Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß in der Haushaltswoche vom 26. November 1996 keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und keine Aktuellen Stunden stattfinden. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? - Das ist der Fall.
Die unter Tagesordnungspunkt 12a vorgesehene zweite und dritte Beratung des Gesetzes zur Verlängerung und Vereinheitlichung sachenrechtlicher Fristen entfällt, weil sie in der Beschlußempfehlung und im Bericht des Rechtsausschusses nicht, wie ursprünglich vorgesehen, enthalten ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 13/5724 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/6103 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 13/6087 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über das 1. GKV-Neuordnungsgesetz namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch; wir verfahren so. Als erste in der Debatte spricht die Kollegin Eva-Maria Kors.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Strukturreform in der GKV und dem Krankenhausfinanzierungsgesetz 1997 haben wir Gesetze vorgelegt und in diesem Hohen Hause verabschiedet, die sowohl die Verbesserung der Gestaltungsmöglichkeiten und die Stärkung der Finanzverwaltung der Krankenkassen als auch Maßnahmen zur Beitragsstabilisierung vorsahen.
Beide Gesetze sind durch die Blockadepolitik der SPD-geführten Länder im Bundesrat gescheitert. Wenn wir heute also zustimmungsfreie Gesetze vorlegen, dann liegt das einzig und allein an der Opposition; denn daß Handlungsbedarf besteht, dürfte unstrittig sein.
Staatliche Budgetierungen und Reglementierungen sind, wie die vergangenen Jahre bis zum heutigen Tag gezeigt haben, keine Lösungsinstrumente für die Probleme in unserem Gesundheitswesen.
Sie führen durch ständig notwendig werdende Beitragserhöhungen zur Erhöhung der Lohnnebenkosten und damit insbesondere zur Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe.
Wenn wir weiterhin den medizinischen und medizin-technischen Fortschritt auch unter Berücksichti-
Eva-Maria Kors
gung der steigenden Lebenserwartung und der demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft für unsere Bürgerinnen und Bürger nutzen wollen, kann es nicht so weitergehen wie bisher, ohne letztlich in Rationierung zu enden.
Unsere beiden heute auf der Tagesordnung stehenden Gesetze zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der GKV beinhalten gesetzlich notwendige Maßnahmen, die die Eigenverantwortung sowohl des einzelnen als auch die der Selbstverwaltung stärken und damit den von der Selbstverwaltung immer wieder geforderten größeren Gestaltungsraum ermöglichen.
Frau Kors, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfaff?
Nein, ich möchte heute geschlossen vortragen.
Im 1. GKV-Neuordnungsgesetz erschweren wir aus den von mir eingangs genannten Gründen Beitragsanhebungen und verbinden sie mit der gleichzeitigen Erhöhung von Zuzahlungen. Dies machen wir übrigens nicht, um die Versicherten zu ärgern, sondern dies soll die Krankenkassen veranlassen, ihre Aufgaben wahrzunehmen, nämlich ihre Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen und bessere Verträge zu machen.
Begleitet werden unsere Maßnahmen von einem außerordentlichen Kündigungsrecht, das den Versicherten bei Beitragserhöhungen durch die Krankenkasse einen Wechsel zu einer anderen Krankenkasse ermöglicht. Bei Beitragssenkungen vermindern sich entsprechend die Zuzahlungen.
In den Fällen, in denen die Krankenkassen auf Grund des Risikostrukturausgleichs Beitragserhöhungen vornehmen, wird es - das möchte ich betonen - zu keinen Zuzahlungserhöhungen für die Versicherten kommen. Das haben wir von Anfang an immer gesagt.
Das ist nichts Neues, und das ist auch kein Umfallen.
Um insbesondere die chronisch Kranken vor unzumutbaren Zuzahlungen zu schützen, haben wir eine Verbesserung der Härtefallregelung in das Gesetz aufgenommen. Chronisch Kranke müssen, wenn sie länger als ein Jahr wegen der gleichen Krankheit behandelt werden, nach dem 1. Januar 1997 nur noch 1 Prozent und nicht mehr - wie bisher - 2 Prozent von ihrem Einkommen bezahlen.
Die Koalitionsfraktionen werden dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Mit unserem Gesetzentwurf zum 2. GKV gehen wir den eingeschlagenen Weg zu mehr Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung konsequent weiter. Wir müssen uns endgültig von der Vorstellung verabschieden, der Staat könne alle Belange der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung erledigen. Das ist nicht der Fall; die Beteiligten können es viel besser.
- Mit der Opposition noch viel weniger!
Das 2. GKV-Neuordnungsgesetz enthält deshalb neben Regelungen im zahnmedizinischen Bereich und dem Krankenhausbereich vor allem die Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltungspartner.
Lassen Sie mich auf den Krankenhausbereich zu sprechen kommen.
Die Verantwortung für eine zügige Weiterentwicklung der Fallpauschalen und Sonderentgeltkataloge, die erstmals mit der Bundespflegesatzverordnung 1994 vorgegeben wurden, wird den Selbstverwaltungspartnern übertragen.
Die Höhe der Fallpauschalen und Sonderentgelte sowie die Höhe des Zuwachses des Krankenhausbudgets, also die - wie wir es nennen - Veränderungsrate, vereinbaren künftig die Selbstverwaltungspartner.
- Richtig, Herr Kollege Lohmann, das ist Vorfahrt für die Selbstverwaltung.
Sollte eine Einigung zwischen den Vertragsparteien nicht zustande kommen, dann kann eine auf Bundesebene einzurichtende Schiedsstelle angerufen werden.
Weitere Veränderungen sieht unser Gesetzentwurf im Bereich der Mehr- und Mindererlöse, der Großgeräteplanung und der Pflegepersonalregelung vor. Die von den Krankenhäusern erzielten Mehrerlöse für das Jahr 1997 müssen danach zu 75 Prozent - bisher zu 50 Prozent - des vereinbarten Betrages von den Krankenhäusern erstattet werden. Die Mindererlöse werden von den Kassen zu 50 Prozent - bisher 75 Prozent - ausgeglichen. Die Grollgeräteplanung wird abgeschafft und die Verordnung für die Pflegepersonalregelung aufgehoben. Letztere hat ihr Ziel längst erreicht; denn die Schaffung von 13 000 Perso-
Eva-Maria Kors
nalstellen ist um über 50 Prozent überschritten. Damit ist das Ziel ja wohl mehr als erreicht.
Lassen Sie mich jetzt zu einem Thema im Krankenhausbereich kommen, das sich auch in den Gesprächen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Verband der Krankenhausdirektoren immer wieder als Knackpunkt herausgestellt hat und für die Krankenhäuser von existentieller Bedeutung ist. Das ist die bisher ungelöste Frage der Übernahme der Instandhaltungskosten der Krankenhäuser.
1993 hat das Bundesverwaltungsgericht eine Regelungslücke hierzu in der Abgrenzungsverordnung festgestellt. Seit dieser Zeit haben sich die Länder - außer Bayern - aus ihrer Verantwortung für diesen Bereich im Krankenhaus geschlichen. Seit dieser Zeit haben sich aber auch die Instandhaltungsaufwendungen, nach Schätzung der Deutschen Krankenhausgesellschaft: in Milliardenhöhe, aufgestaut. Das ist ein dicker Batzen, der in den Kassen der Länder verblieb.
- Ja, das ist ein Skandal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl wir die Verantwortung für die Instandhaltungskosten eindeutig bei den Ländern sehen,
dürfen und wollen wir - im Gegensatz zu Ihnen von der SPD - die Krankenhäuser hier nicht im Stich lassen.
Deshalb machen wir die Instandhaltungskosten für die Jahre 1997 bis 1999 pflegesatzfähig. Diese Kosten werden damit pauschal in Höhe eines Betrages von 1,1 Prozent der für die allgemeinen Krankenhausleistungen vereinbarten Vergütung finanziert.
Die den Krankenkassen so zusätzlich zur Verfügung stehenden Mittel von zirka 1 Milliarde DM pro Jahr müssen allerdings - darüber sind wir nicht so glücklich, aber das liegt an den Ländern; ich sage das immer wieder, ob es Ihnen paßt oder nicht - durch die Erhebung eines Sonderbeitrags der Versicherten von jährlich 20 DM für den Zeitraum von 1997 bis 1999 refinanziert werden.
Meine Damen und Herren, damit keine Zweifel aufkommen: Dies gilt für alle Versicherten, also auch für Beamte und Privatversicherte.
Ausgenommen von diesem Sonderbeitrag sind jedoch alle Versicherten mit so geringem Einkommen, daß sie unter die Sozialklausel der gesetzlichen Krankenversicherung fallen, sowie die mitversicherten Familienangehörigen.
Selbstverständlich entfällt dieser zusätzliche Beitrag für die Versicherten, die ihren Wohnsitz in einem Land haben, das die Instandhaltungskosten übernimmt.
- Jawohl, Herr Kollege Zöller, ich sage es gerne: zum Beispiel in Bayern.
Aber es ist bisher eben auch nur Bayern.
Es liegt also an den Ländern, ihren Versicherten dieses sogenannte Notopfer - ja, meine Damen und Herren, ich nehme diesen Begriff auf; denn es ist ein Notopfer, das die Versicherten der Länder wegen zu zahlen haben -
zu ersparen. Sie können jederzeit beschließen, die Instandhaltungskosten zu bezahlen und damit die Ersparung des Notopfers wirksam werden zu lassen. Eine hoffnungsvolle Nachricht in diesem Zusammenhang gibt es bereits aus Sachsen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein heftig umstrittener Punkt in unserem 2. GKV-Neuordnungsgesetz ist die Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Zuzahlungsregelungen und die Satzungsleistungen.
Wir sind davon überzeugt, daß die Krankenkassen auf Grund der bisherigen, ausgeprägten staatlichen Vorgaben in ihrem Gestaltungsspielraum zu stark eingeschränkt werden. Deshalb wollen wir in den folgenden Bereichen eine Änderung vornehmen: Wir geben der Selbstverwaltung die Möglichkeit zur erweiterten Vertragsgestaltung, zum Beispiel für Modellvorhaben. In ihre Satzung können die Krankenkassen darüber hinaus zukünftig eine Beitragsrückgewähr, einen Selbstbehalt bei Kostenerstattungen, Beitragsermäßigungen sowie die von mir bereits erwähnten Zuzahlungsregelungen aufnehmen.
Lassen Sie mich aber auch zum Thema Zuzahlungen etwas sagen. Wer die hohe Qualität unseres Gesundheitswesens, also den medizinischen und den medizin-technischen Fortschritt, wer also das deutsche Gesundheitswesen als eines der besten in der Welt auch in Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sichern will, der muß den Mut aufbringen zu sagen, daß dies ohne Zuzahlungen in bestimmten Bereichen - oder anders ausgedrückt: ohne auf Dauer mehr Geld im System zu haben - nicht möglich sein wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet, Heilmittel, Fahrtkosten, Kuren und Rehabilitationen, häusliche Krankenpflege sowie bestimmte Auslandsleistungen
Eva-Maria Kors
im Rahmen der Satzungsleistungen aufzunehmen, die dann paritätisch getragen werden. Ausgenommen davon sind Anschlußrehabilitationen, Mütterkuren, Rettungstransporte und bestimmte Leistungen, die im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft oder im Rahmen von Sozialversicherungsabkommen übernommen werden.
Wir haben all diese Maßnahmen zur Erweiterung des Gestaltungsrahmens der Krankenkassen in das Gesetz aufgenommen, um den Krankenkassen zusammen mit ihren Vertragspartnern die Möglichkeit zu geben, die Versorgungsstrukturen und Leistungen wirtschaftlicher, patientenorientierter und für die einzelnen Regionen zielgenauer gestalten und anbieten zu können.
Ich sage mit Nachdruck: Wir haben den Gestaltungsrahmen nicht erweitert, um den Krankenkassen ein Instrument zur Leistungsausgrenzung an die Hand zu geben, und das noch zu Lasten der Behinderten und Kranken.
Sollten die Kassen beabsichtigen, das Angebot des Gesetzgebers zu mehr Gestaltungsmöglichkeiten und zu mehr Verantwortung zu mißbrauchen, um Risikoselektion zu betreiben, werden wir zu anderen Überlegungen kommen. Ob es sich zum Beispiel um häusliche Krankenpflege, um den Heilmittelbereich oder um Reha-Maßnahmen handelt: Eine Leistungsausgrenzung wird es mit den Stimmen meiner Fraktion nicht geben.
- Ihr Verhalten in dieser Debatte ist im Grunde genommen schlimm. Aber wenn Sie unbedingt zur Erheiterung beitragen wollen, ist das in Ordnung.
Wir werden auf jeden Fall diesen Punkt - ob Sie das glauben oder nicht; wir werden es beweisen - im Laufe der parlamentarischen Beratungen und auch am 4. Dezember bei der Anhörung sorgfältig im Auge behalten. Darauf können Sie sich verlassen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zu den von der Koalition vorgelegten Neuordnungsgesetzen in der Krankenversicherung betrifft keinen isolierten, auf die Gesundheitspolitik beschränkten Vorgang.
Diese Gesetze sind, ebenso wie das vorangegangene sogenannte Beitragsentlastungsgesetz, Bestandteil einer durchaus längerfristig angelegten gesellschaftspolitischen Strategie.
Diese Strategie richtet sich auf eine bewußte Unterhöhlung unserer sozialstaatlichen Ordnung.
Die Fundamente unseres Sozialstaates sollen untergraben werden, und zwar so lange, bis er in sich selbst zusammenstürzt. Wer wollte bestreiten, daß die soziale Krankenversicherung eines dieser Fundamente ist, auf denen der Sozialstaat ruht. Die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. taktiert dabei durchaus trickreich, um die Öffentlichkeit von ihrem eigentlichen strategischen Ziel abzulenken. Sie wirft Nebelkerzen und legt Leimruten aus.
Um eine besonders wirksame Nebelkerze handelt es sich bei den Begriffen und Titeln, mit denen die Koalition ihre einzelnen Gesetzesoperationen belegt.
Im konkreten Fall der heute zur Beratung anstehenden Gesetze soll deren Titel den Eindruck erwekken, als sei es das Anliegen, die soziale Krankenversicherung neu zu ordnen; „Neuordnungsgesetz" also. Überliest man ganz einfach die Titel und kommt direkt zu den Inhalten, so ist von Neuordnung keine Spur zu entdecken. Hier wird nicht neu geordnet, hier wird abgeschafft. Die Neuordnungsgesetze sind tatsächlich Zerstörungsgesetze.
Für die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. ist gesellschaftliche Solidarität von untergeordneter Bedeutung. Schlimmer noch: Sie ist störend und soll beiseite geräumt werden. Allerdings kann dieses eigentliche Ziel nicht offen angestrebt werden, weil den Menschen trotz 14 Jahre Kohl-Politik das nicht gleichgültig ist. Ablenkung ist daher angesagt. Zur Ablenkung dienen dann jene Leimruten, die als kalkulierte politische Boshaftigkeit die Menschen in Rage bringen.
Ein besonders prominentes Beispiel ist die mit dem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz vollzogene
Rudolf Dreßler
Abschaffung des 20-DM-Zuschusses zu den Brillengestellen. Das ist für viele ein Ärgernis. Aber es ist kein Punkt, über den sich gesellschaftliche Solidarität definieren ließe.
Während sich nun die Öffentlichkeit über diese Boshaftigkeit lang und breit erregt, räumt die Koalition hinter dem Vorhang der Erregung das ab, was mit Solidarität tatsächlich in ursächlichem Zusammenhang steht, etwa durch Abschaffung des Zahnersatzes als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung im gleichen Gesetz. Das war geschickt gemacht, denn es hat kaum einer gemerkt. Jugendliche erhalten keinen Zahnersatz mehr, hieß es. Egal, denkt da jeder, die brauchen eh keinen. Daß die Regelung aber festlegte, daß nach 1978 Geborene nie mehr, das heißt, für den Rest ihres Lebens, Zahnersatz erhalten werden, sollte dabei untergehen
Auch daß die Gesellschaft irgendwann nur noch aus nach 1978 Geborenen bestehen wird, die Zahnersatzleistung dann also tatsächlich völlig abgeschafft sein wird, sollte übersehen werden. Daß man den Jungen die Zahnersatzleistung wegnimmt, ihnen aber zugleich zumutet, ihn für die Älteren weiter zu bezahlen, sollte ebenso nicht ganz klarwerden.
Daß damit der politische Zwang konstruiert wurde, die Zahnersatzleistung aus Gründen der Belastungsgerechtigkeit über kurz oder lang auch den Älteren wegnehmen zu können, war zwar durchaus beabsichtigt; aber auch das sollte niemandem allzu klarwerden.
Während also die öffentliche Meinung auf einen Nebenkriegsschauplatz gelockt wurde, ist an anderer Stelle zielgerichtet ein Stück gesellschaftlicher Solidarität beseitigt worden.
Die Seehofersche Politik des treuen Augenaufschlages ist tatsächlich eine Politik der arglistigen Täuschung.
Deshalb ist bei den heute zur Beratung anstehenden Folgegesetzen mißtrauische Wachsamkeit erste Bürgerpflicht. Dieser Regierung darf man nicht mehr trauen; sie führt die Menschen hinters Licht.
Wenn man das erste und zweite sogenannte Neuordnungsgesetz unter inhaltlichen Gesichtspunkten bewertet und die SPD dabei zu einem negativen Urteil kommt, mag mancher sagen: Na klar, das müssen sie ja, sie sind ja Opposition. Ich werde mir das heute verkneifen und statt dessen die Wertungen anführen, die die gesamte deutsche Presse fast einheitlich diesen beiden Gesetzen zuteil werden ließ.
Auszüge: „Kranke bestraft", sagt die „Neue Osnabrücker Zeitung"; „Besser reich und gesund", kommentiert die „Berliner Zeitung"; „Schleichende Entsolidarisierung", sagt der „Tagesspiegel"; „Auf Kosten der Kranken", schreibt die „taz"; „Kranke sind die Verlierer", sagt die „Frankfurter Rundschau"; „Der Kranke zahlt", erklärt die „Sächsische Zeitung"; „Sägen am System", veröffentlicht die „Zeit"; „Beiträge steigen", sagt das „Handelsblatt".
So oder ähnlich geistert es seit Wochen durch die Presselandschaft. Da bleibt eigentlich nur noch eine Alternative: Entweder sind die deutschen Journalisten durchweg von Sinnen und haben die Gesetze nicht gelesen, oder sie haben sie nicht nur gelesen, sondern auch verstanden und ungeachtet aller Nebelkerzen und Leimruten der Koalition als Machwerk enttarnt. Das ist der Punkt.
Herr Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lohmann?
Aber mit Vergnügen, mit größtem Vergnügen.
Herr Kollege Dreßler, Sie sprechen gerade von „arglistiger Täuschung" und zitieren aus der Presse. Ich habe gestern gelesen, daß Sie unsere Gesetze unter anderem so kritisieren: Es „drohen den Versicherten 1997 höhere Beiträge und Zuzahlungen, die leicht mehrere tausend Mark erreichen könnten. "
Wenn ich jetzt unter „mehrere tausend Mark" 2 000 DM verstehe - denn 1 000 DM wären ja nicht mehrere tausend Mark -: Kann es sein, daß die arglistige Täuschung von Ihnen versucht wird, indem Sie so tun, als würden Versicherte mit 2 000 DM zur Kasse gebeten, obwohl Sie doch genau wissen, daß es sich auf Grund der Überforderungsklausel dann schon um Versicherte handeln müßte, die deutlich mehr als 100 000 DM verdienen?
Herr Lohmann, Sie geben mir Gelegenheit, Ihren Fraktionskollegen, die sich mit anderen politischen Schwerpunkten beschäftigen müssen, eine kleine Aufklärung über die Hinterlist Ihres Gesetzentwurfes zu geben. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück.
Frau Präsidentin, ich gehe davon aus, daß die Zeit gestoppt wird. Dann kann ich das nämlich zweimal
Rudolf Dreßler
sagen, schon alleine deshalb, damit es in wacher Erinnerung bleibt.
Herr Dreßler, entweder Sie beantworten jetzt die Frage, dann wird die Zeit gestoppt; wenn Sie sie jetzt nicht beantworten, dann wird auch die Zeit nicht gestoppt.
Aber natürlich, ich beantworte die Frage.
Die Hinterlist besteht in folgendem Zusammenhang und ergibt für die Betroffenen unmögliche Belastungszustände, die dem einzelnen aber nicht klar sind.
- Herr Thomae, ich muß Ihnen einmal eines sagen: Wenn Sie hier ein Machwerk dieser Art vorlegen
- Sie haben es mit vorgelegt - und einer von Ihnen mich nach den Hintergründen fragt, dann müssen Sie ganz alleine mir überlassen, wie ich diese Frage beantworte, damit es auch allen von Ihnen klar wird. Sie bestimmen das nicht.
Die Regierung hat hier folgendes vorgelegt, und die Koalitionsparteien tragen es: einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer notwendigen Beitragserhöhung der Krankenkassen und dem sich daraus zwanghaft ergebenden Muß für die Krankenkassen, die Zuzahlungen zu erhöhen, und zwar nach einem einfachen Muster: Jede Beitragserhöhung um 0,1 Prozent bewirkt automatisch eine Erhöhung der Zuzahlung bei Arzneimitteln von 1 DM oder von 1 Prozent, falls die Zuzahlung in Prozenten errechnet wird. Sie sollten sich vergegenwärtigen, welche Kosten zusätzlich allein beim Zahnersatz entstehen - nicht, weil die Zahnärzte raffgierig sind, sondern weil es wirklich so teuer ist.
- Ja, natürlich. Herr Lohmann, Sie müssen öfter Zeitung lesen, dann finden Sie solche Feststellungen von mir öfter und sind besser informiert.
- Regen Sie sich ab. Ich weiß, daß das Thema für Sie unangenehm ist. Heute morgen wird hier aber klar Schiff geredet, damit das klar ist.
Eine Beitragserhöhung von 0,1 Prozent ergibt eine Zuzahlungserhöhung von 1 DM. Wenn eine Krankenkasse den Beitrag um 1,5 Prozent anheben muß - es gibt eine Reihe von Krankenkassen, die das müssen -, bedeutet das für den Patienten beim Kauf einer Arzneimittelpackung, bei dem heute eine Selbstbeteiligung in Höhe von 4 DM zu zahlen ist, in Zukunft eine Zuzahlung in Höhe von 19 DM. Was das zusätzlich zu den höheren Kosten des Zahnersatzes und dem Aufschlag von 15 DM auf das Krankentagegeld für einen chronisch Kranken bedeutet, macht deutlich: Das ist ein unmögliches Vorhaben, das Sie hier planen.
Ich muß Ihnen sagen: Sie sollten sich schämen, der deutschen Öffentlichkeit so etwas durch Tricks verborgen zu halten. Wir werden für Aufklärung sorgen, damit diese Machwerke klarwerden und jedermann deutlich wird, was Sie im Gesundheitswesen anrichten.
Die sogenannten Neuordnungsgesetze sind eine schlimme sozialpolitische Entgleisung. Sie zerstören die soziale Krankenversicherung, belasten die Beitragszahler, besonders aber die Kranken. Sie sind - im Sinne des Wortes - für die Menschen untragbar.
Unter der wohlklingenden Überschrift „Wir müssen die Krankenversicherung fit machen für die Zukunft" werden in Wahrheit deren soziale Grundlagen zerstört. Wer die Vorschläge aus dem Hause Seehofer aufmerksam prüft, kennt das Ziel: Neuorientierung unserer Krankenversicherung an den Grundlagen der privaten Versicherungswirtschaft mit ihren typischen Elementen: Beitragsrückgewähr, Tarifdifferenzierung, Wahl- und Regelleistungen, um nur drei Beispiele zu nennen. Mit Sozialstaat hat all das wenig zu tun. Das bedeutet das Ende der sozialen Krankenversicherung.
Schritt für Schritt soll in der Krankenversicherung das solidarische Finanzierungselement zugunsten einer risikoorientierten Finanzierung zurückgedrängt werden. Mehr Geld für weniger Leistungen oder - schlimmer noch - der Gesunde zahlt wenig, der Kranke zahlt viel, so heißt dabei das Ergebnis.
Ich bin mir sicher: Sind die solidarischen Ausgleichsmechanismen unserer Krankenversicherung erst einmal zerstört, werden wir sie kaum je wieder instand setzen können.
Daß es dem eigenen Fortkommen abträglich ist, wenn sich Politik bei diesem schlimmen Manöver selbst die Finger schmutzig macht, hat auch Herr Seehofer erkannt. Er überläßt das Geschäft daher gerne der Selbstverwaltung - wohl wissend, daß sie ein solches Geschäft gar nicht betreiben kann, es sei denn um den Preis ihrer Selbstlähmung.
Rudolf Dreßler
„Vorfahrt für die Selbstverwaltung" lautet sein Motto.
Die Selbstverwaltung braucht Gestaltungsfreiheit, heißt es bei ihm weiter. Das sind Sprechblasen. Die Wahrheit ist primitiver. Die Selbstverwaltung soll Vorfahrt erhalten, weil der Verkehr im Gesundheitswesen mörderischer geworden ist. Gestaltungsfreiheit erhält sie doch nur dort und nur deshalb, wo und weil ein Watschenmann gesucht wird, der vor den Versicherten für die sozialen Gemeinheiten einstehen soll. Die Regierung drückt sich vor ihrer politischen Verantwortung.
Herr Seehofer will sich vor seiner politischen Verantwortung drücken, weil seine eigentlichen gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen im dunkeln geblieben sind. Es gibt aber noch mehr Merkwürdigkeiten, wenn man sich die neue Stufe der Reformüberlegungen anschaut. Das fängt mit der intellektuellen Autorenschaft der Pläne an. Ausweislich eines Tonbandmitschnitts einer Rundfunkstation auf der Bundespressekonferenz, auf der der Bundesgesundheitsminister das neue Paket vorgestellt hat, hat er dazu wörtlich ausgeführt - ich zitiere -:
Mein innigster Dank gilt dem Beitrag, den die F.D.P. in den letzten Monaten zur Humanisierung meines eigenen Erwerbslebens geleistet hat in der Weise, daß sie mir erfreulicherweise sowohl das Denken als auch das Handeln abgenommen hat
und wir nur noch die Dinge, die die F.D.P. entwikkelt hat, in der Koalition noch absegnen mußten.
Ich zitiere weiter:
Das war eine wunderschöne Zeit, und insofern habe ich mit dem Ganzen auch nichts zu tun.
Meine Damen und Herren - mit Verlaub, Herr Seehofer, wenn das so ist, was wollen Sie dann eigentlich noch auf der Regierungsbank?
Ein Minister als gehobener Notariatsangestellter ist nämlich eine Fehlbesetzung.
Sie sollten nach Hause gehen, wenn ohnehin Herr Möllemann und seine F.D.P.-Truppe das Sagen haben.
Ganz abgesehen davon: Darauf, daß das neue Paket die Handschrift der F.D.P. trägt, wären wir von ganz allein überhaupt nicht gekommen. Daß dieser Hilfsverein für bestimmte Einkommenmilieus mit der sozialen Krankenversicherung nichts am Hut hat, ist ja nicht neu. Neu ist nur, daß die F.D.P. mittlerweile das Kommando im Hause Seehofer übernommen hat, der ja auch noch - koalitionspikanterweise - stellvertretender CSU-Vorsitzender ist.
Vor wenigen Monaten sah das alles noch ganz anders aus, wenn es um die Lieblingsprojekte der F.D.P., wie etwa die Selbstbeteiligung, ging. Originalton Seehofer vor dem Deutschen Ärztetag in Stuttgart:
Ich halte die Selbstbeteiligung der Versicherten für ausgereizt; Selbstbeteiligung hat keine Steuerungswirkung, sondern ist reine Einnahmebeschaffung. Wenn jemand Einnahmen beschaffen will, ist es zutiefst unsozial, daß er die Kranken und chronisch Kranken belastet. Ich bin der Meinung, dann beteiligen wir die gesamte Bevölkerung, alle Versicherten daran.
Da sage ich: Richtig, meine Damen und Herren! Warum ziehen Sie aber nicht die Konsequenz daraus,
sondern handeln mit den sogenannten Neuordnungsgesetzen wider Ihre richtige Erkenntnis und erhöhen das Selbstbeteiligungsvolumen massiv um fast 40 Prozent, Herr Seehofer,
nämlich von derzeit 13,3 Milliarden DM um 5,7 auf 19 Milliarden DM?
Rund 125 Milliarden DM bringen die Versicherten derzeit an Beiträgen auf. Da setzt Herr Seehofer noch einmal 19 Milliarden als Zusatzsteuer ausschließlich für Kranke - genannt Selbstbeteiligung - drauf. Ich nenne das jedenfalls skandalös! Wenn Sie sich über dieses Gesetz freuen, ist das Ihr Problem!
Und ich frage, Herr Seehofer, wie ist das mit folgendem Zitat aus Ihrer Stuttgarter Ärztetagsrede:
Wir können doch nicht seit Monaten in der Bundesrepublik eine Diskussion darüber führen, daß die Steuern und Abgaben für die Bevölkerung zu hoch sind, daß sie zurückgeführt werden müssen, nicht nur aus Gründen des Wirtschaftsstandortes
Rudolf Dreßler
Deutschland, und anschließend die Abgaben für chronisch Kranke erhöhen.
Eine solche Politik werde ich - Seehofer -
nicht mittragen, obwohl ich weiß, daß viele Ordnungspolitiker nach wie vor der Meinung sind, daß eine Selbstbeteiligung gewissermaßen das Wundermittel zur Sanierung der gesamten Krankenversicherung sei.
Gilt das nicht mehr? frage ich. Warum tun Sie heute das Gegenteil?
Wollen Sie die politische Schizophrenie zum neuen Grundsatz für Regierungspolitik machen, oder wie sehe ich das?
Daß Sie sich über diese Zitate aufregen, das kann ich nicht nur verstehen, das ist auch von mir beabsichtigt, damit Ihnen mal klar wird, worüber Sie hier heute abzustimmen haben. Offensichtlich haben Sie das alles gar nicht gelesen!
