuung des Kindes widmet und daneben nicht mehr als 19 Wochenstunden beschäftigt ist.
Ich denke, das ist Hinweis genug darauf, daß es nicht um eine Sachargumentation, sondern um eine ideologische Argumentation geht. Genau diese Haltung der Bundesregierung hat zudem zur Folge, daß ein Elternteil, zumeist die Frau, zumindest vorübergehend aus dem Beruf ausscheiden muß. Das war allerdings auch das erklärte Ziel bei der Einführung und Verlängerung des Erziehungsurlaubs. Die Frauen sollten aus dem Arbeitsmarkt herauskomplimentiert werden - mit all den Unsicherheiten, die trotz Kündigungsschutz während des Erziehungsurlaubs bestehen. Die Rückkehr zu Heim und Herd wurde von der Bundesregierung prämiert.
Beim beruflichen Wiedereinstieg allerdings stehen die Frauen sehr oft alleine da. Denn mit dem Bundeserziehungsgeldgesetz schreibt die Bundesregierung ihre Haltung praktisch fest, daß die Erziehungsaufgabe an eine Person, nämlich die Mutter, gebunden ist, und nimmt so allen Familienmitgliedern die Chance, ihre Rollen annähernd frei zu definieren und ihre Zuständigkeiten untereinander abzuklären.
Dies würde nämlich einem partnerschaftlichen Verständnis von Ehe und Familie entsprechen.
Auch der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir hier zu beraten haben, greift bei den Stichworten „Partnerschaftlichkeit" und „gemeinsame Verantwortung" zu kurz. Er fordert zwar eine flexiblere Handhabung der Erziehungszeiten ein, meint dies wohl aber ausschließlich auf der Zeitachse. Erziehungsurlaub von einem Zeitkonto abrufen zu können, über einen Zeitraum von acht Jahren verteilt, scheint zwar auf den ersten Blick die Lösung vieler Probleme zu ermöglichen, geklärt ist aber nicht die Frage der Gleichzeitigkeit, also der Partnerschaftlichkeit. Davon steht in dem Antrag leider nichts. Deswegen vermute ich, daß das nicht beabsichtigt ist.
Der Antrag sagt auch nicht, wie die Regelung eines Zeitkontos im einzelnen beschaffen sein müßte, um kein zusätzliches Risiko für die Frau darzustellen, denn einen Kündigungsschutz und auch Weiterqualifizierung über acht Jahre zu gewährleisten scheint mir doch ein riesiges Problem zu sein, über das man noch nachdenken muß. Diese verlängerten Zeiten könnten sich zusätzlich hemmend auswirken.
Neben dem Grundgedanken der Partnerschaftlichkeit bei der Erziehung wird der Antrag der SPD- Fraktion von der Grundannahme geleitet, daß es Männern und Frauen möglich sein muß, zu den beiden Bereichen Erwerbsarbeit und Familienarbeit weitgehend ungehindert Zugang zu haben, zum einen aus Gründen der Persönlichkeitsentfaltung, zum anderen aus Gründen der Existenzsicherung. So geht der Antrag davon aus, daß es möglich sein sollte, ohne oder jedenfalls ohne längere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit Kinder zu erziehen und ein für alle Beteiligten zufriedenstellendes Familienleben zu führen. Dies gilt auch für Alleinerziehende, denen durch qualifizierte Hilfen bei der Kinderbe-
Hildegard Wester
treuung, höhere Unterhaltssätze und ein angepaßtes Kindergeld besser geholfen wird als durch die Nichtanrechnung des Erziehungsgeldes bei der Sozialhilfe.
Vereinbarkeit von Beruf und Familie bedeutet für uns nicht in erster Linie das bekannte Phasenmodell, dessen dritte vorgesehene Phase des Wiedereinstiegs in den Beruf nur allzuoft mißlingt. Denn eine dreijährige Abwesenheit aus dem Beruf bringt erhebliche Dequalifizierungsgefahren mit sich, die natürlich zu 98 Prozent wieder zu Lasten der Frauen gehen.
Wie Untersuchungen in diesem Bereich ergaben, gilt auf dem Arbeitsmarkt oft schon eine Unterbrechung von mehr als einem Jahr als schwerwiegendes Manko. Im Ergebnis sind es nur 40 Prozent der Mütter, die den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt tatsächlich schaffen.
Nicht selten wird Müttern zudem kurz nach Beendigung des Erziehungsurlaubs gekündigt. Für diese Frauen hat sich die Bundesregierung in ihrem neu eingebrachten AFRG noch etwas Besonderes einfallen lassen. Ihnen wird nun das Arbeitslosengeld gekürzt. Die Zeit des Mutterschutzes und des Erziehungsurlaubs soll nämlich nicht mehr einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit gleichgestellt werden. Diese Zeit fehlt ihnen also bei der Berechnung ihres Arbeitslosengeldes.
Das ist wieder ein klammheimlicher Schlag gegen die Familien und gegen die Frauen, der ohne Protest der CDU/CSU und der F.D.P., zumindest der Frauen der CDU/CSU und der F.D.P., geblieben ist.
Von Kündigung bedroht sind ebenfalls vor allem Frauen, die eine längere Auszeit aus dem Berufsleben genommen haben. Dagegen vermindert Teilzeitarbeit während des Erziehungsurlaubs nicht nur das Kündigungsrisiko für Mütter und Väter, sondern auch die Gefahr für die Betriebe, qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verlieren.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf heißt daher für uns, das starre Entweder-Oder zwischen Erwerbsarbeit und Kindererziehung zu überwinden. Dies bedeutet für uns die Gleichzeitigkeit von Beruf und Familie mit möglichst kurzen Auszeiten aus dem Arbeitsleben.
Zunehmend möchten Frauen ihr Leben so gestalten. Angesichts hoher Scheidungszahlen, hoher Arbeitslosenzahlen und noch immer existierender weiblicher Altersarmut möchten Frauen ihr berufliches Fortkommen durch lange Familienphasen nicht gefährden.
Für Eltern, die ihr Recht auf Verkürzung der Arbeitszeit und auf Elterngeld während des Elternurlaubs für einen kürzeren Zeitraum als die möglichen zwei Jahre wahrnehmen wollen, haben wir eine neue Regelung vorgeschlagen. Das Elterngeld wird an die Bezugsdauer angepaßt. Werden nur 18 Monate in Anspruch genommen, erhöht sich das Elterngeld auf 750 DM, bei zwölf Monaten auf 1 000 DM.
Hier muß auch ein Wort zur Höhe des Erziehungsgeldes und zu den Einkommensgrenzen gesagt werden. Es ist fast wie eine unendliche Geschichte. Ich selbst habe von dieser Stelle aus schon einige Male die längst überfällige Anpassung der Einkommensgrenzen gefordert und werde es heute wieder tun.
Seit 1986 sind diese Einkommensgrenzen nicht angepaßt worden. Dies hat zur Folge, daß im Jahre 1996 nur noch vier von zehn Erziehungsgeldberechtigten volles Erziehungsgeld für ihre Kinder nach dem sechsten Lebensmonat erhielten. In diesem Jahr werden es wohl noch weniger sein.
Dabei hat die Bundesregierung schon 1995 auf meine Anfrage hin erklärt, daß von 1986 bis 1995 die Arbeitnehmereinkommen um 28,5 Prozent gestiegen seien, somit die Einkommensgrenze für ein Ehepaar mit einem Kind bei 37 779 DM liegen müßte. Heute liegt sie bei 29 400 DM.
Würde man die Höhe des Erziehungsgeldes an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten anpassen, hätten schon 1995 statt 600 DM 752 DM gezahlt werden müssen. Insofern ist es nicht zuviel verlangt, auch bei knappen Kassen mit der Heraufsetzung der Einkommensgrenze zu beginnen. Dies wäre eine Mehrausgabe von 2,2 Milliarden DM jährlich.
In zahlreichen Reden und anderen Meinungsäußerungen hat die Ministerin Nolte selber diese Notwendigkeit betont. Aber wie so oft: Außer starken Worten nichts gewesen. Wir haben sie heute morgen schon zur Genüge gehört. Es kommt einem fast so vor, als sollte man das lieber nicht mehr erwähnen. Aber man darf den Mut nicht verlieren.
Dabei ist die Erhöhung nicht nur deshalb wichtig, damit die Menschen, die ursprünglich zu diesem Kreis gehört haben, wieder Erziehungsgeld beziehen können. Auch für eine Flexibilisierung ist die Erhöhung dringend notwendig. Denn wenn die Einkommensgrenze durch zwei Teilzeitbeschäftigungen regelmäßig überschritten wird, gibt es wenig Anlaß, Familien- und Erwerbsarbeit zu teilen. Vor allem Männer werden dieser Möglichkeit weiter ablehnend begegnen.
Die Lösung der grünen Fraktion ist ebenfalls völlig unbefriedigend. Sie schlägt vor, die Einkommensgrenze zwar zu erhöhen, diese aber von der Geburt des Kindes an gelten zu lassen. Trotz dieser Erhöhung ist die Einkommensgrenze erheblich niedriger als die jetzt gültige für die ersten sechs Lebensmonate eines Kindes. Diese liegt derzeit bei 100 000 DM für Verheiratete und bei 75 000 DM für Ledige.
Mit dieser Maßnahme, die niedrigere Grenze von Anfang an festzusetzen, trägt die grüne Fraktion dazu bei, das Erziehungsgeld mehr und mehr zu einer Leistung an sozial Schwächere zu degradieren. Darüber hinaus ist diese Maßnahme nicht geeignet, Männer und gutverdienende Frauen zu motivieren, Arbeitszeit zugunsten der Erziehung von Kindern abzubauen.
Hildegard Wester
Es soll bei diesem Vorschlag nicht die Erziehung des Kindes durch ein finanzielles Äquivalent gewürdigt, sondern der Ausfall eines Einkommens kompensiert werden. Dann allerdings darf man nicht auf halbem Wege stehenbleiben, sondern muß mehr fordern.
Auf die Einbeziehung der Männer in die Erziehungsverantwortung legt unser Antrag einen besonderen Schwerpunkt. Das wird noch einmal deutlich bei unserer Forderung, die Inanspruchnahme von Elternurlaub während der Mutterschutzfrist nach der Geburt eines Kindes zu ermöglichen.
Nach der jetzigen Regelung ist dies nicht möglich, wohl aus dem Gedanken heraus, daß die Mutter das Kind so und so zu Hause betreuen kann. Hier steht fälschlicherweise wieder der Betreuungsgedanke im Vordergrund, obwohl der Mutter diese Schutzfrist aus Gesundheitsfürsorgegründen und nicht wegen der Kinderbetreuung eingeräumt wird.
Könnte der Vater während dieser Schutzfrist jedoch den Elternurlaub in Anspruch nehmen, hätten beide Eltern und das neugeborene Kind eine gemeinsame Zeit, um sich auf die neue Situation einzustellen, Beziehungen aufzubauen und Aufgaben abzuklären.
Für viele Väter könnte diese Zeit für ihr weiteres Verhältnis zu ihrem Kind und zu ihrer Familie entscheidend werden. Dieses sicherlich intensivere Verhältnis, das entstehen könnte, könnte grundlegend sein für eine größere Bereitschaft der Männer, Erziehungsverantwortung aktiv mit zu übernehmen. Vielleicht würde auch die Frage, wer auf wieviel Stunden Erwerbsarbeit für die Kinder verzichtet, in den Familien unter anderen Gesichtspunkten diskutiert. Denn sicherlich ist diese Frage heute leider immer noch eine Frage des Einkommens. Es ist nun einmal nicht wegzudiskutieren, daß die Einkommen der Frauen noch erheblich niedriger sind als die der Männer. Da, wo zwei gekürzte Gehälter eine Familie nicht mehr ernähren können, ist die Frage der Beteiligung an Erwerbs- und Familienarbeit schnell geklärt. Damit sollten wir uns allerdings nicht abfinden.
Auf der anderen Seite sind es nicht nur finanzielle Gründe, die die Entscheidungen der Männer und Frauen beeinflussen. Vorstellungen davon, wie Frauen und Männer leben sollten, halten uns in unseren Rollen fest. Dabei dienen sie nicht oder nur selten unserer Selbstentfaltung. Wo steht denn geschrieben, daß es nur für Frauen befriedigend und bereichernd sein kann, die Betreuung der Kinder zu übernehmen und ihre Entwicklung zu erleben und zu fördern?
Und umgekehrt: Sollen nur Männer das selbstbestätigende Gefühl kennenlernen, erworbene Kompetenzen und Qualifikationen im Beruf anzuwenden, um ihre Existenz sichern zu können? In einer Gesellschaft, in der so viel von Ressourcenschonung die
Rede ist wie in unserer, können wir es uns nicht leisten, die Ressourcen, die Qualifikationen von Männern und Frauen, brachliegen zu lassen.
Mit Rücksicht auf die persönliche Entscheidungsfreiheit der einzelnen - damit komme ich zum Schluß - und der noch zu ungleichen Einkommensverhältnisse zwischen Männern und Frauen haben wir von einer zwingenden Teilung der Erziehungs- und Erwerbsarbeitsbeteiligung zwischen Männern und Frauen abgesehen. Wir möchten gerne - deswegen ist dieser Aspekt der Beteiligung von Männern an der Erziehung während der Zeit des Mutterschutzes so wichtig -, daß sich durch die Diskussion in den Familien und mit den Arbeitgebern die Einsicht entwickelt, daß dieses die sinnvollste, weil menschlichere Alternative für unsere Gesellschaft ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun unsere Kollegin Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Wester hat soeben die Vorstellungen der SPD zu Änderungen des Bundeserziehungsgeldgesetzes dargelegt. Es gibt auch noch einen weiteren Antrag der Fraktion der Grünen, über den wir hier zu sprechen haben.
Doch bevor ich auf die Vorschläge eingehe, will ich zunächst ganz klar sagen: Diese Koalition hat 1986 das Bundeserziehungsgeldgesetz auf den Weg gebracht - ein Meilenstein in der Familienpolitik. Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sind mittlerweile gesellschaftlich nicht mehr wegzudenken; die Grundsätze sind unumstritten.
Das heißt für mich nicht, daß es deshalb einen Stillstand geben müßte. Selbstverständlich ist es unsere Aufgabe, Gesetze auf Verbesserungen hin zu überprüfen und, soweit erforderlich und sinnvoll, Änderungen durchzusetzen. Für uns ist die wichtigste Feststellung: Die Einkommensgrenzen für die Gewährung von Erziehungsgeld sind seit langen Jahren sehr niedrig. Das müßte sich ändern. Gleichzeitig ist eine Verwaltungsvereinfachung notwendig. Sie wissen aber, daß es wegen der äußerst engen finanzpolitischen Spielräume derzeit nicht möglich ist, die Einkommensgrenzen zu ändern. Sobald diese Spielräume aber nicht mehr so eng sind, werden wir das Notwendige tun.
Gerade in den letzten zehn bis 15 Jahren sind die Ansprüche an die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf ständig gestiegen. Es ist unbestritten, daß junge Paare die Entscheidung für Kinder nicht zuletzt von den Möglichkeiten der
Maria Eichhorn
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit abhängig machen.
Junge Leute heiraten heute später: Männer im Durchschnitt mit 29, Frauen im Durchschnitt mit 27 Jahren. Die Zahl der Geburten ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, steigt aber nach neuesten Statistiken jetzt erfreulicherweise langsam wieder an. Wenngleich der Kinderwunsch bei den meisten Paaren vorhanden ist, müssen wir weiterhin verstärkt daran arbeiten, die Rahmenbedingungen noch gezielter zu verbessern.
Selbstverständlich ist es auch unser Ziel, eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung stärker zu verankern. Nicht zuletzt deswegen haben wir 1992 das Bundeserziehungsgeldgesetz so geändert, daß durch die Möglichkeit des dreimaligen Wechsels die Väter stärker eingebunden werden. Das Ergebnis ist bisher leider enttäuschend. Es gibt sicherlich viele Modelle und Ideen, hier weiterzukommen. Ob sie tatsächlich umsetzbar sind, ist eine andere Frage.
Die Entwicklungen der letzten Jahre haben klargemacht, daß die Politik keineswegs allein die Welt der Wirtschaft verändern kann; insbesondere die Tarifparteien, die Arbeitgeber und die Gewerkschaften dürfen auch in ökonomisch schwierigen Zeiten diese Aufgabe keinesfalls vernachlässigen.
Im Gegenteil: In allen Branchen, auf allen Ebenen müssen die Stichworte Flexibilisierung der Arbeitszeiten und qualifizierte Teilzeitarbeit eine wesentlich größere Rolle spielen als in der Vergangenheit. Heute mittag haben wir bereits einiges dazu gesagt.
Wenn in diesen Zeiten die Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen größer ist als das Angebot und darauf nicht entsprechend reagiert wird, sind die Sackgassen vorgezeichnet. In der Industrie sitzen die richtigen Ansprechpartner, die leider teilweise immer noch nicht die Kraft aufbringen, eingefahrene, überholte Strukturen aufzubrechen, um die Arbeit zukunftsfähig zu gestalten.
An die Adresse der SPD sage ich: Über das Bundeserziehungsgeldgesetz können wir die strukturellen Probleme der Arbeitsmarktpolitik nicht lösen.
Ich glaube nicht, daß wir den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, wenn für die private Wirtschaft auch nur begrenzt, über das Bundeserziehungsgeldgesetz rechtlich verankern können.
Hier sind andere Maßgaben notwendig.
Zielrichtung des Bundeserziehungsgeldgesetzes muß bleiben, Eltern in den ersten drei Lebensjahren des Kindes darin zu unterstützen, die Erziehung und Betreuung selbst zu übernehmen. Das muß so bleiben.
Auch wenn ich durchaus einen besonderen Betreuungsbedarf sehe, wenn die Kinder in die Schule kommen, halte ich die Idee eines Zeitkontos bis zum achten Lebensjahr des Kindes nicht für vertretbar. Der Rechtsanspruch darauf würde die Personalplanung in den Unternehmen, gerade in den Handwerksbetrieben, überfordern. Acht Jahre sind einfach zu lang, um die Entwicklung der Personalstruktur eines Betriebes vorherzusehen, geschweige denn die einzelne Person für unterschiedliche Zeitabschnitte fest einzuplanen.
Zum anderen nützt eine solche Flexibilisierung nichts, wenn damit nicht gleichzeitig der Kündigungsschutz verbunden wird. Dies kann von den Unternehmen realistischerweise nicht erwartet werden. Für mich ist die bessere Lösung, zum Beispiel Mittagsbetreuung in Schulen anzubieten.
Eines steht für mich fest: Wir sollten natürlich gezielt darüber nachdenken, wie wir neue Wege für Väter finden, sich stärker an der Erziehungsverantwortung zu beteiligen, das heißt, wie wir den Erziehungsurlaub für Väter gesellschaftsfähiger machen könnten,
Wir sollten uns nicht der Frage verschließen, ob und wie wir es den Eltern ermöglichen könnten, die Betreuung gemeinsam in den ersten drei Lebensjahren des Kindes zu übernehmen. Dafür ist der Stein der Weisen bisher noch nicht gefunden, aber ich bezweifle sehr, ob die Vorschläge, die heute auf dem Tisch liegen, den richtigen Weg aufzeigen.
Denn beim Bundeserziehungsgeldgesetz, das in der Diskussion steht, steht als Leitgedanke im Mittelpunkt, daß die Eltern, die sich in der ersten, äußerst wichtigen Lebensphase des Kindes voll seiner Erziehung und Betreuung widmen, staatlich honoriert werden sollen. Die Erwerbstätigkeit bis zu 19 Stunden in der Woche wurde eingeführt, um während des Erziehungsurlaubs zu ermöglichen, daß die Mutter bzw. der Vater den Kontakt zum Berufsleben nicht verliert.
Der Antrag der SPD nimmt Bezug auf die EU- Richtlinie über den Elternurlaub. Aus unserer Sicht besteht über die einzelnen Ziele erheblicher Diskussionsbedarf. Die Richtlinie verändert einerseits die Zielsetzungen von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, andererseits kommen hier auch grundsätzliche Überlegungen ins Spiel.
Es ist nicht unser Ziel, nahezu vollerwerbstätige Eltern in den Kreis der Erziehungsgeldbezieherinnen bzw. -bezieher einzubeziehen. Ich bin nicht der Ansicht, daß bei einer Reduzierung der Wochenstunden auf drei Viertel der Arbeitszeit bereits Erziehungsgeld bzw. Elterngeld, wie es die SPD nennt, gezahlt wird. Denn bei einer Teilzeitbeschäftigung in diesem Umfang ist es den Eltern in der Regel nicht möglich, das Kind tagsüber überwiegend selbst zu betreuen.
Es muß dabei bleiben, daß die Erziehungsarbeit der Eltern honoriert wird. Wenn beide Elternteile zusammen 60 Stunden arbeiten gehen könnten und dafür Erziehungsgeld erhielten, wäre der Charakter dieser besonderen familienpolitischen Leistung nicht mehr gewahrt. Allein die Tatsache, daß ein Kind vorhanden ist, kann nicht zum Erziehungsgeld berechti-
Maria Eichhorn
gen. Das Erziehungsgeld ist ganz anders angelegt, meine Damen und Herren von der Opposition. Wenn Sie das wollten, dann müßten Sie eine Kindergelderhöhung in die Diskussion bringen, aber nicht eine Veränderung beim Erziehungsgeld.
Es ist klar, daß die Beteiligung der Väter derzeit nicht zuletzt daran scheitert, daß auf einen Teil des entsprechenden Erwerbseinkommens nicht verzichtet werden kann. Der Antrag der SPD enthält wohl nicht zuletzt deswegen eine weit angelegte Teilzeitregelung für beide Elternteile. Damit stellt man aber im Bundeserziehungsgeldgesetz mehr die Arbeitszeitgestaltung als die Kinderbetreuung in den Vordergrund. Wir müßten deswegen sehr genau prüfen, ob dann noch die Zielsetzungen des Bundeserziehungsgeldgesetzes erreicht werden.
Völlig unverständlich ist für mich der Vorschlag der Budgetierung. Für uns ist Maßstab, daß Eltern bis zum dritten Lebensjahr des Kindes zu Hause bleiben können. Anschließend steht der Kindergarten zur Verfügung.
Es gibt keinen Grund, diejenigen, die ihren Erziehungsurlaub frühzeitig beenden, in irgendeiner Form zu bevorzugen, also, Erziehungsgeld dafür zu zahlen, daß man wieder früher in den Beruf zurückkehren kann. Die SPD will demnach schwerpunktmäßig die Eltern honorieren, die frühzeitig ins Erwerbsleben zurückgehen. Wir wollen die aus der Sicht des Kindes beste Betreuung in den ersten Lebensjahren ermöglichen und unterstützen, nämlich die durch die Eltern. Das soll auch weiter so sein.
Eine Änderung des Mutterschutzgesetzes bzw. des Erziehungsgeldgesetzes herbeizuführen, um dem Vater bessere Möglichkeiten zu eröffnen, in der Zeit des Mutterschutzes Erziehungsurlaub zu nehmen, halte ich nicht für zwingend. In bestimmten Fällen kann der Vater bereits heute in dieser Zeit Erziehungsurlaub nehmen. Im übrigen ist es so, daß schon durch die Arbeitsfreistellung nach dem Mutterschutzgesetz garantiert ist, daß sich die Mutter in dieser Phase voll um ihr Kind kümmern kann.
Im Rahmen des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes, das wir dank der Opposition erst in der letzten Sitzungswoche beschließen konnten, war es für uns ein wichtiges Anliegen, daß sich die Zeiten der Betreuung in den ersten drei Lebensjahren des Kindes nicht nachteilig auf das Arbeitslosengeld auswirken. Nicht zuletzt auf Initiative der Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker unserer Fraktion ist es gelungen, sicherzustellen, daß Mütter und Väter auch dann ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld behalten, wenn sie ihren vollen Erziehungsurlaub - auch bei mehreren Kindern - in Anspruch genommen haben.
Zum Schluß möchte ich noch einmal betonen, daß wir uns durchaus nicht Überlegungen verschließen, wie wir über den dreimaligen Wechsel hinaus Rahmenbedingungen verbessern können und die gleichzeitige Betreuung des Kindes durch Vater und Mutter in der Zeit des Erziehungsurlaubs besser ermöglichen, ohne daß es die Grundsätze des Bundeserziehungsgeldgesetzes dushebeit. Ich glaube jedoch, daß wir erst dann eine partnerschaftliche Aufgabenteilung in der Familie - auch über das dritte Lebensjahr des Kindes hinaus - erreichen, wenn die Unternehmen erkennen, daß es auch für sie vorteilhaft ist, wenn die Arbeitsbedingungen den Bedürfnissen von Müttern und Vätern entgegenkommen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt unserer Kollegin Rita Grießhaber das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon eine seltsame Arbeitsteilung: Die Ministerin diagnostiziert Mängel, und die Opposition macht sich daran, Vorschläge für die gesetzgeberische Abhilfe einzubringen.
Die Feststellung von Frau Nolte - ich zitiere - „die meisten Mütter in Deutschland müssen durch die Geburt ihres Kindes Rückschläge in ihrer beruflichen Entwicklung hinnehmen" können wir wohl alle unterschreiben. Nur, auf der Regierungsseite wird keinerlei Konsequenz daraus gezogen. Deswegen dürfen wir uns hier jetzt mit den praktischen Vorschlägen der Opposition befassen.
Die Regierung hat der Diskussion über das Thema Erziehungsgeld anscheinend ein langsames Auslaufen verordnet. Von politischer Aktivität keine Spur. Frau Eichhorn, wann die Kassen so gefüllt sein werden, daß Sie in dieser Hinsicht etwas verbessern können, steht wohl in den Sternen.
Statt dessen streiten sich mehr oder weniger zuständige Herren in letzter Zeit heftig darüber, ob die Rente auf Grund der Erziehungsarbeit als versicherungsfremde Leistung zu bewerten ist. Oder sie denken sich mit wundersam zur Verfügung gestellten Mitteln neu zu gründende Familienkassen aus. Der konkrete Verbesserungsbedarf an bestehenden Gesetzen wird über diese hochtrabenden Ideen gern vergessen. Dabei gibt es vieles, was an Erziehungsgeld und sogenanntem Erziehungsurlaub verbesserungsbedürftig und verbesserungsfähig ist.
Was die Anerkennung von Erziehungsarbeit nicht erst zum Zeitpunkt der Rente, sondern schon zur Zeit, in der das Geld für die Kinder dringend benötigt wird, angeht, sieht es nicht gut aus. Seit der Einführung des Erziehungsgeldes im Jahre 1986 - Frau Wester hat es vorhin auch noch einmal gesagt - sind die Einkommensgrenzen nicht mehr dynamisiert worden. Die Lebenshaltungskosten der Familie sind jedoch nicht geringer geworden. Aber weil die Ein-
Rita Grießhaber
kommensgrenzen nie angehoben wurden, haben immer weniger Familien Anspruch auf die volle Summe des Erziehungsgeldes. Im Klartext heißt dies: Die Regierung läßt eine familienpolitische Leistung, auf die sie - Frau Eichhorn, Sie haben es vorhin noch einmal betont - bei der Einführung zu Recht einmal sehr stolz war, einfach ins Leere laufen und abbröckeln.
In allen gesellschaftlichen Bereichen wird von allen mehr Flexibilität gefordert. Es gibt hier keine Arbeitsmarktdebatte ohne Aufforderung an die Arbeitnehmerinnen, flexibler auf die Anforderungen der Wirtschaft zu reagieren. Überall werden bedarfsgerechte Lösungen verlangt, nur dieser sogenannte Erziehungsurlaub soll so starr bleiben, wie er einmal eingeführt wurde. Seit Jahren wird in den gesellschaftlichen Gruppen, in den Gewerkschaften, in den Parteien diskutiert, wie die Attraktivität des Erziehungsurlaubs auch für Männer erhöht werden kann. Bis jetzt gibt es keine greifenden Vorschläge, die die Zurückhaltung der Männer wirklich aufbrechen könnten.
Von der Regierungsseite gibt es nur Schweigen. Zwar durfte die Ministerin vor gut einem Jahr äußern, daß nach ihren Vorstellungen das dritte Erziehungsurlaubsjahr auch beim Schuleintritt eines Kindes in Anspruch genommen werden könnte; der Rest der Koalition konnte sich das aber anscheinend gar nicht vorstellen, denn nach diesen Äußerungen ist nichts passiert. Wenn ich Frau Eichhorn richtig verstanden habe, dann ist die Situation so, daß alles bleiben muß und daran nicht gerüttelt werden darf.
Noch ein paar Worte zum Antrag der SPD. Wir sind uns einig, daß Ihr Antrag, genau wie unserer, ein Einstieg in die Verbesserung des Erziehungsgeldgesetzes sein soll, auch wenn wir sehr unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Sie stellen die partnerschaftliche Teilung in den Vordergrund, wir die zeitliche Flexibilisierung, die unseres Erachtens eine wesentliche Rolle spielt.
Was die Verteilung der acht Jahre auf das Zeitkonto angeht, Frau Wester, so ist die Befürchtung nicht zutreffend, daß man im Fall der Verteilung der drei Jahre auf die acht Jahre - in welcher Form auch immer - acht Jahre draußen ist. Von daher sind Ihre Befürchtungen an dieser Stelle wirklich unbegründet.
Was die anfänglichen Einkommensgrenzen betrifft, so fühlen wir uns mit dem Bundesrat in guter Gesellschaft. Allerdings finde ich es schade, daß Sie sich beim Zeitrahmen auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränken und die Bezugsdauer nicht auf drei Jahre erhöhen wollen.
