Protokoll:
13131

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 13

  • date_rangeSitzungsnummer: 131

  • date_rangeDatum: 17. Oktober 1996

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:44 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 13/131 (Zu diesem Protokoll folgt ein Nachtrag) Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 131. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Herbert Meißner 11743 A Fraktionszugehörigkeit des Abgeordneten Kurt Neumann (Berlin) 11743 A Benennung des Abgeordneten Michael Jung (Limburg) als neues stellvertretendes Mitglied im Regulierungsrat beim Bundesminister für Post und Telekommunikation 11743 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 11743 B Absetzung der Punkte 18a und b von der Tagesordnung 11743 C Nachträgliche Ausschußüberweisung . 11743 D Tagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 1996 (Drucksache 13/4555) 11743 D b) Große Anfrage der Abgeordneten Maritta Böttcher, Rolf Kutzmutz und der Gruppe der PDS: Situation der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen 13/2791, 13/5675) 11743 D Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBF 11744 A Wolfgang Thierse SPD 11747 B Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 11748A, 11761 D Frederick Schulze CDU/CSU 11750 A Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU 11750 D Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/ CSU 11751 B Peter Dreßen SPD 11751 C Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11752 D Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. . . . 11755 A Maritta Böttcher PDS 11757 A Werner Lensing CDU/CSU 11758 C Jörg Tauss SPD 11759 C Franz Thönnes SPD 11760 A Günter Rixe SPD 11760 C Karl-Heinz Scherhag CDU/CSU . . 11762 A Josef Hollerith CDU/CSU 11763 A Edelgard Bulmahn SPD 11764 A Werner Lensing CDU/CSU 11764 D Klaus Barthel SPD 11765 C Karl-Heinz Scherhag CDU/CSU . . . 11766 C Günter Rixe SPD 11767 C Franz Thönnes SPD 11768 B Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . . 11769 C Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Joachim Poß, Ingrid Matthäus-Maier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 in Kraft setzen (Drucksache 13/ 5510) 11770 D Joachim Poß SPD 11770 D Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 11773 A Hans-Peter Repnik CDU/CSU 11775 B Otto Schily SPD 11775 C Ingrid Matthäus-Maier SPD 11767 C Joachim Poß SPD 11777C, 11782 C Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 11778 D Detlev von Larcher SPD 11779 B Dr. Barbara Hendricks SPD 11779 D Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11780 B Elke Wülfing CDU/CSU 11782 B Volker Kröning SPD 11783 A Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/CSU 11783C . Dr. Guido Westerwelle F D P. 11783 D Jörg-Otto Spiller SPD 11784 C Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11784 D Dr. Barbara Höll PDS 11787 C Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 11789 B Rudolf Scharping SPD 11792 A Friedrich Merz CDU/CSU . . . 11794 C, 11797 B Ernst Schwanhold SPD 11796 D Hans Michelbach CDU/CSU 11797 B Tagesordnungspunkt 22: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Änderung vom 18. Mai 1995 des Übereinkommens zur Gründung der Europäischen Fernmeldesatellitenorganisation „EUTELSAT" (Drucksache 13/5716) 11798 C b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Änderung vom 31. August 1995 des Übereinkommens über die Internationale Fermeldesatellitenorganisation „INTELSAT" (Drucksache 13/5719) 11798 C c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. November 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Namibia über den Luftverkehr (Drucksache 13/5717) 11798 D d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Revision des Übereinkommens vom 20. März 1958 über die Annahme einheitlicher Bedingungen für die Genehmigung der Ausrüstungsgegenstände und Teile von Kraftfahrzeugen und über die gegenseitige Anerkennung der Genehmigung (Drucksache 13/5718) 11798 D e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. Dezember 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft an den Grenzgewässern (Drucksache 13/5720) 11798 D f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anhangs 1 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 (Drucksache 13/5738) 11799 A g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertragswerk vom 17. Dezember 1994 über die Energiecharta (Drucksache 13/5742) 11799 A h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1997 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1997) (Drucksache 13/5741) 11799 A Tagesordnungspunkt 23: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (Drucksachen 13/5585, 13/5804) 11799 B b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zustimmungsgesetzes zum WismutVertrag (Drucksachen 13/4789, 13/5765) 11799 C c) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Antje Hermenau, Kristin Heyne, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mögliche zweckwidrige Verwendung von Steuergeldern durch die Förderung eines Berufsbildungsprojektes in Montevideo (Uruguay) (Drucksachen 13/5008, 13/5659) . . . 11799 D d) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Neunundachtzigste Verordnung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 13/5550 Nr. 2.1, 13/5764) . . . 11800 A e) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertdreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz (Drucksachen 13/5229, 13/5550 Nr. 2.2, 13/5766) 11800 A f) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines Grundstücks in BerlinMitte (Drucksachen 13/5039, 13/5660) 11800 B g) Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Haushaltsführung 1996; Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 - Von der EU nicht übernommene Marktordnungsausgaben - bis zur Höhe von 34 174 000 DM (Drucksachen 13/4804, 13/4906 Nr. 4, 13/5763) 11800 C h) Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses: Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 13/5762) . . 11800 C i) Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 45 zu Petitionen (Entschädigung für gesundheitliche Schäden während der Zeit des Zweiten Weltkrieges in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager) (Drucksache 13/1582) 11800 D j) Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 150 zu Petitionen (Weiterer Aufenthalt für abgelehnte Asylbewerber aus Zaire) (Drucksache 13/5748) 11801 A k) bis n) Beratung der Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 146, 147, 148 und 149 zu Petitionen (Drucksachen 13/5744, 13/5745, 13/5746, 13/5747) 11801 B Zusatztagesordnungspunkt 1: Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates - Erstes Mehrjahresprogramm zur Förderung des europäischen Tourismus „PHILOXENIA" (1997-2000) (Drucksachen 13/ 5555 Nr. 2.40, 13/5820) 11801 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zur Vorschlägen zur Besteuerung von Renten, Kürzungen bei Witwenrenten und Heraufsetzung des Rentenalters 11801 D Ulrike Mascher SPD 11801 D Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 11802 D Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11804 A Dr. Gisela Babel F.D.P 11805 A Petra Bläss PDS 11806 B Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11807 B Gerd Andres SPD 11809 B Julius Louven CDU/CSU 11810 D Doris Barnett SPD 11812 A Friedrich Merz CDU/CSU 11812 D Erika Lotz SPD 11813 D Volker Kauder CDU/CSU 11814 D Ottmar Schreiner SPD 11815 C Wolfgang Vogt (Düren) CDU/CSU . . 11817 A Tagesordnungspunkt 5: a) Große Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Maritime Wirtschaft (Drucksachen 13/4085, 13/5596) 11817 D b) Antrag der Abgeordneten Konrad Kunick, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sicherung der Standortbedingungen der deutschen maritimen Verkehrswirtschaft (Drucksache 13/3917) 11817 D c) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen - Die Gestaltung der maritimen Zukunft Europas - Ein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der maritimen Wirtschaft (Drucksachen 13/4638 Nr. 2.9, 13/5678) 11817 D Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 11818 A Konrad Kunick SPD 11820B, 11822 C Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU . 11822 A Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11822 D Jürgen Koppelin F.D.P 11824 A Rolf Kutzmutz PDS 11825 C Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär BMV 11826 B Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11827 A Werner Kuhn CDU/CSU 11827 D Ernst Schwanhold SPD 11829 A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 11830 A Tagesordnungspunkt 6: Beschlußempfehlung und Bericht des Sportausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: 8. Sportbericht der Bundesregierung (Drucksachen 13/1114, 13/4910) 11831 C Engelbert Nelle CDU/CSU 11831 D Tagesordnungspunkt 7: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 125 zu Petitionen (Waffenembargo gegenüber Indonesien verhängen) (Drucksache 13/4882) 11832 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage in Ost-Timor (Drucksache 13/5799) . . 11832 D Andreas Krautscheid CDU/CSU 11832D, 11838 B Volker Neumann (Bramsche) SPD . . . 11834 B Steffen Tippach PDS 11835 A Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11836B, 11838 D Otto Graf Lambsdorff F.D.P 11839 A Steffen Tippach PDS 11840 A Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 11840 D Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerhaftung (Drucksache 13/2195) 11842 D Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ CSU 11843 A Dr. Eckart Pick SPD 11844 B Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11846 A Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . . 11846 D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 11847 C Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 11848 C Tagesordnungspunkt 9: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Verhandlungsgegenstand des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin (früher Bioethik-Konvention) (Drucksache 13/5435) 11849 B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister BMJ 11849 C Robert Antretter SPD 11850 B Hubert Hüppe CDU/CSU 11852 B Peter Altmaier CDU/CSU 11853 A Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . 11854 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11855A, 11857 C Wolf-Michael Catenhusen SPD 11856 A Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11856 D Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 11858 A Wolfgang Bierstedt PDS 11858 D Sigrun Löwisch CDU/CSU 11859 D Tagesordnungspunkt 10: Unterrichtung durch die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK): Bericht über die Kontrolltätigkeit gemäß § 6 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Berichtszeitraum: Juni 1994 bis Juni 1996) (Drucksache 13/5157) 11861 A Dr. Wilfried Penner SPD 11861 A Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU . . . 11862 B Norbert Gansel SPD 11863 A Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11864 C Dr. Burkhard Hirsch F D P. 11865 C Ulla Jelpke PDS 11866 D Tagesordnungspunkt 11: Unterrichtung durch das Gremium gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zu Artikel 10 des Grundgesetzes (G 10-Gremium): Bericht gemäß § 3 Abs. 10 des Gesetzes zu Artikel 10 des Grundgesetzes (G 10) über die Durchführung der Maßnahmen nach § 3 dieses Gesetzes (Berichtszeitraum 1. Dezember 1994 bis 31. Mai 1996) (Drucksache 13/5224) . 11867 C Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 11867 D Horst Eylmann CDU/CSU 11868 D Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11869 D Dr. Max Stadler F D P. 11870 C Ulla Jelpke PDS 11871 B Tagesordnungspunkt 12: a) Große Anfrage der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Lilo Blunck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Umsetzung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes (Drucksachen 13/1971,13/3368) 11871 D b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abfallvermeidung organisieren - Gesundheitsgefahren aus Abfallverbrennungsanlagen minimieren (Drucksachen 13/4352,13/5023) . . . 11871 D c) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kriterien für die oberirdische Ablagerung von Abfällen - Novellierung von TA Abfall und TA Siedlungsabfall (Drucksachen 13/2496,13/ 5024) 11872 A d) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verwertungsbeschränkungen für Schlacken aus Verbrennungsanlagen für Siedlungsabfälle (Drucksachen 13/1235,13/5025) 11872 B e) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bundeseinheitliche Regelung des untertägigen Versatzes von Abfällen in Bergwerken (Drucksachen 13/2758,13/5051) 11872 B f) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - zu dem Antrag der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Eckpunkte zur Novellierung der Verpakkungsverordnung - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Erlaß einer Getränkemehrwegverordnung - zu dem Antrag der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Dr. Jürgen Rochlitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erlaß einer Altautoverordnung - zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verordnung über die Vermeidung, Verringerung und Verwertung von Abfällen gebrauchter elektrischer und elektronischer Geräte (Elektronikschrott-Verordnung) - zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ersatz der Verpackungsverordnung durch eine Verpackungsvermeidungs- und Mehrwegverordnung (Drucksachen 13/2818, 13/2855, 13/3334, 13/4351, 13/4354, 13/5158) 11872 C Marion Caspers-Merk SPD 11872 D Steffen Kampeter CDU/CSU 11875 A Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11876 B Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11878 A Steffen Kampeter CDU/CSU 11878 D, 11884 A, 11887 A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11879 A Dr. Rainer Ortleb F.D.P 11880 A Eva Bulling-Schröter PDS 11881 A Dr. Liesel Hartenstein SPD 11882 A Walter Hirche, Parl. Staatssekretär BMU 11884 D Dr. Liesel Hartenstein SPD 11886 D Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dr. Michael Meister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Dr. Klaus Röhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich (Drucksache 13/5761) 11889 A Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Bedrohung der Meere und Zerstörung der Küsten durch Ölkatastrophen (Drucksache 13/3884) . 11889 B b) Antrag der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Sofortmaßnahmen gegen die Verseuchung der Meere durch illegale Öleinleitungen - Maßnahmen zur überwachten Entsorgung von Altölen und Ölschlämmen an Land (Drucksache 13/4237) 11889 B c) Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg), Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schutz vor Öltankunfällen und Umweltschäden in europäischen Gewässern (Drucksache 13/5155) . . 11889 C d) Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg), Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schutz der Nordsee durch Schiffsölentsorgung in Seehäfen (Drucksache 13/5756) 11889 C e) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Geplante Versenkung der Shell-Ölplattform und glaubwürdiger europäischer Nordseeschutz - zu dem Antrag der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Meer ist keine Müllhalde (Drucksachen 13/1738, 13/3211, 13/5159) 11889 D Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (Drucksache 13/2728) . 11890 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11890 B Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 11892 A Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11892 D Margot von Renesse SPD 11893 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . 11895 C Christina Schenk PDS 11896 C Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister BMJ 11897 C Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara (Drucksache 13/5725) 11898 C Nächste Sitzung 11898 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11899* A 131. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    *) Die Redetexte werden in einem Nachtrag als Anlage 4 abgedruckt. Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Altmann (Pommelsbrunn), BÜNDNIS 17. 10. 96 Elisabeth 90/DIE GRÜNEN Andres, Gerd SPD 17. 10. 96 * Augustin, Anneliese CDU/CSU 17. 10. 96 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 17. 10. 96 Borchert, Jochen CDU/CSU 17. 10. 96 Braune, Tilo SPD 17. 10. 96 Bulmahn, Edelgard SPD 17. 10. 96 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 17. 10. 96 * Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 17. 10. 96 Haack (Extertal), SPD 17. 10. 96 Karl Hermann Homburger, Birgit F.D.P. 17. 10. 96 Horn, Erwin SPD 17. 10. 96 ** Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 17. 10. 96 Ibrügger, Lothar SPD 17. 10. 96 Irber, Brunhilde SPD 17. 10. 96 Dr. Jacob, Willibald PDS 17. 10. 96 Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 17. 10. 96 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lengsfeld, Vera BÜNDNIS 17. 10. 96 90/DIE GRÜNEN Lenzer, Christian CDU/CSU 17. 10. 96 * Dr. Meyer (Ulm), SPD 17. 10. 96 Jürgen Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 17. 10. 96 Neuhäuser, Rosel PDS 17. 10. 96 Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 17. 10. 96 Hermann Reuter, Bernd SPD 17. 10. 96 Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 17. 10. 96 90/DIE GRÜNEN Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 17. 10. 96 Hans Peter Verheugen, Günter SPD 17. 10. 96 Wallow, Hans SPD 17. 10. 96 Wieczorek (Duisburg), SPD 17. 10. 96 Helmut Zierer, Benno CDU/CSU 17. 10. 96 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Nachtrag zum Plenarprotokoll 13/131 Deutscher Bundestag Nachtrag zum Stenographischen Bericht 131. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 Inhalt: Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 (Antrag: Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich) Dr. Michael Meister CDU/CSU 11901* A Norbert Formanski SPD 11902* C Jutta Müller (Völklingen) SPD 11903* C Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11904* A Dr. Klaus Röhl F.D.P 11904* C Klaus-Jürgen Warnick PDS 11905* B Joachim Günther, Parl. Staatssekretär BMBau 11906* B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 (a - Antrag: Bedrohung der Meere und Zerstörung der Küsten durch Ölkatastrophen, b - Antrag: Sofortmaßnahmen gegen die Verseuchung der Meere durch illegale Öleinleitungen - Maßnahmen zur überwachten Entsorgung von Altölen und Ölschlämmen an Land, c - Antrag: Schutz vor Öltankerunfällen und Umweltschäden in europäischen Gewässern, d - Antrag: Schutz der Nordsee durch Schiffölentsorgung in Seehäfen, e - Beschlußempfehlung zu den Anträgen: Geplante Versenkung der Shell-Ölplattform und glaubwürdiger europäischer Nordseeschutz sowie Das Meer ist keine Müllhalde) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 11907* C Annette Faße SPD 11909* B Ulrike Mehl SPD 11910* B Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11911* A Lisa Peters F.D.P. 11911* D Eva Bulling-Schröter PDS 11913* A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 16 (Antrag: Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara) Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU . . 11913* C Dr. Eberhard Brecht SPD 11914* C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11915* D Dr. Burkhard Hirsch FD P. 11916* C Steffen Tippach PDS 11916* D Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 11917* C Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 (Antrag: Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich) Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Im Rahmen der Vereinbarungen der Vertragsstaatenkonferenzen zur Klimaschutzpolitik hat sich die Bundesrepublik Deutschland das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2005 die Emissionen des Treibhausgases CO2 um mindestens 25 Prozent, bezogen auf das Jahr 1990, zu verringern. Die Bundesrepublik hat auch auf diesem Feld des Umweltschutzes international eine Vorreiterrolle inne und kann in der Reduzierung von Schadstoffemissionen beachtliche Erfolge aufweisen. So konnte allein im Zeitraum zwischen 1990 und 1995 der Ausstoß von CO2 um 12,7 Prozent gesenkt werden. Für die gesamte Bundesrepublik bedeutet dies eine Reduzierung von 2 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr. Gerade der Baubereich hat in der Vergangenheit einen überproportionalen Beitrag zur Reduzierung der Luftschadstoffe geleistet. Dies unterstreichen einige wenige Beispiele: Der Heizwärmebedarf im Neubau wurde durch die Anpassungen unter anderem der Wärmeschutzverordnung und der Heizungsanlagenverordnung auf etwa 20 Prozent des Heizwärmebedarfs von 1970 reduziert. Durch die Weiterentwicklung der wärmetechnischen Standards konnte der Anteil der CO2-Emissionen aus dem Wohnungsbau zwischen 1987 und 1994 um rund 16 Prozent gesenkt werden. Grundlage unserer Klimaschutzpolitik ist das Konzept der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen die Kräfte des Marktes auch für den Klimaschutz nutzen. Dieser Ansatz kennt Gebote und Verbote nicht als Ordnungsprinzip, sondern nur zur wirkungsvollen Abwehr unmittelbarer Gefahren. Wir setzen auf die Verantwortung des einzelnen, die auch durch entsprechende staatliche Anreize mobilisiert werden soll. Die bereits erreichten Reduktionsschritte sind eine klare Bestätigung unseres politischen Ansatzes. Gerade der Baubereich ist ein hervorragendes Beispiel, in welch hohem Maße staatliche Anreize privates Kapital für umweltverträgliches Verhalten mobilisieren können. Für das zu Beginn diesen Jahres auch für die alten Bundesländer aufgelegte Zinsverbilligungsprogramm für energetische Maßnahmen im Baubereich konnte die eigentlich für das gesamte Jahr 1996 vorgesehene Fördertranche bereits nach sechs Monaten vergeben werden. Über dieses Zinsverbilligungsprogramm wurde zum 30. Juni bereits die wärmetechnische Sanierung von 77 019 Wohnungen gefördert. Es ist vor diesem Hintergrund außerordentlich begrüßenswert, daß dieses Programm mit Hilfe von Mitteln der MW so aufgestockt werden konnte, daß für 1996 insgesamt 3 Milliarden DM bereitstehen. Wir setzen uns dafür ein, daß einschließlich der in 1996 bereitgestellten Mittel ein Gesamtkreditvolumen von 5 Milliarden DM erreicht wird. Weitere Anstrengungen zur Reduzierung des Energieverbrauchs im Wohnungsbau sind ökologisch notwendig und wirtschaftlich sinnvoll. Bei der Heizung der Gebäude (Raumwärme und Warmwasser) werden jährlich rund 270 Millionen Tonnen an Kohlendioxidemissionen freigesetzt. Dies entspricht rund 30 Prozent der gesamten CO2-Emissionen. Die derzeit geltende Wärmeschutzverordnung schreibt für den Neubau einen maximalen Heizenergieverbrauch von 90 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr vor. Rund 2/3 der 36 Millionen Wohneinheiten im Bestand müssen als energetisch dringend sanierungsbedürftig gelten, sie verbrauchen zwischen 150 und 400 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Die Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre beziffert das CO2-Einsparpotential in ihrem Abschlußbericht von 1994 mit rund 100 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Zur Erreichung des Reduktionsziels müssen zusätzlich zum Ersatz abgehender Gebäude durch Neubauten jährlich etwa 800 000 Altbauwohnungen energetisch modernisiert werden. Die Modernisierung von Altbaubeständen ist in erheblichem Umfang auch ein Beitrag für die Belebung und Stützung der Konjunktur. Ausgehend vom dargestellten energetischen Modernisierungsbedarf ergibt sich ein Investitionsvolumen von rund 26 Milliarden DM. Schätzt man den hiervon ausgehenden Beschäftigungseffekt ab, so können etwa 60 000 Arbeitsplätze neu geschaffen und 150 000 bestehende Arbeitsplätze gesichert werden. Wärmetechnische Modernisierungen im Gebäudebestand sind in Verbindung mit den ohnehin erforderlichen Instandsetzungen auch wirtschaftlich sinnvoll. Vor diesem Hintergrund bringt die CDU/CSU-Fraktion heute ihr Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich ein. Dieses Aktionsprogramm hebt zum einen darauf ab, die qualitativen Kriterien der wärmetechnischen Standards sinnvoll weiter zu entwickeln. Zum anderen soll es aber auch Probleme in der Praxis aufnehmen und diesen abhelfen. Hinsichtlich der qualitativen Kriterien wollen wir eine weitere Novelle der Wärmeschutzverordnung, in der die Anforderungen an Gebäudeneubauten für die Reduzierung des Energieverbrauchs auf den heute als „Niedrigenergiehausbauweise" bezeichneten Standard, das heißt 40 bis 70 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr angehoben werden, die Weiterentwicklung des Wärmepasses zum Energiepaß, damit das Ziel der Wärmeschutzverordnung, die Reduzierung des Energieverbrauchs, durch die Einbeziehung der Anlagentechnik noch effektiver erreicht werden kann. Der dadurch ermittelte Jahresenergiebedarf eines Gebäudes ist ein geeignetes Kriterium, um einen nachvollziehbaren Vergleichsmaßstab für die energetische Situation eines Gebäudes zu erhalten, durch Standardisierungen die Grundlage für Energiekennziffern zu erhalten, die auch die Wertveränderungen von Gebäuden dokumentieren und den administrativen Aufwand zur Kontrolle von Fördermaßnahmen bzw. der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften erleichtern und eine Grundlage für die Planung und Strukturierung von Sanierungsmaßnahmen im Gebäudebestand zu erhalten. Wichtig ist für uns auch, daß sich alle Beteiligten rechtzeitig auf die neue Stufe des energiesparenden Bauens einstellen können. Deshalb halten wir es für sinnvoll, die neuen Anforderungen der Wärmeschutzverordnung so bald wie möglich zu konkretisieren und das Verordnungsgebungsverfahren rasch einzuleiten. Die Bundesländer sind gefordert, endlich eine wirksamere Überwachung der gesetzlichen Vorgaben sicherzustellen. Wir benötigen auch hier einheitliche Landesbauordnungen und Kontrolle vor Ort. Diese Vor-Ort-Kontrolle muß nicht den Aufbau von Bürokratie bedeuten. Die freiwillige Selbstkontrolle des Handwerks, etwa über das Instrument der Fachunternehmerbescheinigung, erscheint uns als probates Mittel, den Zielkonflikt von Umsetzung der wärmetechnischen Standards und Entbürokratisierung zu lösen. Die Möglichkeiten des energiesparenden Bauens werden oft auf Grund immer noch unzureichender Information nicht erkannt. Energiesparendes Bauen muß noch stärker zu den selbstverständlichen Grundlagen jeder Planungsarbeit und zu den obligatorischen Bestandteilen der Ausbildung werden. Dies gilt für die Studienordnungen für Architekten und Bauingenieure. Energiesparendes Bauen muß auch in den Aus- und Weiterbildungen der Handwerksfachorganisationen noch stärker berücksichtigt werden. Dieses besondere Leistungsangebot könnte durch eine Zertifikatslösung, etwa unter der Überschrift „Fachbetrieb für energiesparendes Bauen", dokumentiert werden. Energiesparendes Bauen erfordert auch eine Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit unter stärkerer Nutzung moderner Informations- und Kommunikationsmittel. Selbst Fachleute können die Vielfalt an Förderinstrumenten kaum mehr übersehen und für ihre Klienten die beste Förderung herausfinden. Deshalb erscheint es sinnvoll, Fachverbänden und sonstigen Multiplikatoren ständig aktualisierte Informationsmöglichkeiten über Datenbanken zur Verfügung zu stellen. Zur Mobilisierung des CO2-Sparpotentials kann der Ausbau der Drittmittelfinanzierung als ein neueres Standbein zur Unterstützung von Energieeinsparmaßnahmen wichtige Beiträge leisten. Verschiedene Projekte zeigen bereits, wie eine Zusammenarbeit zwischen Energieabnehmer und Energieversorger aussehen kann. Die Vergabe günstiger Kredite für wärmetechnische Modernisierung wäre auch ein wichtiges neues Geschäftsfeld für Kreditinstitute. Mit ihrer Selbstverpflichtung, bei den Baumaßnahmen für Parlament und Regierung in Berlin 15 Prozent des Energiebedarfs durch regenerative Energien zu decken, hat die Bundesregierung deutliche Zeichen gesetzt. Auch das Eigenheimzulagengesetz unterstützt die Verwendung regenerativer Energien durch eine Sonderzulage. Das Förderprogramm der Bundesregierung für erneuerbare Energien wird in hohem Maße in Anspruch genommen. Dies zeigt, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen mit einem vielfältigen Bündel an Einzelmaßnahmen darangehen, das CO2-Einsparziel zu erreichen. Unser heute in erster Lesung beratenes Aktionsprogramm ist deshalb auch eine erneute Einladung an die Mitglieder dieses Hauses, in einen Ideenwettbewerb zur Mobilisierung des CO2-Einsparpotentials im Gebäudebereich einzutreten. Unser Antrag ist die Grundlage dieses Ideenwettbewerbs. Für deren Erarbeitung möchte ich allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P. meinen herzlichen Dank sagen. Norbert Formanski (SPD): Zu Recht wird im Antrag der Regierungskoalition festgestellt, daß im Baubereich erhebliche CO2-Sparpotentiale vorhanden sind. In Gesamtdeutschland werden bei der Heizung von Gebäuden (Raumwärme und Warmwasser) jährlich 270 Tonnen Kohlendioxid freigesetzt. Die Enquetekommission „Schutz der Erdatmosphäre" bezifferte das Einsparpotential im Gebäudesektor auf mindestens 50 Prozent, in besonderen Fällen auf bis zu 90 Prozent. Mit Ihren windelweichen Empfehlungen und Prüfungsaufträgen kommen Sie diesem Ziel kein Stück näher - ein weiteres Kapitel aus dem Stück „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß". Bereits 1990 hat das Bundeskabinett beschlossen, die Kohlendioxid-Emissionen in den alten Bundesländern um mindestens 25 Prozent und in den neuen Bundesländern um einen noch deutlich höheren Prozentsatz zu reduzieren. Seitdem wird über Klimaschutzmaßnahmen geredet, es wurde aber so gut wie nichts getan. Von den Beschlüssen der Bundesregierung ist außer einer von vielen Seiten als unzureichend kritisierten Wärmeschutzverordnung nichts umgesetzt worden. So kommt auch die Prognos AG in ihrem Gutachten für den Bundeswirtschaftsminister zu dem Ergebnis, daß das Klimaschutzziel in Deutschland weit verfehlt wird. Eine politische Weichenstellung ist nicht in Sicht. Statt dessen werden die zentralen Themen ökologische Steuerreform, Energieeinspargesetz und die gezielte Förderung eines 100 000-Dächer-Solarprogramms tabuisiert. Statt nur Empfehlungen und Prüfaufträge abzugeben, hätten Sie sich in Ihrem Antrag mit dem heute technisch Machbaren auseinandersetzen sollen. Konkrete Empfehlungen und vor allem die Antwort auf die Frage, wie kann das Machbare und Wünschenswerte auch umgesetzt werden, fehlen völlig. Dabei wäre sicherlich die Lektüre des Antrags „Programm Energieeinsparung in Gebäuden" der SPD-Bundestagsfraktion hilfreich gewesen. Denn um die technisch vorhandenen Energiesparpotentiale im Gebäudesektor zum Klimaschutz und zur Energieeinsparung zu mobilisieren, haben wir schon 1992 fi- nanzielle Anreize für folgende Maßnahmen gefordert: - Einbau von zentralen Wärmeerzeugungsanlagen mit einer Leistung bis zu 12 kW, - Einbau von Brennwertgeräten einschließlich der Abgas- und Neutralisationsanlagen, - Einbau von Anlagen zur Wärmespeicherung und Wärmerückgewinnung für die Raumheizung und die Warmwasserbereitung, - Einbau von Solaranlagen für Licht, Raumheizung und Warmwasserbereitung, - Einbau von brennstoffbetriebenen Wärmepumpen einschließlich Abgasanlagen, - Maßnahmen zur Wärmedämmung und Isolierung. Das sind zum Beispiel konkrete Vorschläge. Bis zum 31. Dezember 1991 konnten diese Maßnahmen mit bis zu zehn Prozent jährlich steuerlich abgeschrieben werden. Wir fordern einen sechsprozentigen Abzug von der Steuerschuld von maximal 30 000 DM Energiesparinvestitionen über fünf Jahre. Falls keine entsprechende Steuerschuld vorliegt, wird der Abzugsbetrag als Zuschuß ausbezahlt. Mit diesen finanziellen Mitteln schaffen wir die Anreize, tatsächlich in die Schonung der Umwelt zu investieren, und wir schaffen obendrein zusätzliche Arbeitsplätze. Einige der aufgezählten Punkte konnten wenigstens als Ökokomponente für den Eigenheimbereich aufgrund unserer Initiative umgesetzt werden. Ein kleiner Anfang im Eigenheimzulagengesetz wurde gemacht. Hier hätten Sie nachlegen müssen, zum Beispiel für den Mietwohnungsbau. Ohne eine bessere Aus- und Fortbildung der Architekten können Gebäude in bezug auf Kosten, Energieverbrauch und Raumklima nicht optimal erstellt oder renoviert werden. Auch wenn es lobenswert ist, daß die Bundesregierung eine Verbesserung der Ausbildung der Planer in Richtung Energieeinsparung und Kostenoptimierung verlangt, so ist es doch grotesk, wenn die Bundesregierung bisher dabei nur auf die Ansprache des Bundesbauministers 1995 vor den Dekanen der Architektur-Fakultäten verweisen kann (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Umsetzung der Wärmeschutznovelle'' von Monika Ganseforth im August 1996). Auch bleiben die Möglichkeiten, die der Wärmepaß bzw. der Wärmebedarfsausweis bietet, ungenutzt. Der tatsächliche Heizenergiebedarf muß ermittelt werden und als Faktor in den Mietspiegel einfließen. Ganz traurig sieht es aus, wenn es um die vorgesehene Verschärfung der Wärmeschutz-Verordnung geht. Der Bundesrat hatte verlangt, daß bis zum 1. Januar 1997 der Regierungsentwurf vorliegen soll. Sie fordern nunmehr die Novellierung zum 1. Januar 1999. Zwei weitere versäumte Jahre! Es bleibt dabei, Ihr Antrag enthält zwar viel weiße Salbe, aber so gut wie nichts Konkretes, um CO2 wirklich zu vermindern. Jutta Müller (Völklingen) (SPD): „Bei den CO2- Emissionen ist gegenüber dem Wert von 1990 bis 2005 ein Rückgang um 10,5 Prozent und bis 2020 nochmals ein geringfügiger Rückgang um 3 Prozent zu erwarten. Der ganz überwiegende Teil der Reduktion ist auf die wirtschaftlichen Einbrüche in den neuen Bundesländern zu Beginn der 90er Jahre zurückzuführen. " Dieser Satz stammt aus der PrognosStudie zu den Energiemärkten, die im Dezember 1995 im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellt wurde. Nun ist es ja eigentlich erfreulich, daß sich mittlerweile sogar die Koalitionsfraktionen darüber Gedanken machen, daß mit der derzeitigen Politik die vollmundigen Ankündigungen des Bundeskanzlers in Rio oder in Berlin nicht einzuhalten sind. Natürlich ist es somit auch zu begrüßen, daß wir uns hier noch einmal mit CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich beschäftigen, da dort in der Tat noch große Einsparpotentiale zu mobilisieren sind. Nur liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Placeboanträgen, Absichtserklärungen, Prüfaufträgen usw. werden Sie in der Sache nichts erreichen. Sie betreiben Symbolpolitik, zumal Sie in anderen Bereichen, die hier eine große Rolle spielen, völlig entgegengesetzt handeln. Sie sind eben nicht bereit, eine Wende in der Verkehrspolitik herbeizuführen. Ich nenne nur die Stichworte Verkehrsvermeidung und Verkehrsverlagerung auf Schiene und Schiffe usw. Sie streben bei der nationalen Umsetzung der EU-Richtlinie zum Binnenmarkt für Strom Regelungen an, welche die Kraft-Wärme-Kopplung, also die Fernwärme, extrem benachteiligen, die Stadtwerke in den Ruin treiben und erneuerbare, CO2-freie Energien vom Markt verdrängen. Es gibt noch eine Reihe von anderen Bereichen, die ich hier aus Zeitgründen nicht nennen kann. Aber gerade die Frage der Beratung ist ja im Hinblick auf Energieeinsparung im Gebäudebereich nun ein sehr wichtiger Punkt. Hier haben sich in den letzten Jahren vor allem die kommunalen Stadtwerke hervorgetan und spezialisiert. Eine Energiepolitik, die auf gnadenlosen Preiswettbewerb ohne Berücksichtigung der Umweltstandards ausgerichtet ist, wird keine Anreize zur Energieeinsparung bringen. Ziel einer vernünftigen, an Umweltzielen ausgerichteten Politik darf es nicht sein, die Preise zu senken. Wir müssen das Ziel haben, Rechnungen zu senken. Nur so werden wir bei den Verbräuchen etwas erreichen. Außerdem möchte ich noch auf ein weiteres Dilemma in Ihrem Antrag hinweisen, nämlich das Investor-Nutzer-Dilemma. Wenn der Hauseigentümer die Investitionen zur Energieeinsparung zu bezahlen hat, der Mieter aber bei den monatlichen Energiekosten den Nutzen hat, tut sich zunächst einmal nichts. Zinsverbilligte Darlehen gehen hier ins Leere. Genauso denke ich, daß es unnötig ist, weitere Forschungsaktivitäten im Bereich der Solarenergie zu fordern. Geforscht haben wir genug. Hier fehlt es an vernünftigen Markteinführungsprogrammen. Dies hat ja auch dazu geführt, daß der letzte Solaranlagenhersteller das Land verlassen hat. Wir haben bereits vor der Sommerpause einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Wir schlagen Ihnen ein 100 000-Dächer-Programm vor. Unterstützen Sie uns! Zum Schluß also noch einmal: Wir begrüßen ein Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich. Wir halten aber Ihre Instrumente für zu lasch und weitgehend unwirksam. Hören Sie auf, Symbolpolitik zu betreiben, und diskutieren sie mit uns in den Ausschüssen über konkrete Maßnahmen! Lassen Sie uns ein Aktionsprogramm beschließen, daß sich an folgenden Geboten orientiert: Sorge dafür, daß die Preise die ökologische Wahrheit sagen! Macht das Kostengünstigste zuerst! Investiere in Effizienz! Sorge für fairen Wettbewerb! Belohne das wünschenswerte Verhalten, nicht das Gegenteil! Besteuere das weniger Wünschenswerte, nicht das Erwünschte! Ein solches Programm ließe sich dann sinngemäß auch auf andere relevante Politikbereiche übertragen. Nur wenn wir viele Bereiche vernetzen, kommen wir dem Ziel Klimaschutz näher. Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ginge es nach dem Titel der CDU/CSU-F.D.P.- Initiative, müßte bei einem Grünen wahre Freude aufkommen. Nach Lektüre des sogenannten Aktionsprogramms aber fällt man dann sofort wieder in die politische Realität dieser Regierungskoalition zurück. Es handelt sich bei der Koalitionsinitiative mitnichten um ein Aktionsprogramm, sondern um eine peinliche und obendrein unberechtigte Selbstbeweihräucherung. Denn das CO2-Minderungsziel der ersten Klimarahmenkonvention von Berlin 1996 wird nicht etwa - wie behauptet - nur wegen des Anstiegs der Verkehrsleistungen im Personen- und Güterverkehr weit verfehlt. Abgesehen davon, daß diese Koalition wohl beraten wäre, auch im Verkehrsbereich durch Förderung des Schienenverkehrs statt des Autowahns energie- und klimapolitische Zeichen zu setzen, hat die Umweltpolitik ohnedies eine schwere ordnungspolitische Schlagseite. Obwohl nämlich die Regierungskoalition das Problem sehr wohl erkennt, wie sich aus Absatz II ergibt, fordert sie vornehmlich andere auf, tätig zu werden, bevor sie selbst etwas zu tun gedenkt. Zudem hat die Wärmeschutzverordnung bei weitem nicht das festgeschrieben, was als Niedrigenergiestandard längst Stand der Technik ist. Außerdem fehlen Lösungen für den Altbaubereich und Anreize für Mieterinitiativen. Gerade hier lägen die größten Einsparpotentiale. Das Versagen der Bundesregierung sei an zwei Beispielen verdeutlicht: Erstens. Eine Vorbildrolle des Bundes bei eigenen Bauten sucht man vergeblich. Zweitens. Ökonomische Anreize zum Energiesparen und zur rationellen Energienutzung bleiben aus, wie zum Beispiel das Fehlen einer CO2-/Energiesteuer zeigt, durch die dem ökologisch kontraproduktiven niedrigen Energiepreisniveau, das dem der späten 60er Jahre entspricht, nicht entgegengesteuert wird. Im Gegenteil: Minister Waigel hat sogar anläßlich der Finanzministerratssitzung im Oktober 1995 einer Minimallösung einer CO2-/Energiesteuer die Zustimmung versagt. Besonders apart ist dann noch, daß die Forschungs- und Entwicklungsmittel im Bereich rationeller Energieverwendung und der Solarenergienutzung im Haushalt 1997 gegenüber dem Vorjahr um 16 Prozent gekürzt wurden - weiterer Kommentar überflüssig. Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Bei der Verwertung von kohlenstoffhaltigen Energieträgern entstehen in der Bundesrepublik in Industrie, im Verkehrsbereich, im Bauwesen, in den Haushalten und sonstigen Bereichen große Mengen Kohlendioxid. In Deutschland werden allein bei der Erzeugung von Raumwärme und der Bereitung von Warmwasser jährlich 270 Millionen Tonnen an Kohlendioxidemissionen freigesetzt. Dies sind 30 Prozent der gesamten CO2Emissionen. Damit liegt dieser Teil der CO2-Emissionen sogar höher als der des Verkehrsbereichs. In den privaten Haushalten liegt der auf Wärme- und Warmwassererzeugung entfallende Energieanteil sogar bei etwa 80 Prozent. Die Mobilisierung dieser erheblichen Sparpotentiale im Wohn- und Baubereich, die wir in unserem Antrag betonen, dient dem Ziel der Bundesregierung, die Kohlendioxidemissionen bis zum Jahre 2005 um 25 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Deshalb hat der Gesetzgeber bisher bereits zahlreiche Aktionen und Programme für einen effizienten Energieeinsatz eingebracht. Dazu gehört unter anderem die mehrfache Anpassung der Wärmeschutzverordnung (WSchv) im Sinne verschärfter Anforderungen, zuletzt im November 1994. Bei den Anforderungen der neuen Wärmeschutzverordnung, ab 1. Januar 1995 wirksam, handelt es sich im wesentlichen - bei neuen Gebäuden - um Vorsorgemaßnahmen, die in den nächsten Jahren voll zum Tragen kommen. Sie enthält aber auch Anforderungen, die bei Ersteinbau, Ersatz oder Erneuerung von Bauteilen bestehender Gebäude einzuhalten sind. Bundesregierung und Bundesrat sind sich einig, daß die Wärmeschutzverordnung noch in diesem Jahrzehnt weiterentwickelt werden soll. Wir fordern die Bundesregierung auf zu prüfen, ob der für alle Neubauten geforderte Wärmebedarfsausweis bei einer weiteren Novellierung der Wärmeschutzverordnung, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und Verwaltungsvereinfachungskriterien, zu einem Energiepaß weiterentwickelt werden kann. Die Wärmeschutzverordnung nimmt als Grundlage der Anforderungen den Jahresheizwärmebedarf. Das Ziel der Verordnung, den Energieverbrauch über die Senkung des Energiebedarfs zu reduzieren, könnte nach Expertenmeinung noch effektiver erreicht werden, wenn zukünftig in diese Bilanz die sich ständig weiterentwickelnde Anlagentechnik stärker einbezogen würde. Ein darauf basierender Energiepaß würde als Kernpunkt weiterhin den Jahresenergiebedarf eines Gebäudes abbilden. Uns muß aber trotz aller Energieeinsparungsmaßnahmen klar sein, daß Energiesparen nur ein endliches, ein begrenztes Kohlendioxid-Minderungspotential ist. Wir betonen weiterhin, daß eine CO2-Minderung und Energieeinsparung im Gebäudebereich auch der Stützung und Belebung des Arbeitsmarktes dient. Von 36 Millionen bestehenden Wohneinheiten kommen zirka 50 Prozent für eine energetische Modernisierung in Frage. Davon entfallen etwa zwei Drittel auf die alten Bundesländer und ein Drittel auf die neuen Bundesländer. Hier müssen, zur Erreichung des 25-Prozent-Reduktionsziels, tatsächlich, außer dem Ersatz abgehender Gebäude durch Neubauten, pro Jahr etwa 800 000 Altbauwohnungen zusätzlich energetisch modernisiert werden. Diese Modernisierung würde die Konjunktur in großem Umfang stützen. Bei dem Modernisierungsbedarf von rund 800 000 Wohneinheiten ergibt sich ein Investitionsvolumen von zirka 26 Milliarden DM. Damit können etwa 60 000 Arbeitsplätze neu geschaffen und 150 000 bestehende gesichert werden. Wir fordern die Bundesregierung hiermit auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Aufgaben der CO2-Reduktion und der rationellen Energieverwendung im Gebäudebereich mit den Aufgaben des kostensparenden Bauens konform gehen. Dazu empfehlen wir, daß die Drittmittelfinanzierung als neueres Standbein der Unterstützung von Energiesparmaßnahmen und des Einsatzes erneuerbarer Energien ausgebaut wird. Bezüglich des privaten Haus- und Wohnungsbaus muß durch den Abbau staatlicher Subventionen die Anlage von privatem Kapital wieder interessant gemacht werden. Weiterhin fordern wir, auf die Bundesländer dahin gehend einzuwirken, daß Energiesparinformationen in der Ausbildung von Architekten und Bauingenieuren fester Bestandteil werden. Dazu gehört ebenso eine begleitende Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit. So haben sich Bundesregierung und Bundestag zum Beispiel verpflichtet, bei den Baumaßnahmen für Parlament und Regierung in Berlin 15 Prozent des Energiebedarfs durch regenerative Energien zu decken. Damit sind in der Öffentlichkeit deutlich energetische Akzente gesetzt worden. Zur Erreichung dieser Ziele sind in allen relevanten Politikbereichen zusätzliche Anstrengungen nötig. Die Fraktion der F.D.P. hat ihre Zielsetzungen in dem vorliegenden Antrag dargelegt. Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Die Verantwortung für die Sicherung der Lebensgrundlagen gegenwärtiger und künftiger Generationen, die Überwindung des Gegensatzes zwischen dem Ressourcenverbrauch der wesetlichen Industrieländer und dem der „Dritten Welt" - ja überhaupt für die Bewohnbarkeit unseres Planeten - erfordert innezuhalten und umzudenken. Nach meiner Auffassung müssen Lebensqualität und Ökologie kein Gegensatz sein. Wohlverstandene Lebensqualität ist durchaus mit dem Schutz der Natur in Einklang zu bringen, soweit dem nicht Profitmaximierung, überzogenes Anspruchsdenken und Renommiersucht entgegenstehen. Wir haben die Möglichkeit, von den Fehlern auf wohnungs- und umweltpolitischem Gebiet sowohl der DDR als auch der früheren Bundesrepublik zu lernen. Leider - und das wird auch im Nationalbericht der Bundesregierung zur HABITAT-II-Konferenz deutlich - gibt es zwischen den auch von der Bundesregierung formulierten Erkenntnissen und den Schlußfolgerungen für die praktische Politik extreme Widersprüche. Sind sie einer Verantwortungslosigkeit und Ignoranz gegenüber dem eigenen Volk und anderen Völkern sowie den kommenden Generationen geschuldet oder einfach Resultat von Unfähigkeit bzw. Dummheit? Auch der heute vorliegende Koalitionsantrag für ein weiteres Aktionsprogramm degeneriert bei genauerem Hinschauen zu einem Schaufensterantrag, mit dem verdeckt werden soll, daß die Regierung nicht gewillt ist, eine Wende hin zu einer ökologischen und sozialen Politik zu vollziehen. Auf Grund meiner geringen Redezeit dazu nur einige Stichpunkte: Ein wachsender Wohnflächenverbrauch, zunehmende Bodenversiegelung und die Erhöhung des Pkw-Verkehrs in Folge falscher Siedlungs- und Verkehrspolitik konterkarieren alle Bemühungen für energiesparende Bauweisen. Trotzdem wird durch die Regierung mit viel Steuergeld, Hand in Hand mit den Banken, Bausparkassen und Immobilienfirmen, der Drang zum freistehenden Einfamilienheim propagiert und noch weiter hochgepuscht. Auch in diesem Kontext hat das Eigenheimzulagegesetz trotz dem begrüßenswerten Öko-Bonus gravierende Mängel. Anstatt den kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland mit ihrem wahrlich problematischen Erbe die Chance zu geben, ihre Kräfte auf eine ökologische Sanierung der Wohnungen und Wohnumfelder zu konzentrieren, zwingen Sie ihnen, sowie den darin lebenden Menschen, eine wohnungspolitisch unsinnige Zwangsprivatisierung auf und lassen die Unternehmen mit zahlreichen ungeklärten Vermögensfragen im Regen stehen. Eine ökologische Sanierung muß sozialverträglich bleiben und darf nicht dazu führen, daß einkommensschwache Personen aus ihren Wohnungen herausmodernisiert werden. Deswegen bedarf es einer noch zielgerichteteren öffentlichen Förderung an Stelle der gießkannenartigen Mittelverteilung an Besserverdienende über fantastische Abschreibungsund Steuersparmodelle. Nach weitgehend übereinstimmenden Schätzungen von Verbänden und wissenschaftlichen Institutionen müssen über längere Zeiträume pro Jahr mindestens 500 000 Wohnungen neu gebaut werden, um das Wohnungsdefizit zu beseitigen und den Abgang verschlissener Wohnungen auszugleichen. Genauso wichtig ist die Bestandserhaltung und -pflege durch eine umfassende ökologische und sozial vertretbare Sanierung und Modernisierung in einer Größenordnung von mindestens 3 Prozent jährlich sowie durch Wohnumfeldverbesserungen, besonders in Großsied- lungen. Wie sich die CO2-Emissionen in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln werden, hängt auch davon ab, wie diese Aufgabe gelöst wird. Es macht auch wenig Sinn, über Energieeinsparungen im Baubereich nachzudenken, wenn die Bundesrepublik auf der anderen Seite zuläßt, daß innovative Techniken wie die Solarenergie ungenügend gefördert werden, Solarzellenhersteller in Deutschland keine Zukunft mehr sehen und deshalb ins Ausland abwandern. Hätte die Bundesregierung für die Förderung alternativer Energieerzeugung ebensoviel Geld eingesetzt wie für Atomkraft und die Sicherung der Monopolstellung der großen deutschen Energieerzeuger, wären wir im Klimaschutz weltweit schon ein großes Stück weiter. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß das deutsche Finanzkapital wesentlich mehr Interesse an einer möglichst hohen und sicheren Rendite mit Hilfe bestehender herkömmlicher Energieerzeugungsanlagen als an einer Investition in alternative Energien hat. Und dieses Kapital wird dabei durch die Politik der Bundesregierung hervorragend unterstützt, anstatt es durch entsprechende Gesetze in ökologisch dringend notwendige Investitionen zu zwingen. Die Senkung der CO2-Emissionen und des Energieverbrauchs ist jedenfalls machbar, auch über die durch die Bundesrepublik eingegangenen internationalen Verpflichtungen hinaus. Dafür ist nach Auffassung der Demokratischen Sozialisten notwendig: erstens energiesparendes Bauen durch energiesparende Bebauungsformen wie Niedrigenergiehäuser, Reihenhäuser und mehrgeschossige Bauten; zweitens eine energie- und wärmetechnische Nachrüstung bestehender Gebäude; drittens die Verwendung ökologischer Baustoffe; viertens ein behutsamer ökologischer Stadtumbau, die Erschließung ungenutzter Flächen im Innenbereich anstelle extensiver Stadterweiterungen und fünftens Verkehrsvermeidung - Stichwort „Stadt der kurzen Wege" -, autofreie bzw. -arme Wohngebiete, die Förderung und der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs sowie durchgängige Radwegenetze. Ein solches ökologisches Wohnungs- und Städtebauprogramm bedarf einer langfristig gesicherten Finanzierung. Dazu ist notwendig, alle gegenwärtig wirkenden Instrumente der indirekten und direkten Finanzierung und Subventionierung des Wohnungs- und Städtebaus einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Es ist zu prüfen, ob sie geeignet sind, diese Ziele zu unterstützen und nicht anderen, insbesondere ordnungspolitischen Vorstellungen zu dienen. Joachim Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Zum ursprünglichen Anliegen der Energiesparpolitik - der Schonung der natürlichen Ressourcen - tritt heute der Klimaschutz. Der Deutsche Bundestag hat in der 11. und 12. Legislaturperiode eine Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" eingesetzt, die wichtige Grundlagen für unser Handeln im Bereich des Klimaschutzes erarbeitet hat. Die Bundesregierung hat sich den Aufgaben nicht verschlossen, die die Enquete-Kommission benannt hat, und bereits im Jahre 1990 eine Interministerielle Arbeitsgruppe beauftragt, ein Gesamtkonzept zur CO2-Reduktion zu erstellen und sich dabei am Ziel einer 25%igen Minderung bis zum Jahre 2005 zu orientieren. Auf den Gebäudebereich entfällt ein bedeutender Teil des Energieverbrauchs: Etwa 37 Prozent des gesamten Endenergieverbrauchs in der Bundesrepublik werden für die Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser benötigt. Daraus resultiert die Aufgabe im Gebäudebereich: Erschließung eines Minderungspotentials von rund 100 Millionen Tonnen energiebedingten CO2-Emissionen. Dabei sind zwei Handlungsfelder grundsätzlich zu unterscheiden: Zum einen der Neubaubereich. Hier gilt es, Vorsorge zu treffen, damit die heute wirtschaftlich und in Breite verfügbaren Techniken zur Emissionsminderung und Energieeinsparung bei Neubauten zum Einsatz kommen. Gebäude sind langlebige Wirtschaftsgüter; alles, was an Energiesparmaßnahmen nicht unmittelbar bei ihrer Errichtung vorgesehen wird, kann später allenfalls mit großem Aufwand und hohen Kosten nachgerüstet werden. Es gilt also, heute durch vernünftige Energiespar-Investitionen die Emissionen und den Ressourcenverbrauch von morgen zu vermeiden! Mit der Neufassung wichtiger Vorschriften - hervorzuheben sind hier die neue Wärmeschutzverordnung und die neue Heizungsanlagen-Verordnung - hat die Bundesregierung das Ihre dazu getan, und zwar sehr rasch im Anschluß an die Aufarbeitung der Problematik durch die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" . Zum anderen der Gebäudebestand: Hier sind deutliche Potentiale zur CO2-Minderung zu erschließen. Dies ist aber nur sehr bedingt durch staatliche Vorgaben zu erreichen, vor allem deshalb, weil die Gebäude sehr verschieden sind und weil in erheblichen Teilbereichen - insbesondere beim baulichen Wärmeschutz - zudem grundsätzliche rechtliche Bedenken einer generellen „Nachrüstungspflicht" entgegenstehen. Ich meine gleichwohl, daß die Bundesregierung hier den richtigen Weg gewählt hat: Die bedingten Anforderungen der Wärmeschutzverordnung wirken zusammen mit den Nachrüstungsanforderungen in der Heizungsanlagen-Verordnung sowie mit der novellierten Kleinfeuerungsanlagenverordnung. Wie im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen gut herausgearbeitet wird, gilt es jetzt, diesen Vorschriften verstärkt zur Geltung zu verhelfen. Bezüglich der Anforderungen der Wärmeschutzverordnung für Maßnahmen an bestehenden Gebäuden kann man die Situation bildhaft so darstellen: Gute „Spielregeln" für das energiegerechte Modernisieren liegen vor. Es kommt jetzt darauf an, daß in ausreichendem Maße „Spiele ausgetragen" werden (sprich, daß Modernisierungsmaßnahmen durch die Gebäudeeigentümer ergriffen werden) und daß die „Schiedsrichter" die Befolgung der Regeln durchsetzen. Zum einen hat die Bundesregierung im Osten wie im Westen erhebliche Anstrengungen unternommen, vermehrt Investitionen zur energetischen Modernisierung von Gebäuden anzuregen. In den neuen Bundesländern besteht wegen des erheblichen Rückstandes an Modernisierungs- und Erhaltungsinvestitionen schon seit Jahren ein breit angelegtes Angebot der Bundesregierung zur Modernisierungsförderung im Gebäudebestand. Die Auswertungen zeigen eindeutig, daß ein erheblicher Teil der geförderten Maßnahmen auch (oder sogar ausschließlich) der Energieeinsparung und Emissionsminderung dienen. Auch in den alten Bundesländern gibt es seit Beginn dieses Jahres ein entsprechendes Programm, bei dem - allerdings ausschließlich die Verbesserung des Wärmeschutzes älterer Gebäude sowie für die Installation von energiesparenden Heizkesseln - zinsgünstige Kredite gewährt werden. Derzeit steht für die Jahre 1996 und 1997 ein Kreditvolumen von insgesamt 3 Milliarden DM zur Verfügung; dies reicht zur Sanierung von etwa 180 000 Wohnungen, zumal die Kreditnehmer im Durchschnitt nur etwa 60 % der tatsächlich getätigten Investitionen über diese verbilligten Kredite abdecken. Kurz gesagt: Bereits vergleichsweise geringe Fördersummen lösen - dank des eigenen Engagements der Bürger - große Investitionen aus. Großer Nachholbedarf besteht allerdings bei den „Schiedsrichtern", und dies gilt auch für den Neubau. Der Antrag der Koalitionsfraktionen bringt es auf den Punkt: seitens der Länder müssen neue Wege gefunden werden, um im Gebäudebereich den energiesparrechtlichen Vorschriften zur Geltung zu verhelfen. Klimaschutz ist zu wichtig, um den Verstoß gegen Wärmeschutz- und Heizungsanlagen-Verordnung als „Kavaliersdelikt" zu werten. Dabei muß es nicht unbedingt die Baupolizei sein, die das energiesparende Bauen durchsetzt. Ich meine, die Mehrzahl der Bürger ist verantwortungsbewußt genug. Es könnte ausreichen, beim Neubau dem Wärmebedarfsausweis durch landesrechtliche Vorschriften zum Durchbruch zu verhelfen und damit Transparenz im energiesparenden Bauen zu schaffen. Im Gebäudebestand könnte über eine Einbindung der Fachunternehmer nachgedacht werden. Phantasie ist gefragt. Entbürokratisierung und Klimaschutz sind keine gegensätzlichen Ziele. Auch der Aus- und Fortbildung der Planer und der Handwerker kommt große Bedeutung zu. Immer noch wird dabei zu wenig an das energiesparende Bauen gedacht. Wenn der Planer von vornherein auf ein einergiesparendes Gebäude hinarbeitet, ist ein Niedrigenergiehaus wegen der günstigen Betriebskosten häufig unter dem Strich auch das wirtschaftlichste Gebäude. Ich bitte Sie, dem vorliegenden Antrag zuzustimmen, damit neue Impulse in die richtige Richtung gesetzt werden. Denn es gibt noch viel zu tun, wenn wir unser ehrgeiziges Ziel im Klimaschutz erreichen wollen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 (a - Antrag: Bedrohung der Meere und Zerstörung der Küsten durch Ölkatastrophen, b - Antrag: Sofortmaßnahmen gegen die Verseuchung der Meere durch illegale Öleinleitungen - Maßnahmen zur überwachten Entsorgung von Altölen und Ölschlämmen an Land, c - Antrag: Schutz vor Öltankerunfällen und Umweltschäden in europäischen Gewässern, d - Antrag: Schutz der Nordsee durch Schiffsölentsorgung in Seehäfen, e - Beschlußempfehlung zu den Anträgen: Geplante Versenkung der Shell-Ölplattform und glaubwürdiger europäischer Nordseeschutz sowie Das Meer ist keine Müllhalde Wolfgang Bömsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Mit den Antragstellern teilen wir die Sorge um das Ökosystem Nordsee - aber das ist auch fast die einzige Gemeinsamkeit. Wer Altöl illegal ins Meer verklappt, handelt kriminell. Er schadet den Menschen, fügt Flora und Fauna unermeßliche Zerstörung zu, tötet Tausende von Seevögeln, zerstört Ferien- und Erholungsgebiete. Der Ölverschmutzung in der Nord- wie Ostsee müssen wir einen Riegel vorschieben. Das ist leichter gesagt, als getan. 1. Die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung sind anerkennenswert. Das gilt erstens für die Überwachung beider Meere. Die Schaffung des Koordinationsverbundes Küstenwache vor zwei Jahren hat zu einer weitgehenden Konzentration der Kontrollkräfte geführt. Dies schreckt Umweltsünder ab, doch nur zum Teil, die Aufgriffe von nur 7 bis 8 Prozent machen dies deutlich. Derzeit stehen 28 Seefahrzeuge, sieben Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes und zwei, teilweise mit modernster Technik ausgerüstete, Flugzeuge für die Ermittlung von Öl- und Umweltsündern zur Verfügung. Der Koordinierungsverbund mit zwei Meldeköpfen ohne die echte Einbindung der Behörden der fünf Bundesländer ist noch keine Coast Guard. Alle Aufgaben in einem Amt gebündelt, so sagen Experten, könnten die Kontrolle optimieren. Daneben ist eine verstärkte Aufklärung durch Satelliten erforderlich. 2. Hilfreich ist die angelaufene Überwachungskooperation mit den Nachbarstaaten Dänemark und den Niederlanden. 3. Förderlich war auch die Initiative des Bundes im Rahmen eines drei Jahre andauernden Pilotprojektes zur kostenlosen Altölaufnahme in deutschen Häfen. Als man das Entsorgungsprogramm 1988 begann, haben die betroffenen Bundesländer in einer Bundesratsentschließung anerkannt, daß es sich um eine ländereigene finanzielle Verpflichtung handelt, der Bund nur eine Anschubfinanzierung leistet. Am 31. Mai 1991 lief der erfolgreiche Versuch aus. Wie angekündigt, zog sich der Bund aus dem Projekt zurück. Allein Niedersachsen hat zu seinem Wort gestanden und bis heute die kostenlose Ölentsorgung gewährleistet. Hamburg und Mecklenburg leisten eine Teilfinanzierung. Bremen hat die Entsorgungshilfe zum 1. Januar 1996 eingestellt, und SchleswigHolstein hat die Schiffe seit 1991 voll zur Kasse gefordert. Mit dem Eintritt der Grünen in die Regierung hat es dort keine Änderung in der Altölfrage gegeben. Mit dem Ende der kostenlosen Entsorgung nahm die Entsorgungsmenge drastisch ab. Waren es 1990 noch 160 000 Kubikmeter, fiel die Menge auf 90 000 Kubikmeter im Jahr 1995. Gleichzeitig stieg die Zahl der illegalen Öleinleitungen erheblich. Wenn alle Bundesländer so wie Niedersachsen sich an die 1988 getroffene Vereinbarung gehalten hätten, wäre es zu weniger Ölsünden in Nord- und Ostsee gekommen. Der Länder-Wortbruch hat der Umwelt geschadet. Rechtlich ist die Sachlage auch klar, die Häfen fallen in Länderzuständigkeit. Trotzdem mahnt SchleswigHolstein Bonn an. Doch das Schwarze-Peter-Spiel dient nicht der Sache. Notwendig ist kurzfristig ein von allen Ostseeanrainern akzeptiertes harmonisiertes Finanzierungssystem für die kostenfreie Entsorgung von Altöl. Werden dabei die Entsorgungskosten in allen Anrainerstaaten in die Hafengebühren integriert, wird eine Wettbewerbsverzerrung vermieden. Ein Bonus ist den Booten mit Doppelhülle zu geben und denen, die Diesel und nicht Schweröl benutzen. Diese Konzepte setzen ein gemeinsames Vorgehen aller Ostseeländer voraus. Durchaus realistisch und umsetzbar ist diese Forderung, da die Ostsee bereits zum Sondergebiet erklärt wurde und Auffanglager vorhanden sein müssen. Schwieriger wird eine kurzfristige Lösung für die Nordsee. Allein für den Schiffsmüll ist sie bisher Sondergebiet. Es war unter anderem die Bundesregierung, die auf der 4. Nordseeschutz-Konferenz mit Nachdruck für eine Ausweitung des Schutzumfanges eingetreten ist. Andere EU-Staaten haben sich dem widersetzt, so daß erst im kommenden Jahr eine MARPOL-Erweiterung möglich wird. Mit dem Status eines Sondergebietes ausgestattet ist die Chance wesentlich größer, daß es auch hier gelingt, zu einer gemeinsamen Ölabnahmestrategie zu kommen, für die gesamte Nordsee, entsprechend dem Ostsee-Modell. Doch weitere Kontrollen machen dieses Konzept nicht überflüssig. Wegen der oft hohen Hafengebühren scheuen manche Reeder längere Liegezeiten, die durch das Ölabpumpen entstehen können, verlassen mit den oft giftigen Rückständen den Hafen und „entsorgen auf See". Der dreijährige deutsche Versuch hat gezeigt: Die illegale Ölentsorgung bei Nacht und Nebel wird drastisch eingeschränkt. Das ist der richtige Weg. Wir haben die Parlamente der Ost- und Nordsee-Anrainer für diese Lösung zu gewinnen. Unabhängig davon bleiben unsere Küstenländer aufgefordert, zu ihren Aussagen zu stehen und die kostenlose Altölentsorgung fortzusetzen. Die hier vorgelegten Forderungen der Bündnisgrünen gehen weit darüber hinaus, sie sind wirklichkeitsfremd, fachlich falsch, praxisfern - aber publikumswirksam. Da fordert man die Einführung von schwarzen Listen, um Ölsündern das Handwerk zu legen, dabei gibt es sie seit mehr als 16 Monaten bereits. In einer EU-weiten praktizierten Hafenstaatenkontrollrichtlinie werden sie umgesetzt. Da fordert man eine Verbesserung der Sicherheitskontrollen für Personen und Sachen auf den Schiffen, ohne sich vorher zu erkundigen, daß in einer internationalen Regelung diese Problematik bereits seit Monaten ratifiziert ist und am 1. Februar 1997 völkerrechtlich in Kraft tritt. Da fordert man einen Ausbau der Lotsenannahmepflicht in kritischen Gewässern und mißachtet, daß es bereits eine Revierlotsenverordnung an der deutschen Nordseeküste zur Annahme von Seelotsen gibt, die auch selbstverständlich für Tankschiffe gilt. Da fordert man ein Durchfahrverbot für Tanker in ökologisch kritischen Gewässern, z. B. dem Nationalpark Wattenmeer, und verschweigt, daß ein solcher Schiffsverkehr im Bereich des Nationalparks gesetzlich bereits ausgeschlossen ist. Aber es kommt noch toller. Da erwartet man von der Bundesregierung ein Durchfahrverbot für Tanker in deutschen und europäischen Gewässern, die keine Doppelhülle haben, ohne zu berücksichtigen, daß auf der gesamten Welt zur Zeit gut 6 000 Tanker fahren, davon 350 mit einer Doppelhülle. Würde es nach dem Willen der Grünen gehen, würde Europa damit vom Hauptenergie- und Rohstoffträger Öl abgeschnitten. Prächtig macht es sich, auch ein neues Haftungsrecht für Ölsünder zu fordern. Vor fünf Monaten sind gerade erst die seit 1992 im Londoner Protokoll aufgenommenen Veränderungen völkerrechtlich in Kraft getreten. Sie führen zu einer erheblich erweiterten internationalen Haftungs- und Entschädigungsverschärfung. Schiffseigner müssen statt früher 31 Millionen jetzt bis zu 132 Millionen DM in der Haftung leisten, beim Entschädigungsbetrag statt 132 Millionen jetzt 297 Millionen DM und in der zweiten Stufe 440 Millionen DM. Ersetzt werden Personen-, Sach- und Umweltschäden. Auch Schäden durch illegale Tankerreinigung auf See unterliegen dem Abkommen. So ermittelt die Flensburger Staatsanwaltschaft zur Zeit gegen den Juni-Ölsünder vor der Sylter Küste. Es geht um ein unter russischer Flagge fahrendes Öltankschiff, das erst in Santa Panagia in Süditalien aufgegriffen wer- den konnte. Die Auswertung der Beweise dauert noch an. Sollte die Tat zutreffen, haftet der Eigner, wenn nicht, dann der neue Entschädigungsfonds. Die Beseitigung der Meeresverunreinigung und die Reinigung der Strände hat Kosten in Höhe von fast 5 Millionen DM verursacht. Der Schaden, den die Natur und Umwelt genommen haben, ist viel größer und läßt sich materiell überhaupt nicht beziffern. Trotzdem ist unser Strafrecht gegenüber Umweltfrevlern in aller Schärfe anzuwenden. Auch hier läuft die Forderung der Grünen ins Leere. Vor zwei Jahren ist der Strafrahmen erheblich ausgeweitet und verschärft worden. Er reicht in leichten Fällen von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren in schweren Fällen. Der Antrag der Grünen ist von A bis Z voller Fehler, unseriös und populistisch. Er ist eine Zumutung für unser Parlament. Sachbetonter im Ansatz ist der Antrag der Sozialdemokraten. Sie sehen Handlungsbedarf für ein Sondergebiet Nordsee. Aber auch ihnen muß man sagen, der Antrag ist bereits im vergangenen Jahr durch die Bundesumweltministerin Angela Merkel eingebracht worden. Auch beim Thema Strafmaß muß an das neue Recht erinnert werden. Offene Türen rennt man auch mit der Anregung für ein EU-weites Gebührensystem für die Schiffsentsorgung ein. Bei der geforderten Zwischenlösung beim Altölproblem geht es um die Worttreue der - vorwiegend SPD-regierten - norddeutschen Länder. Sie haben zu handeln, sie haben eine kostenlose Schiffsölentsorgung zu gewährleisten, nicht der Bund. Die Jagd auf Ölsünder ist mühsam. Das Konzept der Bundesregierung ist im Grundsatz richtig, weil es praxisnah ist, umsetzbar und auf Internationalität abgestellt ist. Zum Schluß möchte ich noch einmal deutlich feststellen: Es besteht eindeutig Handlungsbedarf, um den Ölsündern das Handwerk zu legen. Neben einer optimierten Kontrolle gehört nach meiner Meinung die Einführung einer zumindest europaweiten einheitlichen Zwangsentsorgung des Altöls in den Häfen dazu, entweder über höhere Hafengebühren oder auf andere Weise. Entscheidend ist, daß illegale Ölableitungen unterbunden werden. Annette Faße (SPD): In den Jahren 1988 bis 1991 führte das BMU mit den Bundesländern ein Demonstrationsvorhaben zur kostenlosen Schiffsölentsorgung durch, um die ständige Ölverseuchung der Nordsee durch die Einleitung von Schiffsölen zu bekämpfen. Damit wurden bis 1991 in den deutschen Seehäfen die vom MARPOL-Übereinkommen vorgeschriebenen Voraussetzungen für eine effektive Entsorgung der betriebsbedingten Ölrückstände geschaffen. Der Erfolg des Projektes ist rückblickend unzweifelhaft. Dies zeigt sich deutlich an der Zunahme der entsorgenden Schiffe bzw. der Menge der entsorgten Schiffsöle in diesem Zeitraum. Im Jahre 1990 waren es beispielsweise 160 000 Kubikmeter. Durch die Übernahme der Kosten durch BMU und Länder von zirka 10 bis 15 Millionen DM pro Jahr wurde der Anreiz der illegalen Entsorgung verringert. Mit dem Auslaufen des Demonstrationsvorhabens zog sich der Bund aus der Finanzierung zurück. Nur Niedersachsen übernimmt noch die Entsorgungskosten in voller Höhe, Hamburg bezuschußt bis 1 600 DM pro Schiff. Mecklenburg-Vorpommern bezahlt 50 Prozent der Kosten bei voller Übernahme von Summen unter 500 DM, Schleswig-Holstein und Bremen geben keinerlei Zuschüsse. Die Folgen dieser Politik sind unübersehbar: Die Menge der entsorgten Schiffsöle nahm von 160 000 Kubikmetern im Jahr 1990 auf 90 000 Kubikmeter im Jahr 1995 ab. Die Zahl der registrierten Öleinleitungen und der Ölverseuchungen nahm im selben Zeitraum deutlich zu und hat inzwischen sogar einen traurigen Höchststand erreicht. Zuletzt - das wird Ihnen allen noch in Erinnerung sein - wurden im Juni dieses Jahres die Ostfriesischen Inseln von einer der bislang schwersten Ölverschmutzungen heimgesucht. Als deren Ursache gilt eine illegale Tankwäsche. Daher ist es wohl nicht von der Hand zu weisen, zwischen dem Aussteigen des Bundes aus der Finanzierung und der Verunreinigung der Nordsee einen Zusammenhang herzustellen. Um die Nordsee zu schützen, müssen deshalb nationale und internationale Maßnahmen zur Neuregelung ergriffen werden. Das Ziel kann nur sein, eine europaweit einheitliche Regelung herbeizuführen. Bis zu einer derartigen Vereinbarung müssen allerdings Übergangsregelungen getroffen werden. Es besteht also akuter Handlungsbedarf, um die zunehmende Ölverseuchung der Nordsee wirksamer als bisher zu bekämpfen. Die Bundesregierung hat bisher versäumt, sowohl für eine langfristige wie für eine kurzfristige nationale und internationale Lösung ein Zeichen zu setzen. Die Regierungsvertreter meinen, auch ohne zusätzliche Mittel eine Lösung finden zu können. Das wurde in der letzten Woche durch die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in den Haushaltsberatungen des Verkehrsausschusses deutlich. Wie und wann nun eine Lösung erfolgen soll, steht in den Sternen. Allein der Hinweis auf die Kostenübernahme der Luftüberwachung durch den Bund kann in diesem Zusammenhang nicht genügen. Genausowenig können die notwendigen Maßnahmen allein in die Verantwortung der Länder übergeben werden. Vielmehr steht eindeutig fest: Der Bund als Verantwortlicher für den Nordseeschutz und als Verhandlungs- und Vertragspartner der relevanten internationalen Organisationen und Organe - wie IMO, EU und INK-Staaten - sowie als Nutznießer der Wirtschaftsfaktoren Nordsee und Hafenwirtschaft steht mit in der Pflicht. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich erstens mit Nachdruck bei der Internationalen Schiffahrtsorganisation (IMO) dafür einzusetzen, daß die Nordsee - wie bereits die Ostsee - als „Sondergebiet" nach MARPOL eingestuft wird, damit die heute außerhalb der 12-Meilen-Zone von der Küste in begrenztem Umfang immer noch le- galen Öleinleitungen im gesamten Nordseegebiet verboten werden; zweitens die Überwachung der Nordsee und hier insbesondere die Luftüberwachung der Hauptschiffahrtsrouten deutlich zu verbessern - dazu gehören auch technisch bessere Nachtsichtgeräte - und die Kontrolltätigkeit in den Häfen bei der geregelten Entsorgung zu verstärken; drittens die Sanktionsmöglichkeiten bei illegalen Öleinleitungen drastisch zu verbessern und die finanzielle Höchstrafe für illegale Öleinleitungen auf mindestens 100 000 DM zu erhöhen; viertens zusammen mit den Nordseeanrainern in der EU und mit Norwegen Verhandlungen über ein Abkommen zur einheitlichen Entsorgung von Schiffsölen aufzunehmen; fünftens bis zum Inkrafttreten dieser internationalen Vereinbarungen unverzüglich eine Übergangsregelung zusammen mit den deutschen Küstenländern zu schaffen und in einem Bund-Länder-Sofortprogramm die kostenlose Ölentsorgung für diesen befristeten Zeitraum wieder aufzunehmen - die Kosten für die Entsorgung werden hälftig von den Küstenländern und vom Bund aufgebracht -; sechstens zu prüfen, in welcher Weise auch bei dieser Zwischenlösung die Reeder gemäß dem Verursacherprinzip an den Kosten für die Schiffsölentsorgung zu beteiligen sind. Es ist unstrittig, daß eine einheitliche Lösung gefunden werden muß, denn der ökonomische und ökologische Schaden, der durch illegale Einleitungen entsteht, ist höher als die Übernahme der Kosten durch alle Beteiligten. Ulrike Mehl (SPD): Wir haben heute eine Reihe von Anträgen zu debattieren, die sich alle mit konkreten Maßnahmen des Meeresschutzes befassen, und dies, obwohl zur Zeit keine offen sichtbare Katastrophe ins Haus steht. Das sage ich für diejenigen, die immer behaupten, wir befaßten uns nur dann mit dieser Thematik, wenn es spektakuläre Ereignisse gebe. Die Bedeutung des Themas spiegelt sich allerdings nicht in der Gesamtdebattenzeit wieder. Das Gegenteil ist der Fall: Die SPD-Fraktion hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Anträgen zum Meeresschutz in den Bundestag eingebracht, die in der Regel von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt worden sind. Ich bin sehr gespannt darauf, wie die Koalitionsfraktionen nun auf unseren Antrag „Schutz vor Öltankerunfällen und Umweltschäden" reagieren wird. Darin fordern wir unter anderem folgende Regelungen: Wir brauchen erstens zwischen Ost- und Nordseeanrainerstaaten und EU eine Vereinbarung, wonach Schiffe, die nicht dem vereinbarten internationalen Schutzstandards entsprechen - zum Beispiel Doppelhüllentanker -, Einlaufverbot in die Häfen erhalten; zweitens ein internationales Sicherheitskonzept für den Tankerverkehr. Dazu gehört auch eine einheitliche Arbeitssprache an Bord und in der Schiff-LandKommunikation sowie die Standardisierung des Informationsaustausches im Tankerverkehr. Drittens die Hafenstaatkontrollrechte müssen von 25 % für alle Schiffe auf 100 % für alle Tanker erhöht werden. Viertens brauchen wir eine Ausweitung der Haftung auf alle ökonomischen und ökologischen Schäden bei Unfällen sowie die Festlegung einer unbegrenzten Haftung und Ausweitung der Haftung auf die Versender und Empfänger von Gütern und auf die Flaggenstaaten der Reeder. Wenn sie diesen Antrag auch ablehnen, dann ist wiederholt bewiesen, daß sie in der Umweltpolitik nur Fensterreden halten. Beim Schutz der Meere ist besonders deutlich, daß theoretisches Wissen über Ökosysteme einerseits und praktische Maßnahmen zur Verhinderung von Katastrophen andererseits immer weiter auseinanderklaffen. Von vorbeugendem Ökosystemschutz will ich gar nicht erst reden. Forschungsbemühungen über ökologische Zusammenhänge sind absolut notwendig, und man kann froh sein, daß so etwas trotz dieser Bundesregierung noch stattfindet. Nur nützt das alles nichts, wenn aus den gewonnenen Erkenntnissen keine Konsequenzen gezogen werden. Statt dessen wird „toter Mann" gespielt und gehofft, daß so bald kein Schiffsunglück in der Deutschen Bucht passiert und die schleichende Vergiftung der Meere nicht zu plötzlich zutage tritt. Sonst hätten wir wieder die Katastrophen-Debatte im Bundestag. Obwohl wir wissen, daß der Gütertransport, noch dazu mit höchst gefährlichen Gütern, auf dem Wasserweg drastisch zunimmt - und damit die Gefährdung insbesondere des Wattenmeeres ebenfalls -, wird hier offenbar auf das Prinzip Hoffnung gesetzt. Das heißt, Sie hoffen, daß ein Unglück wie mit der „Sea Empress" nicht vorkommt. Ich hoffe das auch, aber Hoffen allein ist keine vorbeugende Maßnahme. Es ist absolut kontraproduktiv, wenn die Regierungskoalition uns bei den Debatten zu diesem Thema immer erzählt, das sei doch alles nicht so schlimm, man solle nicht unnötig dramatisieren. Das Meer ist bis zum Stehkragen belastet mit Schadstofffrachten aus Verkehr, Landwirtschaft, Siedlung und Industrie. Das Ökosystem Meer antwortet bereits deutlich meßbar mit schwarzen Flecken, ungewöhnlichen Algenblüten oder plötzlichem Muschelsterben, was von Ihnen gerne mit dem Argument der einmaligen Zufälligkeit vom Tisch gewischt wird. Ich räume ein, daß eine ganze Reihe von zu treffenden Regelungen nur schwer zu erreichen sind, weil sie auf internationaler Ebene durchgesetzt werden müssen. Wer das aber erreichen will, muß sich mit aller Macht für den notwendigen Schutz einsetzen - und dazu hat die Mehrheit im Bundestag, dank unserer Anträge, wiederholt Gelegenheit. Ich möchte abschließend noch ausdrücklich betonen, daß wir mit Nachdruck die Forderung der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste auf Einrichtung einer Küstenwacht, ähnlich der amerikanischen Coast Guard, unterstützen. Die Sicherheit der Menschen in den Küstenregionen und die Erhaltung unserer Ökosysteme muß in einer kompetenten und schlagkräftigen Hand gebündelt werden. Wir werden demnächst dazu eine parlamentarische Initiative starten. Auch hier sehen wir der tatkräftigen Unterstützung der umweltbewegten Koalitionsmehrheit entgegen. Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir reden hier zu später Stunde über Öl, das die Meere verseucht. Es gibt keinen besonderen Anlaß, wie bei einer Ölkatastrophe. Dann ist die Öffentlichkeit aufgeschreckt, gruselt sich vor den Bildern der verölten Tiere und der versauten Strände. Der Ruf nach durchgreifenden Vorsorgemaßnahmen verhallt dann irgendwann, wenn neue Katastrophen die Informationsbörse überfluten. Passieren kann das jederzeit, auch ohne Sturm: Die International Maritime Organization - IMO - schätzt, daß bereits ein Drittel der Tanker unter Billigflagge fährt, meist ohne die nötigen technischen Sicherheitsstandards und Qualifikation der Mannschaft. Unterbesetzt, schlecht ausgebildet und bezahlt, oft ohne die nötigen Sprachkenntnisse sind an drei Vierteln aller Unfälle inzwischen Billigflaggentanker beteiligt. Die Lage wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen. 3 000 Großtanker sind über 30 Jahre alt und gehören auf den Schrott. Und dann gibt es noch die schleichende Ölverseuchung, die niemand mehr so recht wahrnimmt, wenn es denn nicht so dick kommt wie im letzten Sommer. Dabei werden Jahr für Jahr 80 000 t hochgiftige Ölschlämme ins Meer gepumpt, die bei der Verbrennung von Schweröl, dem sogenannten Bunker-C-Öl als Restbestände anfallen. 25 000 Seevögel verenden jedes Jahr qualvoll an den Folgen - diese Größenordnung entspricht exakt der der letzten Tankerkatastrophe - nur völlig unspektakulär und außerhalb der 12-Meilen-Zone sogar ganz legal. Grund dafür: die Reedereien können viel Geld sparen, durchschnittlich 300 000 DM pro Jahr und Schiff, und das Risiko ist gleich null. Auf Grund des See- und internationalen Völkerrechts ist die Strafverfolgung faktisch unmöglich, selbst wenn der Verursacher identifiziert wird. Deshalb laufen verschärfte Strafandrohungen ins Leere. Aufgrund dieser Sondersituation wurde 1988 in Kooperation von Bund und Ländern im Rahmen eines Pilotprojektes ein praktikables System für die Entsorgung von Ölabfällen geschaffen. Der Erfolg war durchschlagend. 165 000 t wurden an Land entsorgt. Unverständlicherweise zogen sich der Bund 1991 zurück, ebenso fast alle Länder, mit dem Erfolg, daß sich der Anteil des an Land entsorgten Öls halbierte und der Anteil der ölverschmierten Seevögel wieder dramatisch anstieg. Dieser Sommer war einer der traurigen Höhepunkte; Ölklumpen an der norddeutschen Küste begleiteten die Tourismussaison. Obwohl die Fakten auf dem Tisch liegen, die Summe mit 10 bis 15 Millionen DM pro Jahr angesichts der Auswirkungen relativ gering ist, schiebt der Bund die Verantwortung von sich weg und verweist auf die Länder, auf die EU und auf die internationale Ebene. Nach § 2ff. Seeaufgabengesetz von 1987 ist der Bund für die Sicherheit des Seeverkehrs und der von ihm ausgehenden Gefahren zuständig. Was für eine Philosophie steckt eigentlich dahinter? Natürlich brauchen wir internationale Vereinbarungen für sichere Tanker, die kein Schweröl mehr verbrennen, damit keine Ölschlämme mehr anfallen. Auf dem Weg dahin gibt es viele Zwischenschritte, wie zum Beispiel der Kostenanlastung der Entsorgung. Aber darauf können wir nicht warten. In der Zwischenzeit geht das Meer den Bach runter, und die Küstenregionen gehen vor die Hunde. Wir haben einen Antrag innerhalb der Haushaltberatungen eingebracht, damit der Bund 10 Millionen DM einstellen soll. Diese Summe würde sich um die Beteiligung der Länder reduzieren. Niedersachsen hat bereits Geld für 1997 eingestellt, Hamburg erstattet die Hälfte. Die Argumentation, die Länder würden sich finanziell verabschieden, wenn der Bund in Vorleistung tritt, ist nichts weiter als eine Schutzbehauptung. Sie geht an der Realität vorbei, denn die Küstenländer haben ein ureigenstes Interesse an dem Erhalt ihrer Küsten. Das Ausmaß für Mensch und Natur, aber auch für die regionale Tourismuswirtschaft, oft die Haupteinnahmenquelle, wird dramatisch unterschätzt. Fassen wir zusammen: Die folgenden zentralen Forderungen müssen weiterhin im Mittelpunkt der Debatte stehen: Erstens. Erstellung eines nationalen Konzeptes zur Harmonisierung der finanziellen Abwicklung der Schiffsentsorgung entsprechend der Entschließung des Deutschen Bundestages von Dezember 1995. Zweitens. Umsetzung einer zunehmenden Beteiligung der Verursacher an den Entsorgungskosten. Drittens. Initiativen zur Regelung der zulässigen Schiffstreibstoffe und Abgasemissionen. Viertens. Kurzfristige Bereitstellung von 10 Millionen DM zur Sicherung der bisherigen Strukturen der Ölentsorgung. Die Bundesregierung darf sich in diesen Fragen nicht aus der Verantwortung stehlen und diese auf die Küstenländer abwälzen. Ziel aller Maßnahmen muß es sein, den höchstmöglichen Standard in der Schiffstechnik und in der Qualifikation der Schiffsbesatzungen zu erreichen; das schützt nicht nur die Umwelt, das schafft auch Arbeitsplätze auf den Werften, in den Häfen und in der Seefahrt. Nirgends wird der Zusammenhang zwischen Ökologie und Ökonomie so deutlich wie in der Seeschiffahrt. Im Umgang mit kleinen ökologischen Räumen wie zum Beispiel dem Wattenmeer zeigt sich die Verantwortung für das gesamte Ökosystem. Einer Gesellschaft, die diese Zerstörung tatenlos zuläßt, fehlt es auch an der Sensibilität, die Verantwortung für kommende Generationen zu übernehmen. Deshalb fordere ich Sie an dieser Stelle auf: Setzen wir uns alle gemeinsam dafür ein, daß man eines Tages sagen kann: Die Nordsee ist sauber und die Öltanker sind sicher, und niemand dabei glaubt, das ist wieder eine neue Lügengeschichte von Käpten Blaubär. Lisa Peters (F.D.P.): Heute sind insgesamt sieben Drucksachen zu behandeln, die unterschiedliche Merkmale aufweisen, aber in der Zusammenfassung den Schutz unserer Küsten, der Nordsee und der Meere insgesamt zum Inhalt haben. Es sind viele Ar- gumente aufgeführt, die richtig und unverzichtbar sind und sicher auch von den meisten Mitgliedern des Hauses getragen wurden und werden. Wir haben nur unterschiedliche Ansatzpunkte, arbeiten mit abweichenden Schuldzuweisungen, kommen zu verschiedenen Zukunftsvorstellungen und somit auch politischen Entscheidungen. Ich denke, die Ursachen für die Verschmutzungen der Küsten und Meere sind seit langem erkannt, auch von den Koalitionspartnern und der Bundesregierung. Das muß immer wiederholt werden, weil Fakten und Tatsachen einfach nicht zur Kenntnis genommen werden: Unsere Flüsse und Meere werden zunehmend mehr befahren und genutzt. Das ist politisch so gewollt. Sowohl der Welthandel als auch die zunehmenden Schiffsverkehre im Freizeitbereich bringen Arbeitsplätze. Arbeitsplätze sind das, was wir brauchen; hätten wir sie, würden sich 50 Prozent der Debatten auch in dieser Woche im Deutschen Bundestag erübrigen. Ich will micht nicht lange mit der Vergangenheit aufhalten, will meinen Blick auf die Gegenwart, vor allem aber auf die Zukunft konzentrieren. Es ist bekannt, daß die Einträge von Schadstoffen unterschiedliche Ursachen haben. Dabei spielen unsere Kläranlagen, aber auch die Einträge aus der Landwirtschaft, eine Rolle. Wir müssen uns nicht um Prozentzahlen streiten. Alle wollen diese Einträge vermindern, wir arbeiten daran. Hier in Bonn wird es oft nicht wahrgenommen: Auch die Mandatsträger in den Kommunen arbeiten intensiv an der Verminderung der Einträge, die von Klärwerken produziert werden. Hier wird sehr viel Geld eingesetzt. Und auch ein Landwirt streut nicht mit vollen Händen teuren Mineraldünger aus. Auch der Düngewert der Gülle für den Boden hat sich schon bei uns herumgesprochen. Man „fährt sie nicht einfach auf den Akker" . Sie können gewiß sein, daß bei der qualifizierten Ausbildung der Landwirte und Landwirtinnen die „gute fachliche Praxis" beherrscht wird. Aber gegen Wind und Wetter sind auch wir machtlos. Wenn sie in kurzer Zeit 40 mm Niederschläge haben, läßt sich leider ein Eintrag in das Gewässersystem auch bei gutem Ansatz und bestem Willen nicht vermeiden. Die „Schwarzen Flecken" an unserer Küste haben auch etwas mit sehr unterschiedlichen Witterungsbedingungen zu tun. Allerdings, wenn man es verstehen will, muß man noch Sonne, Regen und Wind wahrnehmen können und einen Bezug zur Natur haben. Nun zu den „seeseitigen Fakten". Auch hier ist in der Vergangenheit viel geschehen. Die effektive kostenlose Entsorgung der Ölrückstände - begrenzt auf drei Jahre von Mitte 1988 bis Mitte 1991 - hat sich bewährt. Es wurde zu jeweils 50 Prozent vom Bund und den Küstenländern finanziert. Da aber die Länder grundsätzlich auf ihrer „Hafenhoheit" bestehen, müßten sie ein eigenes großes Interesse an der optimalen Entsorgung der Ölrückstände haben. Dabei verweise ich auf die heutige Debatte „Maritime Wirtschaft" . Aber leider, die meisten Länder haben sich schon aus der Verantwortung gezogen bzw. finanzieren noch mit gewissen Beträgen. Hier muß ich Niedersachsen positiv hervorheben, noch wird Öl aus Seeschiffen in den niedersächsischen Häfen kostenlos entsorgt. Naturgemäß laufen aber nur wenige Seeschiffe unsere niedersächsischen Häfen an. Hamburg, Bremen und Bremerhaven könnten dort mehr bewirken. Noch immer gibt es in den Verkehrsressorts keine einheitliche Haltung der Küstenländer. Das ist bedauerlich und hindert die Bundesregierung daran, auf europäischer Ebene entsprechende Verhandlungen zur einheitlichen Hafenentsorgung führen zu können. Ich appelliere an die Landesregierungen in den Hansestädten, an Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und hier gemeinsam vorzugehen. Man kann nicht alles auf den Bund schieben, wie es in den Anträgen gefordert wird! Wir müssen auch in Europa gemeinsame Regelungen anstreben. Ich fürchte nur, daß dies weder kurz- noch mittelfristig zu realisieren ist. Wir haben eine Vielzahl von Staaten, die an das Mittelmeer angrenzen; mit allen muß verhandelt werden. Ich denke, die Bundesregierung ist bei den Verhandlungen Vorreiter, mahnt dauernd wieder an. Außerdem ist das Haftungsrecht verschärft worden. Am 31. Mai 1996 ist das vereinbarte internationale Haftungs- und Entschädigungssystem für Ölverschmutzungsschäden in Kraft getreten. Mehr ist zur Zeit nicht durchzusetzen. Am 1. Februar 1997 tritt voraussichtlich ein internationales Übereinkommen über Normen in der Ausbildung und die Erteilung von Befähigungszeugnissen für Seeleute im Wachdienst in Kraft. Ich verspreche mir durch diese Regelung eine Verbesserung im Umgang mit der Umwelt. Es kann auch den Verantwortlichen auf den Schiffen auf Dauer nicht gleichgültig sein, was mit unserer Umwelt passiert. Auch denke ich, daß die Kontrollen per Flugzeug, die seit 1993 unternommen werden, etwas bringen. Zur Zeit führt ein Flugzeug - Do 28 - diese Kontrollen durch. Damit noch mehr Überwachung vonstatten gehen kann, wird ein weiteres Flugzeug angemietet und 1998 ein zweites fest in den Dienst gestellt. Die besten Gesetze und Verordnungen nützen nichts, wenn die Überwachung nicht möglich ist! Nun kurz zur Entsorgung von Ölplattformen: Die Aktionen, die zur geplanten Versenkung der „Brent Spar" gelaufen sind, waren gut und richtig. Sie haben das Bewußtsein dafür, daß das Meer nicht als Entsorgungszentrum zu betrachten ist, bei den Bürgern und Bürgerinnen geschärft! Auch in diesem Punkt hat die Bundesregierung massiv Einfluß auf die Regierung von Großbritannien genommen. Da in Zukunft viele Plattformen entsorgt werden müssen, gibt es hier ein größeres Arbeitsbeschaffungsprogramm. Ideen sind gefragt, Wettbewerb angesagt. Zusammengefaßt kann man sagen, daß das Mitdenken für die Umwelt und damit für unsere Zukunft gestärkt worden ist. Es ist aber noch viel zu tun, auch im Bereich der Fischerei. Dort werden wir in Zukunft wohl restriktiver vorgehen müssen. Nur gemeinsam, zusammen mit den norddeutschen Bundesländern, können wir etwas in Europa erreichen. Meere müssen uns in Zukunft mehr verbinden, wir alle müssen erkennen, daß man das Wasser nicht nur nutzen und ausnutzen kann. Wasser in jeder Form, besonders das Trinkwasser, ist für das Leben der Menschen, Tiere und Pflanzen auf dieser Welt das wichtigste Element. Eva Bulling-Schröter (PDS): Zur Zeit befahren etwa 3 500 Großtanker die Meere und bedrohen die Lebensräume Meer und Küste. Wir alle kennen die Bilder von ölverklebten Seevögeln. Die Havarie des Öltankers „Sea Empress" in diesem Frühjahr ist nur ein Beispiel. Der Tanker brach auseinander - in der Zufahrt zu einem der größten Ölhäfen Europas! Das Schiff hatte nur eine einfache Außenhaut, das Öl konnte sofort ungehindert auslaufen, es waren keine Schlepper zur Stelle. Aber keine Panik auf der Titanic. Die Herren von der Regierungsbank ruhen sich auf den Fortschritten aus, die die neuen internationalen Abkommen zur Sicherheit der Seeschiffahrt angeblich gebracht haben. Bloß nicht selber aktiv werden! Volle Kraft voraus in die nächste Katastrophe, heißt die Devise. Dabei hat doch selbst der Große Bruder Amerika inzwischen gehandelt: Seit dem „Exxon-Valdez " -Unglück dürfen in den USA nur noch Tanker mit doppelter Außenhaut einlaufen. Warum versucht das Kabinett Kohl nicht, eine ähnliche Regelung für Nord- und Ostseehäfen durchzusetzen? Statt dessen verlassen Sie sich auf den Klabautermann, oder - was so ähnlich ist - auf einen internationalen Minimalkonsens des IMO-Beschlusses, der alle Sicherheitsvorschriften nur auf neu gebaute Schiffe anwenden will. Noch immer dürfen alte Kähne aus den 70er Jahren durch die Gegend schippern. „Großvaterklauseln" nennt man diese Inkonsequenz der Verträge. So heißt das im beschönigenden deutschen Juristenchinesisch, wenn schrottreife Tankschiffe bis ins nächste Jahrtausend hinein noch die Umwelt gefährden. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Ein Fall für die Juristen wäre auch die Seeräubermethode, mit der sich die Reeder den Bußgeldverfahren und anderen sicherheitstechnischen Maßnahmen entziehen: Sie flaggen alte Schrottschiffe aus in Billigflaggenländer. Und das wird auch so bleiben, es sei denn, wir setzen es durch, daß auf die Schiffe das Recht des Hafenstaates angewandt wird. Denn gegenwärtig kann jede fortschrittliche Regelung mühelos untergraben werden: Fast jedes Strafverfahren wegen Umweltdelikten ziehen die Flaggenländer an sich. Meist enden die Untersuchungen damit, daß die Reeder eine marginale Geldsumme zahlen müssen. So ist es unmöglich, Umweltsünder und ihre Profitinteressen empfindlich zu treffen. Aber damit nicht genug. Die Bundesregierung sitzt nicht nur aus, sie wird auch noch aktiv - bloß: in der falschen Richtung. Das Programm zur kostenlosen Entsorgung von Schiffsaltöl in deutschen Häfen wurde ersatzlos gestrichen. Seitdem wird unerklärlicherweise etwa ein Drittel weniger Öl zur Entsorgung in den Häfen abgegeben als vorher. Tja - wo mag das eine Drittel Öl geblieben sein? Es wird wohl nicht für quietschende Türscharniere verwandt worden sein. Wir schließen uns den Forderungen im Antrag der Bündnisgrünen an. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 16 (Antrag: Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara) Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Die wichtigste Voraussetzung für Frieden - das gilt überall - ist zunächst einmal die Einsicht der Konfliktparteien, daß sie aus einem friedlichen Ausgleich ihrer Interessen Vorteile erzielen können. Wo diese Einsicht fehlt, ist der Friedensprozeß entweder gefährdet, wie dies gegenwärtig im Nahen Osten der Fall ist, oder er beginnt gar nicht ernsthaft, wie dies gegenwärtig in der Westsahara, im Land der Saharauis, der Fall ist. Der Deutsche Bundestag befaßt sich heute zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres mit einem interfraktionellen Antrag zur Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara. Hatte die Debatte im Februar noch am Ziel „Verwirklichung des WestsaharaFriedensplans der Vereinten Nationen" festgehalten, so müssen wir jetzt erkennen: Dieser Friedensplan ist angesichts des fehlenden Friedenswillens der Polisario und der marokkanischen Regierung auf absehbare Zeit ohne Chance. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat im Sommer entschieden, das Beobachtungspersonal weitgehend abzuziehen und das Militärpersonal um 20 Prozent zu reduzieren. Die Vereinten Nationen sahen sich aufgrund der Uneinsichtigkeit der Konfliktparteien außerstande, ein 1991 vereinbartes Referendum über die Zukunft der Westsahara durchzusetzen. Es hilft uns bei diesem Konflikt auch nicht, wenn wir uns auf die Verantwortung Spaniens für die unvorbereitete Beendigung der Kolonialherrschaft zu Beginn des Jahres 1976 berufen. Es ist eine Tatsache: Die ehemals spanische Kolonie Westsahara wurde 1976 unvorbereitet aus dem spanischen Herrschaftsbereich entlassen. Marokko hat das Machtvakuum genutzt und seine Truppen einmarschieren lassen. Gleichzeitig wurden zehntausende marokkanische Bürger gedrängt, in die Region auszuwandern. Andererseits hat die 1973 gegründete Polisario 1976 im südalgerischen Exil die demokratische arabische Republik Sahara ausgerufen. Von 1979 bis 1991 tobte ein Guerillakrieg, und seit mittlerweile fünf Jahren versucht die UNO ein Referendum durchzuführen, das einerseits an den Marokkanern scheitert, die 220 000 Menschen mit abstimmen lassen wollen, die seit 1975 zugewandert sind. Andererseits reden die Saharauis von bis zu 160 000 Flüchtlingen, die in den südalgerischen Flüchtlingslagern auf die Rückkehr in ihre Heimat warten. Dies wird dann wieder von Marokko bestritten. Wir Deutsche sollten uns als Mitglied der Europäischen Union bewußt sein: Hier geht es nicht um irgendein Volk, das irgendwo in der Sahara sitzt und uns im Grunde nichts angeht. Es geht bei diesem Konflikt um eine wichtige Nachbarregion der Europäischen Union. Es geht um einen Konflikt, der unsere Nachbarn im Maghreb unmittelbar betrifft, schließlich sind die Algerier diejenigen, die Polisario unterstützen. Und Marokko ist das Land im Maghreb, das Stabilität und friedlichen Interessensausgleich mit der Europäischen Union ganz groß schreibt. Wir sollten aber gegenüber den Konfliktparteien den Eindruck vermeiden, ein Friedensschluß in der Region sei vor allem in unserem Interesse. Der Friedensschluß und der friedliche Interessenausgleich ist zuallererst im Interesse der betroffenen Menschen. Er ist auch im Interesse Marokkos, weil ein Wiederaufflammen des militärischen Konflikts die wirtschaftliche Leistungskraft des Maghreb-Königreiches nachhaltig schwächen würde. Er ist auch im Interesse der Saharauis, die über 100 000 Menschen, die gegenwärtig in Flüchtlingslagern in Südalgerien leben, endlich eine Lebensperspektive eröffnen müssen. Sicherlich, der Friedensschluß steht noch in weiter Ferne, aber jetzt muß es zumindest darum gehen, einen ersten Kontakt zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, um einige der wichtigsten und drängendsten humanitären Aspekte des Konfliktes zu losen. Rund 2 000 Marokkaner sind gegenwärtig als Kriegsgefangene bei der Polisario. Manche von ihnen befinden sich seit 20 Jahren in Kriegsgefangenschaft. Die Polisario hat mehrfach ihre Bereitschaft erklärt, einen Kriegsgefangenenaustausch vorzunehmen. Sie hat unter internationaler Vermittlung zumindest 200 Kriegsgefangene, die gesundheitlich stark beeinträchtigt waren, den Marokkanern übergeben. Aber die Marokkaner weigern sich, einen offiziellen Kriegsgefangenenaustausch vorzunehmen. Der könnte aber ein erster Schritt sein, die Sprachlosigkeit zu überwinden, die die gegenwärtige Situation kennzeichnet. Ich weiß nicht, was die Alternative zum Ausgleich zwischen den Konfliktparteien sein soll. Sicherlich, die Polisario kann rund 25 000 Kämpfer mobilisieren. Es fehlen der Polisario aber nach dem Ende der Sowjetunion Lieferanten für die erforderlichen militärischen Mittel. Ein nicht mehr sozialistisches Algerien hat genug mit sich selbst zu tun, als daß es eine sozialistische Polisario unterstützen könnte, gegen das Nachbarland einen Guerillakrieg zu führen. Die Situation auf der Gegenseite scheint zunächst einfacher: Marokko kann gegenwärtig in der Westsahara über die zweitgrößten Phosphatvorkommen der Welt verfügen und hat guten Zugang zu den Eisen- und Kupfererzen, die reichlich in der Westsahara vorhanden sind. Es ist aber die Frage, ob in einer solchen dünnbesiedelten Landschaft nicht die Gefahr permanenter Sabotageakte so groß ist, daß letztendlich kein wirklicher Gewinn aus den vorhandenen Bodenschätzen erzielt werden kann. Europa hat mit der Barcelona-Konferenz einen wichtigen Meilenstein für die Durchsetzung einer kohärenten Mittelmeerpolitik gesetzt. Hier ist eine der Situationen, wo diese gemeinsame Mittelmeerpolitik sich konkretisieren muß. Es wird darum gehen, gegenüber den Marokkanern, aber auch gegenüber den algerischen Schutzherren der Polisario deutlich zu machen, daß die Europäische Union angesichts des Konflikts um Westsahara nicht bereit sein wird, einfach zum „business as usual" überzugehen. Der Deutsche Bundestag wird dies mit dem heutigen Beschluß unterstreichen. Sicherlich, Resolutionen sind kein Ersatz für Politik, sie können aber eine gute Grundlage für vernünftiges politisches Handeln sein. Dr. Eberhard Brecht (SPD): Manche Konflikte dieser Welt verhalten sich wie Vulkane: Nach einem gewaltigen Ausbruch von lebensvernichtender Gewalt erstarrt die eben noch bewegte Oberfläche, auf der sich langsam neues Leben ansiedelt. Doch nach dieser Periode des fragüen Friedens registrieren Vulkanologen plötzlich wieder seismische Aktivitäten, die einen erneuten Ausbruch von Gewalt ankündigen. Im Gegensatz zu Vulkanologen wird von uns Politikern erwartet, solche rezidivierenden Konflikte nicht nur zu analysieren und vorherzusagen, sondern sie nach Möglichkeit auch abzuwenden. Diesem Ziel dient der von der SPD-Fraktion initiierte und von allen anderen Fraktionen mitgetragene Antrag zum Westsahara-Konflikt. Auch im Fall dieses Konfliktes kam nach dem Waffenstillstand und der Akzeptanz des UNO-Friedensplans durch die Konfliktparteien die Hoffnung auf, der Vulkan der Gewalt käme zum Erlöschen. Doch derzeit deutet alles auf einen erneuten Ausbruch der Kämpfe hin. Es ist schwierig zu erkennen, wie der tote Punkt beim Friedensprozeß überwunden werden kann, solange die beiden Konfliktparteien auf ihren unversöhnlichen Positionen beharren. Die Ergebnislosigkeit der bisherigen Bemühungen der UNO, der USA und anderer vergrößern die Resignation der internationalen Gemeinschaft. Die UN-Friedensmission MINURSO wurde bereits personell und materiell verkleinert. Der Sicherheitsrat hat den UN-Generalsekretär bereits aufgefordert, für den Fall des Ausbleibens greifbarer Fortschritte bei der Umsetzung des Friedensplans ein detailliertes Programm für den etappenweisen Abzug der MINURSO-Kräfte auszuarbeiten. Gleichzeitig wachsen die Befürchtungen bei den Beteiligten und den Nachbarstaaten, daß nach einem vollständigen Abzug von MINURSO die Kampfhandlungen wieder aufgenommen werden. Zwar wurde vor einigen Wochen bekannt, daß die Polisario und Marokko direkte Gespräche geführt haben; über den Inhalt der Gespräche ist aber bisher wenig nach außen gedrungen. Man wird sich deshalb nicht darauf verlassen können, daß diese Kontakte den Friedensprozeß wieder in Gang bringen werden. Deshalb ist es wichtig, daß sich der Bundestag erneut mit dem Westsahara-Konflikt befaßt. Die zeitliche Plazierung dieser Debatte ist jedoch der Ernsthaftigkeit des Themas nicht angemessen. Dennoch bin ich dankbar, daß der von mir initiierte Antrag zugunsten eines neuen Friedensversuchs nicht nur von der SPD-Fraktion, sondern auch von den anderen Fraktionen dieses Hauses Unterstützung fand. Wir fordern heute gemeinsam die Bundesregierung auf, im Rahmen der EU und ihres in Barcelona institutionalisierten Mittelmeerdialogs aktiv zu werden. Ich hoffe, daß die Bundesregierung auf den Willen des Parlaments entschieden reagiert und es nicht bei allgemeinen Beschwörungsformeln beläßt. Es gibt Handlungsbedarf, in humanitärer wie in politischer Hinsicht. Lassen Sie mich diesen Handlungsbedarf in vier Punkten erläutern. Zunächst möchte ich einen humanitären Skandal ansprechen. Die Delegation des UNO-Unterausschusses, die im April dieses Jahres Gespräche in der Westsahara und Marokko führte, war sich einig: Für die etwa 2 000 Gefangenen in den Lagern der Polisario muß dringend etwas getan werden. Nach einem Besuch in einem Kriegsgefangenenlager waren wir alle empört: Wir trafen auf gefangene Marokkaner, die zum Teil seit 18 Jahren auf ihre Freilassung warten. Manche von ihnen waren 80 Jahre und älter! Nach humanitärem Völkerrecht hätten alle Kriegsgefangenen unmittelbar nach dem Ende der aktiven Feindseligkeiten zu ihren Familien zurückgebracht werden müssen. Die Polisario ist im Prinzip wohl bereit, sie auch jenseits des ins Stocken geratenen Friedensplans freizugeben. Marokko aber will sie als Gefangene der Polisario nicht anerkennen und austauschen. Und solange die Friedensaussichten schlecht sind, rückt die Lösung dieses humanitären Problems in weite Ferne. Deshalb wäre es sinnvoll, den Gefangenenaustausch aus dem Friedensplan herauszulösen. Das wäre nicht nur aus humanitären Gründen richtig; diese vertrauensbildende Maßnahme könnte auch ein erster Schritt sein, um die festgefahrenen Prozeduren des Friedensplans zu lockern und Gespräche zwischen Marokko und den Saharauis anzustoßen. Allen Mitgliedern der Delegation ist bewußt, daß das nur eine kleine Hoffnung ist. Aber es wäre immerhin ein Ansatzpunkt, um Bewegung in die erstarrten Fronten zu bringen. Unsere Pressekonferenz im Anschluß an die Reise diente dem Zweck, diesen Vorschlag in die Öffentlichkeit zu tragen und von der Bundesregierung zu fordern, hier aktiv zu werden. Darüber hinaus habe ich einen Brief an den Bundeskanzler geschrieben, in dem ich ihn gebeten habe, sich bei seiner Reise nach Marokko im Juni dieses Jahres für einen Kriegsgefangenenaustausch einzusetzen. Ich will meine Enttäuschung nicht darüber verhehlen, daß das Bundeskanzleramt mir zunächst nicht einmal geantwortet hat. Erst auf eine schriftliche Nachfrage erhielt ich die lapidare Antwort, der Bundeskanzler habe das Thema in Rabat angesprochen. Ich fordere die Bundesregierung von dieser Stelle noch einmal nachdrücklich auf, das hohe Ansehen unseres Landes in Marokko dafür zu nutzen, daß die 2 000 Männer mit Hilfe des IKRK repatriiert werden und zu ihren Frauen zurückkehren können. Mein zweiter Punkt bezieht sich auf den Kern des von den VN entwickelten Friedensplans: auf das Referendum. Der Streit über die Arbeit der Identifizierungskommission beherrscht die Diskussion über die Fortsetzung des Friedensprozesses. Er wird insbesondere über die Offenlegung der bisherigen Wahlantragsprüfungsergebnisse und über weitere 100 000 Anträge Marokkos, die kurz vor Ablauf der Antragsfrist abgegeben wurden, geführt. Da eine Einigung darüber nicht erzielt werden konnte, kam der Identifizierungsprozeß im August 1995 praktisch zum Erliegen. Es ist klar, daß dieser tote Punkt überwunden werden muß, um den Friedensprozeß wieder in Gang zu setzen. Aber wir sollten darüber nicht vergessen, daß der Friedensprozeß damit noch nicht beendet ist. Denn jede der beiden Seiten ist davon überzeugt, aus dem Referendum als Sieger hervorzugehen. Keine Konfliktpartei läßt die Bereitschaft erkennen, einen für sie ungünstigen Ausgang des Referendums hinzunehmen. Daraus ergibt sich mein dritter Punkt: Die internationale Staatengemeinschaft muß nicht nur mit neuen Initiativen versuchen, den Friedensprozeß wieder in Gang zu setzen und die Durchführung des Referendums zu Wege zu bringen, sie muß auch Vorkehrungen dafür treffen, daß ein negativer Ausgang des Referendums für jede der Konfliktparteien notfalls akzeptabel ist. In dieser Hinsicht ist, soweit ich sehe, bisher noch nicht weitergedacht worden. Hier besteht ein konzeptionelles Defizit, das umgehend behoben werden sollte. In unseren Gesprächen mit den Marokkanern gab es zumindest eine verbale Bereitschaft über weitgehende Autonomieregelungen für die Saharauis. Ob sich hier ein möglicher Ausweg aus einer drohenden Situation nach einem Referendum anbietet, wäre noch auszuloten. Das führt mich zum vierten Punkt: Es wäre hilfreich, wenn die EU im Rahmen ihres Dialogs mit den Mittelmeeranrainern, wie er in Barcelona begonnen wurde, eine Initiative zur Fortsetzung des Friedensprozesses in der Westsahara zustande brächte. Darauf zielt der Antrag, der heute die Grundlage unserer Aussprache ist. Vertreter der Polisario beklagten mir gegenüber das geringe Engagement der Europäischen Union. Unabhängig von dieser Sicht kann die EU, besonders nach der Konferenz in Barcelona, nicht tatenlos zusehen, wenn sich der Westsahara-Konflikt zuspitzt und die Gefahr einer Destabilisierung des Maghreb wächst. Es ist gar keine Frage: Europa hat ein vitales Interesse an Sicherheit und Stabilität ini der Region. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur „Mittelmeerpolitik" (13/3037) zu Recht festgestellt, daß die Ziele ihrer Politik in der Region auch Stabilität und Frieden sind. Bei unseren Gesprächen haben sich Polisario und Marokko für ein stärkeres deutsches Engagement beim Westsahara-Konflikt ausgesprochen. Dieses stärkere Engagement fordert mit dem Antrag auch der Deutsche Bundestag. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt Konflikte, die versteinern und zerstören die Zukunftschancen der Menschen. 150 000 Saharauis, ehemalige Einwohner von Spanisch-Westafrika, einer der letzten europäischen Kolonien, und deren Kinder, von den Einwanderern des von Marokko initiierten Grünen Marschs aus ihrer Heimat vertrieben und in einen zähen Guerillakrieg hineingedrängt, leben seit mehr als 20 Jahren jenseits eines zum Schutz vor ihnen aufgeschobenen Sandwalls in der Trostlosigkeit ödester Wüste, mit ihnen mehr als 1 000 inzwischen alt gewordene marokkanische Kriegsgefangene, von den Machthabern ihrer Heimat bewußt dem Vergessen überantwortet, damit die Schmach, daß so viele Marokkaner von den Saharauis gefangengenommen wurden und nur eine kleine Zahl Gefangener auf der Gegenseite aufweisbar ist, vor der Weltöffentlichkeit verborgen bleibt. Es gab die Hoffnung auf ein zwischen Marokko und der POLISARIO und der UNO-Vermittlung vereinbartes Referendum. Es gab einen mühsamen Identifizierungsprozeß, mit dem die historische Bevölkerung der Westsahara als Stimmbevölkerung rekonstruiert werden sollte und in dem über vier Jahre mehr als 60 000 als ursprüngliche Einwohner der Westsahara anerkannt wurden und der zu einem vorläufigen Ende kam, als die Saharauis sich der Massenanmeldung weiterer Marokkaner gegenübersahen, deren Herkunft für sie nicht zweifelsfrei feststellbar war. Jetzt hat die UNO die Konsequenz daraus gezogen. Sie hat die MINURSO, die friedenserhaltende Mission der UN, reduziert und die Vorbereitung des Referendums offiziell abgebrochen. Die marokkanische Regierung fühlt sich als Sieger, denn ihre Rechnung ist aufgegangen: Sie haben einem Referendum zugestimmt, aber die Bedingungen gesetzt. Die Geschichte und das Gezerre um die Bedingungen des Referendums ist niemandem außer den Beteiligten mehr verständlich. Die marokkanische Regierung sitzt am längeren Hebel. Ihr Angebot an die saharauische Bevölkerung in der Wüste ist: „Ihr könnt alle zurückkommen, der König wird Euch verzeihen. " Aber in der Wüste leben nicht nur vereinzelte Menschen, dort ist eine Gesellschaft entstanden, die sich unter mühsamsten Bedingungen selbst erhält, die in einigen von der Produktionsgrundlage des fehlenden fruchtbaren Bodens unabhängigen großen Hühnerfarmen sogar Eier für den Export produziert, die in kleinen mechanischen Werkstätten ihre Geländewagen für die Guerillaorganisationen repariert und fabriziert, die in größeren Schulkomplexen ihre Jugend erzieht und ausbildet. Die Frage, die sich Marokko stellen muß, ist, ob es bereit ist, eine Gesellschaft mit einem gehörigen Maß an Autonomie zu integrieren, ob es bereit ist, die absolute Monarchie mit föderativen Zügen auszustatten, so daß Fundamente für ein gemeinsames nachbarschaftliches Leben gelegt werden können. Wenn der Identifizierungsprozeß sabotiert, das Referendum praktisch auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben ist, müssen die europäischen Staaten drängen auf direkte Verhandlungen zwischen den Parteien. Sie müssen darauf drängen, nicht nur einzeln und für sich, sondern auch im Rahmen des Mittelmeerdialogs, an dem Marokko ein entscheidendes Interesse hat. So wie die Bedingung für die Aufnahme in europäische Gremien wie Europarat oder gar EU die Einigung und demokratische Behandlung der gegenseitigen Minderheitenfragen ist - wie zum Beispiel der ungarisch-rumänische Minderheitenvertrag als Vorbedingung zur Aufnahme in die EU -, so muß Marokko mitgeteilt werden, daß ein dauerhafter friedlicher Ausgleich mit den Saharauis Voraussetzung für die Teilnahme Marokkos an einer Kooperation Europa-Maghreb ist. Wir aber müssen unsere Bundesregierung dazu drängen, genau diesen Zusammenhang der marokkanischen Regierung klarzumachen, in der EU diesen Zusammenhang darzustellen, für Unterstützung zu werben und auf eine Lösung der durch die Dekolonialisierung Afrikas von Europa zu verantwortenden Folgeprobleme in einer auch für die Schwächeren akzeptablen Weise zu drängen. Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Wir reden von einem vergessenen Krieg. Man könnte sich fragen, ob er uns etwas angeht. Wir haben - unabhängig von unseren nationalen oder wirtschaftlichen Interessen - auch die Verpflichtung, dort zu Menschlichkeit und zur Versöhnung beizutragen, wo wir Einfluß nehmen können. Das Königreich Marokko hat die Westsahara besetzt und hat durch umfangreiche Investitionen zur Hebung des Lebensstandards in diesem Gebiet beigetragen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß es sich um eine faktische Annexion handelt, für die es nicht die geringsten Rechtstitel gibt. Viele Saharauis, die ihre Freiheit lieben, haben es vorgezogen, in die algerische Sahara auszuweichen und von dort einen fast aussichtslosen Kampf um ihre nationale Selbstbestimmung zu führen. Darum sollten erneut massive Anstrengungen unternommen werden, um den Plan der Vereinten Nationen doch noch zu verwirklichen, zu einer Volksabstimmung zu kommen, die die politische Zukunft des Landes entscheiden soll. Diese Volksabstimmung hat allerdings nur dann einen Sinn, wenn sich die Parteien gleichzeitig darüber einigen könnten, was mit den jeweils über 100 000 Menschen der einen oder anderen Seite werden soll, die diese Volksabstimmung verlieren, und die - ebenso wie die Gewinner - eine Zukunftsperspektive brauchen. Solche Überlegungen gibt es bisher kaum ansatzweise. Mit besonderer Empörung hat mich das Schicksal der 2 000 marokkanischen Kriegsgefangenen erfüllt, von denen wir 500 in einem Lager der Polisario besuchen konnten und die von ihrem eigenen Land, von Marokko, aus diplomatischen Gründen bisher nicht zurückgenommen werden. Es sind Männer, die teilweise seit 20 Jahren als Gefangene in einem Wüstenlager leben müssen und die immer noch glauben, daß ihr König sie nicht im Stich läßt. Das ist eine empörende Brutalität, die durch nichts gerechtfertigt werden kann und die man ununterbrochen und laut anklagen muß, bis diese Menschen endlich in ihre Heimat zurückkehren können. Wenn die Bundesregierung dazu beitragen könnte - und sich notfalls dazu entschließen könnte -, der Regierung des Königreichs Marokko ohne Umschweife zu sagen, daß sie sich einer sinnlosen Brutalität an ihren eigenen Soldaten schuldig macht, dann würde sie damit der Humanität einen großen Dienst erweisen. Wir stimmen der Resolution zu. Steffen Tippach (PDS): Die Forderungen des vorliegenden Antrages sind durchaus zu unterstützen. Auch die PDS ist der Ansicht, daß die Bundesregierung ihr gutes Ansehen sowohl beim marokkanischen Königshaus als auch bei der Vertretung der Sahauris, der Frente Polisario, zur Förderung des Friedensprozesses nutzen soll. Doch fehlt uns ein Verweis auf den UN-Friedensplan in diesem Antrag. Nach wie vor erscheint uns die konsequente Umsetzung des UN-Friedensplans von 1991 der richtige Weg zu sein, Frieden in der Westsahara zu schaffen. Reden wir doch mal Klartext: Bei den Konfliktparteien dieses Friedensprozesses handelt es sich um einen Unterdrückerstaat und ein unterdrücktes Volk. In der Westsahara geht es nach wie vor um Gerechtigkeit für die unter der Besatzungsmacht Marokko lebenden Saharauis. Seit 20 Jahren ist die Demokratische Arabische Republik Westsahara von marokkanischen Truppen besetzt. 70 Staaten der Welt haben sie anerkannt, sie ist Mitglied in der Organisation Afrikanischer Staaten, OAS. Diese historischen Tatsachen müssen in Friedensbemühungen einbezogen werden. Wenn Herr Kohl bei seinem Besuch in Marokko in Juni d. J. betont, die Bundesregierung sei neutral gegenüber dem stagnierenden Friedensprozeß in der Westsahara, ist das doch nur die halbe Wahrheit. Bezüglich der Westsahara verwechselt Herr Kohl vielleicht auch „Neutralität" mit „Desinteresse"? Bezüglich Marokko aber ergreift die Bundesregierung eindeutig Partei. Ein Beleg sind die 4,5 Millionen Mark militärische Ausstattungshilfe für die marokkanische Armee, die im aktuellen Haushalt vorgesehen sind. Wir haben in der Haushaltsdebatte die Streichung dieser Ausstattungshilfe gefordert, und das mit gutem Grund. Diese Militärhilfe - die übrigens auch andere europäische Regierungen zum Wohle ihrer jeweiligen Rüstungsindustrie leisten - hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß das marokkanische Militär de facto die Autorität der Vereinten Nationen in der Westsahara außer Kraft setzen konnte. Marokko sei ein „Faktor der Stabilität in der nordafrikanischen Region", sagte Herr Kohl laut FAZ bei seinem Besuch im Juni. Welche Stabilität mag er gemeint haben? Hat Herr Kohl im Königspalast von Rabat vielleicht nach den Hunderten teilweise seit 1964 „verschwundenen " Saharauis und Marokkanern gefragt, die auch im diesjährigen Bericht von Amnesty International erwähnt werden? Sind sie ein „Faktor der Stabilität"? Hat Herr Kohl nach den Toten in Behördengewahrsam gefragt, nach den geheimen Haftzentren in Tazmamert oder Yal'at M'Gouna? Oder hat er die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in Marokko kritisiert? Nein, für Gespräche mit der Opposition der Menschenrechtsgruppen war - wie meist zu solchen Anlässen - keine Zeit. Außerdem wolle man ja „neutral" gegenüber der marokkanischen Innenpolitik bleiben. „Faktor der Stabilität" bedeutet den Ausbau und die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen und die Stabilisierung des marokkanischen Königshauses. Das Schwellenland Marokko soll zum zuverlässigen Bollwerk gegen die in den kommenden Jahren zu erwartenden 30 Millionen afrikanischen Hungerflüchtlinge gerüstet werden. „ Sicherheit und Stabilität im westlichen Mittelmeerraum" nennt sich diese Politik. Deutschland spielt seinen Part in Marokko bei der demographischen Abschottung Europas. Bei den bekannten deutschen und europäischen Interessen besteht die Gefahr, daß Frieden und Gerechtigkeit für die Saharauis in der Westsahara in eine Nebenrolle geraten. Den Grundaussagen des Antrages stimmen wir zu. Allerdings sind wir der Ansicht, daß die Bundesregierung und die EU-Politik sich weniger für ihre aktuellen Mittelmeerinteressen als für eine Stärkung der UN-Mission in der Westsahara einsetzen sollte. Obwohl das keine Erwähnung findet in dem vorliegenden Antrag, wird die PDS zustimmen. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Die Bundesregierung teilt die in dem vorliegenden interfraktionellen Antrag ausgedrückte Sorge über den blockierten Friedensprozeß in der Westsahara. Die Bilanz der letzten Monate fällt in der Tat wenig ermutigend aus. Viereinhalb Monate nach der Mandatsverlängerung von MINURSO durch den VN-Sicherheitsrat gibt es kaum Fortschritte bei der Umsetzung des VN-Friedensplanes. Die einzigen wirklich positiven Aspekte sind die Einhaltung des Waffenstillstands und das fortbestehende verbale Bekenntnis der Parteien zum Friedensprozeß und ihre grundsätzliche Gesprächsbereitschaft. Der Friedensprozeß insgesamt stagniert jedoch, da es weiterhin keine Einigung der Parteien auf die zu identifizierenden Wahlberechtigten für das Referendum über die Zukunft der Westsahara gibt. Vor diesem Hintergrund sah sich der VN-Sicherheitsrat bereits im Mai anläßlich der Verlängerung des Mandates der VN-Mission veranlaßt, den Identifizierungsprozeß für das Referendum vorläufig zu suspendieren und das damit befaßte Personal abzuziehen, während die mit der Waffenstillstandsbeobachtung betrauten Militärbeobachter vor Ort blieben. Diese Maßnahme war notwendig geworden, nachdem die beiden Konfliktparteien ihre Zusammenarbeit mit der Identifizierungskommission eingestellt hatten und eine Wiederaufnahme des Identifizierungsprozesses nicht abzusehen war. An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert, eine Einigung der Parteien bleibt trotz vielfältiger Bemühungen ungewiß. Die Bundesregierung hat in dieser Situation die Anstrengungen der Vereinten Nationen, den Friedensprozeß wieder in Gang zu setzen, nachhaltig unterstützt. Wir sind nach wie vor der Auffassung, daß den Vereinten Nationen eine zentrale Rolle bei der Lösung dieses Konfliktes zukommt. Es ist jedoch auch zu beobachten, daß die Parteien heute in die Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen weniger Hoffnungen setzen als noch vor einigen Monaten. Die Vereinten Nationen, insbesondere der amtierende VN-Sondergesandte Jensen, bemühen sich seit Monaten intensiv um eine Wiederaufnahme des Identifizierungsprozesses und eine Wiederbelebung des Friedensprozesses. Die VN-Aktivitäten können von anderen Organisationen, wie z. B. der EU, durchaus flankierend unterstützt werden. Sie können sie jedoch nicht ersetzen. Vermittlungsbemühungen können nur dann erfolgreich sein, wenn beide Parteien kooperationswillig sind und insbesondere zur Zusammenarbeit mit der VN-Mission zurückkehren. Gleichzeitig müssen alternative vertrauensbildende Maßnahmen, wie z. B. Direktkontakte zwischen den Parteien, sondiert werden. Die Bundesregierung hat gegenüber beiden Seiten wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß sie eine friedliche Lösung des Konfliktes erwartet und den VN-Fredensplan hierfür weiterhin als wichtige Basis betrachtet. Die Bundesregierung unterstützt insbesondere die im Antrag geäußerte Auffassung, daß die Frage der Kriegsgefangenen in der Westsahara aus humanitären Gründen prioritär gelöst werden muß. Sie setzt sich weiterhin für die vorrangige Behandlung dieses Problems im Rahmen der andauernden Friedensbemühungen der Vereinten Nationen ein. Das derzeitige Mandat der Mission läuft zum 30. November 1996 aus. Angesichts ausgebliebener Fortschritte sind international vereinzelt Stimmen laut geworden, die sich für einen gänzlichen Abzug der Mission aussprechen, wenn bis zu diesem Zeitpunkt nichts geschehen ist. Die Bundesregierung wird sich im VN-Sicherheitsrat jedoch für eine Verlängerung des Mandats der VN-Mission MINURSO aussprechen. Sie wird dies aus folgendem Grund tun: Ein vollständiger Abzug der Mission würde den Westsaharakonflikt nicht lösen, sondern die Parteien - ohne Perspektive für eine friedliche Einigung - wieder sich selber überlassen. Dies birgt die Gefahr eines Wiederauflebens der Kämpfe. Destabilisierende Auswirkungen auf die gesamte Region könnten die Folge sein. So hat uns z. B. Mauretanien in verschiedenen Gesprächen zu erkennen gegeben, daß es einen Abzug der Mission als den Beginn einer realen Bedrohung empfinden würde, nicht zuletzt wegen der zu erwartenden Flüchtlingsströme. Die internationale Staatengemeinschaft darf sich daher nicht aus den Bemühungen um eine politische Lösung des Westsaharakonfliktes zurückziehen. Die Bundesregierung wird sich in diesem Sinne weiter für eine Fortsetzung und Intensivierung der VN-Bemühungen einsetzen. Sie hat zudem daran mitgewirkt, daß die Aspekte vertrauensbildender Maßnahmen und der Aufruf zum Austausch von Kriegsgefangenen in der SR-Resolution Nr. 1064 verankert wurden - als Elemente, die eine Umsetzung des Friedensplanes deblockieren und beschleunigen könnten. Die Bundesregierung wird darüber hinaus an ihrer Politik der strikten Neutralität gegenüber den Konflliktparteien festhalten. Sie hat sich durch ihre Haltung Gesprächsmöglichkeiten mit beiden Seiten offengehalten, die ein Einwirken gerade in dieser kritischen Phase ermöglichen. Wir werden unsere Kontakte mit beiden Seiten in diesem Sinne fortsetzen.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313100000
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich dem Kollegen Herbert Meißner, der am 15. Oktober seinen 60. Geburtstag feierte, im Namen des Hauses ganz herzlich gratulieren.