Was ist denn auf einmal geschehen, frage ich, daß das, was gestern wahr ist, heute nicht mehr wahr sein soll? Ich will es Ihnen sagen, meine Damen und Herren. Es geht Herrn Seehofer gar nicht um das Gesundheitswesen. Das ist ihm mittlerweile völlig gleichgültig. Es geht ihm nur noch um Machterhalt.
Und wenn dabei politische Grundsätze hinderlich sind, was soll's, weg mit ihnen, heißt dann seine Parole.
Am 30. Juli konnten wir in der „Welt am Sonntag" lesen - ich zitiere -:
Ich kenne keine konkreten Pläne der FDP. Ich höre nur von den Vorstellungen, daß mehr Eigenbeteiligung der Patienten oder Differenzierungen nach Regel- und Wahlleistungen der Kassen Schwerpunkte der FDP sein könnten. Aber das ist der falsche Ansatz.
Wenn man die heutigen Gesetzesvorlagen sieht, dann hat Herr Seehofer die politischen Pläne der F.D.P. ganz schnell kennengelernt, und den eigentlich falschen Ansatz hat er ganz schnell zum vermeintlich richtigen ummanipuliert. Die zukünftig geplante Verknüpfung von notwendigen Beitragssatzerhöhungen mit der Erhöhung der Selbstbeteiligung - ich habe in der Antwort auf die Zwischenfrage soeben darauf hingewiesen - ist nicht nur eine sozialpolitische Bankrotterklärung, sie ist auch systematisch für ein solidarisch finanziertes Versicherungswesen von bemerkenswerter intellekteller Qualität.
Es scheint offensichtlich Leute zu geben, die leben in der Vorstellung, es wäre die Lieblingsübung der Krankenkassen, zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit die Beitragssätze zu erhöhen; deshalb müsse man da politische Bremsen - und funktionierten sie noch so infam - einbauen.
Die Stammkundschaft der gesetzlichen Krankenkassen - das sind ja bekanntlich die Mitglieder der F.D.P.-Bundestagsfraktion; die sind höchstwahrscheinlich alle in der Gärtnerkrankenkasse wegen der Pflege der Landschaft - hat bei der Entdeckung einer solchen Idee übersehen, daß es Gesetzesvorschriften gibt, nach denen sich jede einzelne Krankenkasse zu richten hat. Sie hat nämlich von Gesetzes wegen einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Die gesetzliche Verpflichtung zwingt die Kasse zu Beitragssatzerhöhungen, wenn mit den erwarteten Einnahmen die zu erwartenden Ausgaben nicht zu bedienen sein werden. Herr Möllemann, das geschieht nicht aus Jux und Tollerei wie Herr Seehofer seit geraumer Zeit der Öffentlichkeit einzureden versucht, sondern ist die gesetzliche Pflicht der deutschen Krankenkassen. An dieser Pflicht können Sie nicht herummanipulieren, und Sie können nicht die Krankenkassen für einen Zustand verantwortlich machen, den die Politik diesen Krankenkassen aufgebürdet hat.
Man stelle sich die Lage vor, wie die sogenannten Neuordnungsgesetze sie herbeiführen werden: Einer Krankenkasse durch Gesetz die Beitragssatzerhöhung vorschreiben, dann den Mitgliedern der Kasse für diesen Fall eine sofortige Kündigungsmöglichkeit einräumen, dann die Kasse durch eine parallele Zwangserhöhung der Selbstbeteiligung dazu bringen, die Mitglieder gleichsam indirekt auch noch hinauszuwerfen, und dann noch behaupten, das Ganze sei wettbewerbsfördernd. Das nenne ich schlicht pervers.
Man stelle sich vor, diese Regierung hätte in den vergangenen 14 Jahren ihre Steuerpolitik mit solchen Mechanismen versehen, etwa nach der Regel: Jede Steuererhöhung - davon gibt es ja etliche - wird mit einem sofort wirksamen Kündigungsrecht für die deutsche Staatsbürgerschaft verknüpft. Die Bundesrepublik wäre vor zehn Jahren mangels Staatsbürgern geschlossen worden, denn wir alle wären Luxemburger oder Liechtensteiner geworden.
Man muß sich wirklich einmal die Mühe machen, praktisch nachzuvollziehen, zu was die beiden vor-
Rudolf Dreßler
liegenden Gesetze führen werden. Die Krankenkassen werden am Ende des Jahres ein Defizit von 14 Milliarden DM vor sich herschieben. Dazu kommt eine gesetzlich erzwungene Beitragssatzabsenkung von 0,4 Prozent, die noch nicht einmal annähernd durch die erste Tranche der Seehoferschen Gesetzesgrobheiten ausgeglichen wird.
Um zu verhindern, daß diese Defizite ins Uferlose steigen, werden die Krankenkassen gezwungen sein, massive Beitragssatzerhöhungen vorzunehmen, und zwar Beitragssatzerhöhungen, die nicht auf den Risikostrukturausgleich zurückzuführen sind. Insofern ist die am Mittwoch im Ausschuß für Gesundheit von der Koalition für diesen Sonderfall vollzogene Teilkorrektur weiße Salbe.
Diese Beitragssatzerhöhungen werden flächendekkend sein: von der AOK Bayern bis zum Betriebskrankenkassensystem in Berlin. Ich habe Ihnen soeben die Zahlen im einzelnen genannt und die Beträge, die von den Leuten aufzubringen sind. Ich will sie aber sicherheitshalber wiederholen, damit wir es festhalten: Die tägliche Zuzahlung der Patienten im Falle der Berliner Krankenkassen - 1,5 Prozent Beitragserhöhung stehen an - steigt von 12 DM Krankenhaustagegeld auf 27 DM; die Zuzahlung von Fahrtkosten steigt von 20 DM auf 35 DM, diejenige bei Heilmitteln, soweit es die überhaupt noch auf Kassenrezept gibt, von 10 Prozent auf 25 Prozent der Kosten, die bei Mütterkuren von 12 DM auf 27 DM pro Tag;
bei stationärer Rehabilitation steigt sie von 25 auf 40 DM und bei Arzneimitteln von 4 auf 19 DM, von 6 auf 21 DM und von 8 auf 23 DM.
Mit Verlaub, meine Damen und Herren, wenn das nicht unparlamentarisch wäre, würde ich die Damen und Herren der Koalition jetzt fragen: Haben Sie eigentlich einen an der Waffel?
Aber da das unparlamentarisch ist, beschränke ich mich auf die Feststellung: Wer eine derartige Gesundheitspolitik betreibt, dem gehört der politische Führerschein entzogen.
Ich höre schon die Einrede: Typisch SPD, die nehmen wieder Extrembeispiele. Abgesehen davon, daß das für die Versicherten der Betriebskrankenkassen in Berlin ein reichlich schwacher Trost wäre, entspräche diese Einrede nicht den Tatsachen. Angesichts der aufgelaufenen Defizite werden die Beitragssatzerhöhungen um 1 Prozentpunkt flächendeckend sein.
Die Koalition will die Streichung von Leistungen auf wichtigsten gesundheitspolitischen Feldern durch die Selbstverwaltung der Krankenkassen erzwingen. Denn wenn sie das nicht wollte, warum hat sie dann erst die gesetzliche Möglichkeit dazu geschaffen? Das, was hier heute morgen von der Kollegin gesagt wurde,
widerspricht dem Gesetzestext. Der Gesetzestext besagt eindeutig, daß diese Leistungen von der Selbstverwaltung ausgegrenzt werden sollen, und zwar in einer Höhe von 16 Milliarden DM.
Herr Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lohmann?
Nein, jetzt nicht mehr, Frau Präsidentin. Jetzt wird sich Herr Lohmann anhören, was das bedeutet.
Damit klar ist, was unter anderem auf der Streichliste steht, erwähne ich: häusliche Krankenpflege, Volumen: 3,3 Milliarden DM; Fahrtkosten, Volumen: 1 Milliarde DM; Kuren und Rehabilitation, Volumen: 5,1 Milliarden DM; Heilmittel, physikalische Therapie, Krankengymnastik, Sprachtherapie nach Schlaganfall oder bei stotternden Kindern, Volumen: 5,4 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen:
Es ist zynische Politik, was Sie hier machen.
Die SPD-Bundestagsfraktion macht sich gemeinsam mit den Gewerkschaften, den Verbänden des Sozial- und Gesundheitswesens, den Krankenkassen, aber auch gemeinsam mit Millionen sozial verantwortlich fühlenden Menschen in unserem Land zum Sprecher der vielen, die von diesen Maßnahmen betroffen sind. Ich sage Ihnen, auch wenn Sie hier heute morgen dies alles nicht wahrhaben wollen: Denken Sie darüber nach! Ich sage in Richtung von CDU/CSU und F.D.P.: Kommen Sie heute morgen endlich noch zur Vernunft; ziehen Sie diese unanständigen Gesetze zurück!
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es ist an der Zeit, klar einzuordnen, was unter dieser Regierung mit dem Gesundheitswesen geschieht. Wir Grüne betrachten den irrational anmutenden Aktionismus, das öffentliche Jagen und Abstrafen immer neuer Schuldiger mit großem Ernst. Dieses Gesetzesgefuchtel, das sich zu einer neuen politischen Plage für 70 Millionen Versicherte auswächst, verkaufen Sie auch noch als unausweichliche Sparmaßnahme.
Wer den Fehler macht, sich auf die falschen Kostenargumente einzulassen, läuft Gefahr, sich an dem Paradigmenwechsel zu beteiligen. Im Kern zielt die Regierung gegen einen zivilisatorischen Konsens, die solidarische Gesundheitsversorgung.
Die Sicherheit der einzelnen Menschen, im Fall von Krankheit gleichgestellt zu sein,
ist Voraussetzung dafür, daß die Menschen überhaupt Eigenverantwortung tragen können. Schließlich ist Gesundheitsversorgung kein Konsumgut, auf das man verzichten könnte. Sie ist auch kein Objekt, das man voll oder teilweise versichern kann.
Meine Herren und Damen, haben Sie aus dem Munde des Gesundheitsministers je erfahren, was sein gesundheitspolitisches Credo ist, von welchem Krankheitsverständnis er geleitet wird? Wissen diese Herren und Damen noch, was Kranksein für die existentielle, soziale und psychische Identität bedeutet? Weiß der Minister nicht, wie unschätzbar hoch das Recht auf umfassende gleiche Versorgung zu werten ist? Muß nicht unzweifelhaft gelten, daß Ärztinnen und Ärzte das Notwendige und nicht nur noch das Versicherte verordnen können?
Es ist schlichtweg nicht zu verstehen, warum unser leistungsfähiges und soziales Gesundheitswesen als ein herausragender Standortfaktor nicht verteidigt wird. Ist nicht bekannt, wie viele hochqualifizierte Arbeitsplätze es sichert und schaffen kann? Weiß man in der Regierung nicht mehr, daß es, weil es solidarisch finanziert ist, ein kostengünstiges ist, um das wir weltweit beneidet werden?
Darüber muß gesprochen werden, wenn von Reformen die Rede ist. Das Gesundheitswesen rein fiskalischen Bewertungen zu unterwerfen, seinen kulturellen Wert nicht zu erkennen und es obendrein nach ökonomisch falschen Parametern zu bemessen, das ist angesichts der Folgen, die diese Kürzungsexzesse nach sich ziehen, vermessen.
Es ist an der Zeit, zu sagen, daß die Antwort auf die Frage, welches Gesundheitswesen wir in Zukunft haben werden, zugleich eine darauf ist, ob es auf einem bürgerrechtlichen Selbstverständnis gründet. Denn
„Gesundheitsreform" kann nur ein emanzipatorisches Projekt sein. Deshalb muß sie von den Versicherten und von den Kranken her gedacht und für sie gemacht werden.
Die Regierung ist dabei, ein intaktes Gesundheitssystem zu ruinieren. Die Dramatik liegt nicht in der aktuellen Finanzierungskrise. Die läßt sich mit etwas Mut gegenüber der Pharmalobby, mit gerechter Wut gegenüber marktradikalen Arbeitgebern und mit systemimmanenten Reformen beheben. Das ist keine Frage. Die Dramatik liegt darin, daß die Regierung die Einnahmekrise dazu mißbraucht, einen Systembruch einzuleiten.
Es ist ein Bruch mit der Basis der hälftigen Arbeitgeberfinanzierung der Kassenausgaben. Es ist ein Zurückschrauben historischer Errungenschaften der Gesundheitsbewegung und ein Verdrängen des emanzipatorischen Gesundheitsbegriffs selber. Für diesen Schritt hat diese Regierung keine demokratische Legitimation. Die Tatsache, daß Sie die Kanzlermehrheit haben, bedeutet nicht, daß Sie auch einen Auftrag der Wählerinnen und Wähler haben.
Wenn Sie, auf Geheiß der F.D.P. das ganze System verändern, dann heißt das doch, daß Sie selber keine Wertebindungen mehr haben.
Nirgendwo, weder in der wissenschaftlichen Fachwelt noch bei den Kassen und den Ärztinnen und Ärzten, nicht in den Ländern und nicht in der Breite des Parlamentes haben Sie dafür eine Mehrheit. Was Sie haben, ist lediglich die F.D.P.
Sie gehen am Bundesrat vorbei. Das mag Ihnen ein machtpolitisches Gefühl der Stärke verleihen. Aber Größe hat es nicht.
Zu den aktuellen Defiziten: Es gibt keine Kostenexplosion. Ihnen geht es auch nicht um sinnvolles Sparen. Es ist nun einmal wahr, daß nicht die Ausgaben unverhältnismäßig gestiegen sind, sondern die Lohnquote gesunken ist.
Es gibt ein Einnahmeproblem, weil es Massenarbeitslosigkeit gibt. Und trotzdem könnten die Kassen
Monika Knoche
gesund sein, wenn Sie unsere Strukturreformen umsetzten.
Ein Vorschlag ist, die Pflichtversicherungsgrenze anzuheben. Das entspricht einem Einnahmezuwachs von zirka 10 Milliarden DM, und es wäre gerecht.
Ein anderer ist, die gesetzesbedingten Mindereinnahmen von 5 Milliarden DM aus Renten- und Arbeitslosenversicherung steuerzufinanzieren. Und Sie müßten die unmäßigen Pharmainteressen zurückweisen, deren Verfolgung Sie bekanntermaßen 3 bis 5 Milliarden DM im Jahr kostet.
Es gibt keine Not, aber die Notwendigkeit, die Ineffizienzen im System zu beseitigen. Die liegen in der fehlenden Verzahnung des ambulanten und stationären Sektors. Das umgehen Sie völlig. Seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beziffern das Einsparpotential auf nahezu 20 Milliarden DM im Jahr. Und Ihnen fällt nichts anderes ein, als zu Leistungskürzungen für Kranke zu greifen. Das ist einfach unglaublich.
Wer aber das System verändern will, muß nachweisen, daß es nicht reformierbar ist.
Diesen Nachweis können Sie nicht erbringen. Deshalb operieren Sie mit ökonomisch unlauteren Zahlenrelationen, sprechen von einer Ausgabendynamik, die es so nicht gibt, und hoffen, daß Ihnen in der Öffentlichkeit Ihre immer falschen Krisendiagnosen irgendwann abgenommen werden. Die Öffentlichkeit weiß aber, daß da etwas Grundsätzliches nicht stimmt. Sie spürt: Wenn Krankheit finanziell bestraft wird, ist etwas mit der Verteilungsgerechtigkeit nicht in Ordnung.
Es ist niemand anderes als die Regierung selber, die Stimmung gegen das Solidarprinzip macht. Sie spaltet Gesunde und Kranke, sie zwingt die Kassen dazu, nicht mehr im gesundheitlichen Interesse der Versicherten zu handeln. Die Regierung ist verantwortlich, wähnt sich aber bei den weiteren Diskussionen fein raus.
Es wird eine neue Diskriminierung kommen, vor der sich insbesondere Ärmere nicht schützen können.
Nichts ist für Kranke demütigender, als zu erfahren, daß sie, weil sie nicht voll leistungsfähig sind, mehr zahlen müssen oder als Kostenlast erlebt werden. Eine solche Entwicklung zieht eine Entzivilisierung des Verständnisses von Krankheit und des Umgangs mit Kranken nach sich. Ohne diesen Blick auf das
Ganze wäre auch die schärfste Kritik an diesen beiden Gesetzentwürfen verkürzt, weil sich alles ändert und nichts bleibt, wie es ist, nicht die Kassenleistungen, nicht die Kassenlandschaft, selbst das Arzt-Patient-Verhältnis nicht.
Zum 1. NOG: Mit der Verknüpfung von Beitragssatz und Zuzahlung zahlen ausschließlich Kranke neben den Beiträgen unbegrenzte Strafbeiträge in Form von höheren Arzneimittel- und Krankenhauskosten. Man stelle sich vor, in einer Apotheke müßten von zwei Patientinnen je nach Kasse für ein und dasselbe Medikament die eine 4 DM und die andere 10 DM zuzahlen, und das nur, weil beispielsweise eine neue Entlassungswelle die Versicherten einer Kasse heimgesucht hat oder die Rationalisierungsreserven der Kassen erschöpft sind.
Sie zahlen höhere Beiträge un d höhere Selbstbeteiligung. Für die Kassen heißt das, daß über Härtefallregelungen von Zuzahlung befreite ärmere Versicherte zu einem zusätzlichen Kostenfaktor werden. Was nützt denn dann den Versicherten das Kündigungsrecht? Wie attraktiv sind Sozialkassen dann noch für gutverdienende, freiwillig Versicherte?
Sie können doch gleich in die Privatkassen abwandern.
Das ist es, was Solidarität zerstört.
Es ist eine Abwärtsspirale, die alle GKVen erfaßt und sie zu Leistungsausgrenzungen zwingt. Auf die Suche nach kostengünstigen Kassen geschickt, wird es für die Versicherten überall nur eines geben: höhere Beiträge, höhere Zuzahlungen und immer weniger Leistungen.
Meine Herren und Damen, es bereitet uns Grünen überhaupt keine Genugtuung, uns in all unseren Prognosen über die systematische Einführung der Zweiklassenmedizin bestätigt zu sehen.
Frühzeitig und eindringlich haben wir davor gewarnt, daß der Wettbewerb, daß Gesundheit auf dem Markt als Totengräber des einheitlichen Leistungskatalogs fungiert, daß die schleichende Amerikanisierung teuer wird und daß Wahlfreiheit zu Ungleichheit degeneriert. Natürlich haben Sie all unsere Reformvorschläge ignoriert, aber große gesellschaftliche Gruppen fordern sie.
Noch etwas zum 2. NOG: Was bedeutet es? Durch die Einführung von Kostenerstattung, Beitragsrückgewähr und Selbstbehalt zahlen künftig Kranke Gesunde aus. Die Garantie des ungeteilten Sachlei-
Monika Knoche
stungsprinzips ist passé. Die Finanzierungsbasis der Solidarkassen wird zusätzlich geschmälert. Es wird ein Kassensterben geben und der Monopolisierung Vorschub geleistet. Es wird ein ganzheitliches vorbildliches Versorgungswesen nur noch für die geben, die es sich leisten können. Die nunmehr als Satzungsleistung deklarierten Heilmittel und häusliche Krankenpflege werden auf Dauer ein ruinöses Luxusangebot für jene Kassen werden, die um die sogenannten schlechten Risiken werben.
So heißen dann Kinder mit Behinderungen, Parkinson-Erkrankte, Rheumatikerinnen und andere. Soziale Kassen gehen im Konkurrenzkampf unter. Diese Art der Selbstverstümmelung als Akt der Kassenselbstverwaltung zu erzwingen ist einer humanistischen Gesundheitspolitik nicht würdig.
Es soll aber die historische Einordnung nicht vergessen werden. Die Solidarkassen haben sich auf der Basis der hälftigen Finanzierung durch die Arbeitgeber als die ökonomisch und sozial überlegenste und stabilste Gesundheitssicherung erwiesen. Sie sind, weil sie weitgehend frei von steuer- und haushaltspolitischen Einflüssen der Regierungen geblieben sind und weil sie den Versicherten gehören, auch immer sozialen Zielen verpflichtet geblieben. Alle Versicherten konnten an den medizinischen, psychosozialen und ganzheitlichen Entwicklungen und einer umfassenden Gesundheitsversorgung teilhaben. Sie wollen das auch heute noch. Es sind die Kassen, meine Herren von der CDU, die sagen: Es ist eine gefährliche Form, über Gestaltungsleistungen Risikoselektion zu betreiben.
Die Kassen sagen: Es hilft nicht, zu beteuern, daß man das nicht will. Fakt ist, daß es so wird.
Es wird eine gesellschaftliche Brisanz entfacht, die ohne Vergleich ist.
Damit kein Irrtum bleibt: Bundesminister Seehofer weiß ganz genau, wohin er das Gesundheitswesen treibt.
Vorgestern stellte er sich erneut an die Spitze aller Kürzungskommissare. Ob er seine Untaten
an anderen Orten damit relativieren will, sei dahingestellt. Er streicht freiwillig seinen minimalen disponiblen Haushaltsteil um sage und schreibe 60 Prozent. Das heißt, Modellprojekte für Psychiatrie, präventive Drogenpolitik, Aidsprävention und vieles mehr, viele wissenschaftlich begleitete Selbsthilfeprojekte, stehen vor dem Aus.
Den Kassen hat er Prävention und Gesundheitsförderung bereits gestrichen.
Mit Gesundheitsförderung hat das alles nichts mehr zu tun. Der Minister hat Gesundheitspolitik schlichtweg satt.
Als Fachminister ist er gescheitert. Sein Machtstreben ist aber unbegrenzt. Er hat keine Skrupel, die Interessen der Gesunden und der Kranken zu verraten.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Jürgen W. Möllemann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage legt heute sein Gutachten für 1996/1997 vor. Er wird dabei dem Vernehmen nach darlegen, daß wir nach seiner Einschätzung im kommenden Jahr ein Wachstum von 2,5 Prozent haben werden, aber gleichzeitig eine steigende Arbeitslosigkeit. Die Zahl der offiziell arbeitslos Gemeldeten wird nach seiner Prognose im nächsten Jahr die 4-Millionen-Grenze überschreiten.
Das heißt, sie wird in Wahrheit natürlich deutlich höher liegen, wenn man diejenigen hinzurechnet, die in Umschulung, Weiterbildung, AB-Maßnahmen oder Vorruhestand sind.
Vor diesem Hintergrund unterhalten wir uns in diesen Wochen bei verschiedensten Tagesordnungspunkten dieses Parlaments über die Kernfrage, wie es uns gelingen kann, zu verhindern, daß noch mehr Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, und dafür zu sorgen, daß von den vier Millionen oder - wenn wir die vorhin Genannten hinzurechnen - mehr als fünf Millionen Menschen möglichst viele wieder die Chance bekommen, einen Arbeitsplatz zu erhalten.
Jürgen W. Möllemann
- Ich will Ihnen jetzt einmal etwas sagen, verehrter Kollege. Ich habe mir angehört, wie Sie heute, vor Erregung und Empörung triefend, Begriffe wie „unanständig",
„pervers", „Untaten" und ähnliches verwendet haben. Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie unser Ringen um den besten Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit damit verderben,
daß Sie sagen: Da sitzt der Anstand, dort die Unanständigkeit. Sie zerstören damit ein vernünftiges Beratungsklima.
Wir können uns in der Sache wirklich streiten und einen Wettbewerb um die besten Konzepte austragen. Aber wenn Sie unsere Konzepte als „Unanständigkeit", „Perversität" und „Untaten" benoten,
dann muß ich Ihnen sagen: Damit kann man einen vernünftigen Dialog nicht mehr führen. Ich bitte Sie herzlich: Lassen Sie das!
Herr Dreßler, an Ihre Adresse und auch an die Ihres Nachbarn eine ganz spezielle Bemerkung: Sie haben vorhin die F.D.P. als „Hilfsverein" zur Bedienung bestimmter Einkommensschichten diskreditiert.
Ihr Nachbar Scharping hat nichts dabei gefunden, sich durch diesen von Ihnen so genannten - was mit Beifall bedacht wurde - „Hilfsverein" zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Ich finde es unanständig, daß Sie bei Bedarf Parteien diskreditieren, bei denen Sie anderntags einkommen, damit Sie eine Mehrheit bekommen können. Sparen Sie sich solche Bemerkungen!
- Herr Kollege Scharping, Sie wissen ganz genau, daß Herr Dreßler mit dieser Bemerkung Mist gebaut hat, und Sie sollten ihm das sagen.
Zurück zum Ausgangspunkt. Wir stellen uns die Frage, wie wir eine der Ursachen für die steigende Arbeitslosigkeit - das sind nach dem Urteil aller Sachverständigen und aller Institute die im internationalen Vergleich zu hohen Lohnkosten und Lohnnebenkosten - eingrenzen können. Darum geht es hier.
Wir können die Lohnzusatzkosten nicht begrenzen, wenn wir nicht ganz konkret die obligatorischen Beiträge zu den vier sozialen Sicherungssystemen begrenzen. Anders ist es nicht zu machen. Wir müssen also versuchen, eine unbegrenzte Beitragsexplosion in der Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung zu vermeiden. Darüber reden wir hier. Die Frage ist: Wie kann man verhindern, daß - so wie jetzt - die Beiträge zur Rentenversicherung auf Grund der demographischen Entwicklung erneut steigen und daß das gleiche künftig unbegrenzt auch bei der Pflegeversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung geschieht?
Heute unterhalten wir uns darüber, wie wir das bei der Krankenversicherung vermeiden können. Wir glauben, daß das Verhältnis zwischen Solidarität und Subsidiarität bei den sozialen Sicherungssystemen insgesamt nicht mehr stimmt, daß wir die Allgemeinheit für zu viele Leistungen in Anspruch nehmen, die stärker individuell verantwortet werden müssen, und daß wir dann, wenn wir dem nicht entgegenwirken, für die Allgemeinheit ständig steigende, obligatorische Sozialversicherungsbeiträge haben werden.
Wir haben in allen Beratungen darüber gesprochen - heute führen wir die Diskussion über das gleiche Thema zum wiederholten Mal -, was an Instrumenten zur Verfügung steht, um eine ungebremste Explosion der Beiträge zu vermeiden. Wir setzen darauf, daß beispielsweise die Transparenz, also die Offenlegung der Kosten, eine wichtige Voraussetzung dafür ist, daß man mit den Kosten sorgfältig umgeht. Das heißt praktisch: Wir wollen, daß den Patienten künftig über alle Leistungen, die erbracht werden, Rechnung gelegt wird, damit eine Kontrolle stattfinden kann, und zwar von seiten der Patienten gegenüber den Leistungserbringern. Und wir wollen natürlich auch, daß auf diese Weise das Kostenbewußtsein gestärkt wird.
Herr Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Bitte.
Herr Kollege Möllemann, wenn es wirklich Ihr ernsthaftes Bemühen ist, die Beitragssatzsteigungen in den Griff zu bekommen: Können Sie dem Hohen Hause erklären, wie hoch die Sozialleistungsquote ist, wie hoch die Krankenversicherungsausgaben gemessen am Bruttosozialprodukt, sind? Sie sind seit 1982 gleichgeblieben oder sogar leicht gesunken. Können Sie dem Hohen Hause weiter erklären, daß die Beitragssätze durch den Rückgang der Lohnquote, gemessen am Volkseinkommen, gestiegen sind und nicht, weil wir zu hohe Ausgaben der gesetzlichen Krankenversiche-
Klaus Kirschner
rung haben? Diese sind, gemessen am Bruttosozialprodukt, nämlich nicht gestiegen.
Nein, die Frage war noch einigermaßen nachvollziehbar. Ich war gerade dabei, den Sachverhalt in seinem Zusammenhang darzustellen.
Wir haben heute gegenüber der Mitte der 80er Jahre eine offenkundig deutlich gesunkene Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Wir schaffen es nicht mehr, die Menschen, die heute arbeitslos sind, in Arbeit zu bringen, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit nicht steigern, das heißt, wenn wir nicht die Rahmenbedingungen für diejenigen, die in Deutschland produzieren, und zwar unabhängig davon, ob sie Waren, Ideen oder Dienstleistungen produzieren, durch Senkung der Steuern - hierzu ist in den nächsten Tagen und Wochen eine Entscheidung fällig -, durch Reduzierung und Begrenzung von Lohnzusatzkosten und durch die Beschleunigung von Entscheidungsverfahren verbessern. Darüber reden wir hier.
Es nützt nichts, zu sagen: Aber wir hatten doch so eine wunderschöne Situation. - Dies war in einer Zeit, in der wir offenkundig unter geringerem Wettbewerbsdruck standen. Es nützt auch nichts, durch Träumereien - darauf komme ich gleich an anderer Stelle noch einmal - davon abzulenken, daß jetzt entschieden werden muß, ob wir wieder wettbewerbsfähig werden wollen oder nicht; sonst verspielen wir noch mehr als möglicherweise nur die eine oder andere Detailregelung in der einen oder anderen Sozialversicherung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfaff?
Bitte.
Herr Kollege Möllemann, ist Ihnen bekannt, daß für die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht allein die Lohn- und die Lohnnebenkosten, sondern auch die Lohnstückkosten verantwortlich sind, und daß diese bei uns in den letzten zwei Jahrzehnten nominal ungefähr um das 2,5fache - in anderen Ländern um das Fünffache - gestiegen sind bzw. nach Berücksichtigung der Wechselkursveränderungen ungefähr gleichgeblieben sind? Ist Ihnen bekannt, daß die Sozialleistungsquote insgesamt seit 30 Jahren stabil geblieben ist, abgesehen von der falschen Finanzierung der deutschen Einheit, die Sie über die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler vorgenommen haben, und daß die Exportüberschüsse in den letzten Jahren, obwohl Sie die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beklagen, zugenommen haben? Wie können Sie das erklären?
Lieber Herr Kollege, jeder von uns hat neben den Erörterungen hier im
Parlament mehr oder weniger intensiv die Gelegenheit, sich mit Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel auch aus den eigenen Parteiverbünden im internationalen Bereich zu unterhalten.
Ich hatte gerade in den vergangenen Tagen aus einem ganz anderen Anlaß die Möglichkeit, mit einer großen Zahl von Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Ländern zu sprechen. Die schauen mit einer gewissen Faszination auf uns und fragen: Wann merkt ihr Deutschen eigentlich, daß ihr auf einer Insel der Seligen zu leben glaubt, während eure Wettbewerbssituation jeden Tag schlechter wird?