Worin ich Ihnen nicht folgen kann, ist - obwohl mir die arbeitsmarktpolitische Intention durchaus sehr sympathisch ist -, daß Sie sozusagen eine Beschleunigungsprämie einführen. Das heißt, daß Sie die Mütter zusätzlich finanziell belohnen, die einen möglichst kurzen Erziehungsurlaub nehmen. Das mag den Wiedereinstieg erleichtern, hat aber mit der Anerkennung von Erziehungsarbeit nicht mehr viel zu tun.
Wir finden, daß erziehende Mütter wie Väter die Möglichkeit haben sollten, sich in den ersten acht Lebensjahren ihres Kindes insgesamt drei Jahre für Erziehungsarbeit freistellen zu lassen. Lassen wir doch die Eltern selbst entscheiden! Lassen wir ihnen die Möglichkeit, sich die Zeit so einzuteilen, wie sie es für ihre Kinder und für sich als nötig erachten! Ich glaube, daß Eltern dies in der konkreten Situation besser entscheiden können als der Gesetzgeber pauschal für alle.
Wir wollen, daß Erziehungsarbeit endlich die gesellschaftliche Anerkennung erhält, die sie verdient. Dazu gehört für uns unabdingbar auch eine bessere rentenrechtliche Absicherung. In der Diskussion über die Weltfrauenkonferenz in Peking ist von Koalitions- und auch von Ministerseite mehrfach betont worden, daß die Anerkennung von Erziehungsjahren bei der Rente von 75 auf 100 Prozent angehoben werden soll. Ich bin gespannt, ob das kommt. Dabei haben Sie in dieser Angelegenheit meine volle Unterstützung.
Was mir die ganze Diskussion über den Stellenwert von Erziehungsarbeit zeigt, auch wenn diese Diskussion von den Frauen geführt wird, ist, daß bei uns die Politik immer noch viel zu stark von Vätern und Großvätern geprägt ist, die sich selbst nie direkt um ihre Kinder gekümmert haben; denn wer sich selbst als gesund, mobil, voll einsatzfähig und mit allen Überstunden dieser Welt belastbar erlebt und dabei verdrängt, daß dahinter die andere Hälfte der Gesellschaft lautlos und weitgehend unbezahlt die notwendige Zuarbeit leistet, verliert den Maßstab für eine humane Gesellschaft. Wer nur noch in Kategorien der Senkung von Lohnkosten und Sozialabbau denkt, unterhöhlt die Grundlagen unserer Gesellschaft und riskiert die Zukunft.
„Kinder haben die Leute immer" - das war vielleicht einmal zu Adenauers Zeiten so, von dem der Ausspruch stammt. Wir hier sind aber von der politischen Seite gefordert, dafür zu sorgen, daß ein Leben mit Kindern heute nicht zum Armuts- bzw. Arbeitsplatzrisiko erster Klasse wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung des Bundeserziehungsgeldgesetzes ist hier schon gewürdigt worden. Dem braucht man nichts mehr hinzuzufügen. Auch die Forderung und
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Vorstellung der stärkeren partnerschaftlichen Verantwortung - deshalb haben wir die Anhörung zum gemeinsamen Sorgerecht gehabt, das war dabei wohl mit der Schwerpunkt - mussen auch nicht von mir wiederholt werden. Damit ist auch gesagt, daß ich das unterstütze und teile.
- Auch das ist bestimmt ein richtiger Punkt gewesen, das zu ermöglichen. Vielleicht trägt es dazu bei, daß dann auch mehr Möglichkeiten für Eltern vorhanden sind, sich um die Betreuung der Kinder zu kümmern bzw. zu sehen, wie man das mit Berufstätigkeit in Einklang bringen kann.
- Bitte schön, kommen wir sofort zur Sache. Der Antrag der SPD ist zwar sehr umfangreich gedruckt, aber ich kann keine Punkte entdecken, die einen nun zu besonderen Begeisterungsstürmen hinreißen lassen können. Von daher, denke ich, ist es auch ausreichend, sich auf einige Probleme zu beschränken.
Den ganzen Antrag durchzieht doch die Vorstellung - Frau Grießhaber, da teile ich Ihre Einschätzung -, daß man sich hier zunächst an den Staat richtet, der staatliche Vorgaben zu machen hat. Ich höre aus SPD-Kreisen in neuesten Interviews immer wieder einmal ganz anderes. Aber das scheint nicht die Meinung der Fraktion im Bundestag zu sein. Diese geht dahin, daß man möglichst alles den Arbeitgebern überträgt, wie sie damit umzugehen haben. Dabei wird nicht berücksichtigt, wie sich das tatsächlich auf den Arbeitsmarkt auswirken könnte.
Gerade heute, in einer Zeit, in der es in diesem Bereich wirklich um Flexibilität geht, die Flexibilität wirklich vor Ort im Betrieb hinsichtlich der Tarifvereinbarungen, der Machbarkeit und der Umsetzbarkeit das Entscheidende ist, müssen wir uns überlegen: Wie können wir mit den Möglichkeiten des Erziehungsurlaubs und des Erziehungsgeldes besser umgehen?
Ich teile den Ansatz und den Vorschlag des Antrags der Grünen in diesem Punkt. Ich denke, daß gerade mit der Form des Zeitkontos der richtige Ansatz gewählt worden ist. Er deckt sich mit den grundsätzlichen Vorstellungen der F.D.P. zu mehr Flexibilität, auch der Möglichkeit zu mehr Teilzeit, nämlich der Verteilung über acht Jahre, das heißt der Verteilung über einen längeren Zeitraum, weil man dann auch mit einer geringeren Beschäftigungszeit länger im Berufsleben bleibt und später nicht wieder vollkommen neu einsteigen muß. Das deckt sich ja mit unseren Überlegungen zum Sabbatjahr und zur Möglichkeit, Urlaub einzusparen, eben überhaupt mit individuell gestalteter Jahresarbeitszeit.
Es gibt vorbildliche Unternehmen in der Wirtschaft, die damit ganz gute Erfahrungen machen. Deshalb ist es richtig, hier anzusetzen. Ich denke, daß wir dazu jetzt Gelegenheit haben. Ich finde es gut, daß diese Anträge vom Parlament kommen - warum muß uns die Regierung immer alles vorlegen? - und wir jetzt auf dieser Grundlage in den Ausschüssen beraten können. Hoffentlich können wir uns da auf einen Weg gerade in bezug auf die Frage des Zeitkontos verständigen.
Wir greifen damit nämlich nicht mit gesetzlichen Regelungen in die Lebensplanung von jungen Familien ein. Ich bin der Meinung: Wir können und dürfen ihnen nicht vorschreiben, wie sie die ersten drei Jahre, in denen das Kind nach den Vorstellungen der Gesetzgebung unbedingt betreut werden muß, gestalten. Vielleicht haben sie auch familiär die Möglichkeit, die Kinder in den ersten drei Jahren teilweise von anderen Familienangehörigen betreuen zu lassen, und wollen dann lieber zu einem späteren Zeitpunkt, wenn es vielleicht sogar wichtiger sein kann - je nach individueller Entwicklung -, von der Möglichkeit der Betreuung Gebrauch machen. Deshalb gibt es hier einfach mehr Möglichkeiten, gerade wenn wir Flexibilität und Mobilität bei der Wahrnehmung von Arbeitsmöglichkeiten fordern, den individuellen Bedingungen Rechnung zu tragen.
Die Ansätze der SPD, zum Beispiel mit der Vorstellung, die Arbeitszeit für beide Eltern bei Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes auf 60 Wochenstunden zu reduzieren, gehen meiner Auffassung nach ins Leere. Das kann ja dazu führen, daß jemand seine 38,5 Stunden durchschnittliche Wochenarbeitszeit geringfügig reduziert und dann das volle Erziehungsgeld bekommt, ohne daß sich das wirklich besser auf die Betreuungssituation des Kindes auswirkt.
Das ist meine grundsätzliche Kritik an diesen Ansätzen: Es wird zwar immer betont, es sei besser für die Kinder, aber gerade diese Regelung zeigt, daß hier eher hohe Mitnahmeeffekte auftreten und der Staat als Füllhorn mißbraucht wird, aber es im Ergebnis nicht den Kindern zugute kommt. Deshalb war es richtig, daß im geltenden Recht eine Zahl von 19 Wochenstunden vorgesehen ist. Das ermöglicht sowohl Teilzeitarbeit als auch Erziehungsgeld.
Es ist natürlich löblich, Väter mehr an der Erziehungsarbeit beteiligen zu wollen. Die bisherigen Angebote haben sich ja nun gerade nicht entsprechend ausgewirkt. Um so weniger habe ich Vertrauen in andere gesetzliche Regelungen, die damit begründet werden, dieses fördern zu wollen. Gerade das wird uns durch rein gesetzliche Bestimmungen nicht gelingen. Das hängt von anderen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und im Berufsleben ab
und nicht davon, daß wir per Gesetz versuchen, die Lebensgewohnheiten, die Einstellungen und das Bewußtsein unserer Gesellschaft ändern zu wollen. Natürlich wollen gerade auch wir als F.D.P. eine Gesellschaft, in der die Verantwortung von Männern und Frauen, von Vätern und Müttern für die Kinder eine größere Priorität hat, als es bisher zum Teil der Fall ist.
Wir wollen eine Gesellschaft, wo Kindern selbstverständlich - das ist ein schöner Spruch - als kleine
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Menschen mit großen Rechten das Recht auf beide Elternteile auch tatsächlich zusteht.
Deshalb ist ja - lassen Sie mich mit diesem Wort schließen - der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Kindschaftsrechtsreform zu berücksichtigen, der so angelegt ist, daß gerade in diesem Bereich das Recht der Kinder auf beide Elternteile unabhängig von der Form des Zusammenlebens stärker durchgesetzt wird.
Deshalb habe ich im SPD-Antrag keine Punkte gefunden, die man wirklich unterstützen könnte. Ich halte den Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen für einen richtigen Ansatz. Darüber sollten wir dann intensiv beraten.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heidemarie Lüth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe anwesende Herren! Inzwischen ist diese illustre Runde fast paritätisch bzw. quotiert zusammengesetzt. Daher könnte es zu dem Thema Elternurlaub eigentlich losgehen. Leben mit Kindern ist ein Glücksumstand - das ist eine Frage und ein Ausruf zugleich. Bei den jungen Frauen und Männern hat das Leben mit Kindern einen sehr hohen Stellenwert in der Werteskala, und das auch in den neuen Bundesländern.
Doch gerade hier sind in den vergangenen Jahren die Geburten in dramatischer Weise zurückgegangen. Für die Kollegin Eichhorn nenne ich jetzt auch die Quelle. Im Schulnetzplan der Stadt Leipzig wird vermerkt, daß im Wohnbezirk Leipzig-Paunsdorf im vergangenen Jahr noch sechs erste Klassen gebildet wurden. Im gleichen Wohnbezirk werden im kommenden Jahr nur noch zwei erste Klassen gebildet. Um es noch deutlicher zu sagen: In Leipzig-Ost leben zur Zeit 60 000 Bürgerinnen und Bürger. 3 200 Schülerinnen und Schüler gehen jetzt in die ersten bis vierten Klassen. Im Jahr 2000 werden es weit unter 2000 sein.
Damit haben die Frauen in den vergangenen Jahren aufgezeigt, was sie von den Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern in der Bundesrepublik halten. Wer sich dennoch für ein Leben mit mehreren Kindern entscheidet, dem kann es leicht so ergehen wie meinen drei Töchtern. Der ersten wurde nach der Beendigung ihres Erziehungsurlaubs für das dritte Kind im Februar dieses Jahres der gleiche Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt - sechs Stunden Arbeitszeit, Fahrzeit zum Arbeitsplatz drei Stunden. Meine zweite Tochter nahm nach zwei Jahren Erziehungsurlaub beim zweiten Kind eine Stellvertretung im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Regelung an. Jetzt, nach der Geburt des dritten Kindes, ist ihre berufliche Zukunft als Erzieherin mehr als ungewiß. Bei meiner dritten Tochter können nach dem Mutterschaftsurlaub nur noch fünf Monate Erziehungsurlaub in Anspruch genommen werden, weil ihr eine
Referendarstelle angeboten wird - und die muß man ja annehmen, weil man nicht weiß, was in Sachsen-Anhalt in zwei Jahren sein wird.
Nein, solange Leben mit Kindern in nahezu allen Formen der Familie ein Armutsrisiko bedeutet, solange Erziehungsgeld nur symbolischen Wert hat, solange Vereinbarkeit von Erziehung und Erwerbstätigkeit für Mütter und Väter zwar ein hehres Ziel, aber nicht Realität ist, solange die steuerliche Freistellung des vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebenen Existenzminimums zwar auf dem Papier steht, sich die Bundesregierung aber einen Teufel darum schert, wie das Geld ins Portemonnaie der betroffenen Familien kommt und solange die Familienministerin auf die Realisierung der Erhöhung des Kindergeldes auf 220 DM verzichtet und der Opposition die Durchsetzung überläßt, solange wird der Kinderwunsch, der bei Frauen und Männern nahezu gleich stark ausgeprägt ist, immer länger ein Wunsch bleiben.
Die unflexible Regelung des Erziehungsurlaubs erschwert nicht nur die gemeinsame Sorge der Väter und Mütter, sondern sie zementiert die alten Rollenbilder und verschlechtert die Erwerbschancen für die Frauen. Hinzu kommt, daß durch die unsägliche Beantragungspraxis wegen der niedrigeren Einkommensgrenzen und der Dauer der Zahlung bis zu maximal zwei Jahren bei höchstens 600 DM monatlich - danach sind die Länder dran, wenn sie es wollen - das Erziehungsgeld von immer weniger Müttern und Vätern in Anspruch genommen werden kann. So nimmt es nicht wunder, daß nur 2 Prozent der Väter den Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen. Alleinerziehende werden gleich zu Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern und dann noch zum Hohn als Sozialmißbräuchlerinnen und -mißbräuchler angeprangert.
Bisher wurde wenigstens der Erziehungsurlaub einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gleichgesetzt. Im AFRG wird diese Regelung jetzt aufgehoben. Die realen Lebensstile von Männern und Frauen mit Kindern haben die konservativen Familienbilder längst überlebt. Gesetze, die solchen Familienbildern nachtrauern, gehören längst abgeschafft.
Wir meinen, daß die Anträge der Bündnisgrünen und der SPD richtige Forderungen enthalten, die auch wir unterstützen. Wir haben aber auch unsere Standpunkte, die wir ebenfalls in einem Antrag formulieren werden. Ausgangspunkt ist bei uns die gleiche Teilhabe von Müttern und Vätern an der Erziehung und an der Erwerbsarbeit, und zwar für alle Formen der Elternschaft - verheiratet, in Lebensgemeinschaft lebend und alleinerziehend. Diese Formen müssen in der Gesetzgebung gleichgestellt werden.
Dazu gehören für uns - auch für die Rahmenbedingungen - Kinderbetreuungsmöglichkeiten nach Bedarf, also nicht erst ab dem 3. Lebensjahr, sondern dann, wenn die Eltern das wünschen, und auch noch nach dem 6. Lebensjahr.
Heidemarie Lüth
In unserem Antrag zur Grundsicherung sehen wir eine Zahlung für die Mütter und Väter vor, die Erziehungsarbeit leisten, ohne erwerbstätig zu sein. Wir meinen auch, der Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit nach dem Erziehungsurlaub erfordert garantierte Qualifizierungsmöglichkeiten.
Wir sagen, die Regelungen im ArbeitsförderungsReformgesetz müssen gestrichen werden. Zuletzt denken wir, es muß gesonderte Regelungen geben für Eltern, die Kinder erziehen und Kinder bekommen haben, die eine besondere Behinderung haben. Wir meinen, daß gerade der gesamte heutige Tag gezeigt hat, daß mit Reden, wie Kollegin Schmidt in der Frauendebatte schon formuliert hat, nichts geändert wird.
Ändern sollte doch eigentlich die Regierung und nicht nur die Opposition. Wenn sie dann die Regierung bildet, werden wir ja Gesetze haben, die endlich ein würdevolles Leben mit Kindern in Familien jeglicher Form garantiert.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anke Eymer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Bei der einen oder anderen Vorrednerin habe ich durchaus den Eindruck, als hätten Sie einiges gar nicht gespeichert, was diese Bundesregierung an familienpolitischen Leistungen erbracht hat.
Das ist eine sehr sachliche Feststellung. Ich denke schon, daß Sie mir da auch sehr deutlich zustimmen können.
Ich möchte meine Ausführungen etwas verkürzen und will nicht wiederholen, was meine Kolleginnen, Frau Eichhorn und Frau Leutheusser-Schnarrenberger, bereits über das Erziehungsgeld und dessen ursprünglichen Sinn gesagt haben. Das wissen wir. Wir sprechen heute über die beiden vorliegenden Anträge.
Liebe Frau Kollegin Wester, Sie waren vorhin vielleicht etwas irritiert, als wir dazwischen sprachen. Wir wollten Sie nicht aus dem Konzept bringen. Sie haben ja einiges sehr vorsichtig formuliert. Aber ich denke, in Ihren Ausführungen, die sicherlich gut gemeint sind, fehlt eines in der heutigen Zeit, nämlich daß Sie einen Finanzierungsvorschlag bringen.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie die familienpolitischen Leistungen künftig anders bündeln wollen? Wollen Sie Ziele in der Familienpolitik klarer und deutlicher formulieren? Habe ich Sie so verstanden?
- Ja, aber das ist doch nur ein ganz kleiner Teil des großen Paketes der Leistungen, das schon erbracht worden ist.
Dazu muß ich Ihnen eines sagen und zurückkommen auf Ihren Antrag: Wenn ich die drei Kernpunkte herauspicke: beide Eltern sollen ihre Arbeitszeit reduzieren können, beide Eltern sollen einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit haben und beiden Eltern soll eine gemeinsame wöchentliche Arbeitszeit von 60 Stunden erlaubt sein, dann frage ich mich, wie Sie das in der heutigen Zeit durchsetzen wollen.
Wir reden so viel über Arbeitsplätze. Wir alle wissen, daß das das wichtigste Thema unserer Zeit ist. Wir haben zu viele Arbeitslose. Unser Ziel ist sicherlich das gleiche. Aber, ich denke, man kann nicht ständig neu fordern - und dann nur vom Staat. Vielmehr müssen wir auch sehen, was wirklich zu machen ist.
Diese Bundesregierung hat für die Familie bisher vieles getan. Ich meine, daß man darauf schon aufbauen kann. Aber ich bin auch der Meinung von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, daß man überlegen sollte - wie im Antrag der Grünen formuliert -, wie es mit dem Zeitkonto aussieht. Dagegen ist gar nichts zu sagen. Was mir nicht gefällt, ist der Rechtsanspruch auf diese Teilzeitarbeit.
- Ja, das gefällt mir nicht bei Ihnen. Mir gefällt die Forderung nicht: der Ruf nach dem Staat, und alles muß geregelt sein.
Wir wissen doch alle, daß die wichtigste Zeit im Leben eines Kindes - das haben Psychologen und Pädagogen herausgefunden - die ersten drei Lebensjahre sind. Dann muß ich es doch noch einmal wiederholen: Aus diesem Grunde wurde seinerzeit das Erziehungsgeld eingeführt und der Erziehungsurlaub eingerichtet. Wir wissen allerdings auch, daß die Lebenswirklichkeit manchmal anders aussieht, daß es auch für die Familie, für das Elternpaar oder den Alleinerziehenden nicht immer so zu regeln ist; das ist schon richtig. Aber ich meine, daß wir hier noch einmal ansetzen sollten.
Ich möchte einmal auf die Zeit zurückkommen, in der wir jetzt leben. In dieser Zeit sagen wir immer: Der Faktor Arbeit soll von Kosten entlastet werden. Ich will auch nicht mißverstanden werden; ich denke nicht nur an die Arbeitgeber. Wenn wir immer nur Rücksicht auf die Arbeitgeber genommen hätten, dann weiß ich nicht, ob wir heute das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub hätten. Aber ich meine, wir müssen trotzdem die Kirche im Dorf lassen. Wir können nicht alles, was im Interesse der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist, mittels Gesetzen durchsetzen.
Wir haben heute in unserer frauenpolitischen Debatte schon eine ganze Menge gehört. Wir haben uns aber heute nachmittag nur mit den mehr internen Themen Deutschlands beschäftigt. Wir haben von den Weltkonferenzen gesprochen und ich habe sehr vermißt, daß wir unseren Blick überhaupt nicht über
Anke Eymer
den Zaun hinaus geweitet haben. Es ist richtig: Auch bei uns ist noch eine ganze Menge zu tun.
Aber schauen wir uns doch einfach einmal in Europa um! Es gibt Broschüren aus dem Familienministerium; es gibt verschiedene Zusammenstellungen, wie dort die familienpolitischen Leistungen geregelt sind. Gucken Sie nicht nur nach Dänemark oder Schweden, sondern auch einmal nach Spanien oder nach Frankreich!
Gerade bei dem Thema Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub brauchen Sie nur einmal in die Tabelle zu gucken. Dann sehen Sie, daß wir in Deutschland wirklich recht gut dastehen.
- Das ist die Frage. Deshalb habe ich Sie gefragt. Wenn es Ihre Zielrichtung ist, familienpolitische Leistungen neu zu bündeln und die Ziele klarer zu formulieren, dann ist das vielleicht eine Zukunftsaufgabe für uns alle.
Es geistert ja das Wort „Familienkasse" herum, das von vielen, wie ich meine, mißverstanden worden ist. Dies ist bislang viel zu eng gesehen worden. Für mich bedeutet eine Familienkasse - man kann sie auch anders nennen: Familienschatulle, Familienfonds, wie auch immer -, daß wir die Leistungen neu formulieren. Wir müssen uns überlegen, welche Familien hauptsächlich unterstützt werden sollen und in welcher Zeit Familien unterstützt werden sollen. Das ist doch das Thema. Vielleicht stimmen Sie da mit mir überein.
Wann brauchen eigentlich Familien das meiste Geld, die meiste Unterstützung, die meisten Mittel? Doch in der Zeit des Aufbaus. Das ist doch die Zeit, in der die Unterstützung fehlt. Da stimme ich mit Ihnen überein: Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen die familienpolitischen Leistungen dann gewähren, wenn die Familie sie braucht, und nicht dann, wenn es nicht mehr nötig ist.
Ich meine schon, daß die Einrichtung einer Familienkasse, wie sie im Zusammenhang mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme vorgeschlagen wurde, der richtige Weg ist. Die Familienkasse bietet nämlich die Möglichkeiten, Maßnahmen neu zu bündeln und Ziele neu zu formulieren. Die vorgeschlagene Steuerfinanzierung dieser Familienkasse stellt sicher, daß die gesamtgesellschaftliche Solidarität eingefordert ist. Aber ich denke, dies wird auch in der Zukunft noch ein Thema sein, bei dem wir gemeinsam überlegen und diskutieren sollten.
Ich kann jedenfalls nur für mich heute sagen: Ich habe auch Sympathie für das Zeitkonto, durchaus, Frau Grießhaber. Aber ich habe überhaupt keine Sympathie für die Vorstellungen, die Sie, die Kolleginnen und Kollegen der SPD, hier eingebracht haben. Von daher lehne ich diese Vorschläge ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4526 und 13/6577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Lage der Fischerei und Schutz vor den Folgen der Überfischung der Meere
- Drucksache 13/6960 -
Interfraktionell ist vereinbart, die Redebeiträge zu dem Tagesordnungspunkt 6 zu Protokoll zu geben.*) Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 13/6960. Wer stimmt für den Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/ CSU, der F.D.P., der SPD und bei Enthaltung der Gruppe der PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Simone Probst, Dr. Angelika Köster-Loßack, Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Perspektiven für die europäische Forschungspolitik
- Drucksache 13/6411 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie, Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Dr. Peter Glotz, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Ursula Burchardt, Dr. Peter Glotz, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft
- Drucksachen 13/3511, 13/771, 13/1389, 13/ 6855 -
*) Anlage 2
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Gerhard Päselt Ursula Burchardt
Dr. Manuel Kiper
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Wolfgang Bierstedt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Der Kollege Wolfgang Bierstedt hat darum gebeten, seinen Redebeitrag zum Tagesordnungspunkt 7 zu Protokoll zu geben.*) Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Simone Probst.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über die Neukonzeption von Forschungsprogrammen. Es geht hier um eine mittel- und langfristige gesellschaftliche Vision, über die wir auch hier im Parlament diskutieren werden. Bei einem solchen Vorhaben geht es um das Prinzip der Nachhaltigkeit. Auch die Gerechtigkeit zwischen den Generationen muß hier ganz besonders verankert werden.
Der Forschungsausschuß empfiehlt einstimmig die Annahme des Antrages der SPD zur zukunftsfähigen Forschungspolitik. Die Kernaussage ist: Ökologie muß der Motor für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sein.
Schön, kann man da nur sagen. Wir haben uns darüber wirklich gefreut. Allerdings ist zu befürchten, daß es sich bei dem Bekenntnis der Regierung zur Nachhaltigkeit einfach nur um Rhetorik handelt. Sehen kann man dies bei der Diskussion um das 5. Europäische Forschungsrahmenprogramm. Das neue Rahmenprogramm ist sozusagen die Gelegenheit, die Forschungsziele der Vergangenheit einer kritischen Prüfung zu unterziehen und auch eine Neuausrichtung vorzunehmen.
Die Stichworte, die bisher von Herrn Rüttgers dazu zu vernehmen waren, waren allerdings nur „Hochleistungsforschung", „technologische Aufholjagd" und „Wettbewerbsfähigkeit" . Allerdings soll die technologische Aufholjagd nicht im Bereich der Photovoltaik stattfinden. Nein, der Aufbau einer weltweit wettbewerbsfähigen Photovoltaikindustrie in Europa zählt nicht zu den Schwerpunktprojekten der Bundesregierung. Hier überläßt man das Feld untätig den Japanern und den USA.
Herr Rüttgers will dagegen viel lieber Milliardenbeträge in die Entwicklung eines Euro-Jumbos stekken.
*) Anlage 3
Sicherlich geht es in der Forschungspolitik nicht um die Frage: Photovoltaik oder Megaliner? Das ist nur ein besonders krasses Beispiel aus dem Bereich der Industriepolitik. Wenn man über die Neuausrichtung der Forschungspolitik spricht, muß dies sicherlich sehr viel tiefer gehen.
Aber es reicht eben nicht aus, nur ein bißchen an der richtigen Technikschraube zu drehen, damit plötzlich alles umweltfreundlich läuft, wie die Vorstellungen in diesem Hause anscheinend oft sind. Es muß zunächst ein Rahmen für die Forschungsanstrengungen geschaffen werden. Hier muß an erster Stelle die ganz konkrete Definition von Einsparzielen stehen, insbesondere für die Bereiche Energie, Wasser, Fläche und Rohstoffe. Bei der Forschung im europäischen Rahmen stehen insbesondere die globalen Umweltveränderungen und im Bereich der Sozialforschung die Frage nach der Zukunft der Arbeit auf der Tagesordnung.
Auch bei der Organisation der Forschung muß sich einiges ändern. Wenn man wirklich, wie es praktisch auch in dem Antrag festgeschrieben wird, die Wirtschaftlichkeit, die Sozialverträglichkeit und die Umweltverträglichkeit als gleichrangige Ziele der Forschungspolitik begreift, dann kann es keine reine Technologieförderung mehr geben, sondern dann wird es nur noch sinnvolle Forschungsorganisationen geben können, die interdisziplinär arbeiten.
Am Beispiel der Klimaforschung kann man besonders deutlich sehen, warum technologische Forschung alleine einfach nicht ausreicht. Natürlich erfordern globale Umweltveränderungen wie Ozonloch oder Treibhauseffekt Messungen, Satellitenmessungen, internationale Kooperation, gemeinsame Standards und Datenaustausch. Das alles ist gut und richtig und muß auch gemacht werden. Wenn man allerdings den Treibhauseffekt stoppen will und den Menschen als Verursacher in den Mittelpunkt stellt, braucht man auch eine sozialwissenschaftliche Datengrundlage. Der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderungen fordert deshalb seit Jahren, Anstrengungen für ein internationales „social monitoring" zu unternehmen, um Einstellungen, Motivationen und Verhaltensweisen genauso zu erfassen wie den Ozongehalt in der oberen Atmosphäre. Solch ein Projekt wäre gut und bräuchte einen internationalen Rahmen.
Die Vorstellungen der Bundesregierung zur Forschung in der EU heben allerdings sehr stark auf Großprojekte ab. Der Megaliner, den ich eben erwähnt habe, ist ein Beispiel, die Fusionsenergie ein anderes. Das heißt, Brüssel bleibt weiterhin ein Selbstbedienungsladen für die Großindustrie, und die nationalen Regierungen benutzen Europa als Methode, um umstrittene Großprojekte den nationalen Legitimationszwängen zu entziehen.
Wir wollen etwas anderes. Eine der konkreten Forderungen in unserem Antrag ist, ein Drittel der Mittel aus dem europäischen Forschungsrahmenprogramm dem Wissenschaftleraustausch und der internationalen Zusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Das wäre sehr konkrete europäische Forschungspolitik. Wir begrüßen den Vorschlag, das
Simone Probst
Mobilitätsprogramm für Forscher auf Unternehmen auszuweiten. Allerdings sollte dies auf kleine und mittlere Unternehmen konzentriert werden. Denn all die, die Sie immer als Global Player bezeichnen, haben sicherlich selbst Geld genug, um so etwas zu bezahlen.