(Beifall)

Der Abgeordnete Kurt Neumann (Berlin) gehört seit dem 8. Oktober 1996 nicht mehr der Fraktion der SPD an und ist seitdem fraktionslos.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, daß der Abgeordnete Dr. Klaus Lippold (Offenbach) auf seine stellvertretende Mitgliedschaft im Regulierungsrat beim Bundesminister für Post und Telekommunikation verzichtet hat. Der Kollege Michael Jung (Limburg) wird als neues stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Es gibt keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Michael Jung als neues stellvertretendes Mitglied im Regulierungsrat benannt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 23)

Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus (21. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates
Erstes Mehrjahresprogramm zur Förderung des europäischen Tourismus „PHILOXENIA" (1997-2000) - Drucksachen 13/5555 Nr. 2.40, 13/5820 -
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Vorschlägen zur Besteuerung von Renten, Kürzungen bei Witwenrenten und Heraufsetzung des Rentenalters
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage in Osttimor - Drucksache 13/5799 -
4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS: Haltung der Bundesregierung zur Zukunft der SKET Schwermaschinenbau GmbH Magdeburg als einem der letzten industriellen Großunternehmen in den neuen Ländern
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll bei allen Punkten der verbundenen Tagesordnung, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 21 vorzuziehen - das betrifft den Antrag der Gruppe der PDS zu Anpassungsgeld und Knappschaftsausgleichsleistung für Bergleute in den neuen Bundesländern - und nach Tagesordnungspunkt 17 aufzurufen. Außerdem soll die zweite und dritte Beratung zum Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz 1997 - Tagesordnungspunkt 18a und b - abgesetzt werden.
Des weiteren mache ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 110. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Juni 1996 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Verteidigungsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Eine kohärente Mittelmeerpolitik der Europäischen Union - Drucksache 13/4868 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend)

Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 1996 - Drucksache 13/4555 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Maritta Böttcher, Rolf Kutzmutz, Dr. Chri-

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
sta Luft, Rosel Neuhäuser und der Gruppe der PDS
Situation der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/2791, 13/5675 -
Zum Berufsbildungsbericht liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS vor. Ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen ist angekündigt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt Minister Dr. Jürgen Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1313100100
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Berufsbildungsbericht - eine jährlich stattfindende Debatte. Die Frage, ob diese Debatte Unterhaltungswert hat, werden wir in unserer Diskussion beantworten müssen. Ich habe gerade mit Herrn Kollegen Thierse darüber gesprochen, ob wir nicht eigentlich dasselbe diskutieren, was wir immer diskutiert haben, als wir in den letzten Wochen über Berufsbildung miteinander sprachen.
Ich sage das deshalb, weil wir nach den großen Anstrengungen der letzten Woche natürlich alle ein wenig in der Gefahr sind, die altbekannten Argumente zu wiederholen.

(Günter Rixe [SPD]: Müssen wir ja auch!)

- Müssen wir, das ist unter Kommunikationsgesichtspunkten richtig, Kollege Rixe. „Repetitio est mater studiorum", heißt der alte Satz. Das heißt, hoffentlich verstehen es die Leute dann.
Die andere Frage ist, ob wir angesichts der dramatischen Aufgabe, vor der wir stehen, nicht anfangen müssen, diese Diskussion noch ein Stück weiterzudrehen und zu verfolgen. Wahr ist, daß es nach den großen Anstrengungen der letzten Wochen und Monate, die insbesondere von einem großen Engagement des Bundeskanzlers in dieser Frage geprägt waren, gelungen ist, den rechnerischen Ausgleich bei den Lehrstellen zu schaffen. Das ist eine gute Nachricht. Es gibt für jeden jungen Mann und jede junge Frau in Deutschland ein Lehrstellenangebot.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wahr ist aber auch - ich finde, bei aller Freude über diesen Erfolg muß man auch dies sagen -, daß es regional noch erhebliche Probleme gibt.

(Zurufe von der SPD)

- Jetzt werden Sie schon wieder nervös. Nun hören Sie doch bitte zuerst mal zu.

(Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [F.D.P.]: Sie können nicht zuhören! Das ist ein Problem!)

Das ist ein Riesenerfolg. Am 1. September 1996 fehlten uns - auch in der Statistik - noch mehr als 20 000
Lehrstellen. Dies haben wir inzwischen innerhalb von einem Monat aufgeholt. Das sind Zukunftschancen für mehr als 20 000 junge Leute. Darüber freue ich mich. Da können Sie machen, was Sie wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Natürlich weiß ich genau wie Sie, daß wir regional noch erhebliche Probleme haben. Natürlich weiß auch ich, daß wir mittel- und langfristig noch erhebliche Aufgaben haben. Ich wollte Ihnen gerade anbieten, daß wir genau darüber einmal gemeinsam nachdenken, und zwar vielleicht nicht ganz so eng. Aber anscheinend habe ich das Problem, daß ich die SPD schon wieder nicht erreicht habe. Gut, wenn Sie es so wollen, dann müssen wir wieder auf ein Stück alte Diskussion zurück.

(Franz Thönnes [SPD]: Die Argumente sind eben zu dünn!)

Ich mag den Kollegen Rixe und den Kollegen Thönnes. Unsere gemeinsame Diskussion ist wirklich von dem Willen getragen, etwas für junge Leute zu erreichen. Deshalb ist mir eine solche Debatte schon ganz wichtig.
Ich finde es nicht richtig - ich fange diese Debatte heute an, wie es sich nach parlamentarischem Gebrauch gehört -, daß wir uns gleich wieder die Zahl 80 000 um die Ohren schlagen. Ich habe sie im Vorfeld dieser Debatte gelesen. Es ist eine Zahl, die vom DGB kommt. Er behauptet, es gebe 80 000 junge Leute in der Warteschleife.
Wir sollten die Debatte vielleicht einmal dazu nutzen, um uns darauf zu verständigen, daß junge Leute, die sich irgendwann beim Arbeitsamt nach einer Lehrstelle erkundigt haben, die sich dann aber entschließen, ihre schulische Ausbildung weiterzumachen, etwas Vernünftiges tun. Sie fällen eine Entscheidung für ihre eigene Zukunft. Einen solchen Vorgang sollte man nicht dramatisieren, auch nicht zu Lasten des dualen Berufsbildungssystems.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Sie fallen damit aus der Statistik!)

- Sie fallen nicht aus der Statistik. Das sind Menschen aus Fleisch und Blut. Sie treffen eine ganz persönliche Entscheidung und sagen: Ich mache in diesem Jahr keine Lehre, sondern gehe zur Schule.

(Edelgard Bulmahn [SPD]: Weil sie keine Alternative haben!)

Ich weiß gar nicht, was es dagegen zu sagen gibt. Das kann man den jungen Leuten doch nicht vorwerfen.
Tatsache ist - daran kommen Sie nicht vorbei -: Es gibt genügend Lehrstellen in diesem Jahr. Aber ich frage auch - das ist ein Punkt, der mir viel wichtiger ist als die Debatte über die Zahlen; denn das hilft überhaupt keinem jungen Menschen -: Wie kommen wir in den nächsten Jahren weiter?
Wir wissen, daß es zwei Problembereiche gibt. Der eine ist der quantitative Bereich. Die gute Nachricht in diesem Zusammenhang lautet: Es gibt junge Leute in Deutschland. Jeder Jahrgang wird bis zum Jahr

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
2005 größer sein als der vorhergehende. Darüber freue ich mich. Ich empfinde das als Chance für dieses Land. Ich empfinde es aber auch als Aufgabe, dafür zu sorgen, daß nicht nur, wie in diesem Jahr, 620 000 junge Leute eine Lehrstelle erhalten, son-dem daß im nächsten Jahr die dann notwendigen 13 000 Lehrstellen mehr ebenso zur Verfügung gestellt werden. Wir müssen insgesamt bis zum Jahr 2005 100 000 Lehrstellen zulegen. Das ist eine große Aufgabe und ein Riesenproblem. Das hängt auch mit der Tatsache zusammen, daß in der deutschen Wirtschaft die Anzahl der Lehrstellen leider abgebaut worden ist: im Bereich der Großbetriebe um ein Viertel, im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen um ein Drittel. Ich vermute, daß wir alle miteinander an dieser Stelle werden ansetzen müssen. Es müssen wieder mehr Betriebe ausbilden. Das ist die Kernaufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU Zurufe von der SPD)

- Darüber streiten wir. Das ist ein Punkt, über den es sich wirklich zu streiten lohnt.
Ich habe mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, daß die SPD dabei ist, wenn auch vorsichtig, ihre langjährige Forderung nach einer Ausbildungsplatzabgabe nicht mehr zu erheben und aufzugeben.

(Widerspruch bei der SPD Günter Rixe [SPD]: Da hast du falsch gehört!)

- Nein, Kollege Rixe.
Die SPD hat im Zusammenhang mit dem Lehrlingskonsens in Nordrhein-Westfalen ausdrücklich und erklärtermaßen auf die Erhebung eine Ausbildungsplatzabgabe verzichtet. Wenn Sie jetzt hier wieder dasselbe fordern, dann müssen Sie zuerst einmal klären, welche Position Sie in Zukunft einnehmen wollen. Auf jeden Fall bleibt es dabei: Mit der Bundesregierung wird es eine Ausbildungsplatzabgabe nicht geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir stehen allerdings - ich finde, das gehört dazu; das ist der Versuch, Herr Kollege Thierse, die Debatte über das Ritualhafte hinaus ein Stück weit zu öffnen - nicht nur vor einem quantitativen, sondern auch vor einem qualitativen Problem. Wir müssen wahrnehmen, realisieren und dann auch die Konsequenzen daraus ziehen, daß der Lehrling nicht mehr ein 14jähriger Stift ist, sondern daß 70 Prozent der Lehrlinge inzwischen erwachsene Menschen sind. Das heißt, daß die Lehrlingsausbildung auch von der inhaltlichen Konzeption anders ausfallen muß, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war oder als sie in den 70er Jahren gedacht worden ist.
Der zweite Punkt ist: Wir sollten unseren Satz von der Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Ausbildung, den jeder hier im Hause sagt, endlich ernst nehmen. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, daß Ausbildung im dualen System nicht in eine Sackgasse führt, sondern daß man zum Beispiel als Lehrling bei entsprechender Qualifikation im Anschluß
an die Ausbildung studieren kann. Auch dies muß möglich sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Günter Rixe [SPD])

Das hat übrigens erhebliche Konsequenzen für den Bereich des öffentlichen Dienstrechts und die Debatte, die wir jetzt führen. Ich vermag nicht einzusehen, warum ein Elektromeister nicht ein Elektroingenieurstudium an der Fachhochschule absolvieren soll, genauso wie ich nicht einsehe, warum eine Krankenschwester im Anschluß an ihre Ausbildung nicht Ärztin werden kann.

(Edelgard Bulmahn [SPD]: Für uns ist das schon lange möglich!)

Eine weitere Bemerkung geht nicht nur dieses Haus an und liegt nicht nur in der Bundeszuständigkeit: Eine der schlimmsten Zahlen dieser Tage und Wochen ist die Zahl, daß jedes Jahr 100 000 junge Menschen ohne eine Ausbildung bleiben oder eine Ausbildung abbrechen.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das ist ein Problem!)

Diese Zahl darf uns wirklich nicht ruhig werden lassen. Sie spiegelt nicht nur die Zerstörung von Zukunfts- und Lebenschancen von jungen Leuten wider, sondern sie beinhaltet einen Appell an die gesamte Gesellschaft. Das sind die Arbeitslosen der Zukunft mit all den Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, die Rentensysteme bis hin zur Verslumung; denn wer ohne Ausbildung ist, der ist morgen garantiert arbeitslos.

(Günter Rixe [SPD]: Richtig!)

Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten versucht, auch unser Berufsbildungssystem für das Jahr 2000 fit zu machen. Ich will jetzt nicht all das, was im Perspektivbericht der Bundesregierung zur beruflichen Bildung aufgeführt war, noch einmal im Detail darlegen. Ich will auch nicht im einzelnen aufführen, daß davon schon sehr vieles in kurzer Zeit umgesetzt worden ist, Punkte, von denen vor Monaten noch keiner geglaubt hat, daß sie überhaupt umgesetzt werden können. Es ist ein Riesenfortschritt für das duale Bildungssystem - ich bin dankbar dafür, daß dies gelungen ist -, daß wir die Zeit, in der Berufsbilder entwickelt oder verändert werden, von bis zu neun Jahren auf inzwischen ein Jahr verkürzen konnten. Das ermöglicht es uns, das berufliche Bildungswesen zu modernisieren und damit auch neue Lehrstellen zu akquirieren.
Ich will drei Bemerkungen im Zusammenhang mit der Reform des beruflichen Bildungswesens machen, die über das hinausgehen, was wir in den vergangenen Debatten hier diskutiert haben.
Das erste ist: Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten nicht daran vorbeikommen, uns mit dem Konsensprinzip in der beruflichen Bildung auseinanderzusetzen. Für diejenigen Kolleginnen und Kollegen - wir diskutieren ja in der Kernzeit -, die im Bereich der beruflichen Bildung nicht so firm sind, sei erklärend hinzugefügt, daß es in den vergange-

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
nen Jahren - durchaus bewährt - üblich war, alle Entscheidungen etwa im Zusammenhang mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung einvernehmlich zwischen Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Politik zu treffen. Es gab ein Konsensprinzip; es wurde nur das gemacht, was einvernehmlich vereinbart worden ist.
Wir wissen, daß die berufliche Bildung keine Staatsveranstaltung ist. Wir sind auf das Zusammenwirken von Bund, Ländern und Sozialpartnern angewiesen. Deshalb bleibe ich dabei: Wir brauchen in allen wichtigen Grundsatzfragen auch in Zukunft Konsens. Aber - das will ich in die Debatte einführen -: Konsens als Leitidee darf nicht zu einer Gedankenbremse für Innovationen werden oder zur Blockade bei unterschiedlichen Auffassungen in Detailfragen führen.
Ich wiederhole es, damit ich von jedem richtig verstanden werde: Das Konsensprinzip hat sich bewährt. Aber Sinn und Ziel des Prinzips werden verfehlt, wenn Kompromisse zu häufig Lösungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner sind oder wenn wichtige Innovationen auf Eis liegen, solange nicht in den letzten marginalen Sachfragen Einigung erzielt ist.
Meine Damen und Herren, es geht um junge Menschen. Diese jungen Menschen können nicht warten, bis sich alle auf das letzte Komma, auf das letzte Jota geeinigt haben. Deshalb sage ich, daß nach meinem Verständnis in solchen Fällen, auch im Bereich der beruflichen Bildung, mehr als bisher politisch entschieden werden muß - im Zweifel auch einmal gegen die eine oder andere festgefügte Position.
Der zweite Punkt hat etwas mit der inhaltlichen Ausrichtung der Berufsausbildung zu tun. Duale Berufsausbildung ist für mich primär eine betriebliche Ausbildung, keine staatliche Ausbildung an der Schule. Das heißt, wir müssen die Berufsausbildung in Zukunft neu auf den Betrieb beziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Deshalb ist die Debatte über den zweiten Berufsschultag so wichtig, und deshalb bleibt sie auf der Tagesordnung. Der zweite Berufsschultag muß nach meiner festen Überzeugung weg, nicht, um das Niveau in der Berufsausbildung zu senken, sondern damit die jungen Leute mehr im Betrieb sind. Sie brauchen auch im Betrieb Ausbildung; denn nur dann haben sie im Anschluß eine Chance, einen Arbeitsplatz im Betrieb zu bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich weiß, daß das ein Punkt ist, über den man diskutieren muß. Ich weiß, daß es andere Auffassungen gibt, stelle diesen Punkt aber zur Diskussion. Ich glaube, daß eine stärkere Orientierung an betrieblichen Bedürfnissen in jedem Fall ein Qualitätsgewinn ist, sowohl für die Ausbildungs- und Berufschancen der jungen Leute als auch für den Betrieb und den Standort Deutschland insgesamt.
Das hat etwas mit den qualitätsmäßigen Veränderungen zu tun. Wir reden nicht über Jugendliche, sondern zu 70 Prozent über Erwachsene.

(Günter Rixe [SPD]: Ja, junge Erwachsene! Das große Problem ist: Von 17 auf 18 wird man auf einmal reif!)

- Ja, das sind junge Erwachsene. Lieber Kollege Rixe, wer auf der einen Seite dafür eintritt, daß sie mit 16 Jahren wählen dürfen, sie aber auf der anderen Seite im Rahmen ihrer Ausbildung nicht als mündig betrachtet,

(Günter Rixe [SPD]: Doch!)

der muß zuerst einmal über seine eigenen Grundsätze nachdenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich kann es nicht als falsch erachten, wenn die Frage der Arbeitsmarktverwertbarkeit zu einem Kriterium der inhaltlichen Berufsbildung gemacht wird. Was nützt eine Ausbildung, wenn man im Anschluß daran keine Chancen hat, einen Arbeitsplatz im Betrieb oder anderswo zu bekommen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Zuruf von der SPD: Sie regieren doch!)

Meine Damen und Herren, dazu gehört auch die Frage, ob nicht die Vorstellung verändert werden muß, daß man in den ersten drei Jahren einer Lehre all das lernen muß, was man bis zum 65. Lebensjahr braucht. Müssen wir nicht eine modulare Ausbildung haben? Müssen wir nicht eine Stufenausbildung haben? Müssen wir nicht vor allen Dingen differenzieren zwischen denen, die mehr praktisch begabt sind, und den Leistungsträgern? Müssen wir nicht Angebote entsprechend den Möglichkeiten der jungen Leute bieten?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [F.D.P.])

Wenn ich zum Beispiel höre, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Reisekaufleute noch Buchhaltung lernen müssen, obwohl das inzwischen in der Regel weitgehend von Fremdfirmen erledigt wird, oder wenn ich höre, daß sich Bürokaufleute in der Berufsschule mit der Gründung einer Holding beschäftigen, aber Schwierigkeiten beim Schreiben eines Geschäftsbriefes haben, dann bin ich der Auffassung, daß wir uns über die Inhalte, die in der Berufsschule vermittelt werden, ernsthaft unterhalten müssen.
Wir werden in Zukunft den Weg des modularen Aufbaus bei der Neuordnung der Berufe gehen. Dies ist zum Beispiel bei der Neuordnung der Berufe in der Druckindustrie der Fall. Wir werden es bei den Ausbildungsordnungen zu den neuen IuK-Berufen, die zum 1. August 1997 in Kraft treten sollen, vorsehen. Ich glaube, daß das ein inhaltliches Konzept ist, mit dem wir einen erheblichen Gewinn für die berufliche Bildung erzielen werden.
Lassen Sie mich einen dritten und abschließenden Punkt nennen. Die Differenzierung der Ausbildungsangebote wird wahrscheinlich die Kernantwort unserer Reformbemühungen sein. Das heutige Maß an

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
Differenzierungen reicht nicht aus. Trotz allen Bemühens beträgt der Anteil eines Altersjahrgangs, der keine Ausbildung durchläuft oder ohne Abschluß bleibt, zwischen 10 und 14 Prozent. Das liegt sicherlich auch an den allgemeinbildenden Schulen, denen es offensichtlich immer weniger gelingt, allen Schülern die notwendige Ausbildungsreife zu vermitteln. Deshalb muß die berufliche Bildung heute diese Defizite mit besonderen Fördermaßnahmen ausgleichen. Ich finde, das muß sich ändern. Wir können nicht ein Bildungssystem praktizieren, in dem das jeweils folgende System die Defizite des vorhergehenden in einem langen und teuren Prozeß ausgleichen muß. Darüber müssen wir mit den Ländern reden.
Genauso wie es notwendig ist, weitere Qualifizierungsmöglichkeiten für leistungsschwächere Jugendliche zu schaffen, genauso brauchen wir auch Qualifizierungsmöglichkeiten für die besseren.
Meine Damen, meine Herren, das ist eine Aufgabe, mit der wir uns über den heutigen Tag hinaus werden beschäftigen müssen. Die Schaffung von 100 000 neuen Lehrstellen ist eine große Aufgabe. Niemand kann behaupten, daß diese Aufgabe bereits gelöst sei. Ich bin fest davon überzeugt, daß es uns gelingen muß, Unkonventionelles zu denken. Denn an einem Punkt ist die Auffassung der Bundesregierung ganz fest:

(Günter Rixe [SPD]: An einem Punkt!)

Der Wert der dualen Ausbildung liegt darin, daß junge Menschen am Beginn ihres Arbeitslebens eine Chance bekommen. Das ist eine der besten Traditionen, die unser Ausbildungssystem und unsere Gesellschaftsordnung haben.

(Günter Rixe [SPD]: So ist es! Aber da gibt es unterschiedliche Wege!)

An dieser Stelle sollten wir uns in der Diskussion auch nicht auseinanderdividieren lassen: Auch in Zukunft brauchen junge Leute am Beginn ihres Arbeitslebens eine Chance; deshalb muß jedem auch in Zukunft eine Lehrstelle angeboten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Günter Rixe [SPD]: So ist es! Da sind wir uns einig!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313100200
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Thierse.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313100300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist jedes Jahr das gleiche Ritual: Im Frühjahr warnt die Opposition vor einem sich ankündigenden Ausbildungsplatzmangel; der zuständige Bundesminister wiegelt ab. Kurz darauf ruft er selbst: „Haltet den Dieb! ", entfaltet hektische Aktivitäten und verfaßt Aufrufe. Im Oktober dann folgt, mit Eigenlob garniert, die Meldung, die Lehrstellenbilanz sei ausgeglichen.

(Franz Thönnes [SPD]: Rechnerisch!)

Wenn dann am Ende alles genau nachgezählt ist, stellt sich heraus, daß das nicht stimmt. Diese Politik von der Hand in den Mund ödet mich schlicht an.

(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

So darf man mit den Schicksalen der jungen Menschen nicht umgehen.
Als Variante dieses Rituals werden nun die Länder ins Spiel gebracht, um Verantwortung vom Bund weg auf die Länderminister zu schieben.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Die sind im Spiel! Die werden doch nicht da reingebracht!)

Dabei hat der Bund seine Ausbildungsleistung seit 1991 deutlich abgebaut, von 33 400 auf 18 000 - minus 46 Prozent.
Empörend finde ich, Herr Kollege Rüttgers, wie Sie in diesem Zusammenhang mit Ostdeutschland umgehen. Dort gibt es nach Zusammenbruch und Abwicklung viel zu wenige Betriebe, die überhaupt ausbilden können. Trotzdem hat Ostdeutschland 1995 allein für den gesamten Anstieg der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge gesorgt. Angesichts der ostdeutschen Finanzsituation kann nun niemand einfach mit dicken Geldbündeln zu den Handwerksmeistern, zu den kleinen und mittleren Unternehmen gehen. Vielmehr muß man sich das genau überlegen, um Mitnahmeeffekte zu verhindern. Das muß man doch zugestehen.
Die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit weist aus, daß in Ostdeutschland Ende September etwa 14 000 Bewerber auf 1 000 gemeldete Ausbildungsplätze trafen. Eine ausgeglichene Lehrstellenbilanz ist das nicht.

(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die werden Sie auch nicht bekommen, wenn Sie hilfsweise Landesregierungen beschimpfen. Sie können dieses oder jenes kritisieren - Sie nennen ja auch das CDU-regierte Sachsen -, aber aus der Verantwortung für die Ausbildungsplatzsituation in Deutschland können Sie sich nicht einfach davonstehlen.

(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Was gut ist, bleibt gut! Gegenruf des Abg. Günter Rixe [SPD]: Das stimmt ja gar nicht! Das ist nicht gut, was Sie machen! Gegenruf des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/ CSU]: Allemal besser als das andere!)

Sie vernachlässigen den Mangel an Betrieben und die höheren Kosten für eine quasi verstaatlichte Berufsausbildung, die doch übrigens keine Dauerlösung sein kann. Sie vernachlässigen die statistische Aussichtslosigkeit, den Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen zu beseitigen. Das Sonderprogramm ist gut und richtig; aber die Schmähungen,

Wolfgang Thierse
die Sie glauben daraus ableiten zu dürfen, sind einfach unangemessen. Das ist Ignoranz gegenüber den besonderen Problemen in Ostdeutschland.

(Beifall bei der SPD und der PDS)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313100400
Herr Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rüttgers?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313100500
Ja.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1313100600
Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Thierse, daß ich störe. Aber ich habe nicht verstanden, was Sie gerade vorgelesen haben. Ist es richtig, daß über 5 000 Stellen des Sonderprogramms Ost, die in der Verantwortung der Landesregierungen liegen, noch nicht den jungen Menschen angeboten worden sind, ja oder nein?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313100700
Das ist richtig.

(Zurufe von der SPD und der PDS)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313100800
Herr Thierse hat das Wort.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1313100900
Wenn ich nachfragen darf: Wieso kritisieren Sie denn, daß ich die Landesregierungen aufgefordert habe, den jungen Leuten, die in Ostdeutschland dringend eine Lehrstelle suchen, diese zur Verfügung zu stellen?

(Zurufe von der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313101000
Herr Kollege Rüttgers, wenn Sie genau zugehört haben, haben Sie gemerkt, daß ich ausdrücklich gesagt habe, daß das Sonderprogramm gut und richtig ist. Ich habe darauf hingewiesen, daß Sie gegenüber den besonderen Schwierigkeiten in Ostdeutschland ignorant sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Ich bitte darum, zu beachten, daß das Programm innerhalb der Fristen, die Sie gesetzt haben - sie sind extrem kurz -, vernünftig realisiert werden muß, so daß keine Mitnahmeeffekte entstehen, und daß es möglich ist, dieses Programm mit den jeweiligen landeseigenen Programmen zu kombinieren, die die verschiedenen Landesregierungen aufgelegt haben. Ich bitte, dies einfach zu respektieren und vor allem auch zu sehen - das war mein Hauptargument -, daß es in Ostdeutschland gar nicht genügend Unternehmen gibt, die betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen können. Das ist einer der Gründe für die Schwierigkeiten, in die die ostdeutschen Landesverwaltungen geraten sind. Dies wollte ich beschreiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313101100
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Rüttgers?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313101200
Ja.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1313101300
Herr Kollege Thierse, ist Ihnen nicht bekannt, daß in diesem Jahr anders als in allen vorhergehenden Jahren die Vereinbarungen mit den ostdeutschen Ländern vier oder fünf Monate vor Ende des Ausbildungsjahres abgeschlossen worden sind? Das heißt, sie hatten vier oder fünf Monate mehr Zeit als in den vorhergehenden Jahren, genau dies umzusetzen.
Können Sie mir ferner bitte mal erklären, was es mit der sonstigen betrieblichen Situation in Ostdeutschland zu tun hat, wenn Landesregierungen - und zwar nur einige, nicht alle - nicht in der Lage sind, ein Programm, auf das sie sich mit dem Bund verständigt haben, so umzusetzen, daß die jungen Leute ihre Lehrstellen bekommen?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313101400
Herr Rüttgers, die Art, wie Sie fragen, zeigt schon, daß Sie nicht genau wissen, worin die Schwierigkeiten in Ostdeutschland bestehen.

(Beifall bei der SPD und der PDS - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wissen Sie, ich breche doch nicht in Jubel aus, daß dieses Programm nicht vollständig umgesetzt ist. Ich werbe nur um Verständnis für die besonderen Schwierigkeiten ostdeutscher Landesverwaltungen.
Übrigens sind diese Schwierigkeiten parteipolitisch wirklich neutral. Sie entstehen, weil erstens die Betriebe nicht vorhanden sind und weil zweitens diese Länder in den vergangenen Jahren - ich habe die Zahl genannt - eine deutliche Zunahme auch an Ausbildungsplätzen organisiert haben. Das im jeweils nächsten Jahr wieder neu zu organisieren ist nicht ganz leicht. Sie können bei den unterschiedlichen Ländern im einzelnen verfolgen, worin die Schwierigkeiten bestehen.
Ich kritisiere dieses Sonderprogramm doch nicht, sondern lobe es. Ich kritisiere nur eine bestimmte Art von ignoranter Kritik an den ostdeutschen Landesregierungen, weil bei dieser die Schwierigkeiten, die es dort gibt, nicht wirklich ernstgenommen werden.

(Beifall bei der SPD und der PDS Joachim Hörster [CDU/CSU]: Die darf man kritisieren?)

Lassen Sie mich von der Beschreibung des Rituals zu einigen anderen wichtigen Punkten kommen. Bis weit in das nächste Jahrtausend hinein werden wir wachsende Zahlen von Schulabgängern haben. All diejenigen, die jetzt und in den letzten Jahren in die bekannten Warteschleifen abgedrängt wurden, kommen Jahr für Jahr dazu. Ihre Politik hilft da nicht. Das Problem muß wirklich und dauerhaft gelöst werden.
Wir haben zu diesem Zweck einen gerechten Leistungsausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben vorgeschlagen. Ich weiß, daß Sie da nur abwehren. Aber wo ist denn Ihre Alternative?

(Beifall bei der SPD)


Wolfgang Thierse
Dieser Ausgleich ist keine Strafsteuer; er ist geboten, um die Ausbildung sicherzustellen. Auch Sie bestreiten doch nicht die gesellschaftliche Ausbildungsverpflichtung der Wirtschaft. Sie muß gegen den Ungeist durchgesetzt werden, Ausbildungsplätze bloß als Kostenstellen mit zwei Ohren abzutun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Selbst wenn wir unterstellen, daß Großunternehmen nachvollziehbare Gründe jenseits schnöder Kostenargumente haben, dürfen wir nicht akzeptieren, daß insgesamt weniger ausgebildet wird. Gemeinsinn geht vor Eigennutz, auch wenn das altmodisch klingt.
Übrigens: Es ist immer von Hemmnissen die Rede, die es Betrieben erschweren, Ausbildungsplätze anzubieten. Fortan weiß man, was der zuständige Bildungsminister darunter versteht. Er hat es der staunenden Öffentlichkeit via „Bild-Zeitung" mitgeteilt: Dürften Lehrlinge während der Ausbildungszeit Bier holen und die Halle fegen, dann wären die Lehrstellen vollständig besetzt. Das ist offensichtlich das unkonventionelle Denken, das Herr Rüttgers fordert. So niedrig ist nicht einmal das Niveau von Stammtischen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Man könnte die Ministeräußerung als Realsatire abhaken; aber zum Lachen ist sie nicht. Sie beweist die Hilflosigkeit der Bundesregierung in einer der wichtigsten Zukunftsfragen unseres Landes. Die Zukunft ist aber nicht mit dummen Sprüchen zu gewinnen, die schon vor 30 Jahren falsch waren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es hat wenig Sinn, über Zahlen zu streiten; das gehört bloß zum Ritual. Sie wissen, Herr Bundesbildungsminister, daß die Statistiken der Bundesanstalt immer einen vorläufigen Charakter haben. Aber sie weisen für den September über 38 000 unvermittelte Bewerber aus.
Was ist mit den Jugendlichen, die aus der Statistik einfach verschwinden? Im August waren das 47 700 oder 9,6 Prozent. Die Zahl gilt für das laufende Berichtsjahr und nur für Westdeutschland. 21 700 oder 4,4 Prozent nahmen eine Arbeit ohne Ausbildung an.
Die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen ist schlicht eine Niederlage für die Bundesregierung. Einen Zuwachs von 10 Prozent hatten die Spitzenverbände dem Bundeskanzler zugesagt. Eine Abnahme von 3,8 Prozent ist dabei herausgekommen.
Trotzdem lehnen Sie sich bequem zurück und nehmen befriedigt den Saldo von über 5 000 Bewerberüberschuß, wie das die FAZ genannt hat, zur Kenntnis. Sie übergehen den ständig wachsenden Anteil derjenigen, die zwar mitgezählt werden, aber in Wirklichkeit keinen beruflichen Ausbildungsplatz haben. Grob überschlagen sind das 200 000 und mehr als im Vorjahr. Das ist die wirkliche Situation.

(Beifall bei der SPD)

Von freier Berufswahl kann man nicht reden; denn dieses hohe Gut gilt als erreicht, wenn die Zahl der Ausbildungsplätze die der Bewerber um 12,5 Prozent überschreitet. Da aber die Zahl der Stellen die der Bewerber unterschreitet, gibt es also in diesem Land nach unumstrittenem Kriterium keine freie Berufswahl. Damit kann, damit darf sich der Deutsche Bundestag nicht zufriedengeben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Ihre Erfolgsmeldungen, Herr Rüttgers, sind also hohl und beschönigend, und dem geschilderten Ritual stelle ich die Bemühungen der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen gegenüber. Sie hat mit den Kammern, den Arbeitsämtern und den Gewerkschaften verbindlich Ausbildungsplätze vereinbart. Darüber hinaus hat man ebenso verbindlich vereinbart, neue Ausbildungsberufe zu entwickeln. Es ist nicht vorgesehen, den Jugendschutz zu durchlöchern oder für mehr Bier am Arbeitsplatz sorgen zu lassen.

(Beifall bei der SPD)

Ich weiß nicht, ob die Rechnung in NRW aufgehen wird, aber schon die Anstrengung hebt sich positiv von dem alljährlichen Ritual der Bundesregierung ab. Das Ergebnis ist handfester als Ihre bloßen Appelle und Ihre Ablehnung des Leistungsausgleichs. Es ist mehr, als Sie je unternommen haben.

(Beifall bei der SPD Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Da liegen Sie völlig falsch!)

Meine Damen und Herren, wir reden hier über wichtige Zukunftsfragen. Neben Wissenschaft, Forschung, Technik, Innovation ist die Qualifikation der Schlüssel für die notwendige Modernisierung. Deshalb müssen wir das duale System gegen seine tendenzielle Aushöhlung verteidigen. Und dem Handwerk müssen wir danken. Es bildet mehr aus als die anderen Teile der privaten Wirtschaft: bei einem Anteil von 20 Prozent der Beschäftigten 38 Prozent der Auszubildenden. Respekt!

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, statt des Stückwerks Ihrer alljährlichen Rituale brauchen wir eine Politik, die sich wirklich des erheblichen Reformbedarfs annimmt, der sich in den letzten 14 Jahren angestaut hat. Es ist höchste Zeit, daß wir uns an einen Tisch setzen, wie es Ihnen Franz Müntefering bereits vorgeschlagen hat. Die Berufsbilder können nicht mehr für Jahrzehnte festgeschrieben werden. Sie müssen dem schnellen Wandel der Anforderungen angepaßt werden. Wie organisieren wir das?
Die Anforderungen werden immer höher. Wer ihnen nicht gewachsen ist, hat viel geringere Chancen als früher. Wie helfen wir?
Die Arbeitsteilung zwischen Berufsschule und Betrieb stimmt nicht immer. Die berufliche Erstausbildung muß mehr als bisher Grundlagen für flexibles Weiter- und Umlernen schaffen. Können die Hauptschulen objektiv noch auf so eine Art beruflicher Bildung vorbereiten, und wie können sie das?


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313101500
Herr Thierse, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schulze?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313101600
Ja.

Frederick Schulze (CDU):
Rede ID: ID1313101700
Herr Kollege Thierse! Sie haben ja vorhin versucht, der Bundesregierung die gesamte Schuld an der Ausbildungsplatzsituation zuzuschieben. Sie haben dabei auch sehr klar erkennen lassen, daß Sie überhaupt nicht begriffen haben, wie unser Staatsaufbau ist.

(Lachen bei der SPD)

Das nehme ich Ihnen aber nicht weiter übel.
Aber ich möchte auf eines zurückkommen. Wenn Sie immer unsere Landesregierung so in Schutz nehmen, dann nehmen Sie bitte mal zur Kenntnis - und ich möchte fragen, ob Sie dazu bereit sind -, daß die Regierung des Landes Sachsen-Anhalt im letzten Jahr die Vergütung für Betriebe im Ausbildungsbereich gekürzt hat, daß sie die Mittelstandsförderung um 118 Millionen gekürzt hat, und das hat besonders das Handwerk getroffen.
Das, was Sie hier machen, ist billiger Populismus - nehmen Sie es mir nicht übel. Sie wollen sich aus der Verantwortung, die auch die Landesregierungen für - -

(Zurufe von der SPD: Frage!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313101800
Was fragen Sie?

Frederick Schulze (CDU):
Rede ID: ID1313101900
Die Frage hatte ich ja gestellt, ob er bereit ist, anzuerkennen, daß sich die Landesregierungen hier leider aus der Verantwortung herausstehlen wollen.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1313102000
Wissen Sie, das gehört genau zu dem Ritual, das mich anödet. Wir sind hier im Bundestag, und die Opposition im Bundestag hat als Gegenüber die Bundesregierung. Sie ist ihr kritischer Gegenstand. Das werden Sie doch respektieren, nachdem Sie meinten, mich über den Staatsaufbau belehren zu müssen. Deswegen ist dies unser kritisches Gegenüber. Hilft es irgend jemandem, wenn wir uns einig sind in der Kritik an Landesregierungen? Hilft es irgend jemandem?

(Frederick Schulze [CDU/CSU]: Dann versuchen Sie es doch endlich mal mit der Wahrheit! Dann kommen wir weiter!)

Im übrigen, Herr Kollege: Da Sie ja Bundestagsabgeordneter aus Sachsen-Anhalt sind,

(Maritta Böttcher [PDS]: Was?)

sollten Sie ein bißchen genauer wissen, welche Programme die Landesregierung in Sachsen-Anhalt zur
Schaffung von Ausbildungsplätzen im vergangenen
Jahr und in diesem Jahr auflegt. Das ist nicht wenig, und darin steckt sehr viel Geld,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

und das in einem Land, das aus ökonomischen Gründen - wegen des wahnwitzigen Umbruchs, der dort stattfindet - finanziell nicht sehr gut gebettet ist.

(Beifall bei der SPD Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Sagen Sie mal etwas über die Erfolge dabei!)

Ich habe ein paar Fragen genannt, über die zu diskutieren sich wirklich lohnt. Praktiker geben Antworten; Bund, Länder, Arbeitgeber und Gewerkschaften müssen sie gemeinsam beraten. Der Bundesbildungsminister müßte diese Verständigung einleiten, aber er tut es nicht. Von einem mittel- und langfristigen Konzept ist weit und breit nichts zu sehen. Deshalb streiten wir mit Ihnen um die Sicherung der Zukunft unseres Landes und nicht über höchst zweifelhafte Erfolgsmeldungen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313102100
Es spricht jetzt der Kollege Rainer Jork.

Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1313102200
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir hörten bereits, daß auch das Jahr 1996 voraussichtlich eine rechnerisch ausgeglichene Lehrstellenbilanz zeigen wird. Wir haben bereits gehört, wie kritisch man das sehen kann. Es muß gerechnet werden. Wir haben eben auch gehört, daß das Sachsen-Anhalt ganz gut gemacht habe. Bloß, einen Strich darunter haben sie nicht gezogen; die Ergebnisse haben wir leider nicht gehört.
1995 hat es auch in den alten Bundesländern - wir wissen das - eine Trendwende gegeben. Erstmals seit Mitte der 80er Jahre ist die Zahl der neuen Ausbildungsverträge zum 30. September 1995 nicht gesunken. In den neuen Bundesländern hat es von 1994 auf 1995 einen Zuwachs von knapp über 11 Prozent gegeben.
Das sind zuerst sehr positive Nachrichten. Nun ist mit diesen positiven Trends das Lehrstellenproblem noch keinesfalls gelöst; wir haben das auch im Berufsbildungsbericht lesen können.

(Günter Rixe [SPD]: Ja, aber ihr habt hier etwas anderes gesagt!)

- Tatsache ist, Herr Rixe, daß jeweils zu Beginn des Ausbildungsjahres die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage noch nicht geschlossen war. Herr Thierse nannte das „Ritual" und tut so, als ob er nicht beteiligt sei.
Tatsache ist auch, daß die Nachfrage nach Lehrstellen in den nächsten Jahren in den neuen Bundesländern nicht geringer wird und in den alten Bundesländern eher noch zunimmt.

Dr.-Ing. Rainer Jork
Tatsache ist schließlich ebenso, daß in einigen wichtigen Berufsfeldern, insbesondere bei anspruchsvollen technischen und Dienstleistungsberufen, die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe zurückgeht.
Die Betriebe handeln kurzsichtig, wenn sie heute keine Lehrlinge einstellen; denn - ich zitiere jetzt etwas - der „Mangel an jungen Facharbeitern kann die Betriebe in Zukunft teuer zu stehen kommen".

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich zitierte den Direktor des Arbeitsamtes Chemnitz, Handschuh; wir haben das der Presse entnehmen können.
Es ist und bleibt Aufgabe der Unternehmen, ein ausreichendes Lehrstellenangebot bereitzustellen. Vor allem auch aus Sicht der Lehrlinge ist ein größeres betriebliches Lehrstellenangebot unverzichtbar. Nichts schützt junge Berufsanfänger so sicher vor der Arbeitslosigkeit wie eine erfolgreich abgeschlossene betriebliche - ich wiederhole: betriebliche! - Ausbildung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Darüber hinaus machen Projektionen zur langfristigen Entwicklung des Arbeitskräftebedarfs bis zum Jahre 2010 deutlich, daß sich die Beschäftigungschancen von Absolventen der betrieblichen und schulischen Berufsausbildung verbessern.
Nun hilft es wenig, wenn wir die Unternehmen beschimpfen und ihnen - wie es, wir haben es wieder gehört, die SPD in Teilen und die PDS ohnehin tut - mit Umlagen und gesetzlich auferlegten Verpflichtungen drohen. Die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen beruht auf der Notwendigkeit für die Betriebe, sich rechtzeitig qualifizierte Arbeitskräfte zu sichern. Sie können selbst am besten beurteilen, wie groß ihr Bedarf in Zukunft sein wird.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313102300
Herr Jork, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch?

Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1313102400
Ja, bitte.

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1313102500
Herr Kollege Jork, Kollege Thierse hat die Ausbildungsplatzabgabe wieder angesprochen. Könnten Sie mir sagen, wie hoch diese Ausbildungsplatzabgabe beim DGB sein könnte, der nachweislich nicht einen Ausbildungsplatz geschaffen hat?

(Zurufe von der CDU/CSU: Hört, hört!)


Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1313102600
Kollegin Rönsch, ich bin mir sicher, daß es dort gute Leute gibt, die darüber nachdenken, ob es nicht besser ist, Lehrstellen bereitzustellen, und was das kostet, ob sich das lohnt. Es ist schon sinnvoll, einmal gemeinsam darüber nachzudenken, daß nicht der Staat das Lehrstellenproblem zu lösen hat. Herr Thierse, da war aus meiner Sicht in Ihrem Beitrag eine sehr deutliche Lücke.

(Günter Rixe [SPD]: Das ist Bundesangelegenheit! Arbeitgeber, Tarifpartner, Bund!)

- Der Bund, aber auch die Betriebe - Herr Rixe, Sie als Meister wissen das am allerbesten - und die Länder.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313102700
Eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Dreßen.

Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1313102800
Herr Kollege, könnten Sie mir zustimmen, daß wir nur dort ausbilden sollten, wo es ausbildungsfähige Betriebe gibt, die nach einem Berufsbild ausbilden können?

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Könnten Sie mir darüber Auskunft geben, welche Berufsausbildung beim Deutschen Gewerkschaftsbund möglich wäre? Wir wollen Frau Rönsch ja aufklären.

Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1313102900
Ich bin immer dafür, daß man die Sache richtig an der Basis klärt. Ich weiß natürlich, daß die Arbeiten in den Gewerkschaften - ich war sehr lange selbst Mitglied - denen im öffentlichen Dienst gar nicht unähnlich sind. Der öffentliche Dienst ist auch Partner. Warum denken denn die Herrschaften nicht nach?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bin gerne bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Das machen wir gerne.

(Jörg Tauss [SPD]: Das war beim FDGB so, aber hier nicht!)

- Ich weiß nicht, in welcher Gewerkschaft Sie gewesen wären, wenn Sie in der DDR gewohnt hätten, Herr Tauss. Das können Sie mir gerne sagen.
Ich bin sehr dafür, daß wir darüber nachdenken, wie wir das an betrieblicher Praxis gutmachen. Ich bin nicht der Meinung, daß das die besten Plätze sind. Aber wenn wir vom Staat Gelder fordern, damit außerbetriebliche Plätze gefördert werden, ist es doch wohl nur recht und billig, daß wir auch einmal darüber nachdenken, wie die Gewerkschaften, die konstruktive Partner sind, sein sollen, sein wollen, Plätze bereitstellen können. Ich freue mich, wenn da etwas kommt. Ich meine das nur konstruktiv. Frau Rönsch hat das mit ihrer Rückfrage sicher auch so gemeint.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Ausbildungskosten und die Anwesenheit des Lehrlings im Betrieb sind heute zu wesentlichen, auch hemmenden Faktoren geworden. Wenn hier mehr auf die innerbetrieblichen Bedürfnisse eingegangen würde, könnte sich die Situation bereits erheblich verbessern. Nun liegt dies nicht in der Verantwortung des Bundes, sondern in der der Tarifpartner und der Länder. - Das paßt gut zu Ihren Zwischenfragen. - Ich wünschte mir, die Kollegen von

Dr.-Ing. Rainer Jork
der Opposition könnten mit dieser Tatsache endlich leben.
Die PDS macht die Lehrstellensicherung dagegen zur Systemfrage; wir haben das im Ausschuß gehört. Sie will das auf Freiwilligkeit beruhende System zentralistisch umgestalten. Ich bitte Sie, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zu prüfen, inwieweit Sie dabei Wegbegleiter sein wollen. Ich denke an den Beitrag von Herrn Thierse. Sie wissen, worum es geht, auch wenn Sie die Hände heben. Das ist nicht unbedingt hilfreich.

(Wolfgang Thierse [SPD]: Das ist eine Unterstellung! Edelgard Bulmahn [SPDJ: Worüber reden Sie überhaupt?)

Wir von der CDU/CSU jedenfalls halten daran fest, daß die Ausbildung für die Betriebe eine lohnende Investition ist, daß eine staatliche Quotierung der Berufschancen und der Aufbau einer Planungsbürokratie der Sache nicht dienlich sind und daß nur die einzelbetriebliche Verantwortung gewährleistet, daß Berufsausbildungsangebot und Beschäftigungssystem nicht entkoppelt werden.
Schließlich geht es im Interesse der Jugendlichen um zwei Punkte - da sind wir uns wohl einig -: zuerst das Erreichen einer hohen, praxisnahen Qualifikation im gewählten Beruf und dann die reale Chance, darin auch einen Arbeitsplatz zu finden.
In den neuen Bundesländern ist die Situation immer noch vom Übergang von einer Plan- zur Marktwirtschaft gekennzeichnet. Es ist noch nicht gelungen, ein voll funktionsfähiges duales System zu schaffen; der hohe Anteil außerbetrieblicher Plätze zeigt das. In vielen ostdeutschen Betrieben wird die Kosten-Nutzen-Rechnung unter kurzfristigen Gesichtspunkten bewertet, wofür man bei wirtschaftlich unsicheren Rahmenbedingungen und dem geringen Eigenkapital vieler Unternehmen wohl Verständnis haben muß.
Solange es den Unternehmen in den neuen Bundesländern nicht möglich ist, jeden Bewerber mit einer Lehrstelle zu versorgen, sind zusätzlich entsprechende Hilfen und Förderprogramme nötig, übrigens nicht nur vom Bund, sondern auch von den Ländern.
Solange diese Förderprogramme nötig sind, wird der Bund ähnlich wie beim „Zukunftsbündnis Lehrstellen" seine Verantwortung genauso wie in den vorangegangenen Jahren wahrnehmen. Wir haben gehört, daß das in diesem Jahr früher als in den anderen Jahren passiert ist.
Wenn man Modelle sucht, sollte man Sachsen nicht einfach wegwischen. Es gibt Beispiele, wie man das in konstruktiver Zusammenarbeit tun kann. Dazu gehört natürlich auch etwas Phantasie.
Unsere Fraktion hat im Mai dieses Jahres in Berlin eine Anhörung durchgeführt, und wir haben die Rückkopplung bekommen, die Ihnen vielleicht nützlich wäre. Ich biete Ihnen, Herr Thierse, die Unterlagen an. Dann wissen Sie, um was es geht. Bei der Anhörung waren Vertreter aller Länder, die Verantwortung übernehmen, anwesend, nicht nur die Vertreter aus Sachsen.
Diese Anhörung hat unter anderem natürlich ergeben, daß in der näheren Zukunft noch Hilfe erforderlich ist. Wir wünschen uns, daß der Bund zusammen mit den Ländern bereit sein wird, diese Hilfe bedarfsabhängig zu leisten. Eine Orientierung sollte dabei die Förderung in diesem Jahr sein, in dem Bund und Länder 14 300 zusätzliche Plätze bereitstellten und die Kosten zu jeweils 50 Prozent trugen.
Ich verstehe allerdings nicht, daß, wie wir soeben gehört haben, Herr Rixe, die angebotenen Förderprogramme zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, für die eine entsprechende Richtlinie erforderlich ist, erst ab 1. Oktober erlassen werden. Das ist unbrauchbar. Wie kann ich auf andere schimpfen, wenn ich selber so locker damit umgehe?
Wer wie Sie jährlich zu einem solchen Geschrei anhebt, der sollte schon der Redlichkeit wegen dafür sorgen, daß die Hilfe zur rechten Zeit kommt. Herr Thierse, Sie sprechen von Opposition und dem Grundsatz, Widerpart zur Regierung zu sein - das ist auch richtig -, aber Sie wollen doch sicher hilfreich sein, und Sie helfen nicht, wenn Sie die Tatsachen verkleistern. Auch das ist eine Frage der Redlichkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Die Politik muß gemeinsam mit den Sozialpartnern und allen Zuständigen dafür sorgen, daß die Rahmenbedingungen für eine Ausweitung des Lehrstellenangebotes stimmen. Wir brauchen ein modernes und flexibles Berufsausbildungssystem. Ich sehe die Berufsbildung auf einem guten Weg.
Der Berufsbildungsbericht 1996 zeichnet ebenso wie die Ausführungen der Bundesregierung zur Großen Anfrage der PDS Perspektiven auf, mit denen die berufliche Ausbildung gestärkt und die Attraktivität der beruflichen Bildung verbessert werden kann.
Natürlich sind angesichts der zu erwartenden steigenden Nachfrage besondere Anstrengungen nötig. Deswegen muß es uns um eine Stärkung des Systems der beruflichen Bildung gehen. Das heißt aber nicht, daß wir beginnen sollen, den Ausbildungsmarkt mit Abgaben und Quoten und der damit verbundenen Bürokratie zu reglementieren und letztlich etwa zu strangulieren. Mehr Freiheit, Flexibilität und Vielfalt heißt die Devise.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313103000
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Hermenau.

Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313103100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kanzler lädt zur dritten Gesprächsrunde, die Wirtschaft bleibt mit Bedauern unter ihrer Selbstverpflichtung, Sachsen und NRW begeben sich um-

Antje Hermenau
triebig auf Ab- und Sonderwege, und Herr Jagoda stellt in harmloser Harmonie mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung fest, daß die Situation immer schlimmer wird und große Zweifel daran, ob man die Ausbildungsprobleme im Lande überhaupt noch in den Griff bekommen kann, durchaus angemessen sind. Nur, keiner hört darauf. Ist Herr Jagoda ein Scharlatan?
Mit hektischer Betriebsamkeit steuert diese Regierung noch einiges zum Drama bei: Die Minister überbieten sich zum Beispiel mit hilfreichen Vorschlägen und trostreichen Worten. Nicht nur, daß der Bildungsminister meint, die jungen Leute sollten den Mut nicht aufgeben, nein, der Wirtschaftsminister setzt noch eins drauf und fordert die jungen Mädchen auf, sie mögen sich nicht nur für frauentypische Berufe bewerben. Vielleicht ist das Herrn Rexrodt nicht aufgefallen, schließlich denkt er ja, daß die Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet, so daß sein Ministerium wohl der Vergnügungsteuer unterliegt.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Aber genausowenig, wie Frauen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, haben junge Mädchen eine Chance, von einem Arbeitgeber eine Lehrstelle zu bekommen, es sei denn, man greift lenkend ein.
Haben nun Herr Rexrodt und Herr Rüttgers vor, ihre Appelle mit Unterstützung irgendwie standhaft zu machen, oder haben sie nur wieder einmal irgend etwas zur Lage gesagt? Herr Rüttgers will die Vergabe öffentlicher Aufträge von der Lehrausbildung der Bewerberbetriebe abhängig machen. Löblich, löblich! Die öffentliche Hand hat kein Geld mehr für viele Ausgaben, die meisten Großverträge müssen europaweit ausgeschrieben werden, und oft sind öffentliche Aufträge Baumaßnahmen. Diese Branche allerdings organisiert ihre Lehrausbildung durch einen branchenbezogenen Umlagefinanzierungsfonds und erfüllt dieses Kriterium sowieso.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS Günter Rixe [SPD]: Teufelszeug!)

Außerdem hat Ihnen, Herr Minister, der Vorsitzende des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft in der Presse ausdrücklich klargemacht, daß Sie das nicht koppeln dürfen. Sie haben Ihren Marschbefehl aus der Wirtschaft erhalten. Entwickeln Sie bitte eine neue Parole, wie zum Beispiel das Märchen von den Existenzgründern, die mir nichts, dir nichts viele neue Ausbildungsplätze schaffen werden! Wissen Sie denn nicht, daß Neugründungen erst nach vier bis fünf Jahren wirtschaftlich stabil werden? Wollen Sie Konkurslehrlinge produzieren? Wissen Sie nicht, daß die Hälfte der Firmenneugründungen die ersten fünf Jahre hochgradig konkursgefährdet ist?
Natürlich gibt es keinen goldenen Wurf, sonst würde es auch nicht so lange dauern, bis Gesetzentwürfe auf den Tisch kommen. Entweder schränkt man die Qualität der Ausbildung ein, zum Beispiel
durch die Kürzung eines Berufsschultages, damit der Lehrling mehr Zeit hat, den Hof zu fegen und das berühmte Bier zu holen - immerhin, Herr Rüttgers, einen Kasten Bier und keine Palette Büchsen; ich danke Ihnen für den Tribut an die Umwelt -,

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

oder man kann das duale Prinzip nicht mehr aufrechterhalten. In NRW werden inzwischen 25 Prozent der Ausbildung durch die öffentliche Hand voll finanziert oder bezuschußt, in Sachsen sind es 75 Prozent. Oder die Wirtschaft muß nach einem gelungenen Coup zur Senkung der Lohnnebenkosten wieder etwas an die Gesellschaft zurückgeben, indem sie sich bei Nichtausbildung eben finanziell an den Ersatzmaßnahmen beteiligt; aber das hält sie schlichtweg für eine Zumutung.
Wir im Osten lernen gerade verstehen, daß aus einer absoluten Zahl von Betrieben nur eine absolute Zahl von Ausbildungsplätzen herauszuholen ist. Es gibt zuwenig Betriebe, also auch zuwenig Lehrstellen. Daher: neue Berufsbilder, Begleitung des Branchenumbruchs durch die Berufsbildung.
Zumindest im Entwurf des Entschließungsantrags der Koalition wird darauf verwiesen, daß man die Systemwidrigkeit der Finanzierung der Berufsbildung aus den öffentlichen Kassen und die damit verbundenen Gefahren der überhandnehmenden außerbetrieblichen Ausbildung für das duale System erkannt hat.
Sollen wir jetzt noch ein Jahr ins Land gehen lassen, bis dann auch Sie erkennen, daß die Schere zwischen Angebot und Nachfrage sich nicht durch Appelle schließen lassen wird, und bis Sie den Begründungstext des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1980 endlich verstehen? Ich will ihn wortwörtlich zitieren:
In dem in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden dualen Berufsausbildungssystem mit den Lernorten Schule und Betrieb/Behörde liegt die spezifische Verantwortung für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen der Natur der Sache nach bei den Arbeitgebern, denn nur sie verfügen ... typischerweise über die Möglichkeit, Ausbildungsplätze zu schaffen und anzubieten.
Sie hingegen wollen unter dem Schlagwort „betriebsnähere Förderung" zukünftig die direkte Subventionierung von Betrieben und Unternehmen, die Ausbildungsplätze anbieten, vorantreiben. Bei den einschneidenden Kürzungen im Sozialbereich ist es ein Unding, die Steuergelder für eine ureigenste Aufgabe der Wirtschaft auszugeben. Der Bürger hat genug Opfer gebracht, jetzt möchte er auch einmal Chancen in dieser Gesellschaft haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Natürlich gibt es in einer sich atemberaubend schnell verändernden Welt eine Reihe von Phänomenen, die 1980 noch nicht so deutlich erkennbar wa-

Antje Hermenau
ren. Die Globalisierung läßt Betriebe nicht nur ihre Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, sondern schafft dann eben auch dort die entsprechenden Ausbildungskapazitäten. Der Branchenumbruch, der auch im Altbundesgebiet immer schneller geschieht und geschehen muß, damit Deutschland nicht zum hilflosen Objekt weltweiter wirtschaftlicher Interessen anderer wird, schließt ganze Berufs- und damit Ausbildungszweige, ohne schnell genug neue Berufsfelder auszuweisen.
Ihr Haus, Herr Rüttgers, hat im vorigen Jahr endlich die Anerkennung des Berufsbildes Cutter/Cutterin durchgesetzt. Die Geschichte des Films ist 100 Jahre alt. Das spricht Bände.
Sie versuchen, diesen Prozeß zu beschleunigen, das will ich nicht verhehlen, sondern lobend erwähnen. Was aber ist, Herr Rüttgers, wenn wir uns einmal nicht mehr nur mit einer hohen Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland und Europa werden abfinden müssen, sondern auch mit einer hohen Sockelausbildungslosigkeit? Dann wird die außerbetriebliche Ausbildung, die als Notmaßnahme gedacht war, in dieser Gesellschaft einen neuen Stellenwert bekommen müssen. Wo sind die Vorbereitungen dafür? Wie wollen Sie damit umgehen?
Die Freunde des Ausbildungskompromisses in Nordrhein-Westfalen sagen: Keine Angst, es ist nur ein Notbehelf, wenn die Kammern außerbetriebliche Maßnahmen durchführen müssen. Ihr Freunde des Kompromisses: Wir praktizieren dies in den fünf neuen Ländern seit 1990 als Notbehelf auf sehr hohem Niveau; so hat das bei uns auch einmal angefangen.
Aber kaum bildet das Handwerk bei uns überproportional aus, was zwar die Gewerbestruktur verzerrt, aber immerhin duale Ausbildung ist, kürzt die sächsische Landesregierung ihre Zuschüsse für überbetriebliche Ausbildung - also Verbundmodelle, von denen das Handwerk lebt - von 7 auf 3 Millionen DM für 1997, weil nämlich die öffentlichen Kassen völlig erschöpft sind und sich auch in den nächsten Jahren nicht erholen werden.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, lassen zu, daß die Berufsausbildung zunehmend systemwidrig aus Steuergeldern finanziert wird,

(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Genau das wollen wir nicht!)

und faseln vom Sparpaket, das die Verschuldung der öffentlichen Hand auf viele kleine Schultern verteilt; die Wirtschaft aber braucht ihren Obulus für ihre Pflicht zur Ausbildung nicht entrichten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Folgerichtig spricht das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ja auch nicht von einem Lehrstellenmangel, sondern von einer Lehrlingsschwemme. So ist es also: Schuld sind wieder einmal die Bürger, sie kriegen zuviel Kinder, die nicht ausgebildet werden können, sie leben in hohem Alter viel zu lange und sollen deshalb noch ein paar Jährchen länger arbeiten. Damit schafft man natürlich keine Lehrstellen und Arbeitsplätze für junge Leute - schon gemerkt, Herr Rüttgers? Es wird wieder mal Zeit für ein Aktionsprogramm.
Wir haben eine andere Vorstellung von einer Bürgergesellschaft; sie sieht den Staat als Dienstleister für die Bürger und Bürgerinnen. Sie setzen die Reputation des Staates aufs Spiel - auch gerade bei den jungen Leuten -, wenn nicht die Politik immer wieder den Ausgleich der Interessen versucht. Nun muß die Politik eben einmal die Wirtschaft in die Pflicht nehmen, so wie sie dieses Jahr die Bürger hart in die Pflicht genommen hat und auch noch weiter zu nehmen gedenkt. Kommen Sie endlich Ihrer Regierungspflicht nach! Oder wird der Herr Kanzler nur noch ein Talkmaster sein?
Die Sozialdemokraten in NRW haben sich einen schwierigen Kompromiß aufgehalst, aus dem sie vor der Bundestagswahl wahrscheinlich nicht mehr herauskommen werden, weil sie ja erst einmal mindestens zwei Jahre ins Land gehen lassen müssen, um festzustellen, daß er nicht funktioniert - oder vielleicht doch. Das konterkariert natürlich die ganzen Sprüche, die Sie hier ein Jahr lang in bezug auf Ausbildungsabgabe und Kammerumlage getätigt haben. Ich frage mich natürlich, was Ihre Genossen in Berlin unter dem Begriff Ausgleichszahlung gerade zusammenfummeln. Ich bin auf Ihre Ausführungen unheimlich gespannt. Ich denke, Sie haben sich ganz schön einwickeln lassen.

(Widerspruch bei der SPD)

Die Bringeleistungen für diesen Kompromiß liegen erst einmal alle auf seiten der Suchenden und des Staates; nur wenn der Kompromiß nicht funktioniert, müssen die Kammern mit einem außerbetrieblichen Aktionsprogramm einspringen. Das wurde ja von seiten der Wirtschaft schon als Riesenzugeständnis bejammert. Das ist fast so ein schwieriger Duktus wie im Sparpaket. Ich finde, Sie sollten dazu unbedingt Stellung beziehen. Mal sehen, was Ihr Jugendkongreß in ein paar Wochen dazu sagen wird.

(Günter Rixe [SPD]: Da werden wir denen etwas zu sagen!)

- Ja, ja.
Der Minister ist zufrieden, ich bin es nicht. 20 000 Stellen aufgeholt - Schwein gehabt, Herr Rüttgers. Aber berechenbar ist das nicht, und Ausbildung ist keine Lotterie. Wenn Sie sagen, Sie wollen auf Modulausbildung setzen, dann entgegne ich: Setzen Sie die Modulausbildung auch bitte schön für die Weiterbildung an. Strukturieren Sie auch den Bereich des lebenslangen Lernens und nicht nur den der Erstausbildung. Lassen Sie uns endlich seriös über eine Ausbildungsabgabe der Wirtschaft reden, damit wir uns über die Probleme der Umsetzung einer solchen Abgabe - die gibt es durchaus, das will ich nicht verhehlen - die Köpfe heiß reden können, anstatt hier Jahr für Jahr dasselbe Ritual durchzuziehen.
Auf der einen Seite wollen Sie ständig - in der Koalition behaupten Sie das jedenfalls - die Universitä-

Antje Hermenau
ten von überzähligen Studenten befreien, auf der anderen Seite gelingt es Ihnen nicht, die duale Ausbildung durchzusetzen. So haben Sie jede Menge junge Leute, die eine Ehrenrunde in den Schulen drehen oder aber ihr Heil in der Flucht auf die Uni suchen. Bringen Sie doch einmal eine gewisse Kohärenz in Ihre Politik!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo sind die jungen Wilden in der CDU? Sind sie schon zu alt für das Thema? Oder haben Sie keine Lust mehr auf Veränderungen?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dann wird uns die Welt von außen verändern. Wissen Sie: Wenn einen die Welt von außen verändert, hat man wenig mitzureden, und es ist auch nicht sehr lustig. Ich kann Ihnen davon nur abraten.
Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313103200
Als nächstes spricht der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.

Dr. Karlheinz Guttmacher (FDP):
Rede ID: ID1313103300
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zusammenhang mit dem Berufsbildungsbericht 1996 habe ich auch die Ergebnisse einer Analyse der Jugendarbeitslosigkeit in den europäischen Staaten gelesen. Ich mußte feststellen, daß Deutschland, Luxemburg und Dänemark die geringste Jugendarbeitslosigkeit haben.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das ist ein schwacher Trost für die Betroffenen!)

Das steht im engen Zusammenhang mit einer funktionierenden beruflichen Ausbildung und hängt damit wieder mit den entsprechenden ausbildenden Betrieben zusammen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Eine praxisnahe betriebliche Ausbildung ist deshalb die beste Voraussetzung, um anschließend auch auf dem Arbeitsmarkt Arbeit zu finden.
Der steigende Bedarf nach qualifizierten Arbeitskräften erhöht die Bedeutung einer Erstqualifikation, wie sie unser duales System der beruflichen Ausbildung liefert. Vor diesem Hintergrund wird klar, daß die im Berufsbildungsbericht 1996 beschriebene Situation der beruflichen Bildung von außerordentlicher Bedeutung ist und ein realer Lehrstellenmangel noch weitaus katastrophalere Wirkung haben wird als derzeitig der Mangel an Arbeitsplätzen.
Seit 1976 beobachten wir zyklische Veränderungen der Angebots- und Nachfragekurve des Ausbildungssektors, wobei das seit 1987 bestehende Überangebot an Ausbildungsplätzen bis 1995 auf den Stand der realen Nachfragesituation zurückging.
Was in der Gesamtbetrachtung ausgeglichen erscheint, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in einigen Regionen zu einem verstärkten Überangebot kommt und daher viele Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben. Die regionale und sektorale Mobilität unserer Jugendlichen ist nicht stark genug ausgeprägt, um diese Lücke auszugleichen.
Unabhängig vom Lehrstellenangebot ist festzustellen, daß sich insbesondere jugendliche Arbeitslose in einem erschreckend geringen Maße um eine Ausbildungsstelle bemühen.

(Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden abgewiesen!)

Gerade für diese Gruppen muß sich das Ausbildungssystem flexiblen Lösungen öffnen,

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

damit eine soziale Integration möglich wird. Das bedeutet, daß insbesondere die Anforderungen an die Theorie und die Gestaltung von Ausbildungs- und Prüfungsteilen die besonderen Bedürfnisse dieser Jugendlichen in angemessener Weise erfassen.
Lehrlinge, die die Qualifikation zum Abschluß der Berufsausbildungszeit nicht schaffen, sollten zumindest ein Zertifikat ausgestellt bekommen, das es ihnen ermöglicht, ihre praktischen Fähigkeiten nachzuweisen, damit sie sich am Arbeitsmarkt um Arbeit bemühen können, die sie dann später zur Komplettierung einer beruflichen Ausbildung wieder nutzen können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es gilt, die berufliche Bildung für Auszubildende und Ausbilder attraktiver zu gestalten. Mit der von manchen in Erwägung gezogenen Kürzung der Ausbildungsvergütung ist dies sicherlich nicht zu machen. Es trifft zu, daß die Tarifparteien in der Vergangenheit einer überproportionalen Steigerung der Ausbildungsvergütungen zugestimmt haben. Es ist daher vertretbar, diese für einige Zeit auf dem heutigen Niveau einzufrieren.
Wenn man die Ausbildung für die Betriebe bezahlbarer machen will, so geht das unseres Erachtens nur, wenn es gelingt, den Nutzen des Betriebes am Auszubildenden zu erhöhen. Hiermit meinen wir nicht, daß der Stift zukünftig wieder einen Kasten Bier aus der Kneipe holen soll,

(Jörg Tauss [SPD]: Doch! Doch!)

vielmehr müssen die Zeiten, die der Auszubildende im Betrieb verbringt, gegenüber den Zeiten in der Berufsschule deutlich zunehmen. Man kann das tun, indem man im ersten Lehrjahr wieder zwei Schultage vorsieht - nach der Schulzeit kehrt der Auszubildende in den Betrieb zurück - und daß man im zweiten und dritten beruflichen Ausbildungsjahr diese schulische Ausbildung degressiv gestaltet.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Zur einzelbetrieblichen Finanzierung der Berufsausbildung gibt es keine Alternative, die vergleichbare wirtschaftliche und soziale Vorzüge bietet. Eine

Dr. Karlheinz Guttmacher
Umlagefinanzierung, wie sie von den Gewerkschaften und den Oppositionsparteien gefordert wird, erhöht die Kostenbelastungen der Betriebe und Praxen und wird sich negativ auf die Leistungsfähigkeit und vor allen Dingen die Wettbewerbsfähigkeit auswirken.

(Günter Rixe [SPD]: Mach dich doch sachkundig, dann würdest du was anderes sagen!)

Ebenso besteht die Gefahr von sektoralen und regionalen, am Bedarf vorbeigehenden Fehlsteuerungen auf dem Ausbildungsstellenmarkt und dem Arbeitsmarkt, wenn sich Betriebe freikaufen können bzw. losgelöst von betrieblichen Qualifikationserfordernissen ausbilden.
Der Vorteil des deutschen Ausbildungssystems besteht gerade in der engen Verknüpfung von Bildungs- und Beschäftigungssystemen. Eine gerechtere Lastenverteilung kann eine Umlagefinanzierung nicht leisten. Die Ausbildungskosten variieren nach Berufen, Branchen und Regionen erheblich, wie auch der Nutzen der Ausbildung für die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sehr unterschiedlich ist.
Wir begrüßen es sehr, daß in den letzten Jahren die Anpassung der Ausbildung an den Strukturwandel sehr kräftig in Schwung gekommen ist. Ab August 1996 wurden neue Ausbildungsordnungen für 15 Ausbildungsberufe mit zirka 81 000 Auszubildenden in Kraft gesetzt. Zwei völlig neue Berufe - Mediengestalter für Bild und Ton sowie Film- und Videoeditoren - stehen ab sofort zur Verfügung. Gegenwärtig wird die Modernisierung von rund 80 Ausbildungsberufen für etwa 440 000 Auszubildende mit neuen Inhalten und Strukturen vorbereitet.
Ich darf an dieser Stelle Bundesminister Rexrodt sehr dafür danken, daß er sich ganz persönlich dafür eingesetzt hat, daß die Zeit für die Ausarbeitung neuer Ausbildungsordnungen nicht länger als zwei Jahre sein darf.

(Beifall bei der F.D.P. Edelgard Bulmahn [SPD]: Der ist ja nicht einmal da!)