Warum gehen Ihre Kolleginnen und Kollegen in den skandinavischen Ländern, in denen die Sozialdemokraten regieren, eigentlich hin und reduzieren drastisch den Aufwand für die Sozialversicherungen, für den Sozialbereich und stärken die individuelle Verantwortung? Sie tun das, weil sie erkannt haben, daß sie in dem Bereich überdreht hatten. Wir wollen diesen Fehler nicht machen, so lange zu warten, bis wir noch höhere Preise in Form von noch höherer Arbeitslosigkeit zahlen; wir wollen jetzt handeln.
Wenn Sie uns dabei nicht unterstützen wollen, ist das Ihr Ding. Ich frage mich aber, warum Ihre Kolleginnen und Kollegen dort, wo sie regieren, den gleichen Weg gehen wie wir und warum Sie ihn kritisieren.
- Nein, ich möchte jetzt gern ein paar Überlegungen im Zusammenhang vortragen können.
Die zweite Überlegung - neben der Zielsetzung Transparenz, Durchschaubarkeit, Rechnungslegung - ist das von Ihnen hier angesprochene Stichwort Selbstbeteiligung, Zuzahlung. Es ist richtig, daß wir Freien Demokraten der Meinung sind - dazu hatten wir koalitionsintern eine kritische Diskussion -, daß wir Instrumente der Selbstbeteiligung brauchen, um zu verhindern, daß die Inanspruchnahme der solidarischen Versicherung überzogen wird.
Wir haben - ich glaube, die Lebenserfahrung jedes einzelnen bestätigt das - beobachtet, daß ein Appell an vernünftiges, solidarisches Verhalten aller kaum dazu führt, daß sich auch alle danach richten. Dann ärgern sich diejenigen, die sich vernünftig verhalten, darüber, daß andere es nicht tun. Die Hoffnung, eine Aussicht auf für alle sinkende Beiträge werde das Verhalten in Richtung auf behutsamen Umgang mit solidarischer Leistung verbessern, haben wir nicht. Wir glauben, daß es individuelle Steuerungsinstrumente, individuelle Anreize, individuelle Sanktionsmechanismen braucht, damit solidarische Leistungen nicht über Gebühr in Anspruch genommen werden, also insofern schon Steuerung.
Dafür sehen wir nicht nur konkrete Zuzahlungsmechanismen, also Selbstbeteiligung im engeren Sinne, vor, sondern auch die Formen der Selbstbeteiligung, die es in anderen Versicherungsbereichen schon gibt, also den Selbstbehalt und die Rückerstattung. Ich glaube, es ist vernünftig, daß wir das tun.
Jürgen W. Möllemann
Damit schafft man ökonomische Anreize für vernünftiges Vorgehen.
Ein dritter Punkt in diesem Zusammenhang ist mir wichtig. Herr Kollege Dreßler, daß Sie hier mit Stentorstimme Ihre Empörung artikulieren - was sich allmählich verbraucht, weil Sie das bei jedem Thema in der gleichen Weise machen und es niemanden mehr sonderlich beeindruckt -, befreit uns nicht davon, nachzufragen, ob das, was Sie sagen, stimmt. Was Sie gesagt haben, war mit Ihrer Intention, Aufklärungsarbeit zu leisten, an zwei Stellen schwer vereinbar.
Sie wissen genau, daß wir in diesem Zusammenhang eine Regelung haben, die die chronisch Kranken schützt. Sie haben hier so getan, als wollten wir die chronisch Kranken genauso behandeln wie die übrigen. Das ist nicht der Fall.
- Dann haben Sie den Gesetzestext nicht gelesen. Es ist einfach unwahr, was Sie gesagt haben. Wir schützen die übrigen Kranken.
Außerdem haben Sie hier so getan, als wollten wir nicht auch die Einkommensschwächeren schützen. Wir haben eine Überforderungsregel, die gegenüber derjenigen, der Sie in Lahnstein selbst zugestimmt hatten - die sah nämlich eine Zuzahlung, eine Selbstbeteiligung von bis zu 2 Prozent des Einkommens vor -, auf 1 Prozent reduziert ist. Sie können doch nicht etwas, was die Hälfte vom Volumen ausmacht, nur weil es von uns kommt, als schlimmer bezeichnen als das, was Sie selbst mit beschlossen haben und was doppelt so hoch war.
Das ist nicht in Ordnung. Das können Sie so nicht machen.
Wir haben viertens den Wettbewerb zwischen den Kassen bewußt gewollt und setzen ihn auch durch. Da werden Sie mit Ihrer sogenannten Aufklärungsarbeit, wenn die Qualität nicht besser wird, als wir das heute erlebt haben, vor die Wand laufen und nichts ändern. Es ist ganz einfach so - auch diese Beobachtung konnte man machen -, daß das sichere Gefühl „Ich habe meinen Versichertenstamm, und der läuft mir auch nicht weg" nicht gerade zur Leistung stimuliert.
Das Wissen darum, daß man sich um Versicherte bemühen muß, wird die Kassen nach unserer Einschätzung dazu bringen, sich um mehr Service und bessere Leistungen zu bemühen. Wenn man den Wettbewerb will, dann muß man zwei Gedanken automatisch einbeziehen: Erstens muß es Gestaltungsräume für den Wettbewerb geben. Dazu haben wir die sogenannten Gestaltungsleistungen einbezogen.
Es ist klar - Sie haben darauf mit Hohngelächter reagiert -, daß wir mit Gestaltungsleistungen nicht meinen: keine Leistungen. Wir meinen aber sehr wohl eine Differenzierung des Angebots. Ich weiß nicht, warum das schädlich sein soll, wenn es gleichzeitig mit dem Recht eines jeden Versicherten verbunden ist, eine andere Kasse zu wählen, wenn ihm das Gesamtpaket einer Kasse einschließlich der Gestaltungsleistungen nicht paßt. Dann werden wir sehen, daß der Wettbewerb einer um Attraktivität sein wird, weil man auf diese Weise die Versicherten gewinnt oder behält.
Das zweite, das in diesem Zusammenhang zu sagen ist, ist, daß die heutige Systematik des Risikostrukturausgleichs mit Wettbewerb natürlich nicht dauerhaft vereinbar ist. - Jedenfalls nach meiner Interpretation ist das so; darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. - Wenn man will, daß es Wettbewerb gibt, dann muß aus meiner Sicht nach einer Übergangszeit dieses Instrument mindestens degressiv angelegt werden und am Ende - vielleicht begrenzt auf die Rentneranteilsproblematik - auslaufen, weil sonst diejenigen Kassen, die effizient wirtschaften, dauerhaft die Negativleistungen anderer Kassen ausgleichen müssen. Das ist nicht gerade ein Anreiz zu besonders vernünftigem Verhalten. Darüber wird noch zu reden sein.
Herr Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wodarg?
Ja, bitte.
Herr Möllemann, Sie haben gerade die Situation der Krankenkassen geschildert und gesagt, daß der Wettbewerb den Krankenkassen guttut und zu einer Leistungssteigerung führen soll. Weshalb haben Sie den Krankenkassen jetzt Instrumente in die Hand gegeben, die es ihnen ermöglichen, die sogenannten schlechten Risiken, die teuren Kranken hinauszugraulen? Das wird vor allem chronisch Kranke treffen. Ist das Ihre Art von Wettbewerb: Wer zuerst die chronisch Kranken rausgrault, der überlebt am Markt?
Da Ihre Frage rhetorisch gemeint war und nicht von gutem Willen gekennzeichnet ist, kann ich sie nicht beantworten. Auf dieses Niveau begebe ich mich nicht mehr, Herr Dr. Wodarg.
Ich wollte eine letzte Bemerkung an die Adresse von uns allen machen: Ein Problem haben wir weder mit dem ersten Gesetz, das wir heute abschließend beraten, noch mit dem zweiten, das wir noch beraten wollen, im Griff. Das ist ein Problem, das uns in diesen Tagen sehr beschäftigt.
Durch die im Augenblick noch systemimmanente Art der Berechnung der Wertigkeit von Leistungen in den ärztlichen Heilberufen, also mit Punktwerten, die noch dazu gleitende Punktwerte sind, schaffen wir - das kann ich nachvollziehen - ein Maß an Mißmut bei den Heilberufen, das ich verstehen kann, das wir in Rechnung stellen müssen und bei dem wir zu Veränderungen kommen müssen. Wer heute als nie-
Jürgen W. Möllemann
dergelassener Arzt - ein Freiberufler - eine Leistung erbringt, kennt im Moment der Leistungserbringung nicht den Wert dieser Leistung.
- Sie haben recht, es war eine falsche Wortwahl. Ich meinte: den Preis dieser Leistung. Natürlich: Den Wert der Leistung kennt der Arzt schon, aber den Preis nicht.
Ich finde, wir müssen zu einem System kommen, bei dem die ärztliche Leistung auf der Grundlage klarer Vereinbarungen einen Preis in Mark und Pfennig hat, den der Patient und der Arzt kennen und der dem Arzt auch zusteht.
Heute sind viele ärztliche Praxen, gerade junger niedergelassener Ärzte, auf Grund des Themas Budget in einer schwierigen Situation. Wir hoffen, daß sich die Situation auf Grund des Instrumentariums, über das wir in diesen Tagen beraten, entspannen und verbessern wird. Aber ich vermute, daß wir auf dieses Thema noch einmal werden zurückkommen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste spricht Frau Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesem Jahr wird das Defizit der Krankenkassen mindestens wieder die Rekordsumme von 10 Milliarden DM erreichen. Neben den objektiven Ursachen für steigende Ausgaben schlägt vor allem auch jene Kostendynamik, die aus den unverändert bestehenden Struktur- und Steuerungsfehlern des Gesundheitswesens in Ambulanz, Krankenhaus, Arzneimittelversorgung und anderen Bereichen resultiert, wieder voll durch und prägt erneut die Situation der gesetzlichen Krankenversicherungen.
Im Gesundheitswesen selbst nehmen Unsicherheit, Wirrwarr und zum Teil chaotische Verteilungskämpfe zu. Die Arzneimittelbudgets werden 1996 in fast allen KV-Bezirken deutlich überschritten. Das ist weder einfach den Ärzten noch den Krankenkassen geschuldet, sondern in erster Linie Ergebnis der sattsam bekannten Mißstände auf diesem Gebiet. Wenn sich niedergelassene Ärzte dazu veranlaßt sehen, die Zahl bestimmter Leistungen von einem Quartal zum anderen in fachlich nicht mehr nachvollziehbarer Weise um ein Vielfaches zu erhöhen, dann ist das Ausdruck eines Honorarverteilungskampfes, der auch für die Patienten immer bedrohlichere Züge annimmt.
Sinnvolle Lösungen für die Vergütungsproblematik aber sind nach wie vor nicht in Sicht. Die Krankenhäuser, die ebenfalls immer noch kein brauchbares Finanzierungssystem haben, stöhnen unter einer völlig undifferenzierten Budgetierung. Sie sehen sich in sinnwidriger Weise erneut dazu gezwungen, an dem zu sparen, was eigentlich das Wichtigste für das Funktionieren eines guten Krankenhauses ist: an der pflegenden Hand der Schwester und an Ärzten, die Zeit zur Zuwendung für die Patienten haben.
Massive Frustration und zunehmende Proteste der Betroffenen gehören heute zur Bilanz der Regierung seit dem Gesundheitsstrukturgesetz. Dabei, Herr Minister, haben Sie bekanntlich 1992 nicht ohne Fortune begonnen. Inzwischen ist klar: Sie haben damals zwar die Chance, zu einer Strukturreform zu kommen, mit rascher Hand ergriffen. Aber die ernsthafte Einsicht, daß dies der wichtigste Schritt zur Erhaltung der Vorzüge einer solidarischen Krankenversicherung und zur Konsolidierung ihrer Finanzen war und ist, und die daraus resultierende Standfestigkeit hatten Sie nicht.
Heute haben Sie sich weit von Ihrem eigenen Ansatz entfernt. Deshalb können die Zeitungen Ihnen auch reihenweise Zitate vorhalten, die Sie nun zwangsläufig nach dem Motto behandeln müssen: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? - Mit anderen Worten: Diese Regierung hat die Möglichkeit, das zu tun, was im Gesundheitswesen am dringlichsten ist, nämlich zu einer Korrektur falscher Anreize und Strukturen zu kommen, unwiderruflich verschenkt. Beitragssatzerhöhungen als ein Weg, über den die Krankenkassen bisher letztlich ihre Defizite ausgleichen konnten, verbieten sich heute mit Recht, wenn vorher nicht wirklich alle Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft wurden. Unter diesen Umständen bleibt für den, der die Chance der echten Reform verspielt hat, tatsächlich nur noch der Ausweg, die Versicherten und Patienten weiter und noch drastischer als bisher finanziell zu belasten.
In dieser Situation läßt die Koalition nun den Vorhang aus Taktik und Finessen fallen und bekennt sich erstmals offen zu dem, was sie verdeckt schon lange im Visier hat: zu einer - wie sie selbst es nennt - Richtungsentscheidung im Gesundheitswesen. Allerdings heißt diese neue Richtung weniger Staat und mehr Markt, also Neoliberalismus in diesem klassischen Bereich unverzichtbarer sozialstaatlicher Verantwortung. Ungeachtet aller Warnungen und ungeachtet aller abschreckenden amerikanischen Erfahrungen sollen nun Markt und Konkurrenz auch hierzulande das Gesundheitswesen bestimmen. Dabei ist seit langem bekannt: In dem Maße, in dem Marktkräfte in diesem Bereich vorankommen, verschwindet das soziale Element. Die ersten Anzeichen einer solchen Entwicklung, zum Beispiel in Form von Versuchen zur Risikoselektion, werden heute bereits sichtbar. Die hier zur Debatte stehenden Gesetze zur Fortführung der sogenannten dritten Stufe der Gesundheitsreform sollen den Absichten der Koalition nun auch das erforderliche rechtliche Fundament geben.
Da Sie eine Stärkung der Solidargemeinschaft und die damit verbundenen Einnahmeverbesserungen von vorneherein ablehnen, besteht die Grundidee Ihrer Gesetze darin, Beitragserhöhungen dadurch zu erschweren, daß sie automatisch mit steigenden Zuzahlungen und sofortigem Kündigungsrecht der Versicherten gekoppelt werden. So soll den Kassen zur
Dr. Ruth Fuchs
Bewältigung ihrer Finanznot letztlich nur der Weg der Leistungsausgrenzung und Zuzahlungserhöhung offenbleiben - dies allerdings künftig in eigener Entscheidung. Auf diese Weise würden die Kassen selbst zum Ausführungsorgan einer zunehmend unsolidarischen Gesundheitspolitik. Das wäre die vollkommene Perversion des Grundgedankens, unter dem sie einmal ins Leben gerufen wurden.
Dazu wird der bisherige, vom Gesetzgeber bestimmte einheitliche Leistungskatalog deutlich reduziert und in wichtigen Teilen in das Ermessen der einzelnen Kassen gestellt. Häusliche Krankenpflege, Kuren und Rehabilitationen, Heilmittel und Fahrkosten werden zwar weiterhin paritätisch finanziert, können aber als sogenannte Gestaltungsleistungen von den Kassen nach Art und Inhalt verändert werden. Das heißt, daß sie eingeschränkt oder sogar gestrichen werden können.
Andere Leistungen, beispielsweise die Gesundheitsförderung sowie Heilmittel wie Bandagen oder Einlagen, können die Kassen zwar per Satzung weiterhin übernehmen, ihre Finanzierung aber muß - ohne die Arbeitgeber - allein von der Versichertengemeinschaft getragen werden.
Im Risikostrukturausgleich finden Gestaltungs-
und Satzungsleistungen sinnigerweise keine Berücksichtigung, was die Kassen bei entsprechender Finanznot dazu drängen wird, zuerst diese Leistungen aufzugeben.
Nachdem mit dem Beitragsentlastungsgesetz die Zahnprothetik für die junge Generation ganz gestrichen worden ist, folgen nun weitere massive Abstriche bei der sozialen Qualität der Versorgung mit Zahnersatz. Die bisherigen prozentualen Zuschüsse der Kassen werden durch Festzuschüsse, also lediglich durch eine Minderversorgung, ersetzt. Alles andere, das heißt Umfang und Preis der Leistung, muß der Patient künftig mit dem Zahnarzt aushandeln. Damit wird es künftig nur noch der Geldbeutel des einzelnen sein, von dem die Qualität der prothetischen Versorgung abhängt.
Gleichzeitig werden die Patienten damit sehr nachhaltig an das Funktionieren von Regel- und Wahlleistungen gewöhnt.
Die zugleich neu geschaffene Option, daß die Versicherten generell von der medizinischen Sachleistung zur Kostenerstattung übergehen können, wird nebenbei auch im ärztlichen Sektor die Möglichkeit schaffen, die Patienten schrittweise an ein System von billigen Pflicht- und teureren Wahlleistungen heranzuführen. Mit Selbstbehalten im Rahmen der Kostenerstattung sowie Beitragsrückzahlung werden weitere Elemente einer Privatversicherung in die sozialen Krankenversicherungen eingeführt. Gemeinsam mit den vorgesehenen Zuzahlungserhöhungen führt auch das zur weiteren Untergrabung der paritätischen Finanzierung und des Solidargedankens insgesamt.
Wie man es auch dreht und wendet: Immer bewirken diese gesetzlichen Vorhaben, daß eine zunehmende Zahl von Leistungen, die bisher Bestandteil des Pflichtkatalogs waren, künftig ganz oder teilweise privat bezahlt werden müssen und somit für viele Menschen nicht mehr erschwinglich sein werden.
Fazit: Diese Gesundheitsreform zielt auf einen grundsätzlichen Systemwechsel ab. Im Ergebnis wird das Gesundheitswesen noch bürokratischer und noch teurer werden. Besonders schlimm ist, daß vor allem diejenigen, die der medizinischen Versorgung am meisten bedürfen, chronisch Kranke, ältere und behinderte Menschen, die schlechtesten Chancen haben werden, diese Hilfen in ausreichendem Maße oder überhaupt zu erhalten.
Auf der anderen Seite werden sich die Umsatz- und Gewinnchancen der Pharmaindustrie und der Hersteller von medizinischen Geräten trotz knapper Solidarkassen sogar noch erhöhen. Andere, zum Bespiel die Anbieter von Heil- und Hilfsmitteln, Logopäden, Physio- und Ergotherapeuten oder ambulante Pflegekräfte, die keine so starke politische Lobby haben, werden dagegen in den Regen gestellt.
Für die Bevölkerung dieses Landes aber endet mit diesen Gesetzen die Ara einer sozialen Krankenversorgung, die im großen und ganzen jeder und jedem nach medizinischem Bedarf zur Verfügung gestanden hat. Damit wird wieder ein Stück schon einmal erreichten zivilgesellschaftlichen Fortschritts und erkämpfter Humanität zu Grabe getragen.
Die uns heute von den Koalitionsparteien vorgelegten Gesetzentwürfe lehnen wir ab.
Der Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen findet unsere volle Zustimmung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rudi Dreßler hat schon sehr heftig in die Tasten gegriffen.
Ich erinnere mich noch sehr gut - mein Gedächtnis ist nicht so kurz; es ist kein dreiviertel Jahr her - an die Beratung des Entwurfs des Bundessozialhilfegesetzes. Er hat damals von einem Anschlag auf das System, von der Ausbeutung der Armen und dergleichen mehr gesprochen. Dann hat es aber kein halbes
Ulf Fink
Jahr gedauert, bis er diesem Gesetzentwurf selbst zugestimmt hat. Genauso war es.
Der 16. November ist ein Tag, der in die Geschichte der SPD eingegangen ist. Es ist fast genau ein Jahr her, daß die SPD auf ihrem Parteitag Herrn Scharping als Vorsitzenden gestürzt hat - jemanden, der zwei Jahre zuvor noch als Hoffnungsträger angesehen worden ist. So anständig gehen Sie mit Ihren Leuten um. Das muß ich einmal sagen.
Der Bundesgesundheitsminister versucht, unter den gegebenen - zugegebenermaßen schwierigen - Umständen, die nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat zurückzuführen sind, ein freiheitliches und leistungsfähiges Gesundheitswesen bezahlbar zu halten. An diesem Versuch ist nichts zu kritisieren.
Zu kritisieren ist aber, daß der von der SPD dominierte Bundesrat jede vernünftige Zusammenarbeit verweigert.
Wir müßten über diesen Gesetzentwurf heute gar nicht debattieren, wenn der Bundesrat den ursprünglichen Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, nicht abgelehnt hätte.
Wir hatten vorgeschlagen, daß eine Beitragssatzanhebung bei den Kassen nur mit einer Dreiviertelmehrheit beschlossen werden darf. Das war doch eine vernünftige Regelung.
Sie haben sie abgelehnt. Nur aus diesem Grund müssen wir uns heute überhaupt mit dem sogenannten Handicap-Modell, also der Kopplung von Beitragssatzerhöhung und Selbstbeteiligung, beschäftigen. Das ist doch die Wahrheit!
Daß Sie diese Regelung jetzt kritisieren, nenne ich schlicht scheinheilig.
Wir könnten das heute noch machen. Aber ich sehe bei Ihnen weit und breit niemanden, der die Kraft hätte, bei Ihnen das Ruder herumzureißen.
Was soll ein verantwortlicher Bundesgesundheitsminister angesichts der Tatsache unternehmen, daß in den Krankenhäusern der Kalk von den Wänden rieselt, weil niemand die Instandhaltungskosten mehr bezahlt?
In diesem Fall muß der Bundesgesundheitsminister, ungeachtet aller Finanzierungsprobleme, zuerst darauf achten, daß dieser Zustand beendet wird. Das schuldet er seinem Amtseid.
Wir alle, auch Sie von der Opposition, wissen doch, daß der richtige Weg wäre, die Länder würden aus Steuermitteln die Instandhaltungskosten bezahlen.
Mit Ausnahme von Bayern - die Kollegin Kors hat es eben gesagt - erfüllt kein Bundesland diese Verpflichtung. Kein einziges von der SPD regiertes Bundesland ist bereit, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Wenn Sie, Rudi Dreßler, schon Klartext reden, dann muß ich fragen: Warum kommt NordrheinWestfalen seiner Verpflichtung nicht nach? Herr Wodarg, warum kommt Schleswig-Holstein seiner Verpflichtung nicht nach? Rheinland-Pfalz - Herr Scharping ist im Moment nicht hier - kommt seiner Verpflichtung nicht nach. Hessen kommt seiner Verpflichtung nicht nach.
Zu den Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen möchte ich sagen: Auch Sie tragen in einer Reihe dieser Bundesländer Mitverantwortung. Aber Sie sind keinen Deut besser.
Kein einziges Land, in dem Sie Mitverantwortung tragen, ist bereit, sich dieser Verpflichtung zu unterwerfen.
Aus diesen Gründen ist es deshalb nicht glaubwürdig, den Bundesgesundheitsminister zu kritisieren, nur weil er zuerst an die Patienten und die Krankenhäuser und erst dann an die „Reinheit der Finanzierungsprinzipien" denkt.
Eine Tatsache ist unbestritten: Die Sozialausgaben können nicht mehr so wachsen wie in der Vergangenheit. Was sind dann die Alternativen? - Wenn man bei der gesetzlichen Krankenversicherung nicht spart, müßte man bei der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung oder der Pflegeversicherung sparen. Ich frage Sie ernsthaft: Wollen Sie die Renten kürzen? - Wir wollen das nicht. Wollen Sie das Arbeitslosengeld kürzen? - Wir wollen das nicht. Wollen Sie die Pflegeleistungen kürzen? - Wir wollen das nicht.
Wenn man sich diese Alternativen vor Augen hält, dann kommt man an einer Kostendämpfung im
Ulf Fink
Krankenversicherungswesen und auch an einer maßvollen Selbstbeteiligung überhaupt nicht vorbei.
Durch die Sozialklausel wird dafür gesorgt, daß derjenige, der wenig Einkommen hat, überhaupt keine Selbstbeteiligung bezahlen muß.
Wer als Alleinstehender weniger als 1 650 DM verdient, braucht keinen Pfennig zuzuzahlen.
Wer unter 6 000 DM im Monat verdient, braucht nicht mehr als 2 Prozent seines gesamten Einkommens zu bezahlen.
Wir haben in diesem Gesetz auch dafür gesorgt, daß dieser Anteil für chronisch Kranke auf 1 Prozent gesenkt wird. Ich nenne das einen Fortschritt und keinen Rückschritt.
Da werden von Rudi Dreßler Horrorzahlen von Beitragssteigerungen von mehr als 2 Prozent in die Welt gesetzt. Er verschweigt dabei völlig, daß die Versicherten, die das nicht mitmachen wollen, das Recht haben, die Kasse dann zu verlassen.
Er hat natürlich immer das Berliner Beispiel erwähnt, wissend, daß das kein Problem ist, das auf diese Art und Weise gelöst werden kann, sondern nur durch eine gezielte Finanzhilfe zugunsten der Berliner Ortskrankenkasse. Darum bemühen wir uns. Da könnten Sie mithelfen, statt hier solche Zahlen in die Welt zu setzen.
Wenn man sich einmal die Gesamtrelationen vor Augen hält, dann kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis. Hätten wir das, was heute vorliegt, schon in Lahnstein beschlossen, was wäre dann geschehen? Ich kann Ihnen einmal die durchschnittlichen Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung vorlesen: 1993 13,42 Prozent; 1994 13,35 Prozent; 1995 13,18 Prozent; 1996 13,46 Prozent. Das heißt also, wäre damals das heutige Gesetz in Kraft gesetzt worden, hätte es keinen einzigen Pfennig mehr an Selbstbeteiligung gegeben. Das ist doch die Wahrheit, und das sollten Sie den Menschen sagen.
Es gibt Rationalisierungsreserven im deutschen Gesundheitswesen; das ist doch ganz unbestritten. Es ist auch meine Ansicht, daß es die vornehmste
Aufgabe der Politik ist, zuerst die Rationalisierungsreserven in Anspruch zu nehmen,
bevor Beiträge unter Selbstbeteiligung erhöht werden. Das bleibt die vornehmste Pflicht der Politik.
In den letzten Jahren hat sich die Gesundheitspolitik ausschließlich diesem Ziel gewidmet. Aber in den vergangenen Jahren sind auch die Grenzen dieses Weges deutlich geworden. Mit globaler Budgetierung haben wir in der Vergangenheit das erreicht, was mit diesem Mittel zu erreichen ist. Sehr viel mehr ist mit diesem Mittel nicht drin. Wenn man mehr erreichen will, dann braucht man andere Mittel. Diese Mittel wirken nicht kurzfristig.
Zum Beispiel das Krankenhauswesen: Mit 80 Milliarden DM ist das der gewichtigste und teuerste Bereich unseres gesamten Gesundheitswesens. Eine bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung
hilft aber nur, wenn man bereit ist, dann auch den überbordenden stationären Sektor zurückzunehmen. Man muß also bereit sein, Krankenhäuser zu schließen.
An dieser unangenehmen Wahrheit kommt keiner vorbei.
Wer hat denn die Verantwortung für die Krankenhäuser? Es sind wiederum die von Ihnen regierten Länder, die an dieser Stelle bisher keine Bereitschaft gezeigt haben.
Wenn es ernst wird, ist von Ihnen weit und breit nichts zu sehen.
Dabei wissen Sie ganz genau: Im Gesundheitswesen gilt das Saysche Gesetz, nach dem sich jedes Angebot seine Nachfrage schafft. Sie können noch so viele Krankenhäuser haben, sie sind immer gefüllt. Ohne Veränderung des Angebotes geht es nicht.
- Ich habe damals Krankenhäuser geschlossen. Ich habe den politischen Mut aufgebracht. Ich habe in Berlin eine ganze Universitätsklinik geschlossen. Den Mut müssen Sie erst einmal aufbringen.
Herr Fink, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pfaff?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Fink, ist Ihnen bekannt, daß das deutsche Krankenhaus, gemessen an den Ausgaben pro Kopf oder auch am Volkseinkommen, in keiner Weise überbordend ist, sondern daß es eigentlich als letztes Auffangbecken für viele ungelöste Probleme der Gesellschaft dienen muß und daß zum zweiten die von Ihnen gegeißelten Länder durch Gerichtsurteil hinsichtlich der Instandhaltungskosten eine klare Weisung bekommen haben, daß dies nicht Aufgabe der Länderfinanzierung ist?
Ich frage mich wirklich, Herr Kollege Fink, wie Sie hier für solche Dinge als ein Sozialpolitiker mit einem Namen noch im Brustton der Überzeugung auftreten können. Das ist wirklich etwas, das ich nur schwer verstehen kann.
Wenn es so wäre, daß die Länder die Instandhaltungskosten durch Gerichtsurteil nicht bezahlen dürften,
dann frage ich Sie verzweifelt: Wieso kann denn Bayern sie bezahlen? Es kann sie doch bezahlen. Das kann offenbar nicht stimmen.
Zum anderen Thema. Auch Sie wissen - wir haben uns darüber öfter unterhalten -: Natürlich muß der ambulante Bereich gestärkt werden, wenn man den stationären Bereich zurücknimmt. Das ist doch ganz selbstverständlich. Daß wir in der Bundesrepublik Deutschland etwa 40 000 bis 50 000 Krankenhausbetten zuviel haben, kann doch auch von Ihnen nicht ernsthaft bestritten werden.
Weil wir wußten, daß es den verantwortlichen Politikern in den Ländern sehr schwerfällt, Krankenhäuser zu schließen - das ist eine unangenehme Aufgabe -, haben wir in unserem ursprünglichen Gesetzentwurf vorgeschlagen, daß die Krankenkassen als Financiers ein echtes Mitbestimmungsrecht erhalten, was Zahl und Struktur der Krankenhäuser angeht. Ich frage Sie: Wer hat denn diesen Vorschlag abgelehnt? Wiederum der Bundesrat mit SPD-regierter Mehrheit.
Was wollen Sie denn nun eigentlich? Wollen Sie die
Wirtschaftlichkeitsreserven des Gesundheitswesens
nutzen, oder wollen Sie dies nicht? Nur zu allem nein zu sagen hilft dem Gesundheitswesen nicht und schon gar nicht den Beitragszahlern.