Das heißt, unser Anliegen ist es, die europäische Forschungspolitik nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit auszurichten. Das fünfte europäische Forschungsrahmenprogramm wird erstellt. Ich hoffe, es wird sich an diesem Prinzip auch messen lassen.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Martin Mayer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Antrag der Grünen stehen vernünftige Gedanken zum Umweltschutz, zur Nachhaltigkeit, zur Vernetzung von Forschungskapazitäten und zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Die Vorschläge sind, Frau Kollegin Probst, allerdings mit Klassenkampfparolen,
: Ich doch nicht! Das haben Sie noch
nie von mir gehört, Herr Mayer! - Gegenruf
des Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]:
Das stimmt! Sie nicht!)
bösartigen Unterstellungen gegenüber der Bundesregierung und falschen Rezepten gewürzt. Daher sind diese Vorschläge ungenießbar.
Dafür gibt es Beispiele. Die Grünen beklagen die Industrienähe - Sie haben das jetzt noch einmal gebracht - der europäischen Forschungsförderung sowie die Defizite in der Technologiefolgenabschätzung und Grundlagenforschung. Da kann man nur sagen: Schauen Sie einmal in den EU-Vertrag. Dort steht nämlich in Art. 130f Abs. 1 wörtlich:
Die Gemeinschaft hat zum Ziel, die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der Industrie der Gemeinschaft zu stärken . . .
Die Förderung der Grundlagenforschung dagegen liegt in der Zuständigkeit von Bund und Ländern.
Die Grünen kritisieren die Orientierung der europäischen Forschungspolitik an den Interessen der Großindustrien und die Ausrichtung auf Wettbewerbsfähigkeit und Markt. Diese Kritik ist unsinnig und schädlich. Wie sollen denn neue Arbeitsplätze entstehen, wenn sich die öffentliche Forschungsförderung nicht gemeinsam mit den Unternehmen um die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und um neue Anteile am Markt bemüht?
Die Grünen kritisieren, daß Großprojekte wie Fusionsforschung und Raumfahrt von der EU gefördert werden.
Zur Fusionsforschung. Wir wissen zwar nicht ganz sicher, ob und wann die Fusionsforschung einen Beitrag zur Energieversorgung leisten kann.
Eines aber wissen wir sicher: Wenn wir diese Forschung nicht auf europäischer Ebene betreiben, dann verbauen wir uns endgültig eine wichtige Option und Chance zur umweltfreundlichen Energieversorgung für unsere Enkel. Das darf nicht sein.
Zur Raumfahrt. In der Raumfahrt heißen die Alternativen genauso wie in der Luftfahrt: entweder europäische Zusammenarbeit oder Bedeutungslosigkeit. Die Trägerrakete Ariane und die Airbus-Familie beweisen das im positiven Sinn. Deshalb fordern wir im Gegensatz zu den Grünen einen stärkeren Einsatz von europäischen Mitteln für die Luftfahrtforschung. Das käme im übrigen auch vielen Mittelständlern und Zulieferern zugute.
In der Aufgabenverteilung bei der Förderung der Forschung zwischen Europa und den Mitgliedstaaten muß die Adäquanz der Ebenen von Forschung und Anwendung gelten: Was nicht national, sondern nur im europäischen Verbund produziert werden kann, muß in Forschung und Entwicklung bevorzugt von Europa gefördert werden. Das, was die kleineren und mittleren Unternehmen an Produkten und Diensten anbieten, muß in erster Linie in die Zuständigkeit von Bund und Ländern fallen. Das schließt im übrigen nicht aus, daß die EU die innereuropäische Zusammenarbeit von kleinen und mittleren Unternehmen zusätzlich fördert und damit die Innovationskraft dieser Betriebe stärkt.
Die Grünen fordern neue und erweiterte Beteiligung bei der Formulierung des 5. Europäischen Forschungsrahmenprogramms. Da stellt sich die Frage: Sollen wir die europäische Meinungs- und Entscheidungsfindung, die mit dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat, dem Wirtschafts- und Sozialausschuß und dem Rat der Regionen ohnehin schon schwerfällig ist, durch zusätzliche Gremien noch schwerfälliger machen und zum Erlahmen bringen? Der globale Wettbewerb fordert doch das Gegenteil, nämlich Vereinfachung und klare Verantwortlichkeit.
Die Grünen wollen mit ihrem Antrag die Förderung der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Tieren zugunsten der Nutzung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für industrielle Zwecke blockieren.
Die Anwendung der Gentechnik zur Veränderung von Pflanzen und Tieren für die Nutzung als Rohstoffe bietet für die Zukunft große Chancen für den Weg einer umweltfreundlicheren Produktion, aber auch für neue Produkte. Mit einer Blockade nach Grünen-Muster würde bei den nachwachsenden Rohstoffen ebenso wie bei der Herstellung von Arzneimitteln in den vergangenen Jahren eine zukunfts-
Dr. Martin Mayer
trächtige Entwicklung in Deutschland behindert. Einen solchen Schlag gegen die Zukunft Deutschlands darf es nicht geben.
Meine Damen und Herren, bei der Anwendung der Gentechnik zur Gewinnung von Arzneimitteln hat ein Teil der Grünen - Herr Kollege Kiper, Sie sind voranmarschiert - einen positiven Schwenk gemacht. Das muß man anerkennen. Die Grünen sind damit bei der Gentechnik genauso gespalten wie bei vielen anderen wichtigen Fragen der Zukunft. Sie sind nämlich gleichzeitig dafür und dagegen. Das ist politische Schizophrenie.
Deshalb mein Rat: Klären Sie doch zuerst in Ihren eigenen Reihen, was Sie eigentlich wollen, bevor Sie mit solchen Anträgen Parlament und Regierung schulmeistern wollen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Bodo Seidenthal.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Beratung des Antrages „Neue Perspektiven für die europäische Forschungspolitik" von Bündnis 90/Die Grünen sowie die Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichtes des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zum Entschließungsantrag „Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft" der SPD hätten, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine bessere Plazierung auf der heutigen Tagesordnung verdient. Denn jeder von uns weiß, daß diese Themen in Zukunft unser aller Aufmerksamkeit bedürfen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt so zu gestalten, daß die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts dauerhaft in einem vereinten Europa gesichert wird.
Am Übergang zum 21. Jahrhundert stehen sowohl Europa als auch die Bundesrepublik Deutschland vor großen politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen. Denn es geht darum, die Integration der Europäischen Union zu vertiefen und gleichzeitig die durch den Ost-West-Konflikt verursachte Teilung Europas zu überwinden, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu verbessern und die unerträglich hohe Arbeitslosigkeit abzubauen, der zunehmenden Entsolidarisierung in den europäischen Gesellschaften entgegenzuwirken und den Wohlfahrtsstaat an die neuen ökonomischen und sozialen Gegebenheiten anzupassen sowie schließlich die fortschreitende Zerstörung der
natürlichen Grundlagen unseres Lebens zu beenden und ein neues, am Grundsatz der Nachhaltigkeit orientiertes Wachstumsmodell zu entwickeln.
Die Tatsache, daß die Forschungs- und Technologiepolitik einen unverzichtbaren Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderungen leisten kann und muß, dürfte unstrittig sein. Strittig ist allerdings, wie dieser Beitrag konkret aussehen soll. Dies zeigen mittlerweile die zahlreichen Stellungnahmen zum 5. Forschungsrahmenprogramm der EU, die vorliegen, und auch der heute zur Beratung anstehende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
Für uns Sozialdemokraten steht fest, daß die FuTPolitik auf nationaler wie auf europäischer Ebene ihre Prioritäten neu setzen, ihr Instrumentarium verbessern und ihre Verfahren reformieren muß, wenn sie den an sie gestellten Anforderungen gerecht werden will. Es gilt bei der Aufstellung des 5. Forschungsrahmenprogramms Defizite abzubauen, um „die größte Schwäche des europäischen Forschungssystems" zu überwinden, die in der „beschränkten Fähigkeit zur Umsetzung der wissenschaftlichen Ergebnisse und technologischen Errungenschaften in industrielle und kommerzielle Erfolge" gesehen wird.
Um den neuen Herausforderungen gerecht werden zu können, ist nach unserer Auffassung weiterhin eine aktive Rolle des Staates erforderlich. Mit der Bereitstellung und Sicherstellung von günstigen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und mit der Finanzierung von Grundlagenforschung wird es zukünftig nicht mehr getan sein. Ich weiß, wir wissen, daß der Staat gesellschaftliche und technische Entwicklungen nicht steuern kann. Aber zur Bewältigung der genannten Probleme sollte er jedoch fünf Funktionen wahrnehmen. Er kann innovationsfördernde Rahmenbedingungen schaffen und erhalten, motivierende und orientierende Aufgaben für die Wirtschaft und die Wissenschaft stellen, die erforderliche wissenschaftlich-technische Infrastruktur bereitstellen, die sozial- und umweltverträgliche Diffusion und Anwendung von Technologien fördern und schließlich als Moderator die Kooperation von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft organisieren und intensivieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union hat mit dem Maastricht-Vertrag ein umfassendes forschungs- und technologiepolitisches Mandat erhalten. Fest steht jedoch, daß die Europäische Union in der Technologiepolitik zwar eine notwendige Rolle spielt, daß sie in ihrer jetzigen Form den an sie gestellten Anforderungen aber in Zukunft nicht gerecht werden kann.
Aus diesem Grund muß sich eine in die Zukunft gerichtete europäische FuT-Politik auf eine begrenzte Zahl von strategischen Leitprojekten konzentrieren; denn es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, daß eine formale Zuweisung von Kompetenzen allein nicht ausreicht, um eine gemeinschaftliche
Bodo Seidenthal
Politik zu gestalten. Diese Leitprojekte müssen sich an gesellschaftlichen Schlüsselproblemen in Europa orientieren und hätten im Vergleich zum bisherigen, technologie- und programmorientierten Vorgehen den Vorteil, die technologiepolitische Kraft Europas zu bündeln, anstatt sie auf eine Vielzahl von oftmals konkurrierenden europäischen, nationalen und regionalen Förderprogrammen zu zersplittern. Mit solchen Leitprojekten, die auf einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren angelegt sein sollen, erhalten Wirtschaft und Wissenschaft wichtige Orientierungshilfen über die längerfristigen gesellschaftlichen Anforderungen an die Technikentwicklung. Dazu einige Beispiele.
Die Stärkung europäischer Kompetenz und Innovationsfähigkeit im weltweiten Wettbewerb ist die Voraussetzung für die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Eröffnung neuer Beschäftigungschancen, so zum Beispiel in der Mikroelektronik mit Blick auf neue Anwendungen in den Bereichen Multimedia, Verkehr und Produktion, der Nanotechnik, der Supraleitung, der Biotechnologie und Biomedizin sowie der Forschung und Entwicklung im Luftfahrtbereich.
Ein zweiter Punkt könnte die Lösung gesellschaftlicher und politischer Fragestellungen von grenzübergreifendem Charakter beinhalten, so zum Beispiel bei globalen Umweltveränderungen und Klimafolgen, in der Meeresforschung, bei neuen Viruserkrankungen und Impfstoffen sowie die gemeinsame Nutzung aufwendiger wissenschaftlich-technischer Großgeräte.
Aber auch die Unterstützung gemeinschaftlicher Politiken durch Forschung und Technologie gehört dazu. Dies könnte bei der Vernetzung der nationalen Verkehrssysteme und bei einer effizienten Kombination der Verkehrsträger der Fall sein.
Zum Schluß nenne ich die Entwicklung gemeinsamer Normen und Standards, um Neuerungen im gesamten Binnenmarkt eine Chance zu geben und von europäischer Seite auf weltweite Festlegungen Einfluß nehmen zu können. Ich erinnere die Kollegen, die schon länger im Bundestag sind, an das hochauflösende Fernsehen. Dort sind wir hinten heruntergefallen, weil wir nicht rechtzeitig zu Normen gekommen sind.
Auf dem Weg zum 5. Forschungsrahmenprogramm muß aber auch eine Reform der administrativen Strukturen und Verfahren durchgeführt werden. Sie sollte den Verzicht auf das zweistufige Rechtssetzungsverfahren bei der Verabschiedung der Forschungsprogramme der Europäischen Union, die Reorganisation der Zuständigkeiten in der Kommission, die Verbesserung der Koordination zwischen den Dienststellen der Kommission, die Dezentralisierung der Programmverwaltung und die Einführung eines zweistufigen Antragsverfahrens enthalten.
Im Hinblick auf die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen hat sich die bislang stark zentralisierte Organisation der Forschungsförderung als unzweckmäßig erwiesen. Geht man davon aus, daß
es sich bei den Adressaten dieser Förderung um echte KMUs handelt und nicht um formal ausgegliederte Teile großer Unternehmen, ist der Aufwand für die Kommunikation und Abstimmung mit einer weit entfernt angesiedelten zentralen Verwaltung für diese zu hoch. Institutionell sollte hier einer regionalen Verwaltung vor Ort der Vorrang gegeben werden.
Auch die Rolle der gemeinsamen Forschungsstelle sollte einer Redefinition unterzogen werden. Angesichts der Kritik an dieser Organisation, der mangelnde Effizienz vorgeworfen wird, sollte über deren künftige Funktion verstärkt nachgedacht werden.
Da wir in den Ausschußberatungen genügend Zeit haben, um die konkreten Schwerpunkte zu diskutieren, möchte ich es bei diesen wenigen Ausführungen bewenden lassen. Es kommt für die europäische FuT-Politik darauf an, eingefahrene Wege bei der Programmplanung zu verlassen und die bisherigen Maßnahmen durch größere Marktnähe und durch Einschwenken auf einen sozialen und ökologischen Gestaltungspfad zu ergänzen. Eine Forschungspolitik, die auf eine entsprechende Kurskorrektur verzichtet und auf ihren traditionellen Fundamenten beharrt, vermag keine dauerhaft tragfähige und stabile Brücke in die Zukunft zu schlagen.
Diese Brücke, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, werden wir mit Ihnen nur teilweise bauen; denn der Forderung, die außerhalb des Forschungsrahmenprogramms stattfindende Atom- und Fusionsforschung einzustellen - Ziffer 11.5 -, können wir uns so nicht anschließen. Atom- und Fusionsforschung sollten nicht in einen Topf geworfen werden. Es ist richtig, daß die weitere Atomforschung keiner öffentlichen Finanzierung mehr bedarf. Dies gilt aber nicht für die Perspektiven der Fusionsforschung, die als Grundlagenforschung und mögliche Option auch weiterhin einer öffentlichen Förderung bedarf.
Auch der Forderung, die gentechnische Pflanzenzucht zu beenden - Ziffer II.6 -, können wir uns so nicht anschließen. Die Rolle der Biotechnologie wird vielmehr auch in den im Antrag genannten Bereichen an Bedeutung gewinnen und hat durchaus positive Aspekte.
Der gutgemeinte, aber etwas hilflos wirkende Versuch, den freien Austausch von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen durch die Einrichtung einer fahrradfreundlichen Stadt zu bewerkstelligen, greift ebenfalls zu kurz.
Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie eher auf eine lokale Lösung der Verkehrsprobleme setzen, treten wir Sozialdemokraten für die Vernetzung der nationalen Verkehrssysteme, für eine effiziente Kombination der verschiedenen Verkehrsträger und für transeuropäische Netze ein.
Bodo Seidenthal
Zu den übergreifenden Themen ist abschließend anzumerken, daß die Gründung einer Frauenuniversität - Ziffer II.9 - keinen Beitrag darstellt, die bestehende Ungleichgewichiung zwischen Forscherinnen und Forschern zu beheben.
Wir werden dem Überweisungsantrag zustimmen. Herzlichen Dank, daß Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Fraktionen im Forschungsausschuß waren sich einig, daß eine Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft die dauerhafte Sicherung der Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes zum Ziel haben muß.
Mehr als eine Verständigung durch die Ausrichtung der Forschungstechnologiepolitik auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung war nicht zu erwarten, wenn man einen Antrag so formulierte, daß alle Fraktionen des Ausschusses ihm zustimmten. Es ist deshalb für mich als einzigen Redner der F.D.P. in der heutigen Debatte müßig, näher auf die Details dieses ohnehin einvernehmlichen Antrags einzugehen.
Statt dessen möchte ich mich mit den Perspektiven der Grünen für eine europäische Forschungspolitik auseinandersetzen.
Das Leitbild der Nachhaltigkeit kommt auch in diesem Antrag vor. Allerdings ist es das einzige, was ich davon heute streitlos dahinstellen möchte.
Vor dem Hintergrund einer in Deutschland wie in Europa insgesamt stetig ansteigenden Anzahl von Menschen, die ihren Arbeitsplatz im produzierenden Bereich der Volkswirtschaft verloren haben, beklagen Sie, daß auf europäischer Ebene zwei Drittel der Forschungsmittel für Technologieförderung in den Bereichen Chemie-, Agrar- und Elektroindustrie aufgewendet werden. Dies sind die von der unaufhaltbar um sich greifenden Globalisierung unmittelbar und am stärksten betroffenen Zweige. Mit der Gen- und der Biotechnologie sowie der Informationstechnik sind dies die mit den größten Potentialen versehenen Hoffnungsfelder, in denen Arbeitsplätze geschaffen werden müssen.
Die Antwort der Grünen auf die Herausforderung der Globalisierung ist die Behebung der finanziellen Defizite in den Bereichen sozialwissenschaftliche Forschung, Technikfolgenabschätzung und Umweltforschung. Bewußt oder unbewußt untermauern Sie
mit Anträgen dieser Art die weit verbreiteten Klischees Ihrer grünen Politik.
Wir haben alle aus den Erfahrungen mit dem 4. Europäischen Forschungsrahmenprogramm unsere Lehren gezogen. Jeder hat hier mehr oder weniger massive Kritik vorzubringen gehabt. Sehr bedenklich erscheint mir allerdings die Forderung der Grünen, die die Subsidiarität besonders nachdrücklich fordern, zukünftig ausgerechnet die Grundlagenforschung, die die originäre Aufgabe der Hochschulen und damit der Länder ist - einzelne Themenbereiche werden auch von Max-Planck-Instituten übernommen -, auf europäischer Ebene zu stärken.
Die F.D.P. begrüßt die bereits von Frau Kommissarin Cresson in Aussicht gestellte Fokussierung der EU-Förderung. Sie unterstützt auch Herrn Minister Rüttgers und die Vorschläge des Ministeriums zur Umsetzung dieser thematischen Schwerpunkte.
Fest steht, daß mit der von Herrn Rüttgers vorgestellten Förderidee der Leitprojekte eine Fokussierung der Förderung möglich ist, ohne in den Verdacht staatlich interventionistischer Industriepolitik zu geraten.
Bei der Aufgabenteilung zwischen europäischer und nationaler Forschungspolitik muß man nach Auffassung der F.D.P. die Subsidiarität in den Vordergrund stellen. Es ist klar, daß Vorsorgeforschung, wie sie im Bereich der Klima-, Umwelt- und Gesundheitsforschung betrieben wird, keinerlei nationalspezifischen Nutzen hat, sondern global der Menschheit insgesamt zugute kommt. Das Bewußtsein für die Bedeutung der Vorsorgeforschung ist in Deutschland allerdings stärker ausgeprägt als in unseren benachbarten EU-Staaten.
Das drängendste Problem des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist allerdings die Arbeitslosigkeit. Deshalb muß ein S. EU-Rahmenprogramm seine Schwerpunkte dort ansiedeln, wo Arbeitsplatzeffekte - dabei meine ich Arbeitsplätze, die sich aus ihrer eigenen Produktivität heraus finanzieren - im positiven Sinne zu erwarten sind. Deshalb wäre es unverantwortlich, auf europäischer Ebene Gentechnik, Weltraumforschung sowie Fusions- und Nuklearforschung einzustellen.
Ich stimme den Grünen zu, wenn sie feststellen, daß immenser Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der Entwicklung von Konzepten, die eine gerechte Verteilung von Erwerbs-, Produktionsarbeit und Einkommen ermöglichen; allerdings nur insofern, als bis heute noch nicht der Ansatz eines solchen Konzepts erkennbar ist. Wir müssen uns deshalb darauf einstellen, daß es ein solches Konzept aus übergeordneten natürlichen Gegebenheiten nicht geben kann. Da ich letzteres für wahrscheinlicher halte, wäre es fatal, darauf nicht vorbereitet zu sein.
Dr. Karlheinz Guttmacher
Insgesamt dokumentiert der Antrag der Grünen für mich den Versuch, mit der Sichtweise eines Ortsvereins europäische Politik zu betreiben.
Ich erteile jetzt dem Parlamentarischen Staatssekretär Bernd Neumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es liegen zwei Anträge unterschiedlicher Qualität und Ausrichtung vor: zum einen der Antrag der Grünen zur europäischen Forschungspolitik, in dem die Forschungspolitik generell angesprochen wird, und zum anderen die interfraktionelle Beschlußempfehlung zum Antrag der SPD zu einer zukunftsverträglichen Gestaltung der Industriegesellschaft. Ich möchte zu beiden Vorlagen kurz etwas sagen.
Zunächst zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur europäischen Forschungspolitik. Seit einigen Tagen liegt ein erstes Arbeitspapier der Kommission zum 5. EU-Rahmenprogramm Forschung für die Jahre ab 1999 vor. Dieser auf Arbeitsebene vorgeschlagene Programmentwurf berücksichtigt wesentliche Forderungen der Bundesregierung, die wir in unserem Positionspapier vom 4. Juli 1996 dargelegt haben. Ich weiß nicht, ob sich die Kollegen aus dem Ausschuß daran erinnern: Dieses Papier, Herr Kollege Seidenthal, enthält eine Reihe berechtigter Forderungen, die Sie vorgetragen haben.
Als Stichworte, die Eingang in diesen Kommissionsentwurf gefunden haben, nenne ich: Konzentration auf prioritäre Forschungsthemen von europäischer Dimension - das ist das, was kritisiert wurde -, mehr Gewicht für die europäische Nachwuchsförderung und auch ein besonderes Gewicht - das haben wir ebenfalls immer wieder gefordert - für die KMU- Förderung.
Die im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufgestellte Behauptung, die Bundesregierung orientiere sich bei ihren Schwerpunktsetzungen ohne Einschränkungen nur an der Wettbewerbsfähigkeit und am Markt anstatt an den Interessen der Bürger, zeigt, daß sie das Positionspapier der Bundesregierung sehr einseitig gelesen haben. Im übrigen glaube ich, daß dieses Papier mit den Interessen der Bürger insoweit in großem Maße identisch ist; denn durch Wettbewerbsfähigkeit und Markt werden Arbeitsplätze geschaffen.
Sie haben also, Frau Kollegin Probst, in Ihrem Antrag wesentliche Zusammenhänge nicht wahrgenommen.
Die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Erhaltung einer lebenswerten Umwelt stehen ganz oben in der Werteskala der Bürger. Genau auf diese Themen sind die Vorschläge der Bundesregierung für das 5. EU-Rahmenprogramm gerichtet.
Arbeitsplätze entstehen vor allem in Unternehmen und können auf Dauer nur gesichert werden, wenn die Unternehmen am Markt ohne staatliche Subventionen wettbewerbsfähig sind. Forschung und Innovation sind nicht nur Voraussetzungen für Arbeitsplätze von morgen, Forschung und Innovation geben uns gleichzeitig die Chance, zur Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen entscheidend beizutragen. Nur soweit zum 5. Europäischen Rahmenprogramm Forschung.
Es ist auf einem guten Weg, was aber nicht bedeutet, daß viele der Dinge, die der Kollege Seidenthal vorgetragen hat, Schritt um Schritt umgesetzt werden müssen. Es ist leider bei weitem noch nicht alles verwirklicht worden, was uns in unserem Positionspapier vorschwebte; aber wir haben einige wichtige Schritte - ich denke an die Prioritätensetzung - gemacht.
Der zweite Punkt ist der zumindest im Ausschuß interfraktionell verabschiedete Antrag zum Thema „Zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft". Wir betrachten diesen Antrag als positives Signal für die Forschungspolitik der Bundesregierung, manche bereits begonnenen Dinge fortzusetzen und andere zu verstärken.
Mit fünf an die Bundesregierung gerichteten Forderungen werden in der Beschlußempfehlung Themen angesprochen, die, wie wir glauben, in den letzten Jahren von der Forschungspolitik bereits aufgegriffen worden sind und weiterentwickelt werden müssen. Ich möchte Sie an Hand von fünf Themenschwerpunkten entsprechend der fünf Kernaussagen in der interfraktionellen Beschlußempfehlung zu diesem Antrag über den aktuellen Stand informieren:
Erstens. Frau Ministerin Dr. Merkel hat im Juli 1996 eine Initiative unter dem Motto „Schritte zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Entwicklung" eingeleitet, mit der das Leitbild "sustainable development" für Deutschland konkretisiert werden soll. Es geht darum, mittelfristig umweltpolitische Prioritäten festzulegen und dies in einem gesellschaftlichen Diskussionsprozeß zu tun. Das wurde gerade mehrfach von der Opposition gefordert. Inzwischen haben sechs Arbeitskreise ihre Arbeit aufgenommen; im Juni 1997 soll eine erste Zwischenbilanz gezogen werden.
Bereits am 19. Februar wurde der Bericht „Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung" vom Bundeskabinett für eine Sonderkonferenz der Vereinten Nationen im Juni 1997 verabschiedet. Dieser Bericht gibt den aktuellen Stand der Politik auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung wieder und liegt Ihnen bereits vor.
Zweitens. Um die Vernetzung von Forschung und Bedarf zu fördern, haben wir im Forschungsministerium Leitprojekte angestoßen. Der Kollege Guttma-
Parl. Staatssekretär Bernd Neumann
cher ist in Verbindung mit Europa bereits darauf eingegangen. In Abstimmung mit Wissenschaft, Wirtschaft und Nutzern sind erste Leitprojekte für vier Themenfelder ausgeschrieben worden. Das werden wir fortsetzen.
Auch bei der Aufstellung von Programmen hat die Forderung, die insbesondere von Ihnen, Frau Kollegin Bulmahn, gestellt wurde, gesellschaftliche Gruppen noch stärker zu beteiligen, Eingang gefunden. Als Beispiel sei das Umweltforschungsprogramm der Bundesregierung genannt, für das dieser Abstimmungsprozeß noch läuft. Das dauert alles etwas länger und ist schwieriger, aber wir sind dabei, eine breite Palette aller möglichen betroffenen und sachverständigen Organisationen einzubeziehen.
Drittens. Beispiele für eine stärkere Koordinierung, die auch im Antrag gefordert wird, und Abstimmung der Fördermaßnahmen zwischen den Ressorts sind die Mobilitätsforschungspolitik, die Meeres- und Polarforschung sowie das bereits genannte Umweltforschungsprogramm. Das bedeutet nicht, daß dies nicht noch verbessert werden kann und soll.
Viertens. Die beiden Forderungen zur inhaltlichen Schwerpunktsetzung, nämlich die Erarbeitung von Wissen über die Funktionsweise natürlicher, ökonomischer und sozialer Systeme sowie die Konzentration der Technologieförderung auf integrierte Technik, sind aufgegriffen worden. Sie haben bereits zu einer deutlichen Verlagerung auch der Fördermittel zugunsten dieser Bereiche geführt.
Fünftens. Allein für den produkt- und produktionsintegrierten Umweltschutz, für den 1996 Projektmittel in Höhe von knapp 50 Millionen DM ausgegeben wurden, sind in diesem Jahr trotz Sparmaßnahmen in anderen Bereichen über 60 Millionen DM vorgesehen.
Meine Damen und Herren, entscheidend für die Zukunft ist aus meiner Sicht nicht allein, daß neues Wissen erarbeitet und Handlungsoptionen aufgezeigt werden, entscheidend ist vielmehr die Nutzung dieses Wissens für Innovationen zur Schaffung von Arbeitsplätzen einerseits und zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen andererseits.
So können Beiträge der Biotechnologie beispielsweise zur Entkoppelung von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum und der Umweltnutzung führen. Fortschritte in der Gentechnik können es ermöglichen, ausreichende Mengen von Nahrungsmitteln für eine wachsende Weltbevölkerung auf weltweit abnehmenden nutzbaren Böden zu produzieren und gleichzeitig den umweltbelastenden Einsatz von Pflanzenschutzmitteln deutlich zu reduzieren. Auch zu diesem Teil des Antrages möchte ich mehr sagen.
Diesen interfraktionellen Antrag zu einem an sich sonst immer sehr kontrovers diskutierten Thema empfinden wir als eine positive Sache. Er sollte ein Signal dafür sein, daß wir zukünftig bei der Lösung dieser für die Zukunft der Menschheit zentralen Fragen - der Umweltfragen - trotz einer Reihe parteipolitischer Unterschiede möglichst positiv und konstruktiv zusammenarbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von allen Seiten dieses Hauses wird immer wieder die Bedeutung von Forschung und technologischer Entwicklung hervorgehoben. Ich kann dem Kollegen Seidenthal nur beipflichten. Dem entspricht allerdings in der Regel - der heutige Abend ist ein Beispiel dafür - nicht die Plazierung der Punkte auf der Tagesordnung des Bundestages.
Viel geredet wird auch über die zentrale Bedeutung von Innovationen für die Zukunftssicherung. Doch durch Rhetorik allein ändert sich nichts. Gefordert sind neues Denken und neues Handeln. Innovation heißt nichts anderes, als aus den alten Routinen herauszukommen, heißt Umdenken und strategische Neuorientierung gerade in der Politik und beim staatlichen Handeln.
Deshalb war und ist der Forschungsausschuß mit der Vorlage der bemerkenswerterweise einstimmigen Beschlußempfehlung „Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft" im besten Sinne innovativ.