Betriebe und Berufsschulen sind sich darüber einig, daß das duale Ausbildungssystem attraktiv gestaltet werden muß, wie es auch im Berufsbildungsbericht dargestellt ist. Aus liberaler Sicht sollten folgende Maßnahmen Berücksichtigung finden:
Interessierten Auszubildenden sollten bereits während der Ausbildung zusätzliche Kurse, zum Beispiel Fremdsprachen-, EDV-, kaufmännische bzw. fachtechnische Zusatzkurse angeboten werden. Besonders Auszubildenden der kaufmännisch-verwaltenden und der gewerblich-technischen Berufe sollten Berufserfahrungen im Ausland ermöglicht werden. Fortbildungsangebote im Anschluß an die Erstausbildung und die betriebliche Ausbildung sollten an das Studium gekoppelt werden. Der Hochschulzugang sollte qualifizierten Fachkräften auch ohne Abitur ermöglicht werden. Eine Aufstiegsfortbildung von
Meistern, Technikern und Fachwirten auf Fachhochschulniveau sollte ermöglicht werden.
Die Qualifizierung des Personals der beruflichen Bildung besonders in den neuen Bundesländern sollte durch ein Sonderprogramm ausgebaut werden. Wir halten es für besonders notwendig, daß sich vor allem in den neuen Bundesländern hochqualifizierte Berufsausbilder als Multiplikatoren in der beruflichen Bildung aktiv in Betrieb und Schule für die sich vollziehende Umstrukturierung einsetzen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Anteil der Berufsausbilder im Betrieb ist deutlich zu erhöhen. Hierzu ist die Ausbilder-Eignungsverordnung dringend neu zu fassen.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Die ist doch schon neu gefaßt!)

Der Berufsbildungsbericht von 1996 prognostiziert bei gleichbleibendem Bildungsverhalten der Jugendlichen für dieses Jahr zirka 620 000 Ausbildungsstellen. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit gab es am 30. September dieses Jahres noch 43 500 freie Lehrstellen, davon 35 000 freie betriebliche Ausbildungsstellen. Wir dürfen aber nicht darüber hinwegsehen, daß bis September dieses Jahres 38 500 Jugendliche nicht vermittelt werden konnten.
Obwohl dieses Zahlenverhältnis bundesweit ausgeglichen erscheint, gibt es erhebliche regionale und berufsstrukturelle Ungleichgewichte. In NRW und in den neuen Bundesländern gibt es noch erhebliche Lehrstellendefizite. Das betriebliche Lehrstellenangebot in den neuen Bundesländern ist in diesem Jahr nicht gewachsen. Hier gab es nicht den von der Industrie und der Wirtschaft versprochenen, zehnprozentigen Zuwachs. Mit dem Bund-LänderSonderprogramm, durch das in diesem Jahr 14 300 Ausbildungsstellen frühzeitig für die neuen Länder zur Verfügung gestellt wurden, muß ein Teil des fehlenden Lehrstellenangebots ausgeglichen werden.
Die außerbetriebliche Berufsausbildung junger Menschen darf nur zeitlich befristet erfolgen. Dies ist nicht der beste Weg einer beruflichen Erstausbildung.
An dieser Stelle möchte ich seitens meiner Fraktion all den Betrieben, die in diesem Jahr Lehrstellen zur Verfügung gestellt haben, sehr herzlich danken, aber auch alle die Betriebe, die nicht ausgebildet haben, aufrufen, nach neuen Strukturen zu suchen und, sofern sie kleine mittelständische Unternehmen sind und noch nicht ausgebildet haben, über Verbünde die Möglichkeit zu eröffnen, im nächsten Jahr Ausbildungsstellen zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Wirtschaft muß ihrer originären Aufgabe der beruflichen Erstausbildung in dualer Form in Zukunft selbst nachkommen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313103400
Als nächste spricht Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1313103500
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch wenn Herr Rüttgers in seiner Antwort auf unsere Große Anfrage zur Situation der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die wir vor exakt einem Jahr gestellt haben,

(Zuruf von der CDU/CSU: Alle Fragen beantwortet hat!)

noch einmal die sogenannte Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt beschwört, wird diese doch in dem soeben erschienenen Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung grundsätzlich in Zweifel gezogen.
Von Jahr zu Jahr verschlechtert sich die Situation, steigt die Zahl der nicht vermittelten Bewerberinnen und Bewerber. Aber auch diese Bilanz beschreibt das Drama nur unvollständig, denn die Diskrepanz zwischen Lehrstellenangeboten und Lehrstellenwünschen der Jugendlichen steigt ebenso.
Im Verlauf des letzten Berichtsjahres verzichteten rund 270 000 Jugendliche auf eine Vermittlung durch das Arbeitsamt und nahmen statt dessen an berufsvorbereitenden Maßnahmen teil, fingen ohne Ausbildung eine Beschäftigung an, wechselten auf berufliche Schulen, besuchten weiterhin allgemeinbildende Schulen oder verblieben - man höre - „unbekannt".
Sicher ist nur, daß seit drei Jahren die Zahl der nicht in eine betriebliche Ausbildung Vermittelten deutlich zugenommen hat. Seit diesem Zeitpunkt sinkt die Ausbildungsquote in nahezu allen Wirtschaftsbereichen. Der Rückgang der Zahl der Ausbildungsverhältnisse übertrifft den allgemeinen Beschäftigungsrückgang um das Zwei- bis Dreifache. Selbst in Bereichen mit Beschäftigungsgewinn wird die Zahl der Ausbildungsplätze reduziert. Das, was uns Jahr für Jahr als ausgeglichene Bilanz verkauft werden soll, ist eine trickreiche Bereinigung von Statistiken.
Auch der immer wieder als Trendwende zitierte Anstieg der Zahl der neuen Ausbildungsverträge erweist sich bei näherem Hinsehen als Steigerung ausschließlich in den neuen Bundesländern, die mit Hilfe massiver öffentlicher Förderung durch Zuschüsse und die Schaffung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze erreicht wurde. Wie mit dieser Politik der angebliche Klimawechsel in der Wirtschaft erreicht werden soll, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung.
In den neuen Bundesländern machen Ausbildungsplatzberater bei ihren Betriebsbesuchen vielmehr die Erfahrung, daß zuerst die Frage nach der Höhe der Fördermittel gestellt wird. Damit sind wir auch schon bei den Umsetzungsproblemen des Sonderprogramms in den neuen Ländern. Entscheidend dafür - das wurde schon gesagt - sind die Landesrichtlinien, die vor allem unter dem Druck seitens der Kammern stehen.
In Sachsen-Anhalt soll so beispielsweise eine betriebliche Ausbildung ohne Trägerbeteiligung mit
Ausbildungsvergütungen unterhalb der AFG-Sätze verdeckt subventioniert werden. Daß damit hinsichtlich der Aushöhlung der Tarifautonomie nicht nur die Gewerkschaften Probleme haben, sondern daß auch die Unternehmen, die in diesem Jahr noch Ausbildungsplätze anbieten, in Zukunft lieber die Förderprogramme abwarten, dürfte auf der Hand liegen.
Ähnlich liegen die Probleme beim sächsischen Sonderweg mit dem Angebot an Mittelschulabsolventen, die keine Lehrstelle haben, sich zum staatlich geprüften Fachgehilfen ausbilden zu lassen. Statt staatlicherseits Rahmenbedingungen für mehr Ausbildungsplätze im dualen System zu schaffen, macht sich die Politik wieder einmal mit Schmalspuralternativen zum Handlanger der Unternehmerverbände.

(Beifall bei der PDS)

Schulabgängerinnen und Schulabgänger bekommen keinen Lehrvertrag, kein Lehrlingsentgelt, durchlaufen das Berufsgrundbildungsjahr, arbeiten ein Jahr als Praktikanten - also unentgeltlich - in einem Industriebetrieb und erhalten ein mehr als fragwürdiges Zeugnis.

(Dr.-Ing. Rainer Jork Zentralismus!)

- Dies ist alles in allem für die Unternehmerverbände eine optimale Lösung, um ohne Geld zu joborientiert ausgebildeten Billiglohnarbeitern zu kommen.
So wichtig zusätzliche Förderprogramme für die Überbrückung der Jahr für Jahr weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Lehrstellenmarkt sind, ist und bleibt dies der falsche Weg. So werden die Probleme nicht gelöst. Unternehmen werden so nicht zur Ausbildungsbereitschaft motiviert. Vielmehr werden Tatsachen geschaffen, die immer neuen Forderungen und Bedingungen Vorschub leisten.
Auf dem Rücken junger Menschen, die nach der Schule ihren Platz im Leben suchen, wird ein unwürdiges Pokerspiel zwischen Wirtschaft, Bund und Ländern ausgetragen, das nach der Devise läuft: Wer sich zuerst bewegt, der zahlt.
Die jährlichen Last-minute-Initiativen verdecken dabei, in welchem Ausmaß die Jugendlichen um berufliche Perspektiven betrogen werden. Peter Grottian rechnet die jungen Leute ohne Lehrstelle, die „Verschiebebahnhofs-Jugendlichen", die in den Schulen und in sonstigen Warteschleifen parken, die kurzfristige Jobs annehmen, die ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben, die nach der Ausbildung arbeitslos sind, die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger und Obdachlosen in der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren sowie die arbeitslosen Fach- und Hochschulabsolventen zusammen und kommt so auf eine Zahl von 1,2 bis 1,5 Millionen junger Leute, die von dieser Gesellschaft sich selbst überlassen werden.
Auf diese Weise wird jeder fünfte Jugendliche zeitweilig oder länger zum gesellschaftlichen Nichts erklärt. Statt alle Kräfte auf die Frage zu lenken, wie jungen Leuten Arbeit und damit ein akzeptables Le-

Manitta Böttcher
ben ermöglicht werden kann, kreist die Jugenddebatte immer wieder nur um Gewalt und Drogen.
Für die Politik in der Ausbildungsfrage bedeutet das vor allem, daß die jährliche Flickschusterei überwunden werden muß, um überhaupt Entscheidungen zu ermöglichen. Der Einwand, den die Bundesregierung gegen das DGB-Umlagefinanzierungsmodell vorbringt - ich will noch einmal betonen: Das ist etwas anderes als eine Ausbildungsplatzabgabe -, lautet, daß die Verteilung der Umlage eine Berufsbildungsplanung voraussetzt, die nicht möglich und nicht wünschenswert wäre, da Berufs- und Lebenschancen staatlich quotiert würden.
Ich frage Sie, Herr Rüttgers, und auch Sie, Herr Jork: Von welchen Chancen reden Sie eigentlich? Für viele Jugendliche sind staatlich quotierte Chancen sehr viel mehr als das, was sie jetzt haben, nämlich gar keine.

(Beifall bei der PDS)

Die ständige Berufung auf die bewährte einzelbetriebliche Verantwortung wird angesichts des Zurückbleibens der Zahl von angebotenen betrieblichen Ausbildungsplätzen hinter der steigenden Nachfrage immer unglaubwürdiger. Das Problem - das haben wir hier heute schon mehrfach gehört - wird sich in den nächsten Jahren verschärfen. Nun kann man die Ursache für diese Entwicklung in bewährter Weise auf die demographische Entwicklung als Altlast aus der DDR schieben. Damit hat man aber noch immer keine Lösung.
Keine Lösung bringt auch das sogenannte Maßnahmepaket zum Abbau von Ausbildungshemmnissen. Abbau von Jugendschutzvorschriften, Einschränkung des Berufsschulunterrichts, sogenannte Flexibilisierung von Ausbilder-Eignungsverordnungen, die es übrigens schon gibt, Herr Guttmacher, bringen nicht einen zusätzlichen Ausbildungsplatz, schränken aber die Qualität der Berufsausbildung weiter ein.
Soll mit der einzelbetrieblichen Verantwortung ernst gemacht werden und strebt man nicht nur verbal, sondern wirklich nach Ausbildungschancen für alle Jugendlichen, so müssen Unternehmen und Einrichtungen bei dem gepackt werden, was Herr Rüttgers in seiner Antwort auf unsere Frage als Erklärung für ein verändertes Ausbildungsverhalten der Unternehmen anführt: bei ihrer „wachsenden Kostensensibilität" .
Die Argumente zum Umlagefinanzierungsmodell sind hinreichend ausgetauscht. Ich möchte vor allem den Herren Jork und Guttmacher noch einmal empfehlen, sich mit diesem Modell ernsthaft zu befassen. Denn ich bin der Meinung, es ist ein Modell, welches durchaus in der Lage ist, Probleme zu lösen und zu beseitigen. Es hat niemand davon gesprochen - auch wir nicht in unserem Entschließungsantrag -, daß das Ganze so, wie es jetzt ausgearbeitet ist, unbedingt bleiben muß. Aber es ist eine Grundlage für die Diskussion. Diese Chance sollten wir nicht einfach verstreichen lassen. Nehmen wir uns die Zeit! Es ist auf jeden Fall Zeit, jetzt zu handeln.

(Beifall bei der PDS)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313103600
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Lensing.

Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1313103700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach allem unbegründeten Katastrophengerede der Opposition zunächst einmal eine positive Botschaft; denn die Wahrheit verpflichtet.

(Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS Günter Rixe [SPD]: Oh! Beifall des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU])

Daher Satz eins: Der Berufsbildungsbericht, Herr Rixe und alle anderen Herrschaften der Opposition, ist gelungen, zeigt er doch in gebotener Deutlichkeit: Deutschland und mit ihm die westliche Welt erleben eine Zeitenwende, die von fundamentalen Umstrukturierungen in Gesellschaft und Wirtschaft geprägt ist, begleitet von unglaublich dynamischen Entwicklungen in Wissenschaft, Forschung, Technik und Kultur.
Der Berufsbildungsbericht ist gelungen, verdeutlicht er doch einem jeden hier in diesem Hause: Wir stehen in einem globalen Produktions- und Gedankenwettbewerb. Dieser Wettbewerb wird nicht nur ein Wettbewerb der Technologien, sondern auch ein Wettbewerb der Ausbildungssysteme sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Berufsbildungsbericht ist schließlich auch deswegen gelungen, weil er selbst dies klar benennt: Die notwendige Reform der Berufsausbildung ist nur mit und nicht gegen die Betriebe zu schaffen.
Daher zunächst einmal zu allem, was Herr Thierse gesagt hat, folgendes Faktum: Die beschäftigungs- und wachstumsfreundliche Wirtschafts- und Finanzpolitik der Koalitionsparteien erleichtert den Betrieben und Verwaltungen die Berufsausbildung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir schaffen die Voraussetzungen für den Mut zur Selbständigkeit, für Hilfen bei Betriebsübernahmen. Durch Existenzgründungen erhöhen wir das Potential an Lehrstellen.

(Franz Thönnes [SPD]: Wo ist die Wahrheit?)

Dies gilt für die gesamte Bundesrepublik und in besonderer Weise für die neuen Länder. Schließlich darf nicht der fatale Eindruck entstehen, die Lehrstellensituation in den neuen Bundesländern sei ausschließlich deren Angelegenheit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Daher war, ist und bleibt die Bundesregierung in erfreulichem Maße bemüht, dies als gesamtdeutsche Verpflichtung zu begreifen und gerade in den neuen

Werner Lensing
Ländern tüchtige Unternehmer zu weiteren Betriebsgründungen zu ermutigen.

(Beifall bei der CDU/CSU Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das ist der Punkt!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, gegen das ganze Gejammer, das ich heute morgen wieder habe hören müssen, setze ich die Botschaft des Optimismus, der Offenheit, der Zukunftsbejahung.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Eine Botschaft des Heuchlerismus!)

Man kann nämlich jede Zahl auch sehr positiv interpretieren.

(Zurufe von der SPD)

Eine deutlich über die Zahl 700 000 wachsende Nachfrage nach Lehrstellen - da können Sie rufen, wie Sie wollen, das ändert nichts an der Tatsache, die ich jetzt benenne - in den nächsten zehn Jahren ist natürlich - das weiß jeder - die eigentliche, aber durchaus zu bewältigende Herausforderung an Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
Wir sollten endlich begreifen: Die Tatsache, daß in diesem Jahr wie in den kommenden Jahren eine wachsende Zahl junger Menschen eine Lehrstelle wünscht, ist im Hinblick auf unsere Zukunft nicht als eine Last, sondern als eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu begreifen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Allen Menschen, zumindest denen mit Sachverstand in diesen Fragen, ist doch klar: Die Berufsausbildung ist betriebswirtschaftlich nützlich, volkswirtschaftlich erforderlich und gesamtgesellschaftlich zwingend notwendig.
Vor diesem Hintergrund habe ich kein Verständnis für das Ritual der SPD - dieser Begriff stammt von Herrn Thierse, wenn auch nicht bezogen auf die SPD -, daß man jedes Jahr diese unerträglichen Zahlenspielereien und die ewige Schwarzmalerei erleben muß.

(Günter Rixe [SPD]: Was Sie sagen, ist unerträglich!)

- Damit zerreden Sie, Herr Rixe, doch den Zukunftsoptimismus und verunsichern unsere Jugendlichen aufs höchste.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Der könnte SEDPropagandist werden!)

Ich frage daher in allem Ernst: Wie will eigentlich die Opposition dafür sorgen, daß auch in Zukunft der Jugend geholfen wird? Bisher habe ich noch kein Argument, geschweige denn einen konstruktiven Vorschlag gehört, der dazu beitragen könnte, auch nur einen einzigen Ausbildungsplatz zu schaffen. Ich höre nur Kritik an unseren Vorschlägen ohne konkrete Gegenvorschläge.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben heute schon gehört, was der DGB macht. Ich habe mir sagen lassen, daß die Landesregierung im Saarland auch nicht gerade begeistert ist, was die Ausbildung von Lehrlingen angeht.

(Franz Thönnes [SPD]: Können Sie das mal begründen?)

In beiden Institutionen wird so gut wie keinem Lehrling die Chance zur Ausbildung geboten.
Ich habe darüber nachgedacht, woran das liegen könnte, und bin zu der Erkenntnis gekommen, daß dort wahrscheinlich keine befriedigende Antwort auf die berechtigte Frage gegeben werden kann, ob denn im Saarland und beim DGB eigentlich etwas konkret zu lernen sei und was das denn wohl sein könnte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313103800
Herr Lensing, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss?

Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1313103900
Ja, mir würde auch etwas fehlen, Herr Tauss.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313104000
Bitte, Herr Tauss.

Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1313104100
Herr Kollege Lensing, wir sollten uns nicht überlegen, was beim DGB ist und worin man dort ausbilden kann. Ich frage Sie, warum hier in Bonn die CDU 100 Prozent weniger Ausbildungsplätze als die SPD hat. Das wären Fragen, die wir diskutieren könnten.
Machen wir uns doch nicht lächerlich! Klären wir die Probleme, die es gibt! Ich bitte Sie sehr herzlich, mir die Frage zu beantworten, ob wir in diesem Stil, nämlich wenn wir darüber reden, worin wir bei Parteien und Gewerkschaften ausbilden, einen sinnvollen Beitrag für die Menschen leisten, die in Deutschland einen Ausbildungsplatz suchen. Das ist Polemik, mehr nicht, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD)


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1313104200
Herr Tauss, das kann doch nicht wahr sein. Wahrheit kann keine Polemik sein. Ich brauche an sich überhaupt nicht zu antworten, weil Sie keine Frage gestellt haben. Aber das ist eben mein Verständnis von mitmenschlichem Umgang.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte noch eine Bemerkung zum Berufsschultag machen, aktuell zu den jüngsten Äußerungen des GEW-Vorsitzenden Wunder und des KMKVorsitzenden Karl-Heinz Reck, den zweiten Berufsschultag auf jeden Fall beizubehalten. Wer sich hier flexibleren Lösungen verschließt und nicht bereit ist, über den Berufsschulunterricht in seiner jetzigen Form zu diskutieren und die Konzentration auf einen Berufsschultag im zweiten und dritten Lehrjahr mit einzubeziehen, der provoziert den Abbau weiterer Lehrstellen und schürt die berechtigten Vorbehalte

Werner Lensing
gegen die Lehrlingsausbildung in den Unternehmen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313104300
Herr Lensing, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Thönnes?

Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1313104400
Herr Thönnes? Ja, bitte schön.

Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313104500
Herr Lensing, weil Sie der Wahrheit in Ihrer Rede soviel Kraft beimessen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sowohl dem Deutschen Gewerkschaftsbund als auch der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände als Tendenzbetrieben die Eignung zur Berufsausbildung fehlt, sich gleichwohl beide darum bemühen, in Ausbildungsverbünden ihren Beitrag zur Berufsausbildung in Zukunft zu leisten? Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im Saarland von 1995 auf 1996 die Zahl der Ausbildungsverträge von 30 auf 54 steigen wird, daß im kommunalen Bereich die Zahl der Ausbildungsverträge von 14 auf 21 steigen wird, ohne die Eigenbetriebe der Kommunen einzubeziehen, und daß die Zahl der Anwärter von 157 auf 214 erhöht wird?

Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1313104600
Herr Thönnes, natürlich nehme ich Fakten zur Kenntnis.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Wenn sie stimmen!)

Aber jedes Faktum bedarf seiner Interpretation.

(Lachen bei der SPD)

- Ja, Herr Thierse, das ist nun einmal so. Man muß in jedem Falle auch den Kontext mit berücksichtigen. Man muß jeweils die Relationen sehen. Wenn ich bei Minus oder Null anfange, habe ich schnell eine hohe Steigerung. Wenn man jetzt Defizite nachholt, mag das ein positives Zeichen sein. Im übrigen bekenne ich mich ausdrücklich zu der Bildung von Verbünden, um beispielsweise den Jugendlichen Arbeitsplätze zu vermitteln.
Ich habe bedauerlicherweise nicht mehr sonderlich viel Zeit, Frau Präsidentin. Ich möchte aber gleichwohl noch einen Punkt nennen, weil er hier so stark betont wurde und dieser mir ein besonderes Anliegen ist. Ich denke an die geforderte Ausbildungsstellenumlage. Ich sage noch einmal sehr deutlich vor diesem Hohen Hause: Die Umlage ist ungerecht, weil sie auch diejenigen belastet, die mangels Berufsbilder oder geeigneter Bewerber nicht ausbilden können. Die Umlage ist zukunftsfeindlich, weil sie die Lohnnebenkosten erhöht und die Ausbildung am Markt vorbei- und damit fehlleitet. Sie ist zu bürokratisch, weil sie vor allem ein Beschäftigungsprogramm für Funktionäre ist. Sie ist sogar systemwidrig, weil sie das duale System durch ein staatlich reguliertes Gefüge ersetzt.
Daher wiederhole ich sehr deutlich: Zwangsinstrumente wie Ausbildungsplatzabgaben oder Umlagen sind untaugliche Instrumente. Sie zerstören Motivation und Engagement, die für eine qualifizierte Berufsausbildung grundlegend sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Zusammenhänge, die gerade von mir angerissen wurden, sind im Berufsbildungsbericht 1996 und auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Situation der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Bundesrepublik Deutschland aufgegriffen und erläutert worden. Die Koalitionsfraktionen bringen überdies einen Entschließungsantrag zur Stärkung der beruflichen Bildung ein. Ich darf Sie alle bitten, diesem Antrag zuzustimmen.
Ich danke Ihnen allen für Ihre ungeteilte, mich durchgehend motivierende Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313104700
Das Wort erhält jetzt der Kollege Günter Rixe.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313104800
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lensing, wenn die Jugendlichen, die am heutigen Tage noch keinen Ausbildungsplatz haben - das ist eben nicht die Zahl, die der Bundesbildungsminister im Moment nennt -, Ihre Rede gehört haben, dann müssen sie an den Politikern in diesem Lande verzweifeln.

(Beifall bei der SPD und der PDS)

Auf dem Bau gibt es ein hartes Wort - ich münze das jetzt auf Ihre Rede um -: Man kann aus schlechten Beispielen keine guten machen, indem Sie eine solche Rede halten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Minister, ich kann mit vielen Ihrer Äußerungen von heute morgen gut leben.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Prima!)

Ich bin auch der Meinung, daß wir ganz sachlich und vernünftig über das Problem Berufsausbildung reden sollten.

(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das müssen wir!)

Wir sind uns einig, daß wir das duale System als das beste in den Raum stellen. Aber es gibt in der Tat zwischen der SPD und Ihnen sowie Ihrer Koalition große Unterschiede, wie wir die Probleme des dualen Systems in den Griff bekommen wollen. Diese Unterschiede will ich einmal mit vier Punkten benennen.
Bevor ich dazu komme, möchte ich an Sie persönlich eine Bitte richten: Sie sind als Bundesbildungsminister Vorbild - geben Sie nicht solche dummen Kommentare von sich. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre"; das hat man mir 1954 gesagt, als ich in die Lehre kam. „Stift kann auch Bier holen und Werkstatt fegen"; auch das haben sie mir gesagt. Aber ich kenne keinen Handwerksmeister in der Republik,

Günter Rixe
der noch heute gegenüber der Jugend diese dummen Sprüche sagen würde.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Das hat mich in der Tat ein bißchen geärgert. Früher waren solche Sprüche dumme Ausreden. Aber das ist vorbei, Herr Minister. Wir leben im Jahre 1996 und wollen ins Jahr 2000. Wenn Sie so etwas sagen, ist das auch eine Beleidigung aller Jugendlichen.

(Beifall bei der SPD und der PDS) Sie sollten das in der Tat seinlassen.

Jetzt zu den Punkten. Ihre Zahl betreffend die Ausgeglichenheit der Bilanz ist nur eine auf dem Papier stehende; das haben Sie selber gesagt. Man kann nicht nur über diese Zahl reden, sondern man muß auch über die Qualität der Berufsausbildung reden. Man muß also auch über die Probleme reden. Fast jedes Jahr fangen fast hunderttausend junge Leute keine Ausbildung an - bei dieser Zahl sind wir uns einig; Sie haben sie selbst genannt -, weil sie vor dem 30. September in Maßnahmen der Berufsvorbereitung untergebracht sind. Diese Zahl können wir doch nicht weglassen. Diese Jugendlichen kommen doch im nächsten Jahr automatisch wieder, wenn sie einen Ausbildungsplatz suchen.
Sie haben selber gesagt, daß die Ausbildungszahl nächstes Jahr noch höher ist. Deswegen kann ich nicht allein auf das Vertrauen in die Wirtschaft setzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wiederholt sich doch jedes Jahr!)

- Wenn sich das jedes Jahr wiederholt: Wieviel Geld gibt denn die Bundesanstalt für Arbeit für diese hunderttausend jungen Leute aus, um sie überhaupt für den Beruf fit zu machen? Da bin ich mit Ihnen einer Meinung, daß wir in der Situation der Gesellschaft und der Bildung im allgemeinen darüber reden müssen, wie es kommt, daß jetzt so viele junge Leute in eine Berufsvorbereitung müssen, um dann einen Ausbildungsplatz zu finden. Das liegt aber nicht nur daran, daß sie in den Schulen nicht komplett ausgebildet worden sind, sondern auch daran, daß Lehrstellen fehlen.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das ist eine Leistungsfrage!)

Das müssen wir doch nun einmal zur Kenntnis nehmen.
Jetzt habe ich noch drei Punkte, bei denen wir unterschiedlicher Meinung sind. Das eine ist die Differenzierung, Herr Minister. Da sagen Sie: Weil es eine ganze Menge Jugendliche gibt, die das Berufsbildungssystem nicht dreieinhalb Jahre durchlaufen, müssen wir neu differenzieren; wir müssen neue Berufe schaffen.
Dazu will ich Ihnen einmal etwas vorlesen, und hier sollte der Handwerkskammerpräsident von Koblenz richtig zuhören. Es gibt einen Vorschlag der Kreishandwerkerschaft und der Elektroinnung der Stadt Duisburg, die die Handwerkskammer Düsseldorf bitten, eine Differenzierung in der Elektrofachinstallateurausbildung einzuführen, die folgendermaßen aussieht - ich habe das hier schriftlich; ich kann Ihnen das gleich geben -: Erst sollen die Jugendlichen ein halbes Jahr einen Berufsvorbereitungslehrgang machen. Dann sollen sie zwei Jahre eine Ausbildung zum Elektrofachhelfer machen; danach sollen sie einen Facharbeiterbrief bekommen. Wer dann weiterlernen will, der kann noch einmal zwei Jahre zum Elektroinstallateur ausgebildet werden - was nach unserem Berufsbild heute insgesamt nur dreieinhalb Jahre dauert. Die Kreishandwerkerschaft geht hier von viereinhalb Jahren aus.
Bevor ich weitergelesen habe, habe ich gleich hingeschrieben: „stemmen und putzen", weil ich selber vom Bau komme. Und richtig, es geht weiter: Das Ausbildungscurriculum für den Elektrofacharbeiter sieht Stemmen, Erdarbeiten, Installationsarbeiten, Verlegen von Kabeln und Leitungen, Montieren diverser Verlegungssysteme usw. vor. All das, was mit Elektrotechnik, mit Zählern und Verteilern, zu tun hat, soll er gar nicht lernen.
Wenn das die Differenzierung ist, lehne ich sie ab. - Das steht hier wortwörtlich; ich gebe es Ihnen.
Das ist der eine Punkt; und dies machen wir in der Tat nicht mit.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313104900
Herr Rixe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rüttgers?

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313105000
Ja natürlich, immer.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1313105100
Lieber Kollege Rixe, bevor Sie sich zu sehr aufregen: Das ist damit nicht gemeint. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis?

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313105200
Okay.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1313105300
Danke.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313105400
Es wird aber so umgesetzt. Jetzt werde ich das Handwerk einmal fragen, was es davon hält. Das ist das Problem.

(Abg. Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage Franz Thönnes [SPD]: Wenn man Geister ruft, wird man sie nicht mehr los!)


Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1313105500
Ach Gott, man darf also nicht denken, nur weil irgendein anderer einen falschen Vorschlag macht.
Wir sind uns also einig, lieber Herr Kollege, daß das nicht damit gemeint ist.

(Zurufe von der SPD: Frage!)

- Lesen Sie übrigens einmal in der Geschäftsordnung
nach: Man muß nicht immer eine Frage stellen. Man

Dr. Jürgen Rüttgers
kann auch einen Satz sagen, der beantwortet werden soll. Auch das steht in der Geschäftsordnung.
Sind wir derselben Meinung, daß es gut ist, wenn sich die Kreishandwerkerschaft Duisburg Gedanken darüber macht, wie man eine moderne Ausbildung reformiert? - Der Meinung sind wir allerdings.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313105600
Wenn sie sich Gedanken über eine moderne Reform macht, dann ja,

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ja!)

aber nicht, wenn es um das geht, was sie hier aufs Papier gebracht hat.

(Beifall bei der SPD Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ich muß Ihnen zustimmen! Aber daß Sie denken, ist gut! Abg. KarlHeinz Scherhag [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Soll er gleich fragen? - Dann rede ich gar nicht erst weiter.

(Heiterkeit)


Karl-Heinz Scherhag (CDU):
Rede ID: ID1313105700
Herr Kollege Rixe, Sie haben mich angesprochen. Ich möchte an Sie die Frage richten: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß viele Vorschläge, die in der Richtung gemacht werden, sei es von Kreishandwerkerschaften oder auch von Politikern, nicht immer richtig sein müssen?

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313105800
Da stimme ich Ihnen zu: Es muß nicht immer richtig sein, was sie auf das Papier bringen. Ich habe dies auch nur als Beispiel vorgetragen. Es läuft doch darauf hinaus - darum geht es doch -, daß, wenn wir von Differenzierung reden, unsere Handwerksorganisationen und andere so etwas daraus machen, Herr Scherhag. Da müssen wir aufpassen. Wir müssen über Differenzierung vernünftig reden und dürfen nicht einen solchen Unsinn zustande kommen lassen. Das ist das Problem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)

Kommen wir zu der unseligen Diskussion über den Berufsschultag. Ich sage: Natürlich müssen wir darüber reden, wie wir die 480 Stunden Berufsschulunterricht im Jahr vernünftig aufteilen. Dazu gibt es auch Vorschläge. Im Bauhauptgewerbe gibt es eine vernünftige Regelung. Da gibt es jede Menge Blockunterricht.
Nur, die Diskussion, Herr Minister, daß man nach der Berufsschule am selben Tag noch in den Betrieb muß, ist doch schizophren. Wir sollten sie gar nicht erst aufnehmen.
Sechs Stunden Berufsschule am Tag: Die Berufsschule beginnt um 8 Uhr. Werden sechs Stunden absolviert, inklusive Pausen, sind wir bei 13.30 Uhr. Um 16 Uhr ist in allen Betrieben Feierabend. Im ländlichen Bereich braucht der Auszubildende zudem für
den Weg von der Berufsschule bis zum Betrieb eine gewisse Zeit.

(Zurufe von der CDU/CSU: Im Handel? Karl-Heinz Scherhag [CDU/CSU]: 20 Uhr!)

- Im Handel sind die Betriebe länger geöffnet.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Im Handwerk ist nicht um 16 Uhr Schluß!)

- Entschuldigen Sie: Meine Mitarbeiter gehen um
16 Uhr, auch die von Herrn Scherhag gehen um
17 Uhr nach Hause.
Deswegen lohnt es nicht, in den Betrieb zurückzukehren, wenn man sechs oder sechseinhalb Stunden in der Berufsschule gesessen hat, Herr Minister - auch mit 18 Jahren. Auch da sind wir unterschiedlicher Meinung. Für mich ist das ein junger Erwachsener. In der Jugendhilfe, in der Jugendgerichtshilfe wird ein 18jähriger als Jugendlicher betitelt und nicht als Erwachsener. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Nicht jeder Jugendliche kann noch nach sechs oder sechseinhalb Stunde Schule, wo er nachdenken und sich anstrengen muß, in den Betrieb.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das sollten wir nicht fahrlässig in den Raum stellen. Wir sollten vernünftig über Blockunterrichtszeiten, Halbjahresberufsschulunterricht usw. reden.
Eines aber steht fest: Mit uns geht es nach der Berufsschule nicht noch in den Betrieb. Mit uns wird es keine Kürzung von 480 Stunden Berufsschule im Jahr geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Diese Unterrichtszeit wird nämlich in den hochtechnologischen Berufen und auch im Handwerk benötigt.

(Abg. Werner Lensing [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313105900
Herr Lensing, die Zeit ist abgelaufen. Der Kollege Rixe muß ohnehin zum Ende kommen. Ich kann keine Zwischenfragen gestatten.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313106000
Ich habe nur noch einen Punkt. Über die Ausbildungsvergütung, die auch im Gespräch ist, sollten wir vernünftig reden. Handwerksmeister, Einzelhandel, Industrie - wenn man mit denen spricht, dann reden sie gar nicht über die Ausbildungsvergütung, weil dieser Punkt bei der Zurverfügungstellung eines Lehrstellenplatzes überhaupt keine Rolle spielt.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der PDS sowie der Abg. Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313106100
Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Hollerith.


Josef Hollerith (CSU):
Rede ID: ID1313106200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Jahr 1995 markiert die Trendwende bei den Lehrstellen in der Bundesrepublik Deutschland: Erstmals seit zehn Jahren gab es wieder mehr Lehrstellen als im Jahr zuvor. Mit knapp 600 000 Ausbildungsplatznachfragern und 623 000 Ausbildungsplätzen konnte ein nahezu ausgeglichenes Ergebnis erreicht werden. Ich bin auch sehr optimistisch, daß am Ende dieses Jahres alle, die ernsthaft eine Lehrstelle suchen und flexibel genug sind, einen Ausbildungsplatz bekommen werden.
Ob dieser positive Trend der Steigerung des Ausbildungsplatzangebots fortgesetzt werden kann, wird entscheidend davon abhängen, inwiefern es uns gelingt, diejenigen, die letztlich entscheidend sind - die Ausbilder -, vom hohen Wert der Zukunftsinvestition „berufliche Bildung" zu überzeugen. Prognosen sprechen von einem geschätzten Anstieg des Lehrstellenbedarfs von derzeit rund 620 000 auf über 700 000 innerhalb der nächsten zehn Jahre.
Die aktuellen Entwicklungen im Ausbildungssektor machen deutlich, daß es mit Überzeugungsarbeit allein nicht getan ist, daß weitaus stärkeres Engagement vonnöten sein wird: Die Ausbildungsbeteiligung der kleinen und mittleren Betriebe, der zu Recht vielgepriesenen Stütze unseres dualen Ausbildungssystems, hat sich von 1990 bis 1994 um fast ein Drittel reduziert. Großbetriebe haben ihre Ausbildungsleistungen im selben Zeitraum um ein Viertel verringert. Insgesamt bildet nur noch ein Drittel aller Betriebe beruflichen Nachwuchs aus.
Warum ist dies so? Bei den Gründen, die mir Ausbilder bei berufspolitischen Veranstaltungen nennen, findet sich an erster Stelle unisono die geringe zeitliche Verfügbarkeit der Lehrlinge im Betrieb auf Grund des hohen Anteils außerbetrieblicher Ausbildung. Wenn in manchen Berufen der Lehrling im Jahr nur 25 Prozent der Zeit im Betrieb ist, dann darf man sich nicht wundem, wenn die Ausbildungsbereitschaft der Handwerksbetriebe zurückgeht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Konkrete erfolgversprechende Maßnahmen, mit denen eine Verbesserung erreicht werden soll, sind oft in den Mühlen der Bürokratie steckengeblieben. Ich nenne zum Beispiel schleppende Abstimmungen zwischen Landesregierungen, zwischen Kammern, Fachverbänden und Tarifpartnern. Der Minister hat zu Recht das Konsensprinzip, das wir hier praktizieren, genannt.
Als ein weiterer riesiger Hemmschuh, der immer mehr Betriebsleiter zum Rückzug aus der Ausbildertätigkeit veranlaßt, wird die als Dirigismus empfundene Einflußnahme des Staates auf die Beruf sausbil-dung im Betrieb genannt. Ganz entscheidend ist in diesem Zusammenhang vor dem Versuch zu warnen, mittels einer Ausbildungsstellenabgabe die Ausbildungsbereitschaft steigern zu wollen. Nichtausbildende Betriebe zu strafen - dazu gehören auch der kleine Bäckerei- oder Metzgereibetrieb im ländlich strukturiertem Raum, die händeringend einen Lehrling suchen - ist eindeutig der falsche Weg. Vielmehr
ist nach Mitteln und Wegen zu suchen, mit denen die berufliche Ausbildung für Ausbilder und Auszubildende erstrebenswert und attraktiv gemacht werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dazu gehört auch, das Reformkonzept für die allgemeine Schulbildung voranzubringen. Einem jungen Menschen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen ist Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen und nicht des Lehrherrn. Nachlassende Grundqualifikationen und ein zum Teil katastrophales Leistungsniveau bei Schulabgängern sind auch eines der Themen, das Handwerksmeister mir gegenüber immer wieder kritisch ansprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zu diesem Komplex gehört auch die betriebsfreundlichere Ausgestaltung der Berufsschulen, die in ihren Lehrplänen verstärkt Rücksicht auf Fortschritt und sich wandelnde Berufsanforderungen nehmen müssen; Stichwort: Umgang mit neuen Informations- und Kommunikationstechniken.
Ausdrücklich erwähnen möchte ich die bereits erzielten Erfolge.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr richtig!)

Erstens nenne ich die Flexibilisierung der Ausbilder-Eignungsverordnung, die seit 1. Juli in Kraft ist. Sie ist ein großer Erfolg, Herr Minister. Wer nachweislich über die erforderlichen Qualifikationen verfügt, dem sollen künftig formale Prüfungen sowie kostenträchtige und zeitaufwendige Vorbereitungslehrgänge erspart werden. Das erleichtert insbesondere kleinen Betrieben den Einstieg in die Ausbildung.
Zweiter großer Erfolg: Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften haben vereinbart, die Modernisierung von Ausbildungsberufen zu beschleunigen. Länger als ein Jahr darf das Verfahren künftig nicht mehr dauern.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Lange genug!)

Seit 1995 wurden 23 Ausbildungsberufe modernisiert. 90 weitere Berufsbilder für rund 500 000 Auszubildende werden derzeit überarbeitet. In 40 davon soll schon im kommenden Jahr nach neuen Berufsbildern ausgebildet werden.
Dritter großer Erfolg: Der im Perspektivbericht angesprochenen Forderung nach der Entwicklung neuer Berufe mit Zukunft in Beschäftigungsfeldern mit großen Wachstumspotentialen ist ebenfalls erfolgversprechend entsprochen worden. So wird bereits in drei neuen Medienberufen ausgebildet. Sieben neue Informations- und Kommunikationsberufe wird es vom nächsten Jahr an geben.
Sie sehen, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir laden die Opposition ein, uns zu begleiten.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313106300
Das Wort nimmt jetzt die Kollegin Edelgard Bulmahn.

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1313106400
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich in dieser Debatte gefragt - vor allen Dingen bei Ihrem Debattenbeitrag, Herr Minister Rüttgers -, was sich die junge Frau in Neubrandenburg denkt, die zusammen mit 1 027 anderen Jugendlichen um 37 Ausbildungsplätze konkurrieren muß, wenn Sie sagen „Alles in Butter, es sind genügend Ausbildungsplätze da" .
Was denkt sich der junge Mann in Nürnberg, wo noch 1 099 Jugendliche um ganze 221 offene Stellen konkurrieren? Was denken sich die Jugendlichen in Tauberbischofsheim, in Magdeburg, in Würzburg, in Kaiserslautern, in Duisburg, in Berlin oder in Erfurt, wo die Ausbildungsstatistik alles andere als ausgeglichen ist und wo sich die Jugendlichen verzweifelt bemühen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen?
Es reicht nicht, am Ende des Ausbildungsjahres auf die angeblich ausgeglichene Ausbildungsbilanz zu verweisen. Die Chance auf eine zukunftsorientierte und qualifizierte Ausbildung darf in Zukunft doch nicht davon abhängig sein, ob ich in Bitterfeld oder ob ich in Stuttgart geboren worden bin.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen alles dafür tun, daß jeder und jede Jugendliche - ganz egal, wo er oder sie lebt - einen Ausbildungsplatz erhält.
Wenn wir am Ende dieses Ausbildungsjahres feststellen müssen, daß in 44 von 136 Arbeitsamtsbezirken Jugendliche keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, und wenn in Ostdeutschland in einem einzigen Arbeitsamtsbezirk tatsächlich alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz gefunden haben, die einen haben wollten, dann können wir von dieser Botschaft doch nicht sagen, sie sei gut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Herr Minister Rüttgers, da nützt alles Hin- und Herreden nichts: Die Schere zwischen Ausbildungsplatzangebot und Ausbildungsplatznachfrage klafft immer weiter auseinander. Zwischen 1985 und 1995 ist die Zahl der Ausbildungsplätze um 35 Prozent gesunken. Das macht mir große Sorge. Darüber können wir nicht einfach hinweggehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Hinweis auf die Berufsschule ist nicht die Lösung, Herr Rüttgers. Ich frage mich wirklich, ob Sie es sich gut überlegt haben, wenn Sie fordern, daß ein Bäckerlehrling zunächst von 3 Uhr bis 6.30 Uhr in der Backstube backen, anschließend in die Berufsschule gehen und dort konzentriert lernen soll. Machen Sie das bitte selber vor, und zwar nicht nur einen Tag, sondern bitte ein Jahr lang.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS Widerspruch bei der CDU/ CSU)

Nichts da, mein lieber Herr Rüttgers, so einfach können Sie es sich nicht machen.
Wir haben in Niedersachsen vorgeschlagen - das halte ich für den richtigen Weg; das machen wir auch so -, daß sich Berufsschulen und Betriebe vor Ort über eine möglichst optimale Organisation des Berufsschulunterrichtes verständigen. Das muß unterschiedlich geschehen, je nach Ausbildungsbranche und Ausbildungsberuf. Diejenigen, die die Ausbildung wirklich leisten, können dieses auch am besten. Ich halte überhaupt nichts davon, dies von Bundesseite vorzuschreiben.
Blockunterricht einen Tag oder zwei Tage - das hängt davon ab, über welche Ausbildung wir reden

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Haben Sie schon mal ausgebildet? Wissen Sie überhaupt, wie das geht?)

und wie die regionale Situation tatsächlich ist, wie lang die Anfahrtszeiten sind usw. Das wissen diejenigen, die vor Ort handeln müssen, am besten, und diese sollen entscheiden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Genausowenig hilft es, wenn man über die angeblich zu hohe Ausbildungsvergütung lamentiert oder wenn man die mangelnde Flexibilität der Jugendlichen beklagt. Ich frage mich wirklich, wer aus diesem Hause seiner 16jährigen Tochter zumuten will, zum Beispiel von Magdeburg nach München zu ziehen, um dort eine Ausbildung zu absolvieren. Gleichzeitig fordern Sie, daß die Ausbildungsvergütung gekappt wird. Wovon sollen diese Jugendlichen denn leben?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313106500
Frau Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1313106600
Ich lasse immer Fragen zu.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313106700
Frau Bulmahn, Sie lassen eine Frage zu. Herr Lensing, bitte.

Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1313106800
Frau Bulmahn, ich denke, es ist auch für Sie jetzt gut, daß ich Sie unterbreche, weil Sie ja so in Rage gerieten, daß eventuell die Argumente darunter leiden könnten.

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1313106900
Über Schönreden kann ich mich auch ärgern, Herr Lensing.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1313107000
Das verstehe ich auch gut.
Könnten Sie sich vorstellen, Frau Kollegin Bulmahn, daß man gleichwohl über die Ausbildungsvergütung vor dem Hintergrund diskutieren kann, daß es Bereiche gibt, wo die Lehrlinge lediglich 500 DM bekommen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Oder weniger!)

- das ist wahrhaftig nicht viel, zum Teil, so höre ich gerade von meinem Nachbarn, gibt es noch weniger -, aber auch Bereiche wie beispielsweise den Gerüstbau, wo sie bis zu 2 000 DM bekommen?

(Günter Rixe [SPD]: Das ist doch tarifvertraglich geregelt!)

Könnte man sich darüber verständigen, ob es sinnvoll ist, im Rahmen der Tarifpolitik sich auch dieser Frage zu stellen, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, daß der Deutsche Industrie- und Handelstag erklärt hat: Wenn wir in eine neue Verhandlung eintreten, könnten wir uns auch vorstellen, daß bei entsprechenden Abschlüssen 25 bis 30 Prozent mehr Stellen für Auszubildende geschaffen würden?

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1313107100
Herr Lensing, erstens debattieren und sprechen die Tarifvertragsparteien darüber. Es wird ja auch über die Ausbildungsentgelte verhandelt. Das halte ich für notwendig und richtig. Ich bin aber der Meinung, daß dies auch in Zukunft die Tarifvertragsparteien tun sollten und daß wir uns als Politikerinnen und Politiker da nicht einmischen sollten.

(Beifall bei der SPD Werner Lensing [CDU/CSU]: Das haben Sie aber dann gemacht!)

- Ich habe gesagt, daß ich es für falsch halte, über eine zu hohe Ausbildungsvergütung von unserer Seite aus zu jammern und dies als die Ursache des Problems zu beschreiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine!)

Das halte ich für eine falsche Problemanalyse.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zu Ihrer zweiten Frage Herr Lensing. Es ist richtig, daß die Ausbildungsvergütung oder die Ausbildungsentgelte sehr unterschiedlich sind. Bei den Gerüstbauern ist es so, daß sie praktisch in ihrer Ausbildung in einem hohen Maße schon die Arbeiten ausführen, die sie auch hinterher als ausgebildeter Mann oder ausgebildete Frau tun müssen. Insofern haben sich die Tarifvertragsparteien darauf verständigt, daß in diesem Beruf, um auch Nachwuchs zu sichern, diese Ausbildungsvergütung gezahlt werden soll. Wenn die Tarifvertragsparteien dies für richtig halten, dann sage ich dazu: Sie sind diejenigen, die das am besten wissen und entscheiden.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin nicht der Meinung, daß eine Bundesregierung oder ein Bundesparlament das besser entscheiden kann oder besser weiß.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313107200
Frau Bulmahn, gestatten sie eine weitere Zwischenfrage Ihres Kollegen Klaus Barthel?

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1313107300
Aber selbstverständlich.

Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1313107400
Frau Bulmahn, wären Sie vielleicht bereit, Herrn Lensing darauf hinzuweisen, daß die von ihm hier dargetane Logik, niedrige Ausbildungsvergütung schaffe mehr Arbeitsplätze, schon auf Grund der Zahlen leicht widerlegbar ist, weil sich nachweisen läßt, daß gerade auch in den Berufsausbildungen, wo niedrige Ausbildungsvergütungen gezahlt werden, besonders viele Ausbildungsplätze vernichtet worden sind und nicht unbedingt dort, wo hohe Vergütungen gezahlt werden?

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1313107500
Ich weise den Kollegen Lensing darauf hin.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverfassungsgericht hat 1980 klipp und klar festgestellt, daß es gemeinsame Aufgabe aller Betriebe und öffentlichen Verwaltungen ist, für ein ausreichendes auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen zu sorgen.
Die Frage, die wir uns hier stellen und die wir beantworten müssen, ist: Wie können wir das gewährleisten? Wie können wir dies sichern?
Was können wir tun, damit wirklich alle Jugendlichen, egal, wo sie wohnen, einen Ausbildungsplatz erhalten und damit die Möglichkeit und die Chance haben, ihre Fähigkeiten in diese Gesellschaft einzubringen und einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden?
Es geht um die Zukunft der Jugend, über die wir heute diskutieren. Es geht aber auch darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob auch in Zukunft unsere Unternehmen - sei es der Handwerksbetrieb, sei es der Industriebetrieb, ein Dienstleistungsunternehmen oder eine soziale Einrichtung - über gut ausgebildete und motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verfügen, und zwar nicht nur heute, sondern auch morgen.
Es geht darum, ob die Bundesrepublik Deutschland ihren wichtigsten Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Wirtschaftsregionen in dieser Welt, nämlich gut qualifizierte und motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch in Zukunft halten wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen feststellen, daß die duale Berufsausbildung in einer Krise steckt. Diese ist nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell bedingt. Die Betriebe beteiligen sich mit einer sinkenden Tendenz an der Ausbil-

Edelgard Bulmahn
dung; inzwischen sind es nur noch 30 Prozent. Vor allen Dingen die Großunternehmen haben sich aus der Ausbildung zurückgezogen. Dagegen müssen wir etwas tun. Das Handwerk ist inzwischen der Träger der Ausbildung.
Ich halte es für einen Skandal erster Ordnung, daß nur noch 15 Prozent der Auszubildenden in Großbetrieben ausgebildet werden. Die Politik der Appelle hat - es tut mit leid, Herr Rüttgers - vielleicht in der Vergangenheit geholfen, heute tut sie es nicht mehr.
Die SPD will die duale Ausbildung retten. Um deren Sicherung zu gewährleisten, um ein auswahlfähiges Berufsausbildungsangebot in allen Regionen der Bundesrepublik zu garantieren und um eine gerechte Ausbildungsleistung von allen ausbildenden Betrieben zu erreichen,

(Beifall bei der SPD)

schlagen wir vor, daß durch ein Gesetz alle Betriebe und öffentlichen Verwaltungen verpflichtet werden, eine bestimmte Ausbildungsquote zu erreichen. Das hat nichts mit einer Abgabe zu tun. Wir sagen: Alle Betriebe sollen eine bestimmte Ausbildungsquote erreichen. Wenn ein Betrieb diese Ausbildungsquote nicht erreicht, dann zahlt er in einen von Arbeitgebern und Gewerkschaften zentral verwalteten Fonds, der dann vor Ort, in den Regionen, genutzt wird, um zusätzliche Ausbildungsplätze in den Betrieben zu kaufen, die bereit sind auszubilden. Insofern ist das .keine Umlage.
Wir wollen, daß alle Betriebe, die ausbilden können, ihrer Ausbildungspflicht nachkommen. Wir wollen, daß es diesbezüglich zu einem gerechteren Verhältnis zwischen kleinen bis mittleren Betrieben - vornehmlich dem Handwerk - und den großen Betrieben kommt.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich kann Ihre Einwürfe gar nicht verstehen. Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, daß zum Beispiel die Handwerkskammer Paderborn, die eine Ausbildungsselbstverpflichtung für ihre Mitglieder vereinbart hat, die IG Chemie oder der VCI Systemveränderer seien, weil sie genau solche Verabredungen - das Festschreiben einer Ausbildungsverpflichtung - getroffen haben.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe erwähnt, daß aus diesem Aufkommen vorrangig betriebliche Ausbildungsplätze finanziert werden sollen. Wir wollen keine zusätzlichen Verwaltungen aufbauen. Um das zu erreichen, gehen wir so vor: Die öffentliche Hand soll im laufenden Jahr vorfinanzieren, und im darauffolgenden Jahr wird diese vorfinanzierte Summe von den Betrieben, die nicht ausgebildet haben, zurückgefordert. Wir schlagen hier also praktisch ein Erstattungsverfahren vor.
Das Gesetz kommt dann zum Zuge, wenn die Wirtschaft ihre Ausbildungsverpflichtung nicht erfüllt. Die Betriebe, die ihre Ausbildungsverpflichtung erfüllt haben, werden auch nicht zur Finanzierung herangezogen. Das gleiche gilt für Branchenumlagen, für Kammerumlagen, für tarifvertragliche Regelungen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313107600
Frau Bulmahn, kommen Sie zum Ende!

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1313107700
Das heißt, nur die Betriebe werden herangezogen, die ihre Ausbildungsverpflichtung nicht erfüllen. Wir halten das für gerecht, auch für die Unternehmen.

(Beifall des Abg. Günter Rixe [SPD])

Wir halten es auch deshalb für richtig, weil wir nur auf diesem Wege langfristig wirklich allen Jugendlichen ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot machen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS und der Abg. Antje Hermenau {BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1313107800
Es spricht jetzt der Kollege Karl-Heinz Scherhag.

Karl-Heinz Scherhag (CDU):
Rede ID: ID1313107900
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Allein um das eben Gehörte zu widerlegen - das, was Frau Bulmahn hier alles von sich gegeben hat -, benötigte man eigentlich schon eine Redezeit von einer halben Stunde.
Aber zunächst lassen Sie mich der Bundesregierung für den Berufsbildungsbericht 1996 danken,

(Günter Rixe [SPD]: Der ist ja auch nicht schlecht!)

der eine umfangreiche Dokumentation darstellt und in den Einzelpunkten Diskussionsmöglichkeiten zur Fortentwicklung des dualen Systems aufzeigt.

(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein)

Mein besonderer Dank gilt auch dem Bundeskanzler, der sich besonders eingesetzt hat.

(Günter Rixe [SPD]: Schon wieder? Beifall bei der CDU/CSU Günter Rixe [SPD]: Er hat nur gebettelt!)

- Meine Herren, das ist nun einmal so.

(Günter Rixe [SPD]: Es ist schon schlimm, wenn man in dieser Gesellschaft um Ausbildungsplätze betteln muß!)

- Lieber Kollege Rixe, von Ihnen kam ja kein Vorschlag. Seit sich der Bundeskanzler eingeschaltet hat, hat sich das Lehrstellenangebot vermehrt, und es sind wieder neue Leute eingestellt worden.
Ich möchte auch dem Bundesminister Rüttgers für seine konstruktive Arbeit und seine Vorschläge danken.

(Beifall bei der CDU/CSU Günter Rixe [SPD]: Noch einer!)

Seit seiner Amtszeit geht es aufwärts.

Karl-Heinz Scherhag
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft - und hier insbesondere das Handwerk - bemüht sich von Jahr zu Jahr, alle Interessenten unterzubringen, was bisher auch fast immer gelungen ist. Allerdings können weder alle regionalen Unterschiede ausgeglichen noch besondere Berufswünsche immer erfüllt werden. Wir müssen mehr Mobilität fordern. Andererseits stoßen einige Berufe wie die Nahrungsmittelhandwerke leider nur auf geringes Interesse auf seiten der Bewerber.
Zur Zeit sind im Handwerk folgende Zahlen aktuell: 17 000 offenen Lehrstellen stehen 5 000 noch nicht vermittelte Bewerber gegenüber. Das sind die Fakten.
Die ständigen Angriffe auf nicht ausbildende, aber auch auf ausbildende Betriebe führen zu Verärgerungen in den Betrieben. Ich denke, daß gerade die Ausbildungsbetriebe sich ihrer großen sozialen Verantwortung bewußt sind, junge Menschen auszubilden. Die immer wieder aufkommende Diskussion um eine Ausbildungsabgabe führt deshalb lediglich zu einer Verunsicherung der Betriebe.

(Beifall des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/ CSU])

Sie bringt keinen Arbeitsplatz mehr. Es verwundert doch sehr, daß aus der Wirtschaft selbst die Forderung nach einem Lastenausgleich kaum erhoben wird.
Meine Damen und Herren von der SPD, lassen Sie endlich die Forderung nach einer Ausbildungsabgabe fallen!

(Günter Rixe [SPD]: Nein, das werden wir nicht tun!)

Von den Betrieben werden nämlich ganz andere Gründe gegen die Bereitstellung eines Ausbildungsplatzes genannt. Erstens. Die zu häufige Abwesenheit der Lehrlinge vom Betrieb durch den mehrtägigen Besuch der Berufsschule verkürzt die Zeit für die praktische, immer anspruchsvollere Ausbildung. Deshalb muß der Wegfall des zweiten Berufsschultages im Vordergrund unserer Bemühungen stehen.

(Horst Kubatschka [SPD]: Also Verschlechterung!)

- Eine Erhöhung der Lehrzeit im Betrieb kann keine Verschlechterung darstellen. -

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Zweitens wird immer wieder die fehlende schulische Qualifikation vieler Bewerber beklagt. Drittens. Die Vorschriften der Berufsgenossenschaften und die dadurch entstehenden Kosten sind ein weiterer Grund für die Nichtbereitstellung von Ausbildungsplätzen. Viertens. Die Notwendigkeit der Länge der überbetrieblichen Lehrgänge muß überprüft werden. Fünftens. Ausbildungsvergütungen sind nicht in allen Bereichen zeitgemäß.
Meine Damen und Herren, ich weiß, wovon ich spreche, denn diese von mir genannten Ausbildungshemmnisse werden mir immer wieder von meinen Kollegen im Handwerk vorgehalten. Ich selbst habe
Hunderte von Lehrlingen ausgebildet und bin täglich in meinem Betrieb. Ich kenne also die Hemmnisse und weiß, welche Probleme sie für die Betriebe darstellen.
Trotz alledem wollen wir weiterhin am bewährten dualen System festhalten. Ich kenne kaum ein Land, das nicht gerne bereit wäre, ein solches Ausbildungssystem zu übernehmen. Aber wir müssen dieses System auch fortentwickeln, um der steigenden Nachfrage nach Lehrstellen auch in Zukunft gerecht zu werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313108000
Herr Kollege Scherhag, Kollege Rixe würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Karl-Heinz Scherhag (CDU):
Rede ID: ID1313108100
Gerne, bitte schön.

Günter Rixe (SPD):
Rede ID: ID1313108200
Herr Scherhag, ich weiß, daß Sie Kfz-Meister sind und einen eigenen Betrieb haben. Sie haben sich eben dafür ausgesprochen, den zweiten Berufsschultag abzuschaffen. Sind Sie mit mir der Meinung, daß wir bei den 480 Stunden bleiben sollten? Wenn ja, sagen Sie mir bitte, wie Sie dies dann organisieren wollen. Oder sind Sie wirklich der Meinung, daß die 480 Stunden zuviel sind, daß sie runtergefahren werden müssen? Ich denke insbesondere an Ihre Kfz-Lehrlinge, die bei der Hochtechnologie - welches Auto sie auch reparieren müssen - sehr viel Kopfwissen benötigen und es nicht so sehr in den Armen haben müssen.

Karl-Heinz Scherhag (CDU):
Rede ID: ID1313108300
Herr Kollege Rixe, wenn ich an die Ausfallzeiten denke, die in der Berufsschule anfallen, dann bin ich in der Tat der Meinung, daß Stunden wegfallen können. Außerdem braucht in der Berufsschule kein Sportunterricht gegeben zu werden.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Das sind alles Dinge, die nicht notwendig sind; es gibt noch viele andere. Das muß gestrafft werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.] Günter Rixe [SPD]: Der Westerwelle hat noch nie gearbeitet und klatscht hier auch noch!)

Die Grundqualifikation, lieber Kollege Rixe, ist leider nicht mehr gegeben. Sie wissen, was von den Hauptschulen in die Betriebe kommt.
Ich betone es noch einmal: Wir müssen das System fortentwickeln, um der steigenden Nachfrage nach Lehrstellen auch in Zukunft gerecht zu werden. Zwangsabgaben haben jedoch noch nie zu mehr Arbeitsplätzen geführt. Dadurch werden nur die Verwaltungen aufgebläht, und die eingenommenen Beträge gehen dann in den Verwaltungen unter.
Es gibt andere und bessere Möglichkeiten, ein größeres Angebot an Ausbildungsstellen zu erreichen. Im Handwerk ist es uns in diesem Jahr wieder gelun-

Karl-Heinz Scherhag
gen, mehr Lehrstellen zur Verfügung zu stellen. Allein in meinem Kammerbezirk haben bis Ende September 4 400 Jugendliche einen neuen Ausbildungsplatz erhalten. Das sind bis jetzt 4 Prozent mehr als im letzten Jahr, und das auf hohem Niveau. .

(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Günter Rixe [SPD])

Aber ich sage Ihnen ehrlich: Bei 16 000 Betrieben ist das eigentlich zuwenig. Hier ist sicherlich noch Potential vorhanden, weitere Lehrstellen zu finden. Wir haben das bei der Kammer durch Briefe an die Betriebe, durch Gespräche mit den Betrieben, durch Hinweise auf Förderprogramme, durch Schulfeste mit dem Berufsbildungszentrum, durch Nachwuchsaktionen in der Öffentlichkeit und den Einsatz von Ausbildungsberatern erreicht.
Wir sollten gemeinsam versuchen, die angesprochenen Ausbildungshemmnisse zu beseitigen, und gleichzeitig an der Entwicklung von neuen, modernen Berufen arbeiten. Dies tun wir im Bereich des Handwerks im Rahmen der Novellierung der Anlagen A und B der Handwerksordnung. Hierbei dürfen die Deregulierer jedoch nicht die Oberhand gewinnen. Bestehende Berufe sollten nicht von Politikern in Frage gestellt werden, sondern der Markt allein sollte entscheiden, welche Angebote und welche Formen von Betrieben noch Bestand haben werden.
Wir brauchen veränderte und neue Berufe in neuen Wachstumsfeldern, zum Beispiel in der Informations- und Kommunikationstechnologie, im Umweltschutz, in der Sicherheitstechnik und in weiteren anderen Feldern. Wir haben als Parlamentarier die große Chance, diese neuen Berufe mitzuschaffen und unserer Jugend neue berufliche Perspektiven aufzuzeigen. Ich lade Sie deshalb ein, auf diesem Gebiet nicht gegeneinander, sondern miteinander zu arbeiten. Unser Leitsatz sollte heißen: Keine Karriere ohne Lehre.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und des Abg. Günter Rixe [SPD])


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313108400
Das Wort hat der Kollege Franz Thönnes.

Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313108500
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Gut zwei Stunden sprechen wir über einen der wichtigsten Investitionsfaktoren in unserer Gesellschaft. Mit 45 Milliarden DM pro Jahr, wenn nicht sogar noch mehr, ist der Sektor der Berufsausbildung einer der zentralen Zukunftssicherungsbereiche.

(Beifall bei der SPD)

Es geht um die Sicherung der Zukunftsperspektiven junger Menschen, um die Festigung unserer sozialen Sicherungssysteme und um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft angesichts einer an Geschwindigkeit zunehmenden Entwicklung der Globalisierung. Die Baseler Prognos
AG hat recht, wenn sie sagt: Der zukünftige Wettbewerb ist nicht mehr nur ein Kosten-, sondern vor allen Dingen ein Know-how-Wettbewerb, in dem die Qualifizierung der Menschen zu einer wesentlichen Basis für den Unternehmenserfolg wird.
Daß wir angesichts dieser Bedeutung Jahr für Jahr in eine Zitterpartie hineingeraten, um ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen sicherzustellen, halte ich schlichtweg für unerträglich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Die Bundesregierung trägt dafür ein gerüttelt Maß an Verantwortung, jedoch auch Teile der Wirtschaft, und zwar diejenigen, die sich dieser Zukunftsaufgabe verweigern. Ich will hier all die davon ausnehmen - Herr Scherhag, Sie haben das bereits gesagt -, die sich im Handwerk, im Handel, in der Industrie und in der Dienstleistung tatkräftig engagieren, ebenso die Tarifpartner - ich denke dabei an die chemische Industrie, die Textilindustrie und den öffentlichen Dienst -, die sich dieses Themas in den Tarifverhandlungen annehmen.
Es bleibt dennoch eine sehr schwierige Situation, die der Kanzler zur Chefsache gemacht hat. Im ersten Entwurf des Entschließungsantrags, der uns seitens der Koalition heute vorlag, war nur vom Kanzler die Rede. Es hieß, daß sich dieser wie kein anderer der Sache angenommen hätte; die Ressortminister spielten keine Rolle. Im laufenden Verfahren wurde uns dann eine zweite Vorlage vorgelegt, in der steht, daß auch die Ressortminister ihren Anteil daran haben. - Ich hatte schon gedacht, der Zukunftsminister spielt bei dieser Debatte keine Rolle; dabei war die Not groß genug. Er hat uns seine Fachkompetenz am 30. September in einer großen Tageszeitung deutlich zum Ausdruck gebracht. Seine tiefe Analyse der Qualitätssicherung in der Berufsausbildung lautet: Was ist dagegen einzuwenden, wenn ein Lehrling die Halle fegt? „Warum soll der Stift auf dem Bau nicht mal für die Kollegen einen Kasten Bier holen dürfen" , so der Minister. Zunächst dachte ich noch, das wäre ein neuer, doppelt qualifizierender Ausbildungsgang zum Gebäudereiniger und Systemgastronomen à la McRüttgers. Es muß wohl etwas anderes gewesen sein; denn der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft, Ernst Wittlich aus Bonn, hat gleich darauf gesagt, der Minister solle sich lieber darum kümmern, daß in den Betrieben anständig ausgebildet wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Ich hatte gedacht, Sie hätten daraus gelernt, Herr Minister, aber gestern bei der BIBB-Fachtagung in Berlin haben Sie noch einen draufgesetzt, als eine Dame kritisch nachgefragt hat, und gesagt: In den meisten Betrieben wird doch Bier geholt. - Es ist wohl lange her, daß Sie in einem Betrieb gewesen sind. Das ist eine Verhöhnung all derjenigen, die sich

Franz Thönnes
um eine anständige Berufsausbildung in den Betrieben kümmern.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Mit dieser Politik wird man den Qualitätsanforderungen auf gar keinen Fall gerecht. Sie sollten, statt solche Bemerkungen zu machen, lieber endlich einmal - das haben Sie in den zwei Jahren Ihrer Amtszeit noch nicht gemacht - in das Parlament der Berufsausbildung, zum Hauptausschuß beim Bundesinstitut für Berufsbildung, gehen und mit ihm über diese Qualitätsfragen diskutieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Hören Sie auch endlich mit den kontraproduktiven Vorschlägen auf, die zwei Berufsschultage müßten abgeschafft werden! Die Wirtschaft hat sich längst auf etwas anderes verständigt. In Schleswig-Holstein sind sich die Beteiligten - Handelskammer, Landwirtschaftskammer und die Ministerien - einig, daß man die 480 Stunden flexibel regelt. Auch in Niedersachsen ist das der Fall. Schauen Sie in die Stellungnahme, die die Mehrheit im Hauptausschuß zum Berufsbildungsbericht geschrieben hat! DGB und BDA haben sich mit ihren Vorschlägen zur Verbesserung der Berufsschule als der zweiten Säule im System der dualen Berufsausbildung vom 9. Februar das Ziel einer breiten und qualitativ hochwertigen Berufsausbildung gesetzt. Auch die Kultusministerkonferenz ist für die 480 Stunden. Es ist eine gemeinsame Verabredung. Hören Sie auf, Unsicherheit zu schüren, indem Sie sagen, diese zwei Tage sollen weg!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Im übrigen befinden Sie sich damit auch im Widerspruch zum Vertreter des Bundeskanzleramtes, Herrn Dr. Luther, der noch in der letzten Woche im Bund-Länder-Ausschuß für Berufsbildung aus den Gesprächen zwischen dem Kanzler und der Wirtschaft berichtet und deutlich gesagt hat, alle sind sich einig, daß der Berufsschulunterricht nicht weniger als 480 Stunden umfassen soll.
Hören Sie auch endlich auf, so zu tun, als sei ein Leistungsausgleich Teufelszeug!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Ich will Ihnen dazu einmal etwas aus dem Arbeitsbereich Ihres Kollegen Seehofer zur Begründung für einen Leistungsausgleich unter den Krankenhäusern, die ausbilden, vorlesen. In der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 17 Abs. 4 a des Krankenhausfinanzierungsgesetzes heißt es:
Um eine gerechte Verteilung der durch die Ausbildungsstätten entstehenden Belastungen zu erreichen, werden die Länder ermächtigt, zwischen den Krankenhäusern mit und ohne Ausbildungsstätten einen Belastungsausgleich herbeizuführen.
Das kommt von einem CSU-Bundesminister!
Die Dithmarschener CDU stellt zum Landesparteitag der CDU in Schleswig-Holstein den Antrag, dies nun auch endlich umzusetzen. Die Vollversammlung der Kreishandwerkerschaft in Paderborn beschließt am 15. Juni 1996 einen Finanzierungsausgleich, weil es nicht länger hinnehmbar ist, daß sich einige drükken und die anderen die Berufsausbildung finanzieren.

(Beifall bei der SPD)

Das gleiche beschließt die Ärztekammer in Schleswig-Holstein, um einen solidarischen Ausgleich zwischen denen herzustellen, die ausbilden, und denen, die nicht ausbilden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313108600
Herr Kollege Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?

Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313108700
Ja.

Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1313108800
Kollege Thönnes, können Sie mir sagen, wie speziell in den neuen Bundesländern dieser Ausgleich funktionieren soll, wenn es die großen Betriebe gar nicht gibt, und wie Sie dieses Geld, wenn es denn einen solchen Ausgleich gäbe, in der gesamten Bundesrepublik so verteilen wollen, daß es genau an die Stelle kommt, wo dann Lehrstellen gebraucht werden? Wie kann dies funktionieren, wenn die Wirtschaft in den neuen Bundesländern als Spender dafür vorerst gar nicht in Frage kommt?

Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313108900
Herr Jork, hier stellt sich die prinzipielle Frage, welches Selbstverständnis man von Solidarität und von einem solidarischen Finanzierungsausgleich hat. Das heißt nämlich, daß diejenigen, die etwas breitere Schultern haben, für diejenigen etwas tun, die etwas schmalere Schultern haben. Wir sind schon der Auffassung, daß das unbürokratisch und in Verantwortung der Wirtschaft und derjenigen, die an der Berufsausbildung beteiligt sind, geschehen soll. Dies umfaßt Arbeitgeber, Gewerkschaften, öffentliche Hand in der Selbstverwaltung der Arbeitsverwaltung. Ich finde Ihre Frage hochspannend, weil sie mir zeigt, daß Sie sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandersetzen; Sie sind im Prinzip damit auch gegen eine Umlage, wie wir sie gegenwärtig über die Steuerzahler haben. Das ist doch im Moment die Realität. Die Wirtschaft ist hier verantwortlich. Sie sind für eine solche Diskussion offen. Das zeigt mir, wir haben eine Chance, darüber gemeinsam im Ausschuß zu debattieren.

(Beifall bei der SPD und der PDS)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313109000
Eine weitere Frage des Kollegen Jork.

Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1313109100
Ich darf bitte nachfragen: Meinen Sie, es wäre eine Lösung, daß Großbetriebe aus den alten Bundesländern über ei-

Dr.-Ing. Rainer Jork
nen Topf - gleich, wie er organisiert ist - eine Umlage an die neuen Bundesländer zahlen?

(Zuruf von der SPD: Wenn sie nicht ausbilden, ja!)


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313109200
Herr Jork, ich bin an dieser Stelle für jeden konstruktiven Vorschlag offen. Ich will das gar nicht auf die Großbetriebe reduzieren, sondern auf diejenigen angewandt wissen, die sich bei dieser Zukunftsaufgabe davonstehlen. Um die geht es, nicht um die, die ihren Beitrag dazu in ausreichendem Umfang leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Der Bundesminister hat zu einem Dialog eingeladen. Dazu sind wir gerne bereit. Wir erkennen bei Ihnen ja auch Fortschritte. Sie haben davon gesprochen, daß es für beruflich besonders Qualifizierte nach Abschluß der Berufsausbildung doch auch möglich sein müsse, ein Hochschulstudium aufzunehmen - hervorragend! Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 19. Februar 1992 im Bundestag einen Gesetzentwurf auf Drucksache 12/2125 - noch einmal zum Nachlesen - eingebracht. Dabei ging es um die entsprechende Einfügung eines Absatzes 2 a in § 27 des Hochschulrahmengesetzes. Was war das Ergebnis? - Dies wurde von der Mehrheit hier im Hause abgelehnt. Es kann ja sein, daß Sie nun etwas klüger geworden sind. Wir wollen dann gerne in einen Dialog mit Ihnen eintreten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht an dieser Stelle darum, daß wir - gemeinsam mit allen Beteiligten - für Entwicklungen der auf uns zukommenden Veränderungen in der Berufsausbildung offen sind. Das heißt auch, Herr Minister, wir könnten einmal darüber diskutieren, ob nicht ständige Kommissionen der Sozialpartner sich darüber Gedanken machen sollten, was sich in der Welt des Berufsalltages verändert. Das könnten sie dann als Empfehlung für die Berufsausbildung aussprechen. Wir müssen nur aufpassen, etwa bei der Reduzierung auf ein Jahr, daß die Kompatibilität mit der anschließenden Prüfung gegeben ist. Wir können keine Turbobeschleunigung durchsetzen, ohne die Prüfung am Ende zu berücksichtigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313109300
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.

Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313109400
Ich möchte den Vorschlag des Herrn Ministers aufgreifen, in dem er unsere Auffassung bestätigt hat, daß es in der Bundesrepublik Deutschland an der Zeit ist, eine Expertenkommission einzusetzen, die, wie es der Bundesgeschäftsführer der SPD, Herr Müntefering, vorgeschlagen hat, über die grundlegende Modifizierung der Berufsausbildung für die Zukunft spricht -

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313109500
Herr Kollege!

Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313109600
- und aus Vertretern des Bundestages, des Bundesrates, der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer besteht.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313109700
Herr Kollege, Sie sind wirklich ganz weit über Ihre Redezeit.

Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1313109800
Letzter Satz. - Der Herr Minister hat gestern gesagt: „Es muß sich etwas ändern, damit es so bleibt, wie es ist." Wir wollen, daß sich etwas ändert, daß alle Auszubildenden ein auswahlfähiges Angebot bekommen. Wenn das mit dieser Regierung nicht möglich ist, muß sich eben die Regierung ändern.

(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313109900
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/4555 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS auf Drucksachen 13/5835, 13/ 5817 und 13/5802 sollen an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Poß, Ingrid Matthäus-Maier, Ludwig Eich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 in Kraft setzen
- Drucksache 13/5510 —
Überweisungsvorschlag:

Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1313110000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Anfang gleich ein klares Wort zur aktuellen Debatte um eine Mineralölsteuererhöhung: Man kann nicht auf der einen Seite die Vermögensteuer auch für Vermögensmillionäre abschaffen und

Joachim Poß
gleichzeitig bei den Autofahrern abkassieren. Das macht die SPD nicht mit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nun zum Thema: Die SPD fordert, daß die Einkommensteuerreform schon zum 1. Januar 1998 in Kraft tritt. Ich möchte hierfür drei Gründe nennen:
Erstens. Die Bürger haben die Nase von den Auswüchsen der Steuerpolitik dieser Bundesregierung gestrichen voll.

(Beifall bei der SPD)

Für Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Einkommen ist die Steuer- und Abgabenbelastung im vergangenen Jahr mit 46,1 Prozent auf eine Rekordhöhe in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gestiegen. Gleichzeitig müssen diese Bürger in den Zeitungen lesen, daß Einkommensmillionäre immer häufiger keine Einkommensteuer und auch keinen Solidaritätszuschlag zahlen.
Der Durchschnittsverdiener hat von der Abschaffung der Vermögensteuer nichts; er hat auch nichts von einem Wegfall der Gewerbekapitalsteuer. Aber er hat etwas davon, wenn das Kindergeld und der Grundfreibetrag 1997 so erhöht werden, wie wir das im letzten Jahr beschlossen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Während die Unternehmen über eine angeblich zu hohe Steuerlast immer lauter jammern, sind die Unternehmensteuern im Verhältnis zum Steueraufkommen insgesamt in den letzten Jahren ständig gesunken; die Körperschaftsteuer erreichte im vergangenen Jahr nicht einmal mehr das Aufkommen der Tabaksteuer. Der Anteil der Lohnsteuer an den gesamten Steuereinnahmen ist dagegen 1995 auf 34,7 Prozent angestiegen. Auch dies ist eine neue Rekordhöhe in der Geschichte der Bundesrepublik. Während die Medien ständig über neue Fälle von Steuerhinterziehung und Steuerflucht berichten, werden die Sozialleistungen knallhart zusammengestrichen.
Mit den schlimmen Fehlentwicklungen in der Steuerpolitik muß endlich Schluß sein.

(Beifall bei der SPD)

Das Einkommensteuerrecht war noch nie so ungerecht wie heute; es war auch noch nie so kompliziert wie heute, Herr Minister. Der Dschungel an Steuervorschriften hat die Einkommensbesteuerung undurchschaubar und selbst für die Finanzverwaltung kaum noch anwendbar gemacht.
Unsere Gesellschaft ist inzwischen in zwei Gruppen von Steuerzahlern gespalten: Die einen zahlen treu und brav ihre Steuern auf das sauer verdiente Geld und fühlen sich dabei als die Dummen; die anderen verwenden einen Großteil ihrer Energie darauf, immer neue Wege zu finden, um zu Lasten der Allgemeinheit die eigene Steuerschuld zu minimieren. - Ein ungerechtes Steuersystem beschwört zusammen mit der von Ihnen betriebenen Demontage
des Sozialstaates massive gesellschaftspolitische Konflikte herauf. Deshalb besteht jetzt akuter politischer Handlungsbedarf.

(Beifall bei der SPD)

Der Sprung aus dem Steuerchaos muß jetzt vollzogen werden. Steuerrecht muß nämlich auch zum sozialen Frieden beitragen. Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik; Steuerrecht ist Gerechtigkeitsrecht.
Wir sind aus einem zweiten Grund dafür, daß die Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 in Kraft tritt: Wird die Steuerreform erst 1999 oder noch später in Kraft gesetzt, dann kann der Bürger erst nach der Bundestagswahl 1998 in seinem Portemonnaie feststellen, was ihm die Steuerreform unter dem Strich in Mark und Pfennig gebracht hat. Genau das will die Bundesregierung. Wir wollen dagegen mit offenen Karten spielen. Die Bürger sollen schon vor der Wahl die tatsächlichen Auswirkungen der Steuerreform spüren und nicht nur die gesetzlichen Vorschriften kennen. Es geht auch nicht - wie die F.D.P. jetzt vorschlägt, um aus diesem Spagat herauszukommen -, in zwei Schritten voranzugehen, nach dem Motto: Entlastung vor der Wahl, Gegenfinanzierung nach der Wahl.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So machen die das immer!)

Meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, Sie sollten unserem Antrag, die Steuerreform zum 1. Januar 1998 in Kraft zu setzen, zustimmen. Gerade in der Steuerpolitik haben Sie das Vertrauen der Bürger restlos verspielt.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])

Niemand hat die großangelegte Steuerlüge im Zusammenhang mit der Bundestagswahl 1990 vergessen. Vor der Wahl haben Sie versprochen, die Steuern nicht zu erhöhen; nach der Wahl haben Sie die größte Steuererhöhung aller Zeiten beschlossen. Seitdem ist es nicht besser geworden - im Gegenteil! Jetzt wollen Sie sogar beim Kindergeld und beim Grundfreibetrag bereits beschlossene Gesetze wieder „kassieren". Es ist kein Wunder, daß die Bürger Ihnen in der Steuerpolitik nicht glauben.

(Beifall bei der SPD Ingrid MatthäusMaier [SPD]: Auch sonst nicht! Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Sozialpolitik auch nicht!)

- Ich spreche jetzt über die Steuerpolitik.
Es gibt noch einen dritten Grund, die Einkommen, steuerreform schon Anfang 1998 in Kraft zu setzen: Die SPD hat am 2. September ihre Eckpunkte für eine grundlegende Einkommensteuerreform beschlossen. Die CDU wird in der kommenden Woche ihre Eckpunkte beschließen. Außerdem gibt es inzwischen eine ganze Reihe diskutabler Vorschläge aus der Wissenschaft. Über viele Punkte der Einkommensteuerreform, Herr Minister, könnten wir uns

Joachim Poß
rasch verständigen. Ich behaupte: Wenn wir die F.D.P. dabei außen vor ließen, hätten wir auch Erfolg.

(Beifall bei der SPD Widerspruch bei der F.D.P.)

Wird die Arbeit zügig fortgesetzt, kann ein Gesetzentwurf so rechtzeitig vorgelegt werden, daß die Beratungen bis zur Sommerpause 1997 abgeschlossen sind. Bis zum 1. Januar 1998 bliebe dann den Bürgern und der Wirtschaft hinreichend Zeit, sich auf das neue Steuerrecht einzustellen. Wer die Einkommensteuerreform um ein weiteres Jahr hinausschieben will, riskiert, daß die Reform zerredet und damit das gesamte Projekt gefährdet wird.
Im übrigen geht es bei dem Antrag, den wir eingebracht haben, nicht darum - wie gelegentlich zu hören war -, die F.D.P. vorzuführen. Das ist gar nicht nötig. Die F.D.P. führt sich immer wieder ganz alleine vor.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden das in der heutigen Debatte erleben und vermutlich in der anschließenden Abstimmung über unseren Antrag ebenfalls feststellen. Die F.D.P. ist eine reine Ankündigungs- und Umfallerpartei. Das war sie, das ist sie, und das wird sie auch bleiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die SPD will durch eine grundlegende Reform der Einkommensbesteuerung erreichen, daß das Steuerrecht wieder einfacher und gerechter wird und die Steuersätze spürbar gesenkt werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Donnerwetter!)

Dreh- und Angelpunkt ist für uns dabei der konsequente Abbau steuerlicher Vergünstigungen und Sonderregelungen. Ich sehe vor allem zwei große Komplexe, an die wir herangehen müssen: Zum einen an die nicht erfaßten, steuerbefreiten oder steuerbegünstigten Einkünfte. - Zu diesem Komplex hat die Bareis-Kommission viele konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Wir haben hier eine gute Diskussionsgrundlage. - Zum anderen müssen wir die steuerlichen Gewinnermittlungsvorschriften durchforsten. Die Bildung von stillen Reserven soll möglich bleiben; das Ausmaß aber muß beschränkt werden, damit auch Unternehmen - wie die Arbeitnehmer - nach ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden. Kollege Schleußer hat hierzu eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen vorgeschlagen.
Die von uns ins Auge gefaßten Maßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei der Einkommensteuer ermöglichen summa summarum jährliche Steuereinnahmen in einer Größenordnung von zirka 50 Milliarden DM. Dieses Finanzvolumen soll über Steuersenkungen zurückgegeben werden.
Der von der SPD vorgesehene Einkommensteuertarif umfaßt vier Reformelemente:
Erstens. Der Grundfreibetrag soll auf 14 000 DM für Ledige bzw. 28 000 DM für Verheiratete angehoben werden. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Steuerfreistellung des Existenzminimums muß dauerhaft gewährleistet sein. In dem vom CDUParteivorstand für den Parteitag beschlossenen Leitantrag zur Reform der Einkommensteuer wird zur künftigen Höhe des Grundfreibetrags nichts gesagt - im Gegensatz zu umfänglichen Ausführungen zur Senkung des Spitzensteuersatzes.
Zweitens. Wir wollen den Eingangssteuersatz deutlich senken, und zwar auf 19,5 Prozent. Dadurch werden alle Steuerzahler entlastet.
Drittens. Der Einkommensteuertarif soll wieder - wie bis Ende 1995 - durchgehend linear-progressiv verlaufen. Dadurch wird gewährleistet, daß im Progressionsbereich die Grenzsteuersätze gleichmäßig ansteigen. Problematische Tarifsprünge werden so vermieden. Das war jahrelang auch das erklärte Ziel der Unionsparteien.
Die von der F.D.P. vorgeschlagenen und auch innerhalb der CDU diskutierten Stufentarife lehnen wir ab. Diese Stufentarife verletzen die Grundsätze gerechter Steuerlastverteilung, weil sie das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit mißachten. Mit solchen Tarifvorschlägen wird unser Steuerrecht noch ungerechter, als es schon heute ist.

(Beifall bei der SPD)

Viertens. Der Spitzensteuersatz soll spürbar gesenkt werden. Das Ausmaß hängt von dem Umfang der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ab. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Nur so kann eine Einkommensteuerreform solide finanziert werden. CDU und F.D.P. betreiben dagegen einen unseriösen Wettlauf um den niedrigsten Spitzensteuersatz. Sie wollen mit leichtfertigen Ankündigungen völlig überzogene Erwartungen wecken, die nicht eingehalten werden können - bzw. nur um den Preis immer neuer Schulden und einer deutlich höheren Mehrwertsteuer nach dem altbekannten Motto dieser Bundesregierung: Viele zahlen die Steuergeschenke für wenige.
Meine Damen und Herren, in dieser Woche sind ganz zentrale steuerpolitische Fragen diskutiert und vorgeklärt worden. In diesem Zusammenhang haben Sie - wie immer - der SPD eine Blockadehaltung bei der Gewerbekapitalsteuer vorgeworfen.

(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Stimmt!)

Dazu stelle ich fest: Die kommunalen Spitzenverbände haben im Finanzausschuß die Gewerbesteuerpläne der Bundesregierung übereinstimmend abgelehnt, weil ihre Bedingungen nicht erfüllt worden sind. Das können Sie uns nicht vorwerfen.
Sie haben mit den Gemeinden keine Einigung erreicht. Auch die Länder sind dagegen. Die Länder haben einstimmig, das heißt 16:0 festgestellt: Der von Ihnen im letzten Jahr vorgelegte Verteilungsschlüssel für den kommunalen Umsatzsteueranteil funktioniert nicht, er ist nicht anwendbar. Stellen Sie sich einmal vor, was passiert wäre, wenn wir im letz-

Joachim Poß
ten Jahr hier im Bundestag Ihren Gewerbesteuerplänen zugestimmt hätten.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dann wäre der Teufel los gewesen!)

Die Gewerbekapitalsteuer wäre abgeschafft worden, aber es hätte keinen funktionierenden Verteilungsschlüssel gegeben. Die Gemeinden sind uns, der SPD, zu Recht dankbar, daß wir im letzten Jahr die Pläne der Bundesregierung abgelehnt haben.

(Beifall bei der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313110100
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele? - Bitte.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1313110200
Herr Kollege Poß, Sie waren in der letzten Woche im Finanzausschuß anwesend. Stimmen Sie mir zu, daß dort von den kommunalen Spitzenverbänden, insbesondere von Herrn Wimmer, gefordert wurde, daß die Kommunen so schnell wie möglich an der Umsatzsteuer beteiligt werden, daß dies das Ziel der Kommunen ist und daß alle zusammenarbeiten sollten, damit dieses Ziel erreicht werden kann?

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber mit drei Prozentpunkten! Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Warum nur drei?)


Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1313110300
Laut der „FAZ" hat Herr Wimmer heute erklärt, daß er nicht verstünde, warum die Koalitionsabgeordneten im Bundestag dieses Spiel mitmachten, solche Fragen ohne beratungsfähige Unterlagen zu beraten, und daß er Herrn Heinrichs vom Städte- und Gemeindebund zustimme, was die Nichterfüllung der Bedingungen durch die Bundesregierung angehe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Detlev von Larcher [SPD]: Das hat er da auch gesagt!)

Im übrigen, Herr Kollege Thiele, müssen Sie als F.D.P. hier und heute erst einmal klarstellen, daß die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer für Sie die Abschaffung der gesamten Gewerbesteuer, also den Einstieg in den Ausstieg bedeutet, daß Sie damit den Kommunen jegliche Finanzperspektiven nehmen und damit entscheidend die Lebensqualität vor Ort beeinträchtigen. Das müssen Sie klarstellen, nicht wir.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313110400
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Thiele? - Bitte.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1313110500
Meine Frage, die Sie, Herr Poß, nicht beantwortet haben, lautete: Sind die
Kommunen für eine Beteiligung an der Umsatzsteuer, und stützt die SPD dieses Anliegen?

(Beifall bei der F.D.P. Detlev von Larcher [SPD]: Es ist nicht zu glauben!)


Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1313110600
Erstens haben Sie, Herr Thiele, als Ausschußvorsitzender nicht dafür gesorgt, daß die Bundesregierung beratungsfähige Unterlagen vorgelegt hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eiern Sie doch nicht rum!)

Zweitens haben die kommunalen Spitzenverbände übereinstimmend erklärt, daß sie sich dann mit einer Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer anfreunden könnten, wenn die Gewerbesteuer im Grundgesetz abgesichert werde, wenn der Verteilungsschlüssel klar sei, wenn der Anteil der Umsatzsteuer an dem Gesamtaufkommen klar sei, der den Kommunen zustehen solle. Zu all diesen Punkten sind die Bundesregierung und die Koalition bisher jede klare Auskunft schuldig geblieben. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313110700
Herr Kollege Poß, der Kollege Thiele würde den Dialog gern fortsetzen. Das ist zwar keine Fragestunde, aber solange Sie das zulassen, kann er fragen. - Bitte.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1313110800
Ich möchte nur meine Frage wiederholen, weil sie nach wie vor unbeantwortet ist: Ist die SPD für eine Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer?

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1313110900
Die SPD hat einen Parteitagsbeschluß gefaßt. Das wissen Sie, Herr Thiele. Trotz Ihrer krampfhaften Versuche, die Öffentlichkeit zu täuschen - diese erfolgen nicht zum erstenmal, darin sind Sie besonders stark -, werden Sie davon nicht ablenken können.

(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Jetzt komm endlich mit der Antwort rüber!)

Die SPD hat klar geäußert, daß sie sich dann mit einer solchen Maßnahme einverstanden erklären könne, wenn die Bedingungen erfüllt seien, die auch die kommunalen Spitzenverbände und die Länder genannt hätten. Diese Bedingungen haben Sie bis zum heutigen Tag nicht erfüllt. Dies ist die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS Otto Schily [SPD]: Da sehen sie alt aus, Herr Thiele! Zurufe von der CDU/CSU)

Dann sagen Sie, die Anhebung des Kindergeldes 1997 koste den Staat 3,8 Milliarden DM mehr, dies müsse gegenfinanziert werden. Sie wollen die Mineralölsteuer um 10 bis 15 Pfennig pro Liter anheben, liest man. Nein, meine Damen und Herren, wir haben hier im letzten Jahr die Gegenfinanzierung in vollem Umfange beschlossen. Wir haben die Gegenfinanzierung sogar so beschlossen, wie Sie das woll-

Joachim Poß
ten. Wir von der SPD wollten noch mehr Vergünstigungen abbauen. Sie haben sich doch verweigert. Sie haben sich doch mit der Schlagzeile in die Brust geworfen: Ein weiterer Abbau von Steuervergünstigungen konnte verhindert werden. Jetzt wollen Sie die Öffentlichkeit täuschen und von Ihrem Fehler ablenken. Sie verdrehen die Tatsachen.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD-regierten Länder hatten eine 15-Milliarden-Liste vorgelegt, um Steuervergünstigungen abzubauen. Sie haben diese Liste blockiert. Insbesondere die F.D.P. hat sich total verweigert. Intern blokkiert die F.D.P., in der Öffentlichkeit fordert sie lauthals den Abbau von Steuervergünstigungen. Meine Damen und Herren, das kann man schon fast heimtückisch nennen.

(Uwe Lühr [F.D.P.]: Sie reden Stuß!)

Wenn Sie jetzt der Meinung sind, es war ein Fehler, unser Angebot im letzten Jahr nicht anzunehmen, dann sage ich Ihnen: Gut, mit uns können Sie jederzeit über einen Abbau steuerlicher Vergünstigungen reden. Wir können das sofort oder auch im Rahmen der Einkommensteuerreform tun.
Dann sagen Sie, der Wegfall der Vermögensteuer koste 9 Milliarden DM, die Länder müßten für eine Gegenfinanzierung sorgen. Das ist absurd. Wir wollen die Vermögensteuer beibehalten. Sie wollen die Vermögensteuer abschaffen. Sie reißen in die Länderkassen ein Loch von 9 Milliarden DM. Sie müssen für Kompensation sorgen, nicht wir.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Haben Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gelesen?)

Es wird Ihnen nicht gelingen, uns diese Steuererhöhung in die Schuhe zu schieben.
Ihnen, Herr Gerhardt, empfehle ich in der Tat die Lektüre des Urteils des Bundesverfassungsgerichts,

(Detlev von Larcher [SPD]: Das versteht er doch gar nicht!)

wenn Sie in der Lage sein sollten, den Regelungsinhalt auch nur annähernd zu verstehen.
Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Solow hat die Politik dieser Bundesregierung nach der Wiedervereinigung wie folgt beurteilt:
Die Fehler, die die deutsche Politik nach der Einheit gemacht hat, haben ganz Europa ökonomisch geschadet.
Ein dritter Punkt. Sie behaupten, die SPD gefährde mit der Kindergelderhöhung die Teilnahme Deutschlands an der Europäischen Währungsunion.

(Heiterkeit bei der SPD) Das ist perfide und absurd.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Wer selbst eine vollständige Abschaffung der Vermögensteuer von 9 Milliarden DM betreibt, wer selbst eine höhere Verschuldung von 20 bis 30 Milliarden DM bei der Einkommensteuerreform fordert - oder wie Herr Gerhardt in diesem Sommer 100 Milliarden DM -, wer selbst bis zum Jahr 2000 die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlages wie der Bundeskanzler verspricht - das sind über 25 Milliarden DM -, wer dies alles fordert, der gefährdet Maastricht. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir Sozialdemokraten wollen bei der Einkommensteuerreform den schwierigen, aber einzig soliden Weg gehen: Die Senkung der Steuersätze muß durch den konsequenten Abbau von steuerlichen Vergünstigungen und Sonderregelungen „verdient" werden.
Bundesfinanzminister Waigel hat auf dem CDUZukunftsforum am 30. September beteuert, auch für ihn habe der Abbau von Steuervergünstigungen zur Finanzierung der Steuersenkungen absolute Priorität. Dabei hat er auch etwas zu den Gewinnern und Verlierern der Einkommensteuerreform gesagt - ich zitiere -:
Draufzahlen werden jene, die legale Ausnahmebestimmungen genutzt haben oder sich zu Lasten anderer an der Steuer vorbeigemogelt haben.
Wir werden den von Bundesfinanzminister Waigel vorzulegenden Gesetzentwurf für eine Einkommensteuerreform an dieser Aussage messen. Wenn Sie den Spitzensteuersatz auf 35 Prozent senken wollen, müssen Sie auch sagen, wie Sie das finanzieren wollen. Sie müssen klipp und klar sagen, wie Sie sicherstellen wollen, daß gleichzeitig diejenigen wirklich draufzahlen, die legale Ausnahmetatbestände heute nutzen oder sich an der Steuer vorbeimogeln.
In dem Redetext von Herrn Waigel steht unter dem Kapitel „Den Durchbruch schaffen":
Alles muß weg, was die Steuerbasis aushöhlt und den Steuerehrlichen zum Steuerdummen macht.
Presseberichten ist zu entnehmen, Herr Waigel habe diesen Satz auf dem CDU-Forum nicht gesagt. Das ist schade; denn dieser Satz ist ja richtig.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Es gilt das geschriebene und das gesprochene Wort!)

Vielleicht hat der Minister diesen Satz nicht gesagt, weil er in prägnanter Weise seine eigene, verfehlte Steuerpolitik beschreibt. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Sie haben dieses Steuerchaos selber angerichtet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu paßt auch die Mehrwertsteuerdiskussion, die Herr Kohl angezettelt hat

(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Herr Dreßler war das!)


Joachim Poß
und die das Steuerrecht nicht einfacher und nicht gerechter macht. Dadurch wird keine einzige Steuervergünstigung abgeschafft und kein einziges Schlupfloch geschlossen.
Wer leichtfertig Nettoentlastungen von 20, 30 oder mehr Milliarden DM in die Welt setzt, der setzt mehr aufs Spiel als nur das Scheitern der Einkommensteuerreform. Eine Nettoentlastung ist nach unserem Konzept möglich, nämlich eine Nettoentlastung für die große Mehrheit der Arbeitnehmer. Der Durchschnittsverdiener wird von der Senkung der Steuersätze mehr profitieren, als er durch den Abbau von Steuervergünstigungen verliert.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313111000
Herr Kollege, Ihre Redezeit.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1313111100
Die Bürger sollen vor der Bundestagswahl Klarheit über die Einkommensteuerreform haben. Deshalb muß die Einkommensteuerreform am 1. Januar 1998 in Kraft treten. Das ist ein Akt der Glaubwürdigkeit. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313111200
Herr Kollege Hans-Peter Repnik, Sie haben das Wort.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313111300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über einen Antrag der SPD-Fraktion, über den es - gerade auch nach den Ausführungen des Kollegen Poß - eigentlich nur soviel zu sagen gibt: Er ist unausgegoren, er ist unrealistisch und unsolide und wird deshalb von uns abgelehnt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir nehmen interessiert Kenntnis davon, daß die SPD zwischenzeitlich auch die Reform der Einkommensteuer entdeckt hat.

(Lachen bei der SPD Detlev von Larcher [SPD]: „Zwischenzeitlich", das ist ja lachhaft!)

Doch eine grundlegende Reform der Einkommensteuer mit den Zielen einer deutlichen Nettoentlastung der Steuerpflichtigen, einer deutlichen Absenkung des Einkommensteuertarifs über seine ganze Breite, sowohl der Spitze als auch des Eingangssteuersatzes, einer drastischen Vereinfachung des Steuerrechts durch Abschaffung von Steuervergünstigungen und Sonderregelungen läßt sich nicht übers Knie brechen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313111400
Herr Kollege Repnik, der Kollege Schily würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313111500
Bitte sehr.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1313111600
Herr Kollege Repnik, weil Sie Realismus anmahnen: Können Sie bestätigen, daß die Koalition offenbar kurz vor dem Offenbarungseid steht, wie ich der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" entnehme?