Ich könnte Ihnen hier noch eine ganze Menge zur Ausbildung von Ärzten sagen. 10 000 pro Jahr werden ausgebildet. Ginge es nicht vielleicht auch mit 5 000 oder 6 000? Diese Frage richtet sich wiederum an die Landeskultusminister, die dafür die Verantwortung tragen. Ich könnte Ihnen noch sehr viel mehr zu diesem Thema sagen.
Zum Thema Arzneimittelbudget: Wir müssen dafür sorgen, daß die Probleme, die in 1995 und 1996 entstanden sind, nicht zu Lasten des einzelnen Hausoder Kinderarztes ausgetragen werden. Deshalb begrüße ich es sehr, daß die Überschreitungen in den kommenden Jahren ausgeglichen werden können, damit kein niedergelassener Arzt um seine Existenz fürchten muß. Das begrüße ich ausdrücklich.
Hinsichtlich des Gesamtthemas muß man sich aber folgendes fragen: Ist es denn wirklich so, daß in der Bundesrepublik Deutschland zuwenig Medikamente verordnet werden? Man hat fast den Eindruck, daß das das eigentliche Problem ist. Wir wissen doch: Die Weltmeister im Schlucken von Medikamenten sind die Deutschen. Pro Jahr werden nicht genutzte Arzneimittel in einem Wert von über 3 Milliarden DM weggeworfen. Das ist das Thema in Deutschland!
Herr Fink, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Pfaff?
Ja.
Verehrter Herr Kollege Fink, es ist zwar nicht ganz richtig, was Sie sagten;
die Nachbarländer konsumieren pro Kopf sehr viel mehr Arzneimittel. Das ist aber nicht der Punkt. Unterstellen wir einmal, daß Ihre Analyse richtig wäre, daß die Ursachen der Ausgabenexpansion - die Analyse, die Sie hierzu vorgetragen haben, ist ja nicht falsch - in den Überkapazitäten im ambulanten und vor allem im stationären Bereich - vielleicht sollte man noch hinzufügen: in den fehlsteuernden Anreizen der Finanzierung - liegen. Wenn das Ihre Analyse ist, dann frage ich Sie aber: Wie kommen Sie dann auf die Therapie, dieses System über Erhöhungen der Zuzahlungen, Kostenerstattungen und Beitragsrückerstattungen finanzieren zu wollen?
Dr. Martin Pfaff
Das ist doch völlig abwegig. Diagnose falsch, Therapie noch fälscher - das ist das Problem dieses Gesetzes.
Ich sage dazu: Bei jeder Politik müssen Sie einen Policy-Mix vornehmen. Das wissen Sie genausogut wie ich. Wenn Sie wirklich bereit wären, diesen Erkenntnissen Konsequenzen folgen zu lassen, dann wäre es Ihre vornehmste Pflicht, auf die von Ihnen regierten Länder einzuwirken, endlich bereit zu sein, nicht länger einen Obstruktionskurs zu fahren. Das müßten Sie machen.
Wir müßten über Gestaltungsleistungen und ähnliches hier nicht groß sprechen, wenn Sie in den Ländern Ihre Pflicht wirklich tun würden.
Ich wiederhole, was die Kollegin Eva-Maria Kors vorhin gesagt hat: Es wird mit uns keine Leistungsausgrenzung der häuslichen Krankenpflege für chronisch Kranke und Behinderte geben. Es wäre auch wirklich merkwürdig. Heiner Geißler war es gewesen, der in den 70er und 80er Jahren dafür gesorgt hat, daß wir von der Orientierung lediglich auf das Krankenhaus weggekommen sind und statt dessen der häuslichen Krankenpflege einen großen Stellenwert eingeräumt haben.
Wir waren es doch, die die Sozialstation erfunden haben. Rheinland-Pfalz war das erste Land, das sie eingeführt hat. Da haben Sie doch nur von Krankenhäusern und ähnlichem geträumt! Glauben Sie denn, wir ließen es zu, daß dieses wichtige Instrument etwa dadurch entfiele, daß bestimmte Krankenkassen sagen, wir wollen das Leistungsausgleichssystem? Das ist doch mit uns überhaupt nicht zu machen.
Das ist doch ein infamer Vorwurf von Ihnen. Das lassen wir nie mit uns machen! Es ist doch unmöglich, so etwas zu sagen.
Nein, wir müssen in der Gesundheitspolitik den Weg finden zwischen einem lediglich marktwirtschaftlich orientierten System, wie er in den Vereinigten Staaten von Amerika gegangen wird - das im übrigen sehr teuer ist, viel teurer als unseres -, und einem staatlichen Warteschlangensystem à la Großbritannien. Zwischen diesen beiden Extremen müssen wir durch.
Unser Weg ist ein schwieriger Weg, aber er ist ein notwendiger Weg. Wir werden ihn nicht ohne die Selbstverwaltung und auch nicht ohne ein gegliedertes System von Krankenkassen gehen können. Und da haben auch und gerade die vielgescholtenen Ortskrankenkassen ihren Platz; denn als regionale Kassen haben sie einen sehr unmittelbaren Bezug zu den Problemen der Versicherten. Das ist Subsidiarität. Wir brauchen nicht nur bundesweit operierende Kassen. Dazu gehört auch - das ist meine Überzeugung - die paritätische Finanzierung, weil sie in dem Punkt eine Interessenidentität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern offenbart. Das ist ein wichtiger Bestandteil des sozialpartnerschaftlichen Modells der Bundesrepublik Deutschland.
Wir werden diesen Weg trotz aller Kritik gehen; denn es ist ein vernünftiger Weg.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fink, nun muß ich Sie eigentlich gleich zu Beginn fragen
- fragen! -: Sie haben hier einen Gesetzentwurf eingebracht, den Entwurf eines zweiten ,,GKV-Notordnungsgesetzes",
und da steht drin „Gestaltungsmöglichkeiten im Satzungsrecht, unter anderem häusliche Krankenpflege". Dann heißt es:
Beitragssatzanhebungen, die aufgrund von höheren Aufwendungen für diese Gestaltungsleistungen erforderlich werden, sind ausgeschlossen.
Nun frage ich Sie: Gilt eigentlich das, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf drin haben, oder kündigen Sie hier schon wieder einen anderen Gesetzentwurf an?
Das wollen wir hier einmal festhalten.
Das gilt genauso für den Herrn Kollegen Fink wie auch für Sie, Herr Kollege Möllemann: Alles Reden und Debattieren über die Notwendigkeiten von angeblich sinnvollen Einsparungen in der gesetzlichen Krankenversicherung kann nicht vertuschen, daß es Ihnen an Gestaltungskraft und am Willen zu Reformen fehlt!
Es ist nichts anderes als semantische Sprachverdrehung, was Sie als „Versichertenrechte erweitern" oder als „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" bezeichnen. Das Gegenteil ist nämlich richtig.
Sie provozieren auf eine unglaublich perfide Art und Weise,
Klaus Kirschner
daß kranken Menschen in Zukunft - hören Sie doch zu! - medizinisch notwendige Leistungen vorenthalten werden.
Das trifft vor allem die Alten, die unsere Republik aufgebaut haben. Auf deren Rücken wollen Sie die Beiträge senken, indem Sie die Zuzahlungen erhöhen und notwendige medizinische Leistungen zur Disposition stellen. Das steht in Ihrem Gesetzentwurf drin.
Sie begründen Ihre Leistungsstreichungen und höhere Zuzahlungen unter anderem damit, daß „steigende Beitragssätze die Abgabenbelastungen der Arbeitnehmer erhöhen und damit die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte verringern". Hier steht es wortwörtlich drin.
Meine Damen und Herren, das zu schreiben müßte Ihnen doch die Schamröte ins Gesicht treiben. Wer regiert denn dieses Land seit 14 Jahren?
Sie sind es doch selbst, die diese Abgabenlast zu verantworten haben, und nicht irgendein Anonymus.
Ihre Politik der Umverteilung des Volkseinkommens - hören Sie genau zu, Herr Kollege Möllemann
- dann soll er es bleiben lassen -
zu Lasten des Lohnanteils und Ihr Versagen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat doch die Beitragssätze in die Höhe getrieben.
Hätten wir heute noch den gleichen Lohnanteil am Volkseinkommen wie 1982, zu dem Zeitpunkt, als Kohl zum ersten Mal zum Kanzler gewählt wurde, würde der Beitragssatz - hören Sie genau zu! - der gesetzlichen Krankenversicherung statt bei durchschnittlich 13,4 bei 12 Prozent liegen.
Sie brauchen mir das ja alles nicht zu glauben. Sie können es im „Statistischen Taschenbuch" des Bundesgesundheitsministers nachlesen. Dort steht schwarz auf weiß: Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sind, in Prozent des Bruttosozialproduktes gemessen, nicht gestiegen, sondern verharren bei 6 Prozent. Das ist doch die Ursache der Beitragssatzsteigerung. Das heißt, die von Ihnen beklagte Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist eine Erfindung der Politik. Lassen Sie mich deutlich hinzufügen: Die Beitragsexplosion ist allerdings das Ergebnis Ihrer Politik.
Wenn Sie nun noch den Arbeitgeberbeitragssatz festschreiben wollen, laden Sie die Folgen Ihrer Politik ausschließlich bei den beitragszahlenden Versicherten ab. Das heißt, die Arbeitnehmer zahlen für Ihre Politik mehrmals: mit einem Rückgang des Anteils am Volkseinkommen, mit höheren Beitragssätzen, mit höherer Selbstbeteiligung und zum vierten mit Leistungsausgrenzungen bei Krankheit.
Herr Kirschner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gleich, Herr Kollege Zöller.
Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen - das ist mir wichtig -: Nehmen wir einmal einen Arbeitnehmer mit 4 000 DM Bruttogehalt. Der Beitragssatz seiner Kasse liegt bei 13 Prozent. Sein Arbeitnehmeranteil beträgt damit 260 DM. Wenn Sie nun den Arbeitgeberbeitragssatz einfrieren und gleichzeitig die Kasse den Beitragssatz um einen Prozentpunkt erhöhen muß, bedeutet dieses für den Arbeitnehmer monatlich 40 DM an Stelle von sonst 20 DM mehr.
Das heißt, er zahlt plötzlich 300 DM Beitrag monatlich. Gleichzeitig - das ist doch der von Ihnen eingebaute Mechanismus - steigt die Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln um 10 DM; das wären 18 DM beim teuersten Arzneimittel.
Wenn er für 14 Tage ins Krankenhaus muß, steigt die Zuzahlung um 140 DM zusätzlich; wenn er eine Reha-Kur antritt - falls es die dann überhaupt noch gibt -, steigt die Zuzahlung von 525 DM auf 735 DM. Das sind die Folgen des Mechanismus, den Sie in dieses Gesetz hineinschreiben, und der von Ihnen geplanten Festschreibung des Arbeitgeberbeitragssatzes.
- Sie müssen Ihren eigenen Gesetzentwurf lesen, Herr Kollege Hornung.
Jetzt hat Herr Kollege Zöller das Wort.
Herr Kollege Kirschner, Sie haben vorhin in Ihren Ausführungen den Anschein erweckt, als wäre das ganze Finanzierungsproblem ein Problem der Einnahmen, und haben es mit der sinkenden Lohnquote begründet. Können Sie mir bestätigen, daß dies überhaupt nicht der Fall sein kann? Es spricht nämlich folgende Zahl dagegen: 1991 haben die Krankenkassen 180 Milliarden DM eingenommen und 1995 - man höre und staune! -256 Milliarden DM. Sie haben also 42 Prozent mehr
Wolfgang Zöller
eingenommen. Das kann also nicht das Problem sein. Stimmen Sie den Zahlen zu?
Verehrter Herr Kollege Zöller, ich denke, Sie haben mir nicht zugehört. Ich habe wortwörtlich gesagt: Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist eine Erfindung der Politik. Außerdem habe ich gesagt: Die Tatsache der Beitragsexplosion ist ein Ergebnis Ihrer Politik, deren Ursache darin liegt, daß ein Rückgang des Lohnanteils am Volkseinkommen zu verzeichnen ist. Die Beitragssätze orientieren sich aber an den Löhnen. Bei gleicher Sozialleistungsquote, in diesem Fall der gesetzlichen Krankenversicherung - das verzeichnen wir seit 14 Jahren -, bedeutet ein Rückgang des Lohnanteils eine automatische Steigerung der Beitragssätze. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fink?
Ja, bitte.
Herr Kirschner, ich zitiere aus dem „Statistischen Taschenbuch 1996" des Bundesarbeitsministeriums. Könnten Sie mir die Zahlen bestätigen, wonach die Lohnquote im Jahr 1960 bei 60 Prozent, im Jahr 1980 bei 75,8 Prozent, im Jahr 1990 bei 69,6 Prozent und im Jahr 1995 bei 71,6 Prozent lag?
Nein, ich beziehe mich auf dieselben Statistiken wie der Kollege Fink, sowohl auf die Statistik des Bundesarbeitsministers als auch auf die des Bundesgesundheitsministers. Es stehen ja in diesen Statistiken sehr viele vernünftige Dinge.
Ich sage nicht, daß die Politik vernünftig ist; ich sage nur, daß das, was in der Statistik steht, vernünftig ist. Wir dürfen beides nicht miteinander verwechseln.
Tatsache ist, daß seit 1982 der Lohnanteil am Volkseinkommen um über fünf Prozent zurückgegangen ist.
Herr Kollege Fink, Sie können hier so lange, wie Sie wollen, aus der Statistik zitieren: An dieser Tatsache kommen auch Sie nicht vorbei.
Herr Kirschner, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fink?
Nein. Ich möchte, daß sich der Kollege Fink wieder setzen und sich so erholen kann.
Ich will mit der Aufzählung dessen fortfahren, was Sie da alles planen. Denn das I-Pünktchen Ihrer Unfähigkeit, die soziale Krankenversicherung mit echten Reformen weiterzuentwickeln, ist Ihr sogenanntes Notopfer Krankenhäuser.
Gab es vor Jahrzehnten das Notopfer Berlin, soll nun dieses Notopfer folgen. Herzlichen Glückwunsch kann ich dazu nur sagen.
Jetzt fehlt nur noch die blaue Sonderbriefmarke, die Sie dafür herausgeben.
Sie sollten diese Idee noch ausbauen. Ich schlage Ihnen beispielsweise vor, im Winter von den Krankenhauspatienten ein Notopfer Heizungskosten in Form von direkten Energiezuzahlungen oder mit einer Ölkanne pro Tag Krankenhausaufenthalt in Form von Sachleistungen erbringen zu lassen.
Weiter wäre daran zu denken, daß die Patienten ein Notopfer Essenskosten erbringen. Hier wäre vorstellbar, daß die Patienten oder die Angehörigen das Essen in dem berühmten Henkelmann mitbringen.
Da dieser sicherlich nicht mehr in ausreichender Zahl in den Haushalten vorhanden ist, hätte dies den Vorteil, daß damit ein zusätzlicher Beschäftigungs- und Innovationsschub ausgelöst würde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der gesundheitspolitische Unsinn, den Sie hier vertreten, ruft bei mir - bitte entschuldigen Sie - nur noch bitteren Sarkasmus - anders kann ich das nicht ausdrükken - und eine breite Front der Ablehnung hervor. Was der Bundesgesundheitsminister sprachlich vermittelt - daß für Außenstehende die tatsächlichen Auswirkungen jeder einzelnen Maßnahme auf den ersten Blick gar nicht erkennbar sind -, sind in Wirklichkeit drastische Einschnitte bei medizinisch notwendigen Leistungen. Sie nennen das „Gestaltungsfreiheit der Krankenkassen". In Wirklichkeit
Klaus Kirschner
treiben Sie ein perfides Spiel: Sie lassen den Krankenkassen nur die Freiheit, zu Lasten kranker Menschen Leistungen aus dem Leistungskatalog zu streichen oder die Zuzahlungen weiter zu erhöhen. Denn das Milliardendefizit der gesetzlichen Krankenversicherung haben Sie zu einem erheblichen Teil herbeigeführt.
Man braucht auch hier kein Prophet zu sein, um zu erkennen, daß häusliche Krankenpflege, Kuren- und Reha-Leistungen, Fahrtkosten, Sprachheilbehandlung, Ergotherapie, Krankengymnastik usw. schon bald auf Grund Ihrer Politik aus dem Leistungsspektrum verschwinden werden.
Es handelt sich doch um eine Schrittvariation, die Sie hier machen.
Erstens. Die Gestaltungsleistungen müssen vollständig abgebaut werden - es steht doch in Ihrem Gesetzentwurf -, wenn die Beiträge deswegen erhöht werden müssen. Das steht in Ihrem Gesetzentwurf. Behaupten Sie doch nicht etwas anderes, was gar nicht im Gesetzentwurf steht!
Hierzu eine Anmerkung: Die Mehrzahl der Krankenkassen hat heute bereits eine Beitragsunterdeckung. Beitragssatzerhöhungen sind also im Regelfall unausweichlich, zumal ja auch noch der Beitragssatz zum 1. Januar 1997 - so sieht es Ihr Gesetz vor - um 0,4 Beitragssatzpunkte gesenkt werden muß.
Zweitens. Gestaltungsleistungen werden im Risikostrukturausgleich nicht berücksichtigt. Die Krankenkasse, die Gestaltungsleistungen anbietet, würde allein auf Grund dieser Tatsache „wirtschaftlich unverantwortlich" handeln.
Drittens. Mit dem Instrument der Gestaltungsleistungen wird eine Auswahl über Angebotsstrukturen stattfinden. Das Motto lautet also zukünftig: Wer zuerst Leistungen für chronisch Kranke streicht, der hat einen Wettbewerbsvorteil. Genau dies bauen Sie in die gesetzliche Krankenversicherung ein; Herr Möllemann hat es im übrigen vorhin auch klar und deutlich gesagt.
Das wirklich Hinterhältige an dieser Politik ist, daß eine Kasse, wenn sie im Interesse ihrer Mitglieder ihren gesundheitspolitischen Auftrag erfüllt und als Krankenversicherung sinnvolle und wirtschaftliche Leistungen in der Satzung für Risikopatienten anbietet, Angst haben muß, von weiteren Risikopatienten gewählt zu werden. In der Folge steigen die Kosten. Da die Kassen aber in einem harten Wettbewerb stehen, besteht die Gefahr, daß diese sinnvollen Leistungen aus dem Leistungskatalog gestrichen werden. Sie, Herr Seehofer, wollen offensichtlich die gesetzliche Krankenversicherung - darauf ist das angelegt - auf eine Grundversorgung reduzieren. Damit gehen Sie den Weg in die Zwei-Klassen-Medizin.
Wie bedrohlich Ihre Politik für die betroffenen kranken Menschen ist - das darf auch nicht den vielen Krankengymnasten, Logopäden, Kurfachkräften, Pflegern, ambulanten Pflegediensten usw. vorenthalten bleiben -, möchte ich mit einem Beispiel, wie es tagtäglich in der Praxis zu finden ist, verdeutlichen:
Denken Sie doch einmal an einen alten Patienten, der nach Behandlung eines Schlaganfalls aus dem Krankenhaus in seine häusliche Umgebung entlassen wird.
Auf Grund ärztlicher Verordnung erhält er häusliche Krankenpflege in Form der Grund- und Behandlungspflege sowie hauswirtschaftliche Versorgung, um einen längeren Krankenhausaufenthalt zu vermeiden.
Dieser Patient steht exemplarisch für eine Vielzahl von Patienten, die wegen der Verkürzung der Verweildauer im Krankenhaus, die wir doch alle befürworten, auf die notwendige ambulante pflegerische Versorgung angewiesen ist.
Häusliche Krankenpflege ist somit eine grundlegende Voraussetzung zur Erreichung des politischen Ziels, vollstationäre Krankenhausbehandlung zu vermeiden bzw. zu verkürzen
und dadurch Kosten zu senken.
Genau dies stellen Sie in Ihrem Gesetzentwurf zur Disposition.
Reden Sie sich doch nicht heraus! Mit Ihren Gesetzesvorschlägen provozieren Sie willkürlich die Kürzung medizinisch notwendiger Leistungen
und belasten damit den Kranken mit zusätzlichen Kosten von Hunderten von Mark. Das ist doch die Politik. die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf einleiten.
Ganz zu schweigen davon-, daß Sie die mühsam aufgebauten ambulanten Pflegedienste und Sozialstationen in den finanziellen Ruin treiben. Das ist weder im Interesse der kranken Menschen noch wirtschaftlich. Es bringt Arbeitslosigkeit für alle die Menschen, die gerne ihren Dienst am Patienten leisten.
Klaus Kirschner
Da hilft Ihnen auch nicht - damit richte ich mich besonders an den Bundesgesundheitsminister - Ihre Protokollnotiz zu dem Gesetz, im Gegenteil. Das muß man sich einmal vor Augen halten: Da rennt der Bundesgesundheitsminister durch die Lande und verkauft seine Vorschläge als Gestaltungsfreiraum der Krankenkassen. Und bei der Kabinettsbefassung erklärt er dann sinngemäß: Wenn aber die Krankenkassen diesen Gestaltungsfreiraum - der ja in Wirklichkeit ein Ausgrenzungsfreiraum ist -
nutzen würden, dann müsse er neu nachdenken.
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich eigentlich aufregen.
- Sie müssen das nachher schon nachlesen. Dann werden Sie es verstehen. Sie müssen mit beiden Ohren zuhören.
Dazu fällt mir nur ein: Hier versucht ein Brandstifter sich gleichzeitig als Feuerwehrmann.
Die Versicherten der Krankenkassen und vor allem die kranken Menschen sollten noch eines wissen: Herr Seehofer, Sie hängen am Gängelband der kleinen F.D.P. Und die muß - ich zitiere den Kollegen Möllemann -
Gesundheitspolitik wieder zu einem ihrer Schwerpunkte machen. Es geht um Freiberufler wie Zahnärzte, Ärzte und Apotheker - eine klassische Klientel der F.D.P.
Stimmt doch, Herr Kollege Möllemann?
Nein, meine Damen und Herren von der F.D.P., es geht nicht um die Befriedigung der ,,Cash-Wünsche" Ihrer Schmusepartner. Es geht um die medizinische Versorgung kranker Menschen. Sie steuern mit Ihrem Kurs voll auf amerikanische Verhältnisse zu.
Jeder weiß, daß in den USA nun wirklich die Aussage zutrifft: Wenn du arm bist, mußt du früher sterben.
Herr Kirschner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann? - Bitte.
Herr Kollege Kirschner, mir ist nicht ganz klar geworden, was Sie daran zu kritisieren haben, daß sich die F.D.P. für legitime Anliegen freier Berufe einsetzt.
Was ich daran kritisieren wollte? Lieber Herr Kollege, ich kann nachvollziehen, daß Sie dies nicht verstehen wollen, weil Sie natürlich dieser Meinung sind. Sie haben klipp und klar gesagt: Es geht Ihnen darum, die Einkünfte von Freiberuflern wie Zahnärzten, Ärzten und Apothekern - eine klassische Klientel der F.D.P. - zu Lasten der kranken Menschen zu verbessern und nichts anderes.
- Das haben Sie zwar nicht gesagt, aber es ist die Konsequenz Ihrer Politik, lieber Herr Kollege Möllemann.
- Herr Kollege Zöller, was plustern Sie sich denn so auf?
Ansonsten sind Sie doch wesentlich vernünftiger. Im Plenum erkenne ich Sie jetzt gar nicht mehr wieder. Im Ausschuß sind Sie ein völlig normaler Mensch. Hier tun Sie so, als ob. Bleiben Sie auf dem Boden!
Ich will noch einmal zum Vergleich Bundesrepublik Deutschland und USA kommen. Unser Gesundheitswesen ist leistungsfähiger als das amerikanische. Lassen Sie sich dies wirklich sagen: Wir benötigen für die flächendeckende gesundheitliche Versorgung der Gesamtbevölkerung 8,6 Prozent des Bruttosozialprodukts. In den USA sind 15 Prozent der Menschen völlig ohne Krankenversicherungsschutz. 15 Prozent haben nur einen sehr eingeschränkten Krankenversicherungsschutz. Das heißt, in den USA sind es fast 80 Millionen Menschen, die einen unzureichenden oder gar keinen Krankenversicherungsschutz haben. Dort werden 14,2 Prozent des Bruttosozialprodukts für die gesundheitliche Versorgung benötigt. Das heißt, dort sind die Kosten bei einer solchen Unterversorgung um 50 Prozent höher als in der Bundesrepublik Deutschland. Ich frage Sie: Ist das Ihr Ziel?
Lassen Sie mich noch ein Weiteres sagen. Ich will vor allen Dingen zum Bereich der Zahnmedizin kommen. Was Sie hier machen, ist, daß Sie den Schutz
Klaus Kirschner
der Versicherten vor finanzieller Überforderung an die Zahnärzte verkaufen.
Der Freie Verband der Zahnärzte und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung - da dürfen Sie sicher sein - werden Sie dafür zu Ehrenmitgliedern ernennen, daß Sie die Patientenrechte liquidieren und letzten Endes den Zahnärzten mehr Geld bringen. Um nichts anderes geht es bei dieser Politik.
Mit dieser Politik des Ausstiegs aus der Sachleistung bei der Zahnprothetik werden Sie die Geister bei dem Teil der Ärzteschaft auf den Plan rufen, der bei geringer werdenden Verteilungsspielräumen für sich ebenfalls den Ausstieg aus dem solidarisch finanzierten Sachleistungssystem fordert. Auch hier geht es letzten Endes um nichts anderes als um Geld, das die Patienten dann zusätzlich bezahlen sollen.
Ich stelle fest: CDU/CSU und F.D.P. begeben sich auf die Reise in ein anderes, für die Krankenversicherten eindeutig schlechteres, weil teureres und qualitativ minderwertiges Krankenversicherungssystem.
Dies alles geschieht, obwohl der Bundesgesundheitsminister am 4. Februar 1996 in der „Welt am Sonntag" festgestellt hat - ich zitiere -: „Wir können 25 Milliarden Mark sparen - aber wir haben versagt. " Richtig, Herr Seehofer, da kann ich Ihnen nur recht geben. Sie haben versagt. Anstatt die Rationalisierungsreserven im System, die Sie selbst aufgezeigt haben, auszuschöpfen, kassieren Sie bei den Kranken ab.
Ich will noch einmal ein Zitat von Herrn Seehofer bringen. Er sagt:
Ich kenne keine konkreten Pläne der F.D.P. Ich höre nur von den Vorstellungen, daß mehr Eigenbeteiligung der Patienten oder Differenzierung nach Regel- und Wahlleistungen der Kassen Schwerpunkte der F.D.P. sein könnten. Aber das ist der falsche Ansatz.
So stand es am 30. Juli dieses Jahres in der „Welt am Sonntag".
Der richtige Ansatz ist eine Neuordnung der sozialen Krankenversicherung aus einem Guß. Hier hat die SPD bereits im Herbst letzten Jahres ihre konkreten Vorstellungen präsentiert, mit denen erstens Geld im Versorgungssystem der sozialen Krankenversicherung eingespart werden kann, ohne - das ist das Entscheidende - medizinisch notwendige Leistungen zu streichen. Gleichzeitig wird die Versorgung der Patienten verbessert.
Die Kernpunkte unserer Vorschläge beinhalten eine globale Anbindung der Krankenkassenausgaben an die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch ein Gesamtbudget sowie eine Mobilisierung von vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven durch eine bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung, eine rationale Arzneimitteltherapie und die Stärkung hausärztlicher Versorgung. Das haben Sie abgelehnt.
Nun möchte ich noch einmal Herrn Seehofer zitieren, der am 30. Juni 1996 - da haben Sie die Katze aus dem Sack gelassen, was Ihr Gesetz betrifft - in einem „Spiegel"-Interview gesagt hat:
Anders als die F.D.P. finde ich Selbstbeteiligungen nicht erstrebenswert; wir benutzen sie nur als Druckmittel. Wenn eine Kasse ihre Beiträge erhöht, wird sie gleich doppelt unattraktiv für ihre Mitglieder ...
Meine Damen und Herren, einen solchen ruinösen Wettbewerb lehnen wir ab.
Die SPD will einen Wettbewerb um effiziente Versorgungsstrukturen, um effiziente Versorgung der Patienten. Hier fordern wir Innovation von Krankenkassen, Ärzten, Pharmaindustrie. Dazu ist bei Ihnen Fehlanzeige zu vermelden.
Unser Konzept - da unterscheiden wir uns von Ihnen - mit einem Globalbudget beinhaltet - -
- Herr Kollege Möllemann, kennen Sie nicht einmal die Gesetzentwürfe, die im Gesundheitsausschuß vorliegen?
Ich habe Verständnis, daß Sie die nicht kennen, denn Sie sind fast nie da. Das ist doch der entscheidende Punkt.
Sie sind es, die dafür verantwortlich sind, wenn Patienten bei Erhöhung der Beiträge um einen Prozentpunkt in Zukunft für ein Medikament 18 DM oder pro Krankenhaustag 22 DM oder für 14 Tage Krankenhaus 308 DM, für Fahrten zum Krankenhaus 30 DM oder bei einer stationären Reha-Kur oder Vorsorgekur, soweit sie überhaupt noch gewährt werden, 735 DM bezahlen müssen. Meine Damen und Herren, das ist die Konsequenz Ihrer Politik, und diese lehnen wir ohne Wenn und Aber ab.
Ich bedanke mich.
Ich gebe nun dem Bundesminister Horst Seehofer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist beinahe unglaublich, was täglich, auch in dieser Diskussion, an Unwahrheiten und Verzerrungen immer wieder behauptet wird. Da beschäftigt sich der Kollege Klaus Kirschner mehrere Minuten mit einem Thema, das überhaupt nicht Gegenstand der beiden vorliegenden Gesetzentwürfe ist. Er erweckt den Eindruck, die Koalition würde heute die Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags im Gesetz beschließen. Da diskutieren wir seit 120 Minuten über die Zukunft der deutschen Gesundheitspolitik, und ich habe während dieser 120 Minuten nicht in einer Minute von der Opposition gehört, wie sie sich eigentlich die Zukunft der deutschen Gesundheitspolitik vorstellt.