Wir stellen fest: Das alte Fortschrittsmodell trägt nicht mehr. Mit den Rezepten und Annahmen von gestern bekommen wir nicht die Probleme von heute - und schon gar nicht die von morgen - in den Griff. Wirtschaftswachstum und soziale Kürzungen schaffen nicht automatisch neue Arbeitsplätze. Steigende Arbeitslosenzahlen bei gleichzeitig steigenden Aktienkursen sind ein trauriger Beleg dafür.
Die volkswirtschaftlichen und sozialen Kosten der Umweltzerstörung wachsen gewaltig. Darauf verweisen nicht gerade Öko-Fundis, sondern Sachverständige der Bundesregierung und vor allen Dingen die Versicherungsbranche.
Letztendlich wissen wir ja mittlerweile, daß nicht jede technische Entwicklung per se Steigerung von Lebensqualität und Wohlstand bedeutet. Vielmehr müssen sich technische Innovationen am gesellschaftlichen Bedarf orientieren und mit sozialen und strukturellen Innovationen verknüpft sein.
Wir brauchen eine Innovationsoffensive, die die natürlichen Lebensgrundlagen sichert, die wirtschaftliche Entwicklung vom Ressourcenverbrauch abkoppelt, Arbeitsplätze schafft und Lebenschancen gerechter verteilt. Überfällig - so stellt der Forschungsausschuß fest - ist eine Innovationsoffensive
Ursula Burchardt
für neue Produkte, Dienstleistungen und Verfahren, neue Formen des betrieblichen Managements, eine Vitalisierung von Demokratie und Mitgestaltung, die Abkehr von der Ex-und-hopp-Mentalität und die Übernahme der Verantwortung für die kommenden Generationen.
Nicht jede Entwicklung ist Zukunftssicherung. Die Richtung muß stimmen. Deshalb hat der Forschungsausschuß das Leitbild nachhaltiger Entwicklung als das zentrale, als das neue Fortschrittsmodell identifiziert:
Die Ökologie übernimmt die Rolle eines Motors für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Nun hat sich die Bundesregierung vor fünf Jahren - das ist eben schon angesprochen worden - in Rio mit der Zustimmung zur Agenda 21 zu dieser nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung bekannt. Wenige Monate vor der UN-Bilanzkonferenz in New York müssen wir allerdings feststellen: Es hakt bei der systematischen und entschlossenen Umsetzung der Empfehlungen von Rio und der eingegangenen Verpflichtungen. Die Kluft zwischen Absichtserklärungen und dem tatsächlichen Handeln ist nach wie vor groß, Herr Neumann. Das räumt die Bundesregierung in dem von Ihnen zitierten Kabinettsbericht zur Rio-Bilanz auch ein. Man muß sich dafür den Bericht einmal genauer anschauen und nicht nur die Zeilen selbst, sondern auch zwischen den Zeilen lesen.
Die Agenda 21 erfordert als das Aktionsprogramm für den Übergang ins 21. Jahrhundert mehr als das, was bislang geleistet worden ist. Sie erfordert nämlich die Entwicklung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie im Konsens mit allen gesellschaftlichen Gruppen und unter Einbeziehung aller staatlichen Ebenen.
„Die Steuerung dieses gesellschaftlichen Prozesses ist nicht allein Aufgabe der Umweltpolitik", sagte Staatssekretär Hirche im Dezember hier in der Fragestunde. Ich kann nur sagen: Recht hat er. Alle Ressorts sind in der Verantwortung, ihren spezifischen Beitrag zu leisten, auch und gerade die Forschungs- und Technologiepolitik. Vor allem aber - darauf weist die Beschlußempfehlung eindeutig hin - muß Nachhaltigkeit Chefsache sein. Deswegen richten sich unsere Vorschläge an die gesamte Regierung und nicht nur an das Umwelt- und an das Forschungsressort.
Nicht überall, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auch Nachhaltigkeit drin.
Weil wir es nicht bei Rhetorik belassen wollen, haben wir die Essentials für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, wie sie die Agenda 21 fordert, definiert. Sie umfaßt die Festlegung von Umweltzielen, Instrumenten und Maßnahmen, eine Auflistung des Forschungsbedarfs und der Forschungsprioritäten und ein ernsthaftes Evaluierungsverfahren. Im Kern läuft
das auf die Entwicklung eines nationalen Umweltplanes hinaus.
Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt", deren Auftrag es ja auch ist, die Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Agenda 21 zu entwickeln, hat zwischenzeitlich eine internationale Bestandsaufnahme zum Stand der Umweltpläne und der Erfahrungen gemacht. Das Ergebnis ist hochinteressant. - Ich habe bislang auf Ihren Zwischenruf gewartet, Herr Mayer. Er ist nicht gekommen.
- Da haben wir es endlich.
Ein Umweltplan ist kein Folterwerkzeug aus der Mottenkiste der Planwirtschaft. Er ist vielmehr ein neues, unbürokratisches und äußerst flexibles Planungs- und Managementinstrument auf der Basis eines gesellschaftlichen Konsenses,
zu dem allerdings nicht nur Unternehmer und nicht nur Wissenschaftler, sondern alle gesellschaftlichen Gruppen gehören.
Weil die internationalen Erfahrungen in der Bundesrepublik, insbesondere hier im Hause, noch nicht ganz so bekannt sind, will ich mich im folgenden schwerpunktmäßig noch einmal darauf konzentrieren, worum es dabei geht, was das Innovative und das Sinnvolle ist.
Ein Umweltplan enthält kurz-, mittel- und langfristige Ziele zur Umweltqualitätssicherung und zur Verringerung des Ressourcenverbrauchs. Es werden die zentralen Handlungsfelder, Branchen und die verantwortlichen Akteure benannt. Zeitliche Schritte und Maßnahmen zur Umsetzung werden festgelegt.
Derartige Pläne existieren in unterschiedlichster Form bereits in fünfzehn OECD-Staaten. Die Niederlande, derzeit immer wieder als das Modelland in unterschiedlicher Hinsicht gepriesen, arbeiten bereits an einem Folgeplan. Dort, aber auch in Schweden, Japan und Südkorea werden Umweltpläne nicht in erster Linie unter umweltpolitischen, sondern gerade unter wirtschafts- und technologiepolitischen Vorzeichen diskutiert. Deswegen lohnt es sich, diese Diskussionen intensiver zu betreiben.
Transparente, kalkulierbare Ziele und flexible Maßnahmen mobilisieren nämlich Verantwortung, Know-how, Innovation und Investitionen. Der gesellschaftliche Diskurs über Forschung und Technologiebedarf, über Konsummuster, über Lebensstile, über Zukunftsvisionen und auch über die Zukunft von Demokratie schafft das notwendige Innovationsklima.
Klare Rahmenbedingungen geben den Unternehmen die immer wieder eingeforderte Planungssicherheit, zum Beispiel für die Entwicklung ökologisch sinnvoller Verfahren, Produkte und Dienstleistun-
Ursula Burchardt
gen. Ressourcenschonung, das wird dabei deutlich, eröffnet ein riesiges Einsparpotential, nützt der Umwelt und sichert die Wettbewerbsfähigkeit. Die Ökologie wird so zur Langzeitökonomie.
Der gesellschaftliche Dialog über Umweltziele führt Forschung und Bedarf, grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung, Sozial- und Naturwissenschaft zusammen.
Letztendlich fördert und vernetzt ein Umweltplan die Einzelmaßnahmen und Planungen der Ressorts. An die Stelle von Abgrenzung würde dann Kooperation treten.
Wenn man bedenkt, daß die Erarbeitung eines Umweltplans drei bis fünf Jahre in Anspruch nimmt und andere schon längst damit angefangen haben, dann wird deutlich, daß sich die Bundesrepublik von der internationalen Spitze abgekoppelt hat und tatsächlich dabei ist, Innovationschancen zu verschlafen, und zwar Chancen zur Innovation im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich.
Jetzt hat Herr Neumann angesprochen: Die Sache mit den Umweltzielen und dem Umweltplan wird von Frau Merkel auf den Weg gebracht. Nun haben wir in der Enquete-Kommission die Diskussion auch mit Frau Merkel gehabt und haben uns mit dem Verfahren dieser runden Tische zur Identifizierung von Umweltzielen und zur Erarbeitung eines Umweltplanes beschäftigt.
Jetzt kann man sagen: Das ist auf den ersten Blick ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber will ich gar nicht streiten. Er hat nur zwei Fehler, die schon auf den ersten Blick erkennbar sind. Erstens. Es ist tatsächlich bislang immer noch Sache eines Ressorts. Ich darf dabei noch einmal auf das Zitat von Herrn Hirche verweisen. Sie sollten vielleicht einmal an das Kabinett herantreten und sagen: Das muß wirklich Chefsache werden und kann nicht allein bei der Umweltministerin hängenbleiben.
Zum zweiten sollte mit allen gesellschaftlichen Gruppen, die daran beteiligt sind, irgendwann demnächst eine Bilanz gezogen werden. Nicht nur die SPD-Fraktion, auch die beteiligten gesellschaftlichen Gruppen sind allerdings etwas irritiert, daß der Kabinettsbericht zu Rio und die Bilanzierung jetzt vorliegen, derweil der Diskussionsprozeß in diesen verschiedenen runden Tischen noch läuft. Das ist ein gravierender Makel, bei dem es, denke ich, noch gewissen Erklärungsbedarf gibt. Aber diese Diskussion und diese Debatte werden wir zu einer anderen Zeit in diesem Plenum fortführen.
Was die Forschungspolitik betrifft, so scheint das geplante Umweltforschungsprogramm ganz gut zu werden, Herr Neumann. Aber es ist eine unendliche Geschichte. Wir haben es immer noch nicht vorliegen.
Der Forschungsausschuß hält das allerdings nicht für ausreichend, sondern fordert eine generelle Orientierung der Forschungs- und Technologiepolitik am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung. Wir machen
konkrete Vorschläge, nicht nur semantisch, sondern faktisch und setzen damit Maßstäbe, die deutlich über das Bisherige hinausgehen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Innovationen erfordern ein gutes Innovationsklima, das heißt, sich mit dem Ziel zusammensetzen, den Konsens zur Lösung der zentralen gesellschaftlichen Probleme zu suchen, allen voran Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung. Das haben die Mitglieder des Forschungsausschusses exerziert. Natürlich bleiben Unterschiede. Aber wer Fortschritt will, muß sich bewegen.
Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Forschungsausschuß, die mit uns gemeinsam den Schritt in die richtige Richtung gegangen sind und werbe damit um Zustimmung für diese gemeinsame Beschlußempfehlung. Ich appelliere an alle, vor allem an die rechte Seite des Hauses, unsere Empfehlung, das, was wir dort auf den Tisch gelegt haben, nicht unter „ferner liefen" zu behandeln, sondern dieses als Basis für eine konstruktive Politik im Interesse der Zukunft dieses Landes zu nehmen.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Gerhard Päselt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Burchardt, ich darf mich für die letzten Worte bedanken und glaube, besser als das, was Sie zur Erarbeitung dieses Antrages gesagt haben, hätte ich es nicht ausdrücken können. Ich darf das so dazu bemerken.
Das hat nichts mit Schmusekurs zu tun. Die gesamte Debatte heute zeugt davon, daß hier eine größere Übereinstimmung als sonst in anderen Ausschüssen herrscht.
Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte war die Evaluierung der westdeutschen Umweltforschung und daraus im Ergebnis die Große Anfrage der SPD- Fraktion „Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft" sowie deren Beantwortung durch die Bundesregierung. Im Ergebnis sehr intensiver Beratungen im Forschungsausschuß liegt Ihnen heute eine fraktionsübergreifende konsensfähige Beschlußempfehlung vor, die im Ausschuß einstimmig verabschiedet wurde.
Wie bei einem fraktionsübergreifenden Konsens nicht anders zu erwarten, handelt es sich um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies ist bemerkenswert. Die heutige Debatte machte dies sicher noch einmal deutlich. Dem einen geht die Regierungsschelte nicht weit genug, und der andere hätte sich ein höheres Lob für die Regierung gewünscht.
Dr. Gerhard Päselt
Der Kompromiß ist aber nun zwischen den Extremen zu finden. Vielleicht kommt er auch der Wahrheit am nächsten.
Das Grundanliegen der Beschlußempfehlung ist, die Forschungspolitik am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung auszurichten. Nachhaltige Entwicklung betrifft alle Lebensbereiche und kann kurz so charakterisiert werden: dauerhaft umweltverträgliche, wirtschaftsverträgliche und sozial akzeptable Entwicklung.
Mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung sollen überholte Strukturen überwunden und innovationspotentiale freigesetzt werden. Zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und der sozialen Entwicklung durch gerechte Verteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen ist eine Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nötig.
Kriterien für die Ziele und Gestaltung von Forschungsprozessen und Entwicklungsvorhaben müssen Umweltverträglichkeit, Verringerung der Eingriffstiefe in die Natur, Sozialverträglichkeit, Nachhaltigkeit in der wirtschaftlichen Nutzung und Zuverlässigkeit der Technik sein, wenn sie den Anforderungen an eine nachhaltige zukunftsfähige Entwicklung gerecht werden sollen. Es muß interdisziplinär vorgegangen werden, und auch das Verhältnis Gesellschaft - Umwelt muß einbezogen sein. Das Zusammenspiel der einzelnen Wissenschaften muß so gestaltet werden, daß interdisziplinär gearbeitet werden kann. Es muß eine gemeinsame Sprache zwischen Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Ökonomen, Psychologen und Juristen gefunden werden, damit die entsprechenden Konzepte und Strategien für das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ausgearbeitet werden können.
Die mit dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung verbundenen Probleme können nicht durch kurzfristigen Aktionismus gelöst werden, sondern die Maßnahmen müssen längerfristig angelegt sein. Die Operationalisierung und Umsetzung kann nicht in einfachen und glatten Lösungen bestehen. Es besteht die Erfahrung, daß eine sachgerechte Rezeption des nachhaltigen Konzeptes immer wieder durch einseitige Interpretation unterlaufen wird.
Deshalb weist der Umweltrat mit Nachdruck daraufhin, daß die theoretische Durchdringung des Leitbildes in seinen allgemeinen Strukturen und in der inneren Systematik unverzichtbar bleibt.
Anderenfalls ist es kaum zu vermeiden, daß das Leitbild als semantisch griffige Formel dazu mißbraucht wird, einzelne seiner Komponenten zur Unterstützung der jeweils vorherrschenden Anliegen zu verwenden und es so für die eigenen Interessen maßzuschneidern.
Dies gilt zum einen im Hinblick auf eine romantisch aufgeladene Deutung von Nachhaltigkeit, die den tragenden Sinn des Konzeptes unmittelbar aus der Ökologie abzuleiten sucht und so Natur zur alleinigen normativen Instanz werden läßt. Dies gilt aber zum anderen nicht weniger für eine Deutung, die das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung primär auf die Systemgesetze der Wirtschaft bezieht und es so als
tragendes Prinzip zur Rechtfertigung ökonomischer Wachstumsprozesse in Anspruch nimmt. Genauso kritisch sind aber auch solche Rezeptionen des Leitbildes einzuordnen, in deren Rahmen der ökologische Faktor unter Ausblendung seiner Eigenwertigkeit und Eigenbedeutung lediglich als Funktion der sozialen Zielbestimmung des Menschen erscheint.
Die gemeinsame Beschlußempfehlung unterliegt dieser Versuchung nicht. Es wird niemanden in diesem Hohen Haus verwundern, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage zur Aufstellung der Forschungsprogramme einen Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaft, gesellschaftlichen Gruppen und Politik vorschlägt. Erst gemeinsam vereinbarte, langfristig verläßliche Rahmenbedingungen schaffen die Planungsgrundlage für Forschung, Entwicklung und Investitionen von Unternehmen und Verbrauchern. Dazu ist auch eine entsprechende Förderpolitik zu entwickeln, die die Steuer- und Finanzpolitik mit der Zielsetzung zur Verringerung des Umweltverbrauchs einbezieht.
Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung richtig verstanden bedeutet: Wir brauchen Gestaltungsperspektiven für innovative Unternehmen und bieten der Wirtschaft die Chance für verbesserte Wettbewerbsfähigkeit und zukunftssichere Arbeitsplätze. Und gerade diese Chancen sind für unser Land angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktlage und den über 4,5 Millionen arbeitslosen Mitbürgern äußerst wichtig.
In der Beschlußempfehlung wird gefordert, daß die Bundesregierung die Technologieförderung auf die Förderung integrierter Technik konzentriert und effizient gestaltet. Im TA-Projekt zum Thema „Die Bedeutung der Umwelttechnik für die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland" , die vom Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie in Auftrag gegeben wurde, werden Beschäftigungswirkungen des Umweltschutzes von bis zu 1,1 Millionen Arbeitsplätzen in diesem Bereich für das Jahr 2000 prognostiziert. Allerdings betonen die Autoren, daß diese Vorhersage mit Vorsicht zu interpretieren ist, da beschäftigungsspezifische Verdrängungseffekte nur schwer zu ermitteln seien.
Integrierte Umwelttechnik hat das Potential, zusätzliche Kosten zu vermeiden bzw. sogar zur Kostensenkung beizutragen. Die notwendigen Zeiträume für die Entwicklung und Umsetzung von integrierter Umwelttechnik sind mit sechs bis zehn Jahren angegeben und damit bedeutend länger als bei additiven Techniken. Deshalb sind frühzeitige Kenntnisse über normative Rahmenbedingungen von großer Bedeutung, um die notwendige Planungssicherheit zu erhalten. Die verschiedenen politischen Handlungsvorschläge laufen auf die Erarbeitung eines langfristigen Umweltplans für die Bundesrepublik Deutschland hinaus - das wurde vorhin schon unterstrichen.
Bereits in der Antwort der Bundesregierung wird darauf verwiesen, daß dies im Umweltforschungsplan berücksichtigt wird. In der Beschlußempfehlung heißt es:
Dr. Gerhard Päselt
Im Rahmen einer konsensorientierten nationalen Umweltstrategie ist dafür die Aufstellung von Umweltzielen erforderlich. Sie müssen langfristig Planungssicherheit für betriebliche Modernisierung, ökologische Produkterneuerung, private und öffentliche Zukunftsinvestitionen gewährleisten.
Gestatten Sie, daß ich noch auf einen anderen Aspekt unseres Ausschusses aufmerksam mache. Er betrifft die Umweltbildung, die heute noch gar nicht erwähnt wurde. Ganz kurz und bündig heißt es in der gemeinsamen Beschlußempfehlung:
Es fehlt an Wissen über moderne Formen von Konsum, die weniger Umweltressourcen in Anspruch nehmen.
Bereits im Juni 1996 formulierte das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung die geplanten Schwerpunkte des Umweltforschungs- und -technologieprogramms und machte die Erforschung und modellhafte Erprobung neuer Formen und Instrumente der Umweltbildung zur Aufgabe. Auch im Jahresgutachten 1995 des WBGU werden eine verbesserte Umweltbildung als integraler Bestandteil der Umweltpolitik sowie eine Effizienzsteigerung angemahnt.
Zwischen dem Gutachten des Wissenschaftsrates vom Mai 1994, der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD 1995 und der heutigen Beschlußempfehlung liegen immerhin zweieinhalb Jahre. In dieser Zeit war die Bundesregierung nicht untätig. Sie hat über das von ihr Veranlaßte und Erreichte selbst berichtet.
Am 20. Juni 1996 übergab das Bundesministerium Schwerpunkte des Umweltforschungs- und -technologieprogramms und unterrichtete über den Stand an den Ausschuß mit der Aufforderung, sich in die Diskussion einzubringen und mit konkreten Vorschlägen das spätere Programm zu beeinflussen. Ich glaube, mit der gemeinsamen Beschlußempfehlung ist dies von seiten des Ausschusses geschehen.
Zur erfolgreichen Bewältigung der im Programm gestellten Aufgaben ist aber auch eine ausreichende Mittelausstattung unerläßlich. Die Frage, ob für die Forschung im Haushalt ausreichende Mittel eingestellt worden sind, kann man so im einzelnen nicht beantworten.
Da meine Zeit abgelaufen ist
- meine Redezeit abgelaufen ist -, möchte ich folgendes sagen: Die heutige Beschlußempfehlung ist ein
gewisser Abschluß der Debatte. Jetzt folgt die Auseinandersetzung um die Umsetzung dieser Beschlußempfehlung.
Wir werden die Bundesregierung parlamentarisch begleiten. So erfolgt bereits am 19. März 1997 eine Anhörung zum Thema „Neuorientierung der deutschen Forschungslandschaft".
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/6411 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage zu einer Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft auf Drucksache 13/ 6855. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/3511 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a) bis d) auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer, Angelika Beer, Cem Özdemir und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitrag der Bundesregierung zur Einleitung eines Friedensprozesses in der Türkei
- Drucksachen 13/4117, 13/6e0 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Lummer Freimut Duve
Amke Dietert-Scheuer
Ulrich Irmer
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer, Angelika Beer, Cem Özdemir und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktive Außenpolitik der Bundesregierung zum Schutz der Menschenrechte in der Türkei
- Drucksachen 13/6419, 13/6771 -
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Lummer Freimut Duve
Amke Dietert-Scheuer
Ulrich Irmer
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Beer, Amke Dietert-Scheuer, Dr. Uschi Eid und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rücknahme der Hermes-Bürgschaft für Rüstungslieferungen an die Türkei
- Drucksachen 13/5786, 13/7009 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Schwanhold
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Steffen Tippach, Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS
Die Menschenrechtssituation in der Türkei verbessern
- Drucksachen 13/5134, 13/7067 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Lummer Freimut Duve
Amke Dietert-Scheuer
Ulrich Irmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Heinrich Lummer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung befinden sich vier Anträge der Grünen und der PDS, die in den Ausschüssen beraten worden sind. Die Koalition wird diese Anträge ablehnen. Sie hat in den Ausschüssen teilweise die Unterstützung der Sozialdemokraten gehabt, teilweise haben sich die Sozialdemokraten enthalten.
Ich möchte von vornherein ein Mißverständnis ausschließen, daß nämlich die Ablehnung der Anträge so gedeutet wird, als würden wir die Politik der türkischen Regierung in jedem Punkte gutheißen und billigen. Vielmehr ist deutlich festzustellen, daß im Hause, so denke ich, eine hochgradige Übereinstimmung dahin gehend herrscht, daß wir in der Türkei erhebliche Mängel feststellen, die einer Veränderung bedürfen. Niemand also sollte diese Anträge und das Abstimmungsverhalten falsch deuten.
Die Zielvorstellung und die Intention werden von uns mitgetragen. Zweifellos gibt es in all den Anträgen eine Reihe von Punkten, mit denen wir dezidiert übereinstimmen. Nur, meine Damen und Herren - das ist eine Erfahrung im parlamentarischen Leben -,
eine Koalition und sicherlich auch eine Partei, die sich als Regierung im Wartestand versteht, werden bestimmte Dinge anders bewerten als eine Partei, die mehr oder weniger Opposition sein und bleiben will.
Wir haben bei der Bewertung dieser Anträge die schwierige Situation zu berücksichtigen, in der sich die Türkei heute befindet. Es ist eine krisenhafte Situation. Um die Stabilität dieses Landes ist es derzeit nicht zum besten bestellt. Auch muß man bedenken: Mit welchen Methoden und Möglichkeiten hat man die besten Erfolgschancen zu erwarten? Wir haben es weiterhin mit einem Partner zu tun, dem wir verbündet sind, gegenüber dem wir gewisse Pflichten haben.
Meine Damen und Herren, wir sind in dieser Situation als Deutschland, als Bundesregierung einem doppelten Druck ausgesetzt, wenn man an das Thema der Kurden denkt. Auf der einen Seite steht die türkische Regierung, die von uns erwartet, daß wir sehr hartnäckig und dezidiert die PKK und bestimmte kurdische Gruppen in Deutschland bekämpfen, um damit einen Beitrag zu leisten - so meinen sie - zur Lösung des Problems.
Die PKK und andere kurdische Gruppen auf der anderen Seite erwarten von uns, daß wir massiven Druck auf die türkische Regierung ausüben, auch sie in der Hoffnung, daß gewissermaßen die Deutschen die Lösung herbeiführen könnten. Ich glaube, sie überschätzen die Rolle Deutschlands, wie auch manche in Deutschland selbst geneigt sind, unsere Rolle bei diesem Spiel zu überschätzen.
Wir können einen Beitrag dazu leisten, aber der Schlüssel zur Lösung des Problems - das muß in aller Deutlichkeit und Entschiedenheit gesagt werden - liegt in der Türkei. Die Problemlösung muß durch die Türkei erfolgen. Daran kann es keinen Zweifel geben, denke ich.
Aber nichtsdestoweniger haben wir ein paar Klarstellungen zu treffen. Es handelt sich bei dem Kurdenproblem nicht nur um ein Terrorismusproblem, wie die türkische Regierung immer wieder meint. Es ist klarzustellen, daß nach unserer Auffassung dieses Problem mit militärischen Mitteln nicht lösbar ist, sondern daß politische Lösungen gesucht werden müssen.
Es ist ebenfalls für die andere Seite klarzustellen, daß mit uns Lösungen, die auf eine Zerstörung der Integrität und Souveränität des türkischen Staates abstellen, nicht drin sind, das heißt, keine separatistischen Lösungen.
Meine Damen und Herren, wir müssen aber wahrnehmen, daß sich die Türkei in einem Veränderungsprozeß befindet. Die moderne Türkei ist entstanden beim Zusammenbruch dreier Großreiche, des osmanischen, des habsburgischen und des zaristischen Reiches. Es waren zwei Komponenten, zwei Ideen gewissermaßen, die diesen Staat gegründet haben: der Nationalismus und der Laizismus.
Es ist offenkundig, daß in einer Krise des Kemalismus - davon wird man heute sprechen dürfen - die Mängel dieser Grundidee zum Ausdruck kommen.
Heinrich Lummer
Nationalismus erforderte gewissermaßen einen Staat nur von Türken. So hat man in den Verträgen nach dem Ersten Weltkrieg alles gleichgemacht. Aber heute in der Krise wird deutlich: Es gibt nicht nur Türken in der Türkei, sondern auch andere, die sich anders verstehen und eine eigene Identität beanspruchen wollen.
Die Zurückdrängung des Islam in der Türkei ist sicherlich in einem Maße erfolgt, das der Wirklichkeit und der Gegenwart nicht mehr standhält. Vielmehr gibt es eine Revitalisierung des Islam. Damit sind neue Herausforderungen an diesen Staat gestellt. Es müssen neue Antworten darauf gegeben werden. Das wird für die Türkei nicht einfach sein, aber diese Antworten müssen gegeben werden.
Aus unserer Sicht bedeutet dies, ohne daß man den Versuch machen will, der Türkei gewissermaßen konkrete Ratschläge mit erhobenem Zeigefinger zu geben, daß die Lösung nur heißen kann: mehr Demokratie, mehr Menschenrechte und mehr Pluralismus. Anders wird es nicht gehen, wenn man auch andere Identitäten als die der Kurden in einen Staat einbeziehen will. Dann muß mehr Pluralismus da sein.
Von daher kann man gewisse Grundzüge eines Lösungsansatzes nennen. Mehr Pluralismus zum Beispiel wird nicht mit dem jetzigen Wahlrecht möglich sein, wie es praktiziert wird. Man muß das Wahlrecht ändern, um Pluralismus zu gewährleisten. Man wird auch keine Lösung in einem permanenten Ausnahmezustand vollziehen können. Man wird sicherlich auch keine Lösungen vollziehen können, ohne kurdische Identität und Autonomie anzuerkennen. Darauf muß man hinweisen, ohne, wie gesagt, Detaillösungen zu nennen; das ist Sache der Türken.
Meine Damen und Herren, ich sagte, daß wir die Anträge ablehnen werden. Aber die Ablehnung dieser Anträge ist nicht alles; vielmehr sind wir gemeinsam darum bemüht, das Ziel zu erreichen. Deswegen sage ich: Zum einen ist klar - in den Anträgen wird gelegentlich das Gegenteil unterstellt -, daß die Bundesregierung in der Vergangenheit und in der Gegenwart ihrer Aufgabe gerecht geworden ist und auch in Zukunft werden wird, die Türkei zu beeinflussen, diese Probleme zu lösen, mit probaten Mitteln
im Rahmen unserer Möglichkeiten.
Das zweite ist: Wir bleiben dabei und offerieren in Deutlichkeit, daß wir an einer gemeinsamen Initiative arbeiten wollen, damit auch nach außen deutlich wird, daß wir in diesem Punkt nicht unterschiedlicher Auffassung sind, und keine Fehlinterpretationen von dritter Seite zustande kommen. Es sollte für uns alle selbstverständlich sein, daß jeder an seiner Stelle mit den Gesprächspartnern, die er hat, und mit den Möglichkeiten, die er hat, an der Lösung dieser Probleme mitwirkt.
Schließlich haben wir es mit einem Land zu tun, dessen Stabilität für uns sehr wichtig ist. Zum einen liegt es an der Schnittstelle verschiedener Kulturen,
zum Mittleren Osten und zum arabischen Raum; zum anderen sind wir unmittelbar von diesen Problemen betroffen und können nicht mehr sagen: Wenn fern in der Türkei die Heere aufeinanderschlagen, dann muß uns das nicht berühren. Es berührt uns, weil diese Menschen auch in Deutschland leben und möglicherweise ihre Probleme in Deutschland austragen.
Wir sind also an dieser Stelle nicht nur Geforderte, sondern auch Betroffene. Darum ist es für uns ein essentielles Problem; darum müssen wir damit aber auch in aller Sorgsamkeit umgehen. Unser Interesse ist es jedenfalls aus vielen Gründen, eine stabile Türkei zu haben, die eine Zukunft hat. Dazu müssen diese Probleme gelöst werden.