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313111700
Das kann und will ich nicht bestätigen, weil es nicht den Tatsachen entspricht. Aber ich komme in anderem Zusammenhang in meinen Ausführungen noch einmal auf die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" zu sprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, der sich mit dem Steuerrecht, mit den Steuergesetzen und mit dem Ablauf eines steuerrechtlichen Gesetzgebungsverfahrens auseinandersetzt, wird wissen, daß wir Zeit und Ruhe brauchen. Eine so große Steuerreform, wie wir sie zum 1. Januar 1999 in Kraft setzen wollen, muß vernünftig und muß solide konzipiert sein. Dazu bedarf es der Vorarbeiten. Fehler können wir uns nicht erlauben, wenn wir das Reformwerk insgesamt nicht gefährden wollen.
Wir machen schließlich keine Planspiele am Reißbrett. Es geht uns um nicht weniger als um die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland, um die Stärkung der Investitionsbereitschaft der Unternehmen und damit um die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze und um die Entlastung der Arbeitnehmer.
Das Thema ist zu ernst, als daß wir es mit billigen steuerpolitischen Sprüchen oder mit populistischer Polemik, wie wir sie soeben vom Kollegen Poß gehört haben, abhandeln könnten.

(Joachim Poß [SPD]: Gut, daß Sie nichts davon verstehen, Herr Repnik!)

Wir wollen ein tragfähiges Konzept erarbeiten, das die Chance erhöht, die Wirtschaft zu beleben, Arbeitslose wieder in Lohn und Brot zu bringen. Dies ist unser Ziel.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Teilkonzepte, wie sie die SPD bislang präsentiert hat und wie sie der Kollege Poß heute wieder angesprochen hat, genügen uns da nicht.
Herr Kollege Poß, Sie wollen auf eine aufkommensneutrale Reform der Einkommensteuer hinaus; heute haben Sie gesagt, Sie möchten eine Nettoentlastung der Arbeitnehmer. Was gilt jetzt? Angesichts der derzeit hohen Steuerlast ist gerade dieses Ansinnen, nämlich eine Aufkommensneutralität, in meinen Augen unverständlich. Sie würden ganz klar das Ziel verfehlen, nämlich die Wirtschaft zu entlasten, neue Arbeitsplätze zu sichern. Deshalb müssen wir auch auf eine Nettoentlastung hinaus.
Aussagen zur Höhe des angestrebten Spitzensteuersatzes treffen Sie nicht. Für die SPD ist ganz eindeutig der Spitzensteuersatz keine Zielgröße, sondern nur eine Restgröße. „Ungenügend" kann ich da nur sagen angesichts der Tatsache, daß gerade die im internationalen Vergleich hohen Steuersätze Investitionen in Deutschland entgegenstehen. Reden Sie doch einmal mit bisherigen oder potentiellen auslän-

Hans-Peter Repnik
dischen Investoren und fragen Sie, weshalb sie den Standort Deutschland in den letzten Jahren meiden, weshalb sie sich überlegen, an andere Standorte zu gehen! Dies ist nicht zuletzt oder zuerst eine Frage der hohen Spitzensteuersätze.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer zahlt die denn?)

Deshalb sind Sie uns eine Antwort auf den Hinweis auf die Senkung des Spitzensteuersatzes schuldig geblieben.

(Beifall der Abg. Gerda Hasselfeldt [CDU/ CSU])

Auf die Folgewirkungen einer Einkommensteuerreform auf die Körperschaftsteuer gehen Sie in Ihrem Papier überhaupt nicht ein. Ich kann nur sagen, es ist handwerklich unsauber. Den wirtschaftlichen Herausforderungen werden Sie damit in keiner einzigen Aussage gerecht.
Herr Kollege Poß, Sie haben das Thema der Vermögensteuer heute vormittag noch einmal angesprochen. Ich würde Sie schon gerne daran erinnern, daß wir bei diesem Thema nicht völlig frei sind. Erstens wollen wir die Abschaffung der Vermögensteuer, weil wir wissen, daß sie eine substanzbelastende Steuer ist und daß sie damit den Handlungsspielraum für die Unternehmer, für Investitionen erheblich beeinträchtigt. Zweitens gibt es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie können doch nicht an dieses Pult treten und den Eindruck erwecken, als ob die Vermögensteuer in ihrer jetzigen Form auch in die Zukunft hinein wirken könnte.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat doch keiner gesagt!)

Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig erklärt, daß zum Jahresende die Erhebung der Vermögensteuer nicht mehr möglich ist.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In dieser Form! Dr. Barbara Hendricks [SPD]: In der jetzigen Form! Zitieren Sie doch richtig! Ludwig Eich [SPD]: Sie argumentieren unsolide!)

Auch deshalb sind wir der Meinung, wir sollten sie auslaufen lassen.

(Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Lassen Sie mich bitte den Gedanken zu Ende führen.
Ich finde es nicht korrekt, wenn Sie sich überall dort, wo wir in den vergangenen zwei Jahren versucht haben, Sparpotentiale zu erarbeiten, durch steuerliche Maßnahmen im Jahressteuergesetz 1996 und 1997 die Wirtschaft zu entlasten, Freiräume für Investitionen und Arbeitsplätze zu schaffen, verweigert haben. Sie haben sich beim Jahressteuergesetz 1996 und 1997 verweigert.

(Rudolf Scharping [SPD]: Was?)

Sie haben im Bundesrat das Asylbewerberleistungsgesetz mit Ihrer Blockadepolitik behindert. Sie haben sich bei einer nachhaltigen Reform der Sozialhilfe ebenfalls verweigert. Überall dort, wo es darum ging, Spielräume zu erarbeiten, Einsparpotentiale zu erschließen, haben Sie sich verweigert und wundern sich, daß wir uns Gedanken machen müssen, wie wir den Haushalt ausgleichen. Dies ist unseriös.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Lachen bei der SPD Rudolf Scharping [SPD]: Und der Mann beansprucht Seriosität!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313111800
Herr Kollege Repnik, die Kollegin Matthäus-Maier würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie sie?

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313111900
Bitte, gerne.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1313112000
Herr Kollege Repnik, nachdem Sie wieder auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Vermögensteuer eingegangen sind: Wollen Sie mir bitte bestätigen, daß es Ihr Staatssekretär Hauser war, der im Finanzausschuß klargestellt hat - was wir seit Monaten sagen und was man durch schlichtes Lesen des Urteils nachvollziehen kann -, daß das Bundesverfassungsgericht zwar die Einheitswerte für verfassungswidrig erklärt hat, aber selbstverständlich die Erhebung einer Vermögensteuer sowohl im privaten als auch im betrieblichen Bereich ausdrücklich zuläßt, und daß wir gemeinsam sofort eine Reform der Vermögensteuer durchführen können, wenn Sie sie nur wollten?

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist Ihre eigene Interpretation!)


Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313112100
Ich habe den Ausführungen des Kollegen Hauser, die er Ihnen schriftlich gegeben hat, überhaupt nichts hinzuzufügen. Ich will es auch gar nicht relativieren.
Tatsache ist, daß das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat: Die Vermögensteuer in der jetzigen Form darf nicht mehr erhoben werden,

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: In ihrer jetzigen Form!)

weil sie in dieser Form verfassungswidrig ist; denn, der Gleichheitsgrundsatz ist verletzt. Tatsache ist aber auch, daß es eine Möglichkeit gäbe, eine Vermögensteuer auszugestalten, die verfassungsgemäß wäre,

(Zurufe von der SPD: Aha!) wenn man dies politisch wollte.


(Beifall bei der SPD Joachim Poß [SPD]: Er hat gelernt!)

- Das ist unsere Meinung. Wir haben hier einen eindeutig anders gelagerten politischen Willen als Sie.

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Na endlich! Verstecken Sie sich nicht länger hinter dem Bundesverfassungsgericht! Rudolf Scharping [SPD]: Sie wollen nicht!)


Hans-Peter Repnik
Ich habe zwei Argumente angeführt. Das eine Argument ist: Die Vermögensteuer in der heutigen Ausgestaltung ist verfassungswidrig. Deshalb wird sie zum Jahresende wegfallen, wenn sich daran nichts ändert. Das zweite Argument - da haben wir gar nichts zu verstecken - ist ein wirtschaftspolitisches Argument, das die Standortdebatte in der Bundesrepublik Deutschland im Kern berührt. Das ist nämlich der Punkt, daß die Vermögensteuer insbesondere dort, wo das betriebliche Vermögen erfaßt wird, schädlich ist, weil sie in die Substanz eingreift, weil sie die Unternehmen daran hindert, Vermögen zu bilden, um damit Investitionen zu leisten und Arbeitsplätze zu schaffen. Das kann doch überhaupt nicht bestritten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Weil dem so ist, haben wir gesagt: Die betriebliche Vermögensteuer muß weichen. Und wir gehen weiter. Wir haben gesagt: Die private Vermögensteuer ist unabhängig von der Arbeitsplatzsituation, und wir wollen sie auch in der Zukunft erhalten.

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das haben Sie nie gesagt! Sie haben von Anfang an gesagt, Sie wollen sie abschaffen!)

Aber es macht doch keinen Sinn, daß wir den betrieblichen Teil der Vermögensteuer abschaffen - wogegen Sie sich trotz der Arbeitsplatzargumentation wenden - und gleichzeitig eine Restgröße privater Vermögensteuer mit einem ungeheuren bürokratischen Aufwand erhalten, der nicht zu verantworten wäre. Deshalb haben wir Ihnen angeboten, diesen Teil des Aufkommens in einer Größenordnung von 1,6 Milliarden DM, der dem privaten Teil der Vermögensteuer zuzurechnen ist, der Erbschaftsteuer zuzuschlagen. Wenn das kein sozial ausgewogenes Konzept ist, dann verstehe ich die Welt nicht mehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit Ihrem Antrag, das Inkrafttreten der Einkommensteuerreform vorzuziehen, versuchen Sie, auf einen längst fahrenden Zug aufzuspringen und dem Bürger Sand in die Augen zu streuen. Erst bremsen Sie - wie jetzt gerade wieder beim Jahressteuergesetz -, und dann kann es Ihnen nicht schnell genug gehen. Dies ist keine seriöse Politik.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: So ist es!)

Ich möchte an einen Vorgang erinnern, den ich als ganz außergewöhnlich empfinde. Herr Kollege Poß hat das Thema der Unternehmensteuerreform angesprochen. Sie haben beim Jahressteuergesetz 1996 und bisher beim Jahressteuergesetz 1997 die dritte Stufe der Unternehmensteuerreform in Verbindung mit einer Gemeindefinanzreform verhindert. Sie lehnen sie kategorisch ab.

(Detlev von Larcher [SPD]: Wo haben Sie denn dafür Vorschläge? Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Stimmt doch gar nicht! Sie können doch nicht schlankweg die Unwahrheit sagen!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313112200
Herr Kollege Repnik, der Kollege Poß würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313112300
Verehrter Herr Präsident, ich sehe, daß mir für die Beantwortung der Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier die Uhr nicht angehalten wurde; sie ist weitergelaufen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313112400
Das ist ein Irrtum; die Uhr ist angehalten worden.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313112500
Wenn mir das nicht angerechnet wird, bin ich gerne bereit, auf diese Zwischenfrage einzugehen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schon bei Kleinigkeiten schummeln Sie!)


Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1313112600
Herr Kollege Repnik, können Sie dem Hohen Haus für die CDU/CSU mitteilen, ob es im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages eine beratungsfähige Unterlage der Bundesregierung zu diesem Thema gibt oder ob und wann der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages, der morgen seine Beratungen zum Jahressteuergesetz abschließen wird, mit einer solchen Vorlage rechnen kann und ob in dieser Vorlage klargemacht ist, daß alle Konditionen - von Grundgesetzänderung bis zum Verteilungsschlüssel -, die kommunale Spitzenverbände und SPD nennen, beachtet werden und alle Zweifel, die in diesem Zusammenhang bestehen, ausgeräumt werden? Wird bis morgen mittag eine einvernehmliche beratungsfähige Vorlage vorgelegt werden?

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Faule Ausreden!)


Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313112700
Herr Kollege Poß, Sie können mit Ihrer Intervention nicht vom Kern der Sache ablenken, daß Sie sich sowohl beim Jahressteuergesetz 1996 als auch beim Jahressteuergesetz 1997 geweigert haben, der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zuzustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Danach ist gar nicht gefragt worden!)

Sie sind heute vormittag an dieses Pult getreten -

(Zurufe von der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313112800
Das Wort hat der Kollege Repnik.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313112900
- und haben gesagt, die kommunalen Spitzenverbände würden dies genauso sehen. Sie haben einmal mehr die Unwahrheit gesagt.
Ich möchte zu diesem Punkt die FAZ vom heutigen Tag, die auch Sie zitiert haben, zitieren. Es heißt hier, und zwar unter Bezugnahme auf Herrn Wimmer, Finanzdezernent des Städtetages:

Hans-Peter Repnik
Der Städtetag und der Landkreistag hätten sich vergangene Woche vor dem Finanzausschuß des Bundestages ganz eindeutig für die Abschaffung ausgesprochen, wenn die Kommunen wie angekündigt direkt an der Umsatzsteuer beteiligt würden.
Diese Erklärung ist eindeutig. Weiter heißt es:
Inzwischen zeigen sich auch die SPD-Länder zunehmend besorgt darüber, daß die Gewerbekapitalsteuer möglicherweise von Januar an in den neuen Bundesländern erhoben werden muß . . .

(Dr. Barbara Höll [PDS]: Lesen Sie mal weiter!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie brauchen sich nicht besorgt zu zeigen. Auch der finanzpolitische Koordinator der SPD, der Erste Bürgermeister Hamburgs, Voscherau, braucht sich nicht besorgt zu zeigen. Wir brauchen die Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern nicht einzuführen, wenn Sie unserem Vorschlag zustimmen. Darin ist sie nämlich nicht enthalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Weitere Abgeordnete melden sich zu Zwischenfragen)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313113000
Herr Kollege Repnik - -

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313113100
Nein, Herr Präsident, ich würde den Gedanken gern noch zu Ende führen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313113200
Entschuldigung, darf ich fragen, ob das noch Teil Ihrer Antwort ist?

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313113300
Ja, das ist Teil meiner Antwort.

(Lachen bei der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313113400
Gut, dann bitte ich Sie fortzufahren.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313113500
Das ist konkret zu der Frage.

(Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch weitergeredet!)

- Nein, das ist Teil der Antwort. Ich würde diesen Gedanken schon noch gern zu Ende führen.

(Joachim Poß [SPD]: Ich möchte gerne wissen, wie viele Sätze Sie brauchen, um eine einfache Frage zu beantworten!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313113600
Entschuldigung, das Wort hat jetzt der Kollege Repnik. Sie haben Ihre Frage vorhin gestellt.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313113700
Herr Poß, nicht nur Ihre Frage, sondern auch Ihr Beitrag hat gezeigt, daß Sie gelegentlich begriffsstutzig sind. Sie brauchen etwas länger, bis Sie Sachverhalte begreifen. Deswegen muß ich etwas länger erklären.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Ich finde es ein starkes Stück, daß die SPD dem Finanzminister zumuten will, Recht zu brechen, nur weil sie nicht einsehen will, daß er mit seinem Vorschlag zur Unternehmensteuerreform auf dem richtigen Weg ist.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was? - Weitere Zurufe von der SPD)

- Ich merke, Sie haben auch hier Probleme.
Ich will einmal folgendes Zitat aus der heutigen Ausgabe des „Handelsblatt" vorlesen: Der SPD-Verhandlungsführer für das Jahressteuergesetz 1997, der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau, verlangte gestern von Bundesfinanzminister Theo Waigel, die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern zu verhindern. - Kein Problem, er muß nur unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Er sagt weiter, notfalls müsse sich Waigel auch über die Bedenken der EU-Kommission hinwegsetzen. Wenn das keine Aufforderung zum Rechtsbruch ist, dann weiß ich nicht, wie dies zu interpretieren ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313113800
Herr Kollege Repnik, es bestehen weitere Fragebegehren.
Zunächst hat sich der Kollege Rössel gemeldet. Sind Sie bereit, die Frage zu beantworten?

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313113900
Bitte. Vizepräsident Hans Klein: Bitte.

Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS):
Rede ID: ID1313114000
Herr Kollege Repnik, halten Sie vor dem Hintergrund der von Ihnen mit dem Jahressteuergesetz 1997 erneut beabsichtigten Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer an der Koalitionsvereinbarung vom November 1994 fest, wonach die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer nur der erste Schritt zur vollständigen Abschaffung der Gewerbesteuer sei?
Zweitens. Wann werden wir im federführenden Finanzausschuß des Deutschen Bundestages, der bekanntlich morgen seine Beratungen zum Jahressteuergesetz 1997 abschließt, einen beratungsfähigen Entwurf zur dritten Stufe der Unternehmensteuerreform vorgelegt bekommen? Bis heute hat die Koalition dazu keine Erklärung abgegeben.

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Darum haben wir bisher auch nicht nein gesagt! Wir konnten gar nicht nein sagen!)


Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313114100
Sie haben sich bisher einer Zustimmung verweigert, und zwar nicht

Hans-Peter Repnik
nur beim Jahressteuergesetz 1997, sondern auch beim Jahressteuergesetz 1996.

(Lachen bei der SPD Otto Schily [SPD]: Es ist doch gar nichts da!)

Um Ihre erste Frage zu beantworten: Es gibt keine Veranlassung, in dieser Frage von der Koalitionsvereinbarung abzuweichen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])

Wir haben ein klares politisches Ziel: Langfristig gilt es, die Gewerbesteuer im Sinne der Wirtschaft und im Sinne der Sicherung des Standorts Deutschland abzuschaffen - allerdings in der Konzeption, daß die Kommunen einen Ausgleich erhalten; denn dies geht nicht ohne Ausgleich.
Zweitens. Ich darf gerade dem Kollegen aus den neuen Bundesländern sagen, wohin die Politik der SPD bei der Gewerbekapitalsteuer ganz konkret führt: Sie wissen, die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern ist ausgesetzt; in den alten Bundesländern wird sie noch mit einem bestimmten Aufkommen erhoben. Durch die Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer geht natürlich den Kommunen in den neuen Bundesländern jährlich ein erheblicher Betrag verloren.
Mit dem Vorschlag, den Finanzminister Waigel präsentiert hat, würde der Ausgleich nach dem Wegfall der Gewerbekapitalsteuer natürlich nicht nur die West-Kommunen treffen, sondern auch die Ost-Kommunen, und zwar in einer Größenordnung von immerhin rund 500 Millionen DM pro Jahr. Wenn Sie in dieser Frage weiterhin blockieren, dann werden in Zukunft auch die Ost-Kommunen dieses Geld nicht haben, bzw. wenn wir die Gewerbekapitalsteuer auch dort einführen, werden wir die Wirtschaft erneut belasten.

(Zuruf von der SPD: Dann soll der Minister doch einmal einen Vorschlag machen!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313114200
Das nächste Fragebegehren, Herr Repnik, ist vom Kollegen von Larcher.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313114300
Das soll auch die letzte Frage sein.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313114400
Das letzte Fragebegehren kommt von einer Dame. Ich unterstelle doch, das werden Sie noch zulassen.

Detlev von Larcher (SPD):
Rede ID: ID1313114500
Ich frage Sie, Herr Repnik, in welchem Ausschuß Sie tätig sind, weil wir im Finanzausschuß über Vorlagen, die eine Drucksachennummer haben, abstimmen. Wenn Sie hier behaupten, wir stimmten etwas zu oder wir stimmten etwas nicht zu,

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie haben doch bisher abgelehnt, überhaupt zu diskutieren!)

dann möchte ich Sie fragen, auf welche Vorlage Sie sich beziehen und wie Sie in diesem Zusammenhang folgende Ausführungen von Herrn Wimmer beurteilen, die Sie heute ebenfalls nachlesen können - in der „FAZ" -:
Wimmer teilt den Vorwurf Hinrichs, die Unternehmensteuerreform sei schlecht vorbereitet. Dem Finanzausschuß habe in der vergangenen Woche kein beschlußfähiger Text aus dem Bundesfinanzministerium vorgelegen.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Ein ganzes Jahr sei vertan worden. Daß die SPD der Reform unter dieser Bedingung nicht zustimmen könne, sei verständlich, unverständlich dagegen, warum die Koalitionsabgeordneten im Finanzausschuß so mit sich umspringen ließen.

(Beifall bei der SPD und der PDS)


Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313114600
Richtig ist, daß die Koalition, die Regierung und der Finanzminister in einem langen Entscheidungsverfahren versucht haben, sowohl die kommunalen Spitzenverbände als auch die Sozialdemokraten ins Boot zu holen, weil wir auf die Sozialdemokraten angewiesen sind, ganz konkret: nicht nur im Bundesrat, sondern auch wegen der erforderlichen Änderung des Grundgesetzes. Sie waren in dieser Frage bis zum jetzigen Zeitpunkt kein seriöser Verhandlungspartner für den Finanzminister. Dies ist die Situation.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Joachim Poß [SPD]: Sie bringen doch hier das Boot zum Kentern!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313114700
Herr Kollege Repnik, als letzte möchte die Kollegin Hendricks noch eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie das zu?

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313114800
Bitte sehr. Vizepräsident Hans Klein: Bitte.

Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1313114900
Herr Kollege Repnik, ist Ihnen klar, daß Sie durch die Antwort auf die Zwischenfrage des Kollegen Rössel, in der Sie ausgeführt haben, daß Sie langfristig auf der Abschaffung der Gewerbesteuer in ihrer Gesamtheit bestehen, die Zustimmungsbereitschaft der Kommunen auf Dauer zerstört haben?

(Detlev von Larcher [SPD]: Auf null, auf null!)

Die Kommunen haben dies als Hauptbedingung formuliert. Sie sind nicht in der Lage, Ihren Vorstellungen in bezug auf die Gewerbekapitalsteuer zuzustimmen, welchen Ausgleichsschlüssel Sie auch immer vorschlagen. Die Kommunen bestehen ja gerade auf einer verfassungsrechtlichen Absicherung der Gewerbesteuer. Solange die Regierung das nicht macht, werden die Kommunen dem nicht zustimmen. Und alle Länder als Sachwalter der kommuna-

Dr. Barbara Hendricks
len Interessen werden dies ebenfalls nicht tun können.

(Beifall bei der SPD und der PDS Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Ihre Bremsklötze!)


Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1313115000
Wir und diese Regierung verstehen uns nicht zuletzt auch als Sachwalter kommunaler Interessen.

(Lachen und Widerspruch bei der SPD Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist doch interessant, wenn in Gesprächen Spitzenvertreter der deutschen Kommunalpolitik sagen: Wir als Kommunen legen allergrößten Wert darauf, die Höhe unserer Beteiligung an dem Aufkommen der Umsatzsteuer ganz konkret und direkt vom Bund zu erfahren, weil die Länder klebrige Hände haben und weil wir ihnen nicht trauen, daß sie das Geld, den Umsatzsteueranteil, den der Bund über die Länder den Kommunen zuweisen würde, auch an die Kommunen weitergeben würden. Also mein Eindruck ist: Sie trauen uns mehr als den Ländern. Daher sind wir hier, glaube ich, auf einem guten Weg.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Geschichte der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, der sich die kommunale Seite anfänglich ebenfalls nur widerstrebend genähert hat, lehrt uns doch: Wenn wir den Kommunen in einem ehrlichen Dialog eine Kompensation anbieten, die a) die Höhe der Ausfälle berücksichtigt und die b) stetig und zuverlässig ist - so wie die Beteiligung an der Umsatzsteuer bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer -, dann sind sie für uns Gesprächspartner. Ich bin ganz sicher: Wenn wir ein Modell anbieten, das den Kommunen, auf Dauer gesehen, die Chance gibt, das Aufkommen der Gewerbesteuer durch das einer Steuer zu ersetzen, die zukunftsfähig und sicher ist und die auch eine entsprechende Dynamik hat, dann werden die Kommunen unser Gesprächspartner sein. Wir sind sicher, daß es angesichts des Konkurrenzkampfes, in dem der Standort Deutschland steht, im Hinblick auf Arbeitsplatzsicherung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze von höchstem Interesse ist, daß die Gewerbesteuer auf Dauer abgeschafft wird und ihr Aufkommen durch das einer anderen Steuer ersetzt wird. Das dient der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und des Handwerks.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313115100
Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Scheel.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313115200
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Repnik, Ihre Ausführungen im Hinblick auf die Unternehmensbesteuerung müssen korrigiert werden. Wir haben vor über einem Jahr eine Anhörung im Zusammenhang mit dem Jahressteuergesetz 1996 gehabt. Damals wurde den kommunalen Spitzenvertretern von der Koalition vorgeworfen, sie hätten es nicht geschafft, sich zu einigen.
Seit ungefähr einem halben Jahr gibt es ein gemeinsames Papier der kommunalen Spitzenverbände, in dem genau diese Einigung formuliert ist. Der Bremsklotz - das war vorhin ein Zwischenruf in Richtung SPD - liegt jetzt bei Ihnen, der Koalition; denn weder das Finanzministerium noch die Koalition haben es geschafft, in diesem Zusammenhang eine Vorlage zu machen, um die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und das zu tun, was die Kommunen wollen, nämlich die verfassungsrechtliche Garantie der Restgewerbesteuern und auch die verfassungsrechtliche Garantie der Beteiligung an der Umsatzsteuer, und zwar eine ausreichende Beteiligung, festzuschreiben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie bei der SPD)

Die hat Herr Waigel vor einem halben Jahr zugesagt und mittlerweile leicht revidiert.
Das Problem ist, daß wir zur Zeit - das muß ich grundsätzlich sagen - ein wirklich unwürdiges Gehacke in der gesamten Steuerpolitik haben. Wir meinen, daß die Bürger und Bürgerinnen gerade jetzt - wir sind mitten in der Legislaturperiode - ein Recht auf Klarheit haben, und zwar vor der Wahl. Aus diesem Grund unterstützen wir den Antrag der SPD, nach dem die große Reform der Einkommensteuer - und zwar in beiden Punkten - noch vor der Wahl rechtzeitig umgesetzt werden soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, daß die Menschen in diesem Land es leid sind, diese Verunsicherungspolitik weiter ertragen zu müssen. Bei sehr vielen Menschen führt das zu Politikverdruß; das muß man in diesem Zusammenhang ganz offen sagen; man spricht ja mit den Menschen im Land; das tun Sie genauso wie auch wir.
Es geht einfach nicht mehr, daß man tagtäglich in den Zeitungen lesen muß, welche Vorschläge die Koalition wieder gemacht hat, um das Haushaltsloch zu stopfen: Auf der einen Seite verspricht die F.D.P. permanent Steuersenkungen, auf der anderen Seite ist vollkommen unklar, wie die Gegenfinanzierung aussehen soll. Sie sagen immer: Schlupflöcher müssen wir schließen. Das ist ein Teil der Gegenfinanzierung - welche genau, wird zumindest von der F.D.P. nicht angesprochen, teilweise von der Koalition genannt, am nächsten Tag zurückgezogen. In diesem Land weiß kein Mensch mehr, was Sie eigentlich wollen. Das ist das große Problem, das wir haben.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn, Frau Scheel?)

In Grundsatzprogrammen steht - auch das ist ein ganz wesentlicher Punkt -, das Steuersystem sei ökonomisch und auch ökologisch neu auszurichten. Was wir derzeit erleben, ist eine Orientierung, die nur auf der ökonomischen Basis stattfindet. Wir haben keine

Christine Scheel
Orientierung mehr im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit, auf Umverteilung in diesem Land. Wir haben auch keine Orientierung im Hinblick auf die Ökologie.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da haben wir genug!)

Das sind die großen Lücken, die zu füllen sind.
Herr Schäuble, gerade in den Interviews der letzten Wochen reklamieren Sie immer wieder für sich, daß Sie ein zukunftsfähiges Steuersystem wollen, daß Sie als Koalition insgesamt zukunftsfähig sein wollen. Aber was heißt das für Sie? Ist Zukunftsfähigkeit die Abschaffung der Vermögensteuer, obwohl man weiß, daß die Vermögen immer weiter wachsen und daß eine reformierte Vermögensteuer durch das Bundesverfassungsgericht durchaus haltbar ist? Das hat Herr Repnik zugegeben: Sie wollen politisch keine Vermögensteuer haben, obwohl Sie wissen, daß sie durchaus möglich ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist eine ehrliche Antwort von Herrn Repnik gewesen. Ich bin sehr froh, daß es mal so klar gesagt worden ist: Wir wollen keine Besteuerung von höheren Vermögen im Zusammenhang mit der Vermögensteuer haben - klare Aussage der Koalition.
Wir halten dagegen. Wir haben einen Gesetzentwurf zur Beibehaltung der Vermögensteuer eingereicht. Er ist konform mit der Verfassung. Ich hoffe, daß wir die Diskussion an diesem Punkt noch führen.
Heißt Zukunftsfähigkeit auch - und ich spreche wieder Herrn Schäuble an -, die Reichtumsverteilung in diesem Lande zu ignorieren, die Dominanz der beschleunigten Geldkapitalverwertung zu akzeptieren und gleichzeitig - und das ist das Unverschämte an dieser Geschichte, die die Koalition betreibt -, ein zweites Sparpaket zu schnüren, und zwar auch wieder nur zu Lasten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, der sozial Schwächeren in diesem Land?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Heißt Zukunftsfähigkeit für Sie, Unternehmen weiter zu entlasten, obwohl Sie wissen - das wurde vom Vorredner Herrn Poß angesprochen -, daß die Besteuerung der Unternehmen in den letzten Jahren immer weiter rückläufig wurde, daß der Anteil der Steuern aus Gewinnen der Unternehmen am Anteil des Steueraufkommens insgesamt rückläufig gewesen ist? Wollen Sie genau hier eine weitere Entlastung machen, obwohl Sie ganz genau wissen, daß heute von den großen Unternehmen stolz verkündet wird: Wir werden bis zum Jahr 2000 keine Ertragsteuern mehr bezahlen. Wir wollen unsere Gewinne im Ausland versteuern. Wir lassen uns unsere Verluste hier in diesem Land zum Teil vom Finanzamt noch zurückerstatten. Das ist eine Politik, die dient den Großen und bringt dieses Land letztlich weiter in den Ruin.
Für uns heißt Zukunftsfähigkeit im Steuersystem, daß die bestehende verteilungspolitische Schieflage korrigiert wird, daß das Steuerrecht wirklich vereinfacht wird, daß dieser sogenannte Dschungel der Vergünstigungen gelichtet wird und daß vor allem - ich betone es hier wieder - die ökologische Komponente nicht vergessen wird.
Für uns heißt also Zukunftsfähigkeit, eine ökologisch-soziale Steuerreform kompatibel zu machen mit einer reformierten Einkommensteuer und heißt auch, eine ökologisch-soziale Steuerreform heute einzuführen, um die hohen Lohnnebenkosten, über die in den letzten Tagen überhaupt nicht mehr gesprochen worden ist, zu senken. Das ist eine Politik für die Zukunft und auch eine Entlastung für die kleinen und mittleren Einkommen.
Verantwortlich zu handeln für die nächsten Jahre - das muß man an dieser Stelle hier auch immer wieder überlegen -, verantwortlich für die nächsten Jahre und die nächsten Generationen zu handeln heißt, hier nicht Flickschusterei zu betreiben - da mal ein bißchen Steuererhöhung, dort mal ein bißchen Steuersenkung -, sondern das gesamte Steuersystem kompatibel zu halten, es im Auge zu behalten und auch zu überlegen: Wo geht es denn hin in Europa? Wie ist denn die Belastung durch direkte Steuern im Verhältnis zu der indirekten Besteuerung? Müssen wir hier nicht endlich einmal eine Kehrtwendung einleiten, daß wir wieder stärker auf die indirekte Besteuerung zurückgreifen? Das kann nicht heißen, daß wir in diesem Zusammenhang eine Erhöhung der Mehrwertsteuer wollen, sondern das muß heißen, daß über die Einführung einer ökologisch-sozialen Steuerreform dem ersten Schritt, Senkung der Lohnnebenkosten, mittelfristig und langfristig eine Senkung im Lohn- und Einkommensteuerbereich und hier eine Umverteilung von der direkten zur indirekten Besteuerung folgt.
Das ist zukunftsfähig, das ist europakompatibel, und das wird auch die Konkurrenzsituation entlasten. Das wird die Wirtschaft genau so stärken, wie es die Meinen und mittleren Einkommen entlastet.

(Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Das ist aber nicht die Politik der Grünen! Das ist Ihre Politik, aber nicht die der Grünen!)

- Das ist die Politik der Grünen. Es gibt einen Antrag, Herr Solms, zur ökologisch-sozialen Steuerreform. Dieser Antrag zur ökologisch- sozialen Steuerreform, der von der gesamten Fraktion hier eingebracht und vom Bundesparteitag bestätigt worden ist, beinhaltet genau diese Gedanken, die ich hier geäußert habe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Das Gegenteil ist richtig!)

Was mich besonders ärgert, ist, daß Sie immer sagen, Sie wollen mit Tabus brechen, Sie wollen Privilegien abbauen, die Lobbyisten jahrelang angesammelt haben. Sie reden permanent über Subventionsabbau, wollen Steuererleichterungen schaffen und machen aktuell derzeit im Jahressteuergesetz 1997 genau das Gegenteil! Für Haushaltshilfen wird der Freibetrag auf 24 000 Mark erhöht. Das ist eine Sub-

Christine Scheel
vention für Haushalte, die besonders hohe Einkommen haben. Die angekündigte Streichung bei Subventionen für Schiffe und Flugzeuge, die von Bayern im Bundesrat eingebracht worden ist, findet in der Form nicht statt. Das heißt, dieser Subventionsabbau wird nicht sein. Das ist eine Sauerei, wenn man auf der einen Seite verspricht, die Subventionen in diesem Bereich werden abgebaut, und dann wird da rumgefeilscht, wie man es diesen Schiffahrtsunternehmen und Lobbyisten doch recht machen kann.

(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wenden Sie sich bitte schön an die andere Seite!)

Herr Waigel sagt zu mir, richtig, ich freue mich, daß ich hier recht bekomme. Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD Widerspruch bei der F.D.P.)

Ein weiterer Punkt regt mich in diesem Zusammenhang besonders auf: Obwohl der Bundesrechnungshof klipp und klar gesagt hat, daß es so nicht geht, verfälschen Sie den Begriff der Gemeinnützigkeit. Das geht so weit, Golfspieler dadurch zu bevorteilen, daß sie die anfallenden Beiträge -

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313115300
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wülfing?

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313115400
- nach dem Satz, bitte - von der Steuer absetzen können. Angesichts dieser Politik überlege ich mir schon, was „Gemeinnützigkeit" in diesem Lande noch heißt.
Bitte schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313115500
Bitte, Frau Kollegin.

Elke Wülfing (CDU):
Rede ID: ID1313115600
Frau Kollegin Scheel, können Sie bestätigen, daß die Beibehaltung der Sonder-AfA für Schiffe nicht von der CDU, sondern von der SPD im Finanzausschuß vertreten wird? Ich bitte Sie doch, in dieser Hinsicht einigermaßen korrekt zu zitieren.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313115700
Ich habe hier drei ganz klare Beispiele genannt. Ein Beispiel bezog sich auf die Sonderabschreibung für Schiffe, das im Finanzausschuß diskutiert wurde. Wir haben von vornherein gesagt: Wir wollen diese Sonderabschreibung abschaffen. Es gibt fraktionsübergreifend - das ist richtig, was Sie sagen - Vertreter, in der SPD genauso wie in der CDU/CSU, das heißt, in der CSU in diesem Fall weniger, und natürlich in der F.D.P., die das beibehalten wollen.
Das Schlimme daran ist, daß man in genau diesem Punkt eine Einigung hätte finden können. Dies wäre endlich einmal ein Einstieg in den Abbau von Subventionen, in diesem Fall dazu noch mit europäischer Rückendeckung, im Gegensatz zu der Änderung der
Kfz-Steuer. Das ist nicht gelungen; das bedauere ich sehr.

(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie werden es bei der Abstimmung sehen!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313115800
Frau Kollegin Scheel, auch der Kollege Poß möchte gerne eine Zwischenfrage stellen

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313115900
Bitte schön, gern.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1313116000
Frau Kollegin, würden Sie bestätigen - oder, falls Sie nicht die ganze Diskussion zu diesem Punkt mitverfolgen konnten, zur Kenntnis nehmen -, daß nach dem Stand der gestrigen Beratung im Finanzausschuß ein interfraktioneller Antrag zu diesem Punkt eingebracht wird, auf der Vorlage, die der Herr Staatssekretär Hauser vorgetragen hat, der zum Inhalt hat: Nichtberücksichtigung der Sonder-AfA, sondern degressive Abschreibung? Da Sie, Frau Kollegin Wülfing, Berichterstatterin Ihrer Fraktion sind, sollten Sie hier nicht zur Täuschung der Öffentlichkeit beitragen.

(Beifall bei der SPD)


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313116100
Herr Poß, vielen Dank für die Klarstellung. Unser Anliegen aber war es, überhaupt keine Vergünstigungen in diesem Bereich mehr zuzulassen.

(Joachim Poß [SPD]: Unser gemeinsames Anliegen!)

- Das war unsere gemeinsame ursprüngliche Überlegung. Durch diese Vorlage hat sich das leider etwas geändert. Deswegen werden wir dem nicht zustimmen können.
Aber das ist genau der Punkt, Herr Poß: In dem Moment, wo ganz konkret über Steuervergünstigungen durch Subventionen oder Sonderabschreibungen gesprochen wird, kommt eine Flut von Schreiben von irgendwelchen Lobbyisten.

(Otto Schily [SPD]: Bei den Grünen gibt es überhaupt keine Lobbyisten, oder doch?)

Dann wird darüber diskutiert, wie man es ihnen doch noch irgendwie recht machen kann. Man findet dann letztendlich eine Lösung, mit der man ihnen die Vergünstigungen doch noch einigermaßen so zukommen lassen kann, wie sie es gewünscht haben. Das ist das Problem, vor dem wir - ich sage: gemeinsam - im Hinblick auf die anstehende große Steuerreform stehen.

(Abg. Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Man muß den Mut haben -

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313116200
Frau Kollegin - -

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313116300
- Entschuldigung, meine letzten Sätze - und die Ehr-

Christine Scheel
lichkeit, hier zu sagen: Man will rigoros in dieses System eingreifen, man will Vergünstigungen rigoros abbauen und auf der anderen Seite Steuersätze senken. Das darf aber nicht so geschehen, wie die F.D.P. das macht: indem man einen ungedeckten Scheck - man hofft auf das Wirtschaftswachstum - ausstellt. Vielmehr muß sauber gegengerechnet werden und das Vorhaben offengelegt werden. Das genau fehlt bei Ihnen.
Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313116400
Ich bedauere, Herr Kollege Rössel, die Perzeptionswilligkeit bei Zwischenfragen ist unterschiedlich. Besonders versierte Kollegen wie der Kollege Repnik schaffen es, aus zehn Minuten Redezeit 24 Minuten Redezeit zu machen, weil er auf die Zwischenfragen eingeht. Leider konnte ich Sie nicht auf das Fragebegehren hinweisen.
Herr Kollege Kröning, ist das die Meldung zu einer Kurzintervention? - Bitte sehr.

Volker Kröning (SPD):
Rede ID: ID1313116500
Herr Präsident, ich bitte um Entschuldigung, daß ich die Kurzintervention nicht ordnungsgemäß angemeldet habe. - Nachdem wir hier erlebt haben, wie um den Abbau von steuerlichen Vergünstigungen diskutiert wird und auch ohne Namensnennung Kollegen angegriffen werden - das haben Sie, Frau Kollegin Scheel, leider nicht besser gemacht als Ihre Kollegin von der CDU -, möchte ich gerne noch einmal klarstellen, daß wir uns im Finanzausschuß einig sind, daß wir Steuervergünstigungen und Steuerbefreiungen anläßlich der großen Steuerreform abbauen wollen. Wir haben das auch ausdrücklich im Zusammenhang mit den Sonderabschreibungen für den Schiffbau bekundet.
Sie wissen, daß der Bundesrat dem Vorschlag der Abschaffung der Sonderabschreibungen widerspricht und daß es Basis einer interfraktionellen Überlegung zwischen SPD und CDU/CSU gewesen ist,

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist die größte Heuchelei!)

einen Zwischenschritt zum vollständigen Abbau dieser Sonderabschreibungen zu finden, der den Schwierigkeiten der Umstrukturierung der deutschen Werftenindustrie entspricht.
Das populistische Gerede, das wir heute erlebt haben,

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist daran populistisch?)

wird, so fürchte ich, diesen Zwischenschritt unmöglich machen und steht damit in krassem Widerspruch zu dem Geist, der wahrscheinlich heute nachmittag bei der Debatte über die Lage der maritimen Wirtschaft beschworen werden wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.] Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was soll das denn?)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313116600
Da Sie nicht unmittelbar auf die Rede eines Kollegen reagiert haben, muß ich jetzt die nächste Kurzintervention zulassen, zu der sich der Kollege Hauser gemeldet hat.

Hansgeorg Hauser (CSU):
Rede ID: ID1313116700
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Frau Kollegin Scheel den Unsinn wiederholt hat, der in der letzten Zeit durch die Presse gegeistert ist, daß Beiträge und Aufnahmegebühren für Golfclubs von der Steuer abzugsfähig seien, möchte ich folgendes klarstellen: Weder der Jahresbeitrag noch der Aufnahmebeitrag, noch die jetzt durch einen Beschluß der Länder-Fachebenen mit dem Bund erfolgte Festlegung einer Investitionsumlage sind von der Steuer abzugsfähig, um das ein für allemal klarzustellen.
Was die Länder-Fachebene mit dem Bund vereinbart hat, ist, daß bei Golfclubs und bei anderen Sportvereinen eine Investitionsumlage von bis zu 10 000 DM die Gemeinnützigkeit nicht gefährdet. Das ist eine gemeinsame Entscheidung, die im Sommer letzten Jahres getroffen worden ist. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß es hier nicht um steuerlich abzugsfähige Beträge geht!

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313116800
Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1313116900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten hier über einen Antrag der SPD, der insgesamt aus sage und schreibe vier Zeilen besteht.

(Lachen bei der SPD)

Wir stellen damit fest: Das, was Sie hier vorgelegt haben - es ist bemerkenswert -, ist nichts anderes als ein billiges parteitaktisches Manöver. Es ist ein Schaufensterantrag ohne jede Substanz.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Lachen bei der SPD)

Wir wollen als F.D.P. Steuersenkungen,

(Detlev von Larcher [SPD]: Und beschließen dann, die Mineralölsteuer zu erhöhen!)

und wir sind der Auffassung, daß die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland zu hoch ist, ebenso wie unser Steuersystem zu kompliziert ist.
Aber wir erleben in dieser Debatte einen fundamentalen Unterschied zwischen der Opposition und der Koalition: Für Sie sind Steuersenkungen die Dividende eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Für uns sind Steuersenkungen die Voraussetzung für konjunkturelle Belebung, für neue Investitionen und damit auch für neue Arbeitsplätze in Deutschland.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)


Dr. Guido Westerwelle
Wir senken Steuern nicht, um Reiche reicher zu machen,

(Zurufe von der SPD: Doch!)

sondern um das Abwandern von Arbeitsplätzen zu verhindern. Nicht diejenigen sind Arbeitnehmerparteien, die mit roten Fahnen und Dinosaurierparolen auf die Gewerkschaftstage fahren, sondern diejenigen, die mit marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür sorgen, daß investiert wird und damit überhaupt neue Arbeitsplätze entstehen können.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine Erkenntnis wird auch die Opposition nicht außer Kraft setzen können, diese ist relativ einfach: Alles, was man verteilen möchte, muß man vorher erwirtschaften. Wer wie Sie die Arbeit verteuern will, der verekelt die Arbeitsplätze ins Ausland, wie wir das regelmäßig bei Rot-grün in Düsseldorf erleben.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was Sie von Standortpolitik verstehen, können Sie regelmäßig in Düsseldorf beweisen.
Im Mittelpunkt unserer Politik steht die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, weil vier Millionen Arbeitslose nicht nur schlimm sind, sondern sie wären auf diesem Niveau auf Dauer für die demokratische Stabilität unseres Landes gefährlich. Deswegen wollen wir als F.D.P. eine möglichst schnelle Umsetzung der Steuersenkungs- und Steuervereinfachungspolitik.
Wir sind der Auffassung: Je früher die Steuerreform kommt, um so besser für die Arbeitsplätze. Wir sind als F.D.P. der Auffassung, daß schon 1998 der Einstieg in die Steuerreform erfolgen sollte. Das ist unseres Erachtens technisch möglich und ökonomisch vernünftig. Wir werden dabei von weiten Teilen des ökonomischen Sachverstands in Deutschland unterstützt.
Ich sage aber auch: Wir wollen eine solide Steuerreform, wir beraten jetzt innerhalb der Koalition über die Eckpunkte dieser Steuerreform, und wir werden im Anschluß an diese Beratungen natürlich auch entscheiden. Der Antrag der SPD ist aber ein Schuß ins Knie, denn wer als SPD das Parlament auffordern möchte, eine frühe Steuerreform zu beschließen, der muß wenigstens in der Lage sein, die Eckpunkte seiner eigenen Steuerreform benennen zu können.

(Beifall bel der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie eiern bei der Frage der Eckpunkte herum, Sie sind sich nicht einig. Herr Scharping faselt etwas von 40 Prozent Spitzensteuersatz, Herr Poß erzählt etwas von 45 Prozent Spitzensteuersatz. Wenn Sie eine Steuerreform wollen, dann müssen Sie mindestens zwei Eckpunkte nennen können: Das sind der Eingangssteuersatz und der Spitzensteuersatz. Wer das nicht tut, kann keine Steuerkurve berechnen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313117000
Kollege Westerwelle, der Kollege Spiller würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1313117100
Aber gern, sicher.

Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1313117200
Herr Kollege Westerwelle, könnten Sie dem Hause erklären, wie die Solidität Ihres Reformkonzepts aussieht? Ihr Herr Parteivorsitzender Gerhardt hat vor kurzem im „Rheinischen Merkur" in einem Interview erklärt, die F.D.P. wolle eine Reform der Einkommensteuer, bei der alle Steuerzahler profitieren, auch diejenigen, die bisher mit großem Geschick alle Steuerschlupflöcher ausgenutzt haben.

(Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.] Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Genauso, sehr gut!)


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1313117300
Ich bin Ihnen für diese Beschreibung sehr dankbar; denn das ist wirklich ein fabelhaftes Interview. Ich bitte darum, es einmal in der SPD-Fraktion zu verteilen. Sie können alle daraus lernen.

(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.])

Ich bin fest davon überzeugt, das ist überhaupt keine Frage.
Das, was Sie offensichtlich überhaupt nicht mehr können, was in Ihrem Denken überhaupt nicht mehr vorgesehen ist, ist die Vorstellung, daß der Staat nicht nur seine Ausgaben kürzen muß, sondern daß er auch seine Aufgaben zurücknehmen muß. Dem Ausgabenzuwachs des Staates ging nämlich der Aufgabenzuwachs des Staates voraus.
Sie können sich nicht hinstellen und mangelnde finanzielle Solidität beklagen, wenn Sie gleichzeitig der Brandstifter sind, der die Flächenbrände im Bundesrat anzündet und verhindert, daß gespart wird.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie verhalten sich wie der Zündler, der durch die Reihen geht und anzündet, der Brände legt und sich anschließend neben die Feuerstelle stellt und sagt: Schaut mal, Leute, es brennt. Das ist das, was Sie in Wahrheit machen.

(Joachim Poß [SPD]: Brandstifter ist die F.D.P.! Sie ruft nach der Feuerwehr!)

Das war im übrigen auch die Antwort auf Ihre Zwischenfrage.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313117400
Die Kollegin Scheel würde auch gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1313117500
Bitte, gern.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313117600
Herr Westerwelle, es ist schon irgendwie eigenartig. Wenn man die Zeitungen in den letzten Wochen verfolgt hat, so konnte man immer wieder die Aufforderung von Ihnen, Herrn Gerhardt oder Herrn Solms an

Dr. Guido Westerwelle
die Koalitionspartner lesen, daß die große Steuerreform 1998 kommen muß. Sie revidieren das dann so halb, indem Sie sagen, im ersten Schritt - -

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313117700
Frau Kollegin, eine Frage, bitte.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313117800
Ich frage ihn, warum in den Zeitungen immer wieder nachzulesen ist, daß er und auch Herr Gerhardt und Herr Solms behaupten, daß die große Steuerreform 1998 kommen soll und vor der Wahl ganz beschlossen werden soll, daß sie aber nur im ersten Schritt vor der Wahl umgesetzt wird und der zweite Schritt nach der Wahl kommt. Ich würde gern von Ihnen wissen, warum Sie sich jetzt hinstellen und sagen: „Es gibt eine Kommission, und die neue Waigelsche Kommission, an der die F.D.P. beteiligt ist, arbeitet jetzt erst einmal, und dann sehen wir, was dabei herauskommt und wie die Gegenrechnung aussieht, dann diskutieren wir darüber",

(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Haben Sie jetzt noch eine Frage?)

ohne den Leuten zu sagen, wann dies aus Ihrer Sicht ernsthaft umgesetzt werden soll. Deswegen sagen Sie mir bitte einmal: Was stimmt jetzt? Wollen Sie 1998 ein Gesamtpaket vorstellen, oder wollen Sie Teil eins im Jahr 1998 haben und nach 1998 die Gegenfinanzierung mit der Mehrwertsteuer?

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313117900
Einen Moment, Herr Westerwelle.
Ich muß auf etwas hinweisen. Meine Bemerkung vorhin hat an betreffender Stelle Unwillen ausgelöst. Aber es geht nicht, daß bei den Reden Fragen in der Länge von Debattenbeiträgen gestellt werden und der Redner in der Antwort halbe Zeitungsseiten vorliest; das bezieht sich jetzt nicht auf Sie, Herr Westerwelle. Fragen sollen kurz und präzise sein, ebenso die Antworten; sonst kommen wir völlig aus dem Takt. Ich sitze hier dafür, daß wir im Takt bleiben.
Bitte, Herr Kollege Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1313118000
Auch ich hätte ein paar Zeitungsseiten dabei. Aber ich wollte sie gar nicht vorlesen.
Frau Kollegin, bei allem Respekt, wenn Sie eben zugehört hätten, hätten Sie gemerkt, daß es doch wirklich eindeutig ist. Wir sagen als F.D.P.: Wir wollen eine Steuersenkungspolitik und eine Steuervereinfachungspolitik. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zu Ihnen. Sie wollen nämlich keine Nettoentlastung bei den Steuern, sondern Sie wollen die Steuer- und Abgabenquote sogar noch erhöhen. Wir sagen als F.D.P.: Wir möchten möglichst schnell einen Einstieg in diese Steuerreform erreichen. Aber daß wir das mit unserem Koalitionspartner verhandeln
und besprechen und nicht mit Ihnen, können Sie sich, glaube ich, ganz alleine ausmalen.

(Beifall bei der F.D.P. Abg. Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313118100
Kollege Westerwelle, es gibt ein weiteres Fragebegehren.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1313118200
Nein, ich beantworte jetzt keine Zwischenfragen mehr. Ich möchte etwas zur Sache selbst sagen können.
Der Antrag der SPD lautet: „Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 in Kraft setzen". Von Steuersenkungen ist dort ausdrücklich nicht die Rede. Die Opposition tritt eben nicht für eine Steuersenkungspolitik ein. Vielmehr wollen Sie einen Verschiebebahnhof bei Steuern und Abgaben auf hohem Niveau. Sie nennen das Umverteilung. In Wahrheit ist es nichts anderes, als daß Sie die Leistungskräfte in diesem Land in ihrer Leistungsfähigkeit weiter behindern und sie abwürgen wollen. Die Leistungskräfte zu fördern wäre aber die Voraussetzung dafür, daß neu investiert wird und Arbeitsplätze entstehen.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leistungsgerechte Besteuerung!)

Frau Kollegin, wenn Sie auf den Beschluß der Grünen hinweisen: Machen wir doch einmal den fundamentalen Unterschied zwischen Grünen und der Koalition klar, wenn es um die Ökosteuerdiskussion geht. Sie wollen Ökosteuern auf die ohnehin viel zu hohe Abgabenlast draufsatteln. Wir sagen, daß das ein Konjunkturkiller erster Klasse wäre. Wir sagen: Wir brauchen Steuerentlastung, bevor man an eine Maßnahme in dieser Richtung überhaupt denkt.

(Beifall bei der F.D.P.)

Auf Ihrem Bundesparteitag haben Sie gerade Maßnahmen beschlossen, die eine Steuermehrbelastung für dieses Jahr von 20 Milliarden DM zur Folge hätten. Wer jetzt Ökosteuern auf die hohen Steuern und Abgaben einfach draufsattelt,

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und eine Entlastung!)

der schafft keine Investitionen im Umweltbereich, der schafft Pleitewellen in Deutschland. Das ist das, was wir in Wahrheit bekämen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen mehr zu.
Der Antrag der SPD ist parteipolitisch motiviert. Er hat übrigens, Herr Kollege Scharping, die gleiche strategische Qualität wie „brutto/netto" und „Mexiko" . Wer dem Deutschen Bundestag eine Entschließung zur Steuerreform vorlegt, kommt nicht darum herum, mindestens seine eigenen Vorstellungen, mindestens die Eckpunkte einer entsprechen-

Dr. Guido Westerwelle
den Steuerreform tatsächlich zu nennen. Sie beantworten die Frage der Tarife mit einem entschiedenen „mal so und mal so" . Herr Scharping, Ihr heutiger Antrag zeigt es wieder, Sie verhalten sich wie ein wild gewordener Motorradfahrer: Ich weiß zwar noch nicht, wohin es gehen soll; aber dafür bin ich auf alle Fälle schneller da.
Wer im Deutschen Bundestag eine schnelle Steuerreform will, der darf sie dann nicht im Bundesrat boykottieren. Sie könnten von der Koalition eine sehr viel frühere Steuerreform bekommen, und zwar zum 1. Januar 1997, wenn Ihre Landesregierungen bei der Frage der Unternehmensteuerreform endlich mitmachen würden.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie bremsen die Steuerreformpolitik dieser Koalition im Bundesrat und beschweren sich dann anschließend über Taten, die Sie selber angerichtet haben.

(Widerspruch bei der SPD Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir doch gerade klargestellt, daß es nicht einmal eine Vorlage gibt!)

Wir fordern die SPD-Ministerpräsidenten von Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Manfred Stolpe und Reinhard Höppner, auf, die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern zu verhindern. Wir werfen den beiden Ministerpräsidenten vor, ihren Amtseid, nachdem sie verpflichtet sind, zum Wohle des Landes zu handeln, zu verletzen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist ja unglaublich! Schämen Sie sich!)

Wir sagen Ihnen: Wenn Herr Stolpe und Herr Höppner die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer verhindern, dann ist das ein Programm zur Verjagung des Mittelstandes aus den neuen Ländern. Genau das werden sie damit bewirken.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Detlev von Larcher [SPD]: Unverschämtheit!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313118300
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolfgang Ilte?

Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1313118400
Nein, ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu.
Der Amtseid der Ministerpräsidenten Stolpe und Höppner lautet, dem Wohle des Landes zu dienen und nicht dem Erich-011enhauer-Haus. Das ist dabei der große Unterschied.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese beiden SPD-Ministerpräsidenten sollten sich nicht länger von dem Parteiinteresse fernsteuern lassen, das der Parteivorsitzende festsetzt.

(Widerspruch bei der SPD)

Die betriebliche Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer verteuern die Arbeitsplätze. Es gibt Schätzungen, nach denen die Einführung der Gewerbekapitalsteuer allein in Ost-Berlin für eine Verteuerung jedes Arbeitsplatzes um 3 842 DM verantwortlich ist. Sie müssen den Menschen erklären, wie Sie es in einer Zeit, in der die Eigenkapitaldecke der mittelständischen Unternehmen das größte Problem ist, verantworten wollen, die Eigenkapitaldecke der mittelständischen Unternehmen weiter zu verschlechtern, indem Sie eine Substanzsteuer einführen. Es ist Unsinn, daß wir in Deutschland die Substanz eines Unternehmens anstatt den wirtschaftlichen Erfolg besteuern.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Substanzsteuer macht gerade kleine und mittlere Unternehmen extrem krisenanfällig und erschwert die Eigenkapitalbildung.
Welche babylonischen Sprachverwirrungen tragen Sie hier vor? Die Vermögensteuer sei etwas für die Reichen. Zwei Drittel der Vermögensteuer fallen bei den Betrieben an. Diese betriebliche Vermögensteuer verteuert die Arbeitsplätze in Deutschland. Sie können sich nicht mit Tränen in den Augen hier hinstellen, die Steuer- und Abgabenquote kritisieren und dann darüber reden, daß die Lohnzusatzkosten reduziert werden müßten, aber gleichzeitig bei der Verteuerung der Arbeitsplätze durch Substanzsteuern mitwirken. Das ist unglaubwürdig, was Sie hier aufführen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das nächste Beispiel lautet dann: Die Gewerbekapitalsteuer und die betriebliche Vermögensteuer träfen in Wahrheit nur die Reichen; von der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer würden tatsächlich nur die wirklichen Großunternehmen profitieren. Wie kommt es denn wohl, daß sämtliche Handwerker und Organisationen des Handwerks die Koalition eindringlich auffordern, die Gewerbekapitalsteuer endlich abzuschaffen?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wie kommt das? Ich will es Ihnen sagen: Es gibt nämlich nur 2 Prozent Großunternehmen in Deutschland, die Gewerbekapitalsteuer zahlen. Die Gewerbekapitalsteuer ist eine Strafsteuer für den Mittelstand geworden. Deswegen muß sie abgeschafft werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie stellen sich dann hierhin und fahren im Bundesrat eine Art Sonthofen-Strategie -

(Freimut Duve [SPD]: Keine Beschimpfungen der CSU!)

- ja, das ist ungefähr der schlimmste Vorwurf, den ich überhaupt an Ihre Adresse richten kann; da haben Sie recht - nach dem Motto: Wir sind dabei, machen eine Politik der verbrannten Erde, versuchen, beispielsweise im Bundesrat, Einsparungen zu verhindern, setzen sogar weitere kostspielige Pro-

Dr. Guido Westerwelle
gramme durch, um anschließend sagen zu können: Schaut her, die haben den Haushalt nicht im Griff.
Nehmen wir doch einmal das ganz konkrete Beispiel Vermögensteuer versus Kindergelderhöhung. Dazu sagen wir Ihnen: Wir sind der Auffassung, es wäre sehr sinnvoll - wenn wir es uns leisten könnten - das Kindergeld, nachdem wir es in diesem Jahr ungefähr verdoppelt haben, im nächsten Jahr um weitere 20 DM zu erhöhen.

(Zuruf von der PDS: Das ist schon beschlossen!)

Es gibt aber einen großen, fundamentalen Unterschied zwischen der Abschaffung der betrieblichen Vermögensteuer und der weiteren Erhöhung des Kindergeldes. Die Abschaffung der betrieblichen Vermögensteuer schafft Arbeitsplätze; das kann man von der Erhöhung des Kindergeldes, so sinnvoll sie auch sein mag, wirklich nicht behaupten.

(Beifall bei der F.D.P. Zurufe von der SPD: Lächerlich! Eine Frechheit ist das!)

Zur weiteren Erhöhung des Kindergeldes um 20 DM - nachdem es in diesem Jahr bereits verdoppelt wurde - sollten wir den jungen Menschen und Familien sagen, daß sie sich darüber freuen können - wohl wahr -, daß diese Erhöhung aber vor allem eines zur Folge haben sollte: Die Familien sollten am besten diese 20 DM monatlich anlegen; denn das, was in Ihrer Politik überhaupt nicht mehr vorkommt, ist die Verantwortung der Finanzpolitik und nicht nur die Verantwortung der ökologischen Politik gegenüber der nächsten Generation. Sie verteilen die Wohltaten der Gegenwart mit immer neuen Hypotheken für die Zukunft der nächsten Generation. Das ist das, was Sie wollen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie fragen hier nach Einsparungen. Gehen wir doch einmal weiter zum Bereich der Steinkohle. Was ist aus euch geworden? Ihr seid einmal mit hohen idealistischen Zielen angetreten. Jetzt ist für euch außer der Machtfrage nichts mehr wichtig,

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

wie man an der Steinkohlethematik erkennen kann. Wir schlagen als Koalition einen Abbau der Steinkohlesubventionen vor. Aber Rot-Grün im nordrhein-westfälischen Landtag verhindert alles, was immer vom Bund vorgeschlagen wird.
Ich sage Ihnen: Es ist ein Treppenwitz, daß Sie Ihre ökologische Verantwortung mittlerweile abgegeben haben, nämlich an der Garderobe auf dem Weg zu einer Macht, die Sie aber niemals bekommen werden - jedenfalls nicht auf Bundesebene. Das sage ich Ihnen voraus.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Bei allem Respekt vor Koalitionen - es gibt zwischen Koalitionsparteien immer unterschiedliche Meinungen; das ist gar keine Frage - sage ich dies
noch als letztes: Die SPD kämpft im innerparteilichen Ring. Im Vergleich zu Scharping, Schröder, Lafontaine sind Kohl, Waigel, Gerhard eine Dreieinigkeit.

(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Zuruf von der SPD: Und Westerwelle!)

Sie werden es erleben: Ihr innerparteilicher Machtkampf lähmt Sie. Deswegen sind Sie in Wahrheit nicht in der Lage, vernünftig zu verhandeln und vernünftige, sachorientierte Kompromisse zu schließen. Was Sie hier mit der Debatte beabsichtigt haben, das geht nicht auf. Sie glauben, Sie könnten einen Keil in die Koalition treiben. Wir wissen längst: Die Reformen für Deutschland gibt es nur mit einer bürgerlichen Mehrheit, mit Ihnen ganz bestimmt nicht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313118500
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313118600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines muß der Neid Ihnen lassen, Herr Westerwelle: Mit welcher Frechheit Sie hier Unwahrheiten verbreiten und welchen Sprachgebrauch Sie an den Tag legen, das macht fast schon sprachlos.

(Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Das sagen Sie als Vertreterin der Partei des kurzen Gedächtnisses?)

- Das sage ich als Vertreterin der Partei des demokratischen Sozialismus. Das „demokratisch" fehlt Ihnen wahrscheinlich ab und zu sehr stark.
Wir diskutieren in diesem Jahr zum zweiten Mal über einen Antrag der SPD zur Einkommensteuerreform. Hierzu muß ich sagen: Beide Anträge zeichnen sich dadurch aus, daß sie wirklich sehr substantiell sind. Zugegebenermaßen hat uns die Regierungskoalition im Sommer eine Diskussion zur Einkommensteuerreform aufgedrängt, die an ein Affentheater grenzte.
Warum wurde diese Diskussion eigentlich an die Öffentlichkeit lanciert? Es ging darum, die Menschen mit Versprechungen für die Zukunft - ob für 1998 oder 1999 - von dem Sparpaket genannten Horrorpaket der sozialen Grausamkeiten, das Sie durchgepeitscht haben, mit großer Kaltschnäuzigkeit abzulenken. Wir hoffen, daß der gesellschaftliche Widerstand dagegen trotzdem wächst.
Für eine gerechte Einkommensteuerreform, wenn sie denn tatsächlich gewollt wäre, hätte die Regierungskoalition schon mehrmals gute Chancen gehabt. Aber weder im Jahressteuergesetz 1996 noch im Jahressteuergesetz 1997 sind Sie darangegangen, Steuersubventionen abzubauen oder mehr Gerechtigkeit in das Steuerrecht einzubauen. Im Gegenteil: In der laufenden Diskussion zum Jahressteuergesetz 1997 versuchen Sie, über den Ausbau der abzugsfähigen Sonderausgaben für hauswirtschaftliche Be-

Dr Barbara Höll
schäftigungsverhältnisse - besser bekannt unter dem Namen Dienstmädchenprivileg - eine Erhöhung dieser Steuersubvention von 12 000 DM auf 24 000 DM durchzusetzen. Den Gärtner, den Chauffeur oder die Putzfrau können sich in diesem Lande eben nur Besserverdienende leisten. Sie nehmen damit in Kauf, daß Menschen, die es sich auf Grund ihres hohen Einkommens leisten können, eine Hilfe für ihren privaten Lebensaufwand anzustellen, die Kosten dafür steuerlich absetzen können. Ich frage Sie: Was sagen Sie Alleinerziehenden, die auf Kinderbetreuung angewiesen sind, wenn sie dies nicht einmal mehr steuerlich geltend machen können, ganz abgesehen davon, daß die Kinderbetreuungsplätze meistens fehlen? Auch hier könnten Arbeitsplätze geschaffen werden.
Massive steuerliche Rückendeckung erfahren von dieser Regierung auch immer wieder die Unternehmen, so zum Beispiel bei der Möglichkeit von Sonder- und Ansparabschreibungen im § 7 des Einkommensteuergesetzes. Diese Regelung zielte ursprünglich auf die Förderung kleiner Unternehmen ab. Dank der Bundesregierung ist sie nun zu einer Subvention des Großkapitals degeneriert.
Herr Westerwelle hat hier soeben wieder mit Zahlen operiert, die sich auf die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern bezogen. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Zahlen - im Finanzausschuß vom Parlamentarischen Staatssekretär mehrmals angefordert - noch immer nicht auf dem Tisch liegen. Fakt ist, daß diese Steuer eine Steuer für Großbetriebe ist und daß in den neuen Bundesländern wahrscheinlich kaum ein Betrieb - bei SKET sind Sie dabei, einen der letzten Großbetriebe kaputtzumachen - eine solche Steuer zahlen müßte.

(Zurufe von der CDU/CSU: Quatsch!)

- Das ist nicht Quatsch; das ist die Wahrheit. Andere Zahlen haben Sie uns noch nicht auf den Tisch gelegt.
Mit Ihrer Politik der Unternehmensteuerbefreiung, einer Politik, die diese Regierung seit 1982 kontinuierlich betreibt - mit dem Ergebnis einer Massenarbeitslosigkeit von 4 Millionen Menschen in dieser Republik -, tun Sie alles andere, als tatsächlich den Menschen zu helfen, die der Hilfe bedürfen, wenn sie schon keine Arbeitsplätze haben.
Bei denjenigen, die ein zu versteuerndes Einkommen haben, das aber oftmals niedrig ist, sind Sie nicht bereit, verfassungskonform zu entscheiden. Mit der Festlegung des steuerfreien Existenzminimums auf 12 000 DM im Jahressteuergesetz 1996 haben Sie dem klar widersprochen. Notwendig wären 17 000 DM. Auch die SPD - das muß ich sagen - hat diese Notwendigkeit trotz der Anhörung und der Aussage der vielfältigen Sachverständigen scheinbar noch nicht erkannt.
Wohin die Reise der Steuerreform geht, wenn sich konservative Politiker zu „Steuer-Männern" aufschwingen, zeigen die jüngsten Vorschläge der CDU. Unter den Stichworten „Verbreiterung der Bemessungsgrundlage" und „Abbau von Steuersubventionen" sollen Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Mutterschaftsgeld und andere Lohnersatzleistungen, die bisher weitgehend steuerbegünstigt waren, zukünftig voll in die Einkommensbesteuerung einbezogen werden - ein Vorschlag übrigens, den ich so auch in einem Papier für den Strategiekongreß des Bündnisses 90/Die Grünen am vergangenen Wochenende gelesen habe. Ich bin arg darüber verwundert, daß ich dort eine Gleichsetzung von privaten Veräußerungsgewinnen und Lohnersatzleistungen vorfinde. Auch das ist für mich nicht sehr sozial.
Die Einbeziehung in die Einkommensbesteuerung schlägt die Regierungskoalition ebenso für Nacht- und Feiertagszuschläge vor. Die legalen Möglichkeiten der Steuerumgehung und der Subventionen, die für Großverdiener jetzt im Steuerrecht enthalten sind, werden von Ihnen nicht einmal thematisiert, geschweige denn abgebaut. Von einer Individualbesteuerung und damit einer Abschaffung des Ehegatten-Splittings, wie sie mittlerweile in fast allen europäischen Ländern Realität ist, will die CDU nichts wissen. Auch zukünftig soll die Devise gelten: Sei verheiratet oder zahle Steuern.
Vor knapp zwei Jahren unterbreitete die BareisKommission umfassende Vorschläge für den Abbau von Steuervergünstigungen in einer Größenordnung von 30 Milliarden DM. Der Bundesfinanzminister legte diese Vorschläge postwendend ad acta. Allzu genau wollte es Herr Waigel scheinbar doch nicht wissen; denn jede konkrete Streichung ruft wieder die jeweiligen Lobbyvertreter auf den Plan, so wie bei der Kfz-Steuerreform, die wir morgen nicht beraten können, weil der Verband der Automobilindustrie in Brüssel erfolgreich interveniert hat.
Inzwischen glänzt die Koalition - das gilt insbesondere für einzelne Abgeordnete - mit immer neuen Modellen einer Steuerreform, die sowohl aus steuersystematischen als auch aus steuerpolitischen Aspekten unakzeptabel sind. So will Herr Uldall uns glauben machen, der von ihm vorgeschlagene dreistufige Einkommensteuertarif würde die Steuerpflichtigen erheblich entlasten. Wenn man nachrechnet, bei wem diese Steuerentlastungen zu Buche schlagen würden, zeigt sich, daß ein Durchschnittsverdiener mit einem Jahreseinkommen von 30 000 bis 40 000 DM im Jahr 2 500 DM weniger an Steuern zahlen würde. Bei einem Einkommensmillionär wären es 230 000 DM weniger Steuern.
Klar ist, daß eine Steuerreform finanziert werden muß. Die Instrumente, die wir bisher von der Regierungskoalition gehört haben, sind eine Mineralölsteuer- und eine Mehrwertsteuererhöhung. Die Koalition benutzte die Sommerpause ganz gezielt, um zu versuchen, den Menschen einzutrichtern, die Mehrwertsteuererhöhung sei notwendig.
Welche Verteilungsmechanismen und -wirkungen zieht eine Erhöhung von Verbrauchsteuern nach sich? - Von einer Senkung der progressiven Einkommensteuer profitieren die einkommensstarken Schichten wesentlich mehr als Menschen mit niedrigerem Einkommen. Eine höhere Mehrwertsteuer belastet vor allem die Bezieher niedriger Einkommen

Dr. Barbara Höll
wie Rentner, Studenten und Arbeitslose. Sie alle kommen nicht in den Genuß von Einkommensteuersenkungen, wohl aber in den fragwürdigen Genuß höherer Verbrauchsteuern. Hier soll der Kurs einer steuerlichen Einkommensumverteilung von unten nach oben festgeschrieben werden.
Angesichts solcher Vorschläge fordern Sie, meine Damen und Herren von der SPD, die Regierung auf, ihre Steuerreform schon 1998 zu verwirklichen? Sie fordern damit die Koalition auf, ihre antisozialen Pläne schnellstmöglich in die Tat umzusetzen. Sie unternehmen bisher kaum den ernsthaften Versuch eines Gegenentwurfs etwa in Form eines Gesetzestextes.
Doch damit nicht genug. Sie haben im letzten Jahr dieser antisozialen Politik Vorschub geleistet: Ich nenne hier noch einmal den verfassungswidrigen Grundfreibetrag.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313118700
Frau Kollegin, keine Aufzählung mehr.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313118800
Ich komme zum Ende. - Ich nenne die begrenzte Absetzbarkeit - im Rahmen der doppelten Haushaltsführung und - das darf nicht unerwähnt bleiben - Ihr Umfallen beim Kindergeld in dieser Woche.
Was ist das für ein Oppositionsverständnis, wenn man es als Erfolg feiert, daß die geltenden Gesetze tatsächlich eingehalten werden, noch dazu bei einer Mehrheit im Bundesrat? Es kann nicht wahr sein, daß Sie deshalb in den internen Verhandlungen auf die Vermögensteuer verzichten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313118900
Frau Kollegin!

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313119000
Wir werden weiter unsere Vorschläge einbringen, die in unserem Beitrag angedeutet worden sind.

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie sagen die Unwahrheit!)

- Nein, ich sage nicht die Unwahrheit; das war in den Pressemitteilungen zu lesen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313119100
Frau Kollegin!

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313119200
Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihr wohlwollendes Entgegenkommen.

(Beifall bei der PDS Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben die Unwahrheit gesagt!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313119300
Ich erteile dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1313119400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Poß, die Lücke im Haushalt, die Sie beklagen, ist entstanden, weil Sie es in den letzten Jahren versäumt haben, an der Konsolidierung mitzuwirken, was allein 6 Milliarden DM ausmacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn Sie der sicherlich schmerzlichen Verschiebung der Kindergelderhöhung zugestimmt hätten - was schwierig, aber zumutbar gewesen wäre -, hätten wir weitere 4 bis 5 Milliarden DM einsparen können. Sie sind als Partei für eine Lücke von mindestens 10 bis 11 Milliarden DM verantwortlich. Das ist Ihre Verantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daß dies auch in Ihren eigenen Reihen sehr unterschiedlich gesehen und bewertet wird, beweist eine Aussage des Ersten Bürgermeisters von Hamburg vom vergangenen Jahr, als ein entsprechender Antrag im Bundesrat verabschiedet wurde und er selbst - allerdings als einziger im Bundesrat - sagte: Wir können uns das, so schön es ist, nicht mehr leisten.
Sie sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, was dieser Mann damals sagte. Er hat recht behalten. Sie können uns nicht vorwerfen, daß wir über etwas nachdenken, was in der Tat schwierig, aber zumutbar gewesen wäre.
Wir alle, Sie wie wir, sind damals davon ausgegangen, daß uns nach der Steuerschätzung vom Mai 1995 im Jahre 1997 30 Milliarden DM allein beim Bund und 60 Milliarden DM im öffentlichen Gesamthaushalt mehr zur Verfügung stehen. Jetzt müssen wir alle, Sie wie wir, die Konsequenzen ziehen. Wir müssen konsolidieren; wir müssen die Dinge finanzierungsfähig machen; wir müssen Prioritäten setzen. Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich der Wirklichkeit einer billigen Parteipolemik wegen. Das ist unverantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was Sie zur Beteiligung der Kommunen sagen, ist reine Legendenbildung. Wahr ist, daß die Kommunen vor eineinhalb Jahren skeptisch waren, daß die überwiegende Zahl der Kommunen und vor allen Dingen die kommunalen Spitzenverbände aber heute genau wissen, daß die Beteiligung an der Umsatzsteuer für sie ein Zukunftsprojekt ist, und daß sie an dieser steigenden Steuer teilhaben wollen, weil dies für ihre Einnahmesituation quantitativ und qualitativ besser ist, als von der Gewerbesteuer abhängig zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Widerspruch bei der SPD)

Sie haben gesagt, Herr Poß, die Gemeinden und damit natürlich auch die Städte seien Ihnen dankbar. Das ist wahr.

(Freimut Duve [SPD]: Das ist wahr, ja!)

Im März 1996 haben die Bürger in Nürnberg, in Fürth, in Erlangen, in Regensburg und in Kempten darüber abgestimmt und die SPD-Oberbürgermeister abgewählt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Damit haben die Bürger in diesen Kommunen im Wissen um diese Steuerpolitik eine sehr klare Entscheidung getroffen.

(Lachen bei der SPD)

- Entschuldigung. Wollen Sie die Entscheidung aller Bürger in diesen Städten vielleicht der Lächerlichkeit preisgeben?

(Otto Schily [SPD]: Und wie ist das in den anderen Städten?)

Ich frage das, weil Sie darüber lachen. Die Bürger haben sehr wohl im Bewußtsein ihrer Zukunft abgestimmt, und sie wissen, wo die stärkere Wirtschafts- und Finanzkompetenz bei der Schaffung von Arbeitsplätzen angesiedelt ist, nämlich bei der Union und nicht bei der SPD.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie wissen ganz genau, daß das, was Sie hier behaupten, schlichtweg falsch ist.

(Freimut Duve [SPD]: Werden Sie Bürgermeisterkandidat, Herr Waigel!)

- Ach Gott, kandidieren Sie doch auf der Loreley.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das hat mir jetzt selber gut gefallen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Erstens. Wir sind, obwohl es uns nicht ganz leichtfällt, bereit, bei jeder Steueränderung eine Grundgesetzänderung mitzumachen. Aber an der Grundgesetzänderung wird die kommunale Finanzreform nicht scheitern.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich weiß nicht, was soll das bedeuten!)

Zweitens. Sie wissen ganz genau, daß wir zur Beteiligung an der Umsatzsteuer stehen, und zwar in der Größenordnung des Verlustes durch den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer und durch die Reduzierung der Gewerbeertragsteuer.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gibt es unterschiedliche Auffassungen zu der Höhe!)

Drittens. Sie müssen sich natürlich auch zu dem unbequemen Schluß durchringen, daß eine Gegenfinanzierung stattfinden muß. Eine Gegenfinanzierung mit der Reduzierung der degressiven Abschreibung begegnet Widerständen, begegnet Bedenken, begegnet Kritik. Das wissen wir. Aber im Hearing haben sich die allermeisten Sachverständigen und Beteiligten in Abwägung aller Umstände dafür entschieden, weil sie - auch Handwerk und Mittelstand - genau wissen, daß der Wegfall einer Steuer besser ist als Liquiditätsverschiebungen, die im Grunde das Wesen der degressiven Abschreibung bedeuten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Insofern sind wir jederzeit in der Lage, das, was im Finanzausschuß noch vorliegt und was der Kollege Thiele in seiner Zwischenfrage zum Ausdruck gebracht hat, so zu aktualisieren, daß es beratungsfähig ist.

(Detlev von Larcher [SPD]: Dann legen Sie es doch vor!)

Sie müssen endlich erklären, ob Sie wollen oder nicht. Seit gestern gibt es zwei Äußerungen. Auf der einen Seite sagt Herr Voscherau: Es darf nicht zur Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern kommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Er bewegt sich mit der Aufforderung, wir sollten dafür sorgen, daß sie nicht eingeführt wird, hart an der Grenze dessen, was in einem Rechtsstaat gesagt werden darf.

(Abg. Detlev von Larcher [SPD] und Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS] melden sich zu einer Zwischenfrage)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313119500
Herr Kollege Waigel, gestatten Sie zwei Zwischenfragen?

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1313119600
Nein, ich bin mitten in einem Gedankengang.
Es gibt eine zweite Äußerung, nämlich eine der Brandenburger Finanzministerin. In einer Pressemeldung heißt es:
Die brandenburgische Finanzministerin Wilma Simon (SPD) hat - -

(Freimut Duve [SPD]: Doktor!)

- Entschuldigung, ich zitiere eine Pressemitteilung. Hier steht ihr Name ohne Doktortitel. Wenn sie Doktor ist, dann fällt mir doch keine Perle aus der Krone, das zu sagen.

(Otto Schily [SPD]: Wo haben Sie denn eine Perle in der Krone!)

Aber ich zitiere im Moment, Herr Duve. Sie als Schriftsteller müßten für klares Zitieren doch Verständnis haben.

(Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD])

Ja, das Gedicht von der Loreley stammt nicht von Ihnen, Herr Duve, trotz Ihres Zwischenrufs, und das Lied auch nicht!
Aber zurück zum Ernst. Ich zitiere noch einmal:
Die brandenburgische Finanzministerin Wilma Simon (SPD) hat die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern gefordert. Die Kommunen in Ostdeutschland könnten auf eine solche Einnahmequelle keinesfalls verzichten, sagte die Ministerin am Donnerstag im Hessischen Rundfunk. Zwar sei der Osten durch den Länderfinanzausgleich indirekt an den Erträgen aus der Gewerbekapitalsteuer westlicher Unternehmen beteiligt, doch könne dies auf
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11791
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Dauer nicht Einnahmen aus einer eigenen Steuer ersetzen.
Da stellen Sie, Herr Poß, sich scheinheilig hin und sagen, es bestehe keine beratungsfähige Vorlage, und Sie sind unfähig, über diese Frage bei sich eine gemeinsame Haltung zu erzielen, um dann mit uns darüber sprechen zu können!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine Reform zu fordern und selber die personifizierte Reformunfähigkeit zu sein, das ist das Wesen der SPD. Was Sie hier vorführen, ist reine Show. Sie können die dritte Stufe der Unternehmensteuerreform jederzeit mit uns angehen. Allein die Blockade im letzten Jahr hat die Konjunktur und die Schaffung von Arbeitsplätzen erschwert.
Meine Damen und Herren, der Kollege Repnik hat völlig korrekt dargestellt, was auch in einer Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Hauser steht, völlig korrekt. Dazu stehen wir. Wir haben doch noch nie etwas anderes gesagt!

(Detlev von Larcher [SPD]: Doch!)


(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Nur, meine Damen und Herren, Sie wissen ganz genau: Das, was von einer Vermögensteuer übrigbliebe und überhaupt noch verfassungskonform gemacht werden könnte, wäre eine Mischung zwischen Murks und Marx. Und dafür stehen wir nicht zur Verfügung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zuruf von der PDS: Marx war gut!)

Meine Damen und Herren, haben Sie das gehört: Marx war gut! Man sieht, die SPD kehrt wieder zu ihren Urständen zurück. Das ist ganz interessant.

(Otto Schily [SPD]: Das kam von der PDS!)

Das erleichtert es natürlich dem Generalsekretär der F.D.P., uns als Dreieinigkeit zu bezeichnen, und insofern war das nicht unlistig.

(Zuruf von der SPD: Marx war ein bedeutender Mann!)

- Frau Präsidentin, ich glaube, die Herrschaften sind sehr unruhig.

(Zuruf von der SPD: Sie sind ein bißchen nervös! Weitere Zurufe von der SPD)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313119700
So, ich denke, jetzt geht es weiter.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1313119800
Danke schön, Frau Präsidentin.
Ich wollte eben sagen, daß der erste Satz Ihres Antrags stimmt. Ich lese vor:
In Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden besteht breites Einvernehmen darüber, daß eine grundlegende Reform der Einkommensbesteuerung notwendig ist.
Das können wir alle uneingeschränkt unterstreichen. Nur, meine Damen und Herren, warum wirken Sie dann nicht mit? Warum haben Sie im letzten Jahr beim Jahressteuergesetz 1996, als es um die Unternehmensteuerreform ging, nicht mitgemacht? Warum tun Sie sich jetzt so schwer, endlich bei der Unternehmensteuerreform mitzumachen? Warum bauen Sie immer wieder neue Hindernisse auf?
Warum haben Sie - vor allen Dingen aus der Fraktion - zunächst den Kontext hergestellt: Wenn es zu einem Wegfall der Vermögensteuer kommt, kann über die Gewerbekapitalsteuer gar nicht geredet werden? Und das wird von der Länderseite aus jetzt bei Ihnen wieder korrigiert.
Was wir brauchen, ist eine seriöse umfangreiche Vorbereitung. Mit einer solchen Reform sind umfangreiche Rechtsänderungen verbunden. Wir haben die Erfahrung der dreistufigen Steuerreform von 1986, 1988 und 1990. Es war eine hervorragende Reform. Diese Steuerreform von 1990 war ein großer Erfolg.

(Lachen bei der SPD)

Jede Steuerreform bedarf der entsprechenden Vorbereitung. Meine Damen und Herren, wenn eine Partei wie Sie noch nicht einmal in der Lage ist, zum Eingangssteuersatz und zum Spitzensteuersatz eine verläßliche Aussage zu machen,

(Zuruf von der SPD: Was machen Sie denn?)

dann sind Sie doch unfähig, sich über einen weiteren Verlauf der Diskussion, über Kompensation, über Größenordnung des Brutto- und Nettobetrags überhaupt zu unterhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zurufe von der SPD)

Sie müssen doch endlich einmal Klarheit herbeiführen: Wollen Sie 45 Prozent Spitzensteuersatz, wie offensichtlich Herr Poß? Wollen Sie 40 Prozent, wie vielleicht Herr Schleußer? Oder wollen Sie das erst am Schluß entscheiden? Sie haben einen so großen internen Abstimmungsbedarf, daß Sie zunächst einen solchen Antrag als Selbstbindung formulieren sollten, bevor Sie damit in das deutsche Parlament gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir werden Ende dieses Jahres Eckpunkte für ein solches Konzept vorlegen.

(Zurufe von der SPD)

Wir werden dann einen Referentenentwurf erarbeiten. Dieser geht allen Verbänden und Institutionen zu. Danach gibt es einen Kabinettsentwurf, der von der Koalition vorbereitet wird.

(Zuruf von der SPD: Das wird ein Kabinettsstückchen!)

Danach erfolgt die Zuleitung an Bundestag und Bundesrat. Danach gibt es eine sicher intensive Diskussion im Finanzausschuß mit Hearings und anderem mehr. Dann gibt es die zweite und dritte Lesung im Bundestag. Dann gibt es die abschließende Beratung im Bundesrat. Dann können Sie dem zustimmen. Das

Bundesminister Dr. Theodor Waigel
wäre schön. Wenn es dann aber noch an den Vermittlungsausschuß geht und man mindestens ein halbes Jahr für die Umsetzung in Steuertabellen bei den Finanzämtern, bei den Steuerberatern und vor allen Dingen bei den Bürgern braucht, dann muß man einen realistischen Zeitplan erstellen.
Das haben wir getan. Dazu stehe ich. Sie sind völlig unfähig, sich an der Reform zu beteiligen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313119900
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (SPD):
Rede ID: ID1313120000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der SPD ist absolut klar: Wir wollen eine Entlastung der Steuerzahler zum 1. Januar 1998.

(Beifall bei der SPD)

Mich überrascht nicht mehr, wie viele Worte darum gemacht werden; denn diese Koalition, die eine lange Tradition in der Steuererhöhung genauso wie in der Steuerlüge hat, muß hier umfallen, insbesondere die F.D.P., die ihr Umfallen wortreich und aggressiv bemäntelt. Sie wollen die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger zum 1. Januar 1998 nicht. Das ist der Unterschied, den ich hier festhalte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Bundesfinanzminister hat offenbar noch nicht einmal erkannt - es tut mir leid, Herr Waigel, daß ich Ihnen das sagen muß -, daß sich die SPD mit diesem Antrag selber in hohem Maße bindet. Daß Sie unfähig sind, ein Angebot zur wirksamen Entlastung der Leistungsträger in Deutschland aufzugreifen, kennzeichnet Ihre Politik; denn Sie haben in den letzten Jahren das Gegenteil getan, nämlich Leistungsträger immer stärker belastet: die Familien, die Kinder, die Arbeitnehmer, die Handwerksbetriebe und viele andere.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Sie sind die Koalition der Steuererhöhung und der Steuerlüge. Sie haben mehrfach die Mineralölsteuer, die Versicherungssteuer, die Tabaksteuer und vieles andere erhöht. Noch nie habe ich eine Koalition und Politikerinnen und Politiker erlebt, die so unverschämt abseits der Realität argumentieren, wie Sie das heute vorgeführt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Sie täuschen über die Realitäten hinweg. Ich rufe Ihnen noch einmal ins Gedächtnis: 1991 wurden die Mineralölsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer und die Versicherungssteuer erhöht, 1992 die Tabaksteuer, 1993 die Mehrwertsteuer und die Versicherungssteuer, 1994 erneut die Mineralölsteuer und die Kraftfahrzeugsteuer. 1995 haben Sie den Solidaritätszuschlag eingeführt und die Vermögensteuer angehoben, das allerdings mit unserer Unterstützung.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Alles ohne die F.D.P.!)

Dann haben Sie erneut die Versicherungssteuer angehoben. Daneben haben Sie den Arbeitslosenversicherungsbeitrag, den Rentenversicherungsbeitrag und die Beiträge zur Pflegeversicherung angehoben, letzteres allerdings auch wieder mit unserer Unterstützung.
Ich will damit folgendes sagen: Sie haben in einer unglaublichen Weise zwei Dinge miteinander verknüpft, nämlich permanente Erhöhung der Steuern und permanente Erhöhung der Verschuldung Deutschlands. Beides haben Sie miteinander verknüpft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Es ist die schlichte Heuchelei, wenn Sie hier von der Zukunft und von künftigen Generationen reden, während Sie gleichzeitig die Zukunft des Landes und der Jugend wie keine andere Regierung in Deutschland mit Steuern und anderen Hypotheken finanziell belastet haben.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Sie sind nicht nur die Partei der Steuererhöhungen und der Steuerlügen, sondern Sie sind auch die Partei des regelmäßigen Umfallens. Sie haben - das merkt man doch in der aktuellen Diskussion - jetzt gerade wieder als Ausflucht vor Ihrer gescheiterten Finanzpolitik - das hat eine Regierung doch noch nie erlebt, daß die Deutsche Bundesbank selbst bekannt gibt, daß sie ihr Verschuldensziel deutlich überschreiten wird; darüber kann niemand glücklich sein, und das ist für das Land und für seine Zukunft außerordentlich bedenklich -

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

mit Blick auf den Haushalt 1997 erneut über die Mineralölsteuer geredet, nach dem Motto: wir müssen sie alle zwei bis drei Jahre erhöhen, aber gleichzeitig kein Konzept zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger vorgelegt - ja, für wie - - Ich muß mich wirklich zurückhalten. Was glauben Sie eigentlich, was Sie den Leuten noch alles einschenken können?
Erst haben Sie gesagt: Wir schaffen die Vermögensteuer ab und lassen die Familien bezahlen. Jetzt kommen Sie und sagen: Wir schaffen die Vermögensteuer ab und lassen die Autofahrer bezahlen. Vielleicht kommen Sie irgendwann einmal auf die Idee, daß die Interessen der Mehrheit des deutschen Volkes wichtiger sind als die Interessen von etwa einer Million Millionären in Deutschland. Das sollten Sie allmählich einmal zu verstehen beginnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Rudolf Scharping
Wir wollen ein gerechtes und einfaches Steuersystem, wir wollen den Abbau der Steuersätze, und wir wollen das Verschwinden der Steuerschlupflöcher. Wir haben Ihnen in unserem Antrag - freundlich, wie wir sind - keine Einzelheiten serviert, damit Sie einmal Ihre Vorstellungen vorlegen können, und zwar so, daß der Deutsche Bundestag sie, wenn er sie denn akzeptiert, zum 1. Januar in Kraft setzen kann.
Dennoch will ich Ihnen sagen: Unsere erste Priorität ist die Entlastung der Normalverdiener, die Entlastung der Leistungsträger. Unsere erste Priorität ist also die Absenkung des Eingangssteuersatzes.

(Beifall bei der SPD)

Wir sehen mit großem Interesse, daß sich andere jetzt auf diesen Kurs zubewegen.

(Lachen bei der F.D.P.)

Unsere zweite Priorität ist der Abbau von Steuerschlupflöchern, weil es nicht so sein kann, daß der Normalverdiener 46 Prozent Steuern und Abgaben zahlt, während die Steuern für besonders hohe Verdienste bei durchschnittlich 32 Prozent aufhören. Also wollen wir ein gerechtes, einfaches und wirtschaftlich vernünftiges Steuersystem, das den - wie die Fachleute sagen - linear-progressiven Tarif, also die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, einschließt. Ich registriere, daß - Uldall und manchen anderen zum Trotz - zwischen der SPD und der Bundesregierung in dieser Frage Einverständnis hergestellt werden könnte; denn Sie selbst haben den linear-progressiven Tarif in Ihrem sogenannten Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung zweimal positiv als Ihr eigenes Ziel erwähnt.
Drittens sagen wir: Wir wollen ein rabiates, klares und gründliches Durchforsten der Steuervergünstigungen und -subventionen. Dabei kann dann auch der Spitzensteuersatz sinken.
Jetzt will ich Ihnen sagen, worin die Schwierigkeit besteht, einen konkreten Spitzensteuersatz zu nennen. Bei der Beratung des Jahressteuergesetzes 1996 hatten wir Ihnen einen Abbau von Steuervergünstigungen und -subventionen in der Größenordnung von 14,5 Milliarden DM vorgeschlagen. In der ersten Runde des Vermittlungsverfahrens hatten Sie sich auf die ungeheure Summe von 165 Millionen DM eingelassen. Dann haben Sie sich mit uns in weiteren langen Verfahren mühsam auf die eigentlich eher klägliche Summe von 4,5 Milliarden DM verständigt. Sie verlangen von uns eine Prognose über Ihre Feigheit beim Abbau von Steuersubventionen und Steuervergünstigungen! Das ist ein bißchen viel verlangt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn unsere Erfahrung ist, daß Sie zwar immer von Subventionsabbau reden, aber Sie sofort der Mut verläßt - Sie bekommen regelrecht Fracksausen und knicken völlig ein -, sobald es an Ihre eigene Klientel geht.
Die organisierte Feigheit der Koalition beim Abbau von Steuervergünstigungen und -subventionen haben wir in der Vergangenheit mehrfach erfahren.
Folglich sagen wir: Es wird von Ihnen, von Ihrem Mut und Ihrer Konsequenz, abhängen, ob der Spitzensteuersatz bei 40 Prozent, bei 42 Prozent oder wo auch immer liegt; das ist uns nicht so wichtig. Wenn es Ihnen wichtig ist, kommen Sie hierher und haben Sie den bescheidenen Mut, zu sagen, welche Steuervergünstigungen Sie abbauen wollen. Dann sagen wir Ihnen, welcher Spitzensteuersatz sich daraus ergibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das alles tun wir in einem Land, in dem die volkswirtschaftliche Steuerquote so niedrig ist wie selten. Das tun wir in einem Land, in dem die Unternehmenssteuerbelastung, real betrachtet, so niedrig ist wie selten. Das tun wir in einem Land, in dem es ein krasses Mißverhältnis zwischen der Besteuerung des Arbeitseinkommens und seiner Belastung mit Sozialabgaben einerseits und der Besteuerung anderer Einkommen gibt.
Da Sie gesagt haben, wir wollten keine Nettoentlastung: Von Napoleon ist der Satz, der da lautet, Geschichtsschreibung sei die Verständigung der Mehrheit auf gemeinsame Lügen. Insofern ist Helmut Kohl ein Historiker und die F.D.P. eine Partei, die der historischen Wahrheit verpflichtet ist.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])

Wir haben Ihnen eine Entlastung bei den Arbeitskosten für die Unternehmen um netto 10 bis 12 Milliarden DM vorgeschlagen. Sie sind nicht darauf eingegangen. Sie haben jedes Angebot der SPD zurückgewiesen, in der Steuerpolitik endlich dafür zu sorgen, daß Menschen entlastet werden, Familien und Kinder gefördert werden, die Leistungsträger entlastet werden.
Ihr Ziel ist einfach: Sie behaupten, Sie wollten die Leistung fördern, haben aber nur die besonders hohen Einkommen im Kopf. Sie behaupten, Sie verträten die Eliten. Allerdings kann ich nicht verstehen, was daran Elite sein soll, daß man in Deutschland gute Schulen und eine funktionierende Infrastruktur verlangt, in Bayern Golf spielen will und seine Firmensitze ins Ausland verlagert, seine Konten gleich mit. Diese Art von christlich-demokratischer Politik schlägt ihren eigenen Ansprüchen ins Gesicht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS] Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Deswegen Steuern senken, Herr Scharping!)

- Wissen Sie, Herr Westerwelle, dann kommen Sie immer noch mit dem lügnerischen Argument der Vermögensteuer. Ich will Ihnen einmal sagen, wo in Europa sie erhoben wird: in Dänemark, in Deutschland, in Finnland, in Frankreich, in Luxemburg, in den Niederlanden, in Schweden, in der Schweiz und in Spanien -

(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Auch in Mexiko!)


Rudolf Scharping
ausweislich des Informationsblattes der Bundesregierung vom 30. Juli 1996.
Wenn man einmal Ihre Politik und Ihre Ankündigungen betrachtet, dann muß man sagen: Sie können nicht mehr beanspruchen, ernstgenommen zu werden.

(Beifall bei der SPD)

Da sagt Herr Solms in der „Welt" am 30. Juli, die stufenweise Einführung der Reform sei eine Frage des politisches Willens. Natürlich sei das 1998 zu schaffen. - Herr Solms sagt kurz darauf: Wir sind nicht umgefallen. Vielleicht könnte man 1998 dann einsteigen.
Herr Teufel sagt: Steuerreform so schnell wie möglich, wenn es geht, schon 1998! - Herr Möllemann sagt: Die Steuerreform ist angesichts der desolaten Wirtschaftslage noch dringlicher. - Ich verzichte darauf, alle Äußerungen vorzulesen; sie sind Legion.
Einer hat gesagt: Die Vorstellung, man könne mit der Reform bis 1999 warten, geht an der Realität des Arbeitsmarktes vorbei. Jetzt stellt sich derselbe Mann, der dies gesagt hat, unter Beschimpfung seiner politischen Kontrahenten hier hin und sagt das genaue Gegenteil von dem, was er wortwörtlich in einem Interview gesagt hat.

(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Sie haben gar nicht zugehört!)

Sie belügen und täuschen die Leute!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Sie bekommen schon stehende Ovationen!)

Ihr ganzes wortreiches Gerede kann an einem nicht vorbeiführen: Sie werden heute erneut umfallen. Sie bemänteln das wortreich, machen das im Zweifel noch lautstärker als ich in der letzten Passage und verbinden das mit allerlei Angriffen, die von zwei Dingen nicht ablenken können: Sie haben die Steuern immer erhöht, anstatt sie zu senken.

(Zuruf von der SPD: Immer! Weitere Zurufe von der SPD)

Sie haben immer davon geredet, Sie wollten die Steuern senken; noch nie waren sie so hoch in Deutschland wie jetzt. Sie haben immer die Leistungsträger belastet, anstatt sie zu entlasten. Sie haben immer unsere Zukunft belastet, anstatt eine neue Zukunft zu öffnen.
Diese Debatte hat mir eines gezeigt: Auch der einfachste und klarste Antrag mit dem Ziel, Sie selbst zu verpflichten, Ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen, hat im Deutschen Bundestag keine Chance,

(Dr. Peter Struck [SPD]: So ist das!)

weil Sie in der Öffentlichkeit, in Interviews und auf
Veranstaltungen, zum Schaden Ihrer Glaubwürdigkeit und, wie ich fürchte, der des gesamten Parlaments schlicht anders reden, als Sie in dieser Beziehung handeln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird sich daran nicht beteiligen. Wir erwarten, daß Sie Ihre Vorschläge vorlegen, egal, wie über den Antrag abgestimmt wird. Wir haben ein klares Ziel: Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, Entlastung der Leistungsträger, Entlastung der Familien mit Kindern; weg von dem verhängnisvollen Kurs, der insbesondere in den letzten fünf Jahren zur höchsten Steuerbelastung, zum höchsten Schuldenstand und leider auch zur höchsten Arbeitslosigkeit geführt hat. Das ist Ihre Verantwortung, niemandes anderen Verantwortung.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313120100
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedrich Merz.

Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1313120200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPDBundestagsfraktion und ihr Vorsitzender verlangen von uns die Reform der Einkommensteuer zum 1. Januar 1998 und - Herr Scharping, ich zitiere Sie - eine Entlastung der Steuerzahler zum 1. Januar 1998. Sie beklagen die steuerliche Belastung der Leistungsträger.
Herr Scharping, meine Damen und Herren, Sie können eine Entlastung der Leistungsträger und eine Steuersenkung bereits zum 1. Januar 1997 haben. Stimmen Sie der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer zu!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Lachen bei der SPD Detlev von Larcher [SPD]: Das war eine schöne Antwort!)

Nun habe ich mit dieser Reaktion der Kolleginnen und Kollegen der SPD natürlich gerechnet. Wir sprechen hier über einen Antrag, der sich mit der Einkommensteuerreform und dem Zeitpunkt ihres Inkraftsetzens befaßt. Lassen Sie mich aus der Begründung zitieren. Sie schreiben in der Begründung:
In Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden besteht breites Einvernehmen darüber, daß eine grundlegende Reform der Einkommensbesteuerung notwendig ist.
Das stimmt. Aber in der Wissenschaft, in der Wirtschaft und in den Verbänden besteht breites Einvernehmen auch darüber, daß die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer abgeschafft werden müssen. Dafür sind auch wir.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

In dieser Debatte spielt - wie immer - die Zahl der Millionäre in Deutschland eine Rolle. Sie hat ja auch bei den Äußerungen des Hamburger Bürgermeisters

Friedrich Merz
und bei seiner Klage darüber eine Rolle gespielt, daß die Millionäre in Deutschland angeblich keine Steuern mehr bezahlen. Das ist ihm mehrfach widerlegt worden. Ich finde es in der Debatte, die wir hier führen, schon etwas merkwürdig, daß wir immer wieder hören, man solle die Schlupflöcher zumachen. Als eines dieser Schlupflöcher werden dann zuallererst die Schiffsbeteiligungen aufgezählt. Derselbe Hamburger Bürgermeister, der will, daß die Millionäre auch wirklich besteuert werden, schreibt uns zu dem Zeitpunkt, als es einen Vorschlag gibt, die Schiffsbeteiligungen abzuschaffen, einen Brief mit dem Inhalt, wir sollten das doch bitte sein lassen. So geht es nicht; so können wir in Deutschland Steuerpolitik nicht machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich höre jetzt gerade - ich nehme den Kollegen Kröning ausdrücklich aus; er bemüht sich um eine vernünftige Übergangslösung -, daß es im Wirtschaftsausschuß des Bundestages gestern einen schriftlichen Antrag der SPD gegeben hat, genau auf diese Abschreibungsbedingungen nicht zu verzichten, sondern sie aufrechtzuerhalten. Meine Damen und Herren von der SPD, was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie Stimmung in Deutschland machen oder eine vernünftige Steuerpolitik?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben ja gelernt, daß alles mit allem zusammenhängt. Deswegen will ich nicht nur über das Datum des Inkrafttretens der großen Steuerreform - ich komme darauf noch -, sondern auch zu dem Beitrag des Kollegen Poß etwas sagen.
Herr Poß, tun Sie uns und auch sich doch endlich den Gefallen, damit aufzuhören, mit den statistischen Größen der Lohnsteuer, der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer nachzuweisen, daß es eine immer größere Belastung der unteren Einkommen und eine immer größere Entlastung der oberen Einkommen gibt, wie Sie das behaupten. Denn diese Statistik ist zu einem solchen Nachweis nicht in der Lage.
Ich will nur darauf hinweisen: Alle Beamten, selbst die Mitglieder der Bundesregierung, zahlen Lohnsteuer. Der Geschäftsführer einer GmbH, die Vorstände der Aktiengesellschaften zahlen Lohnsteuer.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Richtig!)

Deswegen können Sie mit einer solchen Statistik nicht nachweisen, daß es eine immer größere Belastung der unteren Einkommen und eine Entlastung der oberen gibt.
Ich möchte noch etwas zum Thema Gewerbesteuer sagen. Es ist aufschlußreich, wie Sie mit diesem Thema umgegangen sind. Ich bin offen genug, zuzugeben, daß auch mir der Ablauf der Beratungen nicht gefällt; das habe ich im Ausschuß mehrfach zum Ausdruck gebracht. Aber da müssen wir schon mal nach den Ursachen fragen.
Daß wir bis zum heutigen Tag Schwierigkeiten haben, den Kommunen beim Wegfall der Gewerbekapitalsteuer einen vernünftigen Ausgleich - wie der Bundesfinanzminister immer gesagt hat: einen vollen und fairen Ausgleich - zu garantieren, hat nichts damit zu tun, daß uns beratungsfähige Unterlagen fehlen und daß wir diese nicht vorgelegt bekommen haben.
Der Bundestag und nicht nur der Finanzausschuß sollte wissen, daß alle Länder dem Bundesfinanzminister bis zum heutigen Tag das notwendige statistische Material vorenthalten, damit wir nicht wissen, wie hoch die Umsatzsteuer in den einzelnen Kommunen ist, wie hoch die Gewerbekapitalsteueraufkommen sind und welche Volumina ausgeglichen werden müssen. Es gibt in der Verfassung den Grundsatz des bundestreuen Verhaltens. Ich stelle fest: Die Länder verletzen diesen Grundsatz permanent.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313120300
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?

Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1313120400
Nein, ich möchte keine Zwischenfragen zulassen.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313120500
Überhaupt keine, auch nicht die des Kollegen von Larcher? Friedrich Merz (CDU/CSU): Nein.

(Detlev von Larcher [SPD]: Er läßt keine Fragen zu!)

- Herr Kollege von Larcher, durch Lautstärke wird das, was Sie sagen, nicht richtig.
Ich stelle fest - ich darf das für die CDU/CSU-Fraktion und, ich denke, auch für die F.D.P. tun -: Im November wird spätestens in der dritten Sitzungswoche eine beschlußreife Vorlage vorliegen, die genau das zum Inhalt hat, was wir den Gemeinden immer zugesagt haben, nämlich einen vollen und fairen Ausgleich für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer. Wir werden konkrete Vorschläge für eine Änderung der Verfassung vorlegen, die wir mit Ihnen bereits besprochen haben.
Dann kommt die Stunde der Wahrheit. Dann werden wir im Ausschuß darüber abstimmen und feststellen, ob Sie uns auf diesem Weg tatsächlich folgen, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und den Gemeinden eine Beteiligung an der Umsatzsteuer einzuräumen. Sie werden Gelegenheit dazu haben, dies
aktenkundig zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu dem Thema der großen Einkommen- und Körperschaftsteuerreform kommen. Ich möchte in Erinnerung rufen, daß in Ihren, auch in unseren Reihen - auch ich selber habe dazugehört - die Auffassung vertreten worden ist, eine solche große Reform könne man seriöserweise eigentlich erst zum 1. Januar 2000 machen. Das war bis in das Jahr 1996 hinein auch

Friedrich Merz
meine Überzeugung. Ich habe entsprechende Stimmen mehrfach auch aus der SPD gehört; sie sind auch publiziert worden.
Wir haben uns auf Grund des engen Zeitplans, den wir uns mit gutem Grund selbst gesetzt haben, aber auf den 1. Januar 1999 festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt wird die Reform kommen. Der Bundesfinanzminister hat den Zeitplan dargelegt.

(Joachim Poß [SPD]: Da wird jedes Projekt zerredet!)

- Nein, Herr Kollege Poß.
Ich möchte nur darauf hinweisen: Der Ausschuß hat heute einen Brief der Deutschen Steuer-Gewerkschaft bekommen, der nicht ganz zu Unrecht zitiert, daß wir uns erneut in einem ziemlich hektischen Gesetzgebungsverfahren mit dem Jahressteuergesetz 1997 befinden.

(Detlev von Larcher [SPD]: Weil Sie das nicht rechtzeitig vorgelegt haben!)

- Entschuldigung, regen Sie sich mal nicht so auf. Das, was in diesem Brief steht, ist nicht ganz falsch; aber es ist allzumal richtig, wenn man eine große Reform will, für die die Bürger, die steuerberatenden Berufe und auch die Finanzverwaltung mindestens ein halbes Jahr Zeit der Vorbereitung und der Umstellung brauchen. Deswegen ist Ihr Vorschlag unseriös. Er ist im Grunde parteipolitisch motivierte Stimmungsmache.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Am 1. Januar 1999 wird es eine große Einkommen-und Körperschaftsteuerreform geben. Es wird sie allerdings nicht so geben, Herr Kollege Poß, wie Sie das hier vorgeschlagen haben. Ich will die Worte, die Sie verwendet haben, in Erinnerung rufen.
Sie sagen, Steuerrecht sei auch Gerechtigkeitsrecht und damit werde auch Gesellschaftspolitik gemacht. Das mag zum Teil stimmen. In erster Linie gibt es einen steuerrechtlichen Grundsatz, der lautet: Steuern sind dazu da, den allgemeinen Finanzbedarf des Staates zu decken und die Steuerbürger nach dem Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit zu dieser Finanzbedarfsdeckung heranzuziehen.
Wenn Sie vorhaben, mit dieser großen Einkommen- und Körperschaftsteuerreform allein unter dem Aspekt der Steuerverteilungsgerechtigkeit und der Steuerbelastungsgerechtigkeit Steuerpolitik zu machen, dann werden wir Ihnen auf diesem Weg nicht folgen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will Ihnen sagen, warum: Sie bauen schon heute die Hürden auf, die diese Steuerreform zum Scheitern verurteilt sein lassen. Wenn Sie nämlich der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, man müsse insbesondere die kleinen und mittleren Einkommen entlasten, dann verschweigen Sie dabei, daß bereits das untere Drittel der Arbeitnehmer in Deutschland auf Grund der hohen Anhebung des
steuerlichen Existenzminimums überhaupt keine Steuern mehr bezahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das zeigt, wie wenig sie verdienen!)

Es sind, meine Damen und Herren, 30 Prozent der Arbeitnehmerhaushalte in Deutschland, die auf Grund der Entscheidungen des letzten Jahres ab 1996 keine Steuern mehr bezahlen. In diesen Haushalten ist nichts mehr zu entlasten.
Deswegen steht für uns die große Steuerreform unter der Überschrift: eine Steuerreform für mehr Investitionen, für wirtschaftliches Wachstum und für mehr Arbeitsplätze in Deutschland.
Das bedeutet im Klartext: Wir brauchen eine Steuerpolitik, die die Kapitalflucht aus Deutschland - nicht die illegale, sondern die legale Kapitalflucht aus Deutschland - stoppt, die diesen Trend umkehrt, die es in Deutschland wieder attraktiv macht, zu investieren, und die es in Deutschland wieder attraktiv macht, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Wenn es hier auch um Sozialpolitik geht, dann sage ich Ihnen: Die beste Sozialpolitik ist eine Finanz- und Wirtschaftspolitik, die die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland ermöglicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zuruf von der SPD: Dann machen Sie es doch! Detlev von Larcher [SPD]: Seit 14 Jahren machen Sie das Gegenteil!)

- Daß Sie an dieser Stelle so laut aufschreien, zeigt, daß wir offensichtlich - und deswegen ist die Debatte heute gut - mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen schon am Beginn der Reformdebatte in dieses Thema einsteigen und daß das Thema Arbeitsplätze offensichtlich für Sie in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle mehr spielt.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist doch Quatsch! Erzählen Sie doch nicht dauernd Unwahrheiten!)

Deswegen sage ich Ihnen, diese Steuerreform steht im Dienste von Investitionen und Arbeitsplätzen in Deutschland. Ob wir in der Lage sind, den Standort Deutschland für die Zukunft fit zu machen, und ob wir in der Lage sind, das hier gemeinsam formulierte Ziel, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis zum Jahre 2000 zu halbieren, wird sich auch an dem Reformwillen in der großen Steuerreform dokumentieren. Die CDU/CSU-Fraktion ist zu dieser Reform bereit.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313120600
Zu einer Kurzintervention erhält das Wort der Kollege Schwanhold.

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1313120700
Herr Kollege Merz, es ist völlig richtig, daß wir gestern im Wirtschaftsausschuß eine Debatte darüber geführt haben, wie die Stand-

Ernst Schwanhold
orte der maritimen Wirtschaft erhalten werden können und wie insbesondere in Bremen, Bremerhaven und in Ostdeutschland, in Mecklenburg-Vorpommern eine Sicherheit hergestellt werden kann, daß Arbeitsplätze in den betroffenen Betrieben in die Zukunft hineingeführt werden, weil die maritime Wirtschaft eine Zukunftswirtschaft ist. Dies ist richtig.
Im Zusammenhang mit dem Jahressteuerpaket hat es einen Antrag gegeben, der als SPD-Antrag deklariert war; aber letzten Endes verbarg sich dahinter die Formulierungshilfe, die der Kollege Kröning erbeten hatte. Darüber ist diese Debatte geführt worden. Wir haben als Sozialdemokraten ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir keine Abstimmung zu diesem Teil wünschten, sondern wir wollten nur die Debatte, welche Zukunftsperspektiven sich daraus ergeben. - Wenn Sie sich in Zukunft informieren, bitte ich Sie sehr herzlich, sich richtig zu informieren.
Ich will nur darauf hinweisen: Das Interesse, Arbeitsplätze in der maritimen Wirtschaft zu erhalten, sollte uns verbinden und nicht trennen. Darum zu ringen ist die richtige Aufgabe dieses Parlaments, weil da Tausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit ihren Familien betroffen sind.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313120800
Das Wort zur Antwort hat der Kollege Merz.

Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1313120900
Herr Kollege Schwanhold, ich habe mit meinem Beitrag nur feststellen wollen, daß Sie uns zwar der Theorie nach folgen, wenn wir über die Abschaffung von Steuervergünstigungen und Steuerprivilegien reden. Aber wenn es praktisch wird, ist von der SPD-Bundestagsfraktion nicht mehr viel zu sehen, dann soll alles beim alten bleiben.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist das! Joachim Poß [SPD]: Deswegen weiten Sie das Dienstmädchenprivileg aus?)

Mit dieser Arbeitsmethode werden wir eine große Steuerreform nicht umsetzen können.
Im übrigen erlaube ich mir die Feststellung, daß wir - wenigstens im Finanzausschuß - in den letzten Wochen gelernt haben, daß die Beteiligungen für Schiffsbauten offensichtlich nicht mehr zugunsten deutscher Weilten gehen, sondern zugunsten von Schiffen, die in Korea gebaut werden. Wir sind der Auffassung, daß der deutsche Steuerzahler nicht mit Steuersubventionen den Schiffbau in Korea unterstützen muß, und dabei bleibt es.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313121000
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Michelbach.

Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1313121100
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zum Abschluß dieser Debatte ein Fazit ziehen: Jedem Schiff, das überladen wird, droht
Schiffbruch; es droht zu kentern. - Bei unvoreingenommenem Denken dürfte diese Binsenweisheit eigentlich keine Diskussion auslösen. Diese Einsicht drängt sich mir auf, wenn ich mir die gegenwärtige Situation bei der SPD ansehe: fehlender Sparwillen, immer mehr Anspruchsdenken bei der Steuerpolitik und jetzt dem Inkraftsetzungstermin der großen Steuerreform.
Es ist schon erstaunlich, welche Krokodilstränen von der SPD vergossen werden, wenn einerseits großzügig Geld verteilt wird, das gar nicht vorhanden ist, andererseits die notwendigen Überlegungen zum Finanzausgleich angegriffen werden, wenn einerseits Reformen vorliegen, andererseits Crashkurs mit Polemik gefahren wird.
Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie leicht Ihnen, Herr Scharping, das Wort „Lüge" so über die Lippen geht.

(Horst Kubatschka [SPD]: Das war aber richtig!)

Ich führe das auf Ihre gespaltene Persönlichkeit zurück.

(Zurufe von der SPD: Oh! Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das muß ja wohl nicht sein!)

Ich weise diese Vorwürfe, die Sie immer wieder erheben, hier mit Nachdruck zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Diese Schlammschlacht sollten Sie langsam einmal lassen!)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313121200
Ich bitte Sie, Ihre Rede einen Moment zu unterbrechen. Ich glaube, daß der Vorwurf einer gespaltenen Persönlichkeit auf eine Person bezogen ist und deshalb von mir gerügt werden muß. Das möchte ich damit tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1313121300
Wenn Sie über unsere Finanzpolitik in dieser Form reden, dann muß ich Ihnen entgegenstellen: Wie gering ist die Inflationsrate, wie gering sind die Zinsen! Das ist eine Finanzpolitik der Stabilität und letzten Endes die beste Sozialpolitik für unsere Bürger. Das sollten Sie trotz der Herausforderungen, die vor uns stehen, einmal in Ihre Überlegungen einbinden. Wir brauchen jetzt Einsparungen und steuerliche Anreize für mehr Investitionen und Arbeitsplätze.
Deshalb muß es zunächst heißen, mit dem Jahressteuergesetz 1997 einen erfolgreichen Kurs zu nehmen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Weg mit der Arbeitsplatzvernichtung durch Substanz- und Doppelbesteuerung! Anschließend gilt es, mit einer Einkommensteuerreform für das 21. Jahrhundert ein schlankes und dynamisches Steuerschiff mit Kurs auf die Zukunft zu nehmen.
Unsere große Reform an Haupt und viel zu vielen Gliedern unseres Ertragsteuersystems wird bewirken: eine spürbare steuerliche Entlastung für alle,

Hans Michelbach
einen entscheidenden Impuls für die Stärkung von Leistungswillen und Leistungsfähigkeit.
Die Union wird mit dem Jahressteuergesetz 1997 und mit der großen Steuerreform das Steuerschiff zielgenau auf den richtigen Kurs zugunsten von Wachstum und Beschäftigung bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dagegen hat das steuerpolitische U-Boot SPD anscheinend völlig die Orientierung verloren. Niemand bei der SPD erkennt einen klaren Steuerkurs. Irrwege zeigen sich in Theorien steuerpolitischen Klassenkampfes gegen Leistungswillige, in ewiger Umverteilung zu Lasten neuer Arbeitsplätze. Wir brauchen weniger Umverteiler, wir brauchen mehr Unternehmungsgeist. Wir brauchen Freiraum für Leistungswillige, den Sie uns im Jahressteuergesetz 1997 verweigern. Das ist Fakt.
Dagegen ist unser Steuerschiff ständigen Torpedoangriffen vom ziellos umherirrenden Steuer-UBoot SPD aus dem Hinterhalt ausgesetzt.

(Joachim Poß [SPD]: Sie sind ja nicht einmal in der Lage, ein Paddelboot zu führen!)

Wer gerade jetzt die Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern einführt und damit noch eigenkapitalschwache Betriebe überfordern will, dem sind entweder die Arbeitslosen egal, oder er fährt mit der Parteitaktik einen Crashkurs.
Wer gerade jetzt die Gemeindefinanzreform mit der Beteiligung an der Umsatzsteuer blockiert,

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die blokkieren Sie, weil Sie keine konkreten Vorschläge auf den Tisch legen!)

dem sind entweder die Verbesserung der Kommunalfinanzen und die Investitionsquote egal, oder er fährt aus Parteitaktik einen Crashkurs.
Wer gerade jetzt die Abschaffung der Vermögensteuer zum Verhetzungspotential erhebt, dem sind neue Investitionen und Arbeitsplätze egal, oder er fährt aus Parteitaktik einen Crashkurs.
Meine Damen und Herren, so ist auch der heutige Terminantrag der SPD zu sehen, zu dem ein eigener und sachbezogener Steuerkurs der SPD fehlt.
Für die Union ist Solidität der großen Steuerreform unerläßlich. Solidität hat auch eine zeitliche Dimension. Deswegen werden wir alle Vorschläge der Steuerkommission, alle Vorschläge, die von den Verbänden kommen, alle Diskussionen mit den Bürgern aufnehmen und diese Dimension dann zu einem Erfolg im Jahr 1999 führen.
Jeder Bürger wird 1998 deutlich sehen, welche Dinge in dieser Steuerreform geregelt werden und was sie letzten Endes bewirken. Wir brauchen für mehr Wachstum und Beschäftigung zunächst den Freiraum bei den Substanzsteuern.
Lassen Sie uns also den Blick nach vorne richten, gerne auch gemeinsam mit der SPD. Ich bitte Sie: Halten Sie Ihre Blockade zurück. Lassen Sie es jetzt nicht zu, daß die Gewerbekapitalsteuer in den neuen
Bundesländern eingeführt werden muß. Lassen Sie es nicht zu, daß die Gemeindefinanzreform nicht kommt. Lassen Sie uns gemeinsam, auch aus der Mitverantwortung heraus, die Sie über den Bundesrat haben, eine konstruktive Steuerpolitik betreiben. Das ist jetzt die Aufgabe, meine Damen und Herren. Ich lade Sie dazu herzlich ein und nicht zur Blokkade.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313121400
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5510 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22a bis 22h auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Änderung vom 18. Mai 1995 des Übereinkommens zur Gründung der Europäischen Fernmeldesatellitenorganisation „EUTELSAT"
- Drucksache 13/5716 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Post und Telekommunikation
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Änderung vom 31. August 1995 des Übereinkommens über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation „INTELSAT"
- Drucksache 13/5719 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Post und Telekommunikation
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. November 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Namibia über den Luftverkehr
- Drucksache 13/5717 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Finanzausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Revision des Übereinkommens vom 20. März 1958 über die Annahme einheitlicher Bedingungen für die Genehmigung der Ausrüstungsgegenstände und Teile von Kraftfahrzeugen und über die gegenseitige Anerkennung der Genehmigung
- Drucksache 13/5718 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. Dezember 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
der Tschechischen Republik über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft an den Grenzgewässern
- Drucksache 13/5720 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anhangs I des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949
- Drucksache 13/5738 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertragswerk vom 17. Dezember 1994 über die Energiecharta
- Drucksache 13/5742 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 1997 (ERPWirtschaftsplangesetz 1997)

- Drucksache 13/5741 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 23a bis 23n sowie Zusatzpunkt 1. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
- Drucksache 13/5585 - (Erste Beratung 125. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

- Drucksache 13/5804 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl Fell
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 5804, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist wiederum mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zustimmungsgesetzes zum Wismut-Vertrag
- Drucksache 13/4789 - (Erste Beratung 110. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

- Drucksache 13/5765 -
Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Kaspereit
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/5765, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Beratung angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Antje Hermenau, Kristin Heyne, Oswald Metzger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mögliche zweckwidrige Verwendung von Steuergeldern durch die Förderung eines Berufsbildungsprojektes in Montevideo (Uruguay)

- Drucksachen 13/5008, 13/5659 -

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Emil Schnell Michael von Schmude
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5008 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkte 23 d und 23 e:
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Neunundachtzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung -
- Drucksachen 13/5228, 13/5550 Nr. 2.1, 13/ 5764 -
Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Hiksch
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Einhunderteinunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz -
- Drucksachen 13/5229, 13/5550 Nr. 2.2, 13/ 5766 -
Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind mit den Stimmen des ganzen Hauses mit Ausnahme der PDS, die sich enthält, angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß j 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin-Mitte
- Drucksachen 13/5039, 13/5660 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist vom ganzen Haus einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 g auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1996;
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 - Von der EU nicht übernommene Marktordnungsausgaben - bis zur Höhe von 34 174 000 DM
- Drucksachen 13/4804, 13/4906 Nr. 4, 13/ 5763 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Jürgen Koppelin
Ilse Janz
Kristin Heyne
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist von allen Mitgliedern des Hauses bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 h:
Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

Übersicht 6
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 13/5762 -
Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 i:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 45 zu Petitionen (Entschädigung für gesundheitliche Schäden während der Zeit des Zweiten Weltkrieges in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager)

- Drucksache 13/1582 -
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5818 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 45 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23j:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 150 zu Petitionen

(Weiterer Aufenthalt für abgelehnte Asylbewerber aus Zaire)

- Drucksache 13/5748 -
Dazu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag auf Drucksache 13/5819? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 150 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 k:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 146 zu Petitionen - Drucksache 13/5744 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 231:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 147 zu Petitionen - Drucksache 13/5745 -
Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses mit Ausnahme des Bündnisses 90/Die Grünen, die dagegengestimmt haben, angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 20m:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 148 zu Petitionen - Drucksache 13/5746 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die
Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 20 n:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 149 zu Petitionen - Drucksache 13/5747 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS angenommen worden.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus (21. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates
Erstes Mehrjahresprogramm zur Förderung des europäischen Tourismus „PHILOXENIA" (1997-2000)

- Drucksachen 13/5555 Nr. 2.40, 13/5820 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Halo Saibold Dr. Gerd Müller
Susanne Kastner
Dr. Olaf Feldmann
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS angenommen worden.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu Vorschlägen zur Besteuerung von Renten, Kürzungen bei Witwenrenten und Heraufsetzung des Rentenalters
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Ulrike Mascher.

Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1313121500
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

(Unruhe)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313121600
Warten Sie bitte noch einen kleinen Moment, bis die Kollegen, die den Raum verlassen wollen, das getan haben! - Ich glaube, jetzt geht es. Bitte, Frau Kollegin.

Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1313121700
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Es vergeht keine Woche, insbesondere kein Wochenende, ohne daß sich selbsternannte Rentenexperten vor allem aus dem Lager der Regierungs-

Ulrike Mascher
koalition mit immer neuen Vorschlägen, sei es die Besteuerung von Renten, sei es die Anhebung des Rentenalters, sei es die Absenkung des Sicherungsniveaus, zu Wort melden.
Da wird der Generationenvertrag von Vertretern einer jungen Generation gekündigt, die alle Möglichkeiten unseres Schul- und Bildungssystems nutzen konnten, um eine qualifizierte Ausbildung zu erwerben, und die jetzt glauben, auf Generationensolidarität verzichten zu können, weil ihre soziale Absicherung geregelt ist.
Da gibt es die bewährten Minensuchhunde Louven und Kauder, die ohne Rücksicht auf die Verunsicherung der Rentner immer neue Kahlschläge bei der Rente vorschlagen.

(Widerspruch bei der F.D.P.)

- Gut, ich nehme „Minensuchhunde" zurück, wenn Sie darauf bestehen, Frau Dr. Babel.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Politische Windbeutel!)

Diese Kollegen, unterstützt von der F.D.P., nehmen offenbar billigend in Kauf, daß das Vertrauen in das System der solidarischen gesetzlichen Rentenversicherung langsam schwindet. Welches Interesse haben die Kollegen Kauder und Louven, welches Interesse hat ihr Mentor, der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, daran, die gesetzliche Rentenversicherung in der öffentlichen Diskussion zum Abschuß freizugeben?
Wenn man die Vorschläge betrachtet, stellt sich die Frage: Entweder wissen alle diese Experten nicht, wovon sie reden - das wäre schlimm genug -,

(Beifall bei der SPD)

oder sie vermischen absichtsvoll die Fragen der kurzfristigen Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung mit den Notwendigkeiten einer systematischen Weiterentwicklung für die Jahre nach 2010.
Warum, meine Herren und Damen von der Regierungskoalition, gehen Sie denn nicht mit der gleichen Energie an das Problem der Entlastung der Rentenversicherung von Leistungen,

(Beifall bei der SPD)

die von allen Steuerzahlern getragen werden müssen? Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich dafür der Begriff der versicherungsfremden Leistungen eingeprägt.
Die SPD hat immer wieder gefordert, die Kosten für den sozialverträglichen Übergang vom Rentensystem der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung, also die sogenannten Auffüllbeträge, aus Steuermitteln zu finanzieren. Die SPD hat immer wieder gefordert, die Kosten für die Leistungen nach dem Fremdrentengesetz nicht länger den Beitragszahlern aufzubürden. Die SPD hat immer wieder gefordert, den rentenrechtlichen Ausgleich für das SED-Unrecht nicht der Rentenversicherung aufzulasten, sondern aus Steuermitteln zu finanzieren.
Mit dieser Forderung stehen wir doch nicht allein. Der VdK-Präsident Walter Hirrlinger fordert: Schluß mit der Ausplünderung der Rentenkassen. Der Vorsitzende des Sozialbeirates der Bundesregierung, Herr Professor Schmähl, hat das in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 1996 gefordert. Der Vorstandsvorsitzende des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Jürgen Husmann - der Vertreter der Arbeitgeber in diesem Gremium -, hat das gefordert. Professor Ruland, der Geschäftsführer des VDR, fordert dieses immer wieder. Ein Prozentpunkt weniger Beitrag wäre damit möglich. Alle diese Forderungen nach Anhebung des Rentenalters, Kürzung der Rente und Absenkung des Rentenniveaus wären damit nicht mehr erforderlich.

(Beifall bei der SPD)

Warum fordern Sie das nicht jedes Wochenende in den von Ihnen geschätzten Zeitungen, damit die Rentenversicherung endlich von diesen staatlichen Aufgaben entlastet wird? Warum diskutieren Sie nicht ernsthaft die Vorschläge der SPD, die Arbeitskosten zu entlasten, damit auch die Beiträge der Rentenversicherung, und den Energieverbrauch stärker zu belasten? Oder wollen Sie in Wahrheit die gesetzliche Rentenversicherung gar nicht mehr stabilisieren und weiterentwickeln, sondern als Auslaufmodell immer mehr aushöhlen und alle, die auf die gesetzliche Rentenversicherung als Alterssicherung vertraut haben, locker auf die private Absicherung verweisen? Mit der SPD wird es diese Zerstörung der Rentenversicherung nicht geben.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben die Rentenreform von 1992 mit entwikkelt und durchgesetzt, und wir werden weitere Reformschritte im System der gesetzlichen Rentenversicherung vorlegen. Dabei werden wir Vorschläge für eine eigenständige Alterssicherung der Frauen vorlegen - das ist überfällig -, die notwendige Harmonisierung der Alterssicherungssysteme unter Einbeziehung der Beamtenversorgung voranbringen und eine bedarfsabhängige soziale Grundsicherung in die Rentenversicherung einbauen, um die Alterssicherung endlich armutsfest zu machen. Darüber waren wir alle uns schon einmal einig. Ich denke, dafür gibt es in diesem Haus auch Mehrheiten.

(Beifall bei der SPD)

Wir klammern uns nicht an den Status quo, aber wir wollen das vorhandene System der Alterssicherung und das Vertrauen in die Rentenversicherung erhalten. Wir wollen Reformschritte mit Augenmaß vorantreiben, ohne Ängste zu schüren.
Danke.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313121800
Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Heiner Geißler.

Dr. Heiner Geißler (CDU):
Rede ID: ID1313121900
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich ist niemand erfreut

Ulrike Mascher
darüber, wenn jedes Wochenende, wie Sie das geschildert haben, eine andere Schlagzeile in der Presse steht. Das ist selbstverständlich.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Karenztage!)

- Packen Sie sich mal an Ihre eigene Nase. Sie haben ebenfalls diese Erfahrung gemacht.
Das eigentlich Ärgerliche besteht ja darin, wenn die Meinung einzelner mit der einer Fraktion oder einer Partei identifiziert wird. Das ist das Eigentliche. Wenn in der Zeitung von Konzepten geredet wird, die entwickelt worden sind, und diese mit der Bundesregierung oder mit der Fraktion in Verbindung gebracht werden, dann ist dies einfach nicht in Ordnung.
Aber etwas ist klar - dazu will ich gleich noch etwas sagen -: Alle Äußerungen, die hier vorgetragen worden sind, haben ihre Begründung gehabt. Alle Äußerungen sind auf der Basis abgegeben worden, daß wir unser gemeinsames Anliegen, nämlich die Erhaltung der umlagefinanzierten leistungsbezogenen Rente, erreichen wollen. Das heißt, niemand in der Union, zumindest in der Fraktion, vertritt eine steuerfinanzierte Grundrente mit aufgedeckeltem Kapitaldeckungsverfahren. Wir bleiben vielmehr bei dem bewährten System der sozialen Sicherung durch die leistungsbezogene Rente.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Gerd Andres [SPD]: Wie lange noch?)

Das sage ich, weil die Verunsicherung vor allem von Ihrer Seite betrieben wird. Sie dürfen sich aber bitte nicht dumm stellen. Wir haben im Jahre 1989 eine Rentenreform beschlossen. Nun kann man nicht so tun, als wäre seit dieser Zeit alles beim alten geblieben. Warum haben wir denn diesen Diskussionsbedarf?
Da ist zunächst einmal der nationale Aspekt. Wir haben den Aufbau Ost zu leisten. Es ist eine großartige Leistung der Rentenversicherung, daß wir für die alten Menschen in den neuen Ländern heute ein Rentenniveau erreicht haben, das diese vor sechs oder sieben Jahren niemals erwartet hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es handelt sich um eine Aufgabe, die noch einen anderen Aspekt als vor sieben Jahren enthält. Wir haben nämlich durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs eine Internationalisierung des Problems: Vor acht Jahren war die Frage, ob der Beitrag zur Rentenversicherung 18 oder 20 Prozent betragen soll, nicht so brisant wie zum heutigen Zeitpunkt, da in Tschechien, Polen und anderen Nachbarländern eine Lohnkonkurrenz entstanden ist, die unsere Betriebe beachten müssen.
Die Konsolidierung der Sozialsysteme ist deswegen heute in allen Industriestaaten eine Aufgabe, die erfüllt werden muß. Das ist die akute Situation.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr! Sehr richtig!)

Wir haben außerdem das Beschäftigungsproblem.
Alles, Frau Mascher, was hier zur Diskussion steht - zur Frage der Hinterbliebenenrente hat sich das Bundesverfassungsgericht geäußert; zur Gleichbehandlung der Besteuerung der Alterseinkünfte haben wir Urteile des Verfassungsgerichtes; wir haben die Anhebung des Grundfreibetrags -, sind Probleme, zu deren Lösung Sie Vorschläge machen müssen. Darüber kann man doch nicht hinweggehen.
Die Frage der Altersgrenze berührt auch die Rentenlaufzeiten. Sie selber haben ja der Anhebung der Altersgrenze zugestimmt. Wenn ich die Kollegen Louven und Kauder richtig verstanden und ihre Beiträge richtig gelesen habe, dann haben sie nicht von einer Anhebung der Altersgrenze auf 67 Jahre zum heutigen Zeitpunkt, sondern zur zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehnts geredet. Wir müssen über diese Fragen in der Tat reden, wenn wir das Rentenversicherungssystem langfristig sichern wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es hat überhaupt keinen Wert, irgend etwas zu tabuisieren. Ich trete dafür ein, daß wir Argumente austauschen. Es ist ganz selbstverständlich, daß auch einzelne, verantwortliche Abgeordnete - das Recht der freien Rede ist ein konstitutives Element des Parlamentarismus - ihre Meinung äußern können. Alle, die sich in diesem Zusammenhang geäußert haben, haben dies nicht im Namen der Fraktion oder der Partei, sondern im eigenen Namen getan. Dafür, daß dies möglich ist, trete ich mit Nachdruck ein.
Über einer Partei, die es nicht mehr ertragen kann, daß auf der Basis der Gemeinsamkeit - wie ich es gerade gesagt habe - einzelne Vorschläge mit dem Ziel, die Rente zu stabilisieren, gemacht werden, kann man den Sargdeckel schließen. Wir können dann gemeinsam zur Gruft schreiten. Konform, uniform, Chloroform,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

das kann nicht die Arbeitsweise einer modernen Partei oder einer Fraktion sein, die auch die Zukunft diskutieren und gemeinsam die richtigen Vorschläge erarbeiten muß.
Deswegen trete ich dafür ein, daß wir auch innerhalb der Union die Vorschläge diskutieren, daß wir Argumente austauschen, aber auch jederzeit kenntlich und deutlich machen, was unsere eigenen Vorschläge sind, die wir im Rahmen eines Gesamtkonzepts einbringen. Genau das haben die Kolleginnen und Kollegen getan, was in Ordnung ist. Wenn Sie es nicht tun, dann entziehen Sie sich dem Diskurs, der notwendig ist, um die Rentenversicherung langfristig zu stabilisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Eine liberale Rede! Widerspruch bei der SPD Gerd Andres [SPD]: Weiße Salbe war das! Ich erinnere an die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle!)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313122000
Es spricht jetzt die Kollegin Andrea Fischer.


Andrea Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313122100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Geißler war wieder ein typisches Beispiel für das Muster, nach dem diese Aktuellen Stunden ablaufen: Der Opposition wird es auf Grund der Äußerungen, die sie ständig hört, zu bunt. Anschließend sagt die Regierung: Es war alles nicht so gemeint. Am Sonntag werden wir wahrscheinlich in der „Bild am Sonntag" die nächste Äußerung in diesem kakophonischen Konzert der Regierung lesen.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die Regierung mit der aktuellen schwierigen finanz- und sozialpolitischen Lage nicht klarkommt, dann boten diesen sicherlich die Äußerungen der letzten Wochen, die meines Erachtens das Drama, in dem sich die Regierung befindet, ganz deutlich offenlegen. Jeder kräht herum: Man könnte, man wollte und sollte dieses und jenes tun. Wenn diese Äußerungen dann kritisiert werden und sich jemand darüber aufregt, kommt ein anderer aus der Regierung und sagt: niemals, mit mir nicht, das war ja nur mal so eine Idee!
Merken Sie eigentlich gar nicht, was Sie damit anrichten? Nach dem, was Sie den Leuten in den letzten Monaten mit der Durchsetzung Ihres Sparpaketes zugemutet haben, ist zu fragen: Wie sollen denn die Leute noch zwischen lang- und kurzfristiger Perspektive unterscheiden, wenn Sie jetzt wiederum über die Anhebung des Rentenalters sprechen? Kann man Ihnen und Ihrer Ankündigung, daß eine Besteuerung von Lohnersatzleistungen und Renten keine unzumutbare Härte darstellt, eigentlich noch trauen, wenn Sie mit Ihrer Steuerreform nicht in die Puschen kommen und nicht aufzeigen, was das denn wirklich bedeuten soll?
Wozu eigentlich richten Sie die vielen Kommissionen ein, wenn Sie nicht abwarten können und sie arbeiten lassen, um dann mit einem überzeugenden Gesamtkonzept aufzuwarten, sondern uns statt dessen immer wieder einmal den einen oder anderen Einzelvorschlag präsentieren?
Wir können die Menschen für eine große Steuerreform nur gewinnen, wenn es eine überzeugende und gerechte Perspektive für das Gesamtkonzept gibt.
Das gleiche gilt für die Rentenreform. Hier müßten wir ja die Quadratur des Kreises schaffen. Wir müssen die Belastungen der jungen Menschen begrenzen, gleichzeitig eine angemessene Absicherung der alten Menschen gewährleisten und dies alles noch für eine langfristige Zukunftsperspektive sichern. Das alles werden wir nur erreichen, wenn Sie es, wie beim Rentenreformgesetz 1992, erstens schaffen, daß, wenn es Belastungen gibt, diese gleichmäßig auf alle Beteiligten verteilt werden, und wenn Sie zweitens den Generationenvertrag wirklich erneuern. Nur dann werden Sie damit rechnen können, die Zustimmung zu den notwendigen Reformen zu gewinnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist richtig!)

Die Kollegen Louven und Kauder haben die richtige Frage gestellt: Wie gewinnen wir die jungen Leute für die Zukunft dieses Systems? Ich habe mir Ihr Angebot dazu genauer angesehen. Sie sprechen erstens von einem dauerhaft stabilen Beitragssatz. Das ist eine unglaublich strenge Bedingung, mit der Sie sich in der Rentenpolitik eines zentralen Parameters begeben. Zusammen mit Ihrer Resignation, den finanzpolitischen Fehler der deutschen Einheit durch versicherungsfremde Leistungen in der Rentenversicherung rückgängig zu machen und zu korrigieren, und der strengen Bedingung stabiler Beitragssätze bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als zu sagen: Wir müssen in das Leistungsrecht massiv eingreifen.
Zu Ihrem zweiten Angebot: In zehn Jahren wollen Sie das Rentenalter auf 67 Jahre heraufsetzen. Ich frage mich, woher in dieser Frage Ihr arbeitsmarktpolitischer Optimismus kommt. Wir haben zur Zeit einen tatsächlichen Rentenzugang, der bei einem Alter von unter 60 Jahren liegt. Das ist nicht deswegen so, weil die alten Leute plötzlich faul geworden sind, sondern weil wir ein großes arbeitsmarktpolitisches Problem haben. Unter diesen Umständen kann eine Heraufsetzung des Rentenalters nichts anderes bedeuten als noch mehr Rentenabschläge für den vorzeitigen Rentenzugang, sprich: eine weitere Leistungskürzung.
Zu Ihrem dritten Angebot, der Privatisierung der Finanzierung von Rehabilitation und Erwerbsunfähigkeit: Das ist ordnungspolitisch gesehen ein starkes Stück. Das heißt nämlich, Sie wollen die Arbeitgeber aus der sozialpolitischen Verantwortung entlassen. Offensichtlich ist Ihre Vorstellung von der Zukunft des Sozialstaates, daß die Risiken in Zukunft nur noch von den Arbeitnehmern getragen werden sollen.
Außerdem sitzen Sie in der berühmten Falle des Systemwechsels bei der Rentenversicherung. Einer ist immer der Dumme, der doppelt zahlen muß. In diesem Fall wollen Sie die Zustimmung der Jungen damit gewinnen, daß Sie sagen: Du sollst die Ansprüche der heutigen Rentner befriedigen; für deine eigene Sicherung mußt du aber noch einmal extra bezahlen. - Das ist wirklich eine tolle Botschaft an die junge Generation!
Zu Ihrem vierten Angebot, der Hinterbliebenenversorgung: Sie werden dazu überhaupt nicht konkreter. Hier werfe ich Ihnen vor: Wir haben es mit den Schicksalen von Menschen zu tun, und um so vorsichtiger müssen wir da diskutieren. Da können Sie nicht hier mal ein Bröckchen und dort mal eine Krume fallenlassen. Wir können über die Anrechnung bei der Hinterbliebenenversorgung und die entsprechende Reform nur sprechen, wenn es uns gelingt, eine eigenständige Alterssicherung der Frauen aufzubauen. Dann kann die Hinterbliebenenversorgung an Bedeutung verlieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Solange Sie das nicht machen, besteht bei uns allen der in meinen Augen begründete Verdacht wei-

Andrea Fischer (Berlin)

ter, daß hier nur über neue Finanzspielräume spekuliert wird.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen, weil man bekanntermaßen hinsichtlich der Sozialpolitik ziemlich viel Unfug in die Welt setzen kann. Hier geht es aber um mehr als eine Stilfrage. Nach Jahren, in denen die Bundesregierung keinen sozialpolitischen Gestaltungswillen und keine Reformfähigkeit gezeigt hat, hat sie das Vertrauen verspielt.
Die Renten- und die Steuerreform brauchen ein klares politisches Ziel, eine mitreißende politische Botschaft, sonst sind die Einzelbeiträge immer nur die Vorboten neuer Verzweiflungstaten der Herren der Haushaltslöcher.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313122200
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel.

(Gerd Andres [SPD]: Die war aber diesmal beim Louven nicht dabei, das war ein anderer!)


Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1313122300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde, beantragt von der SPD, soll sich mit den Vorschlägen befassen, die unsere Kollegen Louven und Kauder zur Reform des Rentenrechts gemacht haben.

(Gerd Andres [SPD]: Nicht nur, es gibt noch mehr!)

- Es gibt noch mehr, aber es geht unter anderem um diese Vorschläge.
In der Öffentlichkeit ist bekannt, daß es zur Zeit eine Fülle von Gremien und Konzepten gibt, die sich mit diesem Thema befassen. Dazu rechne ich auch die Vorschläge von Herrn Louven und Herrn Kauder als ernst zu nehmende und solide berechnete Beiträge.

(Zurufe von der SPD)

Sicher ist es das Recht der Opposition, jeden Vorschlag zum Anlaß einer Aktuellen Stunde zu nehmen.

(Günter Rixe [SPD]: Jede Woche wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben!)

Aber mit dem Schlachtgetöse, mit dem Sie die Rentenversicherung hier im Parlament noch einmal ins Gerede bringen, tun Sie dem Thema wirklich keinen Gefallen.

(Gerd Andres [SPD]: Das ist unglaublich!)

Zum Gegenstand von Gezänk und Polemik taugt es gerade nicht.
Die Sozialpolitiker der verschiedenen Parteien mag vieles trennen, aber eines sollte uns meiner Meinung nach einen, nämlich die Ansicht, daß wir die gesetzliche Rentenversicherung als eine leistungsbezogene, umlagefinanzierte Rentenversicherung erhalten wollen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Zurufe von der SPD)

Nicht nur die Kollegen aus der F.D.P., sondern auch die aller anderen Fraktionen sehen die Rentenversicherung in Gefahr, wenn - wie bisher nicht bestritten und von der Prognos AG vorausgesagt - die Beiträge auf 28 Prozent ansteigen. Angesichts dieser Größenordnung gerät der Generationenvertrag in eine Vertrauenskrise. Es ist richtig, daß wir uns heute darüber Gedanken machen, Vorschläge unterbreiten und dem Problem nicht ausweichen: Was ist notwendig, in welchen Dimensionen müssen wir handeln, um einer solchen Entwicklung Einhalt zu gebieten?
Zum Papier von Herrn Louven und Herrn Kauder möchte ich folgendes anmerken: Es stößt nicht auf Verständnis und Akzeptanz, wenn nach dem mühseligen Ringen um die Heraufsetzung des Rentenalters auf 65 Jahre nun eine neue Zielgröße von 67 Jahren genannt wird. Verkannt wurde, daß die Erreichung des Ziels erst nach einer längeren Frist von 15 Jahren angepeilt wird.
Frau Fischer, die Frage nach der dann herrschenden Situation auf dem Arbeitsmarkt ist eine richtige Frage. Aber wir können sie nicht einmal für die nächsten Monate voraussagen. Wichtig ist nur, daß klar wird, daß wir uns dann, wenn ein solcher Eingriff kommt, wenn ein solches Konzept konsensfähig wäre - ich sage nicht, daß es das schon ist -, dem Ziel stabiler Beiträge nähern. Deswegen sollte man es positiv zur Kenntnis nehmen.
Nun zur Privatisierung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente. Ich halte diesen Vorschlag für den problematischsten Teil des Papiers, aber nicht etwa, weil die F.D.P. nicht für eine Privatisierung wäre. Wir sind immer für eine Privatisierung eingetreten. Ich erinnere daran, daß wir auch für eine private Pflegeversicherung waren.
Aber mir leuchtet es bei der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente nicht ein.

(Zuruf von der SPD: Die Victoria-Versicherung läßt grüßen!)

Die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente steht dem Arbeitsleben ungleich näher als die Pflegeversicherung. Eine solidarische Versicherung hat meiner Ansicht nach hier eine sehr viel größere Berechtigung als eine Pflegeversicherung, weil der Pflegefall im Durchschnitt sehr viel später eintritt und auch erst dann abzusichern wäre als eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Hierüber muß man noch einmal nachdenken.
Unstrittig ist aber, daß wir eine Reform der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente brauchen, weil wir sonst der Entwicklung die Tür öffnen - eine Tendenz ist heute schon sichtbar -, daß die Menschen, die eine Frühverrentung nicht mehr durchsetzen können, den Weg in die Erwerbsunfähigkeit gehen. Wir wissen, wie sehr der Erste Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Herr Professor Ruland, davor warnt.

Dr. Gisela Babel
Meine Damen und Herren, gut finde ich auch, daß hier nicht auf einen Bundeszuschuß gesetzt wird. Ich halte es für eine sehr realistische Einschätzung im Gegensatz zum Beispiel zu dem Papier des Kollegen Storm, daß hier nicht über einen wachsenden Bundeszuschuß geredet wird, sondern daß man versucht, die Sanierung innerhalb des Systems durchzuführen.
Ein Unruhethema bleibt sicher die Besteuerung der Rente. Dazu ist nur eines zu sagen: Dieser Punkt ist nicht dazu geeignet, eine Konsolidierung des Haushaltes zu erreichen. Die Frage ist, ob wir die Bemessungsgrundlage für eine grundlegend breit angelegte Steuerreform brauchen. Eines ist sicher: Wenn wir die Renten besteuern, geht das nur, wenn die Beiträge aus nicht versteuertem Einkommen gezahlt werden. Der Staat - das will ich festhalten; das habe ich schon einmal gesagt - darf bei der Rente nicht zweimal zugreifen. Das ist völlig unstrittig.
Meine Damen und Herren, das Signal, das von der heutigen Debatte ausgehen sollte, ist nicht nur Beruhigung nach dem Motto: Es wird sich nichts verändern.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313122400
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist vorbei.

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1313122500
Noch einen Satz. - Das Signal, das von dieser Debatte ausgeht, sollte sein, daß alle Parteien der Reformwille eint, daß wir die Rentenversicherung für die Zukunft sicher machen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313122600
Es spricht jetzt die Kollegin Petra Bläss.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1313122700
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt bin ich über die heutige Aktuelle Stunde ein bißchen befremdet, sind wir es doch schon seit geraumer Zeit gewohnt, nach jedem Wochenende mit immer skurrileren Rentenkürzungsvorschlägen die Woche zu beginnen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem selbst in Koalitionskreisen permanent der Wahrheitsgehalt der Vorschläge aus den eigenen Reihen dementiert wird, verwenden wir hier einmal wieder kostbare Zeit, um uns die Köpfe heißzureden. Was soll's?
Es ist schlimm, daß die nächste Rentenreform auf solch unseriöse Weise vonstatten geht. Minister Blüm läßt seine Kommission kein halbes Jahr beraten. Wir alle hier werden im ersten Halbjahr des Jahres 1997 genötigt werden, die Änderungen in der Rentenversicherung vermutlich wieder in extrem knappen Fristen abzunicken. Das Ganze heißt dann, wie aus den Medien zu erfahren war, Rentenreform 1999. Ich hätte mich gern zu den ersten Zwischenergebnissen der Rentenkommission äußern mögen; aber diese legt Herr Minister Blüm bekanntlich erst zum CDUParteitag am kommenden Wochenende vor. Statt dessen müssen wir hier wieder über ungelegte Eier reden.
Wir alle wissen, daß die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung neue Lösungen braucht. Veränderungen der Arbeitswelt, demographische Entwicklungen erfordern das. Die PDS hat diese Überlegungen bereits langfristig eingefordert, als Herr Blüm die Problematik mit seinem stereotypen Satz „Die Renten sind sicher" noch sträflich negierte. Doch jetzt ein derartiges Tempo, einen derart scharfen Gang einzulegen ist völlig unnötig und wird letztlich nur zu unseriösen Ergebnissen führen.
Ich habe bereits im Frühjahr an dieser Stelle gesagt: Meines Erachtens haben auch SPD-Vertreter diese Situation mit ihren Rufen „Die Rentenkassen sind bankrott, bald wird Blüm auf Pump zahlen müssen" mit befördert. Wir alle wissen: Wenn der Schwankungsreserve keine feste Größe, sondern ein Korridor vorgegeben werden würde, relativierte sich das Problem des akuten Milliardenlochs. Aus dieser Situation heraus wünschte ich mir endlich auch einmal konkrete Vorschläge seitens der SPD; denn schließlich haben Sie das Potential, sich eine eigene Rentenkommission leisten zu können.
Ich will mich natürlich nicht meiner parlamentarischen Pflicht entziehen, zu den vorgegebenen Punkten der Aktuellen Stunde unsere Meinung kundzutun. Zum ersten finden wir es abscheulich, daß Mitglieder der Regierungskoalition mit immer hemmungsloseren Vorstößen den Boden für die Akzeptanz weiteren Sozialabbaus zu bereiten suchen.

(Beifall bei der PDS)

Die älteren Bürgerinnen und Bürger werden immer verunsicherter, und bei den jüngeren schwindet nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern auch das Vertrauen in die solidarische Versicherung. Aber das ist ja Ihr Ziel: Privatisierung elementarster Lebensrisiken. Kollegin Babel, ich gebe offen zu: Da hat sich Ihre Partei in der Tat durchgesetzt.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Nein, leider nicht!)

Ganz offen, also ohne Verklausulierung, zeigt sich das an dem ungeheuerlichen Vorschlag der Herren Kauder und Louven, die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung auszugliedern und eine zwangsweise private Absicherung dafür zu setzen.
Was führt denn nachgewiesenermaßen vorrangig zum immer früheren realen Renteneintritt? Belastende Arbeitsbedingungen und unerträgliche Arbeitsintensität - und da sollen die Arbeitgeber aus der Verantwortung bei der Beitragszahlung entlassen werden.
Über die kontraproduktive Wirkung der Erhöhung des Renteneintrittsalters ist schon viel gesprochen worden. Ich kann mich da der Kollegin Fischer nur anschließen. Für uns bleibt das Hauptgegenargument, daß die katastrophale Lage des Arbeitsmarktes daraus einzig eine Rentenkürzungsmaßnahme macht.
Oder nehmen Sie den Vorschlag der Besteuerung von Lohnersatzleistungen. Es kommt doch wohl nicht vorrangig darauf an, ob und wie hoch die Bei-

Petra Bläss
träge bereits versteuert sind, wie Zeile auf und Zeile ab in den Medien diskutiert wird. Für uns ist maßgeblich, daß Lohnersatzleistungen an sich Nettoleistungen sind.
Für das Arbeitslosengeld werden Beiträge und Steuern einschließlich der umstrittenen Kirchensteuer bereits pauschal abgezogen. Und die Renten sind ja wohl gerade mit der Rentenreform 1992 offiziell auf netto umgestellt worden. Die Dynamisierung erfolgt auch auf Nettobasis. Deshalb ist dieser Vorschlag Nonsens.
Und die Witwenrenten: Sie tun ja gerade so, als wäre die Gegenrechnung von eigenem Einkommen etwas Neues. Das passiert doch heute bereits. Ersparen Sie mir bitte angesichts der kurzen Redezeit, die tolle Formel mit dem 26,4fachen des aktuellen Rentenwertes hier ausführlich zu erklären.
Aber zur Sache: Als Feministin bin ich die letzte, die die Witwenrente prinzipiell verteidigt.

(Zurufe von der CDU/CDU)

Aber ich sage Ihnen auch ganz klipp und klar: Solange Sie Frauen keine Alterssicherung gewähren, die ihre Lebensleistung widerspiegelt, ist die Witwenrente das letzte, was angegangen werden darf.

(Beifall bei der PDS)

Erfüllen Sie deshalb erst Ihren Part, dann läßt sich auch über den Rest reden. Insgesamt darf ich noch einmal an alle appellieren: Statt derart viel Energie für immer neue Kürzungskreationen aufzuwenden, sollte über neue Finanzierungsquellen für die Rentenversicherung nachgedacht werden. Die solidarische Sicherung muß erhalten bleiben.

(Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313122800
Jetzt hat das Wort der Herr Bundesminister Norbert Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1313122900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind in einer offenen Gesellschaft, und in einer offenen Gesellschaft gibt es keine Diskussionsverbote. Deshalb weiß ich auch nicht, wie es zu diesem fast autoritären Bedürfnis kommt, daß die Bundesregierung wöchentlich Zensuren für Diskussionsbeiträge an Abgeordnete verteilt. Den Gefallen kann ich Ihnen nicht tun.

(Zuruf von der SPD: Das Unschuldslamm!)

Nein, es gibt keine Denk- und Diskussionsverbote. Ich füge allerdings hinzu: Ich empfehle uns allen - Ihnen im Zusammenhang mit der Kampagne, die Sie mit der Behauptung losgetreten haben, die Rente sei bankrott -,

(Widerspruch bei der SPD)

auch mich eingeschlossen, eine größere Behutsamkeit bei der Diskussion über die Zukunft der Renten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich schließe mich ausdrücklich in diese Empfehlung ein,

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Dann müssen Sie in die andere Richtung gucken!)

und Sie schließe ich ausdrücklich in bezug auf die Verunsicherungskampagne ein, und zwar deshalb, weil das Gefühl der Sicherheit nicht nur davon abhängt, wie hoch die Rente ist, sondern auch davon, ob sie berechenbar bleibt.
Angst ist ein schlechter Ratgeber für Reformen. Wenn das schwierige Vorhaben einer Reform, zu dem ich alle mit dem Versuch zum Konsens einlade, von Sorge und Angst begleitet wird, dann werden wir eine irrationale Diskussion haben.
Denn in die Rente sind wie in kein anderes soziales Sicherungssystem Lebensplanungen, Lebenserwartungen eingebaut. Sie steht nicht zur Versteigerung an. Es ist kein Unterhaltungsspiel. Wir haben auch nicht die Chance, beim Punkt Null zu beginnen. Tabula rasa ist etwas für Theoretiker.
Deshalb muß man den Ideenwettbewerb verantworten und nicht einen Zustand herstellen, bei dem die Menschen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Wir bemühen uns um diese Versachlichung.
Deshalb hat die Regierung eine Kommission eingesetzt. Ja, wir wollen den Rat der Experten zu wichtigen Fragen einholen. Wir wollen die Politik nicht überschätzen, wir wollen sie auch nicht unterfordern. Entscheiden werden nicht Experten, entscheiden wird das Parlament. Aber es tut dem Parlament und uns Politikern gut, sich von Wissenschaftlern beraten zu lassen. Die Deutsche Bundesbank wirkt mit, der Vorsitzende des Sachverständigenrates ist dabei.
Es geht um wichtige Themen, die Sie doch alle nicht ablehnen können: Wie antwortet die Rentenversicherung auf demographische Veränderungen? Wie antwortet sie auf die Erosion der Solidargemeinschaft, auf veränderte Personenkreise? Wie antwortet die Rentenversicherung auf das Thema Sicherheit der Frauenrenten, Sicherheit der Familien? Welche Funktion haben die zweite und die dritte Säule der Alterssicherung? Denn wir hatten nie behauptet, daß die Rentenversicherung das einzige Instrument der Alterssicherung sei.
Was sind system- und versicherungsfremde Leistungen? Dieser Frage müssen wir nachgehen, obwohl ich manchmal den Eindruck habe, die versicherungsfremden Leistungen sind so etwas wie der Jäger 90 der Sozialpolitik geworden. Ich will dieser Frage nicht ausweichen, und zwar in allen Sicherungssystemen. Das hat etwas mit Verteilungsgerechtigkeit zu tun;

(Georg Pfannenstein [SPD]: Wie wahr!)

das hat etwas mit Entlastung der Arbeitsplätze zu tun.

(Georg Pfannenstein [SPD]: Wie wahr!)

Nur, wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als
würde der Steuerzahler die Rentenversicherung im

Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Stich lassen. 80 Milliarden DM Bundeszuschuß und -erstattung - das ist kein kleiner Beitrag.
Ich finde auch, daß wir der Frage nachgehen müssen, wie wir Sozialhilfe, Existenzsicherung besser mit dem Leistungssystem der Rentenversicherung - organisatorisch, nicht finanziell - verknüpfen können - damit es keine Zweifel gibt.
Ich finde in dieser Debatte auch erfreulich, daß in diesem Haus weitgehend ein Konsens herrscht, daß unsere Alterssicherung auch in Zukunft leistungs- und lohnbezogen bleiben soll. Das war die beste Erfindung. Eine Rentenversicherung, die selbst erarbeitet ist, Ansprüche, die selbst erarbeitet sind - das bedeutet aus meiner Sicht nicht nur einen Unterschied in Mark und Pfennig; das hat etwas mit dem Selbstbewußtsein der Rentner zu tun. Deshalb werde ich - ich hoffe, mit Ihnen allen - unser lohn- und beitragsleistungsbezogenes System verteidigen. Kein Steuersystem der Welt ist so gut. Deshalb versuchen auch die Schweden, von einer staatlichen Versorgungseinrichtung abzukommen, weil eine staatliche Versorgungseinrichtung, steuerfinanziert, gegen Ansprüche relativ wehrlos ist. Es weiß niemand, wer für was wann zahlt. Deshalb bleibe ich bei der Beitragsfinanzierung.
Was die konkreten Fragen anbelangt, will ich nicht kneifen. Demographie hat zwei Dimensionen: Geburtenentwicklung und Lebenserwartung. Auf die Veränderung der Lebenserwartung haben wir mit der Anhebung der Altersgrenze ab 2000 auf 65 Jahre geantwortet. Ich füge hinzu: Die Bundesregierung schlägt nicht vor, ihre eigenen Vorschläge von gestern zu überholen.

(Georg Pfannenstein [SPD]: Das wäre nicht das erste Mal!)

- Wir haben gerade einen solchen Vorschlag gemacht. Weitere Vorschläge habe ich dazu nicht. Es ist gerade beschlossen. Wir wollen uns doch nicht ständig selbst überholen.
Ein zweites. Es ist mit versicherungsmathematischen Abschlägen verbunden; aber man kann früher in Rente gehen. Wir wollen mehr Freiheit der Entscheidung für den einzelnen. Frau Fischer hat recht: Je höher die Regelaltersgrenze ist, um so höher sind die Abschläge für den, der früher geht. Da gibt es eine Grenze der Zumutbarkeit. Den Zusammenhang muß man sehen.
Ich will auch einer weiteren Frage nicht ausweichen: Witwenrente.

(Georg Pfannenstein [SPD]: Jetzt wird es interessant!)

Ich schlage nicht vor - ich kenne in der Bundesregierung niemanden, der das tut -, die Witwenrente abzuschaffen. Wenn wir die Hinterbliebenenrente abschaffen würden, dann würde die Rentenversicherung von der Norm ausgehen: Beide Ehepartner sind erwerbstätig. Das ist nicht Sache der Rentenversicherung: ein Ehemodell zu einer Norm zu machen. Das ist Sache des einzelnen. Eine Abschaffung der Witwenrente ginge von der Norm aus: Mann und Frau sind erwerbstätig. Das sollen bitte die Ehepartner selber entscheiden. Dafür ist die Rentenversicherung nicht zuständig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind nicht zuständig für ein Modell Ein-Verdiener-Ehe; wir sind auch nicht zuständig für ein Modell Zwei-Verdiener-Ehe.
Ich füge allerdings hinzu - auch das ist hier gesagt worden -: Je höher die eigenen Ansprüche der Frauen sind, um so mehr verliert die Unterhaltsersatzfunktion der Witwenrente ihren Sicherungscharakter. Ich bin mit Frau Fischer in Übereinstimmung: Da wollen wir uns nicht nur die Theorie ansehen, sondern vor allem die Praxis. Noch immer haben viele Frauen selbst bei eigenständigem Anspruch eine sehr geringe Rente, so daß es reine Theorie wäre zu sagen: Jede Frau, die einen eigenen Anspruch hat, braucht keine Witwenrente mehr. Das wäre reine graue Theorie. Denn noch immer sind die Frauen in ihrer Lebensbiographie und ihrer Lohnhöhe benachteiligt, so daß viele Frauen, selbst die mit eigenem Rentenanspruch, darauf angewiesen sind, daß sie nach dem Tod des Mannes noch eine Witwenrente erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.])

Frau Babel, ich stimme mit Ihnen ausdrücklich überein - wie an vielen Stellen heute -, daß die Erwerbsunfähigkeitsrente eine originäre Sozialversicherungsleistung ist. Es gibt sie seit Bismarcks Zeiten. Bismarcks Ansatz war eine Invaliditätsrente. Sie war de facto gar keine Altersrente; denn die Altersgrenze hat bei Bismarck vor über 100 Jahren mit 70 Jahren begonnen. Faktisch war es also eine Invaliditätsrente.

(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Und Berufsunfähigkeitsrente!)

- Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente.
Es hieß, das müsse privat versichert werden. - Ich bin für eine ganz entspannte und offene Diskussion ohne jede Aggression. - Das Invaliditätsrisiko eines Maurers ist wesentlich höher als das Invaliditätsrisiko einer Bürogehilfin. Es käme also zu höchst unterschiedlichen Prämien. Eine Privatversicherung müßte beide aufnehmen. Von Behinderten müßte sie eine hohe Prämie verlangen. Eine Privatversicherung müßte einen Risikoausgleich organisieren. Das war schon bei der Pflegeversicherung schwer, und das wäre hier überdimensional schwierig. Ein solches Risiko mit einem Risikoausgleich zwischen allen Anbietern abzusichern, würde das System einer Privatversicherung, die ja im Wettbewerb steht, stören.
Ich füge allerdings hinzu, daß es in der Tat auch bei der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente Reformbedarf gibt; denn sie hat Risiken übernommen, die nicht Risiken der Alterssicherung sind. Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit werden daran gemessen. Wenn kein Arbeitsplatz vorhanden ist, bezahlt das die Rentenversicherung. Das ist aber ein Arbeitsmarktrisiko, kein Rentenrisiko. Wir müssen in einem gegliederten System - sonst verliert Gliederung ihren Sinn - darauf achten, daß jeder das be-

Bundesminister Dr. Norbert Blüm
zahlt, für das er zuständig ist. Die Rentenversicherung ist kein Ersatz für die allgemeine Arbeitslosenversicherung.
Auch bei der Lohnersatzbesteuerung - das ganz kurz - befinde ich mich in Übereinstimmung mit Ihnen, Frau Babel. Wenn wir auf Vollbesteuerung umsteigen, dann heißt das, die Rentenformel zu verändern. Wir können nicht die Nettoformel halten und besteuern, denn das wäre eine zweifache Besteuerung: einmal pauschal und einmal individuell. Das hätte im übrigen - das sage ich für alle, die das vorschlagen - die Folge, daß auch die Beiträge erhöht werden müßten. Das ist eine Diskussion, die wir ganz entspannt und sachlich führen können.
Mein Ratschlag - damit kehre ich zum Ausgangspunkt zurück -: Lassen Sie uns offen diskutieren, aber doch mehr Rücksicht auf die Ängste und Sorgen von Millionen von Menschen nehmen. Das sind keine Bauklötzchen, mit denen wir spielen können, und es ist keine Lotterie, sondern es handelt sich um Menschen.
Die Regierungskommission arbeitet an sachlichen Vorschlägen. Ich lade Sie ein: Lassen Sie uns den Versuch nicht aufgeben - der auch 1989 gelungen ist -, einen Rentenkonsens zu stiften. Ich sage nicht, um jeden Preis; denn das hieße, mögliche Handlungsunfähigkeit einzukalkulieren. Aber es wäre mir sehr viel Anstrengung wert, wenn wir es auch diesmal schaffen würden, unsere in ihren Grundlagen bewährte Alterssicherung zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Wie bewährt sie ist, erkennt man daran: Kein anderes Alterssicherungssystem, kein kapitalgedecktes oder sonstwie konstruiertes System, wäre fähig gewesen, über Nacht 4 Millionen Rentner aus den neuen Bundesländern zu übernehmen. Das ist der größte Leistungsbeweis für unsere gute alte Rentenversicherung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Darum bleibe ich ganz konservativ, wenn auch nicht im Sinne eines Betonkopfes; sie muß weiterentwickelt werden. Aber in den Grundlagen hat sie sich über 100 Jahre in Katastrophen bewährt. Deshalb gilt es - dazu lade ich ein -, diesen Prinzipien weiterhin treu zu bleiben. Über die Notwendigkeit der Weiterentwicklung muß diskutiert und auch gestritten werden, aber bitte mit Rücksichtnahme auf die Gefühle, Sorgen und Ängste von Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313123000
Es spricht jetzt der Kollege Gerd Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1313123100
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Medien beobachtet, wer den Bundesarbeitsminister beobachtet und wer seinem Diskussionsbeitrag aufmerksam zugehört hat, der weiß: Hier steht ein Mann mit dem Rücken an der Wand. Trotz aller Betonung der offenen Gesellschaft und der Diskussionsbreite kann man, glaube ich, mit Fug und Recht sagen - ich will ihm
nicht Unrecht tun -, daß einer über die Art und Weise, wie diese Debatte geführt wird, am allerunglücklichsten ist: Das ist der Bundesarbeitsminister.

(Beifall bei der SPD)

Daß wir diese Debatte führen, in der jeder seine persönliche Meinung sagen kann, Herr Geißler, hängt damit zusammen, daß wir erlebt haben, wie Sie in anderen Feldern in diesem Zusammenhang gehandelt haben. Das wunderbar praktische Beispiel ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle. Das Gespann Louven/Babel hat über Monate hinweg immer an den Wochenenden, und zwar am 21. August 1995, am 28. März 1995, am 25. November 1995

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Haben Sie das alles nachgeguckt?)

- ich habe das alles nachgeguckt -,

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Fleißarbeit!)

die öffentliche Debatte in dem Sinne bestimmt, daß mit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle etwas passieren muß. - Ich sage ausdrücklich dazu, daß dies eine Methode war, um diesen Bundesarbeitsminister, der wegen einer Reihe anderer Fragen mit dein Rücken an der Wand steht, auch in dieser Frage weichzukochen.

(Beifall bei der SPD)

Man kann in dem Protokoll des Deutschen Bundestages über eine Aktuelle Stunde, die wir im vergangenen Jahr am 29. November durchgeführt haben, nachlesen, was ich dort zitiert habe. Nach jeder dieser Diskussionsrunden am Wochenende gab es offizielle Dementis von Herrn Glos, Herrn Bohl und von anderen. Da hieß es dann:
Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall soll nach dem Willen der Bundesregierung in ihrer bisherigen Form erhalten bleiben. Kanzleramtsminister Friedrich Bohl ... erklärte gestern, weder in der Bundesregierung noch in der Koalition gebe es Pläne, eine Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle in den ersten zwei Wochen um bis zu 20 Prozent vorzunehmen.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das hat gestimmt!)

Etwas weiter heißt es:
Ähnlich äußerte sich auch Gesundheitsminister Horst Seehofer ... Seehofer lehnte den Vorschlag auch deshalb ab, weil die Realisierung einen Eingriff in die Tarifhoheit voraussetzte.
Was wir von all den Zusagen zu halten hatten, haben wir gespürt. Die Menschen in diesem Lande wissen, worauf sie sich verlassen können, wenn einzelne von Ihnen an jedem Wochenende einen neuen Vorschlag entwickeln und damit die Sau durchs Dorf treiben,

(Beifall der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])


Gerd Andres
während die politisch Verantwortlichen hier sagen, sie wüßten eigentlich gar nicht, worum es geht; das seien alles nur Privatmeinungen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelle Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])

Im übrigen - Herr Geißler, das kann ich mir nicht verkneifen -: Im Protokoll vom 29. November gibt es einen Zwischenruf von Dr. Heiner Geißler: „Warum macht ihr denn diese Aktuelle Stunde?" Ich habe Ihnen gerade gesagt, warum.
Zur zweiten Frage. Ich glaube, daß der Bundesarbeitsminister auch deswegen mit dem Rücken an der Wand steht, weil es wegen der verfehlten Finanzpolitik, die diese Koalition zu verantworten hat, wegen der großen Miseren und des Zwangs, Milliarden zusammenzusuchen, wegen der Maastrichter Kriterien und anderer Fragen gar keine Bach- und fachgerechte Debatte mehr über die Zukunft des Rentensystems gibt.
Der Bundesarbeitsminister wird vielmehr immer im Zusammenhang mit Herrn Waigel zitiert und mit immer neuen Vorschlägen konfrontiert. Der eine sagt: Wir führen Karenztage in der Arbeitslosenversicherung ein. Das führte dann in der Berliner „taz" dazu, daß sie einen Artikel mit dem Titel „Sparen bis zum Verfassungsbruch" überschrieben hat.
Ich wage eine sanfte Prognose, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Abwandlung eines berühmten deutschen literarischen Sprichworts: Dieser Bundesarbeitsminister wird so lange zu Waigel gehen, bis er bricht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])

Und er wird brechen, weil er die internen Schwierigkeiten, die Sie haben, gar nicht ausgleichen kann.
Ich will einmal auf einige Punkte hinweisen: Wir haben hier in den letzten Wochen und Monaten über Finanzkrisen der Sozialsysteme geredet. Niemand von Ihnen hat über eine vernünftige Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik gesprochen, die die Probleme bewältigen könnte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Fakt ist, daß Sie Punkt für Punkt immer nur den Leistungsabbau beschreiben können.
Wer weiß, daß wir mit der Rentenreform 1992 einen Regelmechanismus verabredet und beschlossen hatten, der gerade verhindern soll, daß die Politik kurzfristig, von Jahr zu Jahr, in der Rentenversicherung herumfummelt, der weiß natürlich auch, daß jeder Beitragszehntelpunkt in der Rentenversicherung bedeutet, daß der Bund mit einer Kofinanzierung von 300 Millionen DM dabei ist.
Das führt dazu, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Sie sich in der Beitragsfrage sozusagen öffentlich die Schlinge um den Hals gelegt haben. Sie sind nämlich mittelfristig nicht mehr in der Lage, vernünftig über die Weiterentwicklung der Rentenversicherung zu reden. Sie werden vielmehr von Monat zu Monat kurzfristige Einsparvorschläge machen; das wird an den Widersprüchen bei Ihren eigenen Vorschlägen deutlich. Herr Schäuble redet über die Besteuerung der Renten. Dann wird das alles wieder eingesammelt, und er sagt: Die Besteuerung, über die geredet wird, soll erst in 15 Jahren kommen. Die spannende Frage ist: Wenn das erst in 15 Jahren kommen soll, was soll der ganze Krempel überhaupt?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie, Herr Louven und Herr Kauder - ich spreche Sie an, weil Sie so schön in meinem Blickfeld sitzen -, davon reden, daß das Rentenalter auf 67 Jahre erhöht werden soll, dann empfehle ich Ihnen einmal ganz dringend: Schauen Sie sich einmal im Rentenreformgesetz unsere Finanzkalkulationen in bezug auf die Beitragsgrößen an.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313123200
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen. Sie haben die Zeit schon überzogen.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Er ist doch schon am Ende!)


Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1313123300
Zum Schluß: Es hat eine Reihe von Vorschlägen gegeben, auf die ich jetzt nicht eingegangen bin. Sie können bei den versicherungsfremden Leistungen auf vernünftige Weise etwas machen. Wir müssen aus der demographischen Entwicklung heraus darangehen, das System mittelfristig zu ergänzen und umzubauen. Aber alle Vorschläge, die Sie haben, laufen faktisch auf Kürzung und Sozialabbau hinaus. Deswegen muß dies im Parlament immer wieder aufs neue thematisiert werden, damit Sie sich nicht davonlügen können, wie Sie das bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313123400
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Julius Louven.

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1313123500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin ganz froh, daß wir heute diese Aktuelle Stunde haben, insbesondere deshalb, weil man mit einigen Mißverständnissen und auch Unverschämtheiten dann wohl etwas aufräumen kann.
Frau Mascher, ich halte Sie ja für eine sachverständige Frau. Aber wenn Sie sich heute hinstellen und so tun, als gäbe es in der Rentenversicherung keine Probleme,

(Zuruf von der SPD: Sagt doch kein Mensch!)

dann kann ich mich darüber nur wundern. Da machen Ihnen ja nun Gott sei Dank die Jusos inzwi-

Julius Louven
schen Dampf, und bei uns ist das mit der Jungen Union nicht anders.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Bei uns sind es die Julis!)

Die jungen Leute machen sich Sorgen, ob es für sie in 30, 40 Jahren noch eine Rente geben wird.

(Gerd Andres [SPD]: Deswegen arbeiten bis 70!)

Auch ich habe für diese Sorgen Verständnis.
Ich will etwas an die Adresse von Gerd Andres sagen: Denkverbote helfen überhaupt nicht weiter.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hatten wir auch schon! Das will ja keiner!)

Es kann doch niemand leugnen, daß es Probleme in der Rentenversicherung gibt. Weil Volker Kauder und ich die Probleme sehen, haben wir - und zwar als Abgeordnete des Deutschen Bundestages - ein Papier für unsere Rentenreformkommission verfaßt,

(Ottmar Schreiner [SPD]: Für die Presse habt ihr das Papier gemacht, nicht für die Kommission!)

die ja die Probleme sehr sorgfältig diskutiert. Ich will hier auch einmal mit der aberwitzigen Geschichte vom Minenhund Schäuble und dem Auftrag Dritter aufräumen. Das ist alles Quatsch. Dieses Papier haben wir in eigener Verantwortung verfaßt. Wir wollten mit diesem Papier auch für Vertrauen - insbesondere in der jungen Generation - in unser leistungsbezogenes Rentensystem werben.
Ich will Ihnen sagen, daß wir uns an Vorgaben gebunden fühlen. Eine Vorgabe ist in der Kanzlerrunde vom 23. Januar gemacht worden. Dort haben Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber einvernehmlich festgestellt: Bis zum Jahr 2000 muß der gesamte Sozialversicherungsbeitrag auf unter 40 Prozent sinken.

(Gerd Andres [SPD]: Und die Arbeitslosigkeit halbiert werden!)

Das kann ja wohl nur heißen, daß er auf dieser Höhe auch bleiben muß. Dies bedeutet einen Rentenversicherungsbeitrag von 20 Prozent. Dies haben die Gewerkschaften und die Arbeitgeber doch offensichtlich mit beschlossen, mit dem Ziel, durch diese Maßnahmen die Arbeitslosigkeit zu halbieren.

(Zuruf von der SPD: Richtig! Wo sind wir jetzt?)

Dies ist auch die Antwort auf die Frage: Wo sind denn die Arbeitsplätze, wenn es eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gibt?
Unsere Analyse -- davon bin ich fest überzeugt - stimmt. Über unsere Lösungsansätze kann und soll man streiten. Dies halte ich für ganz wichtig. Aber wichtig ist ebenfalls, daß bei unserem Vorschlag der Rentenversicherungsbeitrag langfristig bei 20 Prozent verbleibt.
Ich will auch etwas zur Niveauabsenkung sagen. Wenn es richtig ist, was Frau Fischer mir neulich von
einer Tagung, die in Gießen stattgefunden hat, erzählt hat, dann hat der rheinland-pfälzische Sozialminister Gerster, unser früherer Kollege, dort erklärt, daß an einer Niveauabsenkung in der Rentenversicherung kein Weg vorbeiführt.

(Zuruf von der SPD: Was heißt das denn?)

Ihnen fallen in diesem Zusammenhang nur die versicherungsfremden Leistungen ein. Ich muß Ihnen auch wieder sagen, daß Sie in diesem Jahr die Einführung einer weiteren versicherungsfremden Leistung mit beschlossen haben. Das Üble war, daß diejenigen, die sich dagegen wehrten, von Ihrem Fraktionsvorsitzenden dann noch des Rechtspopulismus bezichtigt wurden. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, bewegen sich in Bonn schwerfälliger als anderswo in der Republik.
Dreßler hat, als ich 1994 in einer Debatte des Bundestages eine weitere Rentenreform forderte, erklärt: Herr Louven, eine weitere Rentenreform ist definitiv nicht notwendig. Nun haben Sie eine Rentenreformkommission, wir übrigens auch. Offensichtlich ist dergleichen also notwendig.
Es gibt in diesem Zusammenhang auch fadenscheinige Argumentationen. Heute morgen habe ich ein Interview mit Lutz Freitag gehört, dem Chefselbstverwalter der BfA. Er hat um den heißen Brei herumgeredet. Letztlich ist es der Moderatorin aber doch gelungen, ihm die Aussage abzuringen, daß ab dem Jahr 2010 in der Rentenversicherung erhebliche Probleme bestehen. Nichts anderes haben Volker Kauder und ich in unserem Papier angesprochen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben keine Maßnahme, die sofort greift, vorgeschlagen. Wir haben uns ausschließlich mit den mittel- und langfristigen Problemen der Rentenversicherung auseinandergesetzt.
In welch guter Gesellschaft wir uns befinden, will ich Ihnen sagen. Am 22. August 1996 hat der Präsident der BfA, Herr Dr. Rische, erklärt, daß auf Dauer an einer Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre kein Weg vorbeiführt.

(Widerspruch bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen, wenn wir die Debatte versachlichen und um den besten Weg streiten könnten. Ich bin wie Sie, der Minister und wir alle in dieser Fraktion und in dieser Koalition der Meinung, daß es bei einem leistungsbezogenen Rentensystem bleiben muß. Dies geht aber nur, wenn wir den Mut haben, über Veränderungen im System zu sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313123600
Das Wort hat jetzt die Kollegin Doris Barnett.

(Gerd Andres [SPD]: Wo sind eigentlich die Eppelund die Laumänner? Der sozialpolitische Flügel der Union muß doch jetzt kämpfen!)



Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1313123700
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Bonner Gerüchteküche wird kräftig gekocht - und was bei all dem herauskommt, ist völlig unverdaulich.
Ihre Politik, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dient nicht dem Wohle des Volkes; sie bekämpft alles, was ihr als sozial suspekt vorkommt: Lohnfortzahlung, Mitbestimmung, Anrechnung von Studienzeiten bei der Alterssicherung, Kündigungsschutz, die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger und jetzt auch wieder die Rentner, Witwen und Waisen.
Ich frage mich: Was für ein Gesellschaftsbild haben Sie im Sinn? Ein christliches? Ein soziales? Oder ein reinrassig kapitalistisches?
Statt an die Wurzeln der Probleme zu gehen, macht sich die Regierung über die Betroffenen her. Statt nämlich die Massenarbeitslosigkeit wirklich zu beseitigen - aber dazu braucht man Entschlossenheit, Mut und auch Kenntnis, wenn ich an Frau Babels Äußerungen denke -, traktiert die Bundesregierung die Kranken, die Arbeitslosen, die Jungen, und auch vor den Alten und Hinterbliebenen macht sie keinen Halt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Was die Vertreter der Koalition laut nachdenkend in der Presse bezüglich der Rentenansprüche und der Hinterbliebenenrente von sich geben, ist schon starker Tobak und hat nichts mit Vertrauen zu tun. Aber eines haben wir seit dem letzten Jahr gelernt: Wenn Ihre Sprecher laut denken, dann werden sie zwar gleich offiziell zurückgepfiffen, aber nur, um sich sofort an die Arbeit zu machen, das Verkündete auch umzusetzen. Das haben Herr Geißler und Herr Louven bestätigt. Die Lohnfortzahlungsdebatte läßt grüßen.
Von Ihrer Seite werden ständig neue Parolen verkündet. Wir erwarten aber keine hinhaltenden Sprechblasen, sondern wir wollen jetzt wissen, was Sie schon längst vorhaben, geplant und beschlossen haben. Wir haben ein Recht darauf - und die Bevölkerung auch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Haben Sie sich mit den Hinterbliebenen schon einmal darüber unterhalten, was eine Kürzung für die Menschen bedeutet? Sie bedeutet nicht nur den Verlust des Geldes. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit, die Zuverlässigkeit und die Ehrlichkeit der Politik. Ich habe es satt, dauernd mit Ihnen verhaftet zu werden; die Bevölkerung ist mittlerweile nämlich wegen Ihrer Politik stinksauer auf die Politiker.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Die SPD fordert, daß Sie uns jetzt ungeschminkt und ohne verbalakrobatische Schnörkel sagen, was Sie außer diesen Einschnitten vorhaben. Hören Sie
auf mit der Salamitaktik bei der Verkündigung Ihrer Politik. Jeder hier weiß, daß Sie zur Hatz, zum Frontalangriff auf die sozialen Standards in unserem Lande geblasen haben.
Verraten Sie uns mal, wo die eigenständige Alterssicherung der Frauen bei der Hinterbliebenenrente bleibt. Dieses Problem wollten Sie doch schon vor Jahren angehen. Aber außer heißer Luft kam bisher nichts.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nein, im Falle der Hinterbliebenenrente zäumen Sie schon wieder das Pferd von hinten auf. Statt dafür zu sorgen, daß die Frauen wirklich gleichberechtigt in allen Bereichen und auf allen Ebenen am Erwerbsleben teilhaben und teilnehmen können, um sich eine eigenständige Alterssicherung aufzubauen, werden sie nach Hause geschickt, oder sie können sich als Teilzeitkraft - unter Tarif natürlich - für höchstens 590 DM im Monat verdingen.
Ist das Ihre Vorstellung von einer eigenständigen Alterssicherung? Ganz nebenbei, die Rentenkasse ist keine schwarze Kasse bzw. kein Schattenetat. Das gilt auch für die deutsche Einheit. Wenn ich mir parallel dazu die Äußerungen der Jugendorganisationen der Regierungsparteien anschaue, und vor Augen führe, was diese in Sachen Rentenreform von sich geben, dann weiß ich, daß über diese Schiene das letzte Stündlein für unser Rentensystem eingeläutet werden soll.

(Widerspruch bei der CDU/CSU Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie das den Jusos, da haben Sie genug zu tun!)

- Das sind Ihre Organisationen.
Mutwillig suchen Sie Ihr Heil in der Abschaffung von sozialstaatlichem Konsens. Die SPD fordert die Regierung auf: Kehren Sie zurück zu einer Politik, die auf stabilen Fundamenten steht! Bemühen Sie sich, den sozialen Frieden in unserem Lande zu erhalten, und schaffen Sie endlich die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze! Nur so lassen sich die öffentlichen Haushalte sanieren, nicht mit einem Verschiebebahnhof, auf dem es darüber hinaus unsozial, unausgegoren und höchst ungerecht zugeht.

(Beifall bei der SPD)

Kommen Sie endlich zur Vernunft, zum Wohle des Volkes!

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313123800
Herr Kollege Merz, Sie haben jetzt das Wort.

Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1313123900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der SPD-Bundestagsfraktion wirklich dankbar - ich sage das ehrlich -, daß sie zum Gegenstand dieser aktuellen Stunde auch die Diskussion über die mögliche Besteuerung der Renten gemacht hat, weil mir dies Gelegenheit gibt, auf einige Vorwürfe zu antworten, die

Friedrich Merz
auch an mich gerichtet worden sind, und weil darüber öffentlich berichtet worden ist.
Lassen Sie mich aber eine Bemerkung vorweg machen. Hier ist heute morgen wieder mehrfach von dem Problem der sogenannten versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung die Rede gewesen. Wenn wir darüber reden, müssen wir der Ehrlichkeit halber auch über haushaltsfremde Sozialleistungen sprechen. Es gehört zur Ehrlichkeit, in dieser Debatte zu sagen, daß wir im Bundeshaushalt einen nicht unwesentlichen Zuschuß für die Rentenversicherung leisten, daß die Knappschaftsversicherung fast ausschließlich durch den Bundeshaushalt finanziert wird und daß wir auch nicht unerhebliche Beträge für die Arbeitslosenhilfe bereitstellen. Das Thema hat also zwei Seiten. Ich bitte darum, daß wir dies nicht aus dem Blick verlieren.
Aber ich möchte mich nun zu den steuerpolitischen Fragen äußern. Das Bundesverfassungsgericht hat 1980 und 1992 eine zunehmende Ungleichbehandlung der Besteuerung der Alterseinkommen festgestellt und in der Entscheidung des Jahres 1980 dem Gesetzgeber aufgetragen, bei einer Zunahme dieser Ungleichbehandlung eine gesetzliche Regelung zu treffen, die dies abstellt.
Es liegen erneut Klagen und Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht vor, und wir rechnen mit einer Entscheidung im Laufe des Jahres 1997. Ich halte viel davon, in der steuerpolitischen Diskussion nicht immer darauf zu warten, bis das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung trifft. Ich meine, der Gesetzgeber sollte sich rechtzeitig um ein Problem kümmern, wenn es als solches ausgemacht ist.
Weil hier in sehr unsachlicher Form über die Rentenbesteuerung öffentlich berichtet worden ist, will ich noch einmal drei Dinge klarstellen:
Erstens. Es kann und darf eine Doppelbesteuerung der Renten nicht geben.

(Beifall des Abg. Dr. Heiner Geißler [CDU/ CSU])

Die Arbeitnehmer dürfen nicht aus versteuertem Einkommen Beiträge bezahlen und dann im Alter noch einmal besteuert werden. Dies darf schon aus Verfassungsgründen nicht geschehen.
Zweitens. Eine mögliche Besteuerung der Renten ist kein Thema, wenn es um eine kurzfristige Sanierung notleidender öffentlicher Haushalte geht. Wenn Sie wahrgenommen hätten, was Ihre Kollegen aus dem Bereich der Finanzpolitik heute morgen von dieser Stelle aus gesagt haben, dann hätten Sie festgestellt, daß mit dem Vorschlag, das Bareis-Gutachten zur Steuerreform doch ernst zu nehmen, genau dieser Sachverhalt angesprochen wird. Professor Bareis hat uns im letzten Jahr vorgeschlagen, die Renten zu besteuern. Sie können nicht in einer steuerpolitischen Debatte sagen, der Bareis-Vorschlag solle umgesetzt werden, und anschließend in der sozialpolitischen Debatte sagen, die Renten dürften nicht besteuert werden. Sie müssen sich schon für das eine oder das andere entscheiden.

(Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser: Sehr gut!)

Drittens. Mir persönlich geht es in der Frage der Besteuerung der Alterseinkommen nicht um eine kurzfristige, sondern um eine langfristige Neuordnung der steuerlichen Behandlung der Alterseinkommen.
Wenn wir dieses Thema angehen - und wir tun dies -, sind wiederum drei Punkte zu beachten: Erstens. Die Beiträge sollten steuerfrei gestellt werden, damit im Alter moderat besteuert werden kann.
Zweitens. Ich entnehme dem Antrag zur Einkommensteuerreform der SPD die Formulierung: „Jedes Einkommen muß besteuert, darf aber auch nur einmal besteuert werden. " Das ist wörtlich der Text, wie er im Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zur Einkommensteuerreform steht.
Drittens. Ich meine, daß wir die Frage der Steuerpolitik von einem Grundsatz aus führen sollten, der lautet: Der Rechtsgrund für den Erwerb von Einkommen ist steuerpolitisch und steuerrechtlich ohne Bedeutung.
Wenn wir dem folgen, dann können wir eine langfristig ordentlich geführte Debatte über die Frage der Besteuerung der Alterseinkommen führen, ohne daß in der Öffentlichkeit Schlagzeilen produziert werden, die ohne Grund die Rentner verunsichern.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313124000
Jetzt hat die Kollegin Erika Lotz das Wort.

Erika Lotz (SPD):
Rede ID: ID1313124100
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nun hat Herr Louven bei der SPD Schnelligkeit vermißt. Ich sage, Herr Louven: Auf die immer kürzer werdenden Verfallszeiten Ihrer Gesetzgebung können wir verzichten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Das als Jahrhundertwerk gepriesene Rentenreformgesetz von 1992 hat gerade einmal vier Jahre gehalten. Am 13. September hat die Regierungskoalition, gegen die Opposition, trotz Massenprotesten der Bevölkerung, beschlossen, die Regelaltersgrenze der Rentenversicherung auf 65 Jahre anzuheben. Nur den Protesten von Gewerkschaften, Frauen- und Sozialverbänden und der Opposition ist es zu verdanken, daß dies nicht schon 1997 in Kraft tritt, sondern erst ab dem Jahre 2001.
Doch jetzt sind nicht einmal vier Wochen vergangen, da wird aus den Reihen der Regierungskoalition schon eine neue Altersgrenze gehandelt. Woher sollen die Menschen dann noch Vertrauen in die Ren-

Erika Lotz
tenversicherung und in die Politik nehmen? Ich halte dies für unverantwortlich, was Sie da veranstalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss [PDS])

Bis 67 Jahre soll in Zukunft also gearbeitet werden. Für die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet das: bis zum Umfallen. Wer kann das, so frage ich, und wo gibt es da noch Hoffnung für Arbeitslose?
Daß dieser Vorschlag von Sozialpolitikern der CDU kommt, ist für mich erschreckend - erschreckend deshalb, weil er mir deutlich macht, daß Ihnen die betriebliche Realität vollkommen abgeht oder Sie sie ignorieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schon jetzt erreicht doch nur ein Drittel aller Erwerbstätigen die gesetzliche Altersgrenze. Ein Drittel der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verstirbt früher, und ein Drittel wird vorher erwerbsunfähig. Dieser letzte Anteil wird durch die schon beschlossene Heraufsetzung des Rentenalters größer werden.
Es geht nicht darum, daß Arbeitnehmer nicht mehr arbeiten wollen, sondern darum, daß sie nicht mehr arbeiten können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Soll denn künftig ein Maurer, dessen Bandscheiben schon mit 50 beschädigt sind, bis 67 auf dem Gerüst schuften müssen? Soll denn eine Krankenschwester, eine Altenpflegerin bis 67 die Patienten betten müssen? Soll denn eine Verkäuferin bis 67 im Laden stehen oder an der Kasse sitzen müssen, obwohl dies für sie wie für die meisten schon ab 60 Jahren eine Überforderung darstellt? Das haben Ihnen die Frauen doch auch geschrieben oder gesagt.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Die Anhebung auf 65 haben Sie mit beschlossen!)

Oder wollen Sie, daß die Menschen, wenn sie die Rente ab 60 Jahren haben wollen oder müssen, dann nicht nur 18 Prozent, sondern 25,2 Prozent Rentenkürzung hinnehmen müssen? Dann sagen Sie es offen!
Am 13. September haben Sie den Arbeitnehmern in Kleinbetrieben bis zehn Beschäftigten den sozialen Kündigungsschutz genommen. Was soll aus einem Arbeitnehmer werden, der mit 54 Jahren den Arbeitsplatz verliert?

(Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)

In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung haben Sie unter anderem durchgepeitscht, daß es erst ab dem Alter 57 den längeren Arbeitslosengeldanspruch von 32 Monaten gibt. Sie haben durchgepeitscht, daß nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit ein Arbeitsplatz mit einem Verdienst in Höhe des Arbeitslosengeldes zumutbar ist. Wenn dieser wieder verloren ist, was dann? - Die nächste Abstufung. Und dann?

(Zuruf von der SPD: Sozialamt!)

Sie haben nur ein Ziel: Sie kürzen bei denjenigen, die der Solidarität bedürfen. Sie kürzen bei den Beitragszahlern. Sie haben die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit trotz aller vollmundigen Erklärungen aufgegeben. Auch das ist ein Ergebnis der gestrigen Sitzung, in welcher Sie das ArbeitsförderungsRückschrittsgesetz gegen die Opposition und gegen alle Vernunft durchgepeitscht haben.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Mit dieser neuen Diskussion lösen Sie eine tiefe Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner aus, also derjenigen, die nach 1945 die kaputten Betriebe für ein Butterbrot aufgebaut und anderen damit zu Reichtum verholfen haben, denjenigen, denen Sie auch noch die Vermögensteuer erlassen wollen.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch, was Sie da sagen!)

Den jungen Menschen und Arbeitslosen geben Sie mit dieser Diskussion das Signal, überhaupt keine Chance auf einen Arbeitsplatz zu erhalten. Sie treiben einen Keil zwischen die Generationen; dies halte ich für unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD)

Ich halte es auch nicht für verantwortlich, wie Sie von der Regierungskoalition den Lebensversicherungsunternehmen eine kostenlose Werbekampagne bescheren.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundesarbeitsminister - Herr Staatssekretär Günther kann es Ihnen vielleicht übermitteln -, sorgen Sie für ein Ende dieser Verunsicherung, sorgen Sie für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, sorgen Sie dafür, daß aus Arbeitslosen Beitragszahler werden! Greifen Sie unsere Vorschläge auf!
Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313124200
Das Wort hat der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU.

Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1313124300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die gesetzliche Rentenversicherung war und ist erfolgreich. Dem weitaus größten Teil unserer Bürger steht im Alter ein ausreichendes Einkommen zur Verfügung. Der Anteil der Rentner, die Sozialhilfe beziehen, hat sich seit Beginn der 70er Jahre halbiert. Wir haben jetzt mit der Pflegeversicherung einen Beitrag dazu geleistet, daß Rentnerinnen und Rentner im Alter, wenn sie pflegebedürftig sind, eine weitere Sicherung haben.
Zu den größten Leistungen dieser Rentenversicherung überhaupt zählt aber, daß sie gleichsam über Nacht 4 Millionen Rentner aus den neuen Ländern integriert hat: Diese Menschen bekommen zum er-

Volker Kauder
stenmal etwas, was sich wirklich mit dem Namen „Rente" bezeichnen läßt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir wollen, daß dieses System zukunftsfest gemacht wird, daß es auch in Zukunft weiterbestehen und die Aufgaben, die ich gerade beschrieben habe, erfüllen kann. Dazu müssen wir auf die neuen Herausforderungen, die wir nicht leugnen können, sondern die wir akzeptieren müssen, eine Antwort finden.
Ich bin eigentlich sehr dankbar dafür, in welch sachlicher Atmosphäre heute debattiert wird, auch wenn es unterschiedliche Auffassungen gibt. Es zeigt sich aber doch ganz klar, daß wir einen enormen Reformbedarf haben. Es sind überall Kommissionen eingerichtet, auch bei der SPD. Es ist nicht so, daß nur die Jungen bei der Jungen Union oder die Jungliberalen darüber diskutieren. Die Jungsozialisten in Baden-Württemberg haben am 5. September 1996 einen neuen Generationenvertrag gefordert. Unterstützt von ihrem Landesvorsitzenden Maurer haben sie gefordert, die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung schrittweise auf ein Kapitaldekkungsverfahren umzustellen;

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Hört! Hört!) so steht es in der „Stuttgarter Zeitung".