Herr Kollege Dreßler, Sie zitieren mich heute mehrfach völlig aus dem Zusammenhang gerissen, unter anderem mit einer Äußerung vor der Bundespressekonferenz. Ich würde das hier normalerweise nicht einführen. Ich führe es nur ein, um einmal deutlich zu machen, was Kollege Dreßler unter kollegialem Umgang versteht. Ich habe als Reflex auf die pausenlosen Kommentare und Veröffentlichungen, ich hätte gewissermaßen nur Vorstellungen übernommen, die der Koalitionspartner mir vorgelegt hätte, in der Bundespressekonferenz gesagt: Dann hatte ich sehr schöne drei Monate, das war eine Humanisierung des Erwerbslebens und wunderbar.
Ich habe mich mit dem Kollegen Dreßler anschließend im Bundestagsrestaurant getroffen und mit ihm darüber gesprochen. Er kann also nicht von einem Mißverständnis ausgehen. Er kennt die Begründung, die Intention meiner Einlassungen genau. Daß er trotzdem hier im Bundestag wieder aus dem Zusammenhang herausgerissen wider besseres Wissen den Eindruck erweckt, der Seehofer war mit der Vorlage der F.D.P. einverstanden und hat sie nur unterschrieben, ist einfach zutiefst unkollegial, Herr Kollege Dreßler.
Es wurde wieder einmal gesagt, die Krankenkassen in Deutschland leisteten immer weniger für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung. Daß wir im weltweiten Vergleich eine hohe Qualität der medizinischen Versorgung haben, ist allgemein bekannt und unbestritten. Aber ich möchte vor dem Hintergrund der Behauptungen, daß die Krankenkassen in Deutschland immer weniger für den sozialen Schutz ihrer Versicherten täten und dies angeblich politisch verursacht sei, einmal auf folgendes hinweisen. Wir haben 1991 innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland insgesamt 173 Milliarden DM für Leistungen für kranke Menschen ausgegeben. Diese Summe hat sich Ende 1995 auf 228 Milliarden DM für Leistungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung erhöht. Das sind 55 Milliarden DM mehr innerhalb von .drei Jahren oder 30 Prozent mehr Krankenversicherungsschutz für 72 Millionen Versicherte. Bei aller Strenge in der Auseinandersetzung: Nie zuvor wurde in Deutschland mehr von der Krankenversicherung für den sozialen Schutz von kranken Menschen ausgegeben als heute.
30 Prozent mehr seit 1991!
Deshalb ist das Geschreibe und Gerede, wir hätten ein marodes Gesundheitswesen, nicht richtig. Wir haben im weltweiten Maßstab die höchste Qualität, die beste Versorgungssicherheit und den umfassendsten sozialen Schutz im Falle der Krankheit. Ich möchte mit keinem Land auf dieser Erde tauschen.
Gesundheit ist für den Menschen das höchste Gut. Aber es eignet sich - das haben wir heute wieder erlebt - sehr gut für Nebelkerzen, für Mißbrauch, für das Schüren von Ängsten. Vieles wird mit Dingen vermischt, die mit dieser Reform gar nichts zu tun haben. Ich gehe einmal auf die aktuelle Diskussion zu der Arzneimittelversorgung und dem Arzneimittelbudget in der Bundesrepublik Deutschland ein und möchte hier wenigstens den Gutwilligen sagen, wie die tatsächliche Lage ist.
Es gab in der Bundesrepublik Deutschland - jewells für den Westen und für den Osten - nur in einem Jahr - im Westen 1993 und im Osten 1994 - ein gesetzlich festgelegtes Arzneimittelbudget. Seit 1993 im Westen und 1994 im Osten ist es alleine Kompetenz und Aufgabe der Selbstverwaltung, also der Ärzte und Krankenkassen, alljährlich zu vereinbaren, welcher Umfang an Arzneien und Heilmitteln zur Versorgung der Bevölkerung in einer bestimmten Region notwendig ist. Dies liegt jetzt alleine in der Kompetenz der Selbstverwaltung.
Die Mehrheit der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen haben seit 1993 bzw. 1994 von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht. Der Bundesgesundheitsminister hat Mitte des Jahres 1995 Ärzte, Länderaufsichten und Krankenkassen schriftlich darauf aufmerksam gemacht: Macht von dieser Möglichkeit der Selbstverwaltung Gebrauch, weil es sonst in der Zukunft zu Überschreitungen von Arzneimittelbudgets mit Regressen für Ärzte kommt. Die Mehrheit der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen haben - ich sage das noch einmal - bis zu diesem Monat, bis zum November 1996, von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht.
Das liegt nicht am Gesetzgeber, sondern an der Selbstverwaltung. Nicht der Gesetzgeber ist für die Auseinandersetzung um die Arzneimittelversorgung in der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich, sondern die Selbstverwaltung, die alleine in voller Kompetenz und ohne jede gesetzliche Beschränkun-
Bundesminister Horst Seehofer
gen die Höhe des Arzneimittelverbrauchs festlegen könnte.
Es muß kein notwendiges Medikament verweigert werden, etwa durch gesetzliche Sparmaßnahmen. Es können in diesen Arzneimittelbudgets das Alter der Versicherten, die Veränderungen der Versichertenzahlen, die Veränderungen der Arzneimittelpreise, Unwirtschaftlichkeiten und Innovationen auf dem Arzneimittelmarkt berücksichtigt werden. Der Gesetzgeber war sogar so großzügig, zu sagen: Wenn sich die beiden Partner in ihrer Kalkulation des Arzneimittelverbrauchs für ein Jahr einmal täuschen sollten, können sie Abweichungen in den Folgejahren verrechnen.
Deshalb ist die Wahrheit die: Nicht der Gesetzgeber, sondern die Ärzte und Krankenkassen haben alleine zu entscheiden, wie der Arzneimittelverbrauch in den Regionen ist. Das ist ihre Kompetenz. Deshalb ist es völlig falsch, die Politik dafür verantwortlich zu machen, daß Ärzte und Krankenkassen in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren partiell nicht gehandelt haben.
Zum Thema Krankenhausinstandhaltung.
Darunter fallen die baulichen Aufwendungen für Dachsanierungen, Fassaden, Brandschutz, Sicherheit. Das Bundesverwaltungsgericht hat Anfang 1993 entschieden, daß die gesetzliche Grundlage aus den 80er Jahren nichtig ist. Seit diesem Zeitpunkt haben sich die Länder - mit Ausnahme von Bayern - aus der Krankenhausinstandhaltung zurückgezogen. Die Behauptung ist falsch, daß die Länder nicht mehr zahlen könnten oder dürften. Sie wollen in ihrer großen Mehrheit nicht bezahlen.
Herr Professor Pfaff, selbst wenn Ihre Argumentation, daß sie nicht zahlen dürfen, zutreffen würde, frage ich Sie, warum die SPD im Bundesrat 1993 einen Gesetzentwurf, den wir eingebracht haben, mit der klaren rechtlichen Grundlage, daß die Länder zahlen sollen, abgelehnt hat, warum Sie 1995 mit Ihrer SPD-Mehrheit im Bundesrat einen zweiten Anlauf, daß die Länder zahlen sollen, abgelehnt haben und warum Sie 1996 die Verhandlungen zwischen einer Delegation der SPD und der Koalition zu diesem Thema nach zweieinhalb Stunden beendet haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Minister, ist es nicht richtig, daß Sie der Kapitän des Schiffes sind und jetzt die Heizer dafür verantwortlich machen, daß dieses Schiff vom Kurs abgekommen ist?
Ist es nicht richtig, daß wir gemeinsam in Lahnstein angetreten sind, um die Ausgabendynamik zu brechen? Haben Sie nicht gerade von diesem Pult im Brustton des Stolzes verkündet, daß es ein Erfolg wäre, daß es Ihnen nicht gelungen ist, die Ausgaben zu steuern? Ist es nicht richtig, daß die einzelnen Krankenkassen sehr beschränkte Möglichkeiten der Steuerung haben, weil Sie sie ihnen bisher verweigert haben, und daß die Krankenkassen eigentlich selbst gesagt, haben: Die Politik ist wegen der Verschiebebahnhöfe schuld an den Überschreitungen? Sie sind vor allem an dieser Entwicklung schuld. Warum gestehen Sie das nicht offen und ehrlich ein?
Meine Damen und Herren, ich möchte darauf aufmerksam machen, um welch ernsthaftes Problem es bei der Krankenhausinstandhaltung geht. Wenn wir dieses Problem weiterhin ungelöst ließen, würde das beispielsweise bedeuten, daß in den Krankenhäusern notwendigste Investitionen für die Sicherheit und für den Brandschutz nicht erfolgen könnten. Wenn im ersten Krankenhaus - was wir nicht wollen und nicht hoffen - irgend etwas passiert, Patienten und andere Menschen dadurch gefährdet werden, ist das Problem da. Darum geht es hier.
Hier tritt der Professor Pfaff auf, geht nicht auf das Problem ein, sondern schwätzt über politische Verantwortlichkeiten. Herr Professor Pfaff, hätte die SPD im Bundesrat dem Gesetzentwurf zugestimmt, hätten wir dies schon längst erledigt. Es ist unverantwortlich, was Sie hier tun.
Was sollen die Menschen eigentlich denken, wenn hier Politiker pausenlos darüber reden, wer eigentlich zuständig wäre. Die Bundesländer haben die Zustimmung verweigert. Ich könnte es mir jetzt mit der Koalition einfach machen und sagen: Die Länder haben sich verweigert. - Den Patienten in den Krankenhäusern und den Krankenhausträgern wäre damit aber nicht geholfen.
Wir nehmen politische Verantwortung wahr. Wir schlagen eine Lösung vor, ohne damit die Arbeitskosten zu belasten. Es ist eine Lösung, die auch auf die soziale Schutzbedürftigkeit von Versicherten Rücksicht nimmt, indem alle Versicherten von dem Krankenhausbeitrag befreit sind, die über ein unzureichendes Einkommen verfügen - das sind acht Millionen Menschen -, und alle Menschen, die beitragsfrei familienversichert sind, ebenfalls zu dieser Krankenhausinstandhaltung nicht herangezogen werden. Dies ist Wahrnehmung von Verantwortung: ein Pro-
Bundesminister Horst Seehofer
blem unter Beachtung der sozialen Schutzbedürftigkeit der Menschen lösen.
Herr Professor Pfaff, Sie haben die Möglichkeit, auf die von Ihrer Partei geführten Länder einzuwirken. In den Bundesländern, in denen die Krankenhausinstandhaltung ab 1997 aus den Landeshaushalten finanziert wird, kommt es nicht zu einer Belastung der Krankenversicherungen mit Kosten für Krankenhausinstandhaltung. Deshalb appelliere ich heute an alle 15 Bundesländer, in den nächsten Monaten dafür Sorge zu tragen, daß sie ihrer Pflicht nachkommen, nämlich die Krankenhausinstandhaltung aus den Länderhaushalten zu finanzieren.
Zu dem Thema Gestaltungsleistungen.
Meine Damen und Herren, wir müssen begreifen, daß der Weg der letzten 20 Jahre mit immer neuen Reglementierungen, immer neuen Paragraphen und immer neuen Budgetierungen einfach die Grenze seiner Wirksamkeit erreicht hat. Wir laufen eigentlich immer den tatsächlichen Entwicklungen hinterher.
Deshalb ist und bleibt der alte Grundsatz richtig: Man soll einer größeren Einheit - in unserem Falle dem Staat - nichts übertragen, was eine kleinere Einheit, nämlich die Selbstverwaltung, genausogut erledigen kann.
Deshalb kann unser Grundsatz nur lauten, daß wir die Selbstverwaltung stärken, daß wir ihr mehr Kompetenzen und Handlungsspielräume geben. Es ist doch das Erfolgsmodell des deutschen Gesundheitswesens, daß wir weder die Privatisierung der Krankheitsrisiken mit all den sozialen Verwerfungen, wie sie die Amerikaner haben, noch die Verstaatlichung mit dem Ergebnis haben, daß in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar alle gleich sind, aber auch gleich arm.
Unser Erfolgsmodell ist die Selbstverwaltung. Wenn wir dieses Prinzip ernst nehmen, müssen wir auch bereit sein, den Krankenkassen und den Selbstverwaltungen mehr Kompetenzen zu übertragen. Das tun wir. Wir haben aber von der ersten Minute an klargestellt, daß Gestaltungsleistungen kein Mittel zur Leistungsausgrenzung sind, sondern ein Mittel, Leistungen treffsicherer und effizienter zu gestalten. Das ist unser Ansatzpunkt.
Ich bin den Krankenkassen sehr dankbar, daß sie gestern und heute auch in Interviews und Veröffentlichungen klarstellen, daß das, was die Opposition ständig behauptet, mit der Realität nichts zu tun hat. Der Chef der Barmer Ersatzkasse erklärt heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Wir wollen keine generelle Kürzung der Leistungen vornehmen. Wenn wir die häusliche Krankenpflege streichen würden, blieben die Patienten länger im Krankenhaus, so daß es für die Kassen insgesamt teurer würde.
Die Betriebskrankenkassen erklärten gestern:
Befürchtungen über Streichungen von Gestaltungsleistungen sind unbegründet.
Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit.
Den Sinn der Gestaltungsleistungen, Herr Kollege Dreßler, möchte ich Ihnen einmal an einem Beispiel deutlich machen.
Wir haben in Deutschland das Problem, daß die Häufigkeit von Krankenhausaufenthalten ständig steigt. Das liegt an der steigenden Lebenserwartung; das liegt auch daran, daß der ambulante Bereich nicht immer optimal - gerade an Wochenenden und nachts - besetzt ist.
Deshalb muß es doch unser gemeinsames Anliegen sein, die häusliche Krankenpflege in der Bundesrepublik Deutschland in Zukunft so zu organisieren, daß es einem Menschen bei bestimmten Indikationen durch eine Kombination von sozialpflegerischer Betreuung und hausärztlicher Versorgung ermöglicht wird, zu Hause gepflegt und betreut zu werden, womit eine Krankenhauseinweisung vermieden wird.
Da ist in Deutschland noch nicht alles zum Besten bestellt. Viele Menschen, die im Krankenhaus liegen, sind auf sich gestellt, wenn es um die Versorgung nach der Krankenhausentlassung geht. Da sind die Krankenkassen aufgerufen - ich denke, sie werden auch reagieren -, mit Ärzten, mit Sozialstationen, mit Schwestern und Pflegern Verträge zu machen, ein Angebot für ihre Versicherten zu gestalten, damit ein Kranker nicht lange nach der nächsten Sozialstation und nach dem nächsten Arzt suchen muß, sondern eine umfassende Paketlösung für die häusliche Krankenpflege vorfindet.
Das ist Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland.
Zu den Fahrtkosten. Wir haben in den letzten Wochen unheimlich oft erklärt: Wir wollen, daß der Nierendialyse-Patient, der Chemotherapie-Patient auch in der Zukunft umfassend seine Fahrtkosten erstattet bekommt. Aber Sie wissen wie wir, daß es auch Menschen gibt, die ihre Eigenverantwortung so verstehen, daß sie sich zu Lasten der Krankenversicherung mit einem Taxi zum Arzt fahren lassen, ohne daß sie gehbehindert sind, ohne daß sie liegend transportiert
Bundesminister Horst Seehofer
werden müssen, ohne daß sie einer Betreuung durch einen Rettungssanitäter bedürfen. Auch das ist eine Zerstörung der Solidarität, wenn Eigenverantwortung nicht wahrgenommen wird.
Nicht erst heute oder vor zwei Tagen, sondern nachdem wir den Gesetzentwurf das erste Mal im Kabinett behandelt haben, sind wir gemeinsam mit den zuständigen Koalitionsabgeordneten vor die Bundespressekonferenz gegangen und haben bereits vor über vierzehn Tagen öffentlich erklärt: Gestaltungsleistung heißt nicht Leistungsausgrenzung.
Ich wiederhole hier, daß weder die Heilmittel noch die häusliche Krankenpflege, noch die Rehabilitation, noch die Kuren als Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegrenzt werden. Wer trotz dieser klaren politischen Aussage weiterhin zu Demonstrationen aufruft oder hier anderes behauptet, tut das wider besseres Wissen. Die Vermutung liegt nahe, daß er dies nicht aus sachlichen, sondern aus ganz niederen parteipolitischen Motiven tut.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pfaff?
Ja.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Bundesminister, ist Ihnen der Vermerk des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung an Ihr Haus bekannt, in dem exakt behauptet wird, daß dieses Gesetz die häusliche Krankenpflege und die ambulante Rehabilitation betrifft, und zwar dadurch, daß diese jetzt als Satzungsoder Gestaltungsleistungen vorgesehen sind? Ich zitiere:
Von dieser Umgestaltung ist auch die stationäre medizinische Rehabilitation betroffen.
Am Ende steht:
Es ist absehbar, daß dies zu einer Verlagerung der
Belastungen in die Pflegeversicherung führt.
Das ist doch eine unehrliche Argumentation. Haben Sie doch zumindest die Courage, offen zu Ihrer Politik der Leistungseinschränkung zu stehen.
Das wäre im Gegensatz zu dem, den Leuten ein X für ein U vorzumachen, wenigstens eine redliche Politik.
Herr Professor Pfaff, Sie wissen doch auch von mir persönlich, daß das, was Sie jetzt wieder behaupten, von der Koalition ausdrücklich ausgeschlossen wird. Es darf eben nicht zu einer Leistungsverschiebung in die Pflegeversicherung kommen. Wir werden das auch sicherstellen. In dieser Sache bin ich mit dem Kollegen Norbert Blüm völlig einig.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, jetzt nicht mehr.
Zur Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist hier von den Vorrednern der Koalition bereits mehrfach gesagt worden: Wir können uns höhere Lohnnebenkosten in der Bundesrepublik Deutschland wegen Unwirtschaftlichkeiten in der gesetzlichen Krankenversicherung einfach nicht mehr leisten. Deshalb ist das erste Gebot, daß wir innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung durch Erschließung aller Wirtschaftlichkeitsreserven dafür sorgen, daß es in der Bundesrepublik Deutschland wegen Unwirtschaftlichkeiten in der Krankenversicherung keine Beitragserhöhungen mehr gibt, wie das in der Vergangenheit der Fall war.
Es kann doch nicht sein, daß für den Anstieg von 40 Prozent bei den Kuren, bei den Fahrtkosten von 45 Prozent, bei manchen Heil- oder Hilfsmitteln von 20 Prozent und 30 Prozent Beitragserhöhungen durchgeführt werden. Das wäre sozial zutiefst ungerecht. Es gibt eine Kasse, die in Niedersachsen Fotoapparate an ihre Versicherten verteilt hat. Wir können doch in Deutschland nicht soweit kommen, daß für Kranke kein Medikament zur Verfügung steht, aber Gesunde von der Krankenkasse Fotoapparate überreicht bekommen. Das ist Realität gewesen.
Das erste Gebot lautet also: keine Beitragserhöhungen wegen Unwirtschaftlichkeiten.
Das zweite Gebot lautet: Wenn es zu Beitragserhöhungen kommt, dann kann nicht die volle Wucht der Beitragserhöhung auf die Lohnnebenkosten überwälzt werden; dann brauchen wir ein Stück mehr Eigenverantwortung und Zuzahlung in der Bundesrepublik Deutschland. Das müssen wir den Menschen sagen.
Ich sage das vor dem Hintergrund, daß wir all die Menschen, die sich eine höhere Zuzahlung auf Grund ihres Einkommens nicht leisten können, ohnehin von dieser Zuzahlung ausnehmen. Jetzt sage ich zum wiederholten Male: Für keinen Sozialhilfeempfänger, keinen Arbeitslosenhilfeempfänger, keinen BAföG-Empfänger, kein Kind und kein Rentnerehepaar mit einer Rente von weniger als 2 200 DM wird für Arzneimittel, für Heilmittel oder für Fahrtkosten
Bundesminister Horst Seehofer
auch nur eine einzige Mark an Zuzahlung in der Bundesrepublik Deutschland fällig. Diese Menschen sind davon völlig befreit, und das sind immerhin 8 Millionen Menschen.
Wir haben eine Obergrenze von 2 Prozent - deshalb, Herr Kollege Dreßler, ist es bewußt irreführend, was Sie in die Öffentlichkeit setzen - bei den Zuzahlungen für Arznei- und Heilmittel und Fahrtkosten. Das heißt, selbst jenen Menschen, die auf Grund ihres Einkommens von der Zuzahlung nicht völlig befreit sind, mutet der Gesetzgeber - das gilt bereits seit 1989 - nicht mehr als 2 Prozent ihres Einkommens an Zuzahlungen zu. Jetzt verbessert die Koalition das noch dadurch, daß wir sagen: Bei einem chronisch Kranken reduziert sich diese Obergrenze auf 1 Prozent.
Herr Kollege Dreßler, das Beispiel, das Sie gewählt haben, war ein Alleinstehender mit 2 000 DM monatlich. Als chronisch Kranker zahlt dieser Mensch nicht mehr als 20 DM dazu. Dafür bekommt er aber auch im weltweiten Maßstab eine optimale medizinische und pflegerische Betreuung. Meine Damen und Herren, das ist doch sozial verantwortlich.
Ich sage Ihnen allen Ernstes: Wenn wir nicht bereit sind, einen höheren Anteil des verfügbaren Einkommens ohne Belastung der Arbeitskosten für die medizinische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland aufzuwenden, werden wir weder die Versorgungsqualität noèh das Versorgungsniveau, das wir heute Gott sei Dank in Deutschland haben, halten können.
Die Alternative einer dauerhaften Budgetierung wäre die unsozialste Lösung, die man sich vorstellen kann; denn das wäre die Rationierung. Rationierung von notwendigen Gesundheitsleistungen würden bedeuten, daß wir ebenso wie in anderen hochindustrialisierten Ländern, beispielsweise Großbritannien, Wartelisten im Krankenhaus bekämen. In Großbritannien müssen Sie bis zu einem Jahr warten, wenn Sie nicht gerade ein Akutfall sind. Dort wird ab einem bestimmten Alter die medizinische Versorgung zu Lasten des staatlichen Gesundheitswesens nicht mehr durchgeführt. Dann könnten wir notwendige Therapien in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr solidarisch finanzieren. Die unsozialste Form von Gesundheitspolitik ist die Rationierung notwendiger Gesundheitsleistungen, und das wollen wir nicht.
Herr Minister, ich muß Sie einen Augenblick unterbrechen. - Meine Herren Kollegen, es geht nicht, daß Sie hier im Raum herumstehen und eine Fülle privater Unterhaltungen führen. Ich möchte Sie ersuchen, den Raum zu verlassen, wenn Sie nicht die Absicht haben, der Debatte zu folgen; oder ich unterbreche die Sitzung.
Herr Minister, bitte fahren Sie fort.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Das ist genau die Richtungsentscheidung, um die es jetzt geht. Sind wir bereit, die Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesen auszuschöpfen? Dafür treten wir ein. Sind wir bereit, der Bevölkerung zu sagen, daß wir, wenn eine Rationierung von notwendigen Gesundheitsleistungen vermieden werden soll, auch einen höheren Teil des verfügbaren Einkommens für die gesundheitliche Versorgung unserer Bevölkerung aufwenden müssen? Daran führt kein Weg vorbei.
Wir können uns die einfachste Lösung aus der Vergangenheit, immer neue Ansprüche mit immer höheren Sozialversicherungsbeiträgen zu finanzieren, wegen der Arbeitsplätze, wegen des Wirtschaftsstandorts Deutschland, aber auch wegen der leistungsbereiten Arbeitnehmer, die nicht einen immer höheren Teil ihres Arbeitseinkommens durch höhere Beiträge verlieren wollen, nicht mehr leisten.
Das, was wir vorschlagen, ist geeignet, die hohe Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens und den notwendigen Schutz innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung auf hohem Niveau fortzuentwickeln. Wir sichern die Qualität der medizinischen Versorgung. Der soziale Schutz bleibt gewährleistet. Die Eigenverantwortung ist maßvoll und berücksichtigt die Leistungsfähigkeit der Menschen. Sie nimmt auch Rücksicht auf das soziale Schutzbedürfnis.
Mit am wichtigsten aber ist mir, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland ja sagen zum medizinischen Fortschritt und uns nicht durch falsche staatliche Planwirtschaft, Budgetierung und Reglementierung vom medizinischen Fortschritt, der im Kern ein Segen für die Menschen ist, abkoppeln.
Qualität erhalten, sozialen Schutz gewährleisten und Teilhabe am medizinischen Fortschritt in der Bundesrepublik Deutschland - das ist die Grundlage unserer Gesundheitsreform und nicht das, was aus einem bösen Willen heraus und mit einer gehörigen Portion Agitation ständig behauptet wird, nämlich daß wir Behinderte und chronisch Kranke bestrafen wollten. Es ist unser großer Auftrag, daß wir gerade jene Menschen, die sich selbst helfen wollten, aber selbst nicht helfen können, umfassend sozial schützen und sie aus den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht ausgrenzen.
Wenn wir diese beiden Reformen durchführen, werden wir in wenigen Monaten schon erleben, daß all das, was hier behauptet wird, in der Praxis nicht
Bundesminister Horst Seehofer
eintritt, so wie das meiste, was 1992/93 behauptet wurde - der Niedergang der deutschen Krankenhauslandschaft, der Medikamentenversorgung, der Apotheken, der Krankengymnasten und der Masseure -, nicht eingetreten ist. Wir in der Bundesrepublik Deutschland wollen das bewährte Solidarprinzip und unsere medizinisch qualitativ hochwertige Versorgung erhalten. Dafür werden wir in den nächsten Monaten kämpfen.
Ehe ich das Wort zu zwei Kurzinterventionen erteile, möchte ich folgendes sagen: Herr Kollege Dr. Thomae, Sie haben, wie ich aus dem Stenographischen Protokoll ersehe, vorhin dem Kollegen Dreßler in einem Zwischenruf zugerufen: „Sie lügen bewußt!"
Nun möchte ich angesichts der Schärfe der Formulierungen, deren sich der Kollege Dreßler normalerweise befleißigt, davon absehen, Ihnen einen formalen Ordnungsruf zu erteilen.
Aber ich bitte alle Kollegen des Hauses sehr darum, sich hier keiner Ausdrucksweisen zu bedienen, die den Tatbestand der Beleidigung erfüllen. Das ist unparlamentarisch und gilt für alle Seiten. Ich werde das hier nicht dulden.
- Ich möchte die Kollegen, die hier private Unterhaltungen führen, bitten, die Verhandlung nicht zu stören, weil ich ansonsten die Sitzung unterbrechen werde.
Ich gebe nun dem Abgeordneten Kirschner das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte schön.
Herr Minister Seehofer, Sie haben gerade in Ihrer Rede ausgeführt: Wer behauptet, daß die häusliche Krankenpflege durch den vorliegenden Gesetzentwurf ausgeschlossen wird, handelt wider besseres Wissen unredlich.
Uns allen liegt ein Entwurf des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes, Bundestagsdrucksache 13/6087, vor. Auf Seite 72 steht in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes unter „Gestaltungsmöglichkeiten im Satzungsrecht" wortwörtlich:
Zukünftig können die Krankenkassen nachfolgende Leistungen nach Art und Umfang gestalten:
- häusliche Krankenpflege,
- Fahrkosten mit Ausnahme von Rettungstransporten,
- Kuren und Rehabilitationen ...,
- Heilmittel,
- Auslandsleistungen Zwei Sätze weiter heißt es:
Beitragssatzanhebungen, die aufgrund von höheren Aufwendungen für diese Gestaltungsleistungen erforderlich werden, sind ausgeschlossen.
Ich stelle hiermit fest, Herr Kollege Seehofer, daß Sie in diesem Gesetzentwurf ausdrücklich festlegen, daß, wenn Beitragssatzanhebungen für die Gestaltungsleistungen, die ich aufgeführt habe, notwendig sind, solche Gestaltungsleistungen nicht mehr möglich sind. Das steht dort klar und deutlich.
Herr Kollege Seehofer, dies steht in Ihrem Gesetzentwurf. Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Sie müssen hier erklären, daß dies nicht mehr gilt bzw. daß Sie bereit sind, hier entsprechende Änderungsanträge einzubringen. Bis heute jedenfalls steht dies so in Ihrem Gesetzentwurf.
Herr Minister, wenn Sie einverstanden sind, gebe ich zunächst das Wort zur zweiten Kurzintervention. Sie können dann beide zusammen beantworten.
Ich gebe dem Abgeordneten Karl Haack das Wort zu der zweiten Kurzintervention.
Herr Bundesgesundheitsminister, ich melde mich in folgender Angelegenheit: Sie haben in Ihren Eingangsworten zur Strukturreform des Gesundheitswesens eine Argumentation zur Ablenkung von den politischen Problemen gebraucht, indem Sie den gesetzlichen Krankenkassen die Schuld geben.
Ich beobachte und lese Ihre Einlassungen in der Presse regelmäßig und stelle fest, daß Sie zunehmend eine Hetze gegen die gesetzliche Krankenversicherung betreiben.
Sie bauen ein Feindbild auf, das mich in fataler Weise an die Weimarer Republik erinnert.
Als in der Weimarer Republik die soziale Sicherheit zur Disposition stand, bedienten sich das rechte und das liberale Lager der Hetze gegen die sozialen Sicherungssysteme und gegen die Männer und Frauen, die dort damals tätig gewesen sind.
Das können Sie in der Sozialgeschichte nachlesen.
Ich möchte für mich, für meine Partei und für die Fraktion in diesem Hause feststellen, daß wir diese Art der Argumentation, den Aufbau eines solchen
Karl Hermann Haack
Feindbildes, ablehnen. Wir fordern Sie eindringlich auf, das zu unterlassen und auch einmal positive Worte für die Arbeit der gesetzlichen Krankenversicherung in der Gesamtheit zu finden.
Herr Minister, Sie können antworten. Bitte.
Herr Kollege Kirschner, Sie haben heute mehrfach das Argument gebraucht: Wenn wegen der Gestaltungsleistungen Beiträge nicht erhöht werden dürfen, dann würde das den Umkehrschluß aufzwingen, daß sie gewissermaßen auszugrenzen sind, wenn Beitragssatzerhöhungen notwendig sind. Das ist falsch.
Diese Passage im Gesetzentwurf bedeutet, daß diese Leistungen jährlich nicht stärker ansteigen sollen als die Einnahmeentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Nichts anderes wird dadurch ausgedrückt.