Danke schön.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Uta Zapf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann, Herr Kollege Lummer, in vielen, weiten Teilen Übereinstimmung mit Ihnen erklären. Ich glaube, das ist gut so, weil es bitter notwendig ist, daß die Bundesrepublik eine stringente und auch wirksame Türkeipolitik formuliert. Dies hat sie noch nicht wirklich getan; es gibt Widersprüche in der Praxis. Ich hoffe, daß wir alle gemeinsam daran arbeiten werden. Sie haben die Tiefe und die Bedeutung des Problems auch für die Bundesrepublik Deutschland hier sehr deutlich herausgestellt. Ich weiß, daß auch viele Kolleginnen und Kollegen von den Grünen die Problematik ähnlich sehen.
Wir beraten hier drei Anträge von den Grünen und einen Antrag der PDS zur Situation in der Türkei. Wir haben schon eine ganze Reihe solcher Diskussionen gehabt; ich vermute, diese wird nicht die letzte sein.
Ich will zunächst einmal vortragen, warum wir uns bei zwei der Grünen-Anträge enthalten werden, obwohl sie in weiten Bereichen inhaltlich mit dem Anliegen, das auch wir im Deutschen Bundestag vortragen und in Initiativen dokumentiert haben, übereinstimmen.
Der Antrag mit dem Titel „Beitrag der Bundesregierung zur Einleitung eines Friedensprozesses in der Türkei" beschreibt die Notwendigkeit einer internationalen Initiative, um das Kurdenproblem zu regeln. Wir haben mehrfach hier im Deutschen Bundestag eine solche Initiative gefordert. Diese haben wir vor kurzem interfraktionell mit den Fraktionen der Koalition auf der Grundlage eines Antrags, den die SPD in den Deutschen Bundestag eingebracht hat, beschlossen. Dort wurde festgelegt, daß die Bundesregierung aufgefordert wird, im Rahmen bilateraler Kontakte und in internationalen Foren ihre Möglichkeiten zu nutzen, eine politische Lösung des Kurdenproblems in der Türkei zu erreichen. Wir haben auch schon an anderer Stelle gemeinsam eine internationale Kurdenkonferenz gefordert.
Uta Zapf
Der Antrag der Grünen enthält allerdings eine Reihe von unserer Einschätzung nach unzutreffenden Pauschalurteilen, die die SPD so nicht mittragen kann. Insbesondere die Forderung nach Aufrechterhaltung der Sperrung von Mitteln aus dem Finanzprotokoll durch das Europäische Parlament halten wir nicht für sinnvoll. Die SPD-Fraktion war für die Zollunion, einschließlich damit verbundener Finanzhilfen. Ich denke, man muß nach solchen Zusagen ein verläßlicher Partner sein. Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung über diesen Antrag der Stimme.
Zum zweiten Antrag der Grünen mit dem Titel „Aktive Außenpolitik der Bundesregierung zum Schutz der Menschenrechte in der Türkei": Auch bei der Abstimmung über diesen Antrag werden wir uns der Stimme enthalten.
Wir teilen die Auffassung, daß die Menschenrechtssituation in der Türkei dramatisch ist. Sie hat sich in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Dies geht auch aus dem Menschenrechtsbericht des US State Department hervor, der in den letzten Monaten erschienen ist. Dieser Bericht weist überdeutlich aus, daß Folter, Verschwindenlassen von Menschen, extralegale Hinrichtungen, ein Übermaß an Gewaltanwendung durch Polizei und Gefängnispersonal, Vertreibungen von Menschen aus ihren Dörfern, mangelnde Meinungsfreiheit und nicht den Menschenrechtsstandards entsprechende Vorschriften für den Zugang zu Rechtsbeistand nach Verhaftungen insbesondere in den Ausnahmegebieten ein erheblicher Mangel der Politik der Türkei sind.
In der Tat ist die Bundesregierung aufgefordert, nachdrücklich immer wieder auf die Türkei einzuwirken, daß es vor allen Dingen im Menschenrechtsbereich endlich zu den lange versprochenen Verbesserungen kommt. Die Türkei hat immer wieder - auch in Koalitionsvereinbarungen - Besserung versprochen. Soweit ich weiß, wird Minister Kinkel demnächst in die Türkei reisen. Ich hoffe, daß er dort in aller Ernsthaftigkeit noch einmal auf diese Probleme hinweisen wird.
Wir können allerdings im Zusammenhang mit diesem Antrag nicht mittragen, daß die Bundesregierung aufgefordert wird, eine Klage beim Europarat einzubringen. Ein solcher Schritt zerstört unseres Erachtens das gegenseitige Vertrauen, das unerläßlich ist, wenn ein Staat auf einen befreundeten Staat im Dialog einwirken möchte. Deshalb halten wir diese Forderung für kontraproduktiv - auch unter dem Gesichtspunkt, den Herr Lummer hier angesprochen hat, daß wir nämlich ein großes Interesse an Stabilität in der Türkei haben. Wenn wir in irgendeiner Weise zur Verschärfung der Konflikte beitragen, dann werden wir in der Tat nicht mehr in der Lage sein, eine Stabilisierung zu erreichen.
Dem Antrag der Grünen auf Rücknahme der Hermes-Bürgschaften stimmen wir allerdings zu. Die SPD lehnt seit Jahren Waffenlieferungen in die Türkei ab. An dieser Haltung hat sich nichts geändert,
zumal die Türkei wegen der sich zuspitzenden Spannungen in der Ägäis sowie in Zypern und wegen des fortdauernden Kurdenkonfliktes unseres Erachtens als Spannungsgebiet eingestuft werden muß.
Die Türkei hat im übrigen mehrfach in völkerrechtlich fragwürdiger Weise die Souveränität des Nachbarlandes Irak verletzt, indem sie ihre militärischen Aktionen über ihre Grenzen hinweg ausgedehnt hat. Es ist nicht auszuschließen, daß die Unimog-Fahrzeuge genau bei diesen militärischen Aktionen und auch bei der Bekämpfung der PKK in den türkischen Kurdengebieten eingesetzt werden.
Bei aller Legitimität, die auch wir der Bekämpfung des Terrorismus zuweisen, ist dies in der Türkei in der Regel leider mit erheblichen Menschenrechtsverletzungen wie Repressionen gegen die Zivilbevölkerung, wie Mord und Vertreibung verbunden gewesen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Den Antrag der PDS - darauf möchte ich hinweisen - werden wir ablehnen. Den Hinweis auf das sogenannte kurdische Exilparlament halten wir nicht für angebracht. Das kurdische Exilparlament ist in unseren Augen keine legitime Vertretung der Kurden. Es wird von PKK-nahen Gruppen beherrscht und kann deshalb für uns nicht als ein politischer Ansprechpartner gelten.
- Das mag sein. Aber diese sind sicher von einigen Individuen und nicht von irgendwelchen offiziellen, fraktionsmäßig beschlossenen Stellen gesandt worden. Ich jedenfalls habe nichts dergleichen getan.
Man muß ernsthaft darüber diskutieren, weil es immer wieder gesagt wird: Die PKK muß ein Diskussionspartner sein. Wir können aber im Moment nicht sehen, daß die Signale, die gelegentlich von der PKK ausgesendet werden, ausreichend sind, um die PKK tatsächlich als eine friedliche und demokratische Organisation anerkennen zu können. Ich weise darauf hin, daß gerade heute ein Bericht über ein Buch aus dem Inneren der PKK zu lesen ist, das uns in dieser Auffassung durchaus bestärkt.
Ich möchte aber noch ein paar Worte sagen, da wir Partner der Türkei sind und unter der Situation in der Türkei leiden, weil sie die Menschenrechte so tief verletzt und weil sie unserer Meinung nach keinen Pluralismus und keine Meinungsfreiheit zuläßt. Ich stimme dem zu, was der Kollege Lummer zu der Rolle Deutschlands als Vermittler in diesem Konflikt gesagt hat. Wir sind ein Stück weit Partei in diesem Konflikt, weil Kurden und Türken in großer Zahl hier in Deutschland leben. Aber das entbindet uns natürlich nicht von der Notwendigkeit, immer wieder auf zwei ganz wichtige Punkte hinzuweisen: Zum einen muß die Bundesrepublik im Rahmen der EU, deren assoziierter Partner die Türkei ist, im Sinne einer gemeinsamen Außenpolitik immer wieder darauf hinwirken, daß dort etwas geschieht und daß ein Stück weit politischer Druck ausgeübt wird.
Uta Zapf
Aber zum anderen ist es auch wichtig, daß die NATO, die sich als Wertegemeinschaft definiert, endlich einmal einen Partner, der diese Werte mit Füßen tritt, ernsthaft in die Pflicht nimmt, an dieser Ecke etwas zu tun. Wir alle wissen, welche Rolle das Militär in der Türkei spielt und daß dann, wenn sich überhaupt etwas ändern soll, auch in der Gesetzgebung, zum Beispiel hinsichtlich der Meinungsfreiheit, der Aufhebung der Antiterrorgesetze und des Ausnahmezustands, das Militär die politische Schlüsselrolle spielt. Deshalb ist die NATO in der Pflicht, hier ernsthafter zu agieren.
Darüber hinaus ist es wichtig, all die Ansätze, die in der türkischen Öffentlichkeit in der Vergangenheit schon diskutiert worden sind und die in der Koalitionsvereinbarung gestanden haben, nun endlich in Politik umzusetzen. Ansonsten sollten wir uns freuen, daß in der Türkei jetzt von der zivilen Gesellschaft her ein Diskussionsprozeß angefangen hat und daß die Wirtschaft erkannt hat, daß dieser Konflikt die Türkei in ein tiefes Unglück stürzt und in keiner Weise der Entwicklung der Türkei weiterhilft. Dazu gibt es zum Beispiel die berühmte TOBB-Studie, aber es wurde auch von Journalisten, Wissenschaftlern und nicht zuletzt von den Leuten erkannt, die auf den Straßen Ankaras stehen und Lichter an- und ausmachen, um endlich wieder Licht in dieses Land zu bringen.
Wir sollten sie als Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes bei der Erfüllung ihres Bedürfnisses nach Demokratie und Meinungsfreiheit unterstützen. Es ist eine breite Palette, was wir tun können, und ich denke, wir müssen es tun.
Nun gebe ich
der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe bei dieser Debatte bisher den Eindruck gewonnen, daß die aktuelle Dramatik der Situation in der Türkei hier noch nicht richtig angekommen ist.
Wir haben die Situation, daß sich die Regierungskrise immer mehr zuspitzt. Für morgen ist eine Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates einberufen. Putschgerüchte werden in der Türkei immer lauter.
Die aktuellen Anlässe dieser Krise sind einerseits das immer offensivere Auftreten radikal-islamischer Kreise, was das Militär auf den Plan ruft, andererseits die Enthüllungen über die Verwicklungen türkischer Regierungskreise in Mafia-Strukturen, Drogenhandel und in die Todesschwadrone in den kurdischen Gebieten.
Man muß sagen, daß diese Krise deutliche Parallelen zu der Situation direkt vor dem Militärputsch von 1980 aufweist. Ich will nicht sagen: Der Putsch
kommt unweigerlich. Man muß aber damit rechnen und diese Gefahr sehen.
Der einzige Lichtblick ist die zunehmende Oppositionsbewegung aus breiten Kreisen der Bevölkerung; Frau Zapf hat diese Lichteraktionen angesprochen. Es ist aber bereits festzustellen, daß gegen diese Bewegung zunehmend Repressionen angewandt werden. In der Tat, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Menschen brauchen unsere Unterstützung, nicht jedoch die türkische Regierung.
Es wurde gesagt: Das Problem muß in der Türkei gelöst werden. Das ist richtig. Man darf aber nicht die Augen davor verschließen, daß die Bundesregierung durch eine absolut verfehlte und konzeptionslose Türkeipolitik einen erheblichen Anteil daran hat, daß die Türkei in diese Krise geraten ist und der Zustand der Menschenrechte so schlimm ist.
- Genau; ich kann Ihnen das auch näher erläutern. Die Bundesregierung hat seit Jahren genau die Kräfte in der Türkei unterstützt, die dafür verantwortlich sind, daß das Land in die Krise getrieben wurde,
die Kreise, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, die Kreise, die den Krieg in Kurdistan weiterführen wollen und keinerlei Bereitschaft zeigen, auf eine Lösung zuzugehen - und zwar immer mit dem Argument: Wir müssen die prowestlichen Kräfte, diese Regierung, unterstützen, damit nicht die Islamisten an die Macht kommen. Sie haben nicht gesehen, daß gerade durch diese Politik die Islamisten stark gemacht wurden, unter anderem dadurch, daß der Krieg zu einer sozialen Verelendung und zum wirtschaftlichen Ruin der Türkei geführt hat. Auf diesem Boden gewinnen jetzt die Islamisten. - Die Frage ist: Was kann man jetzt überhaupt noch tun?
Nun zu Herrn Irmer. Vorhin ärgerten Sie sich. Sie freuen sich doch im Auswärtigen Ausschuß immer so, wenn Sie mit mir mal einer Meinung sind.
- Nein, ich nenne Ihnen noch ein drittes Mal: in der letzten Ausschußsitzung zur Frage des EU-Beitritts.
Gegenüber der Türkei ist in den letzten Jahren die Politik verfolgt worden, daß einerseits Forderungen im Hinblick auf den EU-Beitritt gestellt wurden, daß aber andererseits klar war, daß man sie eigentlich nicht will.
Wir sind der Meinung, daß es gerade angesichts der gegenwärtigen Situation wichtig ist, um eine weitere Destabilisierung zu verhindern, eine klare Li-
Amke Dietert-Scheuer
nie zu fahren, klare Perspektiven zu bieten und Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Dabei muß natürlich vollkommen klar sein, daß eine Voraussetzung dafür die Bereitschaft der türkischen Regierung sein muß, Schritte für eine friedliche und demokratische Lösung des Konflikts in Kurdistan einzuleiten und Maßnahmen zur Erfüllung der europäischen Menschenrechtsstandards zu verwirklichen. Ein positiver Abschluß dieser Verhandlungen kann nur dann am Ende stehen, wenn das Ziel in diesen Punkten erreicht worden ist.
Aber auch unabhängig von der EU-Frage könnte die Bundesregierung aktiv werden. Ich verweise hier auf unseren Antrag für eine aktive Friedenspolitik der Bundesregierung in der Kurdenfrage. Aber trotz dieser genannten Problematik ist der Stellenwert der Türkeipolitik auch hier im Bundestag keineswegs angemessen. Das zeigt sich einerseits an der kurzen Debattenzeit zu später Stunde, andererseits aber auch an den Diskussionen im Auswärtigen Ausschuß, wo wir über viele Themen lang und breit diskutieren, aber wenn Türkei-Anträge auf der Tagesordnung stehen, wird eine ernsthafte Diskussion weitgehend verweigert, und zwar nicht nur von den Regierungsparteien.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Dies gilt vielmehr auch für die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Ich frage mich: Wie viele Tote muß es eigentlich noch geben, bis die Bundesregierung und auch der Bundestag bereit sind zu handeln?
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Türkei-Debatten hat es in diesem Bundestag in den letzten Monaten vielfältige gegeben.
Ich habe den Eindruck, daß die Flut der Anträge, die aus den Fraktionen zur Situation in der Türkei gestellt werden, auch ein bißchen widerspiegelt, daß dieses Land zwischen Europa und Asien uns besondere Probleme bereitet, es zu verstehen, aber es auch in den vielfältigen Beziehungen, die wir mit der Türkei haben, richtig wahrzunehmen.
Die Türkei ist ein schwieriger Partner, aber ich sehe niemanden, der bezweifeln würde, daß sie für uns ein strategisch wichtiger Partner ist. Sie wissen
es, sie nutzen es stärker als andere. Das wiederum bereitet uns Probleme. Dieses vielfältige Beziehungsgeflecht hat uns jedoch nie gehindert, offen mit den Verantwortlichen in der Türkei zu reden. Die Unterstellungen, die Bundesregierung trete nicht energisch und entschieden genug auf, gehen mit Sicherheit an der Sache vorbei.
Die Bundesregierung erinnert, wie wir das zu Recht von ihr erwarten, die Türkei an ihre Verpflichtungen, die aus der Mitgliedschaft im Europarat erwachsen, an ihre Verpflichtungen, die aus der Mitgliedschaft in der NATO erwachsen. Die Frage ist nur: Womit kann man Einfluß ausüben?
Es ist schon vielfältig, auch in den Debatten hier, gesagt worden: Die Geduld ist bald zu Ende. Angesichts der sich verschlechternden Menschenrechtssituation in der Türkei, angesichts der Tatsache, daß wir uns alle einig sind, daß das Kurdenproblem sicherlich nicht mit rein repressiven Maßnahmen in irgendeiner Weise zu lösen ist, angesichts der Tatsache, daß das Kurdenproblem nicht ausschließlich ein terroristisches Problem ist - -
- Bei Terrorismus müssen Sie schon repressive Maßnahmen einsetzen; das ist überhaupt keine Frage.
Aber das Kurdenproblem geht weit über die reine Frage von Terrorismus hinaus.
Es kreuzen sich derzeit in der innenpolitischen Situation in der Türkei viele Linien, was die Diskussion nur noch schwieriger macht. Frau Dietert-Scheuer, ich teile Ihre Einschätzung, daß die späte Stunde dieser Debatte der krisenhaften Zuspitzung der Situation in der Türkei vielleicht nicht gerecht wird.
Es gibt in der Türkei einen islamistischen Ministerpräsidenten, von dem nicht ganz klar ist, inwieweit seine eigene Partei vorher eingeschlagene Linien türkischer politischer Traditionen verlassen will, dazu einen Koalitionspartner, die DYP, der mit sich selbst und öffentlichen Vorwürfen gegen seine Vorsitzende, die gegenwärtige Außenministerin, beschäftigt ist, ein Militär, das sich der laizistischen Verfassung verpflichtet sieht und als Hüter des Erbes Kemal Atatürks auftritt. Keiner von den derzeit Mächtigen in der Türkei ist bereit, die Anforderungen an einen modernen demokratischen Rechtsstaat mit allen Konsequenzen aufzunehmen und durchzusetzen.
Deswegen ist die Frage, wie die Politik weitergehen kann. Es ist sicherlich völlig unbestritten, daß der Schlüssel zur Lösung der Probleme in der Türkei liegt. Aber die Stabilität der Region wird mit Sicher-
Dr. Irmgard Schwaetzer
heit nicht dadurch gewährleistet, daß wir der Türkei unsere Unterstützung entziehen, ganz im Gegenteil.
Der NATO-Partner Türkei muß sich darauf verlassen können, daß wir die notwendige Hilfe und Unterstützung auch weiterhin gewähren. Deswegen werden wir auch den Antrag ablehnen, der auf Rücknahme der Hermes-Bürgschaften zielt. Der Partner Türkei muß auch damit rechnen können, daß ihm klare Perspektiven in bezug auf die weitere Behandlung seines Antrags auf Beitritt zur Europäischen Union geboten werden.
Die Grundsatzentscheidung, daß nach dem Abschluß der Maastricht-II-Verhandlungen mit allen beitrittswilligen Ländern Verhandlungen aufgenommen werden, umfaßt selbstverständlich auch die Türkei.
Natürlich ist dann auch der Zeitpunkt gekommen, der Türkei zu sagen, daß bei einem EU-Beitritt die vollen Menschenrechte und die vollen demokratischen Rechte verwirklicht sein müssen, was derzeit nicht der Fall ist.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluß.
Eines, meine Damen und Herren, scheint mir in unseren Beziehungen zur Türkei besonders wichtig zu sein: neben der Offenheit, die gerade dieser Deutsche Bundestag ja in nichts vermissen läßt, ganz klar zu machen, daß wir auch in der Zukunft partnerschaftlich mit der Türkei zusammenarbeiten wollen.
Danke schön.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Steffen Tippach.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtssituation in der Türkei hat sich seit Aufnahme der Türkei in die Zollunion Anfang 1996 nicht verbessert, sondern weiter massiv verschlechtert. 154 Journalisten und Schriftsteller sitzen nach Auskunft der Organisation „Reporter ohne Grenzen" in der Türkei in Haft und sind willkürlicher Gewalt ausgesetzt. „Folter wird in türkischen Gefängnissen systematisch angewandt", stellt ein Bericht der US-Organisation „Ärzte für Menschenrechte" fest. Kinder werden verhaftet und gefoltert, schreibt Amnesty International im Jahresbericht über die Türkei 1996. Dänemark hat die Türkei wegen Folter an einem dänischen Staatsbürger vor der Europäischen Menschenrechtskommission verklagt.
Angesichts dessen frage ich mich auch nach der heutigen Debatte, mit welcher Begründung der von uns vorgelegte Antrag auf Drucksache 13/5134, „Die Menschenrechtssituation in der Türkei verbessern", von den hier vertretenen Parteien eigentlich abgelehnt werden könnte.
Sie erinnern sich vielleicht an die Debatte, die wir Ende Juni 1996 über die Menschenrechtssituation in Tibet geführt haben, und an den dazugehörigen Antrag. Fast alle Abgeordneten dieses Hauses hoben einmütig die Hand und verabschiedeten einen Antrag, der dem heute von uns vorgelegten nahezu wortgleich ist. Ich habe die Mehrheit des Hauses damals in der Debatte der Selektivität bei der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen geziehen. Sie könnten heute diesen Vorwurf entkräften, indem Sie unserem Antrag zustimmen. Ich befürchte nur, Sie werden es nicht tun.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof und die Menschenrechtskommission können eine lange Liste von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei vorlegen, die die Systematik dieser Grausamkeiten belegen. Im vorliegenden Antrag der Bündnisgrünen ist es nachzulesen: Im Juli 1996 lagen bei der Europäischen Menschenrechtskommission 1 465 Beschwerden vor. Die Lage ist in der Türkei so finster, daß deren Anwalt Caglar sein Mandat in Straßburg mit den Worten niederlegte: „In der gegenwärtigen Lage ist es unmöglich, die Türkei zu verteidigen." Das war am 31. Oktober vergangenen Jahres.
Ich möchte an die Menschenrechtsdebatte erinnern, die am 5. Dezember 1996 in diesem Hause geführt wurde. Damals wurde ein Entschließungsantrag „Zur Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen" mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD angenommen. Darin wird die Bereitschaft des Deutschen Bundestages betont, „einen Beitrag zu einem politischen Dialog zwischen Kurden, Türken und Deutschen zu leisten und hierfür die ihm zur Verfügung stehenden Wege und Mittel nachhaltig zu nutzen" .
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, seitdem sind drei Monate vergangen. Sie haben Ihre Energie bisher darauf verwandt, die hier vorliegenden Anträge in trauter Gemeinsamkeit in den jeweiligen Ausschüssen abzulehnen. Drei Monate sind vergangen seit dieser Debatte - mit täglich neuen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Welche Mittel haben Sie seitdem „nachhaltig" genutzt?
- Die Unimoglieferung hat natürlich auch eine gewisse Nachhaltigkeit; sie steht auch in einer gewissen Tradition.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß. - Die PDS wird den vorliegenden Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen. Sie weisen in die rich-
Steffen Tippach
tige Richtung; denn sie zielen auf die Aktivierung europäischer Mechanismen, des OSZE- und des Kontrollmechanismus der Vereinten Nationen ab, die gegenüber der Türkei gar nicht genug gestärkt werden können.
Danke.
Ich gebe das Wort dem Staatsminister Helmut Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin den Vorrednerinnen Frau Zapf und Frau Schwaetzer, aber auch Herrn Lummer sehr dankbar für die doch etwas differenzierende Darstellung der Lage in der Türkei.
Ich darf darauf hinweisen, Frau Dietert-Scheuer, daß wir uns hier sehr häufig mit der Türkei beschäftigt haben. Vielleicht wäre eher die Frage angebracht, warum wir uns nicht auch mit anderen Krisenfällen am Mittelmeer beschäftigen. Das tun wir nämlich nicht. Ich kann mich an keine Algerien-Debatte erinnern. Es hat sehr lange Zeit keine Debatten zum Nahost-Konflikt gegeben. Sie könnten hier eine ganze Reihe von Fragen stellen, die hochinteressant sind, wenn Sie Vergleiche mit der Türkei ziehen.
Ihre Behauptung, Frau Dietert-Scheuer, wir seien gewissermaßen verantwortlich
für das, was in der Türkei geschieht, will ich jetzt nicht zurückweisen, weil sie wirklich abenteuerlich ist und auch von mangelnder Kenntnis der Möglichkeiten einer Regierung zeugt. Dafür können Sie nichts. Wenn umgekehrt jemand behauptet hätte
- ich mache es nicht, möchte das nur fiktiv darstellen -, daß Sie für die Radikalisierung der Situation in der Türkei mitverantwortlich seien, weil die Türkei in den Debatten des Deutschen Bundestages permanent der Sündenbock ist,
würden Sie genauso empört sagen: Das stimmt nicht!
- Wissen Sie, man kann das auch wenden.
Ich fürchte, daß es einen Zusammenhang zwischen der Verweigerung Europas gegenüber der Türkei und einer Radikalisierung innerhalb dieses Landes hin zu einer islamistischen Partei gibt.
Ich empfehle Ihnen dringend einen hervorragenden Aufsatz der Stiftung Wissenschaft und Politik, die in diesen Tagen vielleicht das beste und differenzierteste Bild darüber gibt, wie man in der Türkei vielleicht weiterkommen könnte, ohne ausschließlich Menschenrechtsdebatten zu führen - so notwendig
die sind. Ich warne davor, das ganze Problem immer wieder auf eine einzige Frage zu begrenzen.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja. Wenn Sie die Debatte verlängern wollen, bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Staatsminister Schäfer, ich teile Ihre Position, die Sie eben formuliert haben. Ich habe aber auch gleich eine Frage dazu. Frau Schwaetzer hat gesagt, es sei klar, daß die Türkei gleichberechtigt in die EU-Erweiterungsverhandlungen einbezogen wird. Sie kennen die Vorgänge um das Familienbild. Können Sie für die Bundesregierung bestätigen, daß die Türkei als gleichberechtigter Kandidat in die Gesprächsrunden aufgenommen wird?
Sie wissen, daß das nicht der Fall ist. Die Europäische Union hat die Türkei bei der Benennung der Beitrittskandidaten für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen ausdrücklich ausgeschlossen. Darüber hinaus gibt es ein griechisches Veto dagegen. So ist die Situation. Ich weiß nicht, ob es gut ist; das füge ich hinzu.
Ich glaube, wir sollten uns hier gar nicht über die Art und Weise, wie Kurden behandelt werden, zerstreiten.
Da sind wir uns, glaube ich, weitestgehend einig. Wir sollten uns auch nicht über Menschenrechtsverletzungen zerstreiten. - Frau Dietert-Scheuer, Ihr Zwischenruf ist ebenso dümmlich - ich muß es Ihnen so sagen - wie Ihre vorausgegangene Behauptung, die Bundesregierung trage Schuld. Wieso helfe ich mit, daß es den Kurden schlechtgeht? Das ist nun wirklich eine alberne Behauptung; Entschuldigung!
Wenn Sie so tun, als läge es ausschließlich an der türkischen Regierung, an dem türkischen Militär, daß der militärische Konflikt noch nicht beendet ist, dann müssen Sie der Ehrlichkeit halber hinzufügen, daß die PKK nicht bereit ist, den militärischen Konflikt zu beenden. Auch das muß man zumindest zur Kenntnis nehmen.
- Natürlich haben die mehrfach Waffenstillstand angeboten, operieren auch aus dem Raum Nordirak - ein Vakuum - heraus, wie Sie wissen, wo überhaupt keine Macht vorhanden ist, sie daran zu hindern. Auch das muß man, glaube ich, zur Kenntnis nehmen.
Staatsminister Helmut Schäfer
Ich will noch etwas zur Menschenrechtspolitik der Bundesregierung sagen, weil sie hier kritisiert worden ist: Wir täten nicht genug. Ich darf noch einmal feststellen: Wir setzen uns in den internationalen Gremien ständig und dauernd für die Einhaltung der international, auch von der Türkei anerkannten Menschenrechtsdeklarationen ein. Wir arbeiten eng mit unseren Partnern der Europäischen Union zusammen. Die Europäische Union und die mit ihr assoziierten Staaten Mittel- und Osteuropas sowie Malta und Zypern haben - um nur zwei Beispiele zu nennen - in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 16. April 1996 in der 52. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission und zuletzt am 18. November vergangenen Jahres vor dem 3. Ausschuß der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Menschenrechtslage in der Türkei angesprochen und die türkische Regierung nachdrücklich aufgefordert, ihre Anstrengungen zum Schutz der Menschenrechte zu verstärken.
Im Rahmen der OSZE hat die Bundesregierung die Türkei aufgefordert, eine Expertenkommission der OSZE einzuladen. Die Bundesregierung drängt auch im Europarat auf eine Verwirklichung der von der Türkei eingegangenen Verpflichtungen.
Es gehört zu unseren mit der Türkei ständig stattfindenden Gesprächen - Herr Kinkel wird das bei seiner Türkeireise auch wieder tun -, die Türkei zu drängen, daß sie allen türkischen Bürgern die Möglichkeit gibt, ihre Rechte aus den Abkommen, die es ja gibt, geltend zu machen, vor allem das Recht auf Individualbeschwerde nach Art. 25 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Wir haben auch immer wieder auf die Bedeutung hingewiesen, die eine konsequente und rasche Aufklärung aller Vorwürfe über Übergriffe durch Polizei und Sicherheitskräfte hat, um das Verbot solcher Übergriffe, wie es im türkischen Recht besteht, auch zur unbestrittenen Rechtswirklichkeit zu machen.