So weit gehen wir nicht. Wir wollen im System reformieren.
Der Zustand der Rentenversicherung ist heute dadurch gekennzeichnet, daß das durchschnittliche Rentenzugangsalter bei 59 Jahren, maximal bei 60 Jahren liegt. Es liegt also mehr als fünf Jahre unter der Regelarbeitsgrenze. Die 65jährigen Männer haben heute eine durchschnittliche Lebenserwartung von über 14 Jahren, die gleichaltrigen Frauen sogar von über 18 Jahren. Wir können doch nicht leugnen, daß die Menschen früher in Rente gehen und länger Rente beziehen. Darauf haben wir alle miteinander reagiert, indem wir im Jahre 1989 beschlossen haben, daß die Regelaltersgrenze für den Eintritt in die Rente ab 2001 auf 65 Jahre festgelegt wird.
Der Kollege Louven und ich haben nun als Mitglieder der Rentenkommission, als Bundestagsabgeordnete einen Vorschlag unterbreitet, in dem wir uns nicht für heute, sondern für übermorgen Gedanken machen. Wir müssen sehen, wie die Entwicklung weitergeht; denn wir wollen nicht, daß das passiert, was in den letzten Monaten passiert ist: daß der Beginn des Renteneintrittsalters 65 Jahre überraschend und schnell vorverlegt werden mußte. Wir wollen eine langfristige Perspektive.
Niemand, der heute in Rente oder ein rentennaher Jahrgang ist, ist von unserem Vorschlag betroffen. Ich muß aber den 30jährigen eine Antwort darauf geben, wie es in Zukunft mit der Rente aussehen wird. Darüber diskutieren wir in der Union verantwortungsbewußt. Die Menschen denken viel stärker in
Generationen, als wir glauben. Keine Generation will auf Kosten der anderen leben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb haben wir die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß das nicht geschieht.
Das machen wir in unseren Diskussionen in der Rentenkommission. Wir sichern die Rente, die jetzigen Rentner behalten ihre Rente, und wir leisten einen Beitrag dazu, daß die heute 30jährigen auch weiterhin Vertrauen in unsere Rentenversicherung haben können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313124400
Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner, SPD.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1313124500
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will auf einige Berner-kungen der Koalitionsredner eingehen.
Zunächst zum Kollegen Louven: Sie haben gesagt, Ziel ist es, den Gesamtbeitragssatz zu den Sozialversicherungssystemen bis zum Jahre 2000 unter 40 Prozent zu halten. Dem stimme ich ausdrücklich zu. Sie könnten dieses Ziel ohne jeden Zweifel erreichen, wenn es gelänge, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bis zum Jahre 2000 zu halbieren. Aber Sie haben - ich habe Ihnen das in Dutzenden von Debatten in den letzten Monaten vorgehalten - nicht das geringste Konzept dafür, wie Sie die Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 halbieren wollen.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben immer nur Schritte in die falsche Richtung gemacht. Sie haben, anstatt das Angebot der Gewerkschaften wirklich ernst zu nehmen - „Bündnis für Arbeit", moderate Lohnpolitik gegen mehr Beschäftigung eintauschen -, die Gewerkschaften im Frühjahr dieses Jahres zu Wahlkampfzwecken brutal mißbraucht. Nachdem die Landtagswahl vorbei war, haben Sie sie ebenso brutal vom Tisch gestoßen

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

und dann einen gesellschaftlichen Großkonflikt in Sachen Lohnfortzahlung ohne jede Not vom Zaun gebrochen.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das haben wir schon vor der Wahl gesagt!)

- Das haben Sie nicht vor der Wahl gesagt, sondern Sie haben die populären Vorschläge der IG Metall - -

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Deshalb haben wir die Wahl auch gewonnen!)

- Nun regen Sie sich nicht so auf! Stellen Sie eine Zwischenfrage und benehmen Sie sich anständig

Ottmar Schreiner
und nicht wie ein dahergekommener Mensch, der ständig rumflegelt. Wo sind wir eigentlich?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Zweiter Punkt. Minister Blüm warnt davor, eine Verunsicherungskampagne loszutreten. Wer verunsichert eigentlich die älteren Menschen? Es vergeht keine Woche, in der nicht von den Koalitionsfraktionen eine rentenpolitische Sau durchs Dorf getrieben wird. Eine solche Woche ist in den letzten Monaten nicht vergangen! Die Verunsicherung kam ausschließlich aus dem Regierungslager, aus dem Lager der Koalitionsfraktionen. Wer verunsichert hier Menschen?
Dritter Punkt: Der Kollege Geißler hat gesagt, es sei unstreitig, daß die umlagefinanzierte Rente erhalten bleiben soll. Das hat der Kollege Kauder soeben noch einmal ausdrücklich bekräftigt. - Das steht in völligem Widerspruch zu Ihrer eigentlichen Absicht, zur Absicht der Kollegen Kauder und Louven. Ich zitiere aus Ihrem Papier:
Diese Neuregelung trägt wesentlich zu der geforderten Gewichtsverlagerung zugunsten des Kapitaldeckungsverfahrens bei.
Das heißt, Sie wollen die Privatisierung des Altersrisikos, und Ihre Vorschläge sind ein erster handfester Schritt in diese Richtung.

(Beifall bei der SPD und der PDS)

Insoweit ist das, was Kollege Geißler gesagt hat, wieder einmal nicht die Wahrheit. Sie wollen die Schleuse öffnen: Privatisierung des Altersrisikos. Das haben Sie in Ihr Papier ausdrücklich hineingeschrieben, ich habe Ihnen eben den entscheidenden Satz zitiert.
Nächster Punkt - das macht den Charme Ihres Vorschlags aus -: Sie dünnen das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung so aus, daß es in der Tat für junge Menschen abschreckend wirkt. Wenn Kollege Louven sich hier hinstellt und sagt, er werbe um Vertrauen bei jungen Menschen, macht er in Wirklichkeit genau das Gegenteil. Die gesetzliche Rentenversicherung wird von ihrer Leistungsseite so ausgedünnt, daß sie jede Attraktivität für junge Menschen verliert. Das ist der Kern Ihres Vorschlags. Wenn Sie das Leistungsniveau, die sogenannte Nettorente, auf 65 Prozent absenken, dann müssen Sie dazusagen, daß ein ganz erheblicher Teil von Menschen, die 45 Jahre bei relativ geringem Lohn hart gearbeitet haben, dann zwar Rente bekommen, aber gleichzeitig in der Sozialhilfe landen; sie haben keinen Abstand mehr zur Sozialhilfe. Sagen Sie uns die Zahl derjenigen, die bei Ihrem Vorschlag als Rentner in der Sozialhilfe landen, wiewohl sie 45 Jahre hart gearbeitet haben. Wenn Sie die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente privatisieren wollen, dann privatisieren Sie gerade diejenigen Risiken, die unmittelbar aus dem Erwerbsprozeß entstehen. Wenn Sie die medizinische Rehabilitation privatisieren wollen, dann machen Sie das Dümmste, was man überhaupt machen kann, nämlich den Grundsatz „Prävention vor
Leistung" umzukehren, Sie treiben die Leute in die Leistungen hinein, anstatt ihnen zu helfen, sie zu aktivieren und wieder in den Erwerbsprozeß einzugliedern.
Letzter Punkt: Kollege Geißler hat gesagt, es gehe um die Konsolidierung der Sozialsysteme. Lieber Kollege Geißler, es geht im Kern nicht um die Konsolidierung der Sozialsysteme, sondern um eine grundlegende Korrektur Ihrer falschen Verteilungspolitik.

(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Nein, nein!)

- Ja, ja. - Ich will Ihnen einmal aus einer der letzten Ausgaben der „Zeit" zitieren:
Zur gleichen Zeit wurde den Systemen sozialer Sicherung ein historisch einmaliger Kraftakt abverlangt: die Vereinigung Deutschlands, also die Aufnahme von 17 Millionen Ostdeutschen, die bisher keine entsprechenden Beiträge leisten konnten. Daß der Sozialstaat jetzt unter der Überlast in die Knie geht, ist kein Wunder. Ausgerechnet diejenigen, die ihm die Überforderungen eingebrockt haben, erklären den Sozialstaat nun selbst zum Schuldigen. Er fördere überzogenes Anspruchsdenken, mache die Menschen unmündig, stranguliere die Wirtschaft.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313124600
Zeit, Herr Kollege!

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1313124700
Genau das ist der Punkt: Sie haben die Einheit völlig einseitig auf Kosten chronisch Behinderter, auf Kosten der Arbeitnehmer, auf Kosten von Familien mit Kindern finanziert und sind nicht davor zurückgeschreckt, in den letzten Monaten hier im Parlament mehrfach die Lüge vorzutragen, Sie seien vom Bundesverfassungsgericht zur Abschaffung der Vermögensteuer gezwungen worden. Vor wenigen Tagen hat das Finanzministerium auf eine entsprechende Anfrage der SPD ausdrücklich das Gegenteil erklärt. Sie hätten jederzeit die Möglichkeit gehabt, die Einheit anders, entsprechend der individuellen Belastbarkeit der Menschen, zu finanzieren. Sie haben sich dafür entschieden, ausschließlich die Arbeitnehmer, die Familien mit Kindern und die Rentnerinnen und Rentner bluten zu lassen.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313124800
Herr Kollege Schreiner, bitte!

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1313124900
Ich komme zum Schluß.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313125000
Sie sind am Schluß.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1313125100
Ich finde, daß die alten Menschen, diejenigen, die unsere Republik nach dem Krieg wieder aufgebaut haben, es nicht verdient haben, daß Sie in dieser fortgesetzten Rentendebatte so mit ihnen umgehen.

(Beifall bei der SPD und der PDS)



Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313125200
Das Wort hat Kollege Wolfgang Vogt, CDU/CSU.

Wolfgang Vogt (CDU):
Rede ID: ID1313125300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu einer Aktuellen Stunde gehört natürlich auch eine Portion Polemik. Aber, Herr Kollege Schreiner, Sie haben wieder unter Beweis gestellt, daß das Sprichwort richtig ist: Wer schreit, hat unrecht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Andres, Sie waren nicht ganz so polemisch wie Kollege Schreiner. Aber ich muß Sie schon bitten, bei der Wahrheit zu bleiben Das Arbeitslosengeld ist nicht gekürzt, Karenztage beim Arbeitslosengeld sind nicht eingeführt worden.

(Zuruf von der SPD: Noch nicht!)

Das wissen Sie genau. Sie haben an den Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung teilgenommen. Ich bitte Sie, bei der Wahrheit zu bleiben. Bei aller Polemik darf in diesem Raum nicht die Unwahrheit gesagt werden.
Meine Damen und Herren, bei den Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die zur Sache gesprochen haben und nicht über Lohnfortzahlung und andere Probleme der Welt, bestand eigentlich sehr große Übereinstimmung mit dem, was Norbert Blüm, Heiner Geißler und andere Kollegen hier gesagt haben. Ich meine, daß das schon bemerkenswert ist.
Nun ist diese Debatte durch Vorschläge ausgelöst worden, die eine falsche Überschrift bekommen haben. Deshalb möchte ich in dieser Debatte auch an die Adresse der Rentnerinnen und Rentner sagen: Niemand denkt daran - und niemand hat das vorgeschlagen -, in laufende Renten einzugreifen.

(Zuruf von der SPD: In laufende!)

Die Renten werden nicht gekürzt. Das ist die Wahrheit!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zweitens. Das Rentenrecht wird fortentwickelt, wie wir es 1989 beschlossen haben und wie es 1992 in Kraft getreten ist. Wir - das waren die CDU/CSU, die SPD und die F.D.P. - haben dem Gebot des Vertrauensschutzes Rechnung getragen, einem Gebot, das im Interesse der Menschen liegt, die sich auf Grund ihres Alters und ihrer Lebensplanung nicht auf neues Recht einstellen können. Vertrauensschutz, der 1989 gewährt wurde, wird auch bei Weiterentwicklung des Rentenrechts gewährt werden.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Den Vertrauensschutz haben Sie doch gerade gebrochen!)

Die Rentenversicherung muß fortentwickelt werden. Das hat die Kollegin Mascher ausdrücklich dargelegt. Norbert Blüm hat die Gründe genannt. Sie muß fortentwickelt werden im System. Zu diesem System gehört der soziale Ausgleich: regional und zwischen Risikogruppen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Deshalb würde ich darum bitten, daß wir in dieser Debatte nicht immer nur die versicherungsfremden Leistungen in der Weise einbeziehen, wie
Sie, Frau Kollegin Mascher, es getan haben. Denn genauso wie wir im alten Bundesgebiet einen regionalen Ausgleich in der Rentenversicherung hatten, haben wir diesen regionalen Ausgleich jetzt im erweiterten Bundesgebiet.
Die Rentenversicherung muß fortentwickelt werden. Das bedeutet auch, daß wir den Beitragsanstieg bremsen müssen. Das liegt auch im Interesse der Rentner. Auch künftig wird die Rente nach einem erfüllten Erwerbsleben einen angemessenen Lebensstandard im Alter sichern, denn die Rente als Versicherungsleistung muß und wird deutlich über der Sozialhilfe liegen. Die Ankoppelung der Renten an die verfügbaren Einkommen der beitragspflichtigen Arbeitnehmer hat sich bewährt. Dabei bleibt es. Die Elemente in der Rentenversicherung, die der eigenständigen Alterssicherung der Frauen dienen, müssen ausgebaut werden.
Diese Fäden müssen zu einem überzeugenden Konzept zusammengefügt werden. Daran arbeitet die CDU/CSU, daran arbeitet die Bundesregierung, und auch Sie arbeiten daran.
Die Rentenversicherung liebe Kolleginnen und Kollegen, ist unser gemeinsames Werk. Diesem Werk vertrauen Millionen von Menschen. Deshalb richte ich die Bitte an alle: Beschädigt dieses Werk nicht aus parteitaktischem Kalkül! Wir werden uns um die Fortentwicklung im Einvernehmen bemühen: im Einvernehmen hier im Haus, im Einvernehmen mit den Tarifpartnern und vor allem im Einvernehmen mit den Menschen, für die die Rentenversicherung da ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313125400
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Ulrich Adam, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Maritime Wirtschaft
- Drucksachen 13/4085, 13/5596 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Konrad Kunick, Elke Ferner, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sicherung der Standortbedingungen der
deutschen maritimen Verkehrswirtschaft
- Drucksache 13/3917 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen
Die Gestaltung der maritimen Zukunft Europas
Ein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der maritimen Wirtschaft
- Drucksachen 13/4678 Nr. 2.9, 13/5678
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5828 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen, CDU/CSU.

Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1313125500
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erstmalig befaßt sich der Deutsche Bundestag global mit der Thematik maritime Wirtschaft. Wir von der Union begrüßen diese parlamentarische Initiative ausdrücklich und weisen darauf hin, daß wir in Europa zu den Pionieren der Diskussion über dieses Thema gehören. Weltweit ist aber die Debatte um die maritime Wirtschaft schon voll entbrannt.
Das 21. Jahrhundert - so lautet die These - wird ein maritimes Jahrhundert werden. Den Meeren, die zwei Drittel der Erdoberfläche ausmachen, gehört die Zukunft. Das gilt für die Welternährung ebenso wie für die Energie- und Rohstoffgewinnung, für Arbeitsplätze, Transport und Nutzung der neuen Technologien. Damit ist die maritime Wirtschaft in ihrem Aufgabenfeld umschrieben. Es reicht vom Schiffbau, von der Seeschiffahrt über die Off-Shore-Thematik bis hin zu neuen Energien, zur Fischerei und zum Meeresbergbau.
Von diesem Verständnis geht die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion aus, die heute Grundlage dieser Debatte ist. Wir wollen wissen: Ist unser Land auf die Herausforderungen eines maritimen, ozeanischen Jahrhunderts eingestellt? Sind wir als eine der führenden Exportnationen ausreichend dafür gerüstet? Die Antworten der Bundesregierung machen deutlich: Deutschland ist in Europa noch ein maritimer Standort erster Klasse, doch Schwachstellen zeichnen sich schon ab. Im weltweiten Wettbewerb verlieren wir an Marktanteilen. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.
Die Globalisierung der Märkte zwingt uns zu konzentriertem Handeln. Dazu gehört unserer Meinung nach ein nationales Konzept zur maritimen Wirtschaft. Die Bündelung der Kräfte in der Luft- und Raumfahrt hat gezeigt, welche Erfolge durch ein konzeptionelles Vorgehen möglich sind. Wie beim Luftverkehr besitzen wir auch in der maritimen Wirtschaft weitgehend eine Technologieführerschaft,
z. B. im Schiffbau. So erreicht die Kieler Werft HDW bei dem Bau der zur Zeit größten Containerschiffe der Welt eine Fertigungstoleranz von 4 Millimetern beim Zusammenschweißen der Stahlplatten für den Schiffsrumpf bei einer Grundfläche von 1 200 Quadratmetern. Dies entspricht der Größe des Plenarsaals. 4 Millimeter Fertigungstoleranz ist weltmeisterhaft!

(Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.])

Top und weltweit anerkannt ist die Schiffszulieferindustrie. Sie ist nicht an der Küste, sondern in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zu Hause. Sie gehört weltweit zur Leistungsspitze. Gut 50 000 Arbeitsplätze werden von ihr bereitgestellt. In den Werften selbst finden zur Zeit nur noch etwa 30 000 Mitarbeiter Beschäftigung. Bald - so die Arbeitsmarktprognose - kommen auf einen Werftarbeitsplatz zwei Arbeitsplätze bei den Zulieferern. Überspitzt formuliert bedeutet dies: Werden in Bremen Boote gebaut, boomt es in Bayern.
Schiffbauförderung ist kein norddeutsches Sonderanliegen, sondern ist eine nationale Herausforderung. Von diesem Ansatz ausgehend wurde vor zehn Jahren auf Initiative des damaligen Bundesforschungsministers Heinz Riesenhuber das Projekt „Schiff der Zukunft" entwickelt. Dieser Schub aus Bonn hat zweifellos mit dazu geführt, daß der Schiffbau bei uns eine High-Tech-Industrie wurde. Das böse Wort von der 3-D-Industrie - dirty, dull and dangerous - gilt für die Werften nicht mehr. Das Schiff ist zu einem Kristallisationspunkt unterschiedlichster Technologien geworden und ist der technische Schlüssel für die gesamte maritime Wirtschaft. Der Anteil der Zulieferungen am Wert eines Schiffes beträgt heute zwischen 60 und 80 Prozent.
Doch der Stellenwert, den wir in unserem Land der maritimen Wirtschaft zuordnen, ist noch unterentwikkelt. Wir sind eher bereit, nach den Sternen zu greifen, als uns die Füße naß zu machen. Es fehlt bei uns an ausreichendem maritimen Bewußtsein. So manche Haushaltsentscheidung macht das deutlich - bedauerlich, weil die Zukunftschancen der maritimen Wirtschaft offenkundig sind:
Erstens. Europa hat einen ausgeprägten maritimen Charakter. Sein Anteil am Welthandel beträgt 40 Prozent. Mehr als 90 Prozent des europäischen Außenhandels und fast 30 Prozent des Binnenhandels werden auf dem Seeweg abgewickelt. Mehr als 2,5 Millionen Menschen sind in Europa in der maritimen Wirtschaft beschäftigt.
Zweitens. Von Deutschland aus wird fast ein Drittel des europäischen Exports bestritten. 60 Prozent unseres Exports wird über See abgewickelt. Fast 100 Prozent unserer Rohstoffe erreichen uns über die Meere. Für ein Land, in dem jeder vierte Arbeitsplatz vom Export abhängig ist, ist der sichere Seeweg eine Existenzfrage.
Drittens. Der Schiffbau ist Kern des Systems der maritimen Wirtschaft. Der deutsche Schiffbau selbst ist Nummer eins in Europa und - noch - Nummer drei in der Welt. Er hat aber nur noch einen Marktanteil von 7 Prozent. Mit technisch anspruchsvollen

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

Schiffen gehört er zur Weltspitze. Das gilt für den Handels- wie auch für den Marineschiffbau, ja, auch für den Militärschiffbau, der technisch top ist. Wer ihn verteufelt, schadet der gesamten Branche - ebenso der, der ihn ausgrenzt, wie es jetzt gerade die Kieler Ratsversammlung beschlossen hat. Sie beschloß, daß der neue Truppenversorger der Bundesmarine nicht in Kiel stationiert werden dürfe. Peinlich!

(Renate Blank [CDU/CSU]: Wer ist dort wohl an der Regierung?)

Die Schiffbaumusik selbst wird in Fernost gespielt. Japan und Korea sind mit 60 Prozent am Markt beteiligt. Korea hat seine Marktstellung innerhalb von vier Jahren von 12 auf 27 Prozent verbessert.
Viertens. Die Weltschiffsflotte ist überaltert. Über 50 Prozent der Schiffe sind 15 Jahre alt und älter. Sie genügen weder zeitgemäßen Sicherheits- noch Umweltansprüchen. Der Erneuerungsbedarf beträgt etwa 70 bis 80 Prozent. Der Welthandel wächst; Schiffe sind dabei unverzichtbar. Sie erledigen über 90 Prozent des Güterverkehrs. Güter gehören, wo irgend möglich, auf das Schiff.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Umwelt-, energie- und wirtschaftspolitische Gründe sprechen dafür, die Kapazität der „nassen Autobahn" stärker zu nutzen. Das Potential der Verlagerung im innereuropäischen Warenverkehr von der Straße auf das Schiff beträgt gut 15 Prozent des Gesamtfrachtaufkommens. Alle diese Einschätzungen machen deutlich: Ein Schiffbauboom kündigt sich an. Allein 3 000 neue Schiffe müssen gebaut werden. Wir wollen daran teilhaben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Es gilt jedoch, Hürden und Hindernisse abzuräumen. Hierauf möchte ich kurz eingehen.
Dazu gehört die Wettbewerbsverzerrung. Der Weltschiffbaumarkt ist heiß umkämpft. Trotz steigender Nachfrage sinken die Preise - bei den Containerschiffen um 20 Prozent innerhalb von zwei Jahren. Staatliche Förderprogramme greifen in das Preisgefüge ein, verzerren es und führen dazu, daß es zu künstlichen Preisen kommt. Das OECD-Abkommen, das in diesem Jahr verabschiedet werden sollte, ist auf Initiative der Amerikaner zurückgestellt worden, obwohl sie es selbst vor fünf Jahren initiiert haben. Mit Preisdumping und Produktionssubventionen im Schiffbau muß weltweit Schluß sein! Dieser Appell geht auch an die USA. Wir erwarten, daß die EU hier aktiver wird. Wir begrüßen, daß sich besonders unser Bundeswirtschaftsminister aktiv in die Beschlußfassung des OECD-Abkommens eingeschaltet und darauf gedrängt hat, daß die Subventionswettläufe eingestellt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zu den Hemmnissen für den nationalen Schiffbaustandort Deutschland gehören neben den Arbeitsbesonders die hohen Lohnnebenkosten. Mit Lohnkosten von über 80 Prozent pro Schiff und rund 1 500 Arbeitsstunden pro Jahr sind unserer Konkurrenzfähigkeit Grenzen gesetzt. Während in Japan die Lohnnebenkosten nur 34 Prozent betragen - bei einer Jahresarbeitszeit von 2 100 Stunden -, ist der Abstand gegenüber Korea, wo ein Schiff bei 2 300 Jahresarbeitsstunden um ein Drittel billiger als bei uns gebaut wird, noch größerer.
Diese Wettbewerbsunterschiede haben bei den Werften tiefe Bremsspuren hinterlassen. So arbeiten bei HDW in Kiel rund 3 700 Mitarbeiter. Vor 15 Jahren waren es noch 12 000. Aber die 3 700 Mitarbeiter bauen heute genauso viele Schiffe wie die 12 000 Mitarbeiter vor 15 Jahren. Ähnlich ist es bei der FSG in Flensburg, der Werft Meyer in Papenburg sowie bei allen anderen. Wer nicht will, daß Arbeitsplätze weiterhin drastisch abgebaut werden, der muß mit zur Senkung der Kosten beitragen, die die Arbeit bei uns in Deutschland zu teuer machen.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Börnsen hat recht!)

Wir begrüßen die Bereitschaft der Bundesregierung, im Rahmen der Fortgeltung der 7. EU-Schiffbaurichtlinie weiterhin Wettbewerbshilfe zu leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die in Aussicht gestellten 115 Millionen DM ergeben zusammen mit den Landesmitteln der fünf norddeutschen Länder 345 Millionen DM. Damit kann man ein Auftragsvolumen von 5,5 Milliarden DM erhalten. Dies dient den Werften und Zulieferern. Aber die Länder dürfen sich nicht verweigern. Noch tun sie es, aber sie sind aufgefordert, sich an der Finanzierung zu beteiligen.
Auch die angekündigte Fortsetzung der Finanzbeiträge für die deutsche Seeschiffahrt ist nach unserer Auffassung notwendig. Sie sichert die deutsche Flagge, sie gewährleistet Arbeits- und Ausbildungsplätze für die Seeleute unseres Landes. Sie dient dazu, die Infrastruktur unseres Landes weiterhin zu sichern.
Wir sehen sehr wohl, daß das. Schiff nicht nur im Kontinentalhandel Transportmittel Nummer eins sein kann, sondern daß auch Entwicklungspotentiale unter dem Stichwort „Short-Sea-Shipping" bestehen. Im küstennahen Verkehr liegt die Zukunft. Dafür müssen wir Anreize schaffen. Kein Transportträger ist so kostengünstig, so energiesparend und so umweltschonend wie das Schiff,

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

so daß eine Verlagerung der Fracht vom überlasteten Landverkehr auf den Kurzstreckenseeverkehr notwendig ist. Dazu gehört die Vernetzung mit dem Hinterlandverkehr. Dazu gehört aber auch die Schaffung ausreichend tiefer Häfen bzw. Fahrrinnen, da-

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

mit auch große Schiffe in die Häfen gelangen können.

(Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Ja!)

Wer das nicht will, der torpediert die Schaffung einer besseren Infrastruktur. Wir müssen sie forcieren. Das bedeutet nach unserer Meinung die Ausbaggerung der Unterelbe sowie die Einführung neuer Technologien.

(Lisa Peters [F.D.P.]: Nicht Ausbaggerung, Vertiefung! Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön gesagt!)

Wir müssen dazu beitragen, daß wir uns in der maritimen Infrastruktur die Zukunft sichern, die wir uns alle wünschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313125600
Herr Kollege Börnsen, Sie müssen zum Schluß kommen.

Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1313125700
Doch die Chancen für unser Land, die in der maritimen Wirtschaft liegen, lassen sich nutzen. Wir von der Union wollen den maritimen Standort Deutschland sichern, ausbauen und fördern, um Arbeit, Beschäftigung und Wachstum zu gewährleisten.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313125800
Das Wort hat der Kollege Konrad Kunick, SPD.

Konrad Kunick (SPD):
Rede ID: ID1313125900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit unserem Antrag bringen wir einen einstimmigen Beschluß des Verkehrsausschusses vom 31. Mai 1995 zur Beratung, den Koalition und Sozialdemokraten auf Grund des Berichtes des Expertengremiums des Bundesverkehrsministeriums über die Sicherung der Standortbedingungen der maritimen Wirtschaft in Deutschland gemeinsam formuliert hatten. Dieser an den Bundestag gerichtete einstimmige Beschluß war lange Zeit verschollen wie das berühmte Geisterschiff im Sargassomeer. Nachdem wir ihn nun wieder geortet haben, hoffen wir auf breite Zustimmung im Parlament.
Ich möchte mich auf das Rückgrat der maritimen Wirtschaft, auf die Seeschiffahrt konzentrieren. In seinem Urteil zum Zweitregister aus dem Jahre 1995 hat sich das Bundesverfassungsgericht gründlich mit der Seeschiffahrt unter schwarz-rot-goldener Flagge beschäftigt. Es ist ein Urteil, dessen Bemannungsregelung auch wir Sozialdemokraten akzeptieren, dessen positive Aussagen zur Schiffahrt unter deutscher Flagge wir begrüßen und zum Gegenstand unserer politischen Arbeit und unserer Anmahnungen machen.
Ich zitiere das Verfassungsgericht:
Der Erhaltung einer deutschen Handelsflotte kommt in einer exportorientierten Volkswirtschaft wie der deutschen erhebliche außenwirtschaftliche Bedeutung zu. Bei diesen Zielen geht es um den Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter.
Im einzelnen nennt das Gericht: Sicherheit des Schiffsverkehrs, Schutz von Leben und Gesundheit der Menschen an Bord, Erhaltung der in Schiff und Ladung verkörperten Sachgüter, Vermeidung der Verschmutzung der Weltmeere, Schutz des deutschen Sozialversicherungsrechts.
Es sagt wörtlich:
Mit der Sicherung qualifizierter Arbeitsplätze wird der Gefahr vorgebeugt, daß die deutsche Ausbildung in seemännischen Berufen weiter zurückgeht. Damit können auch in Zukunft praktische Erfahrungen für andere Berufe wie den eines Hafenkapitäns oder Lotsen gesammelt werden.
Unter deutscher Flagge waren Ende August 1995 im deutschen Erst- und Zweitregister die modernsten Schiffe, insgesamt 782 Einheiten der Handelsflotte, registriert. Dieser Teil der Flotte beschäftigte Mitte 1995 15 500 Arbeitnehmer, davon 11 000 deutsche und 4 500 ausländische Seeleute. Diese schwarz-rotgoldene Kernflotte im deutschen Erst- und Zweitregister ist unter anderem Gegenstand unseres Antrages.
Ich will die Debatte nutzen, um in drei Punkten zu aktuellen Problemen ihrer Förderung Stellung zu nehmen.
Erstens. Wir Sozialdemokraten fordern: Die deutschen Reeder und die deutschen Seeleute müssen steuerlich gleich günstig gestellt werden wie Reeder und Seeleute unter konkurrierenden Handelsflaggen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Es kann doch wohl nicht angehen, daß deutsche Reeder unter holländische, dänische oder liberianische Flagge gehen müssen, um die Lohnsteuerbefreiung für Seeleute zu bekommen, während die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage genau diese Lohnsteuerfreiheit ausschließt. Warum planen Sie denn eigentlich eine umfassende steuerliche Entlastung der Binnenunternehmen, wollen aber der schwarz-rot-goldenen Flagge konkurrenzfähige Steuerbedingungen nicht zuerkennen?
Die SPD hat in der Sitzung des Verkehrsausschusses am 6. Dezember letzten Jahres einen systematischen Steuervergleich für die sieben wichtigsten Ausweichflaggen zu Schwarz-Rot-Gold gefordert. Zugesagt hat ihn Herr Staatssekretär Carstens für das Frühjahr dieses Jahres. Vorgelegt wurde bis heute nichts. Das erinnert einen an das Sprichwort, daß die lange Bank des Teufels liebstes Möbelstück ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Zweitens. Es muß mit der jährlichen Springprozession der Koalition zum Thema Finanzbeiträge Schluß

Konrad Kunick
sein. Es ist ein Skandal. Das dauernde Hin und Her macht für die Seeschiffahrt jede längerfristige Kalkulation, von der Flagge und Bemannung abhängig sind, höchst fragwürdig. Finanzbeiträge dienen der Sicherung der unter verfassungsrechtlichem Schutz stehenden deutschen Handelsflagge im heutigen System der Schiffahrtsförderung und sind kein Geschenk.
1995 enthielt der Haushalt Finanzbeiträge in Höhe von 100 Millionen DM. Die Haushaltsvorgabe von Waigel für 1996 betrug nur noch 40 Millionen DM. Dann folgte ein großer Krach. Hapag-Lloyd dachte laut über die Ausflaggung seiner Flotte nach Singapur nach. Am Ende der Haushaltsberatungen war die endgültige Haushaltsposition 100 Millionen DM. Daraufhin schließt Hapag-Lloyd eine Vertriebsvereinbarung mit der ÖTV, in der es wörtlich heißt „auf der Basis der heutigen Schiffahrtsförderung", und bringt seine Flotte ins Zweitregister, statt auszuflaggen, so daß wenigstens die Hälfte der Bordarbeitsplätze gerettet wurden. Danach gab es große Reden aus dem Verkehrsministerium und der Koalition, Finanzbeiträge müßten verstetigt werden, um zusammen mit dem ISR den deutschen Reedereien eine klare Zukunftsperspektive zu geben. Gute Erkenntnis!
Und nun die Haushaltsberatungen 1997. Verstetigung? Nichts davon, Schall und Rauch von gestern. Theo Waigel bringt für 1997 wieder einen Haushaltsansatz von 40 Millionen DM in die Beratungen. Die Verkehrsfachleute der Koalition trauen sich jetzt nicht, mehr als 80 Millionen DM zu fordern. Das bedeutete eine Kürzung um 20 Prozent. 80 Millionen DM, verbunden mit einer Wertbegrenzung der Fördergrundlage auf 42 Millionen DM pro Einheit - das wird Überlegungen, wieder stärker in Korea zu bauen, neu entfachen. Das betrifft besonders den Bestand der vorhandenen großen Schiffe.
Ich will hier nicht öffentlich beurteilen, ob der Herr Bundesverkehrsminister oder die Koalition bei Hapag-Lloyd nicht doch ein Stück im Wort ist. Jedenfalls stehen mit der Bildung einer gemeinsamen Reedereigruppe - Hapag-Lloyd und Hamburg-Süd - wichtige Veränderungen an. Letzte Woche las man in der „DVZ" erneut von Ausflaggungsüberlegungen des Hapag-Lloyd-Vorstandes.
Zu diesem Kapitel, meine Damen und Herren: Wir Sozialdemokraten halten nach wie vor Finanzbeiträge in Höhe von 100 Millionen DM für sachlich erforderlich. Diese wären nach unserer Vorstellung wirksam an Beschäftigung und Ausbildung zu binden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Drittens: die investive Flaggenbindung. Bisher war die Bindung von Schiffsneubauten an die deutsche Flagge unter § 82f EStDV, Abschreibungsregelung für den Neubau von Seeschiffen, geregelt. Die bekam nur, wer sein Schiff für die nächsten acht Jahre in Deutschland ins deutsche Schiffsregister eintragen ließ. Zitat aus der „Hansa", dem renommierten Schiffahrtsorgan, Nr. 7/1996: „der einzige Paragraph
auf Investitionsebene, der den Anwender unter die deutsche Flagge zwingt" . Hieran ist auch die Pflicht geknüpft, nach bestimmten Regeln Seeleute aus Deutschland zu beschäftigen.
Was aber tut die Koalition im Zuge ihres Jahressteuergesetzes 1997? Sie will auch diesen Anker kappen, der deutsche Flagge, Seemannsarbeit und Erneuerung der Kernflotte zusammenhält, gegen den Einspruch der Küstenländer, gegen den Einspruch des Bundesrates. Dabei hatte der Verband Deutscher Reeder vernünftige Vorschläge gemacht, die steuerliche Förderung auszudünnen. Doch statt die steuerlichen Instrumente zu modernisieren, will die Koalition sie abwracken. Und während das gerade über die Bühne geht, kommt aus Brüssel die Nachricht, daß die EG-Kommission diese Sonderabschreibungsregelungen für den Bau von Handelsschiffen bis 1999 den Deutschen weiter genehmigt hat. Meine Damen und Herren, wir hoffen, daß Sie die kommenden Wochen nutzen, um sich Ihr Vorgehen noch einmal reiflich zu überlegen - auch unter dem Fördergebot des Verfassungsgerichts.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten bieten an: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, der modernen Kernflotte und ihren Seeleuten die Existenz unter Schwarz-RotGold zu sichern. Das geht nur durch eine über längere Zeiträume konstante Förderungspolitik, der dann umgehend die erforderliche Unternehmensteuerreform für die schwarzrotgoldene Schiffahrt folgen muß.
Viertens. Deutsche Schiffahrtspolitik muß sich darüber hinaus auch um die deutschen Seeleute kümmern, die unter fremder Flagge fahren, und um die deutschen Reedereien, die fremdflaggige Schiffe einsetzen. Denn um die in Deutschland registrierte und unter deutscher Flagge fahrende Kernflotte herum hat sich eine vielflaggige Flotte von etwa 800 Schiffen gruppiert, die von deutschen Reedern eingesetzt werden, mit ausländischen Seeleuten, vielfach aber auch deutschem Leitungspersonal. Weil es um das Gewicht Deutschlands in den Reedereikonsortien und Schiffahrtskonferenzen, um das Gewicht deutscher Schiffahrtspolitik im UNO- und EG-Rahmen, um die Mitwirkung in der IMO geht, bedarf auch dieser Teil deutscher Schiffahrtsaktivitäten unserer Aufmerksamkeit.
Wir begrüßen, daß bei der Änderung des IV. Buches des Sozialgesetzbuches endlich deutschen Seeleuten unter fremder Flagge der Zugang zur Arbeitslosenversicherung und zur Rentenversicherung geöffnet werden soll.

(Beifall bei der SPD)

Wie man das wirksam gestaltet, sollte vor Abschluß der Beratungen noch einmal mit den Tarifpartnern des Seeverkehrs beraten werden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Deutschland braucht im 21. Jahrhundert auch und gerade eine große, moderne Handelsflotte. Nach den vergangenen Auseinandersetzungen und Flickschustereien ist es höchste Zeit, daß Politik, Ree-

Konrad Kunick
der und Gewerkschaften an einen Tisch kommen. Reeder und Seeleute brauchen eine klare Zukunftsperspektive. Für die Außenhandelsnation Deutschland gilt auch im kommenden Jahrhundert: „Seefahrt ist not" - für Landratten heißt das „notwendig".

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313126000
Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege Erich Maaß, CDU/CSU.

Erich Maaß (CDU):
Rede ID: ID1313126100
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte im Rahmen einer Kurzintervention ein Thema problematisieren, das die Vorredner nur angedeutet haben. In unserem föderalen System haben die Bundesländer die Zuständigkeit für die Hafenpolitik. Der Bund hat die Zuständigkeit für die Verkehrsinfrastruktur, also Wasserwege, Bahnen, Schiene und Bundesstraße.
Diese Teilung hat in der Vergangenheit Bestand gehabt und war sicherlich richtig. Ich sehe aber, was sich zur Zeit bei unseren europäischen Nachbarn abspielt, zum Beispiel in Rotterdam, wo mittlerweile Milliardeninvestitionen stattfinden mit dem Ziel, daß Rotterdam Deutschlands größter Hafen wird. Und hier muß ich mir überlegen, worüber wir zum Teil diskutieren. Ich sehe hier eine nationale Aufgabe, die wir mit einer Koordinierung der Funktionen von Ländern und Bund bewältigen müssen. Kirchturmspolitik, bei der ein Hafen in der Bundesrepublik auf den anderen schielt und glaubt, er könne ihm ein paar Tonnen abluchsen, hilft uns nicht mehr weiter.

(Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Notwendig ist eine nationale Anstrengung, damit nicht die ganzen Verkehrsströme über Rotterdam und die entsprechende Hinterlandanbindung in Gebiete laufen, die ureigenes Einzugsgebiet bundesdeutscher Häfen gewesen sind, wo immer Nachfrage bestanden hat.
Ich bitte, dies ernst zu nehmen. Deshalb bin ich über die Beantwortung zweier Fragen unzufrieden, die in der Großen Anfrage gestellt wurden. Ich bitte, dieses Thema aufzugreifen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313126200
Ich gehe davon aus, daß sich dies auf den Redebeitrag des Kollegen Kunick bezog. Deshalb gebe ich ihm die Möglichkeit zu erwidern. - Das war eine Interpretationshilfe von mir.
Bitte, Herr Kollege Kunick.

Konrad Kunick (SPD):
Rede ID: ID1313126300
Herr Kollege, Sie weisen auf einen wichtigen Punkt hin.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Sagen Sie bloß, er habe recht, und dann paßt es!)

Dieser Punkt ist auch Gegenstand des Antrages, den wir dem Plenum vorlegen. Es ist die Frage der Vorteile der Vielhäfigkeit in Europa im Vergleich zum Main-port-Denken, wie es von Holland aus mit Rotterdam betrieben wird.
Es gibt Pflichten der Länder, und es gibt Pflichten des Bundes. Ich nehme die Gelegenheit wahr, bei Ihnen, Herr Kollege Börnsen, ein Komma zu setzen. Sie erwähnten die Vertiefung der Unterelbe. Dieselbe Verpflichtung - Reichsverpflichtung im übrigen, die der Bund als Rechtsnachfolger des Reiches übernommen hat - gilt auch für die Vertiefung der Außenweser und der Unterweser.
Die kaufmännische Organisation der deutschen Wirtschaft in den Häfen funktioniert - das werden die, die auf Konkurrenz doch sonst viel Wert legen, nicht bestreiten - in Konkurrenz ein Stückchen besser. Die Gemeinsamkeit darf dabei - da gebe ich Ihnen recht - nicht zu kurz kommen. Sie ist unter den deutschen Seehäfen stärker ausgeprägt, als manche außerhalb das glauben mögen.

(Lisa Peters [F.D.P.]: Das hört man aber nicht so!)

Schönen Dank.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313126400
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gila Altmann, Bündnis 90/Die Grünen.

Gisela Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313126500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schön, daß wir heute über die Lage der maritimen Wirtschaft diskutieren. Schön, was Sie, Herr Börnsen, gesagt haben. Ihre Zustandsbeschreibung war zutreffend, besonders das, was Sie zur Ausbaggerung der Elbe gesagt haben; Sie waren da ehrlich.
Um so unverständlicher ist es, daß wir auf Betreiben der Koalition eine Fortsetzungsgeschichte machen: Jetzt diskutieren wir über die ökonomischen, nachher, zu später Stunde, über die ökologischen Probleme der Seeschiffahrt. Mit Händen und Füßen hat sich nämlich die Koalition dagegen gewehrt, beide Komplexe in einer verbundenen Debatte zu diskutieren.

(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)

Selbst unser Entschließungsantrag sollte nicht Gegenstand dieser Debatte sein, weil er aus Sicht der CDU/CSU zu ökologisch ist. Und die Ökologie hat mit Wirtschaft nichts zu tun, basta!
Da drängt sich gerade nach Ihrer Rede, Herr Börnsen, die Frage auf: Will die Regierungskoalition nicht wahrhaben, daß es einen Zusammenhang zwischen Tankerkatastrophen und der Werftenkrise gibt, oder

Gila Altmann (Aurich)

weiß sie es nicht besser? Dann sollten Sie es ihr sagen.
Wenn man sich die Antwort auf die Große Anfrage anguckt, wird es klar: Sie liest sich, als hätten Wirtschaftsverbände die Feder geführt. Die Grundaussage der Antwort ist: Alles im Lot auf'm Boot, alles in Butter auf'm Kutter; die Wirtschaft hat alles im Griff; die Perspektiven sind glänzend - mit der Einschränkung, daß die Produktivität steigen muß und die Arbeitskosten sinken müssen, letzteres mit ein bißchen mehr sozialer Grausamkeit.
Gewarnt wird vor den „tariflich überhöhten Arbeitskosten". Da ist von „lean production", von „Reduzierung der Fertigungstiefe" und „Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer" die Rede. Einseitig werden so die Interessen der Arbeitgeber verfolgt, während Arbeitnehmer allenfalls als zu senkender Kostenfaktor ins Gewicht fallen. „Käpt'n Blaubärs" Märchenstunde ist nichts dagegen.

(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: „Käpt'n Blaubär" ist schön!)

Fünf kurze Beispiele: Da brüstet sich die Bundesregierung mit Forschung und Technik. So hat sie das „Schiff der Zukunft" seit den 80er Jahren mit weit über 100 Millionen DM gefördert. Ergebnis: Kein weiteres Schiff wurde gebaut, der fertiggestellte Prototyp ins Ausland verkauft. Das ist keine Standortsicherung; dies ist staatlich subventionierter Technologie- und Arbeitsplatzexport.
Beispiel zwei: die Riesenpleite mit der Vulkan AG, bei der mindestens 760 Millionen DM Fördermittel, die für die ostdeutschen Werften bestimmt waren, auf dubiose Art und Weise im Gestrüpp des westdeutschen Vulkan-Konzerns versickerten. Langjährig sind Schiffbauaufträge mit Verlust abgewickelt worden. Ergebnis: Forderungen von 3,9 Milliarden DM. Deutlicher lassen sich die Folgen einer verfehlten Wirtschaftspolitik nicht dokumentieren.
Beispiel drei: eine verfehlte Werftenförderung durch maritime Rüstungsproduktion. Dieses Kapitel wurde schamhaft weggelassen. Zwischen 1992 und 1995 wurde die Hälfte aller insgesamt aus der Bundesrepublik exportierten Kriegsschiffe in Entwicklungsländer geliefert. Auch dieses Kapitel des perversen Zusammenhangs zwischen Arbeitsplatzsicherung und Verantwortungslosigkeit gehört auf den Tisch, wenn über maritime Wirtschaft geredet wird.
Beispiel vier. Durch steuerliche Vergünstigungen hat die Bundesregierung Investitionen in den Schiffbau massiv gefördert. Verlustzuweisungen, Sonderabschreibungen und verringerte Gewinnbesteuerung - zwischen 1992 und 1995 hat sie so 5,5 Milliarden DM für Schiffbauinvestitionen mobilisiert. Die Steuerausfälle daraus belaufen sich auf rund drei Milliarden DM. Weitere 2,6 Milliarden DM kamen als direkte Subventionen dazu.
Gefördert wird hierdurch aber in erster Linie der Schiffbau in Korea. Selbst die Bundesregierung hat gemerkt, daß ihre Subventionspolitik keine Lenkungswirkung hat. Also sind ab 1996 zwar die Abschreibungsmöglichkeiten verringert worden, das
System bleibt aber gleich, anstatt hier die Kriterien an ökologische und soziale Standards zu binden.
Das letzte Beispiel. Da ist von Verkehrsanbindung und Vernetzung der Verkehrsträger die Rede. Sieht man sich aber die Betonorgie der zahllosen Autobahnprojekte von A 20 bis Wesertunnel an, so wird klar, daß es nicht um die Erschließung der Region geht, sondern um europäische Magistralen.

(Lisa Peters [F.D.P.]: Fehlt nur noch der Transrapid!)

Durch diese Projekte wird der Verdrängungswettbewerb mit dem Lkw weiter angeheizt. Die Schienenprojekte fallen entsprechend kümmerlich aus. - Und wenn Sie mit Ihrem Transrapid nach Aurich wollen: Die Ostfriesen haben sich schon gegen die Sturmfluten gewehrt; das schaffen sie auch noch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit solchen Konzepten ist also weder die Bundesregierung noch die maritime Wirtschaft zu retten. Denn nirgends wird der Zusammenhang zwischen Ökologie und Ökonomie so deutlich wie bei der maritimen Wirtschaft. Technische, Sicherheits- und Sozialstandards sind der Hebel für eine zukunftsfähige Schiffahrtspolitik. Ein Großteil der 01- und Chemietanker fährt unter Billigflagge mit einem hohen Gefahrenpotential. Allein die Schadenssumme der Tankerkatastrophe der „Haven" 1991 vor der italienischen Küste hätte ausgereicht, um vier moderne Doppelhüllentanker zu bauen. Hier verschläft Europa die Chance, durch eine Angleichung des Haftungsrechts nach dem Verursacherprinzip an USamerikanische Standards entscheidende Impulse zu geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dasselbe gilt für Auslaufverbote für Seelenverkäufer in deutschen und europäischen Häfen.
Sie von der Regierung schieben alles auf die internationale lange Bank und damit letztendlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Konstruktionspläne für Doppelhüllentanker, energiesparende und umweltfreundliche Antriebssysteme, verbesserte Navigations- und Sicherheitstechnik liegen in den Schubladen der Werften. Statt dessen werden die Zukunftsprojekte wie moderne Segelschifftechnik in Japan erprobt.
Wir haben in unserem Antrag dargelegt, welche neuen Weichenstellungen notwendig sind. Der Markt alleine wird das nicht regeln. Wir brauchen dazu verläßliche politische Rahmenbedingungen. Es geht um eine Erhöhung der Sicherheitsstandards auf See und um technische und soziale Standards, es geht um die Förderung von Forschung und Entwicklung unter ökologischen Bedingungen, um die Einführung des Verursacherprinzips und die Ausweitung des Haftungsrechts, um die Förderung der europäischen Hafenkooperation und die Einführung von Green-Award-Standards und nicht zuletzt um vorbeugenden Umweltschutz durch Wiederaufnahme der kostenlosen Altölentsorgung.

Gila Altmann (Aurich)

Die See-, Küsten- und Binnenschiffahrt hat Zukunft, allerdings nur unter der Bedingung, daß sich die Politik traut, die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Bei der Antwort auf die Große Anfrage allerdings, über die wir heute debattieren, wäre selbst Hein Blöd so schlau, dies von dieser Bundesregierung nicht mehr zu erwarten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313126600
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, F.D.P.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1313126700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne Zweifel: Die deutsche maritime Wirtschaft befindet sich auf rauher See. So hat es in den letzten 12 Monaten eine Beschäftigungssituation gegeben, die durchaus kritisch ist und über die wir nachdenken müssen. 3 500 Arbeitsplätze wurden abgebaut.
Es zeigt sich: Bei einem hohen Rationalisierungstempo der Werften ist die Auslastung der Produktionskapazitäten noch kein Garant für die Sicherung von Arbeitsplätzen. Trotz hoher Leistungsfähigkeit hat der deutsche Schiffbau mit erheblichen Problemen zu kämpfen - und das, obwohl Deutschland als einziges westliches Industrieland seinen Anteil am Weltschiffbaumarkt hat behaupten können. Diese Stellung der deutschen Schiffbauindustrie ist auf wichtige Stärken zurückzuführen: In Deutschland werden technologisch anspruchsvolle Schiffe gebaut; auch bei Umbauten und Reparaturarbeiten können sich die Leistungen der deutschen Werften sehen lassen.
Wenn im Handelsschiffbau Kunden deutscher Weilten zunehmend ins preislich, teilweise um 40 Prozent unterbietende Ausland abwandern, dann, weil für den Käufer Betriebskosten, Wiederverkaufswert, Lieferzeiten oder Finanzierung eine im Vergleich zur Preisdifferenz untergeordnete Rolle spielen. Hinzu kommt, daß für die deutschen Werften das aggressive Marktverhalten der Werften in Polen, Korea und anderen Niedriglohnländern zu einer Existenzbedrohung wird. Vor allem die Meinen und mittleren Werften sind diesem Preisdruck nicht gewachsen und können die Preisunterschiede nicht mehr auffangen.
Zukünftig, so meinen wir, kommt es stärker darauf an, daß es eine bessere Zusammenarbeit zwischen Werften und Zulieferern gibt. Auch eine stärkere Zusammenarbeit mit den Reedern ist anzustreben.
Forschung und Entwicklung müssen ziel- und umsetzungsorientierter als bisher gestaltet werden. Daß hier noch einiges nachzuholen ist, zeigt sich auch daran, daß die Mittel, die der Bundesforschungsminister zur Verfügung stellt, nicht in vollem Umfang abgerufen werden. Zur Zeit ist erst die Hälfte davon abgerufen worden.
Die Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, im Forschungsbereich überwiegend für den Bau von Küstenschiffen Hilfe zu leisten, ist natürlich
falsch; denn gerade im Containerschiffbaubereich sind wir führend in der Welt. Ich denke, diese Position müssen wir halten.
Noch eine Bemerkung zum Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen: Die Kollegin ist sehr wenig auf ihren eigenen Antrag eingegangen. Die Überschrift des Antrages dürfte nicht lauten: „7-Punkte-Programm zur Sicherung der maritimen Wirtschaft". Sie müßte eigentlich lauten: 7-Punkte-Programm zur weiteren Belastung und Schikanierung der maritimen Wirtschaft; denn nichts anderes enthält dieser Antrag.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Auf Grund der hohen Standortkosten in Deutschland und der Entwicklung in Osteuropa und Asien werden die Werften und die Zulieferer stärker gezwungen sein, ihre Geschäfte zu globalisieren. Dazu gehört auch - das mag man bedauern - die Kooperation bzw. die Beteiligung bei ausländischen Weilten und Zulieferern.
Die staatliche Schiffbaupolitik muß dafür sorgen, daß der internationale Subventionswettbewerb endlich beendet wird. Ein einseitiger Verzicht auf flankierende Maßnahmen durch die deutsche Schiffbaupolitik zum jetzigen Zeitpunkt würde allerdings zu einem untragbaren Ungleichgewicht zu Lasten der deutschen Werften führen.
Staatliche Schiffbaupolitik muß auch dafür sorgen, daß Europa im Bereich des Schiffbaus enger zusammenrückt. Die Bedeutung, die eine wettbewerbsfähige maritime Industrie in Europa hat, muß auch von der EU stärker anerkannt werden.
Wenn wir über maritime Wirtschaft sprechen, gehört in diese Debatte auch, nicht zu verschweigen, daß die deutschen Werften vom Handelsschiffbau allein nicht werden existieren können und die Arbeitsplätze auf den Werften nicht allein durch den Handelsschiffbau zu sichern sind. Die deutschen Werften können auf den Marineschiffbau nicht verzichten. Unterseeboote und Überwasserfahrzeuge für die Marine sind technologisch führend und wettbewerbsfähig. Der Verzicht auf den Marineschiffbau würde auch den Verzicht auf viele Werftenstandorte in Deutschland bedeuten. Es scheint mir dringend geboten, daß wir - damit meine ich die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag, die Werften und die Gewerkschaften - sehr bald in einen Dialog auch über den Export von Marineschiffen eintreten.

(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will ausdrücklich begrüßen, daß die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag immer wieder die Notwendigkeit gesehen haben, den deutschen Schiffbau in seiner schwierigen Phase zu unterstützen.
Jetzt höre ich hier wieder von den Sozialdemokraten den Antrag, die Reedereihilfe auf 100 Millionen DM heraufzusetzen. Das ist löblich; ich habe viel Sympathie für so etwas. Es kann aber nicht angehen, daß man sich wie Frau Matthäus-Maier in den Haushaltsdebatten hier hinstellt und den Abbau von Subventionen fordert, dann aber, wenn sie nicht da ist,

Jürgen Koppelin
ans Rednerpult tritt und fordert, die Subventionen wieder zu erhöhen.
Ich denke, wir werden im Haushaltsausschuß versuchen, gemeinsam einen vernünftigen Weg zu finden. Wir haben das heute schon getan; ich komme gerade aus dem Ausschuß.
Wir haben uns den Appellen der norddeutschen Küstenländer nicht verschlossen, zum Beispiel wenn es um die Wettbewerbshilfe ging. Aber es kann natürlich nicht angehen, daß man zum Beispiel Schreiben der schleswig-holsteinischen Landesregierung bekommt, man solle sich für die Wettbewerbshilfe einsetzen, und, kaum hat man es getan, aus der Presse erfährt, daß dieselbe schleswig-holsteinische Landesregierung ihren eigenen Anteil radikal reduziert hat, so daß sie die Mittel des Bundes gar nicht in Anspruch nehmen kann. Das ist ein Schlag gegen den Schiffbau.
Es ist nicht uninteressant, dann zu erfahren - am 19. Juni aus den „Lübecker Nachrichten" -, daß durch dieses Verhalten der schleswig-holsteinischen Landesregierung eine Werft, die durch den Verbund mit dem Bremer Vulkan durchaus ihre Schwierigkeiten hatte, zwei große Aufträge verloren hat. Das hätte Beschäftigung für längere Zeit bedeutet.
Das ist dann - das muß ich schon sagen - ein Schlag aus Kiel gegen den Schiffbau und gegen Arbeitsplätze.
Ich weiß sehr wohl, daß manche Kolleginnen und Kollegen denken: Der Schiffbau da oben im Norden ist ein Problem der Norddeutschen allein. Das ist nicht so. 27 Prozent der Zulieferung kommt allein aus Baden-Württemberg. Ich meine, das sollten auch unsere süddeutschen Kollegen bei solchen Debatten bedenken. Es geht nicht nur um den maritimen Bereich da oben im Norden; es ist eine gesamtpolitische Aufgabe, dem Schiffbau und der maritimen Wirtschaft zu hellen.
Lassen Sie mich, Herr Präsident, abschließend noch folgendes in einem Satz sagen: Es kommt darauf an - das ist hier schon angesprochen worden -, daß wir die Elbvertiefung wollen, daß wir bei der Weser etwas machen. Das sichert die Zukunft der Standorte dort. Der Nordostseekanal muß attraktiver gemacht werden.
Die maritime Wirtschaft befindet sich nicht nur in rauher See. Wenn wir ihr hellen, dann, glaube ich, ist Land in Sicht. Wir sind bereit, ihr zu helfen.
Abschließend lassen Sie mich als Haushälter sagen: Es ist die Überweisung an zwei Ausschüsse, an den Ausschuß für Verkehr und an den Ausschuß für Wirtschaft, vorgeschlagen worden. Ich halte es auf Grund des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen für dringend geboten, den Antrag auch an den Haushaltsausschuß zu überweisen.
Vielen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313126800
Das Wort hat der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS.

Rolf Kutzmutz (PDS):
Rede ID: ID1313126900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute, meine ich, nicht nur über Schiffbau, Zulieferer und Seeschiffahrt, weil sie nach wie vor - und hoffentlich auch künftig - für die Küstenregionen - und nicht nur für diese - strukturbestimmende Wirtschaftszweige sind. Wir müssen vor allem auch über sie reden, weil sie einen bisher unterrepräsentierten Verkehrsträger erzeugen und anbieten, bei dem Segen und Fluch besonders eng beieinander liegen. Ein Schiff kann beispielsweise 4 400 Container bei einem Treibstoffverbrauch von 143 Tonnen über tausend Kilometer transportieren. Es braucht dafür nur ein Fünftel der Treibstoffmenge, den Lastkraftwagen bei gleicher Leistung verbrauchen würden.
Andererseits betrugen allein die versicherungstechnisch gemeldeten Schäden 1,4 Milliarden USDollar, als im April 1991 der 20 Jahre alte Einhüllentanker „Haven" vor der italienischen Küste havarierte. Für dieses Geld - so hat Frau Altmann hier schon gesagt - hätten vier wesentlich sicherere Doppelhüllentanker vergleichbarer Größenordnung gebaut werden können.
Beide Fakten, die Überlegenheit des Schiffes als eines weitreichenden Verkehrsträgers gegenüber dem Schwerlastverkehr der Straße und der Modernisierungsbedarf sowie die Modernisierungsmöglichkeiten - damit der Transport zu Wasser seine ökologische Überlegenheit auch tatsächlich ausspielen kann -, müssen meines Erachtens im Mittelpunkt der politischen Anstrengungen stehen. Und es muß um andere maritime Technologien wie Offshore-Techniken oder um Technologien zur Nahrungsmittelerzeugung aus dem Meer gehen.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Koalition bietet zwar eine Vielzahl von Fakten und - für sich allein genommen - interessanten Einsichten. Ich denke dabei an die zu fördernden Forschungsprojekte im Schiffbau oder die Aussagen zur Küstenschiffahrt. Aber beim besten Willen: Ein einheitliches Gesamtkonzept ist nicht zu erkennen. Vielmehr wurden offenbar alle verfügbaren Daten schnellstens zusammengefegt. So ist es schon geradezu abenteuerlich, einerseits das Hohelied der Küstenschiffahrt im Nord- und Ostseeraum zu singen, das Konzept „road to sea" zu feiern und im selben Atemzug ausgerechnet die geplante Ostseeautobahn A 20 als - ich zitiere - „seehafenbezogenes Projekt des Bundesverkehrswegeplanes" zu deklarieren.
Basis einer politischen Unterstützung der maritimen Wirtschaft kann auch nicht die einmal mehr vorgebrachte Litanei - sie wurde heute wiederholt - von den Lohnstückkosten hierzulande sein. Mit Sozialabbau ist der Wettlauf um Aufträge gegen Südkorea, Japan oder Polen niemals zu gewinnen. Ebensowenig nützen unseres Erachtens Steuervergünstigungen, wie beispielsweise Sonderabschreibungen nach dem Gießkannenprinzip. Es geht nicht um Schiffbau und Schiffsbestand, egal unter welcher Flagge und um welchen Preis, sondern um effiziente und humane Verkehrsmittel unter Ausnutzung des hierzulande in Jahrzehnten gewachsenen Fachwissens.

Rolf Kutzmutz
Statt vor den vermeintlichen Zwängen der Globalisierung zu kapitulieren, muß die Bundesregierung ihr politisches Gewicht in der EU wie weltweit zur Durchsetzung ökologischer und sozialer Normen und Standards für den Schiffsverkehr in die Waagschale werfen. So beginnt ökologischer Umbau. Dies - und keineswegs mehr Millionen Haushaltsmittel - ist das beste Investitionsprogramm für mehr und sichere Arbeitsplätze.
Die Details finden sich im Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem die PDS vollinhaltlich zustimmt. Die Realisierung solcher Vorschläge setzt aber Willen zur Veränderung und den Abschied von fatalistischer Marktgläubigkeit voraus. Dies erweist sich doch erst in diesen Monaten wieder als Krux im Umgang mit den Trümmern des Bremer Vulkan. Die Bundesregierung konstatiert in ihrer Antwort wachsende Überkapazitäten im Weltschiffbau, kritisiert zu geringe Synergien wegen überwiegend mittelständischer Strukturen in der deutschen Werftindustrie und ihre zu schwach ausgeprägte Diversifizierung in benachbarten Technologiefeldern.
Aber: Die Bundesregierung sieht der Zerschlagung des größten deutschen Werftenverbundes nahezu tatenlos zu, preist die beiden demnächst produktivsten deutschen Kompaktwerften weltweit wie sauer Bier an - obwohl doch auch in Bonn schon seit dem ersten Privatisierungsversuch vor fünf Jahren jeder weiß, daß diese Werften eigentlich keiner der bisherigen Global player braucht.
Die auch nach Inkrafttreten des OECD-Schiffbauabkommens legale Zufuhr von Kapital in staatseigene Weilten sieht die Bundesregierung nicht als Chance für die hiesigen Standorte, sondern nur als Verfälschung des Wettbewerbes an.
Statt zum Beispiel innerhalb eines Staatskonzerns die Ostwerften in Ruhe und Effizienz fertigzubauen und die Bremer Kapazitäten zu erhalten oder - soweit sie für den Schiffbau nicht zu halten sind - zielgerichtet in andere Bereiche der Meerestechnologie zu konvertieren, sollen einmal mehr schnellstens Perlen vor die Säue geworfen werden. Ich frage Sie: Warum soll heute für Vulkan nicht möglich sein, was jahrzehntelang bei VW oder Salzgitter möglich war?
Den schönen Worten zum Trotz: Der gegenwärtige Kurs der Bundesregierung gegenüber der maritimen Industrie bringt weder betriebs- noch volkswirtschaftlich eine Lösung. Das Bild erinnert fatal an den Untergang der „Titanic": Das Schiff sinkt, aber das Orchester spielt weiter und immer die gleiche Melodie.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313127000
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Carstens.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1313127100
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal auf Herrn Kunick eingehen und ihm sagen, daß, wenn ich etwas zugesagt habe, das auch
eingehalten wird - wenn nicht sofort, dann doch zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Also: Der Bericht kommt frühestmöglich.
Im übrigen möchte ich einmal darauf aufmerksam machen - vor allen Dingen nach der vorhergehenden Debatte zu einem anderen Thema -, daß es hier ein breit angelegtes Einvernehmen zur Frage der maritimen Wirtschaft gibt. Das finde ich ganz ausgezeichnet.
Ich freue mich auch darüber, daß man sich in den zuständigen Ausschüssen, insbesondere im Verkehrsausschuß, darauf verständigen konnte, daß CDU/CSU, F.D.P. und SPD diese Thematik sozusagen gleichermaßen vertreten und damit allem, was die Bundesregierung auf internationaler Ebene tut, starken Nachdruck verleihen.
Es ist eine wichtige Frage - es ist schon darauf hingewiesen worden - nicht nur für die Küste, sondern für unser ganzes Land. Haben wir doch im Schiffbau, wie es im Bericht steht, noch 1995 rund 38 000 Beschäftigte gehabt. Etwa 70 000 Beschäftigte - also sind es insgesamt über 100 000 - kommen bei den Zulieferern dazu. Das ist ein Volumen, von dem man sagen muß: Es hat große Bedeutung.
Es geht nicht nur darum, daß eine bestimmte Region, nämlich die Küstenregion, betroffen ist, sondern es geht auch darum, daß in einem hochtechnischen Bereich gearbeitet wird. Das ist für die genannten 38 000 plus 70 000 Beschäftigten wichtig. Es ist eine Arbeit, ein Metier mit Zukunftsperspektive. Auch aus der Sicht heraus müssen wir wirklich alles tun, um diesen Zweig in der heutigen Bedeutung aufrechtzuerhalten bzw. die Bedeutung noch zu verstärken.

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Darum bemühen wir uns ganz allgemein, aber insbesondere durch verschiedene Mittel, die wir dafür einsetzen. Zum einen geht es um die Finanzbeiträge bei der Seeschiffahrt. In der Tat gab es jedes Jahr einen Kampf um die Höhe dieser Finanzbeiträge. Bislang ist dieser Kampf aber erfolgreich ausgefochten worden.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Ich bin zuversichtlich, daß das auch in diesem Jahr noch geschieht.
Die Auswirkungen dieser Hilfsmaßnahmen über die Finanzbeiträge sind sehr positiv gewesen. Wir haben nämlich eine erhebliche Stabilisierung der Zahl der deutschen Seeleute zu verzeichnen. Diese Stabilisierung hat eigentlich erst ab 1989/1990 eingesetzt. Vorher hatten wir über Jahrzehnte einen drastischen Rückgang der Zahl der deutschen Seeleute zu verzeichnen.
Wir haben dann ab 1995 Ausbildungszuschüsse gegeben, die dafür gesorgt haben, daß die drastisch zurückgegangene Zahl derer, die bei der Schiffahrt ausgebildet wurden und schon einmal auf 116 Auszubildende gesunken war, jetzt zwischenzeitlich wieder bei 155 angelangt ist, hoffentlich mit steigender Tendenz.


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313127200
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Altmann?

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1313127300
Bitte sehr, ja.

Gisela Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313127400
Herr Carstens, ich habe eine Frage nicht nur zu der Quantität der Seeleute, sondern auch zur Qualität der Arbeitsbedingungen, zum Beispiel für Seeleute, die auf ausgeflaggten Schiffen bei einem deutschen Betreiber fahren, unter einer Flagge, wo es ein Doppelbesteuerungsabkommen gibt. Die werden ja dann steuerlich doppelt veranlagt, das heißt, sie müssen hier Steuern zahlen, haben aber keinerlei Anspruch auf die Leistungen.
Konkret möchte ich wissen, ob Sie da in der nächsten Zeit Verbesserungen planen oder Schritte zur Gerechtigkeit einzuleiten gedenken.
Die zweite Frage ist: Wie beurteilen Sie denn die Zustände bei ausländischen Seeleuten, die im Zweitregister fahren?

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1313127500
Wir haben als zweites Instrument das Internationale Schiffahrtsregister eingerichtet, bei dem es nun auch ein Zweitregister gibt. Dort gibt es klare Vorschriften, wie die Bedingungen sind, unter denen Flaggen jeweils auf den Meeren fahren können.
Ich möchte zunächst auf diesen Punkt eingehen, Frau Kollegin Altmann. Wir haben im Gegensatz zu anderen Ländern, die zum Beispiel bei der Lohnsteuer gewisse Vorteile gegenüber unserem Land haben, dieses Instrument der Finanzbeiträge eingeführt. Diese Finanzbeiträge decken verschiedene Notwendigkeiten ab.
Es ist in der Tat so, daß es in den Niederlanden, in Griechenland oder sonstwo sehr unterschiedliche Fördertatbestände gibt, Ausnahmetatbestände gegenüber dem, was bei uns üblich ist. Aber in anderen Ländern gibt es diese Finanzbeiträge nicht. Und wenn die in dem Umfang gewährt werden, wie wir das in den letzten Jahren noch tun konnten und hoffentlich 1997 fortsetzen können, dann kann man dort nicht von einer Wettbewerbsverzerrung sprechen.
Ob wir darüber hinaus etwas hinsichtlich der Frage tun können, die Sie insbesondere interessiert, wie sie sich für diejenigen stellt, die Deutsche sind und unter ausländischer Flagge arbeiten, zum Beispiel in Sachen Lohnsteuer, das müssen und wollen wir gerne überprüfen, sicherlich dann auch in Zusammenarbeit mit dem Verkehrsausschuß, wenn wir an die einzelnen Fragen im Zusammenhang mit dem Bericht herangehen, von dem Herr Kunick gesprochen hat.
Aber eines muß ich auch hinzufügen: Jeder Deutsche, der unter ausländische Flagge geht, weiß im voraus, was er macht. Es ist eben ein Unterschied, ob ich unter deutscher Flagge arbeite oder unter einer
Flagge, die nicht gerade die Bedeutung hat wie die schwarz-rot-goldene. Da kann man nicht auf jeden aufpassen, erst recht nicht auf jeden Seefahrer, verehrte Frau Kollegin Altmann.
Wir haben darüber hinaus die steuerliche Problematik im Auge zu haben. Da muß ich schon sagen, daß wir hier sehr wohl aufpassen müssen bei dem Bemühen, den Standort Deutschland auch in dieser Frage aktuell und leistungsfähig zu halten.
Ich freue mich darüber hinaus genauso wie andere Redner vor mir, daß wir mit höchster Wahrscheinlichkeit darauf setzen können, bei der Wettbewerbshilfe für den Schiffbau einmal wieder eine Fortschreibung der Zuschußgewährung zu erhalten, was ich auch umfassend für in Ordnung halte, weil ja die internationale Regelung letzten Endes noch nicht gültig geworden ist. Es würde also eine sehr starke Wettbewerbsbenachteiligung unserer Werften sein.
Wenn man das zusammenfaßt, daß wir eine moderne Seeschiffahrt mit über fünf Millionen BRZ haben, eine gewaltige Leistung mit über 700 modernen Schiffen und eine Stabilisierung bei der Zahl der deutschen Seeleute erreicht haben, dann sind wir mit unserem Förderinstrumentarium auf dem richtigen Weg, im Gegensatz zu vielen Jahren vorher, nicht zuletzt auch in den 70er Jahren bis in die 80er Jahre hinein.
Wenn wir es schaffen, diese Stabilisierung aufrechtzuerhalten, dann bin ich, Herr Kunick, gerne bereit - welche Berichte Sie auch immer anfordern mögen -, mit Ihnen in diesem Einvernehmen weiter zu diskutieren.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313127600
Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU.

Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1313127700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die deutsche Wiedervereinigung hat nicht nur fünf neue Bundesländer mit sich gebracht, sondern auch 1 200 Kilometer Ostseeküste,

(Siegfried Scheffler [SPD]: Richtig!)

vier große Seehäfen - Rostock, Wismar, Stralsund, Saßnitz/Mukran -, fünf Werftstandorte, über die wir gleich noch reden werden, und zwei seegehende Flotten, DSR und Fischfang.
Mecklenburg und Pommern haben jahrhundertealte Traditionen im Schiffbau und Seefahrt und ein riesiges Humanvermögen, das letztendlich, geschuldet durch die Teilung - nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Teilung - unseres Vaterlandes und ganz Europas in zwei große Blöcke, nie richtig ausgenutzt worden ist, gut ausgebildete Nautiker, Techniker, Ingenieure und Schiffbauer. Zu Spitzenzeiten waren im ehemaligen Kombinat Schiffbau 30 000 Leute beschäftigt. Dazusagen muß man aber auch: 15 000 waren nur am eigentlichen Kerngeschäft beteiligt; daneben gab es die unterschied-

Werner Kuhn
lichsten Brigaden, vom Rationalisierungsmittelbau bis hin zu den Ferienheimen, deren Angehörige alle mit auf den Lohnlisten standen.
Es ist uns im Zuge der Umstrukturierung der Werftstandorte und der Erhaltung der industriellen Kerne insgesamt gelungen, pro anno 6 500 Beschäftigte direkt weiter zu beschäftigen und 500 Auszubildende obendrein. Ich meine, auch dies sollte man einmal erwähnen.
Ähnlich schwierig war die Situation im Bereich der Seeschiffahrt und der Hafenwirtschaft. Hier war natürlich ein enormer Umstrukturierungsprozeß notwendig. Alleine die Werften wurden mit Investitionshilfen in Höhe von 2,1 Milliarden DM, die auch durch die Europäische Union genehmigt worden sind, umstrukturiert - aber unter einer bitteren Beauflagung: Die Schiffbaukapazität insgesamt wurde beschränkt. Wir haben jährlich nur noch 327 000 Bruttoregistertonnen zur Verfügung. Dies ist für zehn Jahre festgeschrieben; nach fünf Jahren besteht die Möglichkeit, eine Erweiterung oder eine Präzisierung vorzunehmen.
Insgesamt leidet Ostdeutschland natürlich unter fehlenden Industriearbeitsplätzen. Die Zulieferindustrie für diese Schiffbauzentren hat sehr großes Interesse daran, daß die industriellen Kerne erhalten werden. Ungefähr 3 000 bis 4 000 Beschäftigte in 57 mittelständischen Unternehmen können in dieser Zulieferindustrie speziell für die ostdeutschen Werften arbeiten.
Die Kapazität der Seehäfen hat sich relativ stabilisiert. Insgesamt beläuft sich das Umschlagvolumen, wie ehedem zu DDR-Zeiten - diese Kapazität haben wir wieder erreicht -, auf 13 Millionen Tonnen. Es ist natürlich notwendig, daß die Seeschiffahrtsstandorte mit der entsprechenden Infrastruktur ausgestattet sind. Ich kann nicht verstehen, warum die SPD-Fraktion in ihre Initiative zum Aufbau Ost hineingeschrieben hat, daß gerade die Infrastruktur der Seehäfen bei den Investitionen nicht bedacht worden sei.
Ich erinnere nur daran, daß wir den Seekanal in Rostock, der zur Zeit im Bau ist, vertiefen wollen, daß wir auch den Wismarer Seekanal vertiefen werden, um für den Umschlag eine entsprechende Kapazität zu bekommen. Die A 20 ist, Herr Kutzmutz, existentiell notwendig, gerade für Mecklenburg-Vorpommern und die maritime Wirtschaft dort.

(Lisa Peters [F.D.P.]: So ist es!)

Man kann doch nicht die Philosophie „from road to sea" vertreten, aber zu jedem Endverbraucher einen Stichkanal legen, damit es nirgendwo eine Schnittstelle gibt. Das ist doch Irrsinn.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich muß natürlich Infrastruktur haben, die auch die Straße umfaßt. Ebenso brauche ich die Schiene, damit der Fährhafen Mukran speziell das nordöstliche Ostseegebiet, also das Baltikum, Finnland und Rußland, bedienen kann. Ferner brauchen wir eine Anbindung in Nord-Süd-Richtung - diese existiert bereits -, damit ich über Stralsund, Pasewalk, Berlin nach Leipzig und dann weiter in den südeuropäischen Raum kann. Das ist absolut notwendig und wird letztlich auch im Bundesverkehrswegeplan so vorgesehen.
Wenn wir die maritime Verbundwirtschaft insgesamt in Deutschland stabilisieren und ihr eine Zukunftschance geben wollen, sind für meine Begriffe drei Punkte wahnsinnig wichtig: Für den Schiffbau muß, solange das OECD-Abkommen durch die Amerikaner noch nicht ratifiziert worden ist - wenn sie es ratifiziert haben, tritt es erst 30 Tage danach in Kraft -, die Werfthilfe und die Wettbewerbshilfe gezahlt werden. Das ist in der EU-Schiffbau-Richtlinie auch festgehalten. Wenn wir dann so weit sein werden, daß das OECD-Abkommen in Kraft getreten sein wird, dann muß das Wirtschaftsministerium sich auch darauf einstellen, daß wir in der Grundlagenforschung und in der Anschlußforschung entsprechende Förderungen bekommen. Das gilt auch für die Produktinnovation und Produktentwicklung, damit wir weiterhin gerade im Containerschiffbau und im Spezialschiffbau Marktführer bleiben.
Für die Seeschiffahrt brauchen wir ebenfalls die Förderinstrumente, die zur Zeit wirken. Bis wir neue Instrumente haben, müssen die bisherigen einfach weiter in Kraft bleiben. Das ist das Zweitregister; Herr Kunick, hier sind wir überhaupt nicht weit auseinander. Das sind auch die Finanzbeiträge, aber nicht tonnageorientiert, sondern auf Personen und speziell auf die Besetzung mit deutschen Seeleuten bezogen, zur Auszahlung zu bringen. Auch unser Programm, das gerade in die Finanzbeiträge die Förderung der Auszubildenden aufgenommen hat, ist sehr gut angenommen worden. Dies sollten wir weiter so nach vorne bringen.
Vergleichbares gilt für die steuerliche Förderung. Natürlich haben die Finanzgesellschaften, die in den Schiffbau eingestiegen sind, mit ihren bunten, herrlich aussehenden Prospekten einen riesigen Werberummel verursacht. Dies führte zur Unsicherheit, wieweit noch steuerliche Abschreibungen 1996 und darüber hinaus möglich sein werden. Der Markt ist überhitzt worden. Ich habe mit den betroffenen Verbänden und der Wirtschaft gesprochen. Sie sagen mir, wenn wir bei den Sonderabschreibungen von 40 Prozent auf 30 Prozent heruntergehen, sei es maßvoll. Wir haben auch den Effekt erreicht, daß sich der Bestand der deutschen Seeschiffe erneuert hat. Damit verbunden ist, daß 170 Schiffsneubauten bei den Werften in Auftrag gegeben werden. Das ist wiederum ein Volumen von 5 Milliarden DM beim Schiffbau. So greift eins ins andere. Ich meine, wir sollten diese Instrumente fortführen.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313127800
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Uhr.

Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1313127900
Für die Hafenwirtschaft ist es notwendig, daß alle Infrastrukturmaßnahmen so durchgeführt werden, wie sie im Bundesverkehrswegeplan festgeschrieben sind.

Werner Kuhn
Dann bin ich guter Hoffnung, daß die Seefahrt und die maritime Verbundwirtschaft in Deutschland und auch in Ostdeutschland eine Zukunft haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313128000
Das Wort hat der Kollege Ernst Schwanhold, SPD.

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1313128100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Ärger anfangen, den ich auch artikulieren möchte. Ich finde es nicht in Ordnung, daß alle norddeutschen Küstenländer so wenig Interesse an dieser Debatte haben, zumal es um Existenzfragen ihrer Standorte geht.

(Beifall im ganzen Hause)

Der Bundestag unternimmt den Versuch, in einer schwierigen Debattenlage Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Das ist das Bemühen dieser Debatte gewesen, obwohl ja zwischen dem, was hier gesagt wird, und dem, wie es öffentlich tönt, gelegentlich noch Unterschiede festzustellen sind. Der eine oder andere, der zu denen gehört, die über die Werftindustrie und die maritime Verbundwirtschaft schon seit langer Zeit das Todesurteil gesprochen haben, wird hier schamhaft zurückgehalten und darf nicht reden. Das ist für diese Industrie vielleicht auch gut.
Ich will mich an den Leitspruch halten, daß alles schon gesagt wurde, nur noch nicht von jedem. Ich werde versuchen, nicht das zu sagen, was andere bereits gesagt haben; denn es bestehen viele Gemeinsamkeiten.
Es gibt eine industriepolitische Komponente, die man nicht unterschätzen darf. Wir müssen die Frage klären, was wir an maritimer Verbundwirtschaft wirklich in die Zukunft hineintragen wollen. Wir müssen heute den Grundstein legen, daß das auch abgesichert wird. Sie wissen, wir sind in einer schwierigen Phase, in der das neu organisiert wird.
Es wird Schiffe geben, die besonderen Anforderungen genügen müssen. Dafür ist Forschung nötig. Hier liegen übrigens auch die Marktlücken, die jene Wertschöpfung möglich machen, die wir auf unseren Werften benötigen. Diesen Teil abzusichern ist dringend notwendig. Hier gibt es Bereiche, in die wir bisher nicht vorgedrungen sind: Fischfang und Fabrikschiffe mit hoher Technik. Allenfalls 30 Prozent Wertschöpfung an der Küste, 70 Prozent Wertschöpfung durch ein industrielles Aufrüstungsprogramm für die Länder, die nicht an der Küste liegen. Da gibt es auch Spielräume für ostdeutsche Anbieter. Ich halte es für sinnvoll, darüber nachzudenken, wie wir die beiden Unternehmen, die darin tätig sind - Deutsche Fischfangunion und die Rostocker -, so mit Werften und intelligenter Hilfe des Bundes unterstützen, daß wir den anstehenden Renovierungsbedarf nicht nach Norwegen geben müssen, sondern die bestehende
Technik und die Fähigkeiten in unserem Land halten und daraus Zukunftsmärkte entwickeln können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt übrigens Platz für Standorte in Mecklenburg-Vorpommern und in Bremerhaven und möglicherweise auch in Bremen, wenn wir die drei nicht gegeneinander ausspielen, sondern versuchen, sinnvolle Aufgabenteilung zu organisieren. Wir werden dann auch dem Wettbewerb mit jenen Ländern, die am Ende doch nicht dem OECD-Abkommen beitreten werden, die aber dennoch Wettbewerbsländer sind, standhalten.
Wir können auf die OECD hoffen, das tun wir auch; aber in Europa besteht die Wettbewerbssituation mit Kroatien und weltweit mit Korea. Beide, wenn ich es richtig weiß, werden nicht dem OECDAbkommen angehören.

(Zuruf von der CDU/CSU: Korea doch!) - Korea möglicherweise, das ist noch fraglich.

Es sind jedoch noch andere Länder im Wettbewerb, die nicht dazugehören. Dann wird es zwangsläufig Wettbewerbsnachteile geben. Auch wenn wir die Förderung noch ein Jahr fortschreiben können - ich begrüße das sehr -, werden wir schon heute den Grundstein legen müssen. Wir brauchen Kontinuität in der Debatte und bei den Förderinstrumenten; denn es geht um die Menschen, die dort arbeiten. Diese Menschen wollen doch ihre Leistungen erbringen und ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen; das sind doch nicht Leute, die Arbeitslosenhilfe beziehen wollen.

(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bitte all diejenigen, die so tun, als ob man, möglicherweise auch im Zuge von Unregelmäßigkeiten, ein parteitaktisches Süppchen kochen könnte, nicht zu vergessen, daß wir in Europa nach wie vor an erster Stelle und weltweit an dritter Stelle stehen und daß wir die neuen Arbeitsplätze in den neuen Technologien, von denen soviel geredet wird, noch nicht geschaffen haben. Wir können uns noch nicht erlauben, alle sogenannten Alttechnologien, die technologisch hochinnovativ sind, aus diesem Land zu verbannen. Ich will ein paar Bereiche nennen, die damit im Zusammenhang stehen: Stahl, die Fördertechnik für Kohle und der Werftenbereich.
Ich möchte Sie, Herr Minister, sehr bitten, in der Koalition und in der Zusammenarbeit mit dem Bundesforschungs- und dem Bundeslandwirtschaftsministerium - für den Bereich des Fischfangs - jene Chancen zu eröffnen, die wir dringend für die Wertschöpfung an der Küste und im Land und für die Beschäftigung der Menschen, die auf uns hoffen und von uns Lösungen erwarten, brauchen.

(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313128200
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1313128300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Henen! Zum Standort Deutschland gehört ein leistungsfähiger maritimer Sektor. Die Bundesregierung steht zu diesem Sektor, sie steht zu ihm ohne Wenn und Aber. Ich erkenne ausdrücklich an, daß die Forderungen des maritimen Sektors - in welcher Weise, werden wir noch zu besprechen haben - nicht nur eine lokale oder regionale, sondern auch eine nationale Aufgabe ist. Aber es kann auch nicht so sein, daß die Länder außen vor bleiben und dies auch dokumentieren. Herr Kollege Schwanhold, ich bin da ganz Ihrer Meinung.
Wettbewerbsfähige maritime Dienstleistungen, Reedereien und Maklerbetriebe, Agenturen sind wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung unserer gesamten Volkswirtschaft. Deutschland ist wie kein anderes Land auf einen reibungslosen Außenhandel angewiesen. Den gibt es nur mit schnellen und verläßlichen Verbindungen im Seeverkehr, mit effizienten Umschlagkapazitäten in den Häfen und mit einer guten Anbindung der Hafenstädte an das Hinterland. Das geht, wie schon gesagt worden ist, nicht über Stichkanäle, dazu brauchen wir auch Straßen.
Auch aus umweit- und verkehrspolitischen Gründen wollen und müssen wir noch stärker auf den Verkehrsträger Schiff setzen. Ich sage dies hier eingangs und nenne auch andere Bereiche, weil die maritime Wirtschaft eben nicht nur aus dem Schiffbau besteht, sondern viele andere Sektoren umfaßt.
Aber der Schiffbau ist zur Zeit der Teil der maritimen Wirtschaft, der in Deutschland vor den größten Problemen und Herausforderungen steht, nicht deshalb, weil es an Nachfrage mangelte. Im Gegenteil, die meisten deutschen Werften haben ein Auftragspolster für mehrere Jahre. Beim Bau von komplexen und technologieintensiven Passagierschiffen, Forschungsschiffen, Spezialschiffen insgesamt und auch im Containerschiffbau sind unsere Unternehmen international führend. Es ist schon gesagt worden: Wir sind im Schiffbau in Europa Nummer eins und weltweit immer noch Nummer drei. Diese Position haben wir durch motivierte und gut ausgebildete Arbeitnehmer, durch exzellente Ingenieurleistungen und durch tatkräftiges Management erreicht.
Dazu, daß wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit über Jahre hinweg erhalten konnten, hat zweifellos auch die staatliche Förderung einen Beitrag zu leisten versucht und wohl auch erbracht. Allein in den Jahren 1991 bis 1995 wurden aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft 2,6 Milliarden DM für die Werftindustrie bereitgestellt. Hinzu kommen noch erhebliche Mittel aus den Küstenländern. Es kann also nicht die Rede davon sein, daß wir diesen Sektor vernachlässigt hätten.
Der Verlust von mehr als 10 Prozent der Arbeitsplätze auf unseren Werften in den letzten zwölf Monaten und der Zusammenbruch des größten deutschen Schiffbaukonzerns, des Vulkan, erfüllen uns mit Sorge. Mecklenburg-Vorpommern und Bremen sind von dieser Entwicklung in besonderer Weise betroffen. Dabei geht es nicht nur um die Werften, es geht um viele mittelständische Zulieferer, um Dienstleistungsbetriebe. Ich habe mich in diese Problematik frühzeitig eingeschaltet. In vielen Gesprächen insbesondere mit der EU-Kommission habe ich um Verständnis für die besondere Situation in den neuen Ländern geworben. Gott sei Dank gibt es inzwischen für die Volkswerft Stralsund und für MTW in Wismar, wie ich hoffe, tragfähige Unternehmenskonzepte. Ich bin zuversichtlich, daß wir die vor uns liegenden Klippen in Brüssel umschiffen werden und daß wir am Ende auch für die Unternehmen in Bremen sozialverträgliche Lösungen finden.
Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Stelle mit allem Nachdruck:
Erstens. Der Schiffbau und seine Zulieferer sind High-Tech-Industrien, die in Deutschland Zukunft haben.
Zweitens. Ich sage ganz deutlich aber auch: Diese Zukunft kann nicht ausschließlich oder überwiegend vom Steuerzahler bezahlt werden.

(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

Die Bundesregierung setzt sich deshalb seit Jahren für eine multilaterale Beihilfendisziplin im Schiffbau ein. Diesen Weg gehen wir auch in Zukunft konsequent weiter. Denn wenn anderenorts nicht subventioniert wird, dann entfällt hierzu auch die Notwendigkeit in Deutschland. Im übrigen ist die Schiffbauindustrie jahrzehntelang durch die Gegend gelaufen und hat gesagt: Wir können auch ohne Subventionen leben, wir schaffen das, wir werden sogar eine gute Wettbewerbsposition haben, wenn in anderen Ländern nicht subventioniert wird. - Das ist immer gesagt worden, bis zum heutigen Tag.
Deshalb begrüße ich es, daß wir mit dem OECDSchiffbauabkommen in die richtige Richtung gehen. Dieses Schiffbauabkommen bringt ein fast vollständiges Subventionsverbot und erstmals wirksame AntiDumping-Regeln für diesen Sektor mit sich.
Ich bedaure es allerdings sehr, daß die USA dieses wichtige Vertragswerk wegen großer Widerstände aus verschiedenen Bereichen, auch der Betroffenen, nicht unterzeichnet haben. Als Reaktion darauf hat der Ministerrat in Brüssel vor kurzem die Europäische Richtlinie über Beihilfen oder Subventionen für den Schiffbau, um es beim Namen zu nennen, bis Ende nächsten Jahres verlängert. Aller Voraussicht nach werden unsere Partner in der Europäischen Union von der Subventionsermächtigung auch Gebrauch machen. Daher muß ich bereit sein, mich dafür einzusetzen, daß auch in Deutschland die Förderung begrenzt weitergeführt wird.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wegen der sehr engen Spielräume in den Haushalten kommen dafür allerdings nur Umschichtungen in Frage. Conditio sine qua non ist im übrigen, daß
Deutscher Bundestau - 13. Wahlperiode - 131. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11831
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
auch die Länder wie bisher ihren Beitrag bei der Schiffbauhilfe leisten. Der Bund erkennt seine Verpflichtung, solange das OECD-Schiffbauabkommen noch nicht unterzeichnet ist, an. Er kann und will aber die Länder nicht aus dem Boot lassen. Die Länder müssen ihren Anteil - das sind derzeit zwei Drittel der gesamten Subventionierung - ohne Wenn und Aber tragen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, im Schiffbau haben die meisten Betriebe in Ost- und Westdeutschland die Zeichen der Zeit erkannt. Sie werden in Richtung einer umfassenden Kostensenkung, einer Neuorganisation und einer technologischen Aufrüstung der Betriebe, die sich sehen lassen kann, umgesetzt. Vor allem konzentrieren sich die Betriebe noch stärker als bisher bei ihren Produkten auf das technologieorientierte Marktsegment mit hoher Wertschöpfung. Damit legen sie die Grundlagen dafür, daß die maritime Wirtschaft auch am Standort Deutschland künftig bestehen kann.
Ich bin dabei optimistisch und sage noch einmal: Die Bundesregierung steht zum Schiffbau. Sie kann und will ihn auf Dauer nicht finanzieren. Sie wird ihn aber, wo es verantwortbar und notwendig ist, weiterhin - zeitlich begrenzt - unterstützen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313128400
Ich schließe die Aussprache. Die parlamentarischen Geschäftsführer haben verabredet, daß über alle Punkte sofort abgestimmt werden soll. Ich sage das, weil es eben einen Hinweis auf Überweisungen gegeben hat.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 13/5828. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD zur Sicherung der Standortbedingungen der deutschen maritimen Verkehrswirtschaft, Drucksache 13/3917. Ich bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu einer Mitteilung der Europäischen Union zur Gestaltung der maritimen Zukunft Europas, Drucksache 13/5678: Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD und einem Teil der Stimmen der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und einem anderen Teil der PDS angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Sportausschusses (5. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
8. Sportbericht der Bundesregierung - Drucksachen 13/1114, 13/4910 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert Klaus Lohmann (Witten)

Ich freue mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß wir heute erstmalig nach Einführung der Erweiterten öffentlichen Ausschußberatung einen Bericht nach § 69 a der Geschäftsordnung auf der Tagesordnung des Plenums haben. Der federführende Sportausschuß hat den Sportbericht der Bundesregierung am 6. März 1996 in einer Erweiterten öffentlichen Ausschußberatung abschließend behandelt. Der Verlauf dieser Ausschußberatung wurde in einem Stenographischen Bericht festgehalten und veröffentlicht.
Das Wort zu einer Berichterstattung nach § 69 a Abs. 5 der Geschäftsordnung hat der Kollege Engelbert Nelle.

Engelbert Nelle (CDU):
Rede ID: ID1313128500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Präsident, herzlichen Dank, daß Sie auf dieses neue Instrument einer Erweiterten öffentlichen Ausschußberatung hingewiesen haben. Der Sportausschuß hat erstmalig dieses Instrument in Anspruch genommen, und zwar mit großem Erfolg. Viele interessierte Verbandsvertreter, aber auch ebenso viele Vertreter der Medien waren anwesend. Dieses Verfahren ist also zur Nachahmung empfohlen.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sportlich! Sportlich!)

Zum Bericht. Erstens. Dieser 8. Sportbericht der Bundesregierung bietet ein umfassendes Bild über die Sportförderung des Bundes. Die Leistungen des Bundes tragen ganz wesentlich zur gesamtstaatlichen Aufgabenerfüllung in diesem gesellschaftspolitisch wichtigen Bereich bei.
Die Beratungen des 8. Sportberichtes haben den gemeinsamen Wunsch aller Fraktionen und Gruppen des Deutschen Bundestages zum Ausdruck gebracht, daß Parlament und Regierung auch in finanzpolitisch schwierigen Zeiten der Sportförderung weiterhin besondere Bedeutung einräumen. Der Bund erzeugt mit seiner positiven Haltung auch eine gewisse Signalwirkung für die dauerhafte Förderung des Sports durch Länder und Gemeinden. Diese Einstellung hat nichts mit eigennützigem Lobbyismus zu tun - ganz im Gegenteil.
Die Werte und Möglichkeiten, die der Sport mit seinen mehr als 80 000 Vereinen und über 25 Millionen Mitgliedern allen Altersgruppen und gesell-

Engelbert Nelle
schaftlichen Schichten der Bevölkerung bietet, sind unersetzbar.
Zweitens. Die freien und demokratischen Sportorganisationen waren seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wesentliche Träger des gesellschaftlichen Lebens und der internationalen Beziehungen. Die Sportvereine und ihre Verbände mit Zehntausenden von ehrenamtlichen Helfern sowie die Spitzensportlerinnen und Spitzensportler haben sich für das Miteinander im vereinten Deutschland unschätzbare Dienste erworben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die gemeinsamen Mannschaften, die seit der wiedergewonnenen Einheit an Welt- und Europameisterschaften sowie an Olympischen Spielen teilnehmen, sind die besten Botschafter des Standortes Deutschland.
Dazu gehören auch die Behindertensportlerinnen und -sportler mit ihren Paralympics-Teams.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

In der Arbeit des Sportausschusses stellt die Förderung des Sports für behinderte Mitbürgerinnen und Mitbürger einen besonderen Schwerpunkt dar.
Drittens. Der Sportausschuß bekräftigt seine Forderung an die nationalen und internationalen Sportorganisationen sowie an das Internationale Olympische Komitee, die Anstrengung dauerhaft zu intensivieren, um den Dopingmanipulationen in verschiedenen Bereichen des Hochleistungssports Einhalt zu gebieten. Auf der Grundlage der europäischen AntiDoping-Charta müssen die Zusammenarbeit verstärkt, die Kontrollmechanismen abgestimmt und die Laborkapazitäten - allein aus Kostengründen - länderübergreifend genutzt werden. Wir dürfen keinen Zweifel daran lassen, daß nur ein humaner Leistungssport Anspruch auf öffentliche Förderung haben kann. Dopingmanipulationen dürfen schon mit Blickrichtung auf die schädlichen Auswirkungen auf den Kinder- und Jugendsport nicht toleriert werden. Wer die Chancengleichheit im Sport nicht achtet, begeht nicht nur Selbstbetrug, er fügt auch dem Sport in seiner Gesamtheit schweren Schaden zu.
Viertens. Der Sportbericht informiert eingehend über die Entwicklung des Sports in Ostdeutschland. Auch die Sportförderung muß darauf ausgerichtet bleiben, den Menschen in den neuen Bundesländern schrittweise die gleichen Lebens- und Leistungschancen zu geben, wie sie sich in mehr als vier Jahrzehnten in der Bundesrepublik entwickelt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Erkenntnis ist sicherlich gewachsen, daß beim Übergang vom einstigen DDR-Sport zu einem nichtstaatlichen Sportsystem auch Fehler gemacht wurden. Deshalb ist es wichtig, daß beispielsweise die reine sportliche Grundkonzeption der ehemaligen Kinder- und Jugendsportschulen umgestaltet und für die Talentförderung nutzbar gemacht werden kann. Die sportbetonten Schulen in den neuen Ländern sind dafür ein Beispiel.
Fünftens. Für die Stärkung der Eigenfinanzkraft der Sportvereine und ihrer Verbände ist es außerordentlich wichtig, daß in Zukunft die Gemeinnützigkeit mit der Möglichkeit verbunden bleibt, steuerlich wirksame Spenden zu erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

In dieser Frage - so habe ich den Eindruck - gibt es im Deutschen Bundestag eine breite Übereinstimmung. Denn Spenden zu gewähren und für gemeinnützige Zwecke zu verwenden ist Teil der Bürgerfreiheit und des gesellschaftlichen Engagements.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313128600
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Sportausschusses zum 8. Sportbericht der Bundesregierung. Das sind die Drucksachen 13/1114 und 13/4910. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 3 auf:
7. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 125 zu Petitionen

(Waffenembargo gegenüber Indonesien verhängen)

- Drucksache 13/4882 -
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Lage in Ost-Timor - Drucksache 13/5799 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
Zur Sammelübersicht liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. - Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Andreas Krautscheid, CDU/CSU.

Andreas Krautscheid (CDU):
Rede ID: ID1313128700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vermutlich werden wir heute nicht in allen Punkten Einvernehmen über das weitere deutsche Vorgehen im Verhältnis zu Indonesien erreichen. Ich möchte aber für dieses Haus eines vorweg klarstellen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages freuen sich über die diesjährige Verleihung des

Andreas Krautscheid
Friedensnobelpreises an Bischof Carlos Belo und an José Ramos Horta.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an diese beiden Persönlichkeiten hat einen in den vergangenen Jahren weitgehend vergessenen Konflikt wieder in das Interesse der Weltöffentlichkeit gerückt. Mit dieser Auszeichnung hat das Nobelkomitee die Bemühungen der beiden um eine gerechte und friedliche Lösung des Konfliktes um Ost-Timor gewürdigt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in dieser Vergabe des Nobelpreises an Belo und Horta ein Signal für die Unterstützung von Dialog und Verständigung und für den Verzicht auf die Anwendung von Gewalt auf dem Weg zu einer offenen und demokratischen indonesischen Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, die Lage der Menschenrechte in Indonesien und insbesondere in OstTimor ist in der Tat für die Menschen dort vielfach unerträglich und für uns nicht akzeptabel.
Einen Monat nach dem Rückzug Portugals im Jahre 1976 hat Indonesien die östliche Hälfte der Insel Timor annektiert und verwaltet diese derzeit als 27. indonesische Provinz. Dieser Besetzung leistet ein Großteil der Bevölkerung Ost-Timors bis heute vielfältigen Widerstand. Die Völkergemeinschaft hat diese Annexion niemals anerkannt. Die Vereinten Nationen sehen die frühere Kolonialmacht Portugal nach wie vor als Ordnungsmacht in Ost-Timor an.
Der Grund unserer Beschäftigung mit Ost-Timor ist jedoch nicht völkerrechtlicher Natur. Es geht uns um die Einschränkungen und Bedrückungen im täglichen Leben, insbesondere um die Bedrückungen, die die christliche Bevölkerung in Ost-Timor auszustehen hat.

(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Christenverfolgung!)