- Nachdem die Krankenkassen selbst öffentlich erklärt haben - das war gestern -, daß sie Gestaltungsleistungen nicht ausgrenzen werden, fürchten Sie, daß Ihre Gedankengebäude und Ihre Argumentationen zusammenbrechen. Jetzt interpretieren Sie etwas in ein Gesetz hinein, was dort gar nicht steht.
Herr Kollege Haack, ich habe in meiner Rede ausdrücklich gesagt: Von allen denkbaren Alternativen ist für mich die Selbstverwaltungslösung in der Sozialversicherung die beste Lösung, auch wenn es daran - wie in einer parlamentarischen Demokratie üblich - vereinzelt Kritik geben mag. Denn die Privatisierung und auch die Verstaatlichung sind nicht besser. Die Deutschen haben aus guten Gründen einen gesunden Mittelweg eingeschlagen, der sich bewährt hat und den wir weitergehen werden.
Auf Grund dieses Beitragsdrucks und dieser Ausgabendynamik, die wir in der Bundesrepublik Deutschland in der Krankenversicherung haben, muß der verantwortliche Ressortminister - vor allem dann, wenn Sie ihn für steigende Beiträge politisch verantwortlich machen - öffentlich sagen: Die Krankenkassen sollen in den Bereichen, in denen sie disponible Ausgaben haben, mit gutem Beispiel in bezug auf das Sparen vorangehen; denn sie sind nicht Eigentümer der Beiträge, sondern Treuhänder der Beiträge.
Ich nenne zwei Beispiele, bei denen Kritik erlaubt sein muß - bei aller Bejahung der Selbstverwaltung und auch hohem Respekt vor der Tätigkeit der Krankenkassen. Wenn auf der einen Seite die gesamte öffentliche Hand ihre Verwaltungskosten einfriert oder zurückführt, wie ich es gestern im Haushaltsausschuß für mein Ressort und auch für andere Ressorts erleben durfte, und auf der anderen Seite die Verwaltungskosten der Krankenkassen in Westdeutschland in den ersten sechs Monaten 1996 um annähernd 6 Prozent steigen, dann muß ich die Krankenkassen auffordern, diese Kostensteigerung auf ein normales Maß zurückzuführen. Für diese Steigerung reichen die Beitragsmittel nicht.
Ich könnte dieses Beispiel fortführen, was ich aber aus Zeitgründen nicht tun will.
Herr Kollege Haack, ein zweites Beispiel. Es gibt einen Zuwachs von 17 Prozent beim Gesundheitsmarketing unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung.
Ich will all die Maßnahmen, die darunter fallen, nicht aufzählen. Ich habe heute schon ein Beispiel genannt, daß eine große Krankenkasse in einem Bundesland die Bevölkerung aufgefordert hat: Fordert Werbematerial bei uns an, dann bekommt ihr einen Fotoapparat.
Dies ist nur ein Beispiel für die Auswüchse, die in diesem Sektor mit einem Zuwachs von 17 Prozent nach zweistelligen Steigerungsraten in den letzten Jahren stattfinden.
Soll ich angesichts dieser Tatsachen wegschauen und sagen, daß das in Ordnung sei? Ich werde vielmehr sagen: Liebe Krankenkassen, verwendet dieses Geld nicht für die Freizeitgestaltung und Hochglanzbroschüren, sondern für die kranken Menschen in der Bundesrepublik Deutschland!
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksachen 13/5724 und 13/6103. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden ist.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Dann treten wir in die
dritte Beratung
und Schlußabstimmung ein. Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Dann schließe ich die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*)
Wir setzen die Beratung fort. - Da wir noch einige Abstimmungen vorzunehmen haben, bitte ich Sie, die Plätze wieder einzunehmen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 13/6123. Wer dem Entschließungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt worden ist.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/6087 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
- Ich darf die Abgeordneten der PDS fragen, ob sie an den Beratungen noch teilnehmen wollen. - Sonst würde ich Sie wirklich bitten, das Haus zu verlassen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12a auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Eigentumsfristengesetzes
- Drucksache 13/5586 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/6122 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther Dr. Dietrich Mahlo
Hans-Joachim Hacker
Dr. Uwe-Jens Heuer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
*) Seite 12534 A
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Luther.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute steht das Eigentumsfristengesetz zur Abstimmung. Dem Umfange des Eigentumsfristengesetzes nach lohnt es sich kaum, darüber zu sprechen. Auf einer A4-Seite hat der Inhalt des Gesetzes Platz. Wer es liest, kann es ohne weitere Unterlagen allerdings nicht verstehen, da es sich nur um Verlängerungen von Fristen einer Reihe von Gesetzen handelt.
Trotzdem steckt dahinter ein brisantes Thema. So müssen wir alle feststellen, daß sich sechs Jahre nach der deutschen Einheit in den neuen Bundesländern aus rechtlicher Sicht noch lange nicht Normalität eingestellt hat. Jedoch habe ich den Eindruck, daß in den alten Bundesländern die Meinung um sich greift, daß in den neuen Bundesländern nun schon normale Verhältnisse herrschten. Anders ist aus meiner Sicht die Diskussion der letzten Tage zum Thema Nutzerschutzgesetz und Wohnraummodernisierungssicherungs-Gesetz, die heute hier mitbehandelt werden sollten, nicht zu verstehen.
Die „FAZ" gibt am 4. November 1996 einem Artikel folgende Überschrift: „Privateigentum soll noch ,Volkseigentum' werden". In einem anderen Artikel wird zu einem Formulierungsvorschlag aus der Diskussion um das Nutzerschutzgesetz polemisiert, ohne die Hintergründe für unser Bestreben zu kennen. Eine noch viel schlimmere Überschrift wird am 12. November 1996 im „Handelsblatt" formuliert: „Der Deutsche Bundestag: Honeckers williger Vollstrecker?".
Dem Bundestag wird unterstellt, er wolle heute enteignen. Das wollen wir nicht. Niemand kann ernsthaft behaupten, daß wir das vorhatten. Wer sich jedoch mit dem Thema nicht beschäftigt, wird es auch nicht verstehen.
Interessant ist ein Schreiben der „FAZ" an mich, in dem sie auf meinen Leserbrief zu dem obengenannten Artikel antwortet - ich zitiere -:
Im übrigen ist die Sache so kompliziert, daß auch Ihr Leserbrief nicht weiter erhellend wirken würde.
Es besteht noch nicht einmal die Bereitschaft, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Wer sich mit den rechtlichen Problemen in den neuen Bundesländern nicht beschäftigen will, wird die deutsche Einheit nicht gestalten können.
Ich möchte deshalb heute die Gelegenheit nutzen, auf die reale Gefahr des Nichthandelns einzugehen.
Wir brauchen Vorschriften, die Investitionen, Nutzungsrechte und Eigentum in den neuen Bundesländern sichern. Es geht nicht an, daß deutsche Gerichte heute den Versuch unternehmen, das Verwaltungs-
Dr. Michael Luther
handeln der ehemaligen DDR auf ihre Rechtsstaatlichkeit hin zu überprüfen. Die DDR war ein Unrechtsstaat und eine Diktatur. Die Herrschenden in der DDR konnten willkürlich entscheiden. Sie gaben sich dafür zwar Regeln und Gesetze; sie waren aber nicht verpflichtet, diese einzuhalten.
Deshalb hat der Einigungsvertrag in seinem Art. 19 klar festgestellt, daß Verwaltungsakte grundsätzlich bestehen bleiben. Sie können aber aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder den Regelungen des Vertrages unvereinbar sind.
Auf Grund dieser Tatsache hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, daß sich die Wirksamkeit eines Enteignungsaktes nach den tatsächlichen Verhältnissen in der ehemaligen DDR bestimmt. Eine Rückgängigmachung von faktisch enteignenden Maßnahmen sei nur möglich, soweit dies durch besondere Vorschriften wie im Vermögensgesetz zugelassen worden sei. Damit erteilt das Bundesverwaltungsgericht eine eindeutige Absage an diejenigen, die den Enteignungsakt, den verwaltungstechnischen Vorgang, heute auf verwaltungstechnisch exakte Ausführungen hin überprüfen wollen. Wir wollen und brauchen auch diese Verwaltungsakte nicht zu heilen, die entschädigungslose Enteignungen betreffen; denn nicht nur das Bundesverwaltungsgericht, sondern auch der BGH geben hier gemäß dem Einigungsvertrag dem Vermögensgesetz den Vorrang.
Die Menge von Verwaltungsakten, die uns beschäftigen, sind bei Enteignungen von sogenanntem öffentlichem Interesse aufgetreten. Ich nenne hier das Aufbaugesetz, das Bergbaugesetz, das Straßenbaugesetz, und es gibt noch viele andere. Diese Enteignungen erfolgten nach den DDR-üblichen Entschädigungssätzen.
Es ist allerdings den Akten zu entnehmen, daß die Behörden mitunter aus politischen Erwägungen aufgefordert waren, ausländischen Eigentümern, also im Westen lebenden Bürgern, den Enteignungsbeschluß nicht zuzustellen. Sollen nun diese Enteignungen auf Grund eines solchen Mangels unwirksam sein - so der Bundesgerichtshof -, hätten auch keine Nutzungsrechte verliehen werden können. Wurde infolge eines Aufbaubeschlusses das Grundstück mit Häusern bebaut, dann ging dieses Eigentum an den alten Eigentümer über.
Was bedeutet das? Die Leipziger Wohnbaugesellschaft berichtet, daß ihr in der letzten Zeit eine Vielzahl von Grundstücken durch Grundbuchkorrektur aus dem Bestand gegangen ist. Die ostdeutschen Wohnungsunternehmen können deshalb meines Erachtens nicht abschätzen, wo bei den ihnen zugeordneten Grundstücken bei der Entstehung von Volkseigentum Formmängel vorhanden sind, wo sie dann noch problemlos investieren können, was mit bereits getätigten Investitionen ist. Was ist, wenn solche Grundstücke für Industrieansiedelungen an Investoren weitergegeben wurden?
Spricht sich diese Situation erst einmal herum, wer wird dann ehemals volkseigene Grundstücke für Investitionen erwerben wollen?
Meine Damen und Herren, das sind die Fragen, die ich mir stelle und die auch die Brisanz des Problems beschreiben. Ich denke, wir können die Sache nicht so laufen lassen. Wir müssen dringend etwas tun. Wir müssen schnell handeln. Deshalb fordere ich Sie auf, mitzuwirken, daß wir bis zum Jahresende eine gesetzliche Regelung zu diesem Thema hier im Haus verabschieden können.
Herr Kollege, darf ich Sie bitten, zum Thema zu sprechen. Wir sprechen über das Fristengesetz und nicht über das Nutzerschutzgesetz. Ich wollte Ihnen das nur sagen.
Herr Präsident, vielleicht darf ich zur Erklärung dazu sagen: Wir haben das Eigentumsfristengesetz anderthalb Jahre im Zusammenhang mit dem Nutzerschutzgesetz diskutiert, und die interessierte Öffentlichkeit erwartet, daß wir dieses Gesetz verabschieden.
Ich möchte Sie bitten, beim Thema zu bleiben.
Lassen Sie mich noch einen Satz zu dem sagen, was ich eben gesagt habe.
Es geht dabei nicht um den nachträglichen Vollzug von Enteignungen. Es geht darum, sicherzustellen, daß der Einigungsvertrag eingehalten wird.
Herr Kollege, ich möchte Sie bitten, beim Thema zu bleiben, bei der Tagesordnung!
Meine Damen und Herren, wir konnten nicht mit allen Regelungen bis zum Jahresende warten. Deshalb haben wir die Regelung des Eigentumsfristengesetzes, die auch Gegenstand dieses bisherigen Gesetzespaketes war, abgekoppelt.
Der Bundesrat hat einen ähnlich lautenden Gesetzesvorschlag auf den Weg gebracht, der sich aus meiner Sicht damit weitestgehend erledigt hat. Auch hier geht es um die realen Rechtsprobleme in den neuen Bundesländern. So waren selbständiges Gebäudeeigentum und dingliches Nutzungsrecht in den Grundbüchern der neuen Bundesländer für viele Grundstücke nicht eingetragen. Die Grundstücke erwecken also den Anschein, lastenfrei zu sein. Deshalb darf für derartige Rechte der öffentliche Glaube des Grundbuches vorübergehend nicht geltend gemacht werden. Die Inhaber dieser Rechte sollen diese bis zum 31. Dezember 1996 eintragen lassen. Das war bis heute oftmals aus technischen Gründen nicht möglich. Eine Nichtverlängerung kann katastrophale Auswirkungen haben, da somit ein Haus
Dr. Michael Luther
mit dem faktisch unbelasteten Grundstück wegveräußert werden könnte.
Deshalb werden mit dem Eigentumsfristengesetz im Sachenrechtsbereinigungsgesetz, im Meliorationsanlagengesetz, im EGBGB und in einer Reihe anderer Gesetze Übergangsfristen um drei Jahre verlängert.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Eigentumsfristengesetz, und ich bitte Sie um die aktive Unterstützung, damit wir die begonnene Diskussion zu den anderen Regelungen zügig zu Ende bringen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ehe wir mit der Beratung fortfahren, gebe ich das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlußabstimmung zum 1. GKV-Neuordnungsgesetz bekannt. Abgegebene Stimmen: 623. Mit Ja haben gestimmt: 319. Mit Nein: 304. Keine Enthaltungen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 623; davon:
ja: 319
nein: 304
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Rudolf Braun
Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Manfred Carstens
Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke Dr. Karl H. Fell Ulf Fink
Dirk Fischer Leni Fischer (Unna)
Klaus Francke Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Dr. Renate Hellwig
Ernst Hinsken Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung
Joachim Hörster Hubert Hüppe Peter Jacoby Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki
Volker Kauder Peter Keller
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger
Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann
Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus Editha Limbach
Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß
Dr. Dietrich Mahlo Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost
Eduard Oswald Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber
Peter Harald Rauen Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter
Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer
Hannelore Rönsch
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith Adolf Roth Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu
Norbert Schindler Dietmar Schlee
Ulrich Schmalz
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall Wolfgang Vogt
Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann
Dr. Fritz Wittmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Dr. Burkhard Hirsch
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Sohns Dr. Max Stadler
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Klaus Barthel
Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Lilo Blunck
Arne Börnsen Anni Brandt-Elsweier
Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Freimut Duve
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski Dagmar Freitag Anke Fuchs Katrin Fuchs (Verl) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Norbert Gansel Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Angelika Graf Dieter Grasedieck
Achim Großmann Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Klaus Hasenfratz
Dr. Ingomar Hauchler Dieter Heistermann Reinhold Hemker Roll Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte
Barbara Imhof
Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger
Jann-Peter Janssen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning
Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange
Detlev von Larcher Waltraud Lehn
Robert Leidinger Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß
Winfried Mante Dorle Marx
Ulrike Mascher Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier
Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl
Herbert Meißner Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha)
Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Doris Odendahl
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick Joachim Poß
Rudolf Purps Hermann Rappe
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse
Renate Rennebach Otto Reschke Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Günter Rixe
Reinhold Robbe Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Dieter Schanz Rudolf Scharping Bernd Scheelen Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten Günter Schluckebier
Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt
Dr. Emil Schnell Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
Brigitte Schulte Reinhard Schultz
Volkmar Schultz (Köln)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Lisa Seuster
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler
Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Margitta Terborg Jella Teuchner -
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Dietmar Thieser Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Josef Vosen
Hans Georg Wagner Hans Wallow
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis
Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben Hanna Wolf
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Elisabeth Altmann
Marieluise Beck (Bremen)
Volker Beck Angelika Beer
Matthias Berninger Annelle Buntenbach Amke Dietert-Scheuer
Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Andrea Fischer Joseph Fischer (Frankfurt) Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Dr. Manuel Kiper
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack Vera Lengsfeld
Dr. Helmut Lippelt
Kerstin Müller Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Egbert Nitsch Cem Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Dr. Jürgen Rochlitz
Halo Saibold
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch
Albert Schmidt Wolfgang Schmitt (Langenfeld)
Ursula Schönberger Waltraud Schoppe
Werner Schulz Marina Steindor
Christian Sterzing
Manfred Such
Dr. Antje Vollmer
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm Margareta Wolf (Frankfurt)
PDS
Wolfgang Bierstedt
Petra Bläss
Eva Bulling-Schröter Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Ruth Fuchs
Andrea Gysi
Dr. Gregor Gysi Hanns-Peter Hartmann Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz
Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Manfred Müller Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Klaus-Jürgen Warnick Dr. Winfried Wolf
Gerhard Zwerenz
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Joachim Hacker.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte die heutige Beratung unter das Motto „Der Berg hat gekreißt und ein Mäuschen geboren" stellen; denn heute sollte in zweiter und dritter Lesung das Nutzerschutzgesetz in der Fassung der Formulierungshilfe für ein Wohnraummodernisierungssicherungsgesetz verabschiedet werden. In buchstäblich letztet Runde hat die Koalition lediglich Entscheidungsfähigkeit für das Eigentumsfristengesetz signalisiert.
Ohne die Bedeutung des Eigentumsfristengesetzes abwerten zu wollen, muß ich doch feststellen: Der Befreiungsschlag aus den selbstgelegten Fesseln im Vermögensrecht wird auch heute wieder nicht geführt, weil die Regierungskoalition glaubt, auf die Hardliner in ihren Reihen Rücksicht nehmen zu müssen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion empfiehlt die Annahme des Eigentumsfristengesetzes, weil wegen fehlender Eintragung dinglicher Nutzungsrechte von Mitbenutzungsrechten und selbständigen Gebäudeeigentums ins Grundbuch erhebliche Risiken entstehen würden, wenn nach dem 31. Dezember 1996 der öffentliche Glaube des Grundbuches in den neuen Ländern zum Tragen käme.
Die ursprünglich vom Gesetz bestimmte Frist für die Eintragung dieser Rechte hat sich als zu kurz erwiesen. Eine Verlängerung der Ausnahme von der rechtlichen Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit des Grundbuches sowie im weiteren von den Wirkungen des Zwangsversteigerungs- und Zwangsverwaltungsverfahrens sowie von Fristen im Sachenrechtsbereinigungs- und Meliorationsgesetzes um drei Jahre ist insofern dringend geboten.
Bedauerlich aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion und nach meiner Kenntnis auch aus der Sicht der neuen Länder ist es, daß die Koalition nicht bereit war, die Regelung über die Sicherung der Ansprüche des Landesfiskus auf Bodenreformland zu verlängern. Das Auslaufen dieser Übergangsregelung zum 31. Dezember 1996 hat zwar nicht den Verlust der Ansprüche zur Folge, jedoch führt die Nichtverlängerung automatisch zu zusätzlichem Aufwand und zusätzlichen Kosten im Verwaltungsverfahren in den neuen Ländern. Beides ist kontraproduktiv für die Reduzierung des Verwaltungsaufwandes in den neuen Ländern.
Meine Damen und Herren, in Kenntnis der Konflikte um die ungelösten Eigentumsfragen in den neuen Ländern - das steht direkt in Verbindung mit dem heute zu verabschiedenden Eigentumsfristengesetz - hat die SPD-Bundestagsfraktion in den zurückliegenden Jahren mehrfach Initiativen in den Deutschen Bundestag eingebracht, insbesondere deswegen, um die um sich greifende Umgehung von Restitutionsausschlußregelungen im Vermögensgesetz über den Zivilrechtsweg zu unterbinden. Ich erinnere an den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion vom 15. März 1995 und auch daran, daß dieses Anliegen der SPD-Bundestagsfraktion von den betroffenen Ländern aufgegriffen und vom Bundesrat ein ei-
Hans-Joachim Hacker
genständiger Gesetzentwurf zu diesem Problem vorgelegt worden ist. Der Fairneß wegen will ich an dieser Stelle auch anmerken, daß auch die PDS aktiv geworden ist. Sie hat in ihrem Entwurf wesentliche Regelungsbereiche aus dem Gesetzentwurf des Bundesrates übernommen.
Die kurze Zeit erlaubt es mir nicht, auf alle Details der genannten Gesetzesinitiativen einzugehen, die in einer inneren Einheit mit dem Eigentumsfristengesetz stehen.
Deswegen nur die zentrale Botschaft: SPD und Bundesrat wollten durch Beseitigung gegenwärtig bestehender Grauzonen im Vermögensrecht Klarheit im Sinne des sozialen Friedens und im Sinne der Gerechtigkeit in den neuen Ländern schaffen.
Dieses ist auch im siebenten Jahr der deutschen Einheit nach wie vor wichtig, da Inkonsequenzen bei den Regelungen im Vermögensrechtsbereich, für die diese Bundesregierung und die sie tragende Koalition verantwortlich sind, weiterhin für Zündstoff in den neuen Ländern sorgen und die innere Einheit belasten.
Meine Damen und Herren, wir wollten seit 1990 durch klare gesetzliche Regelungen die redlichen Nutzer und Erwerber von Grundstücken schützen. Dieses war ein zentrales Anliegen unserer parlamentarischen Initiativen in dieser und der zurückliegenden Legislaturperiode. Ich frage mich, warum die Koalitionsfraktionen nicht bereit waren und nicht bereit sind, durch einen Sprung über den ideologischen Schatten endlich einen Beitrag zur Anerkennung der eindeutigen Bestandsschutzregelungen in der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Regierungen vom 15. Juni 1990 zu leisten.
Verehrter Herr Kollege, ich muß auch Sie darauf aufmerksam machen - es tut mir leid, wenn Sie das in Ihrer Rede anders vorbereitet haben -: Wir reden hier tatsächlich nicht über das Nutzerschutzgesetz, sondern über das Eigentumsfristengesetz. Darum bitte ich Sie, sich an dieses Thema zu halten.
- Nein, ich bin nicht bereit, darüber zu diskutieren. Ich bitte Sie, sich an das Thema zu halten.
Vielen Dank. Herr Präsident, da beide Regelungskomplexe ja in einem direkten Zusammenhang zueinander stehen,
ist es mir nicht möglich, daß ich mich an jeder Stelle nur auf eine Thematik begrenze. Es handelt sich um Regelungskomplexe, die sich überlappen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Luther?
Herr Dr. Luther, bitte.
Herr Hacker, eine Frage: Sind Sie mit mir einer Meinung, daß in die Diskussion des Nutzerschutzgesetzes die Eigentumsfristen mit einbezogen werden müssen, daß sie im unmittelbaren Zusammenhang mit der Diskussion des Nutzerschutzgesetzes stehen und daß man deshalb auch auf das Nutzerschutzgesetz eingehen muß?
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Luther. Ich bin der gleichen Auffassung. In den Berichterstattergesprächen, die sich mittlerweile über Monate hingezogen haben, ist ja gerade dieser innere Zusammenhang dargestellt worden. Ich verweise auch auf das, was uns das Bundesministerium der Justiz zugearbeitet hat. Das stellt ja die Klammer für diesen Regelungskomplex dar.
Auf der Tagesordnung unserer heutigen Sitzung stand ja das Nutzerschutzgesetz.
Ich kann das nur bestätigen, was Sie, Herr Dr. Luther, gesagt haben.
Herr Kollege Hacker, halten Sie sich daran! Ich lasse hier nicht über die Handhabung der Geschäftsordnung diskutieren, auch nicht auf diesem Wege. Ich bitte Sie, sich an das Thema zu halten, sonst muß ich Ihnen das Wort entziehen.
Bitte, fahren Sie fort.
Herr Präsident, ich habe versucht - -
Ich darf Sie noch einmal bitten - ich lasse mit mir nicht diskutieren -: Reden Sie zum Thema!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gesetzlichen Regelungen sind das eine. Wir haben heute einen deutlichen Fortschritt erreicht. Das begrüße auch ich. Ich freue mich, daß wir uns, was das Eigentumsfristengesetz angeht, auch mit der Bundesregierung einig sind. Ich beziehe mich auf die entsprechenden Vorschläge aus dem Bundesjustizministerium.
Hans-Joachim Hacker
Ich bin optimistisch, daß es uns gelingen wird, weiterhin anstehende Regelungskomplexe - das darf ich hier sicherlich ansprechen, Herr Präsident - in den nächsten Wochen einer Lösung zuzuführen.
Ich beziehe mich dabei auch auf eine Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs, Herrn Funke, in der „Süddeutschen Zeitung" vom 5. November. Er führt aus:
Auch der kleinste rechtliche Mangel werde heute als Grund herangezogen, vor Gericht einen Rückübertragungsanspruch zu begründen. Dies stehe nicht im Einklang mit der Grundentscheidung des Einigungsvertrages.
Weiter führt er aus: Nur bei rechtsstaatswidrigem Eigentumsentzug während der DDR-Zeit soll das korrigiert werden.
Damals haben die Bundesregierung und die Regierung der DDR grundsätzlich im Einigungsvertrag vereinbart, daß die bestehenden Gegebenheiten übernommen werden sollten.
Ich glaube, bei der Diskussion über das Eigentumsfristengesetz müssen wir uns auch noch darüber verständigen, welche Aufgaben von uns zu lösen sind. Ich möchte alle dazu aufrufen, sich insbesondere dreier Komplexe anzunehmen. Das ist zum einen die Beseitigung von Investitionssperren in restitionsbelastetem Wohnungsbestand. Diese Thematik haben wir in den Berichterstatterrunden in den letzten Wochen intensiv diskutiert. Weiter möchte ich an dieser Stelle dafür werben, daß wir eine Klarstellung vorsehen sollten, daß NS-Geschädigte endlich auch mittelbares Eigentum zurückerhalten. Nachdrücklich möchte ich dafür eintreten, daß wir redlichen Nutzern und Erwerbern von Grundstücken in einem Umfang Rechtsschutz gewähren, der der Lebensrealität und Rechtswirklichkeit in der DDR gerecht wird.
Daraus sollen keine falschen Schlüsse gezogen werden - das will ich deutlich sagen -: Wir wollen in keiner Weise irgendeinen Schutz unlauterer Machenschaften in das Gesetz einführen. Denn solche Ausschlußregelungen beinhaltet gegenwärtig schon das Vermögensgesetz. Dabei soll es auch bleiben.
Gestatten Sie mir, an dieser Stelle auf einen Vorgang einzugehen, der sich in den letzten Tagen in den neuen Ländern abgespielt hat und der auch über die Medien weit verbreitet wurde. Ich hätte den Vorgang, der sich in dem brandenburgischen Dorf Liebenberg abgespielt hat, auch gerne dem Bundesfinanzminister vorgetragen.
Dort wurde, wie die „Frankfurter Rundschau" darstellt, nach Feudalherrenart ein gesamtes Dorf mit Sack und Pack, das heißt mit Schloß, Gutshof, Sägewerk, Felssteinkirche, Dorfstraße, 1 360 Hektar Land und 50 kleinen Häusern für 320 Bewohner, verkauft. Ich frage mich, warum die Beamten des Bundesfinanzministeriums oder der nachgeordneten Einrichtungen nicht zuerst auf die Idee gekommen sind, diese Grundstücke den Bewohnern dieses Ortes anzubieten. Das hätte Vertrauen geschaffen. Die Verfahrensweise, ein ganzes Dorf in Brandenburg öffentlich auszuschreiben, hat dagegen Vertrauen gravierend zerstört. Warum? Weil es an Ausverkauf erinnert.
Ich rufe Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, heute nochmals auf, ergänzend zu den Regelungen im Eigentumsfristengesetz mit uns gemeinsam, noch in diesem Jahr, Regelungen zu schaffen, die in den neuen Ländern Investitionsblockaden beseitigen, für die NS-Geschädigten Rechtsschutz bringen und denjenigen dienen, die noch Eigentumskonflikte in den neuen Ländern bestreiten müssen, zum Schutz der redlichen Erwerber und der redlichen Nutzer.
Ich danke Ihnen.
Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das hilflose Verfahren und das unentschiedene Hin und Her mit den Problemen der Klärung der Eigentumsfragen im Osten ist wirklich schon mehr als peinlich. Auch die Debatte, wie sie hier geführt wird, zeigt letztlich, wie wenig Regierung und Koalition in der Lage sind, Klarheit und Gerechtigkeit in die Grundbesitzverhältnisse zu bringen.
Der Berg der Gesetze zum Eigentumsrecht ist inzwischen so unübersichtlich geworden, daß er dem Gesetzgeber schlicht über den Kopf gewachsen ist. Die von Anfang an falschen Weichenstelllungen holen uns hier im Parlament wieder ein. Aber ausbaden müssen es die Menschen in Ostdeutschland. Das sollten wir, so denke ich, sehr ernst nehmen.
Wir, das Berichterstattergremium, haben - auf diesen Punkt möchte ich mich heute beschränken - wegen der vielfältigen Probleme die Beratung des Eigentumsfristengesetzes vorgezogen, damit die zum 1. Januar auslaufende Frist klar verlängert werden kann. Alle Fraktionen sind sich darüber einig, daß es höchste Zeit ist, das zu machen. Wir wissen auch alle, daß das dringend nötig ist.
Insofern nur einen Satz: Wir stimmen dem Gesetz zu.
Bei der Abstimmung über den Bundesratsgesetzentwurf werden wir uns enthalten, nicht weil wir gegen die Initiative des Bundesrates sind, sondern weil sie in weiten Teilen das gleiche enthält, wir aber nur einem Gesetz das klare Votum geben wollen
Danke schön.
Nun gebe ich dem Abgeordneten Hildebrecht Braun das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Eichstädt-Bohlig, wenn Sie von einem „peinlichen Hin und Her" in den Eigentumsfragen der neuen Bundesländer sprechen, kann ich Ihnen überhaupt nicht beipflichten. Daß wir hier ernsthaft beraten und dafür Zeit brauchen, zeigt nur, daß wir die Themen ernst nehmen und das Problem erkennen.
Es ist sehr, sehr schwierig, die Eigentumsfragen in die Reihe zu bringen. Wer es sich hier zu einfach macht, begeht einen Fehler und sorgt für neues Unrecht. Das kann nicht richtig sein.
Wir sprechen heute nicht über das Nutzerschutzgesetz, sondern über das Eigentumsfristengesetz. Zu meiner Freude sind wir uns über die Parteigrenzen hinweg in diesem Hause einig, daß dieses Gesetz notwendig ist. Wir haben feststellen müssen, daß die Schwierigkeiten bei der Festlegung der Grundstücksgrenzen in Deutschlands Osten so groß sind, daß wir die Dinge eben nicht innerhalb der Zeitvorgabe des Gesetzgebers von 1993, nämlich bis Ende 1996, bereinigen können. Das ist in bezug auf die praktische Abfolge wirklich zu kompliziert.