- Nein, ich möchte jetzt fortfahren. Sie haben eine längere Redezeit gehabt als ich.
Diese Politik werden wir fortsetzen.
Wir dürfen aber andererseits Entwicklungen auch nicht ignorieren, die Verbesserungen bringen können. Am 28. November vergangenen Jahres hat die türkische Regierung eine Reihe von Ergänzungen und Verbesserungen bestehender türkischer Gesetze vorgeschlagen. Ich nenne nur drei: einmal die Reduzierung der sogenannten Incommunicadohaft auf sieben Tage - also Isolationshaft -, zweitens Übertragung von Zuständigkeiten bei Meinungsdelikten von den Staatssicherheitsgerichtshöfen auf die ordentlichen Strafgerichte und drittens Garantie des unmittelbaren Zugangs der Anwälte zu Verhafteten - ungeachtet der Umstände oder des Ortes der Verhaftung. Besonders letzteres wäre natürlich ein ganz wichtiger Schritt, um die Möglichkeiten für physische Mißhandlung und Folter von Verhafteten zu verringern.
Dieses Reformpaket liegt zur Zeit dem Justizausschuß des türkischen Parlaments in Ankara vor. Ich kann nur hoffen. daß diese Reformen bald Gesetzeskraft erlangen. Wir sollten die Parlamentarier dabei unterstützen. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Türkei.
Wir werden allesamt nicht nachlassen, die Türkei immer wieder zu drängen. Aber wir müssen auch sehen, daß über die Türkei auch noch unter anderen Gesichtspunkten diskutiert werden muß als ausschließlich unter menschenrechtlichen.
Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.
Ich gebe das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung der Abgeordneten Angelika Beer.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich werde gegen die Beschlußempfehlungen stimmen, weil sich die Bundesregierung geweigert hat, über positive Ansätze zur Einleitung eines Friedensprozesses in der Türkei in der Substanz auch nur zu diskutieren, geschweige denn sie umzusetzen.
Ich werde gegen die Beschlußempfehlungen stimmen, weil in dieser Debatte eine neue Dimension deutlich geworden ist. Ich nehme Bezug auf die Rede des Kollegen Lummer, der einen Minderheitenbegriff formuliert hat, mit dem Separatismus unterstützt wird, das heißt, damit wird nicht zu einer Friedenslösung beigetragen, sondern damit wird das Gegenteil erreicht.
Ich werde gegen diese Beschlußempfehlungen stimmen, weil die Konflikte, die heute in der Türkei zu beobachten sind, auf die Aussage reduziert werden, daß sich Menschen, die Minderheiten sind, nicht mehr als Türken verstehen. Wer das tut, betreibt eine separatistische Politik, die ein Mißverständnis dokumentiert. Bei der Türkei handelt es sich nämlich seit Jahrzehnten um ein multikulturelles Land.
Es geht nicht darum, daß Minderheiten dort meinen, sich abspalten zu müssen, weil sie ein eigenes Nationalbedürfnis haben, sondern es geht um Kulturen, um Menschen - nicht nur um Kurden, auch um Alewiten und viele mehr -, die durchaus bestätigen, daß sie sich der Türkei zugehörig fühlen, die aber an der Durchsetzung ihrer elementaren Menschenrechte und kulturellen Rechte mitunter auch durch den Einsatz militärischer Gewalt gehindert werden.
Die Unterstellung, daß diese Menschen auf einmal meinen, nicht mehr Türken zu sein und nicht zur Türkei zu gehören, impliziert in der Folge, daß sie - Herr Kollege Lummer, auch deswegen stimme ich gegen diese Beschlußempfehlungen - eine separatistische Lösung durchaus befürworten würden. Das aller-
Angelika Beer
dings wäre das Ende des Anfangs des Friedensprozesses in der Türkei.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einem Beitrag der Bundesregierung zur Einleitung des Friedensprozesses in der Türkei, Drucksache 13/6770. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4117 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung auf Ablehnung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS und eine Stimme aus der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zu einer aktiven Außenpolitik zum Schutz der Menschenrechte in der Türkei auf, Drucksache 13/6771. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/6419 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung auf Ablehnung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Rücknahme der Hermes-Bürgschaft für Rüstungslieferungen an die Türkei auf, Drucksache 13/7009. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5786 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Gruppe der PDS zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Türkei auf, die Drucksache 13/7067. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5134 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen Rassismus und die Diskriminierung ausländischer Bürgerinnen und Bürger
- Drucksache 13/1466 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/4082 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS
Einrichtung einer Expertenkommission zur Überprüfung der Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften des Bundes auf Ausländerinnen und Ausländer diskriminierende und rassismusfördernde Bestimmungen
- Drucksachen 13/1405, 13/4082 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS sieben Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeordneten Ulla Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Falsches Parken wird in Deutschland bestraft, nicht aber die Beleidigung menschlicher Würde." Das sagte Dr. Ali Fathi, der Geschäftsführer des Büros gegen ethnische Diskriminierung in Berlin und Brandenburg, das im letzten Jahr eröffnet wurde. Deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, worum es heute geht, nämlich um ein Gesetzeswerk, das Menschen ein Instrument in die Hand gibt, sich gegen Diskriminierung wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft zu wehren. Fathi wünscht sich nichts sehnlicher, als daß sein Büro nichts mehr zu tun hat. Leider ist das Gegenteil der Fall.
Am 1. Januar hat das „Europäische Jahr gegen Rassismus" begonnen. Dazu eine kleine Bilanz: Die Kollegen von der CSU haben es mit der Forderung eingeleitet, Arbeitsplätze nur noch für Deutsche bereitzustellen. Der Koordinator dieses Jahres gegen Rassismus - es ist der Innenminister Kanther - führte mit seiner Eilverordnung zur Einführung der Visapflicht für Kinder aus den ehemaligen Anwerbestaaten ebenfalls eine Maßnahme durch, die ich nicht gerade als antirassistisch bezeichnen möchte. Im übri-
Ulla Jelpke
gen hat selbst das Europäische Parlament gefordert, daß diese Maßnahme zurückgezogen wird. Den Innenministern von Bund und Ländern kann es mit der Abschiebung der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge nicht schnell genug gehen. Das Ausländergesetz wird weiter verschärft, wie wir aus den Reihen der CDU/CSU hören.
Werte Kolleginnen und Kollegen, alle diese Maßnahmen sind zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wenig geeignet. Im Gegenteil: Sie fördern und begünstigen den in dieser Gesellschaft zum Teil latent vorhandenen, zum Teil offen zu Tage tretenden Rassismus. Kein Tag vergeht, ohne daß mindestens eine Meldung über gewalttätige Übergriffe auf Menschen anderer Herkunft bekannt wird. Kein Tag vergeht, an dem nicht etliche Briefe in meinem Büro ankommen, in denen sich Bürgerinnen und Bürger anderer Herkunft bitter über Benachteiligung und offene Diskriminierung beklagen. Sie haben kaum Möglichkeiten, sich gegen die Benachteiligungen, denen sie täglich ausgesetzt sind, zur Wehr zu setzen.
Beispielsweise werden Jugendliche wegen ihres Aussehens und ihrer Herkunft nicht in Diskotheken gelassen. Versicherungsgesellschaften erhöhen die Prämien für Nichtdeutsche; immer noch werden Verträge mit ihnen gar nicht abgeschlossen. In Zeitungen finden sich immer noch Wohnungsanzeigen, in denen es heißt: „Keine Ausländer!". In den Schulen und Ausbildungsstätten werden Migranten- und Flüchtlingskinder weiterhin benachteiligt. Nur 8,4 Prozent der ausländischen Kinder haben 1993 das
Abitur gemacht, aber 28 Prozent der deutschen Kinder. Die sind - wie wir wissen - mit Sicherheit nicht intelligenter, aber sie werden besser gefördert. Nur ein Drittel der ausländischen Mädchen und knapp die Hälfte der Jungen bekommen nach der Schule eine Lehrstelle - nicht weil sie arbeits- oder lernunwillig wären, sondern weil ihnen keine Ausbildungsplätze angeboten werden. Arbeitgeber haben noch immer massive Vorbehalte, auch die öffentliche Hand.
Manche Medien suhlen sich in Sensationsgier. Bei Berichten über Verbrechen nennen sie - meist völlig überflüssigerweise - die ethnische Zugehörigkeit der Täter. Der Zentralrat der Sinti und Roma beschwert sich zu Recht immer wieder beim Deutschen Presserat über diese Art der vorurteilsbeladenen Berichterstattung.
Viel öffentliche Aufmerksamkeit hat es in den letzten Tagen wegen eines Urteils aus Bochum gegeben. „Zigeuner sind als Nachmieter nicht geeignet", so hatte ein Amtsrichter geurteilt. Das tut ihm heute zwar leid, nutzt den Betroffenen aber gar nichts mehr. Das Urteil ist rechtskräftig. Meiner Meinung nach muß es zurückgenommen werden.
Letzten Freitag demonstrierten in Bonn einige hundert Kinder und Jugendliche gemeinsam mit Erwachsenen gegen die Kindervisa und gegen Diskriminierung. „Wir brauchen ein Antidiskriminierungsgesetz" war ihre Forderung und stand auf ihren Plakaten zu lesen. Die PDS-Bundestagsgruppe hat ein Antirassismusgesetz vorgelegt, das Menschen ein Instrumentarium an die Hand gibt, sich gegen institutionelle und alltägliche Benachteilig ung wegen ihrer Herkunft und ihres Aussehens zu wehren.
Überdies fordern wir in einem weiteren Antrag, eine Kommission einzusetzen, die Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften des Bundes auf Ausländer diskriminierende und Rassismus fördernde Bestimmungen untersuchen soll. Warum können zum Beispiel Migrantinnen in Deutschland nicht Lehrerinnen werden, wenn sie keinen deutschen Paß haben, aber ausreichend qualifiziert sind?
Unser Gesetzentwurf ist oft kritisiert worden. Er greife zu kurz, war die Kritik, zum Beispiel die Kritik der Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz müsse her, das auch das Verbot der Diskriminierung von Behinderten, Schwulen, Lesben und Frauen umfasse. Diese Kritik ist meines Erachtens richtig. Falsch ist es aber, bei der Kritik unseres Entwurfs stehenzubleiben und selber nichts vorzulegen, auch wenn seit langem etwas anderes versprochen worden ist.
Es geht hier nicht um ein wissenschaftliches Epos, das in mühevoller Kleinarbeit im Elfenbeinturm ausgebrütet werden kann. Schon vor über sechs Jahren tobte der rassistische Mob in Hoyerswerda, RostockLichtenhagen, Mölln, Solingen, Lübeck, um nur einige Städte zu nennen. Die Namen der Orte sind uns noch im Ohr und präsent. Trotzdem passiert nichts in diesem Hause.
Wir dürfen es im „Europäischen Jahr gegen Rassismus" nicht bei schönen Worten belassen. Wir müssen alles unternehmen, um rassistische Denkstrukturen in unserer Gesellschaft zu bekämpfen und diejenigen rechtlich zu stärken, die ständigen Diskriminierungen ausgesetzt werden.
Ein Antirassismusgesetz ist dabei sicher nur ein erster Schritt, aber es ist ein Schritt. Dazu gehört auch, daß beispielsweise das Staatsbürgerschaftsrecht dringend reformiert werden muß. Wer dauerhaft hier lebt, muß ein Recht auf Einbürgerung bekommen. Hier geborene Kinder von Einwanderern müssen automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen.
Wer hier lebt, soll auch wählen dürfen. Es geht nicht an, daß wir Bürger und Bürgerinnen erster und zweiter Klasse haben. Auch Menschen ohne deutschen Paß, die sich dauerhaft hier niedergelassen haben, müssen an der demokratischen Willensbildung in diesem Land teilhaben können.
Ich bitte Sie daher, diesen ersten Schritt mit uns zu gehen und unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Danke.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dietmar Schlee.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die - wortgleiche - Neuauflage des Gesetzentwurfs der PDS aus der letzten Legislaturperiode ist nicht besser, nicht richtiger und nicht sachgerechter.
Wir sagen auch zu diesem Gesetzentwurf nein. Wir tun dies aus gutem Grund.
Deutschland und seine mehr als 7 Millionen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger brauchen kein Sondergesetz. Dieses Haus, Frau Kollegin Jelpke, braucht keine PDS-Empfehlungen,
wie wir mit Ausländern umzugehen haben und wie wir die Ausländerfeindlichkeit in diesem Lande bekämpfen können -
von Ihnen, meine Damen und Herren von der PDS, am allerwenigsten.
Die Anschläge, die Sie am Schluß Ihrer Rede, Frau Kollegin Jelpke, erwähnt haben - die Anschläge von Solingen, Lübeck, Magdeburg usw. -, können in der Tat auf gar keinen Fall toleriert werden. Wir alle waren erschrocken über das, was sich dort ereignet hat.
Der Rechtsstaat hat aber Konsequenzen gezogen.
- Ich sage Ihnen eine: Seit dem Höhepunkt dieser ausländerfeindlichen Auseinandersetzungen sind die ausländerfeindlichen Straftaten immerhin um 63 Prozent zurückgegangen. Das heißt, der Rechtsstaat hat auch in diesem Punkt erfolgreich gegen diese schrecklichen Erscheinungen gekämpft. Wir können alle zusammen sehr froh über das sein, was wir hier erreichen konnten.
Der vorliegende Entwurf ist auch ansonsten nicht geeignet, aktuelle Probleme im Bereich der Ausländerpolitik sachgerecht zu lösen. Man könnte über diesen Gesetzentwurf die gleiche Überschrift wie über den der letzten Legislaturperiode setzen: blinder, völlig unnötiger Aktionismus. Etwas anderes, Frau Kollegin, fällt mir dazu nicht ein.
Wir haben auf nationaler, auf europäischer und auf multinationaler Ebene bereits eine große Anzahl von Regelungen, die Diskriminierungsverbote in ausreichender Weise enthalten. Vor allem: Unsere Verfassung, unser Grundgesetz trifft eindeutige Feststellungen. So verhindern wir Diskriminierung - nicht mit einem solchen Gesetzentwurf, der in allen Punkten der Sache nicht gerecht wird.
Ihr Entwurf, meine Damen und Herren von der PDS, geht von der grundfalschen Annahme aus, in Deutschland werde Rassismus dadurch institutionalisiert, daß Ausländern entscheidende Rechte durch Verfassung, Gesetze oder Verwaltungsvorschriften verwehrt würden.
Ihr gedanklicher Ansatz ist abwegig. Wenn Sie diesen Ansatz so wählen: Wollen Sie, daß unter anderem die Grundrechte der Vereinigungsfreiheit, der Freizügigkeit, der freien Berufswahl und das Recht auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst zu Menschenrechten erweitert werden? Da sind wir in der Tat Welten auseinander. Ich finde, daß dies gut ist und daß dies zu einer Klärung in der Gesellschaft beiträgt.
Es ist doch sachlich durch nichts gerechtfertigt - es ist geradezu absurd -, generell jede ungleiche Behandlung von Deutschen und Ausländern - Sie haben das gerade wieder versucht - als rassistisch abzuqualifizieren. Nach der PDS-Interpretation müßte dieser Vorwurf konsequenterweise gegen jeden Staat dieser Welt erhoben werden, weil überall die Rechtsstellung von eigenen Staatsangehörigen und Ausländern unterschiedlich gestaltet ist, und zwar, Frau Kollegin, aus guten Gründen. Ich kann mir gar nicht recht vorstellen, daß Sie das nicht nachvollziehen können.
Wir müssen die Rechts- und Statusregelungen für Ausländer auch im Lichte unserer deutschen Staatspraxis und unserer Verfassungswirklichkeit sehen. Obwohl zum Beispiel Art. 8 des Grundgesetzes die Versammlungsfreiheit auf Deutsche beschränkt, sind Ausländer im Rahmen des Bundesrechts natürlich befugt, Versammlungen abzuhalten. Man nenne mir einmal ein Land auf der Welt, in dem Ausländer so ungehindert demonstrieren können, wie das bei uns der Fall ist. Sie dürfen nicht nur demonstrieren, sondern Sie können auf unseren Straßen agieren und agitieren - dafür gibt es eine Vielzahl von Beispielen -, und zwar in einer Art und Weise, die der Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger so sicherlich nicht gefällt.
Oder nehmen Sie die Vereinigungsfreiheit: Trotz der Beschränkung auf Deutsche in Art. 9 Abs. 1 des Grundgesetzes können auch Ausländer Vereinigungen bilden. Ich frage mich, ob es noch ein Land auf der Welt gibt, in dem die Ausländer so ungehindert Vereinigungen bilden können wie bei uns, bis hin zu terroristischen Vereinigungen, bei denen wir zehn Jahre benötigen, bis eine solche Vereinigung verboten werden kann. Auch das ist etwas, was die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger nachhaltig beunruhigt. Das ist sicherlich eine eher zurückhaltende Formulierung.
Im übrigen: Der freie Zugang zu Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildung ist zu Recht auf Deutsche beschränkt; denn sonst wäre es nicht möglich, den Arbeitsmarktzugang von Ausländern - es kann doch niemand ernsthaft wollen, daß man das nicht in den Griff nehmen darf - sinnvoll zu steuern. Aber die überwiegende Mehrheit der bei uns lebenden Ausländer hat einen gesicherten Arbeitsmarktstatus und ist fest integriert, auch in unsere Sozialsysteme.
Die Zahl der Ausländer, die sich bei uns - ich habe mir die Zahlen heute noch einmal geben lassen - in den letzten Jahren selbständig gemacht haben, hat sich verdoppelt und verdreifacht. Das macht deut-
Dietmar Schlee
lieh, daß die Integration auch insofern absolut gelungen ist und daß die Möglichkeiten, auch auf diese Art und Weise Arbeit in diesem Lande zu finden, von den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern als eine ganz große Chance aufgefaßt werden.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß es in unserem Land keine Anzeichen der Willkür, wie ja auch eben wieder gesagt wurde, oder eines Mißbrauchs des staatlichen Machtmonopols gegenüber Ausländern gibt, sondern in unserer Rechtsordnung lediglich dann zwischen Deutschen und Ausländern unterschieden wird, wenn sachliche Gründe eine Differenzierung gebieten.
Wenn das nicht so wäre, müßte man sich ja wirklich fragen, warum Millionen Ausländer in dieses Land gekommen sind und Tag für Tag mehr Ausländer in dieses Land als in jedes andere Land dieser Welt kommen. Schauen Sie sich nur einmal den Asylbewerberzugang an: Wir nehmen in diesem Land weit mehr als 70 Prozent der in der EU ankommenden Ausländer auf. So wie Sie dieses Land beschreiben, müßte man ja wirklich sagen, es würde sich alles mit Grausen abwenden, Frau Kollegin Jelpke.
- Das Gegenteil, Herr Özdemir, ist richtig. Dafür gibt es eine Vielzahl von Beispielen, wie wir beide ja sehr gut wissen.
Die Frau Kollegin hat dann noch die Einrichtung einer Expertenkommission beantragt. Ich habe deutlich gemacht, daß es eine Diskriminierung in der Form, wie Sie sie dargestellt haben, nicht im entferntesten gibt. Deshalb brauchen wir auch keine Expertenkommission. Das wäre so unnötig wie ein Kropf.
Es gibt aber eine Vielzahl von Feldern, wo Ausländer und Deutsche unterschiedlich behandelt werden. Ich will das noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen. Es wäre ja noch schöner, wenn man das in diesem Lande verschweigen müßte. Natürlich haben wir ein Ausländergesetz, das den Zugang nach Deutschland beschränkt und den Aufenthalt reglementiert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man ernsthaft dagegen sein kann. Das gleiche gilt für das Arbeitsförderungsgesetz. Wir beschränken damit den Zugang zum Arbeitsmarkt. Bei 4,66 Millionen Arbeitslosen wird ja wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen, daß ein solches Gesetz dringend notwendig ist.
Denken Sie an das Sozialhilfegesetz: Es kann doch niemand ernsthaft bestreiten, daß wir hier eine Sonderregelung brauchen und die Leistungen zumindest als Kann-Leistungen ausformulieren müssen, wenn wir die Probleme, die wir gerade bei der Finanzierung unserer großen sozialen Sicherungssysteme haben, wenigstens einigermaßen lösen wollen.
Frau Kollegin Jelpke, wir meinen also, daß wir wirklich die notwendigen Differenzierungen haben und alles, was darüber hinausgeht, nicht differenzieren müssen, da wir in hohem Maße Integrationspolitik in diesem Lande betreiben, und daß man von einer Förderung des Rassismus bei all diesen Vorschriften nicht im entferntesten reden kann.
Lassen Sie mich am Schluß, Frau Kollegin, noch eine Bemerkung machen: Ich habe unmittelbar nach der Wende in der ehemaligen DDR eine Unterkunft für vietnamesische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besichtigt. Wer so etwas gesehen hat, der hat meiner Meinung nach wenig Anlaß, Ihre Ausführungen und den von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf ernst zu nehmen. Das muß ich Ihnen doch mit allem Nachdruck sagen.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Cornelie Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Lieber Herr Schlee, vielleicht sollten Sie Augen und Ohren einmal in eine andere Richtung aufmachen, als wie Sie es bisher getan haben. Das rosige Bild, das Sie hier gemalt haben, hält leider vor der Wirklichkeit nicht stand.
Es gibt Fälle, da unterstützt und akzeptiert man zwar das Ziel, aber nicht den Weg dorthin. So geht es mir, wenn ich mir das Antirassismusgesetz der PDS anschaue. Mit vielen anderen bin nämlich durchaus auch ich der Meinung, daß wir mit zusätzlichen Gesetzesinitiativen darauf drängen müssen, Minderheiten in diesem Land besser vor Benachteiligung und Schikanen zu schützen. Dazu haben wir Sozialdemokraten selbst Vorstellungen und Vorschläge eingebracht, auf die ich gleich zurückkomme.
Den Gesetzentwurf der PDS aber werden wir ablehnen, und zwar deswegen, weil - ich wiederhole es - er im Ansatz zu kurz greift, weil Haß, Vorurteile und Geringschätzung nicht nur Menschen anderer Nationalität oder Religion treffen, sondern eben leider auch Aussiedler, Obdachlose, Behinderte, Homosexuelle, jüdische Mitbürger.
Das alles läßt sich nicht einfach unter dem Sammelbegriff Rassismus zusammenfassen - bei den deutschstämmigen Aussiedlern schon gar nicht. Sie definieren Rassismus zwar etwas umfänglicher, nämlich als nachteilige Behandlung von Menschen wegen ihrer Kultur und ihrer Religion. Aber ich finde, auch das geht nicht, weil es eine Begriffsverwirrung schafft. Außerdem werden Sie der Fülle der Verhaltensweisen, die Sie als rassistisch und damit als sanktionsbedürftig aufzählen, nicht auf die Spur kommen können. Sie werden sie nicht dingfest machen können.
Ein weiterer Punkt ist, daß wir zum Beispiel das Arbeitsförderungsgesetz nicht so weit ändern können, daß es praktisch keinerlei Rangfolge mehr bei der Vermittlung deutscher und ausländischer Arbeitneh-
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
mer gibt. Das wäre zwar ein schöner Zukunftstraum, aber die augenblicklichen Verhältnisse in der Republik mit dieser Massenarbeitslosigkeit würden uns jegliche soziale Akzeptanz solcher Regelungen verwehren. Es würde dem Gedanken des friedlichen Miteinanders von Deutschen und Zuwanderern wahrscheinlich sogar ein Bärendienst erwiesen.
Eine Expertenkommission, die Sie in Ihrem Antrag fordern, würde wohl nur im Zusammenhang mit Ihrem Gesetzentwurf Sinn machen. Außerdem finde ich, daß wir als Parlamentarier es eigentlich als ureigene Aufgabe ansehen müssen, Gesetze daraufhin abzuklopfen, ob sie nicht etwa diskriminierend wirken können. Dazu brauchen wir nicht extra eine Kommission.
Aber am wichtigsten erscheint mir: Rassismus, dieses dumpfe Gebräu aus Haß und Aggression, Vorurteilen und Menschenverachtung, nistet leider in den Köpfen und Herzen und muß dort bekämpft werden. Mit Papieren und Paragraphen werden wir den Rassismus leider nicht aus der Welt räumen. Deswegen schlägt die SPD etwas anderes vor. Wir fordern ein Gesetz - und arbeiten auch daran - zur Förderung der Gleichbehandlung, aber eben nicht nur von Ausländern, sondern auch von anderen Menschen, die Diskriminierung und Bedrohung fürchten müssen.
Art. 3 des Grundgesetzes - Herr Kollege Schlee, Sie haben ihn angeführt - heißt in seiner neuen Form:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Da merken Sie schon, wie weit der Bogen gespannt ist. Deswegen sagen wir: Es muß ein Gesetz geben, das diesen Art. 3 der Verfassung mit Leben erfüllt. Darüber kann man durchaus reden, Herr Kollege Schlee. So selbstverständlich, wie Sie es eben gesagt haben, ist das leider nicht.
Was also tun? Kaum ein Vermieter ist so dumm, einem Wohnungssuchenden mit der Begründung abzusagen, ihm sei seine dunkle Hautfarbe suspekt. Kaum ein Diskobesitzer wird sich des Rassismus überführen lassen, wenn er einem Ausländer die Tür weist. Er verbrämt das sicherlich sehr viel geschickter. Deswegen brauchen wir ein Gesetz mit positiver Zielrichtung, zum Beispiel mit Regelungen, die den öffentlichen Dienst ausdrücklich zur Förderung und Einhaltung der Gleichbehandlung verpflichten - er soll etwas tun.
Aber das Problem der feindseligen Abwehr gegen Minderheiten geht viel weiter und viel tiefer, als es mit der Debatte um Gesetze gegen die Diskriminierung erfaßt wird. Mir macht wirklich Sorgen, wie stark sich Ausländerhaß gerade in der letzten Zeit wieder bemerkbar macht - nicht nur, aber leider auch in Deutschland. Wer sich - das sage ich aus eigener Erfahrung - um eine integrationsfreundliche Politik bemüht, wer auf Einhaltung internationaler
Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte und internationaler Vereinbarungen zum Schutz von Flüchtlingen pocht, der bekommt Gegenwind in bösen Briefen und Anrufen zu spüren. Die Pauschalurteile werden drastischer und die Töne dreister.
Als ich kürzlich den Vorschlag machte, Harald Juhnkes Fernsehsendungen abzuschalten, wenn es denn richtig sei, daß er einen US-Wachmann böse und rassistisch beschimpft hat - ob im Rausch oder nicht -, hat es mich natürlich nicht gewundert, daß manche Leute mir sagten, ich hätte mich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Ich habe mich über etwas anderes erschreckt, nämlich daß nicht wenige Anrufer und Briefeschreiber meinten: „Wenn er es denn gesagt hat - das ist doch wohl alles ganz richtig" . Das sind Dinge, die einen erschrecken müssen.
Was ich schildere, ist längst nicht alles neu, aber es verstärkt sich. Nicht alles ist rassistisch - viele haßerfüllte und abfällige Äußerungen erwachsen bei den Menschen aus Angst um die eigene Existenz, um die Zukunft, aus einem Gefühl der Bedrohung und aus sozialen Spannungen.
Deshalb, meine Damen und Herren: Wichtiger als alle Gesetze gegen Diskriminierung und Rassismus wäre eine Politik, die die Erwerbslosigkeit aktiv bekämpft, die soziale Benachteiligung mindert, kurz, die unsere Gesellschaft zusammenführt, statt sie weiter zu spalten.
Zu einem solchen Kurswechsel zeigt diese Bundesregierung keine Bereitschaft. Das ist das Schlimme daran. Sie sind deshalb mitverantwortlich dafür, wenn solche Spannungen, solche Konflikte, solche Feindseligkeiten wachsen und eine Sündenbockmentalität um sich greift. Ja, Sie selbst suchen doch nach Prügelknaben für das Scheitern Ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik. In Wildbad Kreuth: langjährige Arbeitsverbote für Ausländer in Diskussionen. Dann die jetzt aktuelle Auseinandersetzung um die Eilverordnung des Bundesinnenministers, die Hunderttausende hier lebende ausländische Kinder und ihre Familien vor den Kopf stößt.
- Den Zusammenhang will ich Ihnen gerne klarmachen.
Das sind alles Mosaiksteine für eine Atmosphäre, die den Nährboden für Feindseligkeiten und Aggressionen liefern. Deswegen muß man das sehr wohl deutlich beim Namen nennen.
Darum, Herr Schlee, ist satte Selbstzufriedenheit gänzlich unangebracht. Ich appelliere an Sie: Schalten Sie in der Einwanderungspolitik endlich den Vorwärtsgang ein! Hören Sie auf, die bei uns seßhaft gewordenen Einwanderer mit einem politischen Mob-
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
bing zu überziehen, wie Sie es ausdrücklich im Moment tun!
Sonst geraten wir wirklich in einen Strudel der gegenseitigen Entfremdung und Isolation, wie er an manchen sozialen Brennpunkten in anderen Ländern dieser Erde schon sehr spürbar ist. Nehmen Sie vor allen Dingen die unselige Äußerung des Bundeskanzlers aus seiner letzten Bundestagsrede zurück, der bekanntlich für die hohe Arbeitslosigkeit Schuldige benannte. Merken Sie sich: Weder die Einwanderer noch die erwerbstätigen Frauen sind die Ursache, sondern Ihre falsche Politik. Ich hoffe, Sie haben diese Rede noch in Erinnerung.
Meine Damen und Herren, noch eines: Welch ein klägliches Bild leistet sich die Bundesregierung bei der Umsetzung des europäischen Jahres gegen den Rassismus, das kommende Woche offiziell eingeläutet wird! Wo bleibt ein konkretes, ein offensives Sonderprogramm zu diesem Jahr, das uns durch die kommenden Monate begleiten könnte?