Uns erreichen bis zum heutigen Tage nach wie vor Berichte darüber, daß die indonesischen Sicherheitskräfte immer wieder zu Gewaltmaßnahmen greifen, um diesen Widerstand zu brechen. Es handelt sich um Verhaftungen, um langjährige Freiheitsstrafen für gewaltlosen politischen Protest. Diese Berichte, die uns erreichen, nehmen wir auf Grund der Bestätigungen durch unsere Delegationsteilnehmer auf ihren Reisen besonders ernst.
Meine Damen und Herren, wir erkennen sehr wohl an, daß die indonesische Regierung in den letzten Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen und Investitionen eingeleitet hat, die zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen in Ost-Timor geführt hat. Die unter der portugiesischen Kolonialherrschaft vernachlässigte Infrastruktur wurde beträchtlich ausgebaut. Das Bildungswesen wurde weiterentwickelt und dadurch die Analphabetenrate deutlich gesenkt. Auch im Gesundheitswesen sind erfreuliche Verbesserungen festzustellen.
Mit dieser Entwicklung ist jedoch keine vergleichbare Verbesserung der politischen und bürgerlichen Rechte einhergegangen. Meinungs- und Religionsfreiheit sind vielfach nicht gewährleistet. Besonders
die überwiegend christliche Bevölkerung Ost-Timors ist immer wieder Ziel staatlicher Repression. Hierzu trägt auch die Umsiedlungspolitik der indonesischen Regierung bei, die verstärkt muslimische Indonesier nach Ost-Timor umsiedelt.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, daß die indonesische Regierung zunehmend die Bereitschaft zeigt, in einen Dialog über Menschenrechtsfragen einzutreten. Wir sind überzeugt, daß nur auf dem Wege eines Dialogs und der ständigen Anmahnung von Verbesserungen wirkliche Fortschritte für die Menschen erreicht werden können.
Ein Beispiel für diesen Fortschritt ist die Einsetzung der nationalen Menschenrechtskommission. Diese Kommission hat seit ihrer Einsetzung erste vorsichtige Aktivitäten gestartet und Forderungen aufgestellt. Diese sind bisher jedoch von staatlichen Stellen weitgehend ignoriert worden.
Die im Anschluß an die Nobelpreisvergabe in dieser Woche erfolgten neuen und deutlichen Mahnungen der Kommission an die indonesische Regierung zeigen, daß ihr offenbar das Recht auf Untersuchungen und freie Äußerungen zugestanden wird. Wir erwarten für die Zukunft, daß dieser Kommission mehr Unabhängigkeit und Unterstützung bei ihrer Arbeit eingeräumt wird, daß ihre Berichte von staatlichen Stellen respektiert werden und daß den Beschwerden nachgegangen wird.
Der Deutsche Bundestag hat sich in seinen Gremien wiederholt mit den Menschenrechten in Ost-Timor beschäftigt. Er hat sich auf Delegationsreisen vor Ort einen Einblick in die Situation verschafft und in einer Vielzahl von Gesprächen und Appellen versucht, positiven Einfluß zu nehmen. Die Lage der Menschen in Indonesien und Ost-Timor werden wir auch in Zukunft aufmerksam beobachten und in unseren Ausschüssen und Gremien behandeln.
Meine Damen und Herren, Indonesien ist einer unserer wichtigsten Gesprächspartner in Südostasien. Es vertraut auf die deutsche Rolle beim gewünschten Brückenschlag zur Europäischen Union und die besondere deutsche Verantwortung bei der Entwicklung der europäisch-asiatischen Beziehungen. Mit einer Bevölkerung von über 191 Millionen Menschen ist Indonesien das größte islamisch orientierte Land der Welt.

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und eine der größten Diktaturen!)

Wir räumen daher guten außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Beziehungen einen hohen Stellenwert ein. Auch Indonesien ist an einer engen Partnerschaft mit uns interessiert, denn Deutschland ist nach Japan und den USA der drittgrößte Handelspartner dieses Landes.
Der indonesischen Regierung muß aber klar sein, daß die Einhaltung der Menschenrechte und die Durchsetzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dem inneren Frieden des Landes dienen. Freiheit und Menschenrechte sichern politische Stabilität

Andreas Krautscheid
und sind damit auch essentiell für eine erfolgreiche wirtschaftliche Zukunft dieses Landes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hinsichtlich der politischen Entwicklung erwarten wir, daß die Gespräche zwischen Indonesien und Portugal über die nun bereits über 20 Jahre andauernde Besetzung der ehemaligen portugiesischen Kolonie Ost-Timor unter Berücksichtigung der Interessen der dortigen Bevölkerung fortgesetzt werden und eine dauerhafte und gerechte Lösung in Übereinstimmung mit dem gemeinsamen Standpunkt der Europäischen Union vom 25. Juni dieses Jahres gefunden werden kann.
Wir, die Fraktion der CDU/CSU, begrüßen vor allem die Absicht von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, bei seinem bevorstehenden Besuch in Indonesien Ende Oktober konkrete Fragen der Menschenrechte aufzugreifen und den bereits bei früheren Besuchen begonnenen Dialog über Menschenrechte fortzusetzen. Gegenüber einem Land wie Indonesien auf Konfrontation und Blockade statt auf Dialog zu setzen wäre politisch unklug. Wir streben ein partnerschaftliches und freundschaftliches Verhältnis zu Indonesien an; aber zu diesem guten Verhältnis gehört für uns zwingend auch ein offener Dialog über Menschenrechte.
Meine Damen und Herren, wir appellieren heute an Präsident Suharto, mit der demokratischen Bewegung in Ost-Timor endlich in Verhandlungen zu treten. Die Zeit für Gespräche über Ost-Timor ist reif. Die Verleihung des Friedensnobelpreises ist auch Ausdruck der Erwartung der Weltöffentlichkeit, hier endlich zu Fortschritten zu kommen.
Präsident Suharto, Sie haben jetzt die große Chance, sich nicht nur um Frieden und Demokratie in Ihrem eigenen Land verdient zu machen, sondern auch um das Ansehen Indonesiens in der Welt.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313128800
Das Wort hat der Kollege Volker Neumann, SPD.

Volker Neumann (SPD):
Rede ID: ID1313128900
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Die Petition, die heute zur Debatte steht, zielt in die richtige Richtung. Wir sind grundsätzlich gegen Rüstungsexporte außerhalb der NATO-Staaten; denn wir alle wissen, Rüstungsexporte verschärfen Konflikte und ermöglichen neue Kriege. Die Aufrüstung von Entwicklungsländern ist kontraproduktiv für die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung. Deshalb haben wir uns schon sehr frühzeitig in unseren Grundsätzen zur sozialdemokratischen Ostasien- und Pazifikpolitik gegen Rüstungsexporte in die asiatische Region ausgesprochen. Wir haben das noch einmal in dem gemeinsamen Entschließungsantrag in Richtung Indonesien betont.
Auch wenn die vorliegende Petition in die richtige Richtung zielt, werden wir sie ablehnen müssen. Sie
enthält nämlich Forderungen, die ungeeignet oder nicht durchführbar sind. Die WEU-Resolution, auf die sich die Petenten beziehen, fordert, jegliche Hilfe für Indonesien auszusetzen. Das ist der wesentliche Punkt, warum wir uns dieser Petition nicht anschließen können.
Trotz aller Entwicklungsfortschritte in Indonesien, ist dieses Land in weiten Teilen noch immer ein Entwicklungsland, in dem Menschen in großer Armut leben. Wir plädieren daher für weitere Entwicklungszusammenarbeit mit Indonesien in den klassischen Bereichen. Wir wollen sie bei der Armutsbekämpfung, der sozialen Sicherung, der Bevölkerungsentwicklung, bei Bildung und - das ist in Richtung Indonesien ganz wichtig - beim Umweltschutz fortsetzen und konzentrieren.
Wir sind auch für die Förderung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Indonesien. Wir unterstützen aber nicht eine Politik, die ein unterdrückerisches Regime hofiert, um der deutschen Exportwirtschaft die Tür zu öffnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wirtschaftliche Beziehungen ja, aber auch eine klare Haltung in Fragen der Menschenrechte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Hier muß ebenso wie im Fall der Volksrepublik China deutlich auf die Defizite im Bereich der Menschenrechte in Indonesien hingewiesen werden.
Wir möchten aber auch an dieser Stelle noch einmal feststellen: Es wird immer eine Abhängigkeit zwischen Wirtschaftspolitik und Menschenrechten gefordert. Das führt unter anderem zu zwei Optionen. Die eine ist, daß in der Hoffnung auf Wirtschaftsaufträge Diktatoren umworben und von Kritik verschont werden. Dabei hat sich doch gezeigt, daß der Besuch in Kasernen für die Wirtschaft überhaupt nichts bringt. Die andere ist die Verhängung von Wirtschaftsboykott oder Embargo, wie zum Beispiel in der Petition gefordert. Aber beide Optionen führen in einen Irrweg, weil sie entweder die Moral oder die Menschen zurücklassen.
Ich bezweifle im übrigen, daß es Deutschland überhaupt möglich ist, durch solche Maßnahmen einen nennenswerten Druck auf die Staaten Ostasiens auszuüben. Schließlich hat die Region die begehrtesten Märkte und die dynamischste Wirtschaft der Welt.
Ich wiederhole, auch für Indonesien gilt: ein off ener und fairer Dialog über Menschenrechtsfragen und eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen.
Ost-Timor ist nicht das einzige Menschenrechtsproblem Indonesiens. Gerade in jüngster Zeit gab es wieder verschiedene Vorfälle, die den mangelnden demokratischen Charakter des Suharto-Regimes deutlich machen.


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1313129000
Herr Kollege Neumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tippach?

Volker Neumann (SPD):
Rede ID: ID1313129100
Ja, selbstverständlich, Herr Tippach.

Steffen Tippach (PDS):
Rede ID: ID1313129200
Sehr geehrter Herr Kollege Neumann, es ist bekanntgeworden, daß der Oberkommandierende der berüchtigten Spezialeinheit in Ost-Timor 1981 unter der damaligen sozialliberalen Regierung durch die GSG 9 in Deutschland ausgebildet worden ist. Betrachten Sie diese militärische Ausbildungshilfe aus heutiger Sicht als Fehler, oder würden Sie das, wenn Sie die Möglichkeit hätten, wiederholen?

Volker Neumann (SPD):
Rede ID: ID1313129300
Ich habe das in der Zeitung gelesen. Deshalb kann ich nicht bestätigen, ob das wahr ist. Wenn es wahr wäre, daß er zu diesem Zweck ausgebildet worden ist, dann würde ich das für einen Fehler halten. Aber ich vermute sehr, daß er im Rahmen der militärischen Ausbildung wie viele Soldaten aus der Dritten Welt in Hamburg war und bei dieser Gelegenheit ein demokratisches System kennengelernt hat.
Deshalb bin ich grundsätzlich für die Ausbildung im militärischen Bereich an der Akademie in Hamburg. Wenn es allerdings der Geheimdienstausbildung dienen sollte, wie Sie es sagten, wäre ich sehr dagegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich hatte gesagt, daß immer wieder Menschenrechtsverletzungen des Suharto-Regimes bekannt- werden. Wir haben gerade erlebt, wie die chancenreichste Oppositionspolitikerin abgesetzt wurde und die Demonstrationen, die es daraufhin gab, blutig niedergeschlagen wurden. Es gab Verhaftete, Tote und Verletzte.
Wir sind auch betroffen über das Schicksal des Gewerkschaftsaktivisten Mukhtar Pakpahan, des Politikers Sri Bintang. Wir wissen, daß die Christen in Nordsumatra und die Menschen in Irian Jaya schwer unter Menschenrechtsverletzungen leiden.
Den Bundeskanzler bitte ich, sich bei seiner Reise - er hat es gestern angekündigt - für die Rechte des früheren Abgeordneten Sri Bintang Pamungkas einzusetzen, der nur deshalb verurteilt worden ist, weil er in Berlin eine Rede vor Studenten gehalten hat. Nun soll er für 34 Monate in Haft gehen.
Ich bitte auch darum, daß die große Zahl der Nichtregierungsorganisationen in Indonesien nicht vergessen wird. Hier muß mehr getan werden. Eine derartige Stärkung der Zivilgesellschaft bringt nach unserer Ansicht für die Entwicklung Indonesiens mehr als ein unsinniger Wirtschaftsboykott, der nur verpufft.
Nun zum Ost-Timor-Antrag, den wir heute eingebracht haben. Herr Krautscheid hat schon auf die
Lage in Ost-Timor hingewiesen. Seit 1975 ist Ost-Timor völkerrechtlich besetzt.

(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Vizepräsident Klose war mit mir schon in Ost-Timor, ebenso wie im letzten Jahr Kollege Eppelmann. Wir konnten feststellen, wie bedrückend die Situation in Ost-Timor ist. Viele junge Ost-Timoresen suchten das Gespräch mit uns und beklagten sich über Repressionen der indonesischen Behörden.
21 Jahre dauert nun schon der Widerstand der timoresischen Bevölkerung, und er ist ungebrochen. Die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Ost-Timoresen haben sich trotz der vielen Entwicklungsmaßnahmen Indonesiens nicht verbessert. Bischof Belo hat im letzten Jahr, als er in Bonn im Bundestag zu Besuch war, gesagt: Die Indonesier haben nicht unser Herz gewonnen, obwohl sie anerkanntermaßen für die Entwicklung Ost-Timors wirtschaftlich etwas getan haben.
Die Besetzung Ost-Timors bleibt ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Annexion wird weder von uns noch von der Völkergemeinschaft anerkannt.
Es ist aber bei der Lösung des Problems Ost-Timor Eile geboten, da die Indonesier - Herr Krautscheid hat darauf hingewiesen - massenhaft andere Bevölkerungsteile aus dem großen Land in Ost-Timor ansiedeln und damit die Ost-Timoresen mit ihrer Sprache und Kultur im eigenen Land zur Minderheit machen. Es gibt eine furchtbare Parallele zu Tibet.
Ich hoffe, daß die Gespräche zwischen Indonesien und Portugal, aber auch zwischen Indonesien und den Vertretern Ost-Timors das Problem der Lösung ein Stück näherbringen. Ich meine, daß sich Deutschland als wichtiger Partner in Europa dafür einsetzen sollte, daß Indonesien diese Verhandlungen ergebnisorientiert führt. Das Ergebnis dieser Verhandlungen sollte ein Plan zur Durchführung eines Referendums über die Zukunft Ost-Timors sein. Die Bundesregierung sollte sich darum bemühen, daß Indonesien die Unterdrückung der Zivilbevölkerung einstellt, die politischen Gefangenen freiläßt und die Umsiedlungsprogramme nach Ost-Timor stoppt. Für alle diese Ziele wäre eine Abstimmung in der EU notwendig und hilfreich.
Wir freuen uns wie alle anderen in diesem Haus, daß der Friedensnobelpreis an Bischof Belo und José Ramos Horta und damit an die gesamte osttimoresische Unabhängigkeitsbewegung verliehen wurde. Bischof Belo habe ich selbst in den langen Jahren des Kontakts als engagierten und überzeugten Mann und als standhaften Christen kennengelernt.
Es ist ein wenig traurig, daß der Kanzler, soweit ich weiß, noch nicht einmal einen Glückwunsch für ihn übrig hatte.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein Skandal ist das!)


Volker Neumann (Bramsche)

Während er Suharto sogar im Krankenhaus besuchte, konnte er sich offenbar nicht dazu durchringen, den Nobelpreisträgern zu gratulieren.

(Zuruf von der SPD: Das ist typisch Kohl!)

Staatssekretär Hausmann hat lediglich in der Bundespressekonferenz gesagt, man respektiere die Entscheidung. Ich bin dankbar, daß der Außenminister Glückwunschtelegramme abgeschickt hat.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist zuwenig für einen Mann, der mit seiner ganzen Kraft zu erreichen versucht hat, was wir erreicht haben, nämlich Selbstbestimmung für sein Volk. Selbst die indonesische Regierung hat Belo gratuliert.
Da der Kanzler nun angekündigt hat, er werde bei seinem Indonesienbesuch die Menschenrechte ansprechen, hoffe ich, daß er dabei nicht vergißt, auch an das Ringen der Ost-Timoresen und des Bischofs Belo um Selbstbestimmung zu erinnern.
Bei meinem Besuch in Ost-Timor haben junge Leute dem Kollegen Eppelmann und mir einen Brief an den Deutschen Bundestag überreicht, der Anlage unseres Berichts an den Auswärtigen Ausschuß zu dieser Reise ist. Ich lese den letzten Abschnitt daraus vor:
Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, wir bitten Sie inständig im Namen des Volkes von Timor, Ihre Regierung, die Staaten der Europäischen Union, die Vereinten Nationen sowie alle Menschen guten Willens über die wahren Absichten unseres Volkes aufzuklären. Tausende von Besuchern haben den blutgetränkten Boden dieses wunderschönen, aber gequälten Landes betreten; bisher aber setzten sich wenige für uns ein und solidarisierten sich mit uns. Die Bevölkerung ist der Gespräche überdrüssig, sie möchte vielmehr von ihrem Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit Gebrauch machen, das in den Erklärungen der Vereinten Nationen und im internationalen Recht verankert ist.
Haben wir damals einen ähnlichen Brief aus der DDR bekommen, hat dieser eine Welle von Sympathie und Zustimmung ausgelöst. Ich gebe jedenfalls die Hoffnung nicht auf, daß auch die Ost-Timoresen eines Tages über ihr Schicksal selbst bestimmen können.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Margareta Wolf [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313129400
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer.

Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313129500
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Ausbau der Wirtschafts- und Rüstungsbeziehungen mit Ost- und Südostasien ist ganz offensichtlich zur Chefsache erklärt worden. Herr Außenminister Kinkel wird nach China fahren; der Bundeskanzler selber wird zum viertenmal seinen Freund Suharto besuchen, immerhin einen der größten Diktatoren dieser Welt.
Ist das der Grund dafür, daß das Besuchsprogramm des Bundeskanzlers vom Auswärtigen Amt zur Geheimsache erklärt wurde? Ist das der Grund dafür, daß man nicht zeigen will, welche Gespräche stattfinden und welche Gespräche nicht stattfinden? Vielleicht ist es ein Zeichen der Sensibilität dafür, daß es ein Skandal ist, daß der Bundeskanzler nicht einmal bereit ist, den Träger des Friedensnobelpreises zu empfangen.
Wir wollen nicht nur, daß er ihn trifft, sondern auch, daß er das tut, was sein Freund Suharto nicht gemacht hat, nämlich mit ihm zu sprechen und ihm Unterstützung im Kampf um die Anerkennung OstTimors und in der Durchführung eines Referendums zu geben, damit es endlich von der Diktatur Suhartos befreit wird.
Kollege Krautscheid, ich finde es bedauerlich, wenn hier von Ihnen nur verbales Bedauern kommt, aber der Kanzler bei solchen Debatten nicht anwesend ist. Ich gehe davon aus, daß wir nach diesen Reisen Gelegenheit haben, etwas ausführlicher über die grundsätzlichen Positionen der Bundesregierung in diesem Bereich zu sprechen.
Unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl hat die Bundesregierung die wirtschaftlichen Beziehungen zu Indonesien kontinuierlich ausgebaut. Das ist hier betont worden. Indonesien wird als Zukunftsmarkt für die deutsche Industrie hofiert.
Kollege Krautscheid, dem indonesischen Chef muß klargemacht werden, daß es nicht ausreicht, nur über die Mißachtung der Menschenrechte zu reden. Wir wissen doch inzwischen, daß Suharto ganz offensichtlich Kritik im verbalen Bereich hinnimmt und trotzdem das Militär weiter rabiat gegen die Demokratiebewegung einsetzt.
Indonesien ist kein Einzelfall. Der sogenannte kritische Menschenrechts- und Wertedialog der Bundesregierung wird mit der Türkei, mit Iran, aber auch mit China geführt und dient wie auch im Fall Indochinas bisher lediglich als Feigenblatt dafür, daß man unter Ignoranz schwerster Menschenrechtsverletzungen eine wirtschaftliche und militärstrategische Interessenpolitik betreibt.
Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen im nächsten Jahr und der Diskussion um die Nachfolge von Präsident Suharto erhält der Besuch des Bundeskanzlers aus unserer Sicht eine besondere Brisanz im Hinblick auf mögliche Einflußnahmen auf die innenpolitische Entwicklung in Indonesien.
Der Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen korrespondiert mit den rüstungswirtschaftlichen und militärischen Beziehungen mit diesem Staat. Als Person dafür steht - das wissen Sie sehr gut, auch wenn Sie es hier nicht benannt haben - Minister Habibie, der in der Bundesrepublik als Industriekaufmann tätig war, der zu den engsten Freunden Suhartos zählt, auch als möglicher Nachfolger gehandelt

Angelika Beer
wird und hervorragende Kontakte zur Bundesregierung hat.
Habibie wollte mit dem Import der Ex-NVA-Schiffe sowohl in die eigene Tasche wirtschaften als auch die maritime Rüstung im eigenen Bereich unterstützen. Die Werften, auf denen die Schiffe überholt und in denen sie zur Stärkung der maritimen Kriegsfähigkeit Indonesiens auf- und umgerüstet werden, gehören Habibie.
Nachdem die Oppositionspartei PDI durch die Absetzung von Megawati auf Regierungslinie gebracht wurde, müssen wir zumindest die Frage stellen, ob dieser Kanzlerbesuch und das sicher bevorstehende Treffen mit Habibie von der Opposition nicht möglicherweise doch als direkte Beihilfe für Habibie gedeutet werden müssen. Wenn dies so ist, wäre das ein Schlag in das Gesicht dieser Opposition, die in den letzten 20 Jahren soviel hat leiden müssen.
Es scheint mir notwendig, auf die Doppelrolle des Militärs in Indonesien einzugehen. Da bekommt die Frage der militärischen Ausbildung eine ganz neue Qualität. Wir wissen - auch aus offiziellen Berichten der Bundesregierung - gut, daß das indonesische Militär eine Doppelrolle spielt. Es gibt dort keine Trennung zwischen polizeilicher und militärischer Sicherheit. Das Militär ist für die innere wie auch für die äußere Sicherheit verantwortlich. Die Polizei ist ein Bestandteil der militärischen Organe.
Ich erinnere an die Proteste im Juli dieses Jahres - vielleicht haben wir die blutigen Bilder auf den Fernsehbildschirmen noch in Erinnerung -, als das Parteibüro der Demokratischen Partei Indonesiens erstürmt wurde, wobei es Tote und Verletzte gab und zahlreiche Menschen bis heute noch nicht wieder aufgetaucht sind. Es war die Stunde, als Präsident Suharto, der Freund des Bundeskanzlers, wie der Bundeskanzler selber sagt, das Militär für die blutige Niederschlagung der Proteste gelobt hat.
Ich habe die Hegemonialbestrebungen Indonesiens in der Region erwähnt. Ich will aber auch auf den Rüstungsexport ganz explizit eingehen; denn es ist die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, daß dieser Rüstungsexport angesichts der massivsten Menschenrechtsverletzungen im Inneren, aber auch gegen die befreundeten Staaten eingestellt wird. Indonesien importiert ganz wesentlich Rüstungen, um sich autark eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen, und Deutschland exportiert ganz fleißig mit.
In den letzten zehn Jahren hat es 680 Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen gegeben, obwohl von der EU, von der Westeuropäischen Union, von Menschenrechtsorganisationen und von Amnesty, aber auch von anderen, wie Human Rights Watch/Indonesia, immer wieder die Forderung erhoben wurde, dieses Regime nicht noch weiter mit Waffen auszustatten. Im Moment laufen 13 weitere Bewilligungsbescheide. Es werden Panzer bewilligt, „Wiesel", die bei MAK in Kiel gebaut werden.
Ich kritisiere das Ganze ausdrücklich, auch wenn das dort meine Landesregierung ist. Es darf nicht
sein, daß dieses Regime weiterhin - egal, mit welchen Waffen - ausgerüstet wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)

Ich will nicht den fadenscheinigen Streit führen, der im Falle der Türkei geführt wird, ob ein „Wiesel" oder ein U-Boot jetzt im Landesinneren gegen die Opposition eingesetzt wird. Die Tatsache, daß dieses Regime mit diesem Militär rüstungspolitisch unterstützt wird, ist ein Verstoß gegen die Würde der Menschen und die Achtung der Menschenrechte.
Sie haben unserem Antrag inhaltlich eigentlich zugestimmt, Herr Kollege Krautscheid, aber nicht gesagt, wie Sie sich dazu verhalten werden. Ich rate Ihnen: Wenn Sie das, was Sie gesagt haben, alles ernst nehmen, dann stimmen Sie dem Antrag von SPD und Grünen zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)

Wir unterstützen in unserem Antrag die Forderungen des Nobelpreisträgers auf die Durchführung eines Referendums. Es ist nicht nur Zeit, jetzt endlich darüber zu sprechen, sondern es ist allerhöchste Zeit, dieses Referendum durchzusetzen, um zu einem Ende der 20jährigen Besetzung zu kommen.
Die Frage der GSG-9-Ausbildung ist angesprochen worden. Ich habe gesagt, daß die Polizei in Indonesien kein Instrument der inneren Sicherheit, sondern dem Militär untergegliedert ist. Es gibt keinen Grund, die Polizei in Indonesien in dieser Form zu unterstützen.
Wir erwarten vom Kanzler, daß er klare Worte findet und den Vorwurf der indonesischen Regierung gegen Menschenrechtsorganisationen, daß sie sich in innere Angelegenheiten einmischen würden, wenn sie kritisieren, was dort passiert, zurückweist. Der Kampf um die Verteidigung der Menschenrechte ist keine innere Angelegenheit, sondern internationale Verpflichtung. Das sollte auch der Kanzler deutlich zur Sprache bringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung soll also nicht nur reden; sie soll zumindest Klartext reden und muß handeln. Gerade deswegen meinen wir, daß dem Antrag der Petenten, aber auch dem von SPD und uns unbedingt zugestimmt werden sollte.
Verehrte Damen und Herren, ich möchte dringend appellieren, bei der bevorstehenden Reise durch die Bundesregierung jedes Verhalten und jedes Gespräch zu vermeiden, durch das man auch nur den Verdacht haben könnte, daß Suharto, Habibie oder das Militär in irgendeiner Form unterstützt werden. Es wäre eine Beteiligung an dem Schub der laufenden Entdemokratisierung in Indonesien.
Wir wissen doch, daß es dort ethnische Konflikte gibt. Die Unterdrückung der christlichen Minderheit ist hier angesprochen worden. Wir haben gehört, daß Islamisten in den letzten Tagen Kirchen angezündet haben. Wir wissen von der Gefahr von Bürgerkrieg in der Region. Ich glaube, wir wissen auch, gerade auf

Angelika Beer
Grund des Krieges in Europa, in Ex-Jugoslawien, welche Antworten gegeben werden müssen, und zwar rechtzeitig, nicht wieder erst dann, wenn es zu spät ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie des Abg. Rudolf Bindig [SPD])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum Schluß auf ein Wort des Bundespräsidenten eingehen. Bundespräsident Roman Herzog hat kürzlich die Respektierung anderer Kulturen eingefordert - ein Satz, den wir alle hier nur unterstreichen können und an dem es nichts zu kritisieren gibt.
Ich kann dem nur zustimmen. Respektieren wir auch das Recht der Ost-Timoresen auf ihre Kultur, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und machen wir deutlich, daß wir diesen Respekt und das entschiedene Eintreten für dieses Recht vom Bundeskanzler auf seiner bevorstehenden Reise erwarten, und zwar so, daß es auch hörbar ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS])

Dann ist diese Reise richtig. Wenn kein Buckel vor diesem Diktator gemacht wird, dann ist diese Reise notwendig.
Nach dieser Reise werden wir vielleicht Gelegenheit haben, eine interfraktionelle Vereinbarung zu treffen, die dem Recht der Menschen dort Nachdruck verleiht. Dazu gehört aber, wie gesagt, als erster Schritt: Keine Rüstungsexporte mehr an Indonesien! Das ist hier und heute zu beschließen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313129600
Zu einer Kurzintervention der Kollege Krautscheid.

Andreas Krautscheid (CDU):
Rede ID: ID1313129700
Frau Kollegin Beer, ich kann in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht auf all das eingehen, was ich in Ihrem Beitrag für falsch halte.
In der Beurteilung der Ausgangslage sind wir uns sehr wohl einig; ich glaube, das ist auch beim Kollegen Neumann klar durchgekommen. Wir fragen uns jetzt gegenseitig: Was ist der richtige Weg?
Die Lieferung von Schiffen im Bereich der Rüstungsexporte als „Schub der Entdemokratisierung" zu bezeichnen ist mir einfach zu platt und zu ideologisch.

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Es ist aber auch kein Schub für die Demokratisierung!)

Man kann sehr wohl über einzelne Details reden. Ich hätte mir aber, wenn Sie hier schon solch relativ schlichte Wahrheiten aus alten Zeiten verkünden, gewünscht, daß Sie zum Beispiel gestern zu der fünfstündigen Anhörung über das Thema „Rüstung und Entwicklungspolitik" - wie gehen wir mit den Entwicklungsländern um? - gekommen wären. Man
hätte da vielleicht das eine oder andere Detail hinzulernen können, so etwa über die sicherheitspolitisch konstruktive Rolle, die Indonesien bei den ASEANStaaten spielt, und darüber, wie man sie fördern kann.
Also noch einmal: sehr wohl Kritisches zu einzelnen Exporten; klar ist, daß jeder einzelne Vorgang auf seine menschenrechtliche Relevanz hin geprüft werden muß.
Ich kann sehr gut verstehen, wenn Sie diese Diskussion hier nicht möchten. Sie diskutieren sehr gerne über die Türkei, also darüber, welche der dorthin gelieferten Waffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden können. Darüber sehen wir lange Fernsehberichte. Jetzt aber sagen Sie: Im Falle Indonesien möchte ich nicht darüber diskutieren, ob die Waffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden. Das scheint mir inkonsequent zu sein.
Die Sache ist also nicht so einfach, wie Sie sie dargestellt haben. Ich bin für eine differenzierte Vorgehensweise. Weil diese Vorgehensweise in dem Antrag so nicht- zum Ausdruck kommt, werde ich dem Antrag bezüglich der Petitionen nicht zustimmen. Den Antrag von SPD und Grünen, der hier eingebracht worden ist, werden wir nach der Reise im Licht der dort geführten Gespräche unter uns im Ausschuß in aller Ruhe beraten.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313129800
Zur Antwort, bitte.

Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313129900
Herr Kollege Krautscheid, falls das gerade ein indirekter Vorwurf sein sollte, daß ich bei der gestrigen Anhörung nicht anwesend war: Ich war bei der Anhörung der Fraktionen und des Verteidigungs- und Rechtsausschusses zum sogenannten Ehrenschutz. Wenn Sie bei dieser Anhörung gewesen wären, dann wäre auch Ihnen klar geworden, was man im Bereich des Militärs darunter versteht und ob man dem Militär einen Ehrenschutz zubilligen soll oder nicht. Vielleicht hätten Sie auch etwas lernen können, das zu wissen für Sie notwendig wäre.
Aber um auf Ihre Frage einzugehen: Es ist doch eine Banalität, die Sie hier zu relativieren versuchen. Die Frage ist doch, ob man grundsätzlich ein Regime, das vor 20 Jahren völkerrechtswidrig Ost-Timor annektiert hat, das daran festhält - ich erwähne nur in Parenthese, daß das über 200 000 Menschen das Leben gekostet hat -, das diese Politik weiter verfolgt und im gesamten Bereich eine maritime aggressive Strategie ausbaut, mit U-Booten, mit Rüstungslieferungen überhaupt unterstützt oder nicht.
Ich sage Ihnen - ich komme noch einmal auf die Türkei zu sprechen -: Diese Regime - das haben wir in China gelernt; das haben wir in der Türkei gelernt; das werden wir in Indonesien ebenfalls lernen - gehen inzwischen mit einer großen Unverfrorenheit gegen Demokratiebewegungen vor, weil sie gelernt haben, daß verbale Kritik aus Europa, aus Deutschland ihnen überhaupt nichts tut, solange die Rüstungslie-

Angelika Beer
ferungen weiterlaufen und die Wirtschaftsbeziehungen dadurch nicht beeinträchtigt werden.
Ihr Kollege Lummer, der sich so gern in der Türkei aufhält, ist jetzt in das Kreuzfeuer der Kritik in der Türkei gekommen. Unsere Delegation der deutschtürkischen Parlamentariergruppe ist quasi wieder ausgeladen worden, weil der Kollege Lummer in der Türkei nicht erwünscht ist. Das ist die Folge einer Politik, bei der man Menschenrechtsverletzungen nur verbal kritisiert, aber in der Praxis keine Konsequenzen zieht. Ich glaube, Ihre Regierung hat diese Fehler häufig genug gemacht, und Sie haben jetzt die Chance, endlich damit aufzuhören.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Andreas Krautscheid [CDU/CSU]: Das war ein bißchen komisch!)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313130000
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1313130100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Friedensnobelpreis hat auch in diesem Jahr die Richtigen erreicht. Die F.D.P. gratuliert Bischof Belo und José Ramos Horta.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir verurteilen auch bei dieser Gelegenheit die völkerrechtswidrige Annektierung von Ost-Timor und die Menschenrechtsverletzungen dort. Übrigens, ohne diese Verleihung des Friedensnobelpreises wäre - so befürchte ich - der Beschlußvorschlag des Petitionsausschusses wahrscheinlich ganz routinemäßig hier durchgegangen.

(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt nicht!)

Auch diese Wirkung hat der Friedensnobelpreis erzielt; das ist gut. Der Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist nämlich erst am 15. Oktober gestellt worden, also danach.
Wir werden diesen Änderungsantrag ablehnen. Er ist inhaltlich und in der Konsequenz falsch. Herr Neumann hat das richtige Stichwort genannt: Gar keine Hilfe mehr zu gewähren kann ja wohl nicht die richtige Reaktion sein.
Der Antrag enthält allerdings einen richtigen Punkt. Es gibt offensichtlich einen Beschluß des Bundessicherheitsrates - streng geheim und allseits bekannt -,

(Heiterkeit)

wonach die ASEAN-Staaten bei Rüstungsexporten wie NATO-Partner behandelt werden sollen.
Ich empfehle eine Änderung, und zwar nicht in erster Linie wegen Indonesien. Demnächst wird Birma Mitglied von ASEAN. Wollen wir dann diese brutale Militärdikatur mit Spanien, Japan, Norwegen - um nur einige zu nennen - auf die gleiche Stufe stellen? Ich weiß, der Staatsminister wird sagen: Es wird immer Einzelprüfungen geben. Das ist ja völlig richtig. Aber hier stimmt die Kleiderordnung irgendwie nicht. Wir können nicht mit Gewalt herbeireden, daß ASEAN - wie die NATO - eine Gemeinschaft von wertorientierten Demokratien ist.
Indonesien ist sehr viel differenzierter zu sehen als Birma. Es ist leider wahr, daß in Ost-Timor die Menschenrechte grob verletzt werden. Es ist leider wahr, daß es in Indonesien generell um demokratische Rechte, politischen Pluralismus und Meinungsfreiheit nicht zum besten steht. Aber es ist eben auch wahr, daß Indonesien Fortschritte in Richtung Demokratie gemacht hat, daß man sich dort, auch in den Medien, zunehmend freier äußern kann. Es gibt Parlamentswahlen; sie sind nicht frei genug. Es gibt eine Opposition; sie hat nicht genügend Rechte und Möglichkeiten. Es gibt wie immer in autoritären Staaten das Nachfolgeproblem, mit schlimmen Folgen, wie wir jetzt auf den Straßen Jakartas gesehen haben. Das ist alles wahr. Aber ebenso wahr ist auch, daß Indonesien es geschafft hat, wirtschaftlich auf eigene Füße zu kommen, trotz hoher Geburtenrate die Menschen zu ernähren, zu bekleiden und ihnen ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Ich war 1971 zum erstenmal in Indonesien. Damals sah das alles noch ganz anders aus.
Es wäre ein schwerer Fehler, auf all diese kritikwürdigen Dinge mit Sanktionen oder Embargo zu reagieren. Es ist richtig, daß Bundeskanzler und Bundeswirtschaftsminister dort hinfahren. Es ist richtig und notwendig, daß sie die Verletzung der Menschenrechte, vor allem in Ost-Timor, konkret ansprechen werden. Das muß auch deutlich geschehen.
In Indonesien ist Überzeugungsarbeit zu leisten, wie es übrigens auch die deutschen politischen Stiftungen - ich glaube, notabene alle - dort tun. Wir können und müssen zur demokratischen Entwicklung beitragen. Die Basis dafür sind die seit vielen Jahren guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu diesem der Bevölkerungszahl nach fünftgrößten Land der Erde.
Frau Beer, Ihre Darstellung von Herrn Habibie ist reichlich einseitig. Darüber könnten wir uns vielleicht noch mal ein bißchen differenzierter unterhalten.
Im übrigen sind diese Beziehungen, Herr Neumann, nicht etwa unter der Regierung Kohl zustande gekommen, wie hier vorgetragen wurde. Wir haben diese Beziehungen - da waren auch Sie schon im Bundestag - unter den Vorgängerregierungen ausgebaut. Was wäre denn gewesen, wenn der Exportauftrag Krakatau nicht nach Deutschland gegangen wäre? Vor einer Stunde haben Sie hier über Werftenförderung diskutiert. Fragen Sie mal Herrn Meyer in Papenburg, wie das aussieht, wenn er nach Indonesien nichts mehr liefern darf oder Lieferungen nicht mehr finanziert werden.
Es ist gut und schön, über Arbeitsplätze am Vormittag zu weinen und sie am Nachmittag zu verges-

Dr. Otto Graf Lambsdorff
sen. Aber ich bin nicht bereit, wir sind nicht bereit, diese Doppelmoral mitzumachen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir begrüßen die Absicht der Fraktionen, den Antrag von Grünen und SPD in den Ausschuß zu überweisen und dort einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten. Dessen Sprache sollte klar und unmißverständlich sein. Aber er sollte auch den Geist freundschaftlicher Partnerschaft zu den Menschen in diesem Lande atmen.
Der Bundespräsident hat in der Tat, Frau Beer, eine zutreffende Anleitung gegeben, wie man Menschenrechte behandeln soll. Bei Ihrer kurzen Auslegung hier haben Sie diese Anleitung genau auf den Kopf gestellt. Lesen Sie bitte den Beitrag in der „Zeit" noch einmal. Wenn Sie ihn dann richtig verstehen, sollten Sie ihn durchaus beachten. Den könnte auch der Ausschuß bei der Formulierung dieses Antrages beachten.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313130200
Jetzt hat der Abgeordnete Steffen Tippach das Wort.

Steffen Tippach (PDS):
Rede ID: ID1313130300
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Name des von Kollegin Beer angesprochenen Ministers Habibie läßt sich im Arabischen übrigens mit „Liebling" übersetzen. Das haben einige in der Regierung offensichtlich zu wörtlich genommen.
Auch ist es ein Irrtum, daß in dieser Petition die Rede davon ist, sämtliche Beziehungen zu Indonesien abzubrechen. Es geht einzig und allein um die Einstellung von Rüstungsexporten; und es geht um Hermes-Kredite.
Ich denke, die vorliegende Beschlußempfehlung zu dieser Petition ist nicht nur politisch und menschenrechtlich ein Skandal, sie ist auch dreist. Bereits 1993 beschloß die WEU-Versammlung, alle Mitgliedstaaten aufzufordern, ein unverzügliches Waffenembargo über Indonesien zu verhängen. Das Auswärtige Amt, das sonst die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der europäischen Staaten wie eine Monstranz vor sich herträgt, kommentierte die Petition in diesem Fall schlicht mit den Worten, die Beschlüsse der WEU-Versammlung seien nicht bindend.
Geradezu ein Offenbarungseid ist die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes - ich zitiere -, daß Kriegswaffenexporte außerhalb der NATO ausnahmsweise genehmigt werden könnten, wenn vitale - das heißt außen- und sicherheitspolitische - Interessen der Bundesrepublik Deutschland dafür sprächen. Dies sei der Fall gewesen.
Erklären Sie mir bitte, Herr Schäfer, welche vitalen Interessen die Bundesrepublik hat, die es legitimieren, den Gewaltherrscher Suharto mit Kriegsschiffen, Panzern und Maschinenpistolen zu überhäufen,
Geheimdienstkooperation zu betreiben und Agenten auszubilden? Wo sind für Sie eigentlich noch Grenzen der „vitalen Sicherheitsinteressen" , wenn nicht in diesem Fall?
Gnadenlos unglaublich ist das Argument der Koalitionsfraktionen, dem Bund wären bei der Verschrottung der sonst unbrauchbaren Schiffe erhebliche Kosten entstanden; denn mit demselben völlig kranken Argument hätte zum Beispiel auch die Ukraine Atomwaffen an wen auch immer in dieser Welt liefern können.
Die Ablehnungsempfehlung jedoch gipfelt in der Aussage:
Nach Auffassung des Petitionsausschusses erscheinen nachhaltige diplomatische Interventionen eher als erfolgversprechend als die von den Petenten geforderten massiven Druckmittel.
Liebe Koalitionskolleginnen und -kollegen, Sie hatten 31 Jahre Zeit für nachhaltige diplomatische Interventionen bei Suharto, 31 Jahre mit Hunderttausenden Toten, davon allein 200 000 in Ost-Timor. Die einzige Nachhaltigkeit besteht in alltäglicher Folter und extralegalen Hinrichtungen.
Seit über 25 Jahren sind Dutzende KP-Mitglieder nach unfairen Gerichtsverfahren inhaftiert, hunderttausend weitere sind ihrer grundlegenden Bürgerrechte beraubt.
Wie viele Jahre brauchen Sie eigentlich, wieviel Leid und wieviel Elend, um zumindest mal die Strategie zu wechseln?
Ich möchte dem Bundeskanzler einige Worte mitgeben. Wenn er es sich schon nicht verkneifen kann, am 26. Oktober nach Indonesien zu reisen, dann sollte er dies wenigstens nicht mit dem Tod im Gepäck tun. Ich fordere den Bundeskanzler auf: Sprechen Sie öffentlich die Menschenrechtssituation an - öffentlich! Nehmen Sie die indonesische Opposition zur Kenntnis! Und nicht zuletzt: Erweisen Sie dem Friedensnobelpreisträger Bischof Belo Ihre Referenz!
Wir werden dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und dem gemeinsamen Antrag unsere Zustimmung erteilen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313130400
Für die Bundesregierung spricht jetzt Herr Staatsminister Schäfer.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1313130500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir stimmen alle überein, daß wir den beiden Friedensnobelpreisträgern aus Indonesien, genauer gesagt: East-Timor, unseren Glückwunsch aussprechen. Das hat der Bundesaußenminister auch getan.
Bischof Belo war im vergangenen Jahr im Auswärtigen Amt. Der Dialog findet nicht nur, wie einige

Staatsminister Helmut Schäfer
hier unterstellen, mit der indonesischen Regierung, sondern auch mit der Opposition statt. Und ich glaube nicht, daß jemand hier ernsthaft behaupten kann, wir würden der Opposition ausweichen. Auch der Bundeskanzler wird Gelegenheit haben, in Indonesien mit der Opposition zu sprechen, ebenso wie die Abgeordneten, die ihn begleiten werden, das sicher tun.
Wir wissen, daß die Menschenrechtslage in Indonesien und auch in Ost-Timor unbefriedigend ist - ich darf das hier noch einmal unterstreichen; da gibt es keinen Gegensatz -, insbesondere daß es bei friedlichen Demonstrationen die Sicherheitskräfte immer wieder für nötig halten, Gewalt anzuwenden, Überreaktionen zu zeigen, die so auf Dauer dem Ansehen des Landes natürlich schaden.
Andererseits mache ich darauf aufmerksam, daß Indonesien das Angebot der Bundesregierung angenommen hat, in einen kontinuierlichen Menschenrechtsdialog einzutreten.

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Toll!)

Dieser Dialog, der schon im November 1993 vom Koordinator für Menschenrechtsfragen des Auswärtigen Amtes in Jakarta eingeleitet wurde, hat es uns ermöglicht, unsere Position zu den Menschenrechten auf der Grundlage der von der Staatengemeinschaft anerkannten Prinzipien, wie sie insbesondere auch im Schlußdokument der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 niedergelegt sind, zu vermitteln und Menschenrechtsprobleme in Indonesien, speziell aber auch auf Ost-Timor, offen anzusprechen.
Dabei ging es nicht nur um das Aufgreifen von Einzelfällen, sondern um einen Menschenrechts- und Wertedialog überhaupt.

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313130600
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1313130700
Nein, ich darf darauf hinweisen, Frau Präsidentin, daß die Dame, die mich jetzt wieder sprechen möchte, vorhin bereits über zehn Minuten, anschließend in einer Intervention etwa fünf Minuten gesprochen hat, das heißt insgesamt 15 Minuten. Ich habe fünf Minuten zur Verfügung und bitte um Verständnis, daß auch wir einmal zu Wort kommen.

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird Ihnen doch nicht angerechnet!)

Wir haben die Angriffe auf die Regierung, Frau Kollegin Beer, zur Kenntnis genommen. Lassen Sie mich bitte jetzt in den fünf mir verbleibenden Minuten Ihnen antworten, bevor Sie schon wieder mit einer Intervention kommen. Sie hatten heute am längsten die Gelegenheit, Ihren Standpunkt hier darzustellen.
Ich habe nur die Hälfte der Zeit dazu zur Verfügung. Ich darf Sie um Verständnis bitten.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN und der PDS)

- Herr Kollege Tippach, die PDS ist noch nicht ganz so groß, daß sie schon die Regierung stellen kann. Insofern verstehe ich, daß Sie noch weniger Zeit haben.

(Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

- Jetzt wird es laut, ich höre es schon. Aber mit Schreien werden Sie auch die Menschenrechtsprobleme nicht ändern können, fürchte ich.

(Gerhard Zwerenz [PDS]: Hier schreit niemand!)

Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß auch im Rahmen der diesjährigen Konsultationen in Bonn, nämlich im Januar 1996, die indonesische Seite die Bundesregierung um Hilfe gebeten hat bei der Anpassung des indonesischen Rechtssystem an internationale Menschenrechtsstandards. Sie ist bereit, mit uns Seminare, Workshops und Training für Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte durchzuführen, da das Verhalten der Sicherheitskräfte auch auf die Unfähigkeit und Unerfahrenheit bei der Bewältigung kritischer Situationen zurückzuführen ist.

(Gerhard Zwerenz [PDS]: Nach so langer Zeit?)

Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, daß auf indonesischer Seite die nationale Menschenrechtskommission als Projektträger fungiert - nicht die Regierung, sondern die nationale Menschenrechtskommission. Ein entsprechender Antrag wird für November dieses Jahres erwartet.
Wir begrüßen, daß die Umstrukturierung des indonesischen Sicherheitswesens bereits begonnen hat, die zum Ziel hat, die Aufgaben der inneren Sicherheit ausschließlich der Polizei zu übertragen.
Ende dieses Monates wird der indonesische Polizeichef an der Spitze einer hochrangigen Delegation nach Deutschland kommen und Gespräche mit den zuständigen Stellen, auch dem Innenministerium, BKA und anderen, führen. Wir haben dabei durchaus die Chance - nicht nur beim Besuch des Bundeskanzlers -, auf die Verbesserung der demokratischen, rechtsstaatlichen Strukturen auch bei der Neuordnung der indonesischen Polizei hinzuwirken.
Außerdem nutzt die Bundesregierung alle Möglichkeiten, seien es bilaterale Verhandlungen oder internationale Konferenzen, um die indonesische Regierung zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage zu drängen. In ihren Gesprächen mit Präsident Suharto und Außenminister Alatas im April vergangenen Jahres haben sowohl der Bundeskanzler als auch der Bundesaußenminister nachdrücklich die menschenrechtliche Lage in Indonesien und in OstTimor angesprochen.

Staatsminister Helmut Schäfer
Lassen Sie mich zu der Lage in Ost-Timor sagen, daß die Vereinten Nationen nach wie vor die entscheidende Rolle spielen. Den Gesprächen zwischen dem portugiesischen und dem indonesischen Außenminister über Ost-Timor unter der Ägide des Generalsekretärs kommt auch weiterhin wichtige Bedeutung zu. Herr Alatas hat gerade im Zusammenhang mit Äußerungen zur Preisverleihung - ich habe das Telegramm aus Indonesien gerade vorliegen - noch einmal zum Ausdruck gebracht, daß Indonesien nicht darum herumkomme, sich jetzt noch stärker um eine Lösung des Ost-Timor-Problems zu bemühen. Genauso verlautete es von einem indonesischen Minister, der in Papenburg gerade ein Schiff eingeweiht hat, aber eben keine Fregatte, sondern, wenn ich recht sehe, ein Handelsschiff.
Meine Damen und Herren, wie der Bundesaußenminister bereits bei der letzten EU-ASEAN-Konferenz zum Ausdruck gebracht hat, sieht die Bundesregierung in diesen Gesprächen einen Weg, zu einer gerechten, umfassenden und international akzeptablen Lösung in der Ost-Timor-Frage zu kommen. Auch die Europäische Gemeinschaft hat am 25. Juni dieses Jahres in einem „Gemeinsamen Standpunkt zu Ost-Timor" erklärt, daß sie weiterhin auf eine Verbesserung der Lage hinarbeiten will.
Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas zur Rüstungsexportpolitik sagen: Wie Sie wissen, ist der Export von Kriegswaffen - Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen - in Länder außerhalb des Atlantischen Verteidigungsbündnisses erheblich eingeschränkt. Indonesien gehört als ASEAN-Staat zu den Ländern, denen Ausnahmen gewährt werden, Aber die Bundesregierung prüft - Graf Lambsdorff, Sie haben das schon angekündigt; sie muß es in der Tat tun - in jedem Einzelfall, ob aus besonderen politischen Gründen dennoch eine Beschränkung geboten ist, und verweigert gegebenenfalls eine Exportgenehmigung, insbesondere dann, wenn die innere Lage des Empfängerlandes einer Ausfuhr entgegensteht.

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das merken wir! Zuruf des Abg. Rudolf Bindig [SPD])

- Sie waren noch nicht dabei, Herr Kollege, als gerade Ihre Fraktion - Herr Grunenberg und andere - in der sozialliberalen Koalition leidenschaftlich für den Sonderschiffsbau gekämpft hat.

(Rudolf Bindig [SPD]: Doch, ich war dabei!)

Ich will das jetzt nicht ausführen. Sie waren es, die uns damals daran gehindert haben weiterzugehen. Ich erinnere mich noch an die ganzen Auseinandersetzungen mit Herrn Bahr; das war von seiten der SPD nicht so eindeutig, wie es bei Ihnen jetzt scheint.
Wir halten nach wie vor daran fest, daß bei der exportpolitischen Prüfung eine hinreichende Sicherheit bestehen muß, daß Rüstungsgüter nur zur Verteidigung und zur Aufrechterhaltung legitimer Sicherheitsinteressen des Empfängerlandes oder der betroffenen Region bestimmt sind.
Zum Schluß: Die Bundesregierung bleibt bei ihrer Auffassung - Ich habe das hier schon häufiger zum Ausdruck gebracht -, daß wir zur Verbesserung der Menschenrechtslage in Indonesien und für eine friedliche Entwicklung in Ost-Timor den Dialog mit Indonesien brauchen

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Opposition vor allem!)

- den kritischen Dialog, keine Frage - und durch konsequente Fortführung der von mir angedeuteten Schritte zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen müssen.
Mich hat gefreut, daß, wie auf dem Titelblatt der „Herald Tribune" gestern berichtet wurde, der indonesische Staatspräsident Suharto bei einer Reise nach Ost-Timor vorgestern zusammen mit Bischof Belo nicht nur in freundschaftlichen Gesprächen begriffen war, sondern daß sie gemeinsam in einem Hubschrauber über Ost-Timor geflogen sind. Ich hoffe, daß nicht nur Herr Suharto die Lage auf OstTimor angesprochen hat, sondern auch Bischof Belo; nach Verleihung des Nobelpreises an ihn muß davon an sich auszugehen sein.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313130800
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, Sammelübersicht 125; das ist Drucksache 13/4882.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5829 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS.
Wer stimmt also für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit demselben Stimmenverhältnis angenommen worden.
Der gemeinsame Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 13/5799, soll an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Konrad Gilges, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerhaftung
- Drucksache 13/2195 -


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313130900

Rechtsausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Wolfgang von Stetten das Wort.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1313131000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 des Einigungsvertrages wurde der Auftrag zur Kodifikation eines neuen einheitlichen und allumfassenden Arbeitsrechtsbuches gegeben. Dieser Teil des Einigungsvertrages ist bisher nicht erfüllt, weil - lassen Sie mich dies so ungeschminkt ausdrücken - sich eigentlich niemand daranwagt. Auch der vom Land Sachsen eingebrachte Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes ist in den Ausschüssen bisher noch nicht beraten worden, weil kein Land dies beantragt hat.
Wir alle wissen, daß dieser Auftrag besteht. Wir wissen aber auch, wie schwierig eine einheitliche Kodifikation ist und welche politischen und rechtlich schwierigen Fragen bei einer Neugestaltung aufgeworfen werden. In diese Situation hinein hat die SPD einen alten Entwurf zur Regelung der Arbeitnehmerhaftung vorgelegt, der bereits in der 11. und 12. Wahlperiode der Diskontinuität verfiel. Es handelt sich also um einen Uraltentwurf, der im Grunde genommen überholt ist.

(Dr. Eckhart Pick [SPDJ: Immer wieder aktuell!)

Schon aus praktischen Gründen sollten wir keine neuen Einzelgesetzentwürfe mehr vorlegen, sondern einen Gesamtentwurf entwickeln, um schrittweise zu einem einheitlichen Arbeitsgesetz zu kommen. Gegebenenfalls können die Länder, die einen Unterausschuß im Bundesrat gebildet haben, der im übrigen im November noch tagen soll, den Anstoß dazu geben.
Materiell besteht kein Handlungsbedürfnis, nachdem der Große Senat des Bundesarbeitsgerichtes mit Beschluß vom 27. September 1994 nach einem Verfahren des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes die Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung auf alle Arbeiten, die durch den Betrieb veranlaßt und auf Grund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, ausgedehnt hat, auch wenn diese Arbeiten - das ist neu - nicht gefahrgeneigt sind.
Der Große Senat hat richtigerweise diese Beschränkung der Haftungserleichterung aufgehoben, weil bis zu diesem Zeitpunkt der Arbeitnehmer, der keine gefahrgeneigte Arbeit oder Tätigkeit ausübte, bei einem von ihm verursachten Schaden grundsätzlich den gesamten Schaden des Arbeitgebers zu tragen hatte. Damit war das jeder Arbeit zuzurechnende Betriebsrisiko ganz oder teilweise auf den Arbeitnehmer abgewälzt.
Die derzeit sich durch diese Rechtsfortbildung ergebende Haftung kann etwas vereinfacht wie folgt dargestellt werden: Bei Vorsatz haftet der Arbeitnehmer im vollen Umfang, was wohl auch selbstverständlich ist. Bei grober Fahrlässigkeit haftet der Arbeitnehmer in der Regel voll. Dabei kann aber auch ein vom Arbeitgeber zu tragendes Betriebsrisiko berücksichtigt werden und zu einer im einzelnen nicht unerheblichen Herabsetzung der Schadenersatzpflicht führen.
Bei normaler oder mittlerer Fahrlässigkeit ist der Schaden entsprechend den Gesamtumständen auch nach Billigkeitsgrundsätzen und Zumutbarkeitsgrundsätzen gemäß dem Abwägungsgedanken des § 254 BGB zu berücksichtigen. Hierzu zählen auch ein vom Arbeitgeber einkalkulierbares und gegebenenfalls durch Versicherung abdeckbares Risiko, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb, die Höhe des Arbeitsentgeltes, die Zugehörigkeitsdauer zum Betrieb und auch das bisherige arbeitsvertragliche Verhalten des Arbeitnehmers.
Bei leichtester Fahrlässigkeit haftet der Arbeitnehmer nicht. Leichteste Fahrlässigkeit liegt immer dann vor, wenn ein objektiver normaler Beobachter sagt: „Das kann jedem passieren. " Bei normaler oder mittlerer Fahrlässigkeit kann man es untechnisch so bezeichnen: „Hättest du halt ein bißchen mehr aufgepaßt" , also mit dem Unterton: Bei Beachtung aller Vorschriften und Aufmerksamkeit wäre nichts passiert, aber die Umstände waren eben anders.
Es kann auch nicht sein, daß die Quotierung starr 50 : 50 erfolgt, sondern sie ist - wie oben ausgeführt - dem Rechtsgedanken des § 254 BGB entsprechend den Umständen anzupassen.
Die Folgen der groben Fahrlässigkeit sind vom Grundsatz her richtigerweise die volle Haftung, weil diese vorliegt, .wenn die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist oder - etwas untechnisch ausgedrückt - wenn man sagt: „Bei der Handlungsweise des Arbeitnehmers mußte das mit dem Schaden ja so kommen."
Bei der Reduzierung der vom Grundsatz her „vollen Haftung" wird über die Frage des Betriebsrisikos das Rechtsinstitut der „gefahrgeneigten Arbeit" durch die Hintertüre wieder hereingeholt und damit die Höhe des verursachten Schadens berücksichtigt.
Diese Ergebnisse sind in der Rechtsprechung und auch in der Literatur nahezu einheitlich begrüßt worden und führen in der Regel zu vernünftigen Ergebnissen.
Bei allen Schadenersatzansprüchen des Arbeitgebers oder eines Dritten gegen den Arbeitnehmer wegen eines Schadens, den er im Rahmen seiner Arbeitstätigkeit verursacht hat, ist maßgeblich auch die Zumutbarkeit einer Versicherung für den potentiellen Schaden durch den Arbeitgeber zu berücksichtigen.
Wenn es ein Arbeitgeber unterläßt, seine Fahrzeuge voll- oder teilkasko zu versichern oder für Fremdschäden eine entsprechend hohe Haftpflichtversicherung abzuschließen, um Prämien zu sparen,

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
so ist das als vermeidbares Betriebsrisiko zugunsten des betroffenen Arbeitnehmers in deutlicher Höhe zu berücksichtigen.
Gegen diese durch Rechtsprechung entwickelte, vernünftige und ausgewogene Lösung kann der Gesetzentwurf der SPD nicht bestehen, der eine Haftung nur noch bei Vorsatz - eine Selbstverständlichkeit - und bei grober Fahrlässigkeit vorsieht und selbst bei grober Fahrlässigkeit eine Haftungsbegrenzung in Höhe von drei Nettomonatsvergütungen festschreiben will.
Einfache und mittlere Fahrlässigkeit bleiben folgenfrei. Damit würde die Sorgfaltspflicht der Arbeitnehmer, die üblicherweise verlangt werden kann, praktisch aufgehoben. Unabhängig davon sind auch andere Einzelvorschriften abzulehnen, so die Aufhebung der gemeinschaftlichen Verantwortung gemäß § 830 BGB bei gemeinsamer Schadensverursachung als auch die kurze sechsmonatige Verjährung an Stelle der bisherigen gesetzlichen Frist, weil diese angeblich der „Erpressung" Tür und Tor öffnen würde.
Wir sehen daher zur Zeit keinen Handlungsbedarf und setzen auf die bewährte und ausgeglichene Rechtsprechung. Dennoch sagen wir Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, eine sorgfältige Beratung im Rechtsausschuß zu, ohne Ihnen viel Hoffnung machen zu können, daß wir Ihren Antrag unterstützen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist etwas ganz Neues!)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313131100
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Professor Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1313131200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An sich ging ich davon aus, daß die SPD als Initiatorin dieses Antrags zunächst zu sprechen hat, aber da Herr von Stetten nun den Anfang gemacht hat, kann ich auch auf ihn eingehen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr elegant!)

Wir haben den Entwurf einer Haftungsbegrenzung der Arbeitnehmerhaftung in der Tat zum wiederholten Mal eingebracht, und zwar deswegen, Herr von Stetten, weil wir ihn nach wie vor für aktuell halten. Wir tun das auch in der Erkenntnis, daß wir endgültig eine gesetzliche Regelung brauchen. Sie ist um so notwendiger, als das Risiko der Arbeitnehmer, Schäden zum Nachteil von Arbeitgebern, Dritten und Arbeitskollegen zu verursachen, in einer zunehmend komplizierter werdenden Arbeitswelt auch immer größer wird.
Beispiel: Ein einziger Bedienungsfehler an einer High-Tech-bestückten Maschine oder an einer EDVAnlage kann zu immensen Schäden, zum Beispiel Produktionsausfall oder Produktfehler in einer ganzen Serie, führen, die die finanzielle Leistungsfähigkeit des betroffenen Arbeitnehmers weit überfordern und seine wirtschaftliche Existenz gefährden oder gar zerstören können.
Dies hat Bedeutung auch vor dem sozialen Hintergrund, daß selbst dem bestausgebildeten, dem zuverlässigsten Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerin einmal ein Fehler unterlaufen kann, der zu einem nicht absehbaren Schaden führt.
Das System der Haftung der Arbeitnehmer im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ist Richterrecht. Das haben Sie, Herr von Stetten, angedeutet. Das heißt, die Rechtsprechung versucht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Einzelfallgerechtigkeit herzustellen und gegebenenfalls auch allgemeine Regeln aufzustellen.
Vielfach haben Rechtsprechung, Wissenschaft und Verbände den Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert, um klare, das heißt vor allen Dingen berechenbare Regeln für die Haftungsfälle im Arbeitsvertrag aufzustellen - bislang ohne Erfolg. Ich erinnere Sie an den 59. Deutschen Juristentag, der damals eine Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts noch für das Jahr 1993 angemahnt hatte.
Es besteht schließlich - Sie haben darauf hingewiesen - eine Selbstbindung des Gesetzgebers: Denn nach Art. 30 des Einigungsvertrages sollte ein für ganz Deutschland gültiges Arbeitsvertragsgesetz geschaffen werden. Ich frage mich heute: Wer hat eigentlich damals diese Forderung in den Einigungsvertrag hineingebracht? Es muß doch jemand sein, der noch heute auf die Einlösung dieses Versprechens wartet.
In der „Deutschen Juristenzeitung" von 1992, Seite 833 ff., hat Professor Henssler zum Diskussionsentwurf des Arbeitskreises „Deutsche Rechtseinheit im Arbeitsrecht" - eine Kommission des Deutschen Juristentages - bemerkt:
Keiner Begründung bedarf die Notwendigkeit einer Kodifikation im Bereich der Arbeitnehmerhaftung, die der Deutsche Juristentag bereits 1986 hervorgehoben hat. Längst schon ist die Trägheit der Gesetzgebungsinstanzen hier durch nichts mehr zu rechtfertigen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr wahr!)

Die Argumentsgrundlagen und die verschiedenen denkbaren Regelungsmodelle sind seit langem bekannt. Selbst das BAG scheint einen Gesetzgebungsakt herbeizusehnen .. .

(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Na, na!)

Die Aufgabe des weder sachgerechten noch praktikablen Kriteriums der Gefahrengeneigtheit - man muß eigentlich hinzufügen, dies gilt nur für einen Teilbereich, nicht zum Beispiel für die Schadensteilung, wie sie die Rechtsprechung auf der Grundlage der Gefahrengeneigtheit immer noch anwendet - ist grundsätzlich zu begrüßen. Sie ersetzt allerdings nicht die nur dem Gesetzgeber vorbehaltene Aufgabe, eine interessengerechte allgemeine Regelung zu erlassen. Die Rechtsprechung hat sich sehr weit

Dr. Eckhart Pick
hervorgewagt, ist aber, glaube ich - das ist allen klar -, an die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung gelangt.
Es ist an der Zeit, meine Damen und Herren, daß der Gesetzgeber endlich handelt und sich seine Untätigkeit nicht weiter zu Lasten der Betroffenen auswirkt.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr richtig!)

Wir halten unseren Entwurf, der in vielem mit Vorschlägen des DGB, übrigens auch des AGB der DDR und des genannten Arbeitskreises des Deutschen Juristentages übereinstimmt, für eine geeignete Diskussionsgrundlage.

(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Sind doch alles die gleichen Leute, wenn es nicht sogar dieselben sind!)

Wir sind nicht so überheblich, zu glauben, daß wir in jeder Beziehung den Stein der Weisen gefunden hätten.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU])

Wie der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts schon 1992 beschlossen hat, müssen
die Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung für alle Arbeiten gelten, die durch den Betreiber veranlaßt sind und aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, auch wenn diese Arbeiten nicht gefahrgeneigt sind.
Wir sind deswegen für einfache, transparente und sachgerechte Grundsätze. Die wichtigsten lauten: Erstens. Der Arbeitnehmer haftet für einen vorsätzlich verursachten Schaden unbeschränkt. Darüber besteht Einigkeit.
Zweitens. Bei grober Fahrlässigkeit haftet er bis zur Höhe von drei Nettomonatsvergütungen. Ich denke, das ist ein für den Arbeitnehmer durchaus spürbarer Haftungsrahmen. Es kann keine Rede davon sein, daß diese Bestimmung etwa zur Fahrlässigkeit einlade.
Drittens. Bei leichter Fahrlässigkeit und anderen Verschuldensformen - ich erinnere Sie, daß da alle möglichen Kunstgriffe mit mittlerer, normaler, leichter, leichtester Fahrlässigkeit von der Rechtsprechung gemacht werden müssen, um zu einigermaßen plausiblen Ergebnissen zu kommen - unterhalb der groben Fahrlässigkeit wollen wir keine Ersatzpflicht haben. Das gilt auch im Verhältnis zu Dritten. Das ist übrigens in vielen Entscheidungen, Herr von Stetten, durchaus auch schon anerkannt.
Ich will Ihnen den Vorteil der Regelung an einem Beispiel erläutern - diese Beispiele müssen übrigens nicht immer zugunsten des Arbeitnehmers ausfallen -: Eine Stewardeß vergaß, ihren Paß mitzunehmen, und mußte deshalb eine Einreisestrafe von 3 000 US-Dollar zahlen.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Die Airline zahlt das!)

Es war also im Rahmen ihrer Tätigkeit ein entsprechender Schaden entstanden. Sie verlangte dann von ihrem Arbeitgeber Ersatz.
Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil vom 16. Februar 1995 den Erstattungsanspruch gegenüber der Fluggesellschaft in Höhe von zwei Dritteln bejaht, ein Drittel mußte die Stewardeß selber tragen.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Mit welcher Begründung?)

Wenn man sich die Begründung des Bundesarbeitsgerichts anschaut, Herr von Stetten - eines ist ja erstaunlich: bei diesem Streitwert kommt ein Verfahren immerhin noch bis zum Bundesarbeitsgericht, wahrscheinlich durch drei Instanzen -,

(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das ist Folge des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes!)

sieht man, daß unterschiedliche Kriterien angewandt worden sind, um zu einem einigermaßen plausiblen Ergebnis zu gelangen. Es wurde von der Haftungsbeschränkung des Arbeitnehmers bei betrieblicher Tätigkeit ausgegangen, und auch Mitverschuldensgesichtspunkte des Arbeitgebers wurden bemüht. Dieses Ergebnis ist lange noch nicht nachvollziehbar oder gar auf andere Fälle übertragbar.
Das Bundesarbeitsgericht hat 1995 entschieden, daß auch bei grob fahrlässiger Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten die Haftung des Arbeitnehmers quotenmäßig zu beschränken sei, wenn sein Verdienst in einem deutlichen Mißverhältnis zum Schadensrisiko stehe; eine summenmäßige Beschränkung - wie wir sie auf gesetzlicher Ebene vorhaben - finde jedoch nicht statt.
Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof am 11. März 1996 geurteilt:
Die Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber ist nicht allgemein auf grobe Fahrlässigkeit, sondern nach Maßgabe einer auf den Einzelfall bezogenen Abwägung des Verschuldens gegen das Betriebsrisiko beschränkt.
Es werden hier also eine Fülle von unterschiedlichen Kriterien angewendet; sie machen jedes Urteil praktisch unberechenbar. Das wollen wir mit unserem Gesetzesvorschlag ändern.
Das dient übrigens auch der Wirtschaft. In einem Artikel in der „Wirtschaftswoche" vom 5. Oktober 1995 hat gerade die Wirtschaft eine gesetzliche Regelung dieses Problembereichs angemahnt und diesen Bereich durchaus zu den Standortfaktoren der bundesdeutschen Wirtschaft gezählt.
Nach unserem Modell käme eine Haftung der Stewardeß nur bei grober Fahrlässigkeit oder bei Vorsatz in Frage, bei leichter überhaupt nicht. Bei grober Fahrlässigkeit wäre die Haftung auf drei Nettomonatsverdienste beschränkt. Ein Mitverschulden des Arbeitgebers - so steht es auch in unserem Vorschlag - wäre von Gesetzes wegen zu berücksichtigen.

Dr. Eckhart Pick
Mit unserem Vorschlag würde zusätzlich die Harmonisierung der Haftung von Arbeitnehmern im privatwirtschaftlichen und öffentlichen Bereich gewährleistet. Es gibt keinen vernünftigen Grund, zum Beispiel die Beamten nur bei grober Fahrlässigkeit haften zu lassen, ansonsten aber nicht. Wir sehen hier einen Auftrag, der auf Art. 3 des Grundgesetzes gegründet ist.
In diesem Sinne hoffe ich, daß wir in den zuständigen Ausschüssen eine konstruktive Diskussion und vielleicht auch ein gutes Ergebnis erzielen werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313131300
Jetzt hat die Kollegin Annelie Buntenbach das Wort.

Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313131400
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Daß die Arbeitnehmerhaftung immer noch nicht befriedigend geregelt ist, ist aus meiner Sicht ein Anachronismus. Die Belastung der einzelnen Beschäftigten im Betrieb und der Arbeitsstreß nehmen offensichtlich zu, weil bei rasanter Rationalisierung auf immer weniger Schultern ein immer größerer Output an Produktion lastet und sich Kommunikations- und Arbeitsprozesse durch den Einsatz neuer Technologien unglaublich beschleunigt haben.
Sicherheitsvorkehrungen und Endkontrollen fallen oft dem Zeit- und Kostendruck zum Opfer. Der Grund für menschliches Versagen als Unglücksursache - vom menschlichen Versagen ist in Nachrichten häufig die Rede - liegt oft in dauernder, struktureller Überforderung durch eine Arbeitsumgebung, in der Menschen keine Fehler mehr machen dürfen; und zwar auch dann nicht, wenn sie - nach der Kürzung der Lohnfortzahlung ein wahrscheinlicher Fall - krank im Betrieb arbeiten.
Je schneller die Arbeitsprozesse werden, je teurer die Maschinen werden, desto weniger sind arbeitsbedingte Schadensfälle zu vermeiden und desto höher sind ihre Kosten. Die Risiken, die der Arbeitnehmer eingeht und für die er die Haftung übernimmt, müssen doch immer in einem Verhältnis stehen zu dem Einfluß, den der Mensch auf seine Arbeitsumwelt überhaupt geltend machen kann, und zu dem Verdienst, den er auf Grund seiner Arbeit mit nach Hause bringt.
Die SPD hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Arbeitnehmerhaftung gesetzlich regeln will. Eine Begrenzung der Arbeitnehmerhaftung über den gesetzlichen Weg vorzunehmen begrüße ich; denn die durchaus wechselhafte Rechtsprechung - dazu haben wir eben einige Beispiele gehört - kann eine solche Lücke im Gesetz nicht schließen. Der Vorschlag der SPD ist, die Arbeitnehmerhaftung im BGB zu verankern; mit der Begründung, ein eigenes Arbeitsvertragsrecht hätte trotz Art. 30 des Einigungsvertrages und Empfehlungen von Juristentagen in der nächsten Zeit keine Chance auf Realisierung.
Das Land Brandenburg scheint das anders zu sehen und hat einen Gesetzentwurf zur Bereinigung des Arbeitsrechtes mit Datum vom 12. September 1996 in den Bundesrat eingebracht. Brandenburg will ebenfalls die Arbeitnehmerhaftung begrenzen, aber dies nicht im BGB verankern. An dem Brandenburger Entwurf scheinen mir außer der Frage der Gesetzessystematik auch andere Punkte sinnvoller geregelt. Ich will hier zwei Komplexe kurz ansprechen.
Erstens. Die Haftung des Arbeitnehmers auszuschließen, wenn der Schaden über eine Versicherung abgedeckt werden kann oder könnte, würde verhindern, daß zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeitgeber den Abschluß teurer Versicherungen zukünftig einsparen kann. Dieser Haftungsausschluß ist in dem Brandenburger Entwurf vorgesehen; in dem Entwurf, den die SPD hier vorgelegt hat, ist er nicht vorgesehen.

(Dr. Eckhart Pick [SPD]: Das ist über § 254 BGB, über das Mitverschulden, geregelt!)

- Wir haben in den Ausschußberatungen sicherlich noch Zeit, dies im einzelnen zu besprechen.
Zweitens. Für Fehlbestände kann nach dem Brandenburger Entwurf eine erweiterte Haftung der Arbeitnehmer nur für den Fall vereinbart werden, daß ihnen Sachen besonders anvertraut sind, sie den alleinigen Zugang dazu haben und einen angemessenen Risikoausgleich erhalten. Das ist ebenfalls in dem SPD-Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt, nicht enthalten.
Wir begrüßen die Initiative der SPD, die Haftung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich auf gesetzlichem Weg zu begrenzen; wir sehen aber bei den einzelnen Regelungen, wie sie hier vorgeschlagen werden, durchaus Optimierungsbedarf.
Die spannendste Frage in den Ausschußberatungen wird allerdings werden: Mit welcher mentalen Drehung schaffen es die Regierungsfraktionen wieder einmal, sich einer Gestaltungsaufgabe, deren Dringlichkeit und Sinnfälligkeit auf der Hand liegen, zu entziehen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zuruf von der CDU/CSU: Haha!)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313131500
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Kleinert.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1313131600
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das ist ja gerade die Frage, wie dringlich dieses Vorhaben ist. Es sind nicht sehr viele Fälle von schreiendem Unrecht bekannt geworden. Bevor eine Angelegenheit zum Gericht geht und bevor der gelegentlich sicherlich anzutreffende, von Herrn Pick zitierte Drei-Instanzen-Zug stattfindet, gibt es Gespräche im Betrieb. Die meisten Fälle werden dort im Interesse des Arbeitsfriedens und aus wechselseitiger Rücksichtnahme auf die jeweiligen Interessen vernünftig geregelt. Auf diese Weise bleiben nur einige Fälle ungeregelt.

Detlef Kleinert (Hannover)

Das Beispiel mit der Stewardeß schien mir ein besonders schlechtes Beispiel zu sein. Wenn ein Bürger seinen Paß vergißt und so in eine ähnliche Lage kommt, dann zahlt er. Er findet dann keinen, der für seine Dusseligkeit bezahlt. Warum das im Fall der Stewardeß anders sein soll, leuchtet mir unter gar keinem Gesichtspunkt ein. Die Vergeßlichkeit im Hinblick auf den Reisepaß und die daraus resultierenden Kosten hängen doch nicht mit der Anstellung bei der Fluggesellschaft zusammen. Diese Kausalität ist nicht gegeben. Dieser Einzelfall muß aber noch sehr viel komplizierter gewesen sein, als Sie es in der Kürze der Zeit darstellen konnten. Lassen wir das auf sich beruhen.
Wir wollen Arbeitnehmer nicht durch eine überproportional strikte Anwendung von bürgerlichrechtlichen Regeln ruinieren, die für alle Bürger gelten und deshalb eigentlich auch in diesem Bereich gelten sollten. Früher gab es die Rechtsprechung hinsichtlich der gefahrgeneigten Tätigkeit. Diese Rechtsprechung ist mit dem Urteil des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 27. September 1994 aufgegeben und noch erheblich verfeinert und besser abgestuft worden. All das ist Ihnen bekannt.
Nach diesem Urteil stehen wir vor der Frage: Muß man von Anfang an die Verantwortung so klar wegnehmen, wie das in Ihrem Entwurf vorgeschlagen worden ist, oder soll man nicht doch in jedem Fall eine gewisse Verantwortung bei der handelnden Person belassen und nicht bei denen, die vom Geschehen viel weiter entfernt sind? Das ist die Frage, die nicht nur für das Arbeitsverhältnis, sondern für jeden etwa eintretenden Schaden gilt und deren Klärung deshalb in das BGB gehört.
Weil das so ist und man den Berichten der Rechnungshöfe immer wieder entnehmen kann, daß der Umgang mit fremder Leute Geld offenbar anders erfolgt als der Umgang mit Sachen, die einem selbst gehören oder für die man sich aus anderen, zum Beispiel haftungsrechtlichen Gründen verantwortlich fühlt, bin ich der Meinung, daß man auch in diesem Fall innerhalb des Systems bleiben und die Haftung bei dem Handelnden belassen sollte, sie allerdings mit dem Bundesarbeitsgericht in vernünftiger Weise relativieren und einzelfallgerecht einschränken sollte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das scheint mir eine Entwicklung in unserer Rechtskultur zu sein, die sehr beachtlich ist, und zwar zugunsten der Arbeitnehmer. Dabei sollten wir es doch belassen, wenn wir nicht - dies hätte sehr großen Charme - zu einer allgemeinen Kodifizierung des Arbeitsrechts kommen. Ob dem Bundesarbeitsgericht danach so zumute ist, wie man es gelegentlich bei Jubiläen hören kann, daran habe ich größte Zweifel. Denn das freie Schöpfen hat für die handelnden Persönlichkeiten auch etwas für sich.
Wir werden wohl aber nicht in die Verlegenheit kommen, das empirisch nachzuprüfen, weil Ihr Gesetzesentwurf zeigt, daß auch Sie nicht im geringsten bereit sind, alle anstehenden weiteren Themen im Sinne einer Kodifizierung, wie dies dem Einigungsvertrag vielleicht als Verpflichtung entnommen werden könnte, in Angriff zu nehmen. Sie haben sich vielmehr unter Übernahme Ihrer verdienstvollen, aber erfolglosen Entwürfe aus früheren Wahlperioden hier noch einmal vorgewagt, ohne dabei die sich einerseits durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts und andererseits durch den Einigungsvertrag ergebende neue Rechtslage in Betracht zu ziehen.
Bleiben wir also doch dabei, daß überall im menschlichen Leben ein gewisses Risiko vorhanden ist und mit Anstand getragen werden muß. Da, wo das zu Ungerechtigkeiten führt, soll es in Grenzen gehalten werden, so wie dies das Bundesarbeitsgericht mit seiner Rechtsprechung bereits tut.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313131700
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1313131800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ersten Satz hatte ich in meinem Manuskript formuliert: Daß die Haftung des Arbeitnehmers für einen von ihm fahrlässig verursachten Schaden begrenzt werden muß, steht in meinen Augen außerhalb jeglichen Zweifels. Herr Kleinert hat jetzt erklärt: Nein, eigentlich finde er das BGB doch recht gut. - Ich finde das immerhin erstaunlich; aber bei der F.D.P. ist eben inzwischen alles möglich.
Wir sind uns im übrigen - außer Herrn Kleinert - sicher einig, daß den Arbeitnehmern das Risiko einer vollen Haftung nicht aufgebürdet werden kann. Eine gesetzliche Regelung hätte schon längst getroffen werden müssen. Der Deutsche Juristentag hat sie bereits vor zehn Jahren angemahnt. Die Mühlen der Gesetzgebung mahlen aber in bestimmten Fällen eben sehr langsam.
Wir begrüßen den Vorschlag der SPD-Fraktion. Über Einzelheiten kann man diskutieren, zum Beispiel darüber, ob die Haftungshöchstsumme angemessen festgelegt ist. Drei Monatsgehälter sind für sehr viele Menschen sehr viel Geld. Prüfen kann man auch, ob das Netto- oder Bruttogehalt zugrunde gelegt wird oder ob die Außenhaftung vernünftig geregelt wird.
Auch wir sind dafür, daß die Haftung für „normale" Fahrlässigkeit, wie im Entwurf vorgesehen, völlig ausgeschlossen wird. Wer behauptet, ein solcher Haftungsausschluß ermuntere zu schludriger Arbeit, beleidigt die Arbeitnehmer und unterschätzt die Instrumente, die den Arbeitgebern im übrigen schon zu Gebote stehen.
Jedenfalls meine ich, daß es auf diesem Gebiet richtig ist, das Richterrecht - es stellt ein gewisses Problem dar; Kollege Pick hat das schon gesagt - jetzt durch eine Kodifikation zu ersetzen.
Ich kann mir im übrigen nicht verkneifen festzustellen, daß sich heute im Bundestag der seltene Fall ereignet, daß ein Gesetz der DDR zum Vorbild ge-

Dr. Uwe-Jens Heuer
nommen und dies zweimal in der Begründung aktenkundig gemacht wird. Das Arbeitsgesetzbuch der DDR war in der Tat nicht schlecht. Frau Ministerin Hildebrandt aus Brandenburg sagte kürzlich im Bundesrat:
In der DDR hatten wir nämlich seinerzeit bereits ein umfassendes Arbeitsgesetzbuch mit 305 Paragraphen, das dem Anspruch eines einheitlichen, allgemein verständlichen Gesetzgebungswerks gebührend Rechnung trug.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die hatten überhaupt keine Rechte in der DDR!)

Ich selber
- sagte Regine Hildebrandt -
habe 25 Jahre in der sozialistischen Industrie gearbeitet und hatte dieses Gesetzeswerk mit einem Handgriff parat, wenn ich eine Information über geltendes Arbeitsrecht brauchte. In dem Bereich hatten wir klare Verhältnisse.
Ein letztes Problem: Zweifellos wäre es die bessere Lösung, wenn wir eine Kodifikation insgesamt vornehmen würden. Herr von Stetten hat mit der Frage begonnen, ob eine Kodifikation gemacht werden sollte. Er hat anschließend gesagt: Wir sollten nicht einmal dieses gesetzlich regeln. Ich halte das für schlimm.
Nun hat Herr Kleinert erklärt: Vielleicht hat Art. 30 des Einigungsvertrages das Ganze klipp und klar festgelegt. Er hat es tatsächlich festgelegt. Dort heißt es:
Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, ... das Arbeitsvertragsrecht ... möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren.
Das ist jetzt sechs Jahre her. „Möglichst bald" ist zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff, aber sechs Jahre sind länger als „möglichst bald" . Ich glaube, darüber sind wir uns einig.
Ich bin also der Meinung, wir sollten die Sache erstens diskutieren und dann beschließen. Anschließend sollten wir uns der Frage der Kodifikation des Arbeitsrechts zuwenden. Hier ist von Brandenburg schon etwas gemacht worden; das wurde hier bereits gesagt. Ein sächsischer Entwurf existiert ebenfalls bereits.
Ich muß sagen, ich fände eine gesetzliche Regelung sehr gut und sehr richtig. Ich meine, daß wir gesetzliche Regelungen nicht nur bei einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen vornehmen sollten, wie bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Da waren Sie sofort dazu bereit. Warum sollten wir das hierbei nicht machen?
Ich bin dafür, diesem Entwurf zuzustimmen.

(Beifall bei der PDS)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313131900
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther.

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1313132000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Ihnen allen bekannte Volksweisheit: Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne, hat bekanntlich im Arbeitsleben eine besondere Bedeutung. Bei der Arbeit können durch Verschulden des Arbeitnehmers Schäden an Eigentum oder Vermögen des Arbeitgebers oder bei Dritten entstehen, die der Arbeitnehmer nach den Regeln des bürgerlichen Rechtes ersetzen müßte.
Das wurde schon früher richtigerweise als unbillig erkannt; denn einerseits ist das Schadenspotential und damit das Schadensrisiko bei der Arbeit weitaus größer als im privaten Bereich. Andererseits ist die Fähigkeit des Arbeitnehmers zum Schadensausgleich angesichts seines begrenzten Einkommens eher gering. Die Arbeitnehmerhaftung muß sich deshalb an den besonderen Gegebenheiten des Arbeitslebens orientieren. Das führt zwangsläufig zu Abweichungen von den allgemeinen Haftungsgrundsätzen des bürgerlichen Rechts.
Das Bundesarbeitsgericht hat deshalb in seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung bei gefahrgeneigter bzw. schadensgeneigter Tätigkeit des Arbeitnehmers die Haftung nach bestimmten Grundsätzen eingeschränkt, die Sie alle kennen. Sie sind hier schon vorgetragen worden; ich brauche sie nicht zu wiederholen.
Ebenso beziehe ich mich auf meine Vorredner, die darüber gesprochen haben, wie das Kriterium der gefahrgeneigten Tätigkeit zuletzt auch durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und durch die obersten Gerichtshöfe 1993 eingeschränkt wurde.
Trotz dieser für die Arbeitnehmer günstigen Rechtsprechung ist eine Kodifizierung des Arbeitnehmerhaftungsrechts durchaus überlegenswert, aber nicht isoliert mit einem solchen Antrag, wie er hier von der SPD vorgelegt wird, meine Damen und Herren;

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zuruf von der SPD: Dann fangen Sie doch einmal an!)

denn er ist nicht in der Lage, die noch vorhandenen Fragen zufriedenstellend zu beantworten.
Sie wollen die Schadensersatzpflicht des Arbeitnehmers auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränken. Diese engen Haftungsvoraussetzungen schließen eine Arbeitnehmerhaftung in weitgehendem Maße aus. Auf eine Prüfung im Einzelfall käme es dann bei normaler bzw. mittlerer Fahrlässigkeit nicht mehr an.
Diesen Weg halte ich für falsch. Im übrigen würde bei einer solch starren Festlegung das Richterrecht nicht weggedrückt. Bei einem solchen Sachverhalt wird es immer Richterrecht geben.
Meine Damen und Herren, die Pflicht zum Schadensersatz - sei es im privaten Bereich oder sei es im beruflichen Leben - hat auch eine vorbeugende Funktion. Dieser Effekt droht verlorenzugehen, wenn der Arbeitnehmer bei jedem nicht grob fahrläs-



Parl. Staatssekretär Horst Günther
sigen Verhalten nicht mehr schadensersatzpflichtig ist.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir auch die von Ihnen geforderte zusätzliche Begrenzung der Arbeitnehmerhaftung selbst bei grober Fahrlässigkeit auf drei Nettomonatsvergütungen als nicht zufriedenstellend. Zwar ist der Gedanke der summenbezogenen Haftungsobergrenze grundsätzlich zu begrüßen, gleichwohl stellt sich auch hier die Frage, ob der einzelne Arbeitnehmer noch ausreichend zum sorgfältigen Umgang mit fremdem Eigentum angehalten wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist ja wohl wirklich die Höhe! Mit diesen Grundsätzen wären Sie schon längst Sozialhilfeempfänger, Herr Staatssekretär!)

Wir werden dies in den Ausschüssen im einzelnen noch ausreichend diskutieren können. Ich freue mich auf .die Beratungen; Frau Kollegin Buntenbach, sie werden möglicherweise spannend.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313132100
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2195 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Verhandlungsstand des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin

(früher: Bioethik-Konvention) - Drucksache 13/5435 —

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Dazu liegt ein gemeinsamer Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Viertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und entdecke den Herrn Minister, der mir als erster Redner gemeldet worden war. Sie haben das Wort, Herr Minister Schmidt-Jortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1313132200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf des Europarats zum Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin hat eine außerordentlich heftige Diskussion in der Öffentlichkeit wie im politischen Raum ausgelöst. Das war und ist wichtig und gut: Nicht zuletzt dadurch hat die deutsche Delegation bei den Verhandlungen erreicht, daß der Schutzcharakter - das ist wichtig zu betonen - dieser Rahmenkonvention noch stärker zum Ausdruck kommt.
Die Diskussion der vergangenen Monate hat aber auch negative Folgen gehabt. Zahlreiche Bürger sind durch pauschale Vorwürfe wie - ich zitiere - „Alte, Behinderte und Kinder werden für Menschenversuche freigegeben! " verunsichert und in Angst versetzt worden. Diese Vorwürfe sind unberechtigt, unhaltbar und unverantwortlich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Lassen Sie mich nur die fortwährende Kritik an der Regelung über fremdnützige Forschungsvorhaben mit einwilligungsunfähigen Personen herausgreifen. Ich meine, daß bei unvoreingenommener Betrachtung in alltäglichen Eingriffen mit - so heißt es dort - „minimalem Risiko" und „minimaler Belastung" eine Verletzung der Menschenwürde nicht gesehen werden kann. Das gilt etwa für eine einmalige Blutentnahme, die mit Einwilligung des gesetzlichen Vertreters und unter weiteren engen Voraussetzungen geschieht, die die Konvention aufstellt.
Meine Damen und Herren, unabhängig davon, wie sich die Bundesregierung zu dem Übereinkommen stellen wird, steht folgendes fest: Wir werden in Deutschland nicht zu einer Absenkung unseres Schutzstandards gezwungen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der in der deutschen Diskussion oft übersehen wird. Das Inkrafttreten der Konvention - und etwaiger späterer Protokolle zur Humanforschung und zum Embryonenschutz - in Deutschland setzt die Zustimmung des Parlaments voraus. In diesem Verfahren können, müssen und werden wir sicherstellen, daß der deutsche Schutzstandard auch bei einer Ratifizierung beibehalten oder sogar noch verstärkt wird. Denn unser Recht bleibt teilweise sogar hinter den Schutzbestimmungen der Konvention zurück. Beispielsweise kennt es keine Verpflichtung zur vorherigen Beratung im Falle von genetischen Tests.
Im übrigen verweise ich auf Art. 27 des Übereinkommensentwurfs, in dem ausdrücklich steht: Weiterreichender Schutz in den nationalen Rechtsordnungen wird nicht berührt, wird nicht unmöglich gemacht. Wo wir weiterreichenden Schutz haben, bleibt er also voll gewahrt.
Wie geht es nun im Europarat weiter? Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat vor drei Wochen mit großer Mehrheit eine positive Stellungnahme zu dem Entwurf abgegeben und dazu zehn Empfehlungen an das Ministerkomitee des Europarates ausgesprochen. Dieses soll noch in den kommenden Monaten über die Annahme der Konvention endgültig entscheiden. Aber ich sage hier

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
ganz deutlich: Das wird definitiv nicht vor der zweiten Novemberhälfte geschehen.
Nach Auffassung der Parlamentarischen Versammlung spiegelt der Text den umfassendsten Konsens über einen rechtlichen Rahmen für den Bereich biomedizinischer Eingriffe und Forschungen wider, der zur Zeit in Europa erzielt werden kann.
Dabei ist im Rahmen der schwierigen Entscheidungsfindung immer wieder - gerade auch im Hinblick auf die deutsche Kritik - betont worden, worum es bei der vorliegenden Konvention geht. Sie soll für sämtliche Staaten des Europarates Mindeststandards zum Schutz der Menschenwürde im Bereich der Biomedizin schaffen und dabei insbesondere für neue Gesetze verbindliche ethisch-rechtliche Leitlinien aufstellen.
Die Änderungsvorschläge der Parlamentarischen Versammlung zielen übrigens auf eine weitere Verstärkung der Schutzkriterien. Ich möchte hier nur die Stichworte „Embryonenforschung" und „Weitergabe der Ergebnisse genetischer Tests" nennen.
Über den aktuellen Stand der Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung und in den Gremien des Europarates werde ich Sie in den kommenden Wochen eingehend und ausführlich in den Ausschüssen informieren.
Noch einmal: Die Entscheidung in Straßburg wird nicht schon vorher fallen, so daß wir gewissermaßen hier heftig beraten würden, aber alles schon festgeklopft wäre. Dem ist ausdrücklich nicht so. Die Entscheidung in Straßburg - ich sage es noch einmal - wird frühestens in der zweiten Novemberhälfte fallen. Planungen, die vorher anders ausgesehen haben, sind nicht mehr aktuell.
Ich hoffe und vertraue nach wie vor darauf, daß der weitere Meinungsaustausch in einer sachlichen und, obwohl es natürlich eine sehr sensible Materie ist, möglichst emotionsfreien Atmosphäre stattfinden kann, und begrüße es sehr, daß damit Gelegenheit zu einer parallelen Erörterung im Bundestag und in der Bundesregierung besteht.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313132300
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Robert Antretter.

Robert Antretter (SPD):
Rede ID: ID1313132400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In keinem anderen der seit gestern 40 Mitgliedsländer des Europarates wurde das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin so heftig diskutiert wie in Deutschland. In der Tat, darin stimmen wir überein, Herr Minister.
Tausende von Briefen und Unterschriften, deren Zahl die Million überschritten haben dürfte, sind bei der Bundestagspräsidentin, beim Außenminister, beim Justizminister und bei uns Parlamentariern eingegangen. Diese Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, daß wir keiner Vereinbarung zustimmen,
die die Gefahr birgt, daß der Mensch zum Objekt werden könnte.
Wenn Sie sagen, Herr Minister, Art. 27 der Konvention garantiere, daß wir unsere Standards nicht verlassen müssen, dann sage ich: Das ist ein wünschenswerter Artikel. Aber ich halte Ihnen entgegen, daß in einer europäischen Welt der Deregulierungswut - und Ihre Partei ist nicht ganz unbeteiligt daran - natürlich die Gefahr besteht, daß ein Druck kommt, daß eine Standortdebatte entsteht, die eines Tages diesen Art. 27 geradezu hinwegschwemmen wird.

(Beifall bei der SPD)

Die 18 deutschen Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und ihre 18 Stellvertreter sind anfangs allein, letztlich erfolgreich für einige wesentliche Verbesserungen des mangelhaften und nicht ausgereiften ersten Entwurfs eingetreten, der den Primat der Menschenwürde nicht ausreichend berücksichtigt hatte.
Worum geht es bei der Konvention? Der Europarat ist die europäische Organisation, die als Werte- und Kulturgemeinschaft primär dem Schutz der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verpflichtet ist. Im Europarat gibt es keine Gelder zu verteilen. Es geht auch nicht darum, als ökonomische oder politische Einheit handlungsfähig zu werden. Seine primäre Aufgabe ist es, in mühevoller Kleinarbeit das zu definieren und weiterzuentwikkeln, was unsere europäische Identität ausmacht: die Achtung vor der Würde des Menschen und der Schutz der Menschenrechte.
Angesichts der Tatsache, daß Wissenschaft und moderne Medizin in immer mehr Lebensbereiche vordringen, hat die Parlamentarische Versammlung im Jahre 1987 gefordert, daß europaweit eine Rechtskonvention ausgearbeitet wird, die für die moderne Medizin und Gentechnologie ethisch definierte Grenzen zieht.
Heute kann man sagen, daß die Bioethik-Konvention einen der bedeutsamsten Konventionsentwürfe des Europarats der vergangenen Jahre darstellt - oder werden wird, wenn wir noch bestimmte Korrekturen erreichen. Sie definiert einen Kern von unantastbaren Rechten der Menschen, wenn sie mit den Segnungen, aber auch mit den ungeheuren moralischen Herausforderungen der modernen Medizin in Berührung kommen.
Die Auffassung der deutschen Parlamentarier im Europarat war und ist: Wenn es um rechtsstaatliche Garantien für die Schwächsten unserer Gesellschaft geht, um geistig Behinderte, um alte Menschen, um Kinder, um Alzheimerkranke ebenso wie um Neugeborene und Sterbende sowie um jene, die in existentiellen Grenzsituationen ihren Willen nicht mehr ausdrücken können, müssen wir für wasserdichte Regelungen eintreten und dürfen uns nicht mit komplizierten Regel-Ausnahme-Bestimmungen abfinden, die dem Mißbrauch Tür und Tor öffnen.
' Das hat nichts mit moralischem Eiferertum zu tun, sondern mit der Würde des Rechts. Daß es mit der Würde des europäischen Rechts nicht zum besten be-

Robert Antretter
stellt ist, wird nicht zuletzt darin deutlich, daß im Wege diplomatischer Kompromisse die besonders strittigen Punkte bereits im Vorfeld ausgeklammert wurden, beispielsweise die Sterbehilfe, die Abtreibung, die Definition des Hirntods und rechtliche Fragen, die gerade im Binnenmarkt der Europäischen Union eine große Rolle spielen, wie zum Beispiel der gewerbliche Rechtsschutz bei gentechnisch veränderten lebenden Substanzen.
Der im Juli 1994 erstmals bekannt gewordene Konventionsentwurf enthielt entsprechend seiner Zielsetzung einen Katalog von Rechtsprinzipien, die für die Mitgliedstaaten des Europarats eine Art europäischen Mindeststandard definieren sollten. Dieser Prinzipienkatalog umfaßt unter anderem Bestimmungen über die erforderliche Einwilligung bei medizinischen Eingriffen an erwachsenen und sogenannten geschäftsunfähigen Personen, die Zulässigkeit der medizinischen Forschung bei Embryonen, präventive Tests über genetische Krankheiten und ihre Weitergabe, allgemeine Notstandsklauseln und Sanktions- und Überwachungsverfahren.
Wie wichtig dieser Prinzipienkatalog ist, zeigen gerade die Entwicklungen der vergangenen Jahre auf dem Gebiet der sogenannten künstlichen Befruchtungstechnologien; ich scheue dieses Wort eher. Die Erzeugung von Retortenbabys, die Mutterschaft von Großmüttern, gentechnische Diagnosemethoden zur Geschlechtsbestimmung vor der Geburt - kaum ein Feld bei der Entstehung menschlichen Lebens ist den Eingriffen der modernen Medizin noch verschlossen. Hier zeigt sich: Wenn bestimmte Tabus überschritten werden, wenn der Mensch den Prozeß des Werdens menschlichen Lebens instrumentalisiert, dann liegen medizinischer Fortschritt und moralischer Frevel sehr dicht beieinander.