Wer selbst einmal das Problem hatte, daß die Fälligkeit eines Kaufpreises davon abhing, daß die grundbuchmäßigen Voraussetzungen zu schaffen waren, der versteht, wovon wir hier eigentlich sprechen.
Daß wir Vermessungen von Grundstücken in großer Zahl und Messungsanerkennungen brauchen, die wieder einem förmlichen Verfahren unterliegen, daß wir die Mitarbeit der Katasterämter brauchen, ist den meisten Menschen gar nicht bekannt. Es ist aber notwendig, damit die Grundbücher wirklich in Ordnung kommen. Nur so können sie den öffentlichen Glauben für sich in Anspruch nehmen, den wir im Westen seit vielen Jahren natürlich den Grundbüchern zuteil werden lassen. Das ist eine wichtige Grundlage der Wohnungswirtschaft und des Eigentums an Grund und Boden. Wir wollen natürlich möglichst bald dazu kommen, daß der öffentliche Glaube an die Angaben des Grundbuchs im ganzen Deutschland übereinstimmend gilt.
Wir haben aber einfach sehen müssen, daß wir die Frist, bis dieser Zustand hergestellt sein wird, bis zum Ende dieses Jahrhunderts verlängern müssen, sonst würden wir neue Fehler machen; denn es ist ganz klar, daß wir nicht über den gutgläubigen Erwerb von Grundstücken auf Grund der Angaben im Grundbuch bestehendes Gebäudeeigentum untergehen lassen können oder auch das von Nutzungsrechten. Das darf nicht sein. Deswegen sind diese Veränderungen nötig.
Ich möchte für die Schwierigkeiten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den entsprechenden Ämtern in den neuen Bundesländern um Verständnis bitten, denn sie sind erst seit relativ kurzer Zeit mit diesen Problemstellungen vertraut und bekommen natürlich, wie auch alle anderen, erst nach Jahren die Routine, die schnelle Entscheidungen in solchen Dingen überhaupt erst möglich macht.
Auch sollten wir festhalten, daß die personelle Ausstattung dieser Ämter mittlerweile wirklich in Ordnung ist. Man kann niemandem mehr Vorwürfe machen, sondern wir müssen, ob wir wollen oder nicht, damit leben, daß bestimmte Vorgänge in den neuen Bundesländern in diesen Bereichen noch etwas länger dauern, als wir dies selbst für möglich erachtet haben.
Wir werden bis zum Ende des Jahrhunderts diese Altlast, die daraus resultiert, daß die Grundbücher 40 Jahre nicht vernünftig fortgeführt wurden, erledigt haben. Wir freuen uns darauf, denn dann haben wir auch in diesem Bereich im gesamten Land Rechtseinheit.
Wir wollen heute durch das Gesetz verhindern, daß neues Unrecht entsteht; eben deshalb, weil bei Zwangsversteigerungen beispielsweise plötzlich Gebäudeeigentum untergehen würde. Das kann so nicht richtig sein. Wir müssen das verhindern. Daher heute dieses Gesetz.
Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Professor Heuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Eigentumsfristengesetz ist zusammen mit einer ganzen Reihe von anderen Fragen seit einem Jahr in der Diskussion. Seit mehr als einem Jahr liegen zwei Entwürfe von Nutzerschutzgesetzen vor, einer von der Gruppe der PDS und ein etwas halbherziger vom Bundesrat.
Die Regierung sah längere Zeit keinen Handlungsbedarf, ein gerechter Ausgleich der Interessen sei gegeben. Auch der Rechtsausschuß ließ sich Zeit. Doch die Stimmen der Betroffenen wurden immer lauter und deutlicher. Das Justizministerium ließ dann den Koalitionsfraktionen am 25. Juni eine sogenannte Formulierungshilfe zugehen, die sowohl die Eigentumsfristenregelung wie auch eine ganze Reihe anderer Fragen unter dem sehr langen Titel „Wohnraummodernisierungssicherungsgesetz " enthielt. Darin waren sowohl die Fristenregelung wie auch einige Vorschriften zur Heilung von Formfehlern und anderes mehr enthalten.
Nach der Anhörung im Rechtsausschuß wurde vom Justizministerium am 11. Oktober ein weiterer Änderungsvorschlag nachgeschoben, der einige weitere Verbesserungen für die Nutzer enthielt. Das
Dr. Uwe-Jens Heuer
alles war ein geschlossenes Paket, was wir in den lang dauernden Berichterstattergesprächen diskutiert haben und wo wir, so schien es, zu einem positiven Ende gekommen waren.
Dann kam am 4. November 1996 ein Artikel in der „FAZ", in dem der Regierung nicht weniger vorgeworfen wurde als die Absicht zur nachträglichen Enteignung der Alteigentümer. Als das noch nicht reichte, folgte diesem Verdikt am 12. November 1996 ein Artikel im „Handelsblatt" unter der Überschrift: „Der Deutsche Bundestag: Honeckers williger Vollstrecker?". Das war eine Anleihe an Goldhagens Buch, Titel „Hitlers willige Vollstrecker".
Der Entwurf des Justizministeriums einschließlich der Eigentumsfristenregelung wird als „unglaubliches Projekt" verrissen und der Bundestag aufgefordert, es „mit Abscheu" abzulehnen, „das Gesetz auch nur anzufassen, geschweige denn sich damit zu befassen". Die maßlose ideologische Aufblähung - immerhin wird der Deutsche Bundestag, also wir, mit Honecker und indirekt mit den Helfershelfern Hitlers in Verbindung gebracht - verdeckt die dahinterstehenden sehr realen Interessen, und zwar die Interessen von Alteigentümern und ihren Anwälten. Es soll dabei bleiben, daß ihr ehemaliges Eigentum auch mit zivilrechtlichen Tricks zurückerobert werden kann.
Daraufhin gab es erregte Diskussionen auch in den Berichterstattergesprächen, und es gab unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Koalition. Noch ist nicht klar, wie sich die Koalition entscheiden wird. Immerhin hat ein Mann wie der Justizminister Reitmann aus Sachsen, von dem mich vieles trennt, wie Sie wissen, erklärt, daß mit diesem Herangehen wesentliche Grundlagen des Einigungsvertrags negiert werden. Ich möchte auch den Auffassungen von Herrn Luther nachdrücklich zustimmen, der ebenfalls auf diese Problematik hingewiesen hat.
Ich bin sicher, daß die Betroffenen jetzt ebenfalls mobil machen werden.
Herr Kollege Heuer, ich möchte auch Sie bitten, sich wie Ihre Vorredner an die Tagesordnung zu halten.
Der vielbeschworenen inneren Einheit Deutschlands steht diese Verfahrensweise schroff entgegen. Sie bestätigt eher Günter Gaus, der sagt - nachzulesen in der „Berliner Zeitung" vom 9./10. November 1996 -: „Die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften ist mißglückt. "
Ich stimme dem Eigentumsfristengesetz nachdrücklich im Namen der PDS zu.
Ich hoffe, wir werden im Dezember weiter diskutieren. Ich hoffe, daß dann Sachlichkeit wieder eingezogen ist.
Danke schön.
Nun gebe ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Rainer Funke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin froh darüber, daß die Ausschüsse einstimmig empfohlen haben, den Entwurf der Koalition für ein Eigentumsfristengesetz anzunehmen und den parallelen Entwurf des Bundesrates abzulehnen, soweit er vom Koalitionsentwurf abweicht. Das Ziel beider Entwürfe, sowohl des Entwurfs der Koalition als auch des Entwurfs des Bundesrates, für ein Eigentumsfristengesetz ist dasselbe. Es geht darum, die sogenannten eigentumsrechtlichen Fristen im Beitrittsgebiet um drei Jahre zu verlängern. Im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch und anderen Gesetzen waren von Anfang an Ausnahmen vom öffentlichen Glauben des Grundbuchs für Rechtspositionen vorgesehen, die unter Geltung des Zivilgesetzbuches der DDR entstanden waren. Das war auch notwendig, weil diese Rechtspositionen sämtlich außerhalb des Grundbuchs wirksam begründet werden konnten und im Grundbuch nicht eingetragen werden mußten, also eine andere Regelung gefunden worden war als in unserem Bürgerlichen Gesetzbuch.
Hätten wir im Einigungsvertrag keine Ausnahmen vorgesehen, hätten all diese Rechtspositionen bei nächster Gelegenheit, zum Beispiel bei einem Verkauf des Grundstücks, untergehen können. Wir mußten deshalb den Nutzern die Möglichkeit einräumen, die Eintragung ihrer Rechte nachzuholen. Bei der gesetzlichen Befristung waren wir indessen davon ausgegangen, daß die Nutzer in der Lage sein würden, dies bis zum 31. Dezember 1996 zu beantragen. Das ist leider nicht der Fall. Die Nutzer stehen oft vor der Schwierigkeit, daß sie nicht wissen, welches Grundstück von ihrem Recht betroffen ist. Genau das müssen sie aber wissen, wenn sie die erforderlichen Eintragungen beantragen, denn diese müssen im Grundbuchblatt für das Grundstück und nicht etwa im Gebäudegrundbuchblatt vorgenommen werden. Wir müssen aus diesem Grunde die Fristen verlängern. Eine Verlängerung bedeutet aber auch, daß uns das Grundbuch von Grundstücken in den neuen Ländern in den nächsten drei Jahren immer noch keinen vollständigen Aufschluß über die Rechtsverhältnisse an den Grundstücken geben kann.
Dieser Zustand darf kein Dauerzustand werden. Deshalb sieht der Koalitionsentwurf - das ist ein wichtiger Unterschied zu dem Bundesratsentwurf - nicht nur die Verlängerung der Fristen vor. Vielmehr wird auch die Ermächtigung an das Bundesministerium der Justiz gestrichen, diese Fristen noch bis zum Ablauf des 31. Dezember 2005 zu verlängern. Dies wollen die Bundesländer beibehalten. Das können wir uns aber nicht leisten. Wir müssen so schnell wie irgend möglich - in Anführungsstrichen - normale Verhältnisse, also die Verhältnisse, wie wir sie
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
in der Bundesrepublik alt haben, erreichen. Die Betroffenen müssen sich hierauf einstellen. Die Zeit bis zum Ablauf des 31. Dezember 1999 ist - da sind wir uns alle einig - lang genug.
Noch in einem zweiten Punkt unterscheidet sich der Koalitionsentwurf vom Bundesratsentwurf. Der Entwurf des Bundesrates sieht die Verlängerung zweier weiterer Fristen vor: der Frist für Widerspruchsverfahren bei der Anlegung von Gebäudegrundstücken und der Frist für ein Sicherungsverfahren für Bodenreformgrundstücke des Landesfiskus. Dies hält die Bundesregierung weder für geboten noch für sachgerecht.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, daß Sie mir zugehört haben und diesem Entwurf aller Voraussicht nach jetzt zustimmen werden. Er ist für die Rechtssicherheit in den neuen Bundesländern notwendig.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Eigentumsfristengesetzes, Drucksache 13/5586. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/6122, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung einmütig angenommen worden ist.
Wir treten in die
dritte Beratung
und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit der gleichen Mehrheit angenommen worden ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte
- Drucksache 13/4947 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/6094 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rudolf Meyer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Siegfried Hornung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute die Änderung des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte. Diese Gesetzesänderung ist wegen erheblicher Anlaufschwierigkeiten bei der Gewährung des Beitragszuschusses notwendig geworden. Durch die Agrarsozialreform 1995 ist das Beitragszuschußrecht in der Alterssicherung der Landwirte zum 1. Januar 1995 umfassend neu geregelt worden.
Verwaltung und Landwirte hatten sich auf eine Vielzahl neuer Regelungen der landwirtschaftlichen Alterssicherung und insbesondere des Zuschußrechts einzustellen. Die Landwirte sind mit einer Fülle von Formularen und Anträgen beim Vollzug des Agrarsozialreformgesetzes konfrontiert worden, bei denen eine Vielzahl von Fristen zu beachten war. Daher ist es verständlich, daß es zu den bekannten Anlaufschwierigkeiten gekommen ist.
Zu den Neuregelungen gehört auch die Verpflichtung der Landwirte, beim Antrag auf Beitragszuschuß den jeweils aktuellen Steuerbescheid spätestens zwei Monate nach seiner Ausfertigung der landwirtschaftlichen Alterskasse vorzulegen. Rund 33 000 Landwirte - das sind ungefähr 10 Prozent der Zuschußberechtigten - haben diese Vorlagefrist - vielfach aus Unkenntnis, aus falscher Einschätzung der Auflage - versäumt, was zum Ruhen des Beitragszuschusses führt und zur Rückforderung der gezahlten Zuschüsse verpflichtet. So steht es im Gesetz. Dies ist völlig unabhängig von dem neuen Steuerbescheid, selbst wenn der aktuelle Einkommensteuerbescheid den gewährten Beitragszuschuß bestätigt oder sogar noch zu einem höheren Zuschuß berechtigen würde. Trotzdem muß der betroffene Landwirt bei Überschreitung der Frist sämtliche Zuschüsse zurückzahlen.
Für viele zuschußberechtigte Landwirte war die Tragweite derartiger Bestimmungen trotz der klaren Information - das muß man sagen - durch die landwirtschaftlichen Alterskassen und die Bauernverbände, denen hier in keiner Weise ein Vorwurf gemacht werden kann, wohl nicht ganz erkennbar.
Diese Situation ist schon im zeitigen Frühjahr 1996 durch die Alterskassen erkannt worden, die mit der Bearbeitung der zahlreichen Anträge relativ schnell vorangekommen waren. Die Beitragsentlastung war nur ein Teil der Gesetzesänderung zum 1. Januar 1995. Ich erinnere an die Bäuerinnenrente - nahezu die doppelte Mitgliedschaft -, an Beitragsbefreiungstatbestände für Versicherungen und viele andere Bereiche, die wir - ebenfalls mit verschiedenen Fristen - in dieses Gesetz hineingenommen haben.
Der Ernährungsausschuß hat sich bereits vor der Sommerpause dieses Jahres mit den Fachexperten auseinandergesetzt, was jetzt durch den federführenden Ausschuß mit der Anhörung verfestigt wurde. In
Siegfried Hornung
der Sache hat sich seit Beginn 1996 nichts geändert. Auch die mehrfach angesprochene Vergleichbarkeit mit anderen Sozialgesetzen konnte von keinem Sachverständigen bestätigt werden.
Deshalb wollen wir mit der Gesetzesnovelle bei grundsätzlicher Beibehaltung des geltenden Rechts die Anlaufschwierigkeiten mildern, die sich bei der Umsetzung der Regeln zum Beitragszuschuß für die Alterssicherung der Landwirte ergeben haben. Diese Beitragsentlastung für einkommensschwache Bäuerinnen und Bauern war wohlgemerkt der politische Wille des ganzen Hauses.
Mit der vorgesehenen Neuregelung sollen die Beitragszuschußempfänger, die die Zweimonatsfrist zur Vorlage des Einkommensteuerbescheides versäumt haben, für einen begrenzten Zeitraum, nämlich für die Jahre 1995 und 1996, so gestellt werden, als hätten sie den Einkommensteuerbescheid innerhalb von zwei Monaten nach seiner Ausfertigung vorgelegt.
Danach führt die Fristversäumung nicht automatisch zum zeitweiligen Ruhen des gesamten Zuschusses. Statt dessen wird der Zuschuß auf der Grundlage des verspätet vorgelegten Einkommensteuerbescheides zeitgerecht neu berechnet und damit auf der Basis der tatsächlichen Einkommensverhältnisse festgelegt.
Auf die Rückforderung der wegen Fristversäumung zuviel gezahlten Beitragszuschüsse wird verzichtet, und von den Beitragszahlern bereits vorgenommene Rückzahlungen werden erstattet. Ich betone: Die Gesetzesänderung führt nicht dazu, daß Landwirte unberechtigt erhaltene Zuschüsse behalten können. Zu Unrecht gezahlte Zuschüsse müssen zurückgezahlt werden.
Damit entfällt auch der teilweise geäußerte Vorwurf, daß einige ihre Beitragsentlastung gestalten wollten. Den Vorschlag der Verbände, daß die Finanzverwaltung den Steuerbescheid im Rahmen der Amtshilfe direkt an die Alterskassen übersenden solle, möchte ich gerne aufgreifen. Dies muß aber von den zuständigen Finanzbehörden geprüft werden.
Der Koalitionsentwurf sorgt nunmehr dafür, daß die Beitragszuschüsse, wie vom Gesetzgeber gewollt, den Landwirten einkommensabhängig zugute kommen. Daher entstehen gegenüber den bei der Agrarsozialreform veranschlagten Kosten keine Mehraufwendungen.
Meine Damen und Herren, mit dieser Gesetzesänderung werden die Anlaufprobleme des Agrarsozialreformgesetzes praxisgerecht gelöst und für die betroffenen Landwirte einschneidende soziale Härten vermieden. Wir haben ein einfaches und übersichtliches Gesetz vorgelegt. Sie brauchen jetzt nur noch zuzustimmen. Die Koalition wird das tun.
Ich habe bewußt versucht, den Sachverhalt hier in einer sehr nüchternen und sachlich betonten Art und Weise vorzutragen. Ich bin überzeugt, daß der, der genau hingehört hat, aus der großen Anzahl von Äußerungen, die wir in der Anhörung vernommen haben, keine anderen Ergebnisse und Schlüsse zieht.
Recht herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ulrike Mascher.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich greife gern das Petitum für eine sachliche Beratung auf und unterdrücke deswegen die beiden Zeitungsausschnitte, die ich mitgenommen habe und die sehr unerfreuliche Überschriften hinsichtlich Ihres Begehrens haben.
Ich will die Debatte nicht anheizen.
- Gut, ich möchte das jetzt nicht weiter ausführen.
Wir haben von seiten der SPD versucht, uns sehr intensiv mit dem Anliegen der Landwirte und des Bauernverbandes auseinanderzusetzen. Die SPD hatte im Agrarausschuß eine Anhörung beantragt. Wir haben auch eine Anhörung im federführenden Sozialausschuß durchgeführt, allerdings erst vor kurzem, weil wir sowohl dem Deutschen Bauernverband als auch dem Bundesrechnungshof, der dieses Verfahren moniert hatte, die Gelegenheit geben wollten, ihre Positionen klarzumachen, und weil wir uns ein Bild davon machen wollten, ob es Argumente gibt, dem Gesetzentwurf der Regierung zuzustimmen.
Ich muß Ihnen sagen: Beide Anhörungen haben wirklich keine Erkenntnisse gebracht, die es uns ermöglicht hätten, dem Gesetz zuzustimmen.
Man muß sich mal anschauen, was in der Altersversicherung der Landwirte abläuft. Da besteht im Gegensatz zur gesetzlichen Rentenversicherung die Möglichkeit, bei niedrigen Einkommen Zuschüsse zur Verbilligung der Einheitsbeträge zu erhalten. Landwirtschaftliche Ehepaare mit Gesamteinkünften von bis zu 80 000 DM können nach einem einmalig zu stellenden Antrag Beitragszuschüsse erhalten. Dadurch wird ihr Monatsbeitrag entsprechend des Einkommens von 311 DM auf bis zu 62 DM abgesenkt. Dieser niedrigste Nettobeitrag von 62 DM wird bei Einkünften eines Ehepaares von bis zu 32 000 DM erreicht.
Wenn man das mit Einkommensgrenzen in anderen Sozialleistungssystemen - zum Beispiel beim Wohngeld oder beim Erziehungsgeld - vergleicht, stellt man fest, daß diese Grenzen nicht gerade niedrig sind. Gleichwohl hat die SPD diesen Zuschüssen zugestimmt, weil wir auch den vielen Landwirten mit geringem Einkommen hellen wollen. Ich sage das hier ganz ausdrücklich, weil draußen gern so getan wird, als würde sich die SPD gegenüber den Landwirten feindselig verhalten.
Ulrike Mascher
Grundlage für die Bemessung der einmal beantragten und dann fortlaufend gezahlten Zuschüsse sind die Einkünfte nach dem jeweils aktuellen Einkommensteuerbescheid. Erhält der zuschußberechtigte Versicherte vom Finanzamt einen neuen Einkommensteuerbescheid, so ist dieser nach spätestens zwei Monaten der Alterskasse vorzulegen. Wird diese Frist versäumt, hat das die Folge, daß rückwirkend zu zahlen ist. Das hat mein Vorredner schon ausgeführt.
Während in vielen Alterskassen dabei keine oder nur geringe Probleme aufgetreten sind, gibt es - regional unterschiedlich - eine erhebliche Anzahl von Fällen, in denen die rechtzeitige Vorlage des Einkommensteuerbescheids versäumt worden ist, obwohl die Versicherten sehr deutlich und vielfach auf die Rechtslage hingewiesen worden sind. Das ist uns jedenfalls von den Alterskassen und den beratenden Bauernverbänden immer wieder versichert worden.
Mir liegt zum Beispiel eine großgedruckte, auf einem Einzelblatt festgehaltene Erklärung vor, die der Antragsteller unterzeichnen mußte. Da heißt es:
Erteilt das Finanzamt einen neuen Einkommensteuerbescheid, werde ich diesen unverzüglich, spätestens aber bis zum Ablauf des zweiten auf das Datum des Bescheides folgenden Kalendermonats vorlegen. Mir ist bekannt, daß bei Versäumung dieser Frist ein Beitragszuschuß nicht mehr gezahlt werden kann und für diesen Zeitraum bereits gewährte Zuschüsse zurückgefordert werden.
Das mußte unterschrieben werden. Das ist, glaube ich, an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen.
Die landwirtschaftlichen Alterskassen haben sich aber noch mehr Mühe gegeben. Sie haben zum Beispiel in Oberfranken und Mittelfranken einen Aufkleber in Leuchtfarben gedruckt, der auf alle Einkommensakten geklebt werden sollte. Da heißt es:
Vergißmeinnicht - Vom Einkommensteuerbescheid sofort Kopie fertigen und an Alterskasse senden! Erst dann abheften!
Daß es in diesem Bereich keine ausreichende Beratung gegeben hat, daß das in der Flut der Neuregelungen, der Formulare übersehen werden mußte, ist nur schwer nachzuvollziehen. Wir müssen auch feststellen, daß nur etwa 10 Prozent der Zuschußberechtigten in allen Alterskassen Probleme haben.
Die Alterskassen sind verpflichtet, zuviel gezahlte Beitragszuschüsse zurückzufordern, wobei auch Ratenzahlung und Stundung gewährt werden kann. Kein Landwirt wird also um seine Existenz gebracht. Die Gesamtsumme der zurückzufordernden Zuschüsse beläuft sich aber immerhin auf etwa 32 Millionen DM. Bis zum Mai, also bis zum Ruhen der Rückforderungen wegen des Gesetzentwurfs der Koalition, waren bereits 10 Millionen DM zurückgezahlt worden.
Nach dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen soll nun die Zwei-Monats-Regelung generell bis Ende 1996 ausgesetzt werden. Warum diese Aussetzung so lange dauern soll, ist mir nicht ganz einsichtig.
Die SPD lehnt dieses Amnestiegesetz ab.
Die Beitragszuschüsse in der Landwirtschaft sind im Bereich der Sozialversicherung wirklich ziemlich einzigartig. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten eine ähnliche Subventionierung bei den Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Das ist unvorstellbar. Das wäre auch völlig unfinanzierbar.
Ich denke, daß es deswegen auch berechtigt ist, an die Zahlung der Zuschüsse strenge Maßstäbe zu binden. Ich weiß, daß die Zwei-Monats-Regelung im Gesetzgebungsverfahren auch vom Deutschen Bauernverband im Hinblick auf die gesellschaftliche Akzeptanz der Zuschüsse und auch auf die Akzeptanz innerhalb der gesamten Landwirtschaft gebilligt und akzeptiert worden ist.
Es gibt auch eine Vorgeschichte zu der Zwei-Monats-Regelung; denn bereits seit 1990 haben der Rechnungsprüfungsausschuß und der Bundesrechnungshof die Notwendigkeit der Rückforderung von Beitragszuschüssen nach dem alten Recht moniert. Damals waren die Landwirte ihren Mitwirkungspflichten in einem ganz erheblichen Umfang nicht nachgekommen.
- Ja. Aber daß es dabei Probleme gegeben hat, war der Anlaß, die Zwei-Monats-Regelung einzuführen.
Nun ist es nicht so, daß eine strenge Mitwirkungspflicht mit Folgen völlig einmalig ist. Wir kennen das im Rentenrecht, wir kennen das im Arbeitsförderungsgesetz. Mir liegt ein interessanter Fall in dieser Woche aus dem Petitionsausschuß vor. Da hat die Sekretärin eines kleinen Arzneimittelunternehmers die Frist versäumt, um einen Antrag für die Verlängerung der Zulassung eines Medikamentes zu stellen. Die Frist ist abgelaufen, und die Firma muß jetzt 750 000 DM für die unvermeidliche Neuzulassung des Medikamentes berappen. Wollen Sie dabei auch eine Amnestie fordern?
Die PDS hat in der Beratung eines Antrages, mit dem etwa 30 000 Rentner in den neuen Bundesländern von der Rückzahlung zu Unrecht erhaltener Sozialzuschläge befreit werden sollten, all die Argumente, die die Koalition heute vorbringt, angeführt: neue gesetzliche Regelung, Unübersichtlichkeit der Situation, keine Böswilligkeit bei der Entgegennahme der Sozialzuschläge. Die PDS ist damit bei Ihnen, den Koalitionsfraktionen, komplett gescheitert. Konsequenterweise hat sie sich jetzt enthalten. Möglicherweise stimmt sie heute auch zu.
Es gibt also in vielen Bereichen des Sozialrechts strenge Mitwirkungspflichten. Man kann nicht sagen, daß die Landwirte lediglich eine lästige Formalie nicht beachtet haben. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Landwirte die Möglichkeit haben,
Ulrike Mascher
die Beiträge stunden zu lassen oder in Raten zu zahlen.
Ich kann für die SPD nur erklären: Wir werden in diesem Fall Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Das heißt aber nicht, daß die Sozialpolitiker der SPD sich nicht für die Situation der sozial Schwerbelasteten eingesetzt haben.
- Nein, nein, Herr Heinrich! - Ich denke, wir haben bei der Agrarsozialreform gezeigt, daß wir uns für die eigenständige Sicherung der Landfrauen einsetzen. Wir haben die Befreiungsmöglichkeiten bei dieser Reform im Konsens mit Ihnen erweitert. Wir haben die Durchlässigkeit der landwirtschaftlichen Alterssicherung und der Rentenversicherung durch eine wechselseitige Anrechnung von Versicherungszeiten verbessert. Wir haben mit dazu beigetragen, daß bei der Reform der Arbeitsförderung die zunächst geplante Streichung des Arbeitslosengeldes für Nebenerwerbslandwirte wieder entfallen ist. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, das Gesetz zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit um drei Jahre zu verlängern, weil wir die soziale Flankierung der Agrarreform weiterhin brauchen.
Ich habe den Eindruck, daß Sie dem FELEG nicht zustimmen wollen. Dabei geht es auch um 25 bis 30 Millionen DM. Jetzt wollen Sie hier aber auf die Rückforderung von 32 Millionen DM verzichten.
Die SPD setzt sich auch weiterhin für die berechtigten Anliegen der Landwirte ein. Die geplante gesetzliche Heilung nicht wahrgenommener Mitwirkungspflichten, die gesetzlich klar geregelt sind, über die ausreichend aufgeklärt wurde und deren Kenntnisnahme jeder Betroffene gesondert bestätigen mußte, kann unsere Zustimmung leider nicht finden.
- Ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen. Ich hätte das auch wesentlich schärfer formulieren können. Wenn Sie sehen, wie wir in der gesetzlichen Rentenversicherung um alle möglichen Beiträge ringen - hier gibt es eine sehr großzügige Zuschußregelung für Geringverdiener in der Landwirtschaft -, dann würde ich mich an Ihrer Stelle sehr zurückhalten, vom schlechten Gewissen der SPD zu reden. Denjenigen, der das schlechte Gewissen hat, will ich woanders suchen.
Nun gebe ich der Abgeordneten Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, heute geht es nicht um Gewissensfragen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll heute etwas recht Ungewöhnliches im deutschen Sozialrecht geschehen: Obwohl eine Mitwirkungspflicht der Versicherten zwingend vorgeschrieben ist, sollen die Folgen einer Verletzung dieser Mitwirkungspflicht ausgeschlossen werden.
Sie haben recht: Die Neuregelungen der Alterssicherung für Landwirte waren umfangreich, viele neue Anträge und Fristen waren zu beachten. Gerade weil wir Verständnis dafür haben, daß die Umstellung für die Landwirte nicht immer einfach war, haben wir nicht zuletzt in der Anhörung versucht, genau zu prüfen, ob es auf Informationsmängel zurückzuführen war oder ob es unübersichtliche Formalitäten gewesen sind.
Diese Frage möchte ich genauso eindeutig beantworten, wie die Kollegin Mascher das gerade getan hat: Die Informationen waren zahlreich, sie waren gut aufbereitet, und die Landwirte haben die Kenntnisnahme von den Fristen für die Einreichung ihrer Bescheide einzeln unterschreiben müssen, so daß man auch nicht sagen kann, es sei im Kleingedruckten untergegangen.
Es mag auch sein, daß einzelne Kassen oder Buchstellen Fehler gemacht haben; das ist jedoch ein Konflikt zwischen dem Landwirt und seinem Berater, der gegebenenfalls zivilrechtlich ausgetragen werden muß.
Jetzt sagen Sie von der Koalition, daß Sie niemanden besserstellen wollten, als er nach den Buchstaben des Gesetzes sowieso gestellt wäre. Sie wollen nur die negativen Folgen einer Fristversäumnis verhindern. Das haben wir wohl verstanden, doch genau das ist das Problem. Wir können nicht nur von den finanziellen Auswirkungen der Fristversäumnis für den einzelnen Versicherten reden, wir müssen uns auch dem Gerechtigkeitsproblem stellen, das damit einhergeht.