Außer solchen Beteuerungen wie der, man werde Aktionen wie diejenige unter dem Titel „ Fair-ständnis'' fortführen, haben wir kaum etwas gehört. Dabei sind doch der Kreativität in einem solchen Jahr überhaupt keine Grenzen gesetzt. Die SPD wird Ihnen auf die Sprünge helfen.
Zum Beispiel kann die Regierung Maßstäbe - ganz ohne Antirassismusgesetz - für die Beschäftigungsmöglichkeiten von Menschen ausländischer Abstammung setzen: Sie kann in enger Zusammenarbeit mit den Ländern Modellprogramme für den Unterricht über Menschenrechte und andersartige Kulturen anbieten. Sie kann bundesweit mit einer Wanderausstellung Bürgern zeigen, wie man Toleranz übt und fördert. Sie kann eine Ideenbörse zum Abbau von Vorurteilen einrichten, übrigens von gegenseitigen Vorurteilen, nicht nur gegenüber den Deutschen, sondern auch gegenüber den Ausländern.
Sie kann die Werbeindustrie und die Medien ermutigen, mit Klischees aufzuräumen, anstatt sie zu pflegen, und Reklame für Weltoffenheit zu machen. Vieles ist möglich, liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn man es nur will.
Eine Schlußbemerkung. Wir haben es in Deutschland nicht - oder muß ich sagen: noch nicht? - mit einer derartig rigiden Verschärfung von Einwanderungsgesetzen zu tun wie jetzt in Frankreich. Bei unseren französischen Nachbarn aber gibt es aus vielen gesellschaftlichen Gruppen heraus eine Protestbewegung dagegen, die einem weiß Gott Respekt abnötigt. Da mischen sich Leute aus der Kunst, aus den Kirchen und anderen Bereichen kräftig in die Politik ein. Ich finde das schon beherzigenswert.
Hierzulande: Na ja. Im Moment blasen manche Intellektuelle und Literaten zum Marsch gegen die Rechtschreibreform. Darüber kann man ja streiten. Nur, wenn ein kleiner Teil dieses Eifers und dieses Engagements, das sich da austobt, dafür verwandt würde, im Jahr des Rassismus etwa Kampagnen gegen den Rassismus zu führen und für Toleranz, für Weltoffenheit einzutreten, dann könnte man sich doch darüber freuen, daß diese Gesellschaft dazu noch imstande ist.
Ich rate uns allen, darüber noch näher nachzudenken.
Ich gebe das
Wort dem Abgeordneten Cem Özdemir.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns - zumindest, was die Opposition dieses Hauses angeht - in der Notwendigkeit, daß wir ein Antidiskriminierungsgesetz brauchen, einig, übrigens auch, weil eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes - auch in dieser Frage sind wir uns, zumindest was den linken Teil dieses Hauses angeht, einig - allein nicht ausreicht.
Wir werden zunehmend Menschen haben, die einen deutschen Paß besitzen, aber eine andere Haarfarbe haben als die Haarfarbe, die gewöhnlich einem deutschen Staatsbürger zugeordnet wird,
eine andere Hautfarbe und vor allem einen anderen Namen. Diese Menschen erfahren tagtäglich Diskriminierung verschiedenster Art. Allein aus diesem Grunde ist es, glaube ich, sehr wichtig, daß wir uns diesem Thema zukünftig widmen.
Es macht Sinn, einmal über den nationalen Tellerrand hinaus zu blicken und zu schauen, was für Erfahrungen die Nachbarstaaten gemacht haben. Die Niederländer, die Briten, die US-Amerikaner, die Franzosen haben mit Antidiskriminierungsgesetzgebung gute Erfahrungen gemacht, mit einem umfassenden rechtlichen Instrumentarium, das sich bewährt hat. Hier würde ich mir wünschen, daß die Bundesrepublik Deutschland durchaus einmal von diesen Erfahrungen profitiert.
Das wäre allerdings auch aus einem anderen Grund sehr wichtig. Das CERD-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung aus dem Jahre 1966 harrt immer noch darauf, daß es in der Bundesrepublik Deutschland endlich in nationales Recht umgesetzt wird. Wir in der Bundesrepublik Deutschland sind Schlußlicht.
Wir sind aber auch Bremser, was Einigungen auf europäischer Ebene angeht, wenn es beispielsweise darum geht, der Kommission eine Richtlinienkompe-
Cem Özdemir
tenz zu geben. Dies erfolgt nicht, weil die Bundesrepublik Deutschland in massiver Form versucht, dies zu verhindern.
Die Bundesregierung argumentiert, daß ein Antidiskriminierungsgesetz unnötig sei. Ich glaube nicht, daß es unnötig ist. Ich halte es nicht für unnötig, daß wir rassistische Anzeigentexte - darauf wurde von den Vorrednerinnen bereits hingewiesen - wie „Für Ausländer nicht zu vermieten" in dieser Republik in Zukunft nicht mehr haben.
- Aber in der Praxis bringt das nichts. Als Jurist müßten Sie wissen, daß es ein Problem des Anwendens gibt.
Wir brauchen auch Gesetze, damit zukünftig Schadensersatzansprüche von deutschen Touristen, die es im Ausland nicht ertragen können, beispielsweise mit Behinderten zusammen ein Mahl zu sich zu nehmen, keinen Erfolg mehr haben können. Ich glaube, wir sollten im Hause einig sein, daß solche Dinge nicht zu einer pluralistischen und offenen Gesellschaft passen.
Schließlich brauchen wir ein Antidiskriminierungsgesetz, damit solche Dinge, wie ich sie beispielsweise erlebt habe, als ich mich um eine Kfz-Versicherung bemühte, nicht mehr möglich sind. Zum Teil habe ich keine Antwort von den Versicherungen bekommen. Zum Teil sind mir die Sachen nicht zugeschickt worden. Zum Teil haben es die Versicherungen, obwohl ich die Angaben durchgegeben, hingeschickt, hingefaxt hatte, nicht einmal für nötig befunden, überhaupt in irgendeiner Weise zu reagieren.
Ich muß der Versicherung in der Bundesrepublik Deutschland beweisen, daß sie rassistisch vorgeht, daß sie mir nicht antwortet, weil ich einen türkischen Namen besitze, obwohl ich Staatsbürger dieser Republik bin. Es ist nicht andersherum, wie es in den USA, wie es in den meisten Ländern Europas der Fall ist: daß die Versicherung mir erklären muß, warum sie mich nicht aufnehmen will. Genau das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf: eine Umkehr der Beweislast in diesen Fällen.
Letzter Punkt. Warum werden wir dem Gesetzentwurf der PDS nicht zustimmen? Ein Punkt wurde bereits von der Kollegin Sonntag-Wolgast genannt: Wir wollen keinen Gesetzentwurf, der eine Bevölkerungsgruppe herausgreift, sondern einen Gesetzentwurf, der auch Schwule und Lesben beinhaltet, der sich auch um Behinderte und um andere Gruppen kümmert, die in der Gesellschaft benachteiligt und diskriminiert werden.
Ein sehr wichtiger Punkt: Als eine Rechtsstaatspartei setzen wir auf zivilrechtliche Wiedergutmachung. Wir glauben nicht daran, daß man mit der Keule des Strafgesetzbuches Rassismus bekämpfen kann. Ich glaube, etwas mehr Bescheidenheit gegenüber dem Instrumentarium, gegenüber den Möglichkeiten des Staates wäre uns allen angemessen.
Schließlich haben wir massive rechtsstaatliche Bedenken gegen eine generelle Beweislastumkehr. Auch hier würde ich dazu raten, sich den Gesetzentwurf noch einmal aufmerksam durchzuschauen, um zu sehen, daß es hier massive Probleme gibt.
Allerdings - das möchte ich an die rechte Seite zum Abschluß sagen - brauchen wir auch deshalb ein Gesetz, weil ein Gesetz auch so etwas wie eine Signalwirkung in die Gesellschaft hinein hat. Die aktuellen Ereignisse zeigen uns, daß wir dringend positive Signale der Integration in die Gesellschaft hinein brauchen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Max Stadler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jelpke, selbstverständlich zählt es zu den Grundanliegen des liberalen Rechtsstaats, jegliche rassistisch motivierte Diskriminierung zu verhindern. Dies gebietet die Menschenwürde, die nach Art. 1 des Grundgesetzes unantastbar ist. „Sie zu achten und zu schützen", heißt es dort, „ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" . Dies ist übrigens, Herr Kollege Özdemir, ein sehr deutliches Signal, wie Sie es gerade am Schluß Ihrer Rede eingefordert haben. Das Verbot der Diskriminierung wird im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes sowie in der spezielleren Regelung des Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes bekräftigt, wonach niemand unter anderem wegen seiner Rasse benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
Diese Grundrechte binden Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung unmittelbar. Diskriminierende Normen sind verfassungswidrig. Es existiert ein effektives Rechtsschutzsystem, im Einzelfall die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen festzustellen. Ebenso steht der Rechtsweg bis hin zum Bundesverfassungsgericht jedem Betroffenen bei diskriminierenden Einzelmaßnahmen der Verwaltung oder bei gleichheitssatzwidrigen Gerichtsentscheidungen offen.
Aus diesen Gründen erscheint uns ein eigenes Antirassismusgesetz nicht erforderlich. Gleichwohl - da gebe ich Ihnen recht - bleibt es eine ständige Aufgabe der Politik, jeglichem Auftreten von Rassismus im Alltag entschieden entgegenzutreten. Ebenso ist es unsere Aufgabe, die Gesetzgebung und die Verwaltungspraxis laufend daraufhin zu überprüfen, ob die Rechtsstellung der in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer befriedigend geregelt
Dr. Max Stadler
ist. Da dies jedoch ohnehin zu den selbstverständlichen Pflichten einer auf Integration abzielenden Innenpolitik gehört, halten wir auch die Einrichtung einer Expertenkommission, wie im PDS-Antrag vorgeschlagen, für nicht erforderlich.
Dagegen kommt in diesem Zusammenhang dem Amt der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung eine herausragende Bedeutung zu. Es ist anzuerkennen, daß im Entwurf des Antirassismusgesetzes der Versuch unternommen worden ist, in einem umfänglichen Art. 2 die Stellung der Ausländerbeauftragten neu zu regeln. Insofern hat die Koalition jedoch ohnehin bereits gehandelt.
Im Zusammenhang mit der Novellierung des Ausländerrechts ist die Position der Ausländerbeauftragten deutlich aufgewertet worden.
Es hat sich gezeigt, daß dieser Teil des Gesetzgebungspakets auch die Billigung des Bundesrates gefunden hat, so daß sich daran im gerade laufenden Vermittlungsverfahren nichts ändern wird.
Die Novelle zum Ausländergesetz wird darüber hinaus zum Teil die Rechtsstellung der in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer verbessern - etwa beim vieldiskutierten eigenständigen Aufenthaltsrecht geschiedener Ehegatten nach § 19 des Ausländergesetzes.
Daß damit nicht alle Vorstellungen der F.D.P. erfüllt sind, ist kein Geheimnis. Wir haben gerade in dieser Woche im Zusammenhang mit der strittigen Eilverordnung zur Visumspflicht den Vorschlag gemacht, den hier lebenden Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahre die unbefristete Aufenthaltserlaubnis sofort zu erteilen. Wir werden im übrigen nicht nachlassen, eine zufriedenstellende Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts für Ausländerkinder der dritten Generation herbeizuführen.
Wie schon bei der Debatte im Innenausschuß möchte ich abschließend darauf hinweisen, daß einzelne Vorschriften aus Art. 1 des Antirassismusgesetzes juristisch-technischen Einwänden begegnen, die im übrigen Kollege Özdemir gerade in ähnlicher Weise vorgetragen hat. So werden in § 1 Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche in einer dem Zivilrecht systemfremden Weise mit der Androhung eines Ordnungsgeldes verbunden. Die vorgeschlagene Beweislastregelung in § 5 erscheint mir, ebenso wie dem Kollegen Özdemir, sehr weitgehend. Auch über die Frage, ob es neben Individualansprüchen wirklich eine Verbandsklage im Sinne von § 6 des Gesetzentwurfes geben sollte, müßte noch näher diskutiert werden.
Diskutabel erscheinen mir dagegen die vorgeschlagenen Änderungen zum Pflichtversicherungsgesetz und Versicherungsvertragsgesetz. Das will ich gerade wegen des praktischen Beispiels, das Herr
Özdemir hier angeführt hat, betonen. Hier ist in der Tat Diskriminierungen, die in der Praxis festzustellen sind, entgegenzutreten.
Wir halten jedoch insgesamt weder das vorgeschlagene Gesetz noch die Einrichtung einer Expertenkommission für erforderlich. Sehr wohl aber hat der Gesetzentwurf eine Thematik problematisiert, deren Bewältigung selbstverständlich zu den wichtigen ständigen Aufgaben der deutschen Innenpolitik gehört. Wir sind uns dieser Verantwortung bewußt.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurf eines Antirassismusgesetzes auf Drucksache 13/1466. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/4082 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS in zweiter Beratung abgelehnt worden ist. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Gruppe der PDS zur Einrichtung einer Expertenkommission zur Überprüfung von Vorschriften des Bundes auf diskriminierende und rassismusfördernde Bestimmungen, Drucksache 13/4082 Buchstabe b: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1405 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.
Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 und den Zusatzpunkt 8 auf:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck , Andrea Fischer (Berlin) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Versorgungsrenten für Kriegsverbrecher und Angehörige der Waffen-SS
- Drucksache 13/1467 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Rechtsausschuß
ZP8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Leistungsausschluß bei Verstößen gegen die
Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit
- Drucksache 13/7061 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Rechtsausschuß
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sieben Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fünf Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Auseinandersetzung über die Rolle der Wehrmacht und die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland voll entbrannt. Dies zeigen die Auseinandersetzungen in München. Die Aktionseinheit von Münchner CSU bis hin zu Neonazis ist ein unerträglicher Skandal, mit dem sich auch der Bundestag noch befassen muß.
Ich fordere Herrn Waigel auf, sich klar und deutlich von diesen Machenschaften zu distanzieren. Vielleicht ist ja jemand von der CSU im Raum, der ihm das weitersagen kann.
München macht deutlich, wie dringend die Fortsetzung der historischen Aufarbeitung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg ist. Die ausstehende Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure und die Zahlung von Kriegsopferrenten an Kriegsverbrecher und Angehörige der SS zeigen, daß auch der Gesetzgeber seine Hausaufgaben noch nicht gemacht hat. Beide Themen erwecken den Eindruck einer Parteinahme für die Täter. Hier müssen wir die Fehler der Vergangenheit endlich korrigieren.
Jahrelanges Bohren der Grünen und die Berichte von „Panorama" haben Wirkung gezeigt. Regierung und Koalition lenken bei der Diskussion um Kriegsopferrenten für Kriegsverbrecher ein. Dies ist zunächst ein Erfolg. Ein stilles Beerdigen der Debatte um die Kriegsopferrenten für Kriegsverbrecher wird es mit uns aber nicht geben. Bündnis 90/Die Grünen verlangen eine Anhörung im federführenden Ausschuß. Das gesamte Ausmaß der moralischen Katastrophe der Kriegsopferversorgung muß auf den Tisch. Meines Wissens hat die Bundesregierung auch dem Parlament mehrere unrichtige und unvollständige Angaben gemacht. Die moralische Verstrickung geht wesentlich weiter, als dies in den Antworten der Bundesregierung in der letzten Zeit zum Ausdruck kommt.
Ich nenne als Beispiel die Praxis von verdeckten Zahlungen ins Ausland. Über Tarnorganisationen in Dänemark, über das Deutsche Rote Kreuz und den dänischen Bund deutscher Nordschleswiger wird ins Ausland gezahlt, um die Berechtigten vor Diskriminierung im Ausland zu schützen. Diese Praxis ist einfach unglaublich, und sie ist nicht nur in Einzelfällen und nicht nur in Dänemark üblich gewesen. Allein in Dänemark werden 183 Leistungsempfänger verdeckt bedient, mindestens zehn davon sind verurteilte Kriegsverbrecher. Aber auch in die Niederlande,
nach Frankreich und Belgien wurde nach unserer Information verdeckt gezahlt.
Verdeckte Zahlungen zeugen vom Problembewußtsein der Bundesregierung. Man wußte, es war ein heikler Vorgang. Man hatte sich zum Komplizen gemacht und Beihilfe zur Strafvereitelung, zum Sozial- und Steuerbetrug in diesen Ländern geleistet.
Die angebliche Überprüfung aller Bundesversorgungsgesetz-Anträge, die uns in Sicherheit wiegen soll, ist eine Chimäre. Sie erfolgte erst 1993 nach einem „Panorama"-Beitrag bei Neuanträgen. Das Ergebnis: gerade zwei Ausschlüsse von Leistungsanträgen.
Auch die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg hat bislang wenig von den Landesversorgungsämtern gehört, obwohl die Bundesregierung in der Antwort betont, diese werde generell eingeschaltet. Das scheint offensichtlich nicht der Fall zu sein. Hier sind die Angaben der Regierung widersprüchlich. Das müssen wir in den Ausschüssen en detail klären.
Aber nun zu den Konsequenzen. Die Bundesregierung stellt in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage fest: Die Aufnahme einer Unwürdigkeitsklausel im Bundesversorgungsgesetz für das Inland ist zulässig. Der heutige Gesetzgeber ist frei. Bei einer künftigen Entziehung der Rente, so die Bundesregierung, ist lediglich zu beachten, wie schutzwürdiges Vertrauen und die maßgebenden Gesichtspunkte der Neuregelung zu gewichten seien.
Die Bundesregierung hat recht: Es geht um eine politische Entscheidung in der Sache. Für Bündnis 90/ Die Grünen ist klar: Kein Kriegsverbrecher hat Anspruch auf schutzwürdiges Vertrauen. Kein Freiwilliger der SS oder Waffen-SS sollte auf Dauer eine Rente als Kriegsopfer erhalten.
Dies ist auch machbar. Hierzu muß man wissen: Das Bundesversorgungsgesetz ist kein Sozialversicherungsrecht. Es ist wie das Bundesentschädigungsgesetz ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz. Hier hat der Gesetzgeber also mehr Spielraum.
Beim Bundesentschädigungsgesetz gibt es Ausschlußtatbestände wie die Mitgliedschaft in der NSDAP. 1956 wurden die Kommunisten aus dem Bundesentschädigungsgesetz generell ausgeschlossen. Sie mußten damals sogar ihre erhaltenen Leistungen zurückgeben.
Warum der Vertrauensschutz bei Kriegsverbrechern und SS-Leuten höher zu bewerten ist als bei den Opfern des Nationalsozialismus, vermag mir nicht einzuleuchten.
Volker Beck
Die Großzügigkeit mit den Tätern und die Kleinlichkeit gegenüber den Opfern müssen ein Ende haben.
Der Antrag der Koalition zeigt, daß die gegenwärtige Praxis unhaltbar geworden ist. Er geht jedoch viel zu vorsichtig vor. Lediglich die bestehende gesetzliche Möglichkeit der Verwehrung von Leistungen für ausländische Leistungsbezieher soll künftig zur Anwendung kommen. Weiße Salbe; denn das ist schon heute die Rechtslage. Die von der Bundesregierung für möglich erklärte Einführung einer Unwürdigkeitsklausel für inländische Leistungsbezieher soll hingegen nur geprüft werden.
Hierbei sind zwei Fragen zu klären, erstens woran der Ausschlußtatbestand anknüpfen soll und zweitens wo sein Geltungsbereich ist.
Der von der Koalition vorgeschlagene Ausschlußtatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit" zum alleinigen Anknüpfungspunkt für den Ausschluß zu machen geht meines Erachtens fehl. Ich erwähnte es schon: Beim Bundesentschädigungsgesetz reicht allein die NSDAP-Mitgliedschaft. Die Waffen-SS war nach dem Diktum des Nürnberger Gerichtshofes wie die SS eine verbrecherische Organisation. Deshalb muß die freiwillige Mitgliedschaft in der Waffen-SS schon hinreichendes Kriterium einer Leistungskürzung oder -verweigerung sein.
Es reicht nicht aus, Leistungen nur bei Neuanträgen zu kürzen oder gar nicht erst zu gewähren. Wir müssen der Verwaltung schon zumuten, wenigstens 1 Million Leistungsempfänger daraufhin zu sortieren, wer von ihnen in der Vergangenheit in einem Verband der Waffen-SS gekämpft hat. Das werden wahrscheinlich 5 bis 10 Prozent der Empfänger sein. Dies müßte ohne großen Arbeitsaufwand leistbar sein. Es stehen auch entsprechende Einsparungen am Ende des Verfahrens.
Auch die Beschränkung auf das Ausland greift zu kurz; denn dann würden 97 Prozent der Problemfälle von der Lösung ausgeschlossen. Sie kämen glimpflich davon. Das darf nicht sein. Eine Lösung dieses Problems muß sich gerade im Inland bewähren.
Bleibt es bei der von der Union und F.D.P. vorgeschlagenen Reform, den Leistungsausschluß auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit zu begrenzen - das muß deutlich gesagt werden -, bleibt es auch bei folgendem: Die Mitglieder der Waffen-SS aus Lettland bekommen Renten nach dem Bundesversorgungsgesetz, die Opfer des Holocaust in Lettland nichts oder allenfalls einmalig 1 000 DM aus dem russischen Stiftungsfonds. Das ist eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Opfer. Das ist eine völlige Schieflage. Das kann am Ende einer solchen Reform nicht stehenbleiben.
Das Wort hat die Kollegin Schnieber-Jastram.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Beck, ich denke, es ist Schicksal und Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, daß auch fünf Jahrzehnte nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur deren Erbe aus Gewalt, Willkür und Unterdrückung schwer als Bürde auf ihr, auf uns allen lastet. Was Hitler und seine Schergen, seine kleinen und seine großen Helfer in jenen unseligen zwölf Jahren innerhalb Europas angerichtet haben, hat einen so riesigen Trümmerhaufen in Europa hinterlassen, daß wir, wie uns diese Debatte zeigt, auch heute noch gezwungen sind, Dinge, die im darauffolgenden Wiederaufbau falsch liefen und versäumt wurden, zu korrigieren. Ich glaube, in diesem Zusammenhang sollten wir nicht von Komplizentum sprechen.
Das gilt etwa für die endgültige Aussöhnung mit unseren Nachbarstaaten - wir haben erst kürzlich eine sehr ernste Debatte über die Deutsch-Tschechische Erklärung geführt -, und das gilt für die Verpflichtung, den Opfern nationalsozialistischer Verbrechen zu helfen. Das Geschehene können wir nicht ungeschehen machen. Die Folgen von Mord, von Folter, Repression und Unterdrückung können wir nicht beseitigen. Wir können aber zumindest den Versuch unternehmen, den Opfern bei der Bewältigung der Folgen zu helfen. Hier hat die Bundesrepublik in der Tat eine Menge getan, aber sie muß auch in Zukunft noch etwas tun.
So wie wir uns hier der Verantwortung gegenüber den Opfern stellen müssen, so müssen natürlich auch diejenigen, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft individuelle Schuld auf sich geladen haben, auch heute noch zur Verantwortung gezogen werden. An dem Begriff der individuellen Schuld beginnt sich im übrigen die historische Dimension mit der Dimension des Sozialrechts zu verbinden.
Eines ist klar und in diesem Hause unstrittig: Wer als führende Kraft im Dritten Reich Schuld auf sich geladen hat, hat natürlich keinen Anspruch auf Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz, und es wäre pervers, jenen, die Deutschland materiell und moralisch in den Untergang geführt haben, heute noch eine Rente bereitzustellen.
Aber sie waren bei ihrem Vernichtungswerk und ihren Verbrechen nicht alleine. Sie brauchten und sie hatten Helfer, die in voller Kenntnis dessen, was vorging, aktiv an Mord, Folter und Unterdrückung mitgewirkt haben. Diese Helfer und Helfershelfer haben schwere individuelle Schuld auf sich geladen, sie tragen Mitverantwortung für schreckliche Greueltaten, und aus dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen. Das will auch niemand. Insoweit verfolgen die heute zur Beratung anstehenden Anträge das gleiche Ziel.
Die Frage jedoch, die die beiden Anträge unterscheidet, ist: Gibt es eine Kollektivschuld, eine generelle Haftung, in die ich eine bestimmte Gruppe, eine bestimmte Organisation nehmen kann? Kann der Ge-
Birgit Schnieber-Jastram
Setzgeber - um wieder zur Sozialpolitik zurückzukommen - für ein Kollektiv ohne Rücksicht auf persönliche Umstände, auf persönliche Schuld ein Sonderrecht schaffen?
Weder ich noch ein anderes Mitglied der Koalitionsfraktionen will das, was die SS an unmenschlichen Greueltaten begangen hat, in irgendeiner Form verteidigen. Wir müssen hier auch nicht in eine allgemeine SS-Debatte eintreten. Wir sollten aber als historisch unumstrittenes Fachwissen zur Kenntnis nehmen, daß spätestens ab 1943 eine Trennlinie zwischen den in den Konzentrationslagern eingesetzten Totenkopfverbänden und den Divisionen der Waffen-SS gezogen werden muß.
Es hat schreckliche Pogrome unter Beteiligung der Waffen-SS gegeben, es hat aber auch - eine vieldiskutierte Ausstellung hat das im übrigen ins Bewußtsein gerufen; Sie haben das angesprochen - furchtbare Verbrechen von einzelnen Wehrmachtsteilen gegeben, Massenerschießungen, Deportationen und Schändungen.
Frau Schnieber-Jastram, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Ja.
Können Sie mir erklären, wenn es Ihre Auffassung ist, daß man grundsätzlich keine Organisationszugehörigkeit, nicht einmal die zu einer rechtlich festgestellten verbrecherischen Organisation, zum Kriterium eines Ausschlusses machen kann, warum in § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes die bloße NSDAP-Mitgliedschaft zu einem Ausschluß führt und auch die bloße Aktivität für die illegale KPD ohne Verwirklichung weiterer Straftatbestände ausreicht, um als Tatbestand für einen Leistungsausschluß in Frage zu kommen, während beim Bundesversorgungsgesetz ein viel milderer Einschnitt - es handelt sich ja um eine qualifiziertere Organisation bezüglich des begangenen Unrechts - ausscheiden soll? Ich vermag diese Differenzierung nicht zu verstehen; denn strukturell sind Bundesentschädigungsgesetz und Bundesversorgungsgesetz ja ähnliche Gesetze, nämlich steuerfinanzierte Leistungsgesetze für bestimmte Opfergruppen. Warum geht dieser Ausschluß bei der einen Opfergruppe sehr weit, während bei der anderen nicht einmal dieser enge Ausschluß möglich sein soll?
Herr Beck, es wird niemanden geben, der behauptet, daß alles, was Recht ist, auch richtig ist. Wir müssen uns heute die Frage stellen, ob es wirklich richtig ist, alle Wehrmachtsangehörigen auf Grund einer Kollektivverurteilung von Versorgungsbezügen auszuschließen, und ob man nicht vernünftigerweise in einem Rechtsstaat den üblichen Nachweis einer individuellen Schuld dann auch zugestehen sollte. Ich halte das für richtig, weil ich glaube, daß jeder, egal, welche Vergangenheit er hat, einen Anspruch darauf hat, individuell beurteilt zu werden. Ich sage noch einmal: Nicht alles, was Recht ist, ist auch richtig.
Die zuletzt fast eine Million Angehörigen der Waffen-SS sollen heute, wenn es nach Ihnen geht, pauschal zu Kriegsverbrechern erklärt werden. Ich will Ihnen dazu einmal ein Beispiel geben, Herr Beck: Es gab eine Waffen-SS-Division „Hitlerjugend", die sich 1944 an der Westfront hat verheizen lassen müssen. Es handelte sich dabei zum großen Teil um 16- und 17jährige Jugendliche, die nach kurzer Ausbildung als Mitglieder der Waffen-SS direkt von der Heimat an die Front gekant wurden. Wenn einer dieser Jugendlichen im Kriegseinsatz ein Bein verloren hat, soll er keine Versorgungsleistungen bekommen, nur weil er sich in seinem blinden Fanatismus einer Organisation angeschlossen hat, deren Mitglieder anderswo in der Tat unsägliche Verbrechen begangen haben? Dies geht mit meinem Empfinden von Recht, von Schuld und von Verurteilung nicht ganz zusammen.
Wenn mir jemand erklärt, er sei bei der Waffen-SS gewesen, so ruft dies bei mir Verachtung und Abneigung hervor, da sich der Betreffende - wahrscheinlich, aber auch nicht immer - freiwillig zu der Elitetruppe eines verbrecherischen und skrupellosen Regimes gemeldet hat. Aber ich kann diesen einzelnen Menschen vor mir doch nicht ohne Hinweis für konkrete Verbrechen der Waffen-SS, für Oradour und andere Massaker, haftbar machen. Ich glaube, das widerspricht dem Rechtsstaatsprinzip.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion bedeutet dies nicht, daß wir die Waffen-SS und deren Mitglieder aus ihrer Verantwortung entlassen wollen. Nein, das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen mit allem Nachdruck, daß jeder einzelne - egal, ob Parteifunktionär, SS-Angehöriger, Wehrmachtssoldat oder Polizeibeamter - zu seiner individuellen Verantwortung stehen muß. Dies machen wir in unserem Antrag zusammen mit der F.D.P.-Fraktion noch einmal deutlich.
Deshalb wollen wir auch, daß die Bundesregierung alle Möglichkeiten der nachträglichen Einführung einer Unwürdigkeitsklausel in das Bundesversorgungsgesetz prüft, damit der Deutsche Bundestag dann gegebenenfalls die nötigen Schritte einleiten kann. Ich bin sehr froh darüber, daß es in diesem Punkt offenbar keinen Dissens im Hohen Hause gibt, denn dies macht es möglich, die wirklich brisante Thematik auch sachlich zu diskutieren.
Wir müssen wissen, daß sich dieses Thema nicht für politische Fensterreden und für die Befriedigung von Profilierungsgelüsten eignet, denn dafür steht viel zuviel auf dem Spiel. Die deutsche und die internationale Öffentlichkeit beobachtet und registriert sehr genau, wie wir mit diesem Thema umgehen. Deshalb müssen wir es so diskutieren, daß das Ansehen der Bundesrepublik als eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates hierdurch keinen Schaden nimmt. Das bedeutet nicht, daß wir dieses Thema verdrängen dürften. Das bedeutet vielmehr, daß wir hier gemeinsam ausloten müssen, was im
Birgit Schnieber-Jastram
Lichte der Verfassung möglich ist, um dann die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen.
Rechtsstaatlichkeit ist eines der wichtigsten Prinzipien unserer Verfassung, und Rechtsstaatlichkeit bewährt sich auch und vor allem dann, wenn es darum geht, notfalls auch Ergebnisse hinzunehmen, die allen Gefühlen und Befindlichkeiten zuwiderlaufen, auf Grund der Rechtslage aber unabänderlich sind. Das ist ein Prinzip der Bundesrepublik Deutschland, und es ist im übrigen ein Prinzip, für das erbitterte Gegner der Nationalsozialisten im Widerstand gekämpft haben.
Es gibt also den verfassungsrechtlich zulässigen Handlungsspielraum. Den müssen wir abstecken, was auch der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen anerkennt.
Selbstverständlich sind wir als gewählte Abgeordnete frei, über die Aufnahme einer Unwürdigkeitsklausel in das Bundesversorgungsgesetz für die Zukunft zu entscheiden. Die Klausel beträfe im übrigen eine verschwindend geringe Zahl von Neuanträgen.
Wichtig ist, mit der Unwürdigkeitsklausel die schrecklichen Altfälle zu erfassen, nämlich jene Kriegsverbrecher, die bereits seit Jahrzehnten Versorgungsleistungen erhalten. Gerade hier beginnen die rechtlichen Probleme.
Deshalb muß zunächst eine intensive rechtliche Prüfung durch die Verfassungsressorts erfolgen, die es uns ermöglicht, auf der Basis ihrer Ergebnisse Entscheidungen zu treffen, die wirklich tragfähig sind. Diesem Ziel dienen im Kern beide Anträge, die bis auf den Unterschied beim allgemeinen Leistungsausschluß für die Waffen-SS eigentlich den gleichen Zweck verfolgen.
Ich bin deshalb zuversichtlich, daß es uns gemeinsam gelingt, dieses schwierige Thema in den kommenden Wochen mit der gebotenen Sachlichkeit zu diskutieren. Wir schulden es den Opfern von Mord, Terror und Unterdrückung, daß wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die verhindern, daß die Täter begünstigt werden.
Es spricht jetzt unsere Kollegin Ulrike Mascher.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen ! Die Debatte, die wir heute abend führen, ist Teil der Auseinandersetzung, die wir in Deutschland seit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlicher Zielrichtung immer wieder und immer noch leisten müssen.
Die Auseinandersetzung um die Ausstellung im Münchener Rathaus zur Rolle der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zeigt die Notwendigkeit dieser schwierigen Debatte erneut ganz deutlich.
Heute abend müssen wir uns fragen, ob es richtig ist, die einstimmige Entscheidung des Bundestages von 1950 zum Bundesversorgungsgesetz unverändert über Jahrzehnte fortgelten zu lassen, immer weiter fortgelten zu lassen, und daß es in diesem Gesetz keinen Ausschlußtatbestand gibt, der es ermöglicht, Fürsorgeleistungen des Staates für Kriegsopfer wegen erwiesener schwerer Kriegsverbrechen, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu versagen.
Die Zuversicht, die den Bundestag 1950 zur Streichung des ursprünglich vorgesehenen Ausschlußtatbestandes veranlaßte, die Strafgerichte würden in einem Rechtsstaat, wie ihn die Mütter und Väter des Grundgesetzes für die Bundesrepublik entworfen hatten, den Verbrechern des nationalsozialistischen Staates umfassend und uneingeschränkt den Prozeß machen, ist angesichts der schwerwiegenden Versäumnisse bei der Verfolgung des Naziunrechts so ungebrochen heute sicher nicht mehr nachzuvollziehen.
Das Motiv, mit dem 1950 die Ausschlußregelung gestrichen wurde, Sozialrecht dürfe nicht als Strafinstrument dienen, ist sicher noch immer ein tragender Grundsatz des Prinzips der Gewaltenteilung. Auch die Beachtung des Vertrauensschutzes ist sicher zu beachten.
Aber viel mehr zu achten sind die Bitterkeit und die Demütigung von Opfern des Naziterrors, die bis heute keine oder nur sehr unzureichende Entschädigungen erhalten haben.
Immer wieder gibt es Petitionsverfahren, in denen Opfer des Naziterrors um Anerkennung ihrer Verfolgung und um Entschädigung oder Rentenleistungen kämpfen. Immer wieder versuchen Mitglieder des Bundestages, für bestimmte Opfergruppen, zum Beispiel für Deserteure oder für Sinti und Roma, eine angemessene Entschädigungsregelung oder wenigstens eine Anerkennung ihrer Verfolgung, eine Wiederherstellung ihrer persönlichen Ehre durchzusetzen.
Ich erinnere mich noch gut an die bewegende Debatte - etwa um dieselbe Nachtstunde - zur Lage der wenigen überlebenden Juden in den baltischen Staaten.
Immer gab und gibt es Widerstände, rechtliche Bedenken und die Besorgnis um die finanziellen Folgen. Wenn nach diesen Debatten um die Entschädigung für die Opfer die Leistungen, die seit Jahren an einzelne Täter gezahlt werden, miteinander abgewogen werden, dann sind viele von uns beschämt und manche empört. Aber in der Vergangenheit war immer die Gesetzeslage das unüberwindliche Hindernis, das die Mehrheit dieses Bundestages akzeptiert hat.
Aufgeschreckt durch eine Fernsehsendung, aufgeschreckt vielleicht auch durch die Auseinandersetzung, in die unsere Schweizer Nachbarn wegen ihres Umgangs mit jüdischem Eigentum in den Tresoren der Schweizer Banken verstrickt sind, vielleicht auch alarmiert durch die Tatsache, daß die Möglichkeit des Entzugs einer Rente bei einem Auslandsaufenthalt, die ja in § 64 des Bundesversorgungsgesetzes
Ulrike Mascher
gegeben ist, nur in ganz wenigen Fällen in jüngster Zeit realisiert wurde, wird in der Antwort auf die Kleine Anfrage vom Bündnis 90/Die Grünen eine Möglichkeit aufgezeigt, auch bei NS-Tätern, die in Deutschland leben und möglicherweise schon viele Jahre Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz als Kriegsopferrente erhalten haben, die Zahlungen einzustellen.
Die Antwort spricht hier von einer Unwürdigkeitsklausel, die nach Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung eines rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes, möglicherweise auch unter Beachtung einer ausreichend langen Übergangsfrist, im Ergebnis dazu führen kann, die Zahlungen einzustellen. Das ist ein schwieriges Verfahren. Aber immerhin bestätigt die Antwort des Bundesarbeitsministers das Recht des Gesetzgebers, für die Zukunft solche Regelungen zu treffen.
Die SPD-Fraktion legt heute noch keinen Antrag oder Gesetzentwurf vor, weil wir in den Ausschußberatungen, auch nach der Anhörung von unabhängigen Verfassungsexperten prüfen wollen, ob Ausschlußtatbestände, wie bei im Ausland lebenden Empfängern von Kriegsopferrenten, verfassungsrechtlich abzusichern sind - denn ich denke, es macht wenig Sinn, hier ein Gesetz zu verabschieden, das dann vor dem Verfassungsgericht scheitert -; ob das bisher tragende Argument des Vertrauensschutzes neu zu bewerten ist - mich irritiert ein wenig, daß nach 40 Jahren des Festhaltens an diesem Vertrauensschutz nun eine neue verfassungsrechtliche Überprüfung im Justizministerium zu einem anderen Ergebnis geführt hat -; ob Fürsorgeleistungen des Staates nach dem Bundesversorgungsgesetz anders zu bewerten sind als durch Beiträge erworbene Rentenanwartschaften und ob die besonders empörenden Einzelfälle, die jetzt erneut durch die Fernsehsendung „Panorama" ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gebracht wurden, von einer Änderung des Gesetzes, wie sie im Antrag der CDU/CSU und F.D.P. vorgesehen ist, erreicht werden können.
Die sozialdemokratische Ministerin Regine Hildebrandt hat bereits vor einiger Zeit versucht, die Oberweisung einer Kriegsopferversorgungsrente an den zu lebenslanger Haft verurteilten SS-Gruppenführer Heinz Barth zu stoppen. Eine gesetzliche Lösung, eine nach dem Bundesversorgungsgesetz zuerkannte Rente wieder abzuerkennen, war auch bei diesem besonders empörenden Fall bisher offenbar nicht möglich.
Bislang hat die Gesellschaft in der Bundesrepublik damit gelebt, daß in den Jahren nach 1949 die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates und mit den Tätern weitgehend verdrängt wurde. Es gab am Beginn der Bundesrepublik keine Wahrheitskommissionen wie in Südafrika.
Die deutsche Industrie hat sich lange Zeit geweigert, über den Einsatz von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen auch nur zu sprechen. Auf eine angemessene Entschädigung warten viele von ihnen noch immer, soweit sie überhaupt noch leben.
Besonders betroffene Berufsgruppen wie die Ärzte oder die Vertreter der Justiz haben ihre Verantwortung, ihre Beteiligung am nationalsozialistischen Unrecht lange Zeit verdrängt. Aber wir haben damit gelebt, daß es nur wenige Juristen wie Fritz Bauer gab, der bis zu seinem Tod versucht hat, das nationalsozialistische Unrecht nach 1945 aufzuklären. Es gab zu wenige, die wie Alexander und Margarete Mitscherlich über unsere Unfähigkeit zu trauern nachgedacht haben.
Sollte es nun wirklich einen neuen Konsens in unserer Gesellschaft und hier im Bundestag geben, sich mit den Tätern des Naziregimes anders auseinanderzusetzen als bisher, dann gibt es jetzt auch die Chance, sorgfältig abzuwägen, welche Fürsorge bei Kriegsverletzungen dieser Staat den Tätern oder deren Hinterbliebenen zukommen lassen muß und wie wir mit den Opfern umgehen wollen.
Ich wünsche uns, daß wir anders als die Schweiz jetzt selbst die Kraft aufbringen, eine von vielen für notwendig gehaltene Änderung unseres Umgangs mit den überlebenden Tätern auch im Bundesversorgungsgesetz durchzusetzen, aber vor allem für alle Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaates eine würdige Form der Anerkennung ihrer Verfolgung und ihres Leids und eine angemessene Entschädigung zu finden.
Ich hoffe, daß die Debatte, so wie sie heute geführt wird, und der Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. dazu führen, daß wir in diesem Parlament in einem breiten Konsens ein Zeichen dafür setzen, daß wir in Sorge für die Zukunft mit den Tätern der Vergangenheit anders umzugehen gewillt sind.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema Versorgungsrenten für Kriegsverbrecher eignet sich nicht zum politischen Schlagabtausch zwischen Opposition und Regierungsparteien und schon gar nicht zur hochanmaßenden Schelte der Grünen gegen die bürgerlichen Parteien. Es geht um ein Stück Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsbesinnung.
Wenn ich im Nachfolgenden eine andere Rechtsauffassung vertrete, als sie die Mehrheit des Bundestages 1950 hatte, so versage ich den damaligen Politikern keineswegs meinen Respekt. Sie haben damals beschlossen, daß Wehrmachtsangehörige auf Grund von Kriegsbeschädigungen eine Rente bekommen sollen, auch wenn sie Kriegsverbrechen begangen hatten.
Dr. Gisela Babel
Über diesen Punkt ist lange und sehr ernsthaft gestritten worden. Schließlich hat sich der Grundgedanke durchgesetzt, daß die Entschädigungsrenten wie normale Versicherungsrenten kein zusätzliches Strafrecht enthalten dürfen. Gerade unter dem Eindruck des Willkürsystems des Dritten Reiches glaubte man, mit dieser Rechtsauffassung den Konfliktstoff am besten zu bewältigen.
Diese Auffassung kann man vertreten. Es wird dann aber sehr schwierig, sie durchzuhalten, wenn man sie nur für Deutsche im Inland, nicht aber für im Ausland lebende Täter gelten läßt. Das hat man 1950 in § 64 BVG getan. Begründung war, daß nur im Inland sichergestellt ist, daß eine strafrechtliche Verfolgung stattfindet, daß das aber im Ausland nicht unbedingt der Fall ist.
Schon in den 50er Jahren mag diese Begründung fragwürdig gewesen sein, heute halte ich sie nicht mehr für haltbar. Ich bin daher ganz entschieden der Ansicht, daß es auch bei in Deutschland lebenden Tätern in krassen und nachgewiesenen Fällen einen Weg geben muß, die Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz zu versagen.
Nach meiner Überzeugung ist der Gesetzgeber heute frei, in dieser Frage anders zu entscheiden als im Jahre 1950. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, daß es bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalls auch möglich sein muß, Kriegsverbrechern in den Grenzen rechtsstaatlichen Handelns bereits laufende Rentenleistungen zu entziehen.
Spätestens 1993, als ein neuer Erlaß zu den Entschädigungsrenten lettischer Kriegsbeschädigter herauskam, hätte - das gebe ich heute unumwunden zu - über die Frage nach dem Ausschluß im Inland ernsthaft neu nachgedacht und entschieden werden müssen.
Mit dem höchst komplexen und schwierigen Thema Straf- und Sozialrecht hat sich dieser Bundestag schon öfter auseinandersetzen müssen. Ich darf daran erinnern: Gerade im linken Lager, bei der PDS, den Grünen, auch bei der SPD hat man die Absenkung von Versorgungsrenten der Stasimitglieder lautstark und entschieden angeprangert und als unzulässige, weil dem Strafrecht zugehörige Maßnahme abgelehnt.
Das knüpft an das Rechtsverständnis an, daß auch einem Verbrecher ein erworbener Rentenanspruch nicht geschmälert werden dürfe, somit auch Versorgungsansprüche der Stasi nicht.
Ich will auf den grundlegenden Unterschied zwischen einer durch Beiträge erworbenen Rentenanwartschaft und vom Staat gewährte Entschädigungen hinweisen. Im ersten Fall handelt es sich um eigentumsähnlich geschützte Anwartschaften, im anderen um Entschädigungen.
Bei Entschädigungen kann der Staat den Kreis der Berechtigten selbst bestimmen und damit auch entscheiden, wer auf Grund besonderer Merkmale, zum Beispiel Kriegsverbrechen, ausgeschlossen wird. Bei der Rente darf er das nicht.
Eine Neuregelung erscheint mir richtig und geboten, nicht nur für die jetzt sicher nur noch selten auftretenden Neufälle, sondern auch für Altfälle. Ich halte es gleichfalls für richtig, zunächst einmal der Bundesregierung aufzugeben, die Fälle aufzuzeigen, in denen nach heutiger Kenntnis Kriegsverbrecher solche Renten beziehen. Die Witwen sind unter Umständen anders zu behandeln.
Ich stimme für die F.D.P. daher dem Antrag zu, der die Bundesregierung auffordert, Aufklärung zu betreiben. Ich hoffe sehr, daß es dann gelingt - die jetzigen Reden ermutigen mich zu dieser Hoffnung -, diese Fälle in einem breiten Konsens und in richtiger Weise rechtsstaatlich zu entscheiden.
Ich bedanke mich.
Als nächste Rednerin die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausstellung „Verbrechen der Deutschen Wehrmacht", die Montag in München eröffnet worden ist, kann meines Erachtens als Lehrstück für das gegenwärtige politische Klima in diesem Land betrachtet werden. Der „Bayernkurier", offizielles Organ des bayerischen Landesverbandes der CSU,
wirft der Linken allgemein vor, diese führe einen „moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk". Den Veranstaltern der Ausstellung gehe es darum, Millionen von Deutschen die Ehre abzusprechen.
Die überlebenden Angehörigen der Deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS wurden von den Versorgungsämtern jedoch nicht vergessen. Unter dem fadenscheinigen Vorwand, das Rentensystem sei wertneutral, erhielten seit 1950 Tausende von Personen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, Zusatzrenten. Ich nehme ein zynisches Beispiel. Würde Hitler heute noch leben, so bekäme er - zusätzlich zu seiner normalen Rente
- eine Zusatzrente, weil er - wie wir wissen - bei einem Attentatsversuch verletzt worden ist.
Das sagt einiges über das Bundesversorgungsgesetz
aus dem Jahre 1950 aus, das bis heute Gültigkeit hat.
Ulla Jelpke
Die Täter - Angehörige der Waffen-SS, KZ-Wärter, Kriegsverbrecher - werden belohnt.
Nach ersten Schätzungen zahlt die BRD jährlich 13 Milliarden DM Zusatzrenten an ehemalige Wehrmachtsangehörige, SS- und Waffen-SS-Männer.
Davon gehen jährlich 600 Millionen DM mindestens an rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher.
Demgegenüber wurden im letzten Jahr - die Zahl hören Sie sich einmal genau an - nur 1,8 Milliarden DM an die wirklichen Opfer gezahlt. Meines Erachtens ist das eine Politik der kalten Amnestie.
Was ist mit den wenigen Überlebenden des Wilnaer und des Rigaer Gettos, die im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion leben? Was ist mit den Homosexuellen, den Roma und Sinti, den zwangssterilisierten Frauen und Männern, den Opfern der Euthanasiepolitik, den Kommunistinnen und Kommunisten? Sie gehen leer aus, da sie entsprechend der offiziellen Definition nicht als Opfergruppe anerkannt werden. Diese Politik der Bundesregierung stellt sich eindeutig auf die Seite der Täter.
Nun haben sie einen Antrag eingebracht. Ich bin nicht wie die anderen Parteien der Meinung, daß das etwas ganz besonders Tolles sei oder daß sie damit ihrer Schuld in irgendeiner Weise gerecht werden würden.
Erstens; wenn der politische Wille dagewesen wäre, hätte man entsprechend § 64 BVG schon in der Vergangenheit den im Ausland lebenden Kriegsverbrechern die Zusatzrente streichen können. Das ist nicht geschehen. Zweitens; der Antrag von CDU/ CSU und F.D.P. bezieht sich vorwiegend auf Neuanträge. Sie sollten sich den Antrag einmal genau angucken: Die sogenannten Altfälle werden nämlich mit Samthandschuhen angefaßt. Drittens; die Einführung eines Ausschlußtatbestandes für im Inland lebende Kriegsverbrecher soll lediglich geprüft werden.
Ich finde es beschämend, daß seit Kriegsende Jahr für Jahr Milliarden DM an die Schlächter, KZ-Wärter und Kriegsverbrecher bzw. an deren Hinterbliebene gezahlt worden sind. Deswegen unterstütze ich die Forderung der Grünen, daß diese Rentenzahlungen sofort einzustellen sind und das Geld als Entschädigung für die tatsächlichen Opfer des faschistischen Terrors eingesetzt wird.
Frau Jelpke, kommen Sie zum Schluß?
Ja, ich komme zu meinem letzten Satz. Die jüngsten Ereignisse in München haben gezeigt, daß eine Ausstellung „Verbrechen der Deutschen Wehrmacht" unverzichtbar ist. Der Sturm der Entrüstung reicht von Alt- und Neonazis bis hin zur CSU. Unheilige Allianzen tun sich zusammen. Ich kann nur hoffen, daß der Bundestag zustimmt, daß die Ausstellung auch in diesem Haus gezeigt wird.
Danke.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus.
Es gibt keinen Landesverband Bayern; es gibt bloß die CSU Bayern. Das ist eine eigenständige Partei. Es gibt Dinge, auf die man sofort antworten muß, um Mißverständnisse nicht aufkommen zu lassen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sprecher der Grünen hat es hier zu Anfang nicht unterlassen können, im Rahmen dieser Debatte auf die Wehrmachtsausstellung in München hinzuweisen und hier - meines Erachtens in verleumderischer Weise - die CSU in Verbindung mit Rechtsradikalen und mit Neonazis zu bringen.
Ich bin Anfang der 60er Jahre Mitglied der CSU München geworden und war es bis 1990. Ich hatte dabei Gelegenheit, eine ganze Reihe von aktiven CSU-Mitgliedern kennenzulernen, die im Dritten Reich eingesperrt waren und die eher zufällig überlebt haben. Ich halte es für schlicht unanständig, diese Partei in dieser Weise anzugreifen.
Mit den abstrusen Vorwürfen der PDS möchte ich mich nicht näher auseinandersetzen. Aber weil nun einmal Zahlen genannt worden sind, möchte ich ein paar Zahlen entgegensetzen: Als Leistung von Sonderentschädigungen - dieser Ausdruck erinnert fatal an die Rentensysteme der früheren DDR - an NS- Verbrecher wurde die Summe von 13 Milliarden DM genannt. Die Bundesrepublik Deutschland gibt für die 1 087 000 Kriegsopfer, die heute noch leben und Versorgung bekommen, nicht einmal insgesamt 13 Milliarden DM aus. Der Betrag liegt etwas über 10 Milliarden DM. Von dieser über 1 Million Kriegsopfer sind etwa 600 000 Hinterbliebene, also in erster Linie Witwen, die versorgt werden.
Auch fast 52 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur muß man sehen, daß noch längst nicht alle Folgen von Mord und Unterdrückung bewältigt worden sind, die uns das „Tausendjährige Reich" in seiner zwölfjährigen Geschichte beschert hat. Wir stellen uns als Bundesregierung unserer Verantwortung, die aus dieser Vergangenheit erwächst.
Bereits mehrfach ist in den vergangenen Jahrzehnten nach Wegen gesucht worden, die es ermöglichen
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
sollen, daß Personen, die im Krieg individuelle Schuld auf sich geladen haben, von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz auszuschließen sind. Nach dem Bundesversorgungsgesetz erhalten Personen Leistungen, wenn bei ihnen durch den Militärdienst gesundheitliche Schäden eingetreten sind. Die Zahlen habe ich bereits genannt. Mit dem Bundesversorgungsgesetz konnte in den letzten 50 Jahren vielen Hunderttausend Menschen sehr wirksam geholfen werden: Soldaten, die von den Nazis in einen Krieg gezwungen wurden; Soldaten, die den Krieg, in dem sie schwerste gesundheitliche Schäden erlitten haben, selber nicht wollten.
Die überwältigende Mehrheit all dieser Kriegsopfer, die ein Leben lang an den Folgen des Krieges zu tragen hatten, waren keine Nazis. Sie waren keine Menschen, die mit wehenden Fahnen und mit Mordlust in den Krieg gezogen sind. Sie sind als Soldaten eingezogen worden. Deswegen war es richtig und wichtig, diesen Menschen nach dem Krieg zu helfen. Sie zu verunglimpfen und mit Kriegsverbrechern in einen Topf zu werfen ist zutiefst ungerecht.
Richtig ist aber auch - das wird von niemandem geleugnet -, daß es unter den Soldaten, egal in welcher Einheit sie gedient haben, auch Kriegsverbrecher gegeben hat; Menschen, die sich an Pogromen beteiligt haben; Menschen, die sich mancherorts wie Bestien gegenüber wehrlosen Zivilisten oder gegenüber gefangenen Soldaten anderer Staaten aufgeführt haben. Diese Kriegsverbrecher müssen wir zur Verantwortung ziehen, so wie das auch in der Vergangenheit schon in vielen Fällen geschehen ist.
Unabhängig von der Frage strafrechtlicher Sanktionen sollte deshalb erneut geprüft werden, ob es Möglichkeiten gibt, diesen Personen auch im Inland Leistungen nach dem BVG zu versagen.
Es wurden hier von meinen Vorrednern bereits die Möglichkeiten aufgezählt. Es wurde darauf hingewiesen, daß 1950 einstimmig im Deutschen Bundestag dieser § 8 des Bundesversorgungsgesetzes nachdrücklich abgeändert wurde. Ich möchte es mir, auch wegen der fortgeschrittenen Zeit, ersparen, hier im einzelnen noch darauf einzugehen.
Daß die Bundesregierung bereit ist, zu handeln, wenn die rechtlichen Möglichkeiten hierzu gegeben sind, können Sie im Bereich der Auslandsversorgung sehen. Hier sind vor wenigen Wochen in zwei Fällen Leistungen sofort auf unkonventionelle Weise entzogen worden, nachdem bekannt wurde, daß die Empfänger Kriegsverbrecher waren. Genauso soll in jedem weiteren Fall verfahren werden, in dem es halbwegs belastbare Belege für individuelle Schuld von Berechtigten gibt, die im Ausland leben.
Wir sind sogar im Rahmen dessen, was der Sozialdatenschutz zuläßt, bereit, Listen mit den Namen der Versorgungsempfänger an die Justizministerien anderer Staaten zu übermitteln, damit hier geprüft werden kann, ob dort gegen einzelne Leistungsempfänger Verdachtsmomente hinsichtlich begangener Kriegsverbrechen vorliegen.
Herr Kraus, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Natürlich.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie genauso unkonventionell und schnell den Bundestag von seiten der Bundesregierung umfassend darüber aufklären würden, wie die Praxis der verdeckten Zahlung an Leistungsempfänger nach dem Bundesversorgungsgesetz im Ausland im einzelnen gelaufen ist, in welchen Ländern das stattgefunden hat. Da haben Sie in den vergangenen Antworten immer nur Dänemark genannt. Wir wissen, daß andere Länder davon betroffen waren. Würden Sie auch genauso unkonventionell und schnell reagieren, so daß solche verdeckten Zahlungen in Zukunft eingestellt werden?
Erstens. Nach meinem Wissen sind eine ganze Reihe von derartigen verdeckten Zahlungen eingestellt worden. Zweitens sind wir selbstverständlich bereit, weil wir nach Recht und Gesetz gehandelt haben, Auskünfte dieser Art, wenn sie gefordert werden, zu geben. Ich bin davon überzeugt, daß wir, wenn diese Sache an die Ausschüsse überwiesen wird, natürlich dann Gelegenheit haben, das im einzelnen zu diskutieren. Wir haben in keinster Weise irgendwelche Vorbehalte über das, was in der Vergangenheit war, in voller Offenheit zu sprechen. Es gibt hier überhaupt nichts zu beschönigen oder zu verbergen. Es gibt keinen Grund, so etwas auch nur anzunehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe meine Zeit bereits überschritten. Ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß es natürlich eine gefährliche Gratwanderung zwischen den Interessen der Leistungsempfänger, und zwar derer, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, und unserem Interesse, Kriegsverbrecher zumindest dort, wo wir es über den § 64 BVG können, vom Leistungsbesuch auszuschließen. Wir meinen, daß wir diesen Weg auch aus außenpolitischen Gründen beschreiten müssen, um das Interesse und das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu schützen.
Ich fasse zusammen: Dort, wo wir schon heute handeln können, nämlich im Bereich der Auslandsversorgung, wird alles getan, um das Instrumentarium des § 64 BVG konsequent zu nutzen. Für den Bereich der Inlandsversorgung prüfen wir alle rechtlichen Handlungsoptionen mit Hochdruck. Dabei verfolgt die Bundesregierung ebenso wie die Fraktionen dieses Hauses das Ziel, bei nachgewiesener individueller Schuld einen Leistungsausschluß zu ermöglichen.
Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Interfraktionell wird die Überweisung auf den Drucksachen 13/1467 und 13/7061 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
- Dann gratulieren wir Ihnen noch gemeinsam herzlich zum Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!
Ich halte noch einmal fest: Dann ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b sowie 11d auf:
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Protokoll II in der am 3. Mai 1996 geänderten Fassung und zum Protokoll IV vom 13. Oktober 1995 zum VN- Waffenübereinkommen
- Drucksache 13/6916 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
- Drucksache 13/7068 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Dirk Bierling Gert Weisskirchen Gerd Poppe
Dr. Olaf Feldmann
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Kröning, Uta Zapf, Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
VN-Waffenübereinkommen und Durchsetzung eines vollständigen Verbots von AntiPersonenMinen
- Drucksachen 13/6965, 13/7068 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Dirk Bierling Gert Weisskirchen Gerd Poppe
Dr. Olaf Feldmann
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausweitung des Minenexportmoratoriums der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/3524, 13/6162 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Gert Weisskirchen Angelika Beer
Dr. Olaf Feldmann
Hier ist interfraktionell beschlossen worden, die Reden zu Protokoll zu geben und zwar die des Staatsministers Schäfer, Hans-Dirk Bierling, Volker Kröning, Angelika Beer, Dr. Olaf Feldmann und Steffen Tippach.*)
Damit sind wir am Ende unserer heutigen Sitzung. Es bleiben uns also noch 20 oder 15 Minuten für die Geburtstagsfeier.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem UN-Waffenübereinkommen auf Drucksache 13/ 6916. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/7068 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7069. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion der SPD zu dem UN- Waffenübereinkommen auf Drucksache 13/7068 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/6965 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ausweitung des Minenexportmoratoriums der Bundesrepublik Deutschland auf Drucksache 13/ 6162. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3524 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 28. Februar 1997, 9 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Die Sitzung ist geschlossen.