Das will ich genauer erklären: Für die Erlangung staatlicher Leistungen schreibt das Sozialgesetzbuch eine Mitwirkungspflicht vor. Im Bereich der Alterssicherung für Landwirte ist diese Mitwirkung besonders wichtig, da der Einkommensnachweis schwieriger ist als bei abhängig Beschäftigten. Die strenge Neuregelung im Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte, wonach der Einkommensteuerbescheid innerhalb von zwei Monaten vorzulegen ist, war eine Schlußfolgerung aus zuvor aufgetretenen Schwierigkeiten bei der Einkommensfeststellung.
Es gibt also erstens einen besonders gewichtigen Grund für die enge Fristsetzung bei der Vorlage des Steuerbescheids. Zweitens - das ist der entscheidende Punkt - entspricht diese Mitwirkungspflicht dem, was von allen verlangt wird, die staatliche Transfers erhalten.
Auch wenn sich selbstverständlich - darüber haben wir in der Anhörung auch diskutiert - das Alterssicherungsrecht für die Landwirte systematisch von anderen Sicherungssystemen unterscheidet, in einem Punkt ist es vergleichbar: Wer die Bedingungen zur Erlangung einer Leistung nicht erfüllt, kann sie nicht erhalten oder muß sie gegebenenfalls zurückzahlen.
Andrea Fischer
Das ist in unseren Augen die entscheidende Frage nach der Gerechtigkeit. Wie soll man den Landwirten, die die Fristen eingehalten haben, erklären, warum die anderen, die sie nicht eingehalten haben, von den Folgen der Nichteinhaltung befreit werden sollen? Wie erklärt man all den anderen, die staatliche Leistungen bekommen, warum eine Gruppe von den Folgen eines Versäumnisses befreit werden soll?
Aus der Sicht der betroffenen Landwirte ist der ganze Vorgang zweifelsohne unerfreulich. Aber wir können die grundlegenden Regeln der Sozialpolitik nicht in Einzelfällen außer Kraft setzen. Wie sollen wir dann in anderen Fällen unser Beharren auf Einhaltung der Regeln rechtfertigen?
Das Eingehen auf den Einzelfall steht hier im Konflikt zu den für alle gültigen Verfahrenswegen. Wir können daher dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, weil er eine Gruppe von Leistungsempfängern besser behandelt als andere.
Wer dieser Regelung zustimmt, wird gegenüber jeder weiteren Gruppe, die von den Folgen ihrer Versäumnisse befreit werden möchte, in große Begründungs- und Rechtfertigungsschwierigkeiten kommen.
Deswegen sind es grundsätzliche sozialpolitische Erwägungen, die uns dazu veranlassen, den Gesetzentwurf der Koalition abzulehnen. Wir haben den Eindruck, daß hier ein Einzelfall für eine besonders durchsetzungsstarke Gruppe geschaffen werden soll.
Ich erteile dem Abgeordneten Ulrich Heinrich das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Novelle ist notwendig, weil auf Grund eines sehr komplizierten Gesetzes Fristversäumnis entstanden ist, was wir hiermit heilen. Wir sind der Meinung, daß es keine Einzelfallregelung ist; vielmehr, Frau Kollegin Fischer, haben über 10 Prozent der Versicherten das nicht richtig verstanden. Die große Zahl von über 30 000 Versicherten, die das nicht verstanden haben, ist Anlaß für uns, dies zu heilen.
Nun kann man die Dinge rein puristisch betrachten. Wenn man sich die Situation der Betroffenen einmal ansieht, dann ist festzustellen: Das Fristversäumnis geht natürlich zu ihren eigenen Lasten. Es ist keinesfalls damit in Verbindung zu bringen, daß wir hier heute eine Amnestie für Leute machen, die sich selbst einen Vorteil verschaffen wollten. Das muß hier deutlich gesagt werden; denn ein solcher Unterton klingt in den Sätzen immer mit, in denen das Sozialversicherungssystem der Landwirtschaft mit dem der gesetzlichen Rentenversicherung oder anderen Sozialversicherungssystemen verglichen wird.
Frau Kollegin Mascher, Sie haben die Beitragszuschüsse hier als ein politisches Novum herausgehoben. Damit haben Sie recht; es ist sonst nicht üblich. Aber das gesamte System der Sozialversicherung der Landwirte ist nicht mit dem anderer vergleichbar. Wenn Sie das sagen, dann müssen Sie gleichzeitig auch sagen, daß wir in der Landwirtschaft einen Einheitsbeitrag und eine einheitlich hohe Rente bzw. Leistung haben. Auch das ist in der gesetzlichen Rentenversicherung selbstverständlich nicht der Fall.
Wenn Sie die Höhe des Zuschusses bemängeln, dann muß ich Sie darauf hinweisen, daß bei der Ermittlung der Höhe des Zuschusses nicht allein das Erwerbseinkommen aus der Landwirtschaft, sondern alle sieben Arten von steuerpflichtigen Einkommen zugrunde gelegt werden. Ich bitte Sie schon, dies zu berücksichtigen; denn dies ist ein riesengroßer Unterschied.
Erst recht möchte ich darauf hinweisen, daß wir, wenn wir es mit einer Materie zu tun haben, die die Landwirtschaft, betrifft, nicht Äpfel mit Birnen vergleichen dürfen. Es ist wohl das allerletzte, was eine Sozialpolitikerin tun kann, wenn sie unser System in der Landwirtschaft mit dem der gesetzlichen Rentenversicherung vergleicht und daraus dann ableitet, daß hier ohnehin Sondervergünstigungen enthalten sind und diese Sondervergünstigungen nun auch noch denen gewährt werden sollen, die sie selber eigentlich verwirkt haben. So kann man nicht argumentieren.
Ich erzähle Ihnen einmal von einer Frau, die mir vorgestern geschrieben hat. Sie wußte nicht, daß wir das jetzt beraten, daß diese Novelle jetzt zur Beratung ansteht, sondern sie hat mir als eine Bürgerin in meinem Wahlkreis geschrieben. Sie hat mir erzählt, daß sie ein Familieneinkommen von 17 000 DM hat und daß jetzt Rückforderungen von mehr als 3 000 DM an sie gestellt werden. Sie hat ein jährliches Familieneinkommen von 17 000 DM! Das liegt unter Sozialhilfeniveau. Und da wollen Sie als Sozialpolitikerin sagen, daß das keine Berücksichtigung zu finden hat? Ich muß schon sagen, das geht mir doch zu weit. Solche Schwierigkeiten gibt es in mehr als 30 000 Fällen.
Ich bitte also darum, daß wir zum einen die Tatsachen nicht verdrehen und keine falschen Vergleiche anstellen und zum anderen auch im Rahmen unserer sozialpolitischen Verantwortung der großen Zahl von Leuten, die bei Gott nichts zu verschenken haben, sondern deren Einkommen unter Sozialhilfeniveau liegen, eine entsprechende Genugtuung zuteil werden lassen.
Ich gebe der Abgeordneten Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute zu verabschieden-
Petra Blass
den Gesetz beweist die Bundesregierung, daß sie auch kulant handeln kann.
Bei Landwirten, die Beitragszuschüsse zur Alterssicherung erhielten, jedoch nicht fristgemäß ihre Steuererklärung vorlegten, wird von den im Gesetz eigentlich vorgesehenen Sanktionen abgesehen. Sicher liegt ein Großteil der Schuld bei den Betroffenen selbst. Aber Anlaufschwierigkeiten beim Alterssicherungsgesetz der Landwirte einkalkulierend, rettet sie nun eine Übergangsregelung für 1995 und 1996 vor finanziellen Einbußen.
Insbesondere für Landwirte in den neuen Bundesländern, die nach Wieder- oder Neueinrichtung ihrer Wirtschaft neben vielem anderen Neuen mit einer sich verändernden Alterssicherung konfrontiert wurden, sind die drohenden Sanktionen, wie mir der Landesbauernverband Sachsen-Anhalt mitteilte, existentiell.
Diese Kulanz ist hervorhebenswert, weil die Bundesregierung in jüngster Vergangenheit - Frau Kollegin Mascher hat bereits darauf verwiesen - mit Empfängerinnen von Sozialzuschlägen in den neuen Bundesländern ganz anders umgesprungen ist. Hier war die Problemlage rechtlich weitaus schwieriger.
- Das ist nicht unmittelbar vergleichbar. Ich finde aber, es ist im nachhinein geradezu ein Argument, auch diesen Betroffenen diesbezüglich diese Rechte zuzugestehen.
Je nach Rentenzugangsjahr waren die Verweise auf die vorbehaltliche Zahlung des Sozialzuschlags nur mehr oder weniger deutlich, zum Teil gar nicht im Rentenbescheid vorhanden.
Es gab ältere Bürgerinnen, die, durch Medienhinweise aufmerksam gemacht, zur Rentenstelle gingen und anzeigten, daß sie mit dem Partnereinkommen wohl über die zulässige Grenze gekommen sind. Die meisten wurden damals nach Hause geschickt mit der Auskunft, doch froh zu sein, den Zuschlag weiterhin zu erhalten.
Wer sich seinen Besuch beim Amt hatte quittieren lassen, war vor Gericht chancenreich, die Rückzahlungsforderung von Tausenden von Mark abwenden zu können. Doch wer von den hochbetagten Menschen ist schon diesen Schritt gegangen? Viele haben sich damals auf ein Abstottern in 20-DM-Raten eingelassen.
Die meisten hatten die Aufstockung der eigenen Rente auf anfangs 600 DM und zuletzt 674 DM für die alltägliche Lebensführung verbraucht. So wäre es mehr als kulant, es wäre human gewesen, hier von den Rückforderungen abzusehen.
Nicht zuletzt waren die Auslöser der Überzahlung die Rentenkassen, die zum Abgleich mit dem Partnereinkommen technisch und vom Datenbestand her noch nicht in der Lage waren. Und es gab keine große Klebzettel-Hinweisaktion wie jetzt bei den Landwirten.
Es ist ja begrüßenswert, wenn sich die SPD jetzt derart vehement für die Sozialzuschlagsempfängerinnen einsetzt. Diese Engagement hätte ich mir nur nicht erst heute gewünscht, sondern bereits im Januar 1995, als wir mit einem Antrag, Drucksache 13/ 274 - Sie sehen, es handelt sich um eine sehr frühe Nummer -, die Rückforderungen zu stoppen versuchten. Das ganze Jahr über war der Antrag der PDS im parlamentarischen Geschäft. Keiner hat sich gemeinsam mit uns für einen großzügigen Stopp in einer Ausnahmesituation engagiert.
Wir werden den heutigen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung der Alterssicherung der Landwirte nicht ablehnen, sondern uns der Stimme enthalten.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, meine Damen und Herren, daß sowohl auf der Pro- als auch auf der Kontra-Seite die Argumente ein klein wenig an den Haaren herbeigezogen worden sind.
Wir meinen, die Zeit ist überfällig, daß die Bundesregierung eine ähnlich kulante Lösung für die Sozialzuschlagsempfängerinnen schafft. Jüngste Sozialgerichtsurteile belegen, daß hier Handlungsbedarf besteht.
Nun gebe ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf Kraus das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Mascher, Sie haben in Ihrer Rede darauf hingewiesen, daß die Zeitungen auch heute wieder außerordentlich unerfreuliche Überschriften haben. Ich habe einen solchen Zeitungsausschnitt hier. Daran zeigt sich, daß die Zeitungen schlicht und einfach falsch berichten.
In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" steht die Überschrift: „Koalition: Landwirte sollen falsche Zuschüsse zur Alterskasse behalten". Weiter steht dort - ich muß dies hier vortragen, weil dadurch das Problem klar wird -:
Bedingung ist ..., daß die Landwirte ihren Einkommensteuerbescheid innerhalb von zwei Monaten den Alterskassen vorlegen. Versäumen sie diese Frist, ruht der Anspruch auf einen Beitragszuschuß. Wird dies später festgestellt, ist das zuviel gezahlte Geld zurückzuzahlen.
Sehen Sie, genau das ist der Punkt, der die Leute auf die falsche Fährte führt.
Das ist nur die halbe Wahrheit. Selbstverständlich
muß der zuviel gezahlte Betrag zurückgezahlt werden. Darüber gibt es keinen Zweifel. Es muß aber
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
eben auch der nicht zuviel gezahlte Betrag zurückgezahlt werden. Das, Frau Mascher, ist eine ganz ungewöhnlich strenge Regelung im Sozialrecht. Diese Regelung, die auf Wunsch der Alterskassen eingeführt worden ist, hat für die betroffenen Menschen eine weitreichende Konsequenz.
Wir sind trotzdem dafür, daß man diese Bestimmung zunächst beibehält und sie nach einer Übergangszeit von zwei Jahren aufhebt. Das scheint nicht richtig verstanden worden sein, sonst würde von Ihnen nicht das Beispiel AFG angesprochen werden, Frau Mascher. Dort ist in § 231 festgehalten, daß jemand, der nicht unverzüglich Änderungen in seinen Einkommensverhältnissen dem Arbeitsamt mitteilt, Bußgeld zu zahlen hat.
Diesem konkreten Punkt bin ich nachgegangen: Ich habe in einem für einen Bezirk verantwortlichen Arbeitsamt angerufen und mir berichten lassen, wie die Praxis ausschaut. Dabei hat sich herausgestellt, daß in diesem Bezirk im Jahre 1995 621 derartige Fälle aufgetreten sind. In 385 Fällen war die Angelegenheit mit einer Verwarnung von seiten des Arbeitsamtes erledigt. In 142 Fällen mußten Verwarnungsgelder bezahlt werden. Nur in 94 Fällen kam es zu einem Bußgeldbescheid. Das Bußgeld - jetzt hören Sie genau zu; das Verwarnungsgeld ist noch geringer - bewegt sich dort im Durchschnitt bei 150 DM. Das heißt, die Sanktionen, die aus solchen Fristversäumnissen entstehen, sind im Agrarsozialrecht ungleich härter und strenger geregelt als in anderen vergleichbaren Gesetzen. Es ist daher gerechtfertigt, daß wir in diesem Bereich vorübergehend einen anderen Maßstab anlegen.
Auch Frau Fischer hat gesagt, daß hier etwas völlig Ungewöhnliches geschieht. Das ist richtig, Frau Fischer. Aber warum soll sich der Gesetzgeber schämen, wenn er etwas korrigiert, was er als überzogen erkannt hat? Die Größe eines Parlaments zeigt sich darin, daß es in der Lage ist, eine solche Korrektur anzubringen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Mascher?
Aber gerne.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, können Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit erklären, warum der Bundesrechnungshof so strikt darauf beharrt, daß diese Regelung in der landwirtschaftlichen Alterversorgung beibehalten wird? Können Sie bestätigen, daß diese Rückzahlungen erfolgen, weil die Mitwirkungsrechte - dies trifft für Ihre Fraktion zu; auch der Bundesrechnungshof hat aus langjähriger
Erfahrung diesen Eindruck - als bloße Formalie behandelt und nicht ausreichend ernst genommen werden, obwohl im Bereich der landwirtschaftlichen Alterskasse eine besonders großzügige Regelung vorgesehen ist?
Frau Mascher, ich kann mir das nur so erklären, daß der Bundesrechnungshof diese Regelung primär nach formalen Gesichtspunkten beurteilt. Aber dieses Parlament ist keine Zusammenkunft von Mitarbeitern aus der Rechnungsabteilung oder der Buchhaltung. Die Mitglieder des Parlamentes müssen vielmehr einen politischen Willen ausdrücken. Deshalb muß man den zur Verfügung stehenden Spielraum unter Abwägung aller Gesichtspunkte nutzen. Wenn ich das tue, kann ich den von uns vorgelegten Gesetzentwurf gut begründen, weil primär eine politische Entscheidung getroffen wurde.
Ich möchte mit meinem Beitrag fortfahren. Frau Fischer, Sie haben gesagt, daß diese heutige Entscheidung ungewöhnlich ist. Ja, das ist richtig. Aber ungewöhnlich streng, darauf will ich auch noch einmal hinweisen, ist auch das Verfahren, das diesem Gesetzentwurf zugrunde liegt. Das Verfahren ist wesentlich strenger, als dies in vergleichbaren Gesetzen der Fall ist. Deswegen sind die Regelungen für eine Übergangszeit vertretbar.
Es hat mich immer maßlos gekränkt, wenn von seiten der Opposition manchmal der Eindruck verbreitet wurde, daß ausgerechnet in der Gegend, aus der ich komme, die Anzahl der Fälle mit Fristversäumnis besonders groß ist. Ich habe zwischenzeitlich festgestellt - lassen Sie mich dies mit einer gewissen Genugtuung sagen -, daß die Fristversäumnisse ein bundesweites Phänomen sind. Diese Tatsache bedeutet sozusagen eine Rehabilitierung derjenigen, die aus meiner Heimat stammen.
- Ich hätte das auch gerne erwähnt; aber der zuständige Mann aus dem Saarland ist nicht da. Deswegen wollen wir uns das sparen.
Frau Mascher, man sollte wirklich noch einmal an die Opposition appellieren. Die Agrarsozialpolitik ist meines Erachtens wirklich in guter, kollegialer Weise diskutiert worden. Wir sind zu einem vernünftigen Konsens gekommen; das war nicht immer leicht. Insgesamt war es mit Sicherheit sehr positiv.
Es ist sehr schade, daß diese relativ kleine sachgerechte Korrektur jetzt nicht von uns gemeinsam getragen werden kann. Aber selbst wenn Sie jetzt dagegen stimmen: Vielleicht können wir die Argumente und vor allem die ungewöhnliche Strenge dieses Vorgehens und die erheblichen Auswirkungen, die auch Herr Heinrich geschildert hat, noch einmal überdenken. Auf die Dauer wird man sicher nicht
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
umhin können, diese Vorschriften streng anzuwenden. Es steht diesem Parlament gut an, während der Einführungszeit eine Regelung vorzusehen, die einfach aus dem Gefühl für soziale Gerechtigkeit begründbar ist.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe damit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte, Drucksache 13/4947. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/6094, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltung? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen worden.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltung? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit demselben Stimmenverhältnis angenommen worden.Ich rufe die Zusatzpunkte 10a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mutterschutzrechts- Drucksache 13/2763 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- Drucksache 13/6110 -Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marliese Dobberthien Maria EichhornRita GrießhaberSabine Leutheusser-Schnarrenberger Heidemarie Lüthb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Marliese Dobberthien, Christel Hanewinckel, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGleichstellung von Hausangestellten im Mutterschutzgesetz- Drucksachen 13/3533, 13/6110 - Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marliese Dobberthien Maria EichhornRita GrießhaberSabine Leutheusser-Schnarrenberger Heidemarie LüthEs ist vorgeschlagen worden, die Reden zu Protokoll zu nehmen.*)Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.Wir kommen damit zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Mutterschutzrechts, Drucksachen 13/2763 und 13/6110, Nr. 1. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltung? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Wer zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. - Das ist das ganze Haus. Es gibt keine Gegenstimmen und keine Enthaltung. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Gleichstellung von Hausangestellten im Mutterschutzgesetz, Drucksache 13/6110, Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3533 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltung? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.Der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/6110 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltung? - Auch diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertragswerk vom 17. Dezember 1994 über die Energiecharta- Drucksache 13/5742 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/6029 -Berichterstattung:Abgeordnete Ursula SchönbergerAuch hier ist gebeten worden, die Reden zu Protokoll geben zu können.**)*) Anlage 3 * *) Anlage 4
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. November 1996 12549
Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerSind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.Wir kommen also wiederum gleich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertragswerk über die Energiecharta. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/6029, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltung? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und b auf:a) Erste Beratung von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des PflegeVersicherungsgesetzes
- Drucksache 13/5002 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitHaushaltsausschußb) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Barbara Höll, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDSStand der Umsetzung der Pflegeversicherung - Drucksachen 13/3361, 13/5258 -Die Redner der CDU/CSU, F.D.P., SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen bitten darum, ihre Reden zu Protokoll geben zu können.*)
- Auch der Vertreter der Regierung möchte seine Rede zu Protokoll geben.Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.Ich eröffne die Aussprache und gebe der Abgeordneten Petra Bläss, die für die PDS sprechen möchte, das Wort. Wir hören Ihnen noch zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann es mir nicht verkneifen: Freitag um eins macht jeder seins. Denn es steht ein PDS-Tagesordnungspunkt auf dem Programm - der einzige, wohlgemerkt, den wir in dieser Woche auf der Tagesordnung hatten.
Wir sollten heute über die Antwort auf eine Große Anfrage der PDS zum Stand der Umsetzung der Pflegeversicherung und über unseren Entwurf zur Änderung des Pflegeversicherungsgesetzes debattieren. Beides hängt eng miteinander zusammen. Im Zusammenhang mit der Großen Anfrage erhielten wir manche Antworten, die mit der Frage nichts zu tun hatten, und manchmal beantwortete die Bundesregierung auch Fragen, die niemand gestellt hatte. Bei
*) Anlage 5 einer Reihe von Fragen konnte die Bundesregierung nur deshalb halbwegs positiv antworten, weil die Behinderten- und Sozialverbände sowie der Vermittlungsausschuß einige wenige der beabsichtigten miesen Lösungen verhindert haben.
Die Antworten - auch das, was man zwischen den Zeilen lesen kann - zeigen: Mit der Pflegeversicherung wurde der Weg zu einer Zwei-Klassen-Pflege beschritten. Da die Pflegeversicherung nur die Grundleistungen abdeckt, werden nur Begüterte ergänzende Hilfen dazu kaufen können. Wir halten diese Entwicklung für sehr verhängnisvoll.
Deshalb legen wir einen Gesetzentwurf vor, der eine andere Richtung einschlagen soll. Herr Blüm machte uns dazu Hoffnungen. Denn im März dieses Jahres antwortete die Bundesregierung auf eine Frage von uns, was mit Überschüssen geschehe - ich zitiere -:
In der sozialen umlagefinanzierten Pflegeversicherung ist gewährleistet, daß Überschüsse unmittelbar den Versicherten zugute kommen. So werden sich ergebende Finanzierungsspielräume vorrangig für Leistungsanhebungen genutzt werden.
Ein halbes Jahr später scheint das nicht mehr wahr zu sein. Letzte Woche in der Aktuellen Stunde verkündete Herr Blüm, daß die Pflegeversicherung am Ende des Jahres zwar eine Rücklage von 8,7 Milliarden DM hat - das sind übrigens immerhin fast vier Monatsausgaben -, daß es jetzt für Leistungsanhebungen aber keinen Spielraum gebe.
Wir erwarten eine Stellungnahme seitens der Regierung dazu, was nun gilt. Wir meinen: Die Probleme, die es an allen Ecken und Enden mit der Pflegeversicherung gibt, harren dringend einer Änderung.
Die Bundesregierung hatte sich selbst das Ziel gesetzt: Ablösung der Sozialhilfe bei Pflegebedürftigkeit als Regelfinanzierung. Das war 1993 und 1994 die Ankündigung.
Die Realität sieht anders aus. Fast zwei Jahre nach Inkrafttreten der ambulanten Pflege gibt es keine zuverlässigen Aussagen zu den Einsparungen bzw. zum Rückgang der Sozialhilfeabhängigkeit bei Pflegebedürftigkeit. Der Berliner Senat kommt sogar zu dem Schluß, daß seine Ausgaben im Bereich der ambulanten Pflege mit Wirksamwerden der Pflegeversicherung - wenn auch geringfügig - anwachsen werden.
Im stationären Bereich will uns die Bundesregierung durch Jonglieren mit Zahlen anderes weismachen. So wird in vorliegender Antwort ausgeführt, daß der Kostenanteil für Unterkunft und Verpflegung 30 bis 37 Prozent der Pflegesätze der Einrichtungen beträgt. Dargestellt wird dann, daß der Pflegesatz in den alten Bundesländern 4 000 DM und in den neuen Bundesländern 3 400 DM beträgt. Dann wird haarscharf gegengerechnet, daß bei einer durchschnittlichen Leistung der Pflegeversicherung von 2 500 DM pro Monat in Ostdeutschland ein Einkom-
Petra Blass
men von 1 100 DM ausreicht, um von der Sozialhilfe unabhängig zu werden.
Die kühne Schlußfolgerung der Bundesregierung lautet auf dieser Grundlage: Aufs Ganze gesehen wird durch die Leistungen der Pflegeversicherung die Unabhängigkeit von der Sozialhilfe weitgehend erreicht.
Da kann ich nur fragen: Kennt diese Bundesregierung ihre eigenen Gesetze und die von ihr in Auftrag gegebenen Studien nicht?
Bei Pflegestufe 0 ist die Sachlage völlig klar. Die Sozialhilfeabhängigkeit bleibt, so wie sie bisher bestand, und das wird aller Voraussicht nach für über 25 Prozent der bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner zutreffen.
Bei der Pflegestufe 1 gibt es gegenwärtig bis Ende 1997 noch pauschal 2 000 DM von der Pflegeversicherung, danach weniger.
Eine Gegenüberstellung für Ostdeutschland deckt derzeit eine Differenz von 1 400 DM auf. Damit ist zweifelsfrei klar, daß 1 100 DM Einkommen im Durchschnitt nicht ausreichend sind. Ziehe ich noch die Daten über die Einkommen aus der Studie „Hilfe- und Pflegebedürftige in privaten Haushalten" heran, die ausweisen, daß 65 Prozent der alleinlebenden pflegebedürftigen Menschen ein Einkommen unter 1 000 DM im Monat haben, ist die Situation noch zugespitzter.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die Einkommenssituation pflegebedürftiger Menschen in privaten Haushalten so stark von der Situation in Einrichtungen unterscheiden sollte. Ich meine, daß man diesen Menschen wenigstens etwas frei verfügbares Geld zugestehen sollte.
Fazit: Eine Mehrheit - nach unseren Informationen über 50 Prozent - wird von der Sozialhilfe allein aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit abhängig bleiben.
Die PDS schlägt deshalb als einen ersten Schritt zum wirksamen Abbau von Sozialhilfebezug vor, eine Pflegestufe 0 und ein Mindestpflegegeld von 300 DM pro Monat in der Pflegeversicherung vorzusehen.
Aufgrund der Finanzsituation ist ein derartiger Schritt möglich.
Der zweite Änderungsvorschlag betrifft die Behandlungspflege. In allen einschlägigen Veröffentlichungen und Stellungnahmen wird betont, daß das Vorgehen, die Kosten der Behandlungspflege zu Lasten der Pflegeversicherung zu berechnen, systemwidrig ist. Daß diese Regelung 1999 überprüft werden soll, ändert nichts an der Tatsache. Bis dahin sind durch die jetzige Verfahrensweise Tatsachen geschaffen worden, die eine Rücknahme dieser Regelung fast unmöglich machen werden.
Wir meinen, die Entscheidung, die medizinische Behandlungspflege in Heimen den Pflegekassen zuzuweisen, ist nicht nur ungerecht, sondern ordnungspolitisch unhaltbar.
Während ein ambulant gepflegter Mensch auf der Grundlage des SGB V diese Leistung ganz selbstverständlich erhält, bekommt eine Heimbewohnerin oder ein Heimbewohner diese Leistung nicht, obwohl alle Krankenversicherungsbeiträge entrichten. Der Anspruch der Bewohnerinnen und Bewohner auf Krankenversicherungsleistungen wird folglich von der Bundesregierung willkürlich reduziert. Die pauschalen Leistungen der Pflegekassen zur Deckung der pflegebedingten Kosten reichen in den meisten Fällen nicht aus. Jede zweite Leistungsempfängerin bzw. jeder zweite Leistungsempfänger hat durchschnittlich Zusatzkosten von 653 DM im Monat selbst zu tragen.
Der Vorschlag der PDS, die medizinische Behandlungspflege der gesetzlichen Krankenversicherung zuzuordnen, hat zum Ziel, die Pflegeversicherung von sachfremden Leistungen zu befreien.
Nebenbei wird damit die Chance, noch mehr Menschen mit der Pflegeversicherung aus der Sozialhilfeabhängigkeit herauszuholen, größer.
In unserem Gesetzentwurf fordern wir letztlich, die Finanzierung der Pflegeversicherung auf solidarische Grundlagen zu stellen. Nun wird mir sicher wieder die Sorge um den „Standort Deutschland" entgegengehalten. Aber ich frage Sie: Was haben die Spargesetze, die Gesetze zur Entlastung der Unternehmen real gebracht?
Zum Abschluß noch ein paar Bemerkungen zum Pflegebereich als Bereich der Erwerbsarbeit.
Die Voraussage des Bundesarbeitsministers, daß die Pflegeversicherung ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm sein wird, erweist sich zunehmend als Luftbuchung. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise wurden im Zusammenhang mit der ersten Stufe der Pflegeversicherung landesweit zirka 30 Arbeitsplätze neu geschaffen. Und alle Informationen mit Einführung der zweiten Stufe signalisieren einen Abbau von Arbeitsplätzen im Pflegebereich.
Für äußerst bedenklich halte ich, daß sich die Bundesregierung in einer Antwort, wenn auch verdeckt, aber unübersehbar gegen eine tarifliche Entlohnung der Beschäftigten im Pflegesektor ausspricht. Zitat: „Eine starre Bindung an Tarifverträge liefe weitgehend auf eine Erstattung der Personalkosten hinaus."
Diese Aussage war gar nicht erfragt, aber sie bestätigt alle Signale. Mit der Pflegeversicherung wird begonnen, die tarifliche Entlohnung im sozialen Bereich - so sie überhaupt noch besteht - zu unterlaufen. Berücksichtige ich noch, daß in diesem Bereich vorwiegend Frauen beschäftigt sind, so bestätigt sich einmal mehr die ausgesprochene Frauenfeindlichkeit dieser Bundesregierung.
Der von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Entschließungsantrag setzt unser Anliegen fort, Klarheit und Änderung im Pflegebereich zu schaffen. Daher
Petra Bläss
unterstützen wir ihn. Wir hoffen, daß auch unser Gesetzentwurf in seriöse Sacharbeit einfließt.
Das war die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/5002 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6124, der ebenfalls Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes war, zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Gesundheit zu überweisen. Damit sind Sie auch einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 26. November 1996, 11 Uhr, ein.
Ich wünsche den wenigen Kolleginnen und Kollegen, die noch da sind, und den vielen Besuchern auf der Tribüne ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.