(Beifall im ganzen Hause)

Ein europäisches Rahmenrecht ist um so dringlicher, als unterschiedliche nationale Regelungen bestehen. So ist in Deutschland im Embryonenschutzgesetz die verbrauchende Produktion von Embryonen über den Zweck einer Schwangerschaft hinaus ausdrücklich verboten, während sie in Dänemark und Großbritannien erlaubt ist. Auch in Frankreich ist vor kurzem ein Gesetz zur Bioethik erlassen worden, das in seinen Bestimmungen den restriktiven deutschen Regelungen ähnelt, aber eine medizinische Observation des werdenden Lebens unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarats will die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken verbieten. Gleichwohl soll nach dem Willen der Mehrheit der Staaten an den bei der künstlichen Befruchtung erzeugten überzähligen Embryonen geforscht werden dürfen, und zwar, wie es in der am 26. September angenommenen Entschließung der Versammlung heißt, „im Interesse ihrer Entwicklung". Diese Bestimmung ist jedenfalls für alle die nicht akzeptabel, die die Auffassung vertreten, daß sich menschliches Leben nach der Befruchtung nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt. Deshalb halten wir alle Versuche, ethisch zwischen Mensch und Person als Träger sittlicher
Subjektfähigkeit zu unterscheiden, für unvereinbar mit dem Grundsatz der Menschenwürde.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS])

Daß diese Fragenkomplexe alles andere als abstrakte Themen sind, zeigte sich, als vor kurzem in Großbritannien tiefgefrorene Embryonen, die für die künstliche Befruchtung nicht mehr gebraucht oder schlichtweg vergessen wurden, mit der Alkoholpinzette abgetötet wurden.
Ein weiterer umstrittener Regelungsbereich sind die fremdnützigen Eingriffe an sogenannten einwilligungsunfähigen Personen. Das sind nach der Definition des Konventionsentwurfs Minderjährige, erwachsene Behinderte oder Personen mit einer Geisteskrankheit. Frühere Fassungen haben in der Öffentlichkeit den Verdacht aufkommen lassen, daß durch diese Konvention der Weg zu Menschenversuchen freigemacht werden könnte.
Ich halte es generell nicht für vertretbar, daß in der Bioethik-Konvention Standards auf einem Schutzniveau unterhalb der internationalen Standards verankert werden. Internationale Kodizes wie der Nürnberger von 1945, die Erklärung des Weltärztebunds von Helsinki aus dem Jahr 1964 und die Erklärung von Tokio aus dem Jahr 1975 sowie Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte der UN enthalten die Bestimmung, daß kein medizinischer Eingriff ohne die Einwilligung der betreffenden Person erfolgen darf. Sie umschreiben eine Tabugrenze für den Schutz der Menschenwürde, die nicht überschritten werden darf. Auch unsere Verfassung schützt die Menschen gegen Instrumentalisierung.
Noch bedenklicher wird es, wenn in einer Art Begriffskasuistik Fälle genannt werden, bei denen dann doch Ausnahmen möglich sein sollen. So werden in dem Entwurf abweichend von dem Prinzip, daß bei medizinischen Eingriffen grundsätzlich die Einwilligung der betroffenen Person vorliegen muß, Personen genannt, die die Tragweite dieser medizinischen Eingriffe nicht beurteilen können, wie beispielsweise Behinderte, Minderjährige oder Personen, die auf Grund einer „geistigen Störung", wie es heißt, nicht in der Lage sind, ihre Interessen zu beurteilen. Mit dehnbaren und unbestimmten Rechtsbegriffen werden dann medizinische Eingriffe an Behinderten, auch zu Forschungszwecken, für zulässig erklärt, wenn sie mit einem „minimalen" oder „vernachlässigbaren " Risiko verbunden sind.
Auch in anderen Vertragsbestimmungen der Konvention müssen rechtsethische Tabus wider den Allmachtsanspruch der modernen Biowissenschaften jedenfalls markiert werden. Gentechnische Veränderungen des menschlichen Erbguts stellen nach Auffassung der - ich glaube, gesamten - deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eine Verletzung eines solchen Tabubereichs dar.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich in aller Freundlichkeit an Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion, wenden. Die

Robert Antretter
Grundsätze und Thesen Ihrer Parteiarbeitsgruppe „Zukunft der Bio- und Gentechnik", die Sie am 10. Oktober veröffentlicht haben, sollten Sie als Fraktion sich sehr kritisch anschauen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Ich glaube, sie sind nicht mit den Prinzipien vereinbar, über die wir heute - ich gehe davon aus: ein gutes Stück weit einvernehmlich - hier beraten.
Wenn Sie die Diskussion über die Keimbahntherapie beim Menschen wiederaufnehmen wollen und wenn Sie die ethische Rechtfertigung der Gentechnik aus dem Schöpfungsauftrag - Genesis 1,28 und 2,15, wie Sie schreiben - herleiten, dann möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht mit mir der Meinung sind, daß durch die geradezu frevelhafte Auslegung des Wortes, daß wir Menschen uns die Erde untertan machen sollten, schon genug Zerstörung in die Welt gebracht wurde. Kaum ein Gebot der Schrift haben wir so befolgt wie dieses vermeintliche. Zumindest mittelbar machen wir uns alle schuldig, wenn weltweit jede Sekunde 3 000 Quadratmeter Wald gerodet, jeden Tag 50 Arten unwiederbringlich ausgerottet und jedes Jahr 7 Millionen Hektar fruchtbares Land zerstört werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313132500
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?

Robert Antretter (SPD):
Rede ID: ID1313132600
Gerne, Herr Kollege Hüppe.

Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1313132700
Herr Kollege Antretter, könnten Sie zur Kenntnis nehmen, daß dieses Papier von einer Arbeitsgruppe innerhalb der CDU erstellt worden ist und daß ich mich persönlich und, so denke ich, auch ein Großteil unserer Fraktion sich damit nicht identifizieren kann?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Robert Antretter (SPD):
Rede ID: ID1313132800
Ich bin dankbar für diese Zwischenfrage. Das nehme ich gerne zur Kenntnis, Herr Kollege Hüppe.
Ich glaube, wir sollten denen, die sich selbst zum Schöpfer aufspielen und die Gefahr der Eugenik, der Verzweckung des Menschen, unvermeidbar in Kauf nehmen, kein gutes Gewissen verschaffen. Ich möchte aber den weiteren Teil dazu ausklammern, Herr Kollege Hüppe, da Ihre Antwort, die Sie in eine Frage gekleidet haben, zumindest für mich persönlich recht befriedigend war.
Eines möchte ich noch sagen: Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß, verglichen mit dem Wortlaut früherer Entwürfe, auch Verbesserungen erzielt worden sind. Letztlich muß jedoch auf einem solch sensiblen Feld stets erkennbar bleiben, von welchem Menschenbild wir uns leiten lassen. Gemessen daran,
meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, weist die Konvention noch Defizite auf, die wir nicht hinnehmen sollten.
Ich möchte Dank aussprechen: Dank den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, mit der Bundestagspräsidentin an der Spitze und mit Herta Däubler-Gmelin für meine Partei, die uns engagiert zur Seite gestanden haben.
Wir haben auch außerhalb des Hauses zahlreichen Verbänden, vor allem der Bundesvereinigung Lebenshilfe und dem VdK, zu danken, ebenso wichtigen Gliederungen der beiden großen Kirchen, beispielsweise den 35 katholischen Verbänden und zahlreichen evangelischen kirchlichen Einrichtungen sowie vielen Kirchengemeinden beider Konfessionen aus dem ganzen Land.
Ich schließe die deutsche Delegation im Lenkungsausschuß ein, die bis zuletzt Verbesserungen zu erreichen suchte und gewiß aus wohlerwogenen Gründen auch dem letzten Entwurf ihre Zustimmung versagt hat.
Danken möchte ich aber auch vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die couragiert, kompetent und unermüdlich das Thema in der öffentlichen Diskussion gehalten und damit einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung für diese Problematik in unserem Land geleistet haben.
Unsere Empfehlung an die Bundesregierung ist, der Konvention in der, wie Sie sagen, Herr Minister, voraussichtlich in der zweiten Novemberhälfte stattfindenden Sitzung des Ministerkomitees nicht zuzustimmen, sondern darauf hinzuwirken, daß weitere Verbesserungen erzielt werden. Unser Antrag, den wir gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt haben, soll Ihnen eine Unterstützung dabei sein.
Den Rechtsausschuß bitten wir, das gesamte Werk kritisch zu durchleuchten und auf seine Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Wir brauchen ein eindeutiges Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und anderen einwilligungsunfähigen Personen, vom Säugling bis zum Sterbenden, und ein noch höheres Schutzniveau dieses Personenkreises. Darüber hinaus sollten Sie Ihr Augenmerk bitte darauf richten, die Formulierungen zum Embryonenschutz und zur Keimbahnmanipulation entscheidend zu verbessern.
Wenn dies gelingt, Herr Minister, meine Damen und Herren, meine Kolleginnen und Kollegen im Rechtsausschuß, kann die Konvention ein Fortschritt für die Menschenrechte in Europa sein - so wie es vor zehn Jahren in Straßburg unsere Absicht war, als wir den Regierungen empfohlen hatten, eine solche Vereinbarung auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 131, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1996 11853

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313132900
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Altmaier.

Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1313133000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Schutz der grundlegenden Menschenrechte, der physischen Integrität des Menschen und die Bewahrung der menschlichen Würde ist eine der fundamentalen Aufgaben des Staates überhaupt. Diese Aufgabe gewinnt angesichts der modernen Entwicklungen in der Bio- und in der Gentechnologie eine völlig neue, grenzüberschreitende Dimension.
Deshalb ist die Debatte, die wir heute führen, alles andere als eine parlamentarische Nebensache.

(Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ CSU] und der Abg. Cornelia SchmalzJacobsen [F.D.P.])

Es geht im Kern um die Frage, ob das zusammenwachsende Europa - ich rede ganz bewußt nicht nur von den Staaten der Europäischen Union, sondern von den 40 Staaten des Europarates - mehr ist als nur ein wirtschaftlicher Interessenverband, nämlich eine Wertegemeinschaft, die auf einem gemeinsamen ethisch-moralischen Grundkonsens fußt und aufbaut.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist es notwendig und richtig, daß wir heute zum drittenmal innerhalb von wenigen Monaten eine parlamentarische Aussprache über das vorliegende Abkommen führen. Es war auch richtig, daß wir eine Anhörung durchgeführt haben, daß wir viele Ausschußberatungen durchgeführt haben und daß wir im letzten Juni eine Entschließung zu diesem Thema quer über alle Parteien hinweg verabschiedet haben. Wir haben dem Thema damit den Stellenwert gegeben, der ihm in der parlamentarischen Diskussion zukommt, und wir haben auch die Öffentlichkeit angemessen an diesem Diskussionsprozeß beteiligt.
Wir haben einiges erreicht. Der Entwurf, der uns heute vorliegt, unterscheidet sich - bei aller Kritik, die man äußern kann - grundlegend von dem völlig unakzeptablen Entwurf von Anfang 1994. Niemand kann bestreiten, daß es gelungen ist, im Lenkungsausschuß Verbesserungen durchzusetzen, dem Übereinkommen Giftzähne zu ziehen, die vor einem Jahr zu großen Bedenken über alle Parteigrenzen hinweg geführt haben. Ich möchte der Bundesregierung und allen Beteiligten ganz nachdrücklich dafür danken, auch und vor allem den Kollegen in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats aus allen Parteien, die diesen Erfolg durch ihren unermüdlichen Einsatz möglich gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bei der Aufzählung der Verbesserungen bei dem für mich jedenfalls wichtigsten Punkt der Konvention beginnen, nämlich dem klaren und eindeutigen Verbot der Keimbahntherapie am Menschen. Worum geht es? Anders als bei der somatischen Gentherapie wird bei
der Keimbahntherapie die Veränderung auch auf die
nachfolgenden Generationen übertragen und vererbt. Das heißt: Der Mensch würde sich damit erstmals gegenüber dem Menschen in die Schöpferrolle
aufschwingen, eine Vorstellung, die mit unserem
christlichen Menschenbild und unseren Vorstellungen von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit jedes einzelnen Menschen völlig unvereinbar ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei allen guten Argumenten, die hier und da vorgebracht werden: Von der Ausrottung von Erbkrankheiten über die Korrektur vorzeitiger Glatzenbildungen, der Kurzsichtigkeit und der Neigung zu Korpulenz bis hin zum Designer-Menschen à la carte ist es nur ein kleiner Schritt. Deshalb ist es wichtig, daß die Konvention ein klares und deutliches Signal setzt, daß die Keimbahntherapie jetzt und auch in Zukunft ausgeschlossen bleiben muß.
Herr Kollege Antretter, weil Sie es angesprochen haben: Auch mir ist dieses Papier aus einer Arbeitsgruppe der CDU bekannt. Auch dieses Papier sagt, daß die Keimbahntherapie gegenwärtig nicht zur Diskussion steht.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Gegenwärtig! Das ist der Punkt!)

Ich füge hinzu: Ich bin fest davon überzeugt, für die übergroße Mehrheit in meiner Partei und meiner Fraktion wird sie auch künftig nicht zur Diskussion stehen; dies ist ein Tabu, an das wir weder jetzt noch künftig rühren wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben auch Verbesserungen bei den sogenannten fremdnützigen Eingriffen an nichteinwilligungsfähigen Personen erreicht. Im alten Entwurf war noch nicht einmal die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters vorgesehen. Jetzt haben wir immerhin einen eindeutigen Katalog sehr restriktiver Bedingungen. Er ist für viele nicht weitgehend genug, und viele sagen, bei diesem höchstpersönlichen Rechtsgut kann es überhaupt keinen Eingriff ohne die persönliche Zustimmung des Betroffenen geben. Darüber müssen wir ganz gewiß noch diskutieren. Aber ich sage ebenfalls: Je länger ich über diese Frage nachdenke, desto mehr Fragen stellen sich mir auch im Hinblick auf die Rechtslage hier bei uns in Deutschland. Denn anders als in den Bereichen, die durch das Gentechnikgesetz oder das Embryonenschutzgesetz geregelt sind, haben wir hier nur das Grundgesetz, und wir haben die Praxis, bei der wir die Grauzonen im einzelnen nicht unterscheiden und nicht überschauen können. Ich habe den Eindruck, daß auch bei uns in der Gesellschaft der Grundkonsens in dieser Frage zu bröckeln begonnen hat. Wir sollten auch der Versuchung widerstehen, diese nationalen Diskussionen auf die europäische Ebene zu übertragen. Wir werden uns dieser Diskussion auch hier bei uns stellen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P., der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Peter Altmaier
Es gibt unbestreitbare Fortschritte. Wir haben auch die Pflicht, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, weil es nach wie vor sehr viel Verunsicherung gibt und viele noch auf dem Diskussionsstand des Jahres 1994 sind.
Ich sage aber genauso deutlich: Es gibt auch viel Schatten. Wir haben vieles von dem, was wir in die Entschließung von 1995 hineingeschrieben haben, nicht durchsetzen können. Für meine Fraktion ist ganz besonders schmerzhaft, daß wir das Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung nicht so deutlich haben festschreiben können, wie wir uns dies gewünscht hätten. Wir bedauern auch, daß die Möglichkeit zur Individualklage vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nicht eröffnet werden konnte.
Ich möchte aber etwas hinzufügen. Bei aller Schwierigkeit angesichts dieser Situation, daß wir vieles, aber nicht alles erreicht haben, müssen wir uns über eines im klaren sein: Angesichts des vorgezeichneten weiteren Verhandlungsganges in den Gremien in Straßburg wäre es eine Illusion, zu glauben, daß über die Änderungen hinaus, die die Parlamentarische Versammlung des Europarates vorgeschlagen hat, noch wesentliche Veränderungen und Verbesserungen der Konvention zu erreichen sind. Es wäre eine Illusion, die wir draußen bei den Bürgern erweckten, wenn wir der Bundesregierung heute ein Verhandlungsmandat mitgäben, das sie gar nicht einlösen kann.
Das heißt, wir sind in der Verantwortung und in der Pflicht, vor dem Hintergrund des vorliegenden Konventionsentwurfs zu unterscheiden, ob wir ihm zustimmen wollen oder nicht. Diese Entscheidung ist eine sehr schwere, um die über alle Parteiengrenzen hinweg gerungen wird.
Ich erinnere nur an den Beitrag des Kollegen Schloten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der für sich den Schluß gezogen hat, daß man bei der Abwägung zwischen dem, was erreicht worden ist, und dem, was nicht erreicht werden konnte, auch zur Kenntnis nehmen muß, daß wir für die Mehrzahl der 40 Mitgliedstaaten des Europarates im Vergleich zur geltenden Rechtslage Verbesserungen erreicht haben, die bis vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar waren.
Dieser Konventionsentwurf wird dazu führen, daß wir vor allen Dingen in den jungen Staaten Osteuropas, aber auch in vielen anderen Staaten erstmals verbindliche Standards haben. Das ist weiß Gott nicht wenig.
Meine Damen und Herren, wir müssen über diese Frage nachdenken. Wir müssen die vorliegenden Texte prüfen.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313133100
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Däubler-Gmelin?

Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1313133200
Bitte sehr.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1313133300
Ich wollte Sie nicht ungebührlich unterbrechen, aber doch auf einen Punkt zurückkommen. Jeder, der die Dokumente gelesen hat, weiß, daß Sie in diesem Punkt recht haben. Es ist eine Menge verändert worden.
Aber sind nicht auch Sie der Auffassung, daß im Zuge des Ratifizierungsprozesses jede Möglichkeit genutzt werden muß, um weitere Verbesserungen zu erreichen? Darf ich Ihre Worte so verstehen, daß Sie selbstverständlich mit uns darum ringen werden, diese zu erreichen?

Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1313133400
Frau Kollegin, ich bin selbstverständlich an Ihrer Seite. Wir alle in diesem Haus sind bereit, jede Verbesserung, die noch durchsetzbar ist, in dieser Konvention zum Tragen zu bringen und ihr dazu zu verhelfen, daß sie Gesetz und Recht wird.
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen: Angesichts des vorgezeichneten Ganges der Beratung ist es sehr unwahrscheinlich, daß in diesem Prozeß noch substantielle Änderungen durchgesetzt werden können. Der Gang der Beratung ist wie folgt: Die Berichterstattergruppe wird zusammentreten, um über die Änderungen zu beraten, die von Straßburg vorgeschlagen worden sind; das Komitee der Ministerbeauftragten wird zusammentreten, um über die Frage zu entscheiden, ob diese Konvention zur Zeichnung ausgelegt wird; dann wird der Prozeß von der Zeichnung über die Ratifizierung bis hin zum Inkrafttreten der Konvention einsetzen.
Ich meine, es ist ein Gebot der intellektuellen Ehrlichkeit, dies den Menschen draußen zu sagen. Wir müssen darum ringen, ob wir auf der Grundlage dieses Textes zustimmen können. Ich kann das für meine Fraktion heute noch nicht abschließend beantworten.
Ich habe wenig Hoffnung, daß es gelingen wird, die Diskussion über das, was uns heute bedrückt - zum Beispiel im Hinblick auf die Embryonenforschung oder aber im Hinblick auf die fremdnützige Forschung, auf das, was Kollege Antretter gesagt hat -, inhaltlich noch einmal neu zu eröffnen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Aber versuchen können wir es!)

- Wir können es versuchen. Aber wir sollten - das sage ich noch einmal - keine Illusionen erwecken, die wir nachher in einem schmerzlichen Prozeß sozusagen wieder einsammeln müssen.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß es wichtig ist, daß wir in diesem Haus versuchen sollten, zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Deshalb erscheint mir der Entschließungsantrag - das darf ich bei aller sachlichen Diskussion sagen -, den Bündnis 90/Die Grünen und SPD gemeinsam vorgelegt haben, übereilt.
Ich hätte mir gewünscht, daß wir angesichts der klaren Zusage des Bundesjustizministers, daß vor den Beratungen, die in den Ausschüssen des Bundestages stattfinden, eine Entscheidung im Komitee der Ministerbeauftragten nicht zu erwarten steht,

Peter Altmaier
versucht hätten, in den nächsten Wochen zu einer gemeinsamen Entschließung zu kommen. Ich darf für meine Fraktion ausdrücklich anbieten, daß wir den Versuch machen, zu dieser gemeinsamen Stellungnahme und Entschließung zu kommen. Sie rennen bei uns jedenfalls offene Türen ein.
Meine Damen und Herren, bei allem Streit um Paragraphen und Artikel: Es geht in der Tat um einen wichtigen Konventionstext. Aber in Wirklichkeit geht es nicht nur um die Konvention, sondern es geht um den ethisch-moralischen Grundkonsens in unserer Gesellschaft. Dieser Grundkonsens muß ständig neu erarbeitet und bestätigt werden, innerstaatlich, europäisch und eines Tages hoffentlich auch weltweit. Das ist eine wichtige Aufgabe, und es bleibt eine permanente Aufgabe weit über die aktuelle Diskussion hinaus.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313133500
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.

Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313133600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Altmaier! Sicher ist seit der Entschließung des Deutschen Bundestages einiges an der Konvention verbessert worden. Aber viele Probleme wurden nur durch Umstellung der Artikel und Regelungen an anderer Stelle versteckt.
Bündnis 90/Die Grünen fordern die Bundesregierung auf, dem Entwurf eines Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin in der vorgelegten Form auf keinen Fall zuzustimmen. Auch die geforderten Veränderungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates reichen uns für eine Zustimmung nicht aus. Das will ich hier ganz offen sagen, damit die Geschäftsgrundlage auch für weitere Diskussionen klar ist.
Wir haben dem Deutschen Bundestag gemeinsam mit der SPD-Fraktion einen Entschließungsantrag vorgelegt, der eine Überarbeitung der Konvention in weiten Teilen verlangt. Wir fordern darin die Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte.
Dabei liegt uns besonders der Schutz für Behinderte vor fremdnütziger Forschung am Herzen. Bei einwilligungsunfähigen Personen können die Schutzbestimmungen des Konventionsentwurfes umgangen werden, wenn die Forschung - ich zitiere - „nur mit einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung" einhergeht, was immer das bedeutet. Damit werden die Grundsätze des Nürnberger Arztekodexes verlassen. Dies ist für uns völlig inakzeptabel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Sieht man sich dann noch Kapitel IV der Konvention an, ahnt man das Ausmaß der ethischen Problematik dieses Übereinkommens. Nur die Auswahl des Geschlechts eines Kindes ist nach dem Entwurfstext bei der Anwendung von Techniken der Fortpflanzungsmedizin grundsätzlich unzulässig. Andere Selektionskriterien sind nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Die Selektion des Geschlechtes ist darüber hinaus auch zulässig, wenn sie der Vermeidung schwerwiegender erheblicher geschlechtsgebundener Krankheiten dient.
Auch die Präimplantationsdiagnostik ist nicht ausgeschlossen. Damit wird eine Option für eine eugenisch begründete Auswahl von Embryonen offengelassen. Das taucht die eugenische Indikation aus der Abtreibungsdiskussion nun im Reagenzglas auf einmal wieder auf. Das macht mir große Sorgen. Hier werden die Würde und das Lebensrecht von Behinderten durch die moderne medizinische Entwicklung in Frage gestellt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])

Damit ist die Tür offen zu einer Entwicklung nach dem Motto: Der Mensch schafft sich den Menschen nach seinem Idealbild. Dieses ist zwar heute nicht mehr unbedingt blond, blauäugig und hochgewachsen, aber gesund, umfassend leistungsfähig, intelligent. Erfolg und Leistung, Verwertbarkeitskriterien entscheiden über das Lebensrecht. Dem muß Einhalt geboten werden!
Meine Damen und Herren, datenschutzrechtliche Bestimmungen zur Weitergabe der Ergebnisse genetischer Tests fehlen völlig. Die Schutzstandards des deutschen Embryonenschutzgesetzes werden unterschritten. Ein Verbot der Patentierbarkeit menschlicher Gene fehlt. Hier und an vielen anderen Punkten muß nachgearbeitet werden.
Das Übereinkommen wird den Druck erhöhen, ethische Standards bei der Forschung und Anwendung von Biologie und Medizin weiter nach unten anzugleichen. Das Übereinkommen dient einer scheinbar ethischen Legitimierung neuerer problematischer Entwicklungen im Bereich der Forschung und Anwendung von Biologie und Medizin. Das Übereinkommen enthält weitgehende Öffnungsklauseln zur Umgehung der Konventionsnormen. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit, zur Verbrechensverhütung, zum Schutz der öffentlichen Gesundheit können vorgesehene Rechte und Schutzbestimmungen des Übereinkommens gesetzlich eingeschränkt werden.
Meine Damen und Herren, bei der Zustimmung und Unterzeichnung geht es auch um eine Entscheidung der Realpolitik. Die Konvention enthält einige Mindeststandards. Diese sind unbefriedigend, aber besser als nichts. Man kann sich nun also fragen: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Ohne rechtliche Instrumentarien zur Durchsetzung dieser Mindeststandards bleibt diese Frage aber ein akademisches Problem. Ein halbvolles Glas Wasser, von dem man nicht trinken kann, weil es unerreichbar ist, löscht keinen Durst. Deshalb werden wir einem solchen Konventionstext in keinem Fall zustimmen. Hierfür reichen

Volker Beck (Köln)

auch die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates geforderten Änderungen nicht aus.
Bündnis 90/Die Grünen fordern deshalb eine Individualklagemöglichkeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Patientenverbände und Behindertenorganisationen sollten im Rahmen der Verbandsklage Verstöße gegen diese Konvention in eigenem Namen geltend machen können. Ohne die Möglichkeit von Personen, sich individuell gegen die Verletzung von Bestimmungen aus diesem Abkommen, durch die sie selbst geschädigt worden sind, mit Klage vor dem Europäischen Gerichtshof wehren zu können, ist das Übereinkommen ein zahnloser Papiertiger. Wir werden nur ein Übereinkommen unterstützen, das die Menschenrechte auch effektiv schützt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313133700
Wenn ich das richtig verstanden habe, besteht der Wunsch des Kollegen Catenhusen nach einer Kurzintervention.

Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1313133800
Der Kollege Beck hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die endgültige Abwägung der Frage, wie das deutsche Parlament zu diesem Entwurf der Konvention Stellung nimmt und ob wir der Bundesregierung Zustimmung signalisieren sollten oder nicht, auch eine Frage der Realpolitik ist. Ich möchte dazu, Kollege Beck, drei Bemerkungen machen.
Erstens. Sie haben die schwierige Frage der Genanalyse im Zusammenhang mit geschlechtsgebundenen Krankheiten aufgeworfen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß das deutsche Embryonenschutzgesetz eine Analyse, die ein solches Ziel hat, zuläßt. Das heißt, wir verbieten in Deutschland zwar den Einsatz zur Geschlechtswahl, aber wir lassen - ich denke, aus gutem Interesse der Betroffenen - die Analyse geschlechtsgebundener Krankheiten, die bei rechtzeitiger Durchführung ja Hilfe bieten kann, zu. Ich glaube, wir sollten diese Differenzierung auch in dieser Diskussion beibehalten.
Auch der zweite Punkt ist im Sinne der Realpolitik: Als jemand, der diese Diskussion auf europäischer Ebene seit gut 15 Jahren nicht nur mit verfolgt, sondern auch mit bestritten hat, gehe ich davon aus, daß wir auf europäischer Ebene keine Chance haben - bei aller Gemeinsamkeit im Wertesystem und hinsichtlich der Geschichte -, in der Frage der Embryonenforschung eine Vereinbarung zu treffen, die deutsche und britische Positionen in Übereinstimmung bringt.
Man muß dies deutlich sagen: Wer sich den Weg zu einer Konvention offenhalten will, die nicht nur den Abstand bei bioethischen Normen festschreibt, sondern das Ziel einer Annäherung verfolgt, der muß wissen, daß er im Fall der Embryonenforschung nicht gangbar ist und von Anfang an nicht gangbar war.
Das mußten aber auch alle die wissen, die sich auf diesen Prozeß eingelassen haben.

(Zuruf des Abg. Hubert Hüppe Ja, wir müssen versuchen, das anzupassen, Kollege Hüppe. Aber entscheidend ist, zu welcher Bewertung man am Schluß des Verfahrens kommt. Noch eine dritte Bemerkung aus meiner Sicht dieser Punkt ist auch im Beitrag des Kollegen Altmaier angeklungen -: Es ist schwierig, Fragen, die wir in Deutschland klären müssen, auf dem Umweg über eine europäische Konvention klären zu wollen. Für mich ist in dieser deutschen Debatte eine Frage nicht geklärt auch deshalb, weil wir uns bis zur Vorlage dieser Konvention der Diskussion unter uns entzogen haben -: ob es uns darum geht, die Schutzanforderungen für Forschung an Menschen, die nicht die Fähigkeit zur Zustimmung haben, zu erhöhen, oder ob wir eine solche Möglichkeit aus grundsätzlichen Überlegungen überhaupt ausschließen wollen. Aus meiner persönlichen Sicht müßte man eines bedenken: Die Deklaration von Nürnberg hat unter dem Eindruck und aus den Erfahrungen verbrecherischer Menschenversuche diese deutlichen Aussagen getroffen. Es geht aber heute für mich nicht um verbrecherische Menschenversuche einer Medizin, die ich in diese geistige Tradition einordne, sondern es geht doch heute um viel schwierigere Abwägungsfragen wie etwa die, ob es überhaupt möglich ist, sich zum Beispiel bei Alzheimer-Patienten eine Blutentnahme zu Forschungszwecken vorzustellen. Diese Fragen zu beantworten, halte ich für sehr viel schwieriger. Sie lassen sich auch nicht mit einfachen Zitaten aus der Deklaration von Nürnberg abschließen. Wir haben wenige Wochen Zeit, die Diskussion darüber in den Ausschüssen zu führen. Wir wären dabei nicht gut beraten, Dinge, die wir selbst nicht unter uns geklärt haben, auf dem Wege über Europa ad acta zu legen. Danke schön. Auch zur Kurzintervention die Kollegin Christa Nickels. Herr Kollege Kleinert, Sie müssen noch etwas warten. Dann wird nämlich auch noch der Kollege Beck antworten. Ich rufe Sie dann auf. Frau Nickels. Schönen Dank. Ich beziehe mich auch auf die Äußerungen von Volker Beck, der hier über Fragen der Realpolitik gesprochen hat. Hier ist sehr viel die Rede davon gewesen auch in dem Beitrag von dir, Volker; aber auch in anderen Beiträgen -, daß man eine grundlegende Werteentscheidung zu treffen habe. Ich mache mir ziemlich große Sorgen, wenn ich hier von allen wie hinter einem Schutzschild vorgetragen bekomme, es gehe um eine Wertefrage und Christa Nickels man müsse eine grundsätzliche Entscheidung treffen, aber der grundsätzliche Konflikt, in dem wir meiner Meinung nach in allen hochindustrialisierten Staaten stehen, daß nämlich grundlegende Werte im Augenblick permanent gegen Wirtschaftsund Standortinteressen abgewogen werden, nicht thematisiert wird. Für mich ist das die grundlegende Problematik unter dem Stichwort Realpolitik. Hier reicht es nicht aus, davon zu reden, daß wir uns nicht der Illusion hingeben dürften, wir könnten uns dem Zug der Zeit entziehen, der in dieser Debatte um die Bioethik-Konvention in Europa zum Vorschein kommt. Es hat für mich auch nichts mit Nationalismus zu tun, wenn wir als Bundesrepublik Deutschland darauf beharren, daß wir bestimmte Standards der Menschenrechte und der Grundrechte nicht verlassen wollen. Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in der Debatte. Ginge es hier „nur" um die Wertedebatte, würden wir es uns hier über alle Fraktionen hinweg leisten, zu sagen, Europa solle mit Mehrheit die Standards, die wir nicht für ausreichend halten, beschließen. Wir stimmen dem Konventionsentwurf aber nicht zu, weil wir ihn generell für eine Rutschbahn halten, die uns über kurz oder lang dahin führt, daß Wirtschaftsinteressen dominieren. Wenn es denn nur den Marktinteressen dient, wenn ein Markt vorhanden ist, von dem man profitieren kann, werden ethische Standards leicht aufgeweicht. Das ist auch meine große Sorge. Herr Antretter, wenn also diese hehren Worte von der Abwägung zwischen Realpolitik und Wertefragen keine praktischen Konsequenzen nach sich ziehen, dann müssen wir dem Entwurf, so wie er ist, widersprechen, da uns die Grundwerte wichtiger sind. Das heißt für mich aber, daß wir dann den Konflikt entscheiden müssen, der unausgesprochen immer dahintersteht. Die Grundfrage ist eben die: Sind uns die Menschenrechte und Werte so wichtig wie Standortund Wirtschaftsinteressen? Sind wir fähig und bereit, diese Werte auch dann zu verteidigen, wenn es darum geht, auf einen lukrativen Markt zu verzichten und sich der Mühe zu unterziehen, Alternativen zu entwickeln? Ich habe bereits in der vorletzten Legislaturperiode im Rechtsausschuß an der Debatte zum Embryonenschutzgesetz mitgewirkt. Sie haben recht, Herr Catenhusen, daß darin schon einige Schlupflöcher enthalten sind, die wir beklagt haben. Aber wenn die Bundesrepublik dieser Konvention zustimmen sollte, dann ist das meines Erachtens eine Rutschbahn, auf der wir überhaupt nicht mehr bremsen können, wenn es darum geht, daß lukrative Wirtschaftsund Forschungsinteressen bedient werden sollen. Ich kenne die Argumente jetzt schon. Dann wird es heißen: Wenn wir es nicht machen, machen es andere; daher sollten wir es besser mit unserem Know-how und unserer Wirtschaft machen. Letztlich werden wir diese Standards schleifen. Davor möchte ich warnen. Wenn Ehrlichkeit eingefordert wird, möchte ich das nicht bloß immer unter dem Schutzschild der Wertedebatte erleben, der meiner Meinung nach hier benutzt wird, um etwas zu verschleiern. Frau Kollegin, Ihre drei Minuten Redezeit sind abgelaufen. Ich möchte, daß hier auch ganz klar die Wirtschaftsinteressen in die notwendige Abwägung einbezogen werden. Das würde viel an Ehrlichkeit und auch sehr viel mehr an materieller Substantüerung für diese Debatte bedeuten. Das wünsche ich mir. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313133900
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313134000

(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch)

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313134100
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313134200

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313134300
Herr Kollege Beck, Sie können darauf antworten, wenn das eine Intervention zu Ihrer Rede war.

Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313134400
Zunächst zu Ihnen, Herr Catenhusen: Das Lebensrecht von Behinderten in der Gesellschaft zu bewahren, wird uns in der Behindertenpolitik wahrscheinlich nicht nur durch Konventionstexte und durch Gesetzentwürfe gelingen. Gleichwohl wollte ich gerade dieses Thema, weil es mir sehr am Herzen liegt, in diese Debatte einführen.
Ich meine, es gibt einige Möglichkeiten, im Konventionstext wesentlich besseren und rechtssichereren Schutz für behindertes Leben zu gewährleisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen in der gesellschaftlichen Debatte weiter darum streiten, daß sich Frauen bewußt für ein behindertes Kind entscheiden können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist heute oftmals nicht möglich, weil die Gesellschaft darauf nicht eingerichtet ist und Familien mit behinderten Kindern ausgrenzt, manchmal sogar die Frau dafür verantwortlich macht, wenn sie sich für das behinderte Leben entscheidet. Ich denke, wir dürfen nicht müde werden, über so etwas zu diskutieren. Wir müssen als Gesetzgeber alles tun, um solche Entscheidungen unterstützend zu flankieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)

Ich komme jetzt auf den Punkt Realpolitik, auf den Sie, Frau Nickels und Herr Catenhusen, repliziert haben. Ich meine, eine Konvention, die für sich in Anspruch nimmt, ethische Mindeststandards zu sichern, ist immer Anlaß, in realpolitische Abwägungsprozesse einzutreten. Für mich ist die entscheidende Frage: Kann ich wenigstens die „schlappen" Mindeststandards einklagen? Kann ich sie durchsetzen, so daß kein Land mehr darunter wegtauchen kann? - Das ist nicht der Fall. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat keine Möglichkeit, diese

Volker Beck (Köln)

Mindeststandards durchzusetzen. Er darf allenfalls, wenn er gefragt wird, zu einer Rechtsfrage Stellung nehmen, wie die Konvention womöglich auszulegen sei. Das reicht nicht!
So gesehen halte ich den von Frau Nickels angesprochenen Rutschbahneffekt, die Konkurrenz der Forschungsstandorte - wir haben das in unserem Antrag ausgeführt -, für den entscheidenden Gesichtspunkt. Dann können wir nicht zustimmen; denn dann ist das nur noch eine Legitimationsveranstaltung für die nächsten Schritte zur Senkung unserer Normen, ohne daß wir im Gegenzug einen garantierten Schutz durch Mindeststandards gewonnen haben. Wenn sich das nicht ändern läßt, müssen wir ablehnen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313134500
Ich gebe nun dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wort.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1313134600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die ganz offenkundige interfraktionelle Sorge um das, was hier zu beraten ist, die Sorge um die Menschenwürde da, wo sie am ehesten in Gefahr geraten wird, besonders bei den Hilflosen, bei denen, die sich nicht wehren können, läßt wohl nicht die Überlegung offen, daß die Mühen all derer, die hier schon mit Dank erwähnt worden sind, vergebens gewesen sein sollten und daß man zu dem Zustand, den Herr Catenhusen mit „vor 15 Jahren etwa" skizziert hat, zurückkehren könnte, sondern man muß doch wohl davon ausgehen, daß solche intensiven Bemühungen, von großer Verantwortung getragen, weiterführen werden und nicht die befürchtete „Rutschbahn" darstellen.
Ich könnte mir vorstellen, daß man, wenn man ganz neu über die Sache nachdenkt, sagt: Die Deklarationen von Nürnberg und Helsinki wären eine Basis im Wettbewerb der Staaten gewesen, auf der jeder Staat zu seinen eigenen - möglichst verantwortungsbewußten - Regelungen hätte kommen können, ohne den Anschein einer internationalen Verrechtlichung zu erwecken.
Ich habe das Gefühl, daß man sich vom geschriebenen Text dieser Konvention, von ihren gesetzesähnlichen Formulierungen gerade in unserem Lande - vielleicht ist das auch der Grund, warum in diesem Parlament, in seinen Gremien und in vielen Gremien außerhalb dieses Hauses so intensiv gerungen worden ist - mehr verspricht, als das nach der Rechtstradition in anderen Ländern der Fall ist. Nun ist dieser Weg beschritten worden. Dann müssen wir allerdings auch bei anderen um Verständnis dafür werben, daß wir bei einer solchen Lösung ein anwendbares Recht haben wollen und daß die Begriffe so klar sein müssen, wie nur irgend möglich. Das ist sicherlich an einigen Stellen im Rechtsausschuß noch sehr viel genauer zu erörtern.
Ich hoffe, daß sich Herr Altmaier irrt - obwohl ich seinen größeren Einblick in dieser Frage nicht in Zweifel ziehen will -, wenn er meint, daß hier nichts mehr zu ändern ist. Ich hoffe vielmehr, daß sich eben doch noch etwas im Sinne der größtmöglichen rechtlichen Klarheit verändern lassen wird. Das ist wohl ein allgemeines Anliegen. Dann aber muß man auch sagen, daß mit den Mindeststandards vernünftigerweise ein Weg zur Weiterentwicklung und eine erste Barriere gefunden worden ist. Man kann dann nicht von einem Einbruch reden.
Was ich in diesem Zusammenhang und bei der Art, wie hier diskutiert worden ist, am wenigsten verstehe, Herr Beck, ist, daß Sie an die formale Regelung des Zugangs zum Europäischen Gerichtshof anknüpfen wollen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir als Bundestag vor einiger Zeit gemeinsam beschlossen! Abg. Robert Antretter [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313134700
Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1313134800
Ich bitte um Verständnis, daß ich jetzt mit dieser Bemerkung zum Abschluß kommen will, Herr Antretter.
Herr Beck, wenn hier vernünftige Regeln klar und deutlich aufgestellt werden und von möglichst vielen Menschen mitgetragen werden - dafür wird weiter geworben werden; von all dem, worüber hier diskutiert und was schließlich vereinbart werden wird, geht auch eine Wirkung aus -, dann muß man annehmen, daß das eine positive Wirkung hat. Es ist nicht so, daß wir ohne ein Gericht und insbesondere ohne Klagen von Verbänden im eigenen Namen hier nicht weiter kämen. Wir tun einen wichtigen Schritt zu einer Weiterbildung des Bewußtseins und zur Verankerung der Standards, die bei uns schon vorhanden sind, ohne uns zu behindern, unsere Standards weiterhin zu überprüfen, und zwar in Richtung auf mehr und keineswegs auf weniger Schutz. Mindestens das muß das Ziel sein.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehen Sie einmal, was im Gentechnikgesetz für eine Tendenz da ist!)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313134900
Ich gebe nun dem Abgeordneten Wolfgang Bierstedt das Wort.

Wolfgang Bierstedt (PDS):
Rede ID: ID1313135000
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit geraumer Zeit ist zu beobachten gewesen, daß Bioethik nicht nur eine besondere Mode der philosophischen Ethik wurde. Vielmehr hatte sich unter diesem Losungswort geradezu eine europäische Bewegung gebildet, deren Zielrichtung im ganzen genommen eine Ab-

Wolfgang Bierstedt
kehr vom ethischen Leitbild der individuellen Würde und Integrität eines jeden einzelnen Menschen ist.
Das fand seinen Niederschlag im ersten Entwurf, den wir zu behandeln hatten. Hier, Herr Kollege Altmaier, irrten Sie leider in Ihren Ausführungen: Es ist gerade nicht das Beratungsgremium gewesen, das diesen Entwurf, der sehr kritikwürdig ist und auch von uns kritisiert wurde, an das Licht der Öffentlichkeit gebracht hat, sondern er wurde vorrangig von Menschen, die sich kritisch mit diesem Entwurf auseinandergesetzt hatten, an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Wenigstens das sollten wir schamvoll eingestehen.
Trotz der Änderung des Namens der Konvention - der Begriff „Bioethik" wird nun vermieden - bleiben die wesentlichen Züge dieser Ethikkonzeption sichtbar. In Art. 2 des Konventionsentwurfes wird den Interessen und dem Wohlergehen des Menschen zum Beispiel nur „Vorrang vor dem alleinigen Interesse von Gesellschaft und Wissenschaft" gegeben. Was soll das heißen, außer daß eine Abwägung zwischen diesen Interessen vorgenommen werden soll? - Dies widerspricht nicht nur meinem Verständnis von individuellen Menschenrechten, sondern auch dem Verständnis des deutschen Grundgesetzes.

(Beifall bei der PDS)

Der Schutz des Menschen muß Vorrang vor allen anderen Interessen haben, ob der Gesellschaft, der Wissenschaft oder gar der Wirtschaft.
Sicherlich enthält die neue Fassung des Konventionsentwurfes Verbesserungen, die auch der PDS wünschenswert erscheinen. Eine solche ist zum Beispiel das Diskriminierungsverbot in Art. 11. Selbstverständlich ist auch zu begrüßen, daß bestimmte Rechte der Konvention nicht durch nationales Recht eingeschränkt werden dürfen.
Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß viele Punkte äußerst unklar geregelt sind und damit einer sehr beliebigen Auslegung Tür und Tor offenhalten. Zum Beispiel: Garantiert diese Konvention Mindestrechte, die auch nur an einer Stelle eine Verbesserung der bisherigen Praxis europäischer Länder sicherstellen? Alleine die Artikel zum Schadensersatz, zur Sanktion bei Verstößen und zur Auslegung und Überwachung der Konvention lassen daran berechtigte Zweifel aufkommen. Unakzeptabel ist es, daß die Klage- und Anrufungsmöglichkeiten sehr stark beschränkt bleiben.
Gerade weil manche Artikel allgemein gehalten sind oder die Züge eines Formelkompromisses tragen - wie die nicht zustande gekommene Einigung über die Weitergbabe von genetischen Testergebnissen -, ist eine Bewertung des Konventionsentwurfes ohne die - nicht vorliegenden - Zusatzprotokolle notwendigerweise nur vorläufig. Die Sorge bleibt, durch die Zusatzprotokolle weitere Einschränkungen beim ohnehin geringen Schutzniveau hinnehmen zu müssen.
Vollkommen unakzeptabel bleiben die spezifischen Bestimmungen für sogenannte nichteinwilligungsfähige Menschen. Unabhängig von der Frage, was eigentlich genau darunter zu verstehen ist, wollen wir keinesfalls, daß vom Prinzip der individuellen Zustimmung abgewichen wird. Keinerlei Rechte und Interessen anderer Menschen rechtfertigen die Aushöhlung dieses Prinzips, das nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus im Nürnberger Kodex mit gutem Grund festgeschrieben wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Eine rechtliche Regelung, die dem Schutz aller Menschen dienen soll, darf keine Sonderregelung für eine Gruppe von Menschen enthalten, die im besonderen auf den Schutz der Gesellschaft angewiesen sind.
Aus unserer Sicht ist dieser Konventionsentwurf auch deswegen nicht zustimmungsfähig, weil sein Text kein eindeutiges Verbot der Keimbahnmanipulation garantiert und der Forschung an für die künstliche Befruchtung erzeugten überzähligen Embryonen keinen Riegel vorschiebt.
Sofern Änderungen am Vertragstext nicht mehr zu erreichen sind, bleibt aus unserer Sicht auch die Nicht-Ratifizierung als Möglichkeit bestehen. Der Verlust des mit vielen Fragezeichen versehenen Schutzniveaus der Konvention ist wesentlich geringer als der mögliche Verlust des Schutzes der Menschenwürde und des Rechtes auf körperliche Integrität, festgeschrieben in den bisherigen nationalen Regelungen dieser Republik.
Danke.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313135100
Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Sigrun Löwisch.

Sigrun Löwisch (CDU):
Rede ID: ID1313135200
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir diskutieren heute im Bundestag darüber, wie ethische Grundsätze der Menschenrechte in der Biomedizin europaweit und natürlich auch darüber hinaus durchgesetzt werden können. Ich meine auch am Ende dieser Debatte noch, daß es unser gemeinsames Ziel ist - ich möchte das noch einmal unterstreichen -, die Rechte jedes einzelnen Menschen zu schützen.
Wir sind uns aber doch hoffentlich auch darüber einig, daß wir nicht nur Ethik einfordern, sondern im Umgang mit diesen sensiblen Fragen selbst eine hochstehende Diskussionsethik einzuhalten haben. Dazu gehört, daß wir alles unterlassen, was in der Öffentlichkeit und besonders bei den Betroffenen unnötige Ängste auslösen und fördern könnte. Wir dürfen bei diesem Thema nicht emotional überzeichnen und Schlagworte gebrauchen, sondern wir müssen differenziert aufklären und besonders verantwortungsvoll diskutieren. Erfreulicherweise tun wir das ja auch immer wieder untereinander, und dabei können Antworten auf diese sensiblen Fragen im kleinen Kreis manchmal leichter gesucht werden.
Selbstverständlich soll das aber nicht heißen, daß wir keine öffentliche Diskussion wollen. Diese Konvention wurde nach anfänglichen Fehlern ausführlich öffentlich diskutiert - für völkerrechtliche Ver-

Sigrun Löwisch
träge ein ganz außergewöhnlicher Vorgang, aber natürlich ein notwendiger. Die bisherige Diskussion hat dazu geführt, daß sich die Parlamentarische Versammlung des Europarates einige wesentliche Dinge auf Antrag der deutschen Parlamentarier, denen auch ich heute noch einmal dafür danken möchte, zu eigen gemacht hat.
Nun ist es selbstverständlich unser gemeinsames Anliegen, daß diese Empfehlungen in der Beratung des Ministerkomitees ihren Niederschlag finden. Herr Minister Schmidt-Jortzig, ich freue mich, daß Sie noch da sind. Die Bundesregierung muß nun darauf einwirken, daß diese Punkte in die Konvention eingearbeitet werden, zum Beispiel bei der Embryonenforschung. Ihre Vorgängerin, unsere Kollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sagte dazu in der letzten Bundestagsdebatte über dieses Thema:
Mit uns darf es kein Zurückgehen hinter den mit dem deutschen Embryonenschutzgesetz erreichten Schutzstandard geben.
Das gilt für uns auch heute noch, und das geben wir Ihnen heute erneut - ich denke, im Namen des ganzen Hauses - mit auf den Weg nach Brüssel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die verbrauchende Embryonenforschung muß verboten werden, auch wenn die Embryonen bei künstlicher Befruchtung überzählig sind. In Art. 18 Abs. 1 des Entwurfs des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin heißt es:
Soweit das Recht ... Forschung an Embryonen in vitro zuläßt, gewährleistet es einen angemessenen Schutz des Embryos.
Herr Minister, hinterfragen Sie bitte in Brüssel, was „angemessen" genau bedeutet. Dem Entwurf des erläuternden Berichtes ist dies nicht zu entnehmen.
Eine weitere, dringende Bitte an die Bundesregierung ist, daß sie darauf einwirkt, daß der Entwurf des erläuternden Berichts zur Bioethik-Konvention zuerst im Lenkungsausschuß abschließend beraten wird. Ich meine, das ist unerläßlich für eine sachgerechte Würdigung der Konvention insgesamt; denn der erläuternde Bericht ist eine verbindliche Interpretation der Konvention und notwendig für das Verständnis ihrer unbestimmten Begriffe und offenen Formulierungen. Schon deshalb wäre eine abschließende Beratung im Ministerkomitee verfrüht. Auch wenn das Ministerkomitee erst Mitte November endgültig beschließen würde, würde es uns mit dieser Vorgehensweise vor den Kopf stoßen. Das wäre nicht richtig.
Zu einer weiteren Frage. Besonders großer Diskussionsbedarf besteht sowohl in den Parlamenten wie auch in der Öffentlichkeit zu Art. 17 Abs. 2, in dem geregelt ist, wann bei Menschen, die nicht einwilligungsfähig sind, geforscht werden darf, ohne daß diese - ich unterstreiche das - einen unmittelbaren Nutzen davon haben. Das Diakonische Werk schreibt ganz zutreffend in einer seiner Stellungnahmen: „Das Leben hat Vorrang vor anderen Zwecken."
Wenn der Erhalt des Lebens aber oft nur medizinischen Forschungen zu verdanken ist, frage ich mich persönlich, ob wir dann nicht konsequenterweise bei Art. 17 Abs. 2 ja sagen müßten, zumindest was die Forschung an Kindern und für Kinder angeht; denn junge Kinder, besonders aber Säuglinge und Kleinkinder, sind ausnahmslos nicht in der Lage, Forschungsvorhaben zuzustimmen. Sie werden es auch nie sein. Das kann aber doch nicht bedeuten, daß Forschungsvorhaben in der Pädiatrie nicht mehr möglich sein können, nur weil der unmittelbare Nutzen bei der einen Gruppe von Kindern nicht gegeben ist.
Niemand von uns, die wir hier sitzen, will das Rad der Erfolge - zum Beispiel bei der Heilung von Leukämien im Kindesalter, die Erwachsene nicht haben, oder bei dem Verhindern der Kinderlähmung durch Impfungen - zurückdrehen. Da bei diesen und ähnlichen Erfolgen bei der Bekämpfung von Kinderkrankheiten immer auch der Vergleich mit gesunden Kindern, die aber dadurch keinen unmittelbaren Nutzen haben, unabdingbar war und ist, hätte es bei einem Verbot der Forschung an Kindern diese Erfolge mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht gegeben.
Hinter jeder therapeutischen Erfolgsmeldung aus der Onkologie steht eine jahrelange Grundlagenforschung, zu der auch Blutproben von gesunden Kindern unerläßlich sind; denn man kann aus Befunden bei Erwachsenen nicht einfach auf die Situation bei Frühgeborenen, Neugeborenen, Säuglingen und Kindern schließen.
Selbstverständlich muß es zum Schutze der Kinder bei Forschungsvorhaben strenge Bedingungen geben. Diese sind in der Konvention verankert. Hier lasse ich durchaus mit mir reden. Wir sollten gemeinsam versuchen noch bessere Bedingungen zu finden oder schon verankerte Bedingungen zu verschärfen. Aber ich sehe voraus, daß wir den Leidensdruck von Eltern und Kindern nicht aushalten werden, wenn diese das Recht auf medizinischen Fortschritt und Heilung bei uns einfordern.
Ich bitte Sie deswegen eindringlich, mit uns gemeinsam diese Punkte in diesem Hause zu überdenken. Wir sind weiterhin zu gemeinsamen Gesprächen und zur Zusammenarbeit bereit.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313135300
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der gemeinsame Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5841 soll in dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK)

Bericht über die Kontrolltätigkeit gemäß § 6 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes

(Berichtszeitraum: Juni 1994 bis Juni 1996) - Drucksache 13/5157 -

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für 'die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zur Berichterstattung dem Abgeordneten Willfried Penner das Wort.

Dr. Willfried Penner (SPD):
Rede ID: ID1313135400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist der dritte Bericht, den die Parlamentarische Kontrollkommission dem Plenum und damit der Öffentlichkeit vorstellt. Der Bericht belegt, daß die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste im gesetzten und gesetzlichen Rahmen stattfindet und auch funktioniert.
Zuvörderst möchte ich dem früheren Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Konrad Porzner, für seine engagierte Tätigkeit danken. Der BND hat im Berichtszeitraum schwierige Zeiten erleben müssen, die nicht zuletzt durch die persönliche Integrität des bisherigen Präsidenten durchgestanden werden konnten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der neue Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Herr Dr. Geiger, hat erleben müssen, wie stürmisch es in seiner neuen Funktion zugehen kann - dies um so mehr, als auch beim BND tiefgreifende Veränderungen angesichts einer fundamental veränderten Weltlage durchgesetzt werden müssen. Erste Schritte sind eingeleitet; weitere müssen folgen. Auch deshalb ist die Entscheidung von Herrn Dr. Geiger richtig, in der Öffentlichkeitsarbeit nicht zu zaghaft zu sein.
Die Dienste leisten nach wie vor einen notwendigen Beitrag zur inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Gerade im Hinblick auf die politischen Erschütterungen in der früheren Sowjetunion und die damit verbundenen Unwägbarkeiten auch für Deutschland und gewiß auch im Hinblick auf die vom nordafrikanischen und nahöstlichen Raum her bestimmten, immer aggressiver werdenden Unruheherde mit Wirkung bis nach Europa hin ist Informationsbeschaffung für verantwortliche deutsche Politik auch über die diskreten Möglichkeiten der Auslandsaufklärung geboten.
Was die Inlandsinformation angeht, sind die Rufe nach dem BfV aus allen politischen Lagern - aus unterschiedlichem Anlaß, mit unterschiedlicher Zielsetzung - unüberhörbar. Das kann man ohne Zwang auch als ein Votum für die Existenzberechtigung des BfV werten.
Die weiten Felder, die die PKK sorgfältig begleitet und über die sie sich regelmäßig intensiv berichten läßt, spiegeln sich in dem neuen Bericht der PKK wider. Ich möchte speziell auf einige Punkte eingehen:
Erstens. Der Plutoniumschmuggel von Moskau nach München im Juni 1994 hat selbstverständlich die Parlamentarische Kontrollkommission wiederholt beschäftigt. Nach der Einsetzung des Untersuchungsausschusses des Bundestages hat die PKK ihre eigenen Erhebungen unterbrochen. Aber nach Vorliegen des Abschlußberichts des Untersuchungsausschusses wird die PKK zu prüfen haben, ob der BND oder einzelne seiner Mitarbeiter Fehler, Versäumnisse und Unterlassungen zu vertreten haben, die im Untersuchungsausschuß nicht abschließend behandelt werden konnten. Insbesondere wird auch die Frage zu klären sein, ob die Aufsicht durch den Chef des Bundeskanzleramts so funktioniert hat, wie es gesetzlich vorgesehen ist.
Zweitens. Zu den jüngst bekanntgewordenen Versuchen deutscher Finnen, illegal Anlagenteile, die zur Herstellung von Chemiewaffen geeignet sind, von Deutschland über Belgien nach Libyen zu verbringen, stelle ich nach einem einstimmigen Votum der PKK fest: Es gibt für eine Beteiligung, eine Beihilfe oder eine unterstützende Mittäterschaft des BND, wie vereinzelt behauptet, keine tatsächlichen Anhaltspunkte. Anderslautende Behauptungen entbehren jeder Grundlage. Ich wiederhole: Diese Äußerung beruht auf einem einstimmigen Votum der PKK.
Drittens. Die Parlamentarische Kontrollkommission strebt die Anpassung der Bundeshaushaltsordnung an, um die ihr durch die Novelle des PKK-Gesetzes auferlegte Aufgabe der Kontrolle auch des Haushaltsvollzugs bei den Diensten zu ermöglichen. Diese Kontrolle würde erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht, wenn der Kommission die nach jetziger Rechtslage nur dem Vertrauensgremium zugehenden Prüfungsberichte des Bundesrechnungshofs vorenthalten oder nur nach jeweiliger Zustimmung durch die Mitglieder des Vertrauensgremiums zugänglich gemacht würden.
Viertens. Erwähnenswert ist auch die verbesserte Beteiligung des Personalrats des BND in Personalvertretungsangelegenheiten. Diese Regelung war überfällig. Es bleibt das Problem einer Mitwirkung solcher Angehöriger des Dienstes, die als Soldaten aus dem Geschäftsbereich des BMVg abgeordnet sind. Für diesen Personenkreis sind weiterhin nur die eingeschränkten Mitwirkungsrechte nach dem Soldatengesetz maßgebend. Das darf nicht so bleiben.
Ein abschließendes Wort zur Kontrollfähigkeit und zum Inhalt der Kontrolle der PKK. Erstens. Nicht immer ist die Bundesregierung den von Gesetzes wegen statuierten Berichtspflichten so nachgekommen, wie es vom Gesetz gemeint ist.
Zweitens. Die Kontrolle der Dienste durch das Parlament erscheint zu differenziert. Das heißt, Konzentration der Kontrolle und nicht Aufgliederung der

Dr. Willfried Penner
Kontrolle in verschiedene Gremien erscheint wünschenswert.
Drittens. Was den Inhalt der Kontrolle angeht, so besteht Anlaß, darauf hinzuweisen, daß auch die Dienste Teil des demokratischen Ganzen sind und folglich einen Anspruch haben, als solches akzeptiert zu werden. Damit ist ein die parlamentarische Kontrollpflicht überwucherndes diffuses Mißtrauen nicht vereinbar. Andererseits ist nicht jede Aktion der Dienste schon deshalb in Ordnung, weil es dabei um staatliches Handeln oder gar um Regierungshandeln geht.
Meine Damen und Herren, die parlamentarische Kontrolle der Dienste mußte gegen hinhaltende, bängliche Zweifel der Exekutive durchgesetzt werden. Das Parlament sollte alles daransetzen, die damit verbundenen Möglichkeiten zu nutzen, sie nicht zu schmähen, aber, wo immer es geht, sie auszubauen.
Damit es nicht vergessen wird: Das Sekretariat - allen voran Ministerialdirektor Besch und Ministerialrat Schmidt - hat im Rahmen seiner Möglichkeiten handwerklich erstklassige Arbeit zur Unterstützung der Parlamentarischen Kontrollkommission geleistet. Auch dies sollte einmal, verbunden mit einem Wort des Dankes, von dieser Stelle aus geäußert werden.
Schönen Dank.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313135500
Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann.

Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1313135600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eine gesetzliche Regelung, daß wir eine Kontrollkommission haben. Es ist gut, glaube ich, daß wir hier berichten. Der Bericht ist erschöpfend, was die Themenbereiche anbelangt. Ich will mich darauf beschränken, über die Arbeit ganz allgemein und vielleicht über die Chancen einer Erweiterung des Tätigkeitsumfeldes zu reden.
Der Vorsitzende hat ganz richtig darauf hingewiesen, daß es im Berichtszeitraum eine gute Arbeit war. Wir wissen alle, daß es politische Meinungsverschiedenheiten gibt. Kollege Such behauptet immer, man könnte die Dienste irgendwann entbehren. Er kritisiert und mahnt öffentlich an - wie sich aus dem Bericht ergeben hat -, daß die Kontrolle nicht so sei, wie sie seiner Meinung nach sein sollte. Er hat kürzlich auch erklärt, daß er im Kontrollieren durch Kollegen behindert werde. Das ist alles unter der Rubrik politische Stimmung zu verbuchen.
In der PKK ist die Arbeit sehr, sehr sachlich und auf Zusammenarbeit gerichtet. Ich meine, die Kontrolltätigkeit funktioniert. Der öffentlichen Kritik an den Diensten sollte begegnet werden. Ich halte es - auch mit Blick auf die Dienste - für unerträglich und unfair, daß man in der Öffentlichkeit immer anders redet als hi den geschlossenen Räumen.
Ich will ein paar Bereiche nennen, bei denen wir meiner Meinung nach etwas reformieren sollten: Erstens. Im Sinne des schlanken Staates halte ich die
Kontrolle durch das Parlament für zu zerfasert. Herr Penner hat sich auch dazu geäußert. Wir sollten einmal daran denken, G 10, AWG und PKK unter einem Dach zusammenzuführen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr richtig!)

Das hätte mehr Effektivität, wäre auch sicherlich für die Exekutive etwas klarer.

(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein)

Ich möchte an die Erklärung der Bundesregierung vom 12. März 1992 erinnern, in der sie zugesagt hat, „daß es Angehörigen der Dienste gestattet ist, sich zur Verbesserung der Aufgabenerfüllung mit Hinweisen an die PKK zu wenden, soweit die Leitung der Dienste entsprechenden Verbesserungsvorschlägen nicht gefolgt ist." Ich halte die Regelung zumindest insoweit für erweiterungsfähig, als ich nicht ganz einsehe, wieso Verbesserungsvorschläge immer erst dann zu uns kommen können, wenn sie vorher auf dem Dienstwege abgelehnt worden sind. Warum soll es nicht möglich sein, Verbesserungsvorschläge - sicher nicht hinter dem Rücken des Vorgesetzten, aber parallel mit einer Kenntnisnahme durch den Vorgesetzten - auch der PKK zukommen zu lassen?
Ich frage mich auch: Warum können es immer nur Verbesserungsvorschläge sein? Interessant wären auch Kritikpunkte oder Mängelanzeigen. Wenn wir schon Transparenz wollen - ich halte das für richtig und halte auch die Linie des Präsidenten Geiger für richtig -, dann sollten wir uns auch überlegen, ob wir hier nicht zu weiteren Schritten kommen können, um die Transparenz zwischen den Diensten und dem geheimen Gremium der Kontrollkommission zu intensivieren.
Man sollte sich für die Zukunft vielleicht auch vornehmen, den engen Kontakt mit der Personalvertretung der Dienste zu suchen. Wir müssen uns fragen, ob wir uns nicht vornehmen sollten, mindestens ein-, zweimal im Jahr das Gespräch mit diesem gewählten Gremium der Dienste zu suchen. Wenn die Dinge in der Öffentlichkeit schon immer etwas suspekt dargestellt werden, wäre es durchaus vertretbar, den gewählten Vertretern der Mitarbeiter der Dienste in der PKK eine Bühne zu bieten, auf der sie sich auch ihrerseits immer wieder einbringen können, auf der sie versuchen können, sozusagen ein Gegengewicht zu der öffentlichen „Bedenkenträgerei" zu bilden. Ich glaube, hiermit würden wir der Personalvertretung der Dienste einen guten Dienst erweisen.
Insgesamt glaube ich, daß wir in der Öffentlichkeit und in diesem Parlament immer wieder gemeinsam deutlich machen müssen, daß wir die Dienste brauchen, auch wenn sich die Situation in der Welt wegen der Entspannung anders darstellt als früher. Wenn man an Waffenexport, an Drogenbedrohung, an organisierte Kriminalität und wenn man vielleicht auch an das große Feld der Wirtschaftsspionage denkt, so wird es, fürchte ich, immer Aufgaben für demokratische Dienste geben, die - das ist auch sicher - immer einer Kontrolle bedürfen, damit die Dinge im Lot eines demokratischen Staates bleiben.

Wolfgang Zeitlmann
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313135700
Herr Kollege Norbert Gansel, Sie haben das Wort.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1313135800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich als Kontrolleur zu Nachrichtendiensten äußert, steht leicht im Verdacht, sich zwischen Paranoia und Naivität zu bewegen. Ich will das Risiko eingehen und als Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der Parlamentarischen Kontrollkommission für die Nachrichtendienste ein paar ergänzende Bemerkungen machen.
Ich verbinde das mit einer bislang positiven Erf ah-rung: Unsere Arbeit verläuft nicht entlang der Linie zwischen Regierung und Opposition und erst recht nicht entlang der Linie zwischen Parteien. Das ist eine positive Erfahrung, und deshalb ist das, was ich sage, vielleicht auch im Sinne manch anderen Kommissionsmitgliedes.
Unsere Aufgabe ist schwierig. Erstens. Wir haben mehr Mitarbeiter zu kontrollieren, als das Auswärtige Amt weltweit hat, und größere Finanzmittel, als sie etwa der Etat des Gesundheitsministeriums umfaßt.
Zweitens. Die Kommission tagt geheim. Abgeordnete sind aber von öffentlichen Leistungsnachweisen abhängig. Deshalb ist die Kontrollarbeit für uns alle nur eine parlamentarische Nebentätigkeit. Dabei müßten die Dienste in jeder Beziehung mehr Zuwendung erhalten.
Drittens. Wir sollen die Bundesregierung kontrollieren, aber wir sind darauf angewiesen, daß sie sich durch die Einhaltung der ihr nach dem Gesetz obliegenden Informationspflichten zu „Vorkommnissen von besonderer Bedeutung" auch kontrollieren läßt. Wir bewegen uns also zwischen Mißtrauen und Vertrauen und müssen dabei in gemeinsamer Verantwortung der Gefahr der Kumpanei entgehen.
Viertens. Wir sind auf die öffentliche Berichterstattung über die Nachrichtendienste angewiesen. Wir brauchen eine kritische Presse, die über Fehlleistungen und Affären berichtet. Diesen nachzugehen ist auch Aufgabe unserer Kommission, ist Teil unserer Kontrolle.
Auch wenn nicht alles stimmt, was in der Zeitung steht oder im Fernsehen berichtet wird: Die Kontrollkommission ist nicht für das Bild der Nachrichtendienste in der Öffentlichkeit zuständig und erst recht keine Dementiermaschine. Bei falschen und gravierenden Vorwürfen an die Dienste und ihre Mitarbeiter müssen wir uns aber schützend vor sie stellen, denn Kontrolle enthält auch ein Element der Fürsorge. Das haben wir auch in Einzelfällen getan; aber es muß die Ausnahme bleiben.
Ich verbinde das mit der Aufforderung an die Dienste, selbst mehr für ihre öffentliche Darstellung und für die Öffentlichkeitsarbeit zu tun. Das gilt insbesondere für den Bundesnachrichtendienst. Er kann
sich am Verfassungsschutz ein gutes Beispiel nehmen.
Öffentlichkeitsarbeit ist auch ein Element der Kontrolle und der Selbstkontrolle. Es bringt den Dienst aus dem zum Teil selbst verschuldeten Schlapphutmilieu heraus. Man kann auch über Erfolge und Leistungen berichten, ohne Geheimnisse zu verraten. Ich meine, daß das im Interesse der Mitarbeiter notwendig ist.
Auch mein zweiter Vorschlag erfolgt im Interesse der Mitarbeiter. Die Dienste sind im Interesse der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik in der Nachrichtengewinnung tätig. Wir brauchen dafür qualifizierte und motivierte Mitarbeiter, die sich an Gesetz und Recht der Bundesrepublik und an das Völkerrecht halten müssen.
Wer sich in diesem Rahmen bewegt, hat es bei der Nachrichtengewinnung schwerer als ähnliche Dienste manch anderer Staaten, und er ist dabei in Grenzsituationen stärker gefährdet und manchmal auch existentiell gefährdet. Das gilt besonders, wo es um die Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln geht. Wir sollten das nie vergessen und dem Respekt zollen.
Mit dem Ende des Kalten Krieges muß die Aufgabenstellung der Dienste überprüft werden. Die Zahl der Mitarbeiter kann reduziert werden, aber nicht nach dem Motto der Bundesregierung - allgemeine Kürzung von 20 Prozent - oder des F.D.P.-Fraktionsvorsitzenden - 50 Prozent reduzieren - oder des Kollegen Such von den Grünen, der eine Null-Lösung mit Sozialplan fordert. So kann man mit den Mitarbeitern und mit den Diensten nicht umgehen. Und deshalb: Wir brauchen ein klares Konzept für die Aufgabenstellung und die Personalführung. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, uns dieses Konzept vorzulegen, und ich fordere es ein.
Mein dritter Vorschlag: Es ist oft die Frage gestellt worden, ob die Kontrolle ausreichend ist. Sie kann verbessert werden. Sie ist schon besser als in anderen Staaten. Man kann darüber diskutieren, ob man einen Geheimdienstbeauftragten braucht - so ähnlich wie einen Wehrbeauftragten -, aber niemand käme doch auf die Idee, den Verteidigungsausschuß abzuschaffen, weil es einen Wehrbeauftragten gibt. In jedem Fall bleiben Aufgaben für den Kontrollausschuß bestehen. Sie könnten allerdings in dem Sinne ergänzt und gestrafft werden, wie es der Kollege Zeitlmann vorgeschlagen hat.
Das wichtigste Element der Kontrolle ist und bleibt das Haushaltsrecht des Parlaments. Wer die Zahlen, die ehemalige Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes über Etat und Mitarbeiter in der Öffentlichkeit nennen, mit den Haushaltsansätzen in der Bundestagsdrucksache vergleicht, stellt fest, daß da irgend etwas nicht stimmen kann. Im Bericht der Kontrollkommission steht dazu, „daß wir uns bemühen, das Haushaltsrecht transparenter und konzentrierter zu machen". Wir sind inzwischen ein Stückchen weiter.
Ich will den Abstimmungen im Vertrauensmännergremium und im Haushaltsausschuß und der Ein-

Norbert Gansel
sichtsfähigkeit der Bundesregierung nicht vorgreifen. Aber wir stehen in der verfassungsrechtlichen Pflicht, das Königsrecht des Parlaments, das Haushaltsrecht des Bundestages, auch bei den Nachrichtendiensten zu wahren. Der Bundestag kann nicht im öffentlichen Plenum über Wirtschaftspläne abstimmen und erst recht nicht über operative Maßnahmen und die Gelder dafür. Aber die Abgeordneten des Bundestages müssen bei der Abstimmung über das jährliche Haushaltsgesetz wissen, wie hoch die Gesamtkosten eines jeden Nachrichtendienstes sind, beim Bundesnachrichtendienst wie beim Verfassungsschutz und beim Militärischen Abschirmdienst.

(Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.] und der Abg. Ulla Jelpke [PDS])

Der ungeschriebene Verfassungssatz von der Wahrheit und Klarheit des Haushalts bedeutet nicht, daß über jedes Detail im Bundestag abgestimmt werden muß. Aber er bedeutet, daß uns nichts Falsches oder Verstecktes zur Abstimmung im Plenum vorgelegt werden darf.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])

Wenn da nichts an dem noch in der Beratung befindlichen Haushaltsentwurf korrigiert wird, werden wir es hier im Bundestag machen müssen. Die Initiative liegt zunächst bei den zuständigen Ausschüssen und der Bundesregierung.
Zum Schluß ein Wort des Dankes an den zurückgetretenen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Konrad Porzner, der mit viel Integrität und auch Tapferkeit sein Amt versehen hat und dem bei einer wichtigen Personalentscheidung die Rückendeckung der Bundesregierung gefehlt hat.

(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Na! Na! Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt lobt er doch einmal ein bißchen!)

Wir wünschen, daß der neue Präsident, Herr Geiger, bei den notwendigen Entscheidungen, die er treffen muß, diese Rückendeckung hat. Er hat sich durch seine Arbeit in der Gauck-Behörde dafür viel Vertrauen erworben. Wir wollen ihm Mut machen für seine Arbeit.
Ich danke auch dem unter unbefriedigenden Umständen ausgeschiedenen ehemaligen amtierenden Vizepräsidenten des BND, Admiral Güllich, für seine Arbeit. Auch er hat sich Respekt erworben.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bernd Schmidbauer [CDU/CSU])

Wir wünschen auch dem neuen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und auch seinem neuen Vizepräsidenten für ihre Arbeit eine glückliche Hand im Rahmen unserer Gesetze.
Wir leisten dazu unseren Beitrag, indem wir sie und auch Sie, Herr Schmidbauer, kontrollieren, der Sie als Staatsminister im Bundeskanzleramt zwar nicht für die Dienste verantwortlich sind - das ist der Chef des Bundeskanzleramtes -, der Sie uns aber zur Verantwortung angeboten werden und sich auch selber anbieten. Wir werden Sie weiter so kontrollieren, wie wir es bisher getan haben.
Für diese Arbeit brauchen die Mitglieder der Kontrollkommission das Vertrauen ihres, unseres Parlaments. Wir sind ja in einer schwierigen Situation: Wir bürgen gewissermaßen für die Arbeit, die wir leisten, gegenüber Ihnen und gegenüber der Öffentlichkeit, aber wir sind selbst nicht in der Lage, die Kontrolle in der Öffentlichkeit des Parlaments im Detail darzustellen. Wir brauchen also eine Portion Vertrauen, und auch darum bitte ich.
Danke sehr.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313135900
Das Wort hat der Kollege Manfred Such.

Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313136000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach jahrelangen Widerständen haben Sie sich im letzten Jahr entschlossen, einen Vertreter meiner Fraktion in das Gremium der Parlamentarischen Kontrollkommission zu wählen. Für diesen Vertrauensbeweis möchte ich mich auch bei meinen Kollegen in der PKK bedanken.
Ich bin mit großen Erwartungen in die Sitzungen der PKK gegangen, um dort gemeinsam mit den Vertretern der anderen Fraktionen das gesetzlich vorgesehene Kontrollrecht ausüben zu können. Meine Erwartungen wurden nicht immer erfüllt. Dies hat verschiedene Gründe, auf die ich nur exemplarisch eingehen kann.
Vorab: Wie das Bundesverfassungsgericht vor allem in seinen Abhörentscheidungen zur Anwendung des G-10-Gesetzes mehrfach ausgeführt hat, sind bestimmte Aktivitäten des Bundesnachrichtendienstes jedenfalls rechtlich allenfalls dann hinnehmbar, wenn unter anderem eine effektivere parlamentarische Kontrolle besteht. Dies ist trotz mehrfacher Rechtsänderungen derzeit nicht der Fall, weil zwischen einem geheim arbeitenden Dienst und dem Anspruch weitgehender Kontrolle ein strukturelles Spannungsverhältnis besteht. Einfach gesagt: Geheimdienste und Kontrolle schließen sich im Grunde aus.

(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [PDS])

Es ist den Medien zu verdanken, daß die sogenannten BND-Skandale ans Tageslicht kamen. Daraufhin mußten sich zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse immer wieder mit den Geheimdiensten befassen. Das Problem der Kontrolle liegt also zu großen Teilen in der mangelhaften und lückenhaften Unterrichtung der zuständigen Abgeordneten. Es ist hervorzuheben, daß diese Unterrichtung nach meinen Erfahrungen nicht durch den BND oder das Bundesamt für Verfassungsschutz bzw. den MAD blockiert wird, sondern durch die Bundesregie-

Manfred Such
rung selbst, und zwar in Gestalt unseres Staatsministers, Herrn Schmidbauer.

(Widerspruch des Abg. Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU])

Es wird offenbar immer nur über das berichtet, was der Bundesregierung opportun erscheint. Die PKK-Mitglieder können oft nur dasjenige aufklären, was sie ohnehin schon aus anderen Quellen erfahren haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Selbst die 1992 beschlossene, aber nur dürftige Erweiterung der Kontrollbefugnisse von PKKMitgliedern bis hin zum Akteneinsichtsrecht und Vernehmungsrecht von Bediensteten stellt keine eigentliche Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten dar. Es ist nämlich für einen Abgeordneten kaum zu leisten, diese Kontrolle ohne entsprechenden Unterbau zu praktizieren.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Mit geistigem Überbau wäre es besser als mit Unterbau!)

Ein anderes Mitglied der PKK hat das einmal so ausgedrückt: „Die Häuptlinge haben keine Indianer zum Spurensuchen."
Erfreulicherweise gibt es jedoch seit der Münchener Plutonium-Affäre eine breite Diskussion - sie wurde hier fortgesetzt - über die Verbesserung der Kontrolle. Ich vertrete die Auffassung, daß die PKK mit einem entsprechenden Unterbau eine effektivere Art der Kontrolle darstellt.
Weiterhin ist auch das Selbstverständnis der PKK gemeinsam und neu zu definieren, frei von Fraktionszwängen. Neben der selbstverständlich erscheinenden Beteiligung aller Fraktionen und der Gruppe im Bundestag ist zu fragen, ob die Fraktionen mit gleicher Stärke in der PKK vertreten sein sollten.
Zum Selbstverständnis der PKK-Mitglieder gehört auch, daß sie sich nicht als Teil der Bundesregierung und schon gar nicht als Teil des Bundesnachrichtendienstes oder der anderen Dienste verstehen. Die PKK ist auch kein Personalrat des Bundesnachrichtendienstes; der ist dort bereits installiert.
Abzuwarten bleibt auch das Ergebnis des Plutonium-Untersuchungsausschusses, der sich ebenfalls zur Frage der wirksamen Kontrolle äußern wird.
Fest steht: Solange Geheimdienste in Deutschland arbeiten, sind die Möglichkeiten zu deren Kontrolle erheblich auszubauen.
Zum Schluß möchte auch ich meinen Dank - der Vorsitzende hat das schon getan - an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats der PKK ausdrücken. Ohne sie wäre das nicht möglich gewesen, was wir an Arbeit in der Kommission leisten konnten. Ich möchte meinen Dank aber auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des MAD zum Ausdruck bringen, die sich nach ihren Möglichkeiten bemüht haben, die Arbeit der Kommission zu unterstützen. Gerade bei den Vertretern der Dienste hatte ich immer den Eindruck, daß die Kontrolle durch die Kommission akzeptiert wurde. Das gleiche ist von Herrn Staatsminister Schmidbauer nicht zu sagen. Wie er öffentlich erklärte, fühlte er sich durch eine Vielzahl von Fragen gestört.
Den neuen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz wünsche ich eine glückliche Hand. Ich unterstütze ausdrücklich die Forderung von Herrn Geiger, in die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes mehr Transparenz zu bringen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS - Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Du kannst dir nicht überlegt haben, was du gesagt hast! - Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Er sollte keine Interviews mehr geben! Das wäre noch besser!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313136100
Ich erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313136200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Tätigkeit des Nachrichtendienstes ist so nüchtern, wie der Kreis der anwesenden Kollegen klein ist.
Ich habe mich bei dem, was Herr Kollege Such eben vorgetragen hat, gefragt: Wenn Sie, Herr Kollege Such, wirklich der Meinung sind, daß Nachrichtendienst und parlamentarische Kontrolle nicht vereinbar sind, warum vergeuden Sie dann Ihre Zeit in der PKK?

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Lassen Sie es doch!
Wir haben uns in der PKK Rechte verschafft - auch im Einverständnis mit der Bundesregierung, und zwar exakt mit dem Kollegen Schmidbauer -, die vorher nicht vorhanden waren: die Akteneinsicht, die Sie erwähnt haben, und die Möglichkeit, Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes zu zitieren und unmittelbar zu befragen.

(Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht aber doch nicht!)

- Na gut, lassen Sie uns fortfahren und darüber reden, was weiter zu tun ist. - Wir bürgen dafür - wie der Kollege Gansel gesagt hat -, daß der Nachrichtendienst kontrolliert wird, wenn wir hier auch nicht sagen können, was wir im einzelnen tun, weil wir der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Ich bin es leid, daß immer wieder der Eindruck erweckt wird, wir wollten oder könnten unsere Arbeit nicht tun. Das hat mit der Wirklichkeit der Tätigkeit

Dr. Burkhard Hirsch
in der Parlamentarischen Kontrollkommission nichts zu tun.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt! Sie haben nicht zugehört!)

Noch einmal: Wenn Sie der Meinung sind, daß unsere Arbeit müßig ist - niemand zwingt Sie, sie fortzusetzen. Das muß ich einmal im Klartext sagen; wir haben Ihnen dies auch immer wieder persönlich mitgeteilt.

(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Draußen immer anders reden als drinnen!)

In diesem Bericht sind wir deutlicher geworden als im vorhergehenden. Wer zwischen den Zeilen lesen kann, kann eine Menge von dem erkennen, was wir sagen wollen.
Ich denke, daß das Sammeln und Bewerten von Informationen oder Erkenntnissen über die Tätigkeit ausländischer Nachrichtendienste, über Proliferation, politischen Extremismus und internationalen Terrorismus wichtig ist. Das alles sind Vorgänge, die man nicht überschätzen, die man aber auch nicht unterschätzen darf; denn es gibt sie.
Der Bundesnachrichtendienst arbeitet in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite muß er geheim arbeiten, sonst kann er nicht wirksam sein. Auf der anderen Seite ist eine parlamentarische Kontrolle für das Parlament ebenso wie für den Bundesnachrichtendienst selbst unverzichtbar; denn er kann auf Dauer nur erfolgreich arbeiten, wenn er von dem politischen Vertrauen der Kräfte des Staates getragen wird, dem er dient.
Der Bürger muß sicher sein, daß der Dienst keine Politik auf eigene Faust betreibt und daß unsere Gesetze nicht verletzt werden. Wir wollen sicher sein, daß das Gebot der Trennung zwischen Nachrichtendienst und Polizei gewahrt wird. Wir wollen Haushaltsklarheit und Effektivität. Ich sage Ihnen, daß die Kontrolle in der Bundesrepublik Deutschland straffer und eingehender ist als in irgendeiner anderen Demokratie dieser Erde.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der Nachrichtendienst hat in den zwei Berichtsjahren Erfolge und Mißerfolge gehabt. Er befindet sich in einem Prozeß der Umstrukturierung, wie es nach dem Ende des Kalten Krieges ganz unvermeidbar ist. Dieser Prozeß ist nicht abgeschlossen. Darum ist es wichtig, daß wir das Gespräch mit dem Personalrat, das wir begonnen haben, intensiv fortsetzen.
In der Tat müssen wir uns auch überlegen - die Frage ist berechtigt -, ob und wie wir die Tätigkeit der Parlamentarischen Kontrollkommission verbessern können; das gilt auch hinsichtlich der Mitarbeiter. Das ist keine Kritik an den Herren Besch und Schmidt; ich schließe mich der Anerkennung, die Herr Penner ihnen gezollt hat, in vollem Umfang an. Aber wir müssen das Sekretariat verstärken, damit wir uns nicht im vielen Kleinkram verlieren, sondern uns auf die wichtigen Punkte konzentrieren können.
Wir sollten auch die Möglichkeit haben, daß diese Mitarbeiter oder Personen unseres Vertrauens die Sitzungen intensiver vorbereiten, als das zur Zeit möglich ist.
Ich frage mich, ob das Nebeneinander der verschiedenen Gremien nach dem G 10 und dem Außenwirtschaftsgesetz wirklich aufrechterhalten und fortgeführt werden muß. Ich glaube, daß wir das ändern sollten.
In der Tat sollte die Zusammenarbeit mit dem Vertrauensmännergremium des Haushaltsausschusses viel intensiver werden, als dies bisher der Fall ist. Dazu sind eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht worden; darüber sollten wir entscheiden. Das alles bedeutet kein Mißtrauen gegenüber dem Dienst. Er ist besser als sein Ruf. Er und sein Präsident genießen unser Vertrauen.
Darum möchte ich abschließend die Gelegenheit nutzen, dem Dienst für seine Arbeit zu danken, die in unserem gemeinsamen Interesse erfolgt. Wir wünschen uns die Beachtung der Arbeitsergebnisse, die sie in unserem gemeinsamen Interesse finden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Norbert Gansel [SPD])


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313136300
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313136400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ein Mitglied der Oppositionsparteien in diesem Parlament, der PDS, muß ich zuerst einmal sagen, daß wir aus diesem Gremium eh ausgegrenzt sind.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist auch gut so!)

- Das mag Ihre Meinung sein. Das macht Ihren Bericht, den Sie vorgelegt haben, in meinen Augen jedoch nicht ernsthafter.
Ich sage ebenso wie Herr Such: Tatsächlich - ich bin nicht Mitglied Ihrer Kommission, kann das alles aber in Zeitungen nachlesen - sind in diesem Bericht Dinge enthalten, die zum Teil falsch - dazu werde ich gleich einige Beispiele nennen - bzw. unvollständig wiedergegeben werden. Dort werden Dinge dargestellt, die die Parlamentarische Kontrollkommission angeblich untersucht hat.
Ich meine auch, daß die Menschen in diesem Land dem Bericht kaum entnehmen können, wie die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste abläuft. Man hat heute versucht, hier einiges darzustellen. Schweigepflicht und ähnliche Dinge machen es aber, wie gesagt, eigentlich unmöglich, daß Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission irgend etwas sagen. Wenn dann kritische Stimmen kommen, wie beispielsweise die des Kollegen Such, wird meiner

Ulla Jelpke
Meinung nach immer gleich draufgedroschen. Ich finde das wirklich unmöglich.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Heute war das doch harmlos! Manfred Such [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt: Heute war das noch harmlos!)

- Ja, heute war es harmlos. Wir haben aber neulich hier eine Debatte geführt, die das sehr deutlich gemacht hat.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie erzählen so viel dummes Zeug, das geht auf keine Kuhhaut!)

Kollege Such hat angesprochen, daß es diverse Untersuchungsausschüsse gegeben hat. Es gibt immer noch einen, der seine Arbeit nicht abgeschlossen hat. Ich wundere mich über die hier geäußerte voreingenommene Meinung, daß beispielsweise der Staatminister Schmidbauer sozusagen von jeder Schuld schon befreit ist, obwohl es den Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses noch gar nicht gibt.

(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Der wird künstlich am Leben gehalten!)

Es gibt, wie gesagt, eine ganze Reihe von solchen Kommissionen.
Ich will ein Beispiel aus dem Bericht geben: Sie jubeln darüber, daß zwei BND-Mitarbeiter in dem Hamburger Prozeß freigesprochen worden sind. Sie sollen einen getarnten Export nach Israel vorbereitet haben. Sie geben der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis, daß das Gericht geurteilt hat, daß man nicht zwei Prügelknaben verurteilen wolle, wo doch im Grunde genommen solche Geschäfte gang und gäbe sind. Das heißt: Der Richter hat hier sehr deutlich seine Kritik zum Ausdruck gebracht. Ich meine, zumindest das müßte zur Kenntnis gebracht werden, wenn man von Kontrolle redet.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Erzählen Sie mal was von der Stasi, Frau Jelpke! Machen Sie mal einen Stasi-Bericht jetzt!)

- Herr Marschewski, bleiben Sie einmal ein wenig sachlich.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist sehr sachlich, ein Stasi-Bericht!)

- Ich weiß nicht, was das im Moment mit der Stasi zu tun haben soll. Wie Sie wissen, ist das MfS aufgelöst und ist von daher von der PKK nicht mehr zu kontrollieren. Das ist schon wirklich peinlich, was Sie hier bringen.
Aber ich will noch ein anderes Beispiel anführen. Es gibt den Fall des Verfassungsschutzspitzels Klaus Steinmetz. Was finden wir darüber in dem Bericht? - Nichts.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313136500
Frau Kollegin, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Lassen Sie, Herr Präsident! Es ist spät abends!)


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313136600
Ja, ich weiß; ich habe leider nur drei Minuten.
Ich möchte wenigstens zum Schluß sagen: Eines unterstütze ich, und das ist die Zusammenlegung aller Kontrollkommissionen. Ich möchte für die PDS die Forderung erheben, daß dann alle Parteien, die hier im Hause sind, vertreten sein sollen. Geheimdienste sind sowieso nicht zu kontrollieren, das hat mein Kollege Such schon gesagt. Aber wir könnten ernsthaft mitreden und Ihre Arbeit vor allen Dingen mit kontrollieren.

(Beifall bei der PDS Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Wir wollen den Bock nicht zum Gärtner machen!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1313136700
Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 10.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch das Gremium gemäß § 9 Abs. i des Gesetzes zu Artikel 10 des Grundgesetzes (G 10-Gremium)

Bericht gemäß § 3 Abs. 10 des Gesetzes zu Artikel 10 des Grundgesetzes (G 10) über die Durchführung der Maßnahmen nach § 3 dieses Gesetzes

(Berichtszeitraum 1. Dezember 1994 bis 31. Mai 1996)

- Drucksache 13/5224 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unserer Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1313136800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das G-10-Gremium ist eines der Spezialgremien, die der Deutsche Bundestag geschaffen hat, um in der Tat die Aufgabenerfüllung und die Einhaltung der Grenzen durch die Dienste im Auftrage des Bundestages zu gewährleisten. Genau das ist unsere Aufgabe. Wir sind gesetzlich gehalten, jährlich einen Bericht vorzulegen. Dieser Bericht lag am 1. Juli 1996 zum erstenmal vor. Er umfaßt einen Zeitraum von zwei Jahren. Das ist erklärungsbedürftig.
Wir haben die Bestimmungen des Gesetzes nicht ganz eingehalten; das hat natürlich seine Gründe. Sie alle wissen, daß das G-10-Gesetz verändert wurde; das ist am 1. Dezember 1994 beschlossen worden. Die Dienste, insbesondere der BND, konnten erst im Jahre 1995 mit der Umsetzung beginnen.
Das Problem ist natürlich auch, daß wir, durch eine Verfassungsbeschwerde ausgelöst, § 3 des G-10-Gesetzes - dort sind die hauptsächlichen Veränderungen vorgenommen worden - im Augenblick gar nicht so anwenden können, wie es das Gesetz im einzelnen vorsieht. Vielmehr ist im Zusammenhang mit

Dr. Herta Däubler-Gmelin
dieser Verfassungsbeschwerde eine einstweilige Anordnung beantragt worden; sie ist genehmigt worden. Es gibt eine Reihe von Beschränkungen, die einfach beachtet werden müssen, was dazu führt, daß sich die Tätigkeit im G-10-Gremium in der Anlaufphase außerordentlich zäh gestaltet hat. Die Zusammenarbeit ist gut; ich kann auch in keiner Weise darüber klagen, daß wir nicht informiert würden. Vielmehr bekommen wir die Auskünfte, die wir haben wollen. Die Probleme, die sich in diesem Zusammenhang stellen - ich werde darauf später eingehen -, liegen ganz woanders.
Jetzt liegt der Bericht vor. Wer ihn durchgelesen hat, weiß: Es steht nicht so sehr viel drin.

(Ulla Jelpke [PDS]: Das kann man wohl sagen!)

Das ist nicht nur ein Ergebnis der Tatsache, daß wir zur Geheimhaltung verpflichtet sind - darauf wird sich der Kollege Dr. Eylmann noch beziehen -, sondern es gibt in diesem Bereich ein paar Probleme, die wir einfach sehen müssen.
Es besteht nämlich das Problem, daß das Gremium im Augenblick folgender Tätigkeit nachgeht: Auf Antrag der Bundesregierung und mit Vorbereitung der Dienste genehmigen wir die Bestimmungen, auf Grund derer Einzelmaßnahmen bei nicht leitungsgebundenen Fernmeldeverkehren zum Eingriff in das Fernmeldegeheimnis vorgenommen werden können.

(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch)

Die Frage, ob sich die Einzelmaßnahmen im Rahmen von Verfassung und Gesetz halten, kontrolliert die Kommission, die wir als Gremium wählen.
Das klingt ungeheuer kompliziert. Ich habe das deshalb formuliert, weil unsere Tätigkeit in der Tat eine sehr allgemeine und sehr abstrakte ist. Da sitzt das Problem.
Ich bin der Meinung: Der Deutsche Bundestag wird in absehbarer Zeit, wenn die volle Anwendbarkeit dieses neuen § 3 so oder so gesichert sein sollte - es kann durchaus sein, daß es noch die eine oder andere Veränderung geben muß - darüber debattieren, was das Gremium eigentlich wirksam kontrollieren kann.
Ich wiederhole: Es liegt nicht an irgendeiner Bremswirkung der Dienste oder auch an irgendeinem bösen Willen zum Beispiel institutioneller Art, in diesem Fall nicht. Wir stellen vielmehr fest, daß die technischen Veränderungen, die es gegeben hat, so gezielt gar nicht sein können, als daß die Bestimmungen, die auf Vorschlag des Innenministers vom Gremium beantragt werden, richtig kontrolliert werden können. Man muß sich diese komplizierten Fernmeldestrecken, die nicht leitungsgebunden sind, so vorstellen: Sie fahren zu einem Satelliten ins All rauf und kommen dann wieder runter; an einem Beam kann man kontrollieren und eingreifen. Daran werden sich sämtliche Eingreifmaßnahmen orientieren.
Man muß sich in der Tat fragen: Liegt es eigentlich an dem Instrumentarium, das wir als Gremium nutzen, oder an der Möglichkeit und an der Präzisierung der Kontrollkriterien, die auch der Deutsche Bundestag verändern müßte, daß wir im Grunde genommen dem, was wir hier vorgelegt bekommen, nicht mehr entgegensetzen können als einen Blick auf die Landkarte oder gewisse Plausibilitätskriterien?
So kann meiner Ansicht nach die notwendige Kontrolle, ob die Grenzen der gesetzlichen Eingriffe in ein Grundrecht eingehalten werden oder ob die Aufgaben der Dienste entsprechend der Zweckbindung - internationaler Terrorismus oder auch Proliferation oder Abwehr von Gefahren für die Bundesrepublik Deutschland - erfüllt werden, durch ein Gremium nicht aussehen.
Lassen Sie mich nochmals betonen: Die Zusammenarbeit ist gut. Die Auskunftsfreudigkeit der Dienste ist nicht zu beanstanden. Die Zusammenarbeit mit der Kommission ist ebenfalls sehr gut. Nur, der Kontrolleffekt kann von niemandem, der sich ernsthaft und auch mit dem Ziel der Effizienz an solche Dinge heranmacht, uneingeschränkt begrüßt werden.
Deswegen ist es meiner Meinung nach gut, wenn wir darüber nachdenken, wie man das Ganze wirklich effizienter gestalten kann. Ich finde die Anregungen, die der Kollege Zeitlmann aufgenommen hat, deswegen ebenso nachdenkenswert wie einiges, was der Kollege Gansel oder auch der Kollege Hirsch gesagt haben.
Ich denke, wir müssen uns, sobald die Entscheidung aus Karlsruhe vorliegt, einfach einmal zusammensetzen und uns überlegen: Was ist die Aufgabe? Wie können wir vom Bundestag her unsere Aufgabe effizienter gestalten? Wie können wir vor allen Dingen dafür sorgen, daß wir das als Gremium, als Sachwalter des Parlaments sowie der Bürger und ihrer Grundrechte, wahrnehmen können? Das wurde nicht nur im Zusammenhang mit dem Haushaltsrecht und der PKK als Königsweg des Parlaments bezeichnet.
Ganz herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313136900
Ich gebe das Wort dem Kollegen Horst Eylmann.

Horst Eylmann (CDU):
Rede ID: ID1313137000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte es für wenig sinnvoll, den vielen zutreffenden Äußerungen der meisten meiner Vorredner über Notwendigkeit, Bedeutung und Rang der Dienste nun noch etwas hinzuzufügen. Statt dessen möchte ich einige Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Berichtspflicht zumindest für das Gremium zum Ausdruck bringen.
Nach § 3 Abs. 10 des G-10-Gesetzes soll das Gremium dem Bundestag jährlich einen Bericht über die Durchführung der Maßnahmen nach § 3 des G-10-Gesetzes erstatten. Bei den Maßnahmen handelt es sich um die Abwehrmaßnahmen, die der Bekämpfung besonders schwerwiegender Delikte wie illegale Kriegswaffenverbreitung, Geldfälschung, Geldwäsche und Drogenhandel dienen. Über diese Maß-

Horst Eylmann
nahmen soll berichtet werden. Zugleich ist aber das
Gremium verpflichtet, über eben diese Maßnahmen
zu schweigen, die Geheimhaltungspflicht zu wahren.
Diesen Verpflichtungen nun gleichzeitig zu genügen bringt - vorsichtig formuliert - gewisse Schwierigkeiten mit sich. Meistern könnte sie wohl nur derjenige, der auch in der Lage ist, das Gedicht zu Gehör zu bringen, das Morgenstern „Fisches Nachtgesang" genannt hat. Es ist ein Gedicht für Stumme. Ich meine nun nicht, daß der Kollege Such recht hat, wenn er hier ausführt, daß Geheimdienst und Kontrolle sich ausschlössen, wenngleich ich einräumen will, daß die Kontrolle natürlich immer noch verbesserungswürdig und -fähig ist. Dazu hat der Kollege Zeitlmann einiges ausgeführt und meine Vorrednerin auch. Aber Berichtspflicht und Schweigepflicht, die lassen sich nun beim besten Willen nicht zur Dekkung bringen.
Steht man als Jurist vor einem solchen Dilemma, sieht man zunächst einmal in die Gesetzesmaterialien. So hat man es ja gelernt, und man fragt: Was hat sich der Gesetzgeber dabei gedacht?
Der Entwurf des Verbrechensbekämpfungsgesetzes, durch das § 3 des G-10-Gesetzes neu gefaßt wurde, enthielt die Berichtspflicht noch nicht. Die Bundesregierung ist damit aus dem Schneider. Auch der Rechtsausschuß ist - ich habe es mit einiger Genugtuung und Beruhigung festgestellt - nicht auf die Idee gekommen, diese Berichtspflicht zu statuieren. Es stellte sich dann heraus, daß die Verpflichtung, über Geheimzuhaltendes zu berichten, auf einen Vorschlag des Vermittlungsausschusses zurückzuführen ist.
Nun erschließt sich mir als einfachem Abgeordneten die Weisheit der Vorschläge des Vermittlungsausschusses nicht immer auf Anhieb, zuweilen nicht einmal nach längerem Nachdenken. Aber das vermindert auf der anderen Seite die Hochachtung, die ich vor den Mitgliedern dieses Gremiums habe, keineswegs, denn ich weiß ja, unter welchen Zwängen sie stehen.
Vielleicht läßt sich dieser Vorschlag so erklären, daß der Vermittlungsausschuß fest auf die den Politikern zugeschriebene Fähigkeit vertraut hat, mit vielen Worten nichts zu sagen. Da ich, wie ich aus eigener leidvoller Erfahrung weiß, diese Fähigkeit noch nicht zur vollen Meisterschaft entwickeln konnte, habe ich der Rede heute mit einiger Beklommenheit entgegengesehen. Aber nun kann ich zu meiner Erleichterung feststellen, daß ich mit meiner Einleitung schon fast vier Minuten meiner Redezeit verbraucht habe.

(Heiterkeit)

Ich bin außerdem, meine Damen und Herren, in der glücklichen Lage, weitgehend auf die verdienstvolle schriftliche Unterrichtung des Plenums verweisen zu können, die die verehrte Vorsitzende des G-
10-Gremiums, meine Kollegin Frau Dr. DäublerGmelin - sicherlich mit tatkräftiger Hilfe des schon mehrfach und mit Recht gelobten Sekretariats - verfaßt und vorgelegt hat.
Dieser Bericht enthält eine Reihe nützlicher Informationen, wie zum Beispiel über die personelle Zusammensetzung des Gremiums, er unterrichtet über den Inhalt des § 3 des G-10-Gesetzes und läßt auch nicht unerwähnt, daß das notorisch überlastete Bundesverfassungsgericht noch immer keine Zeit gefunden hat, endgültig über eine Verfassungsbeschwerde zu entscheiden.
Und dann kann man dem Bericht auch entnehmen, daß das Gremium bestrebt ist, Abhörmaßnahmen territorial zu begrenzen. Und da wird es eigentlich interessant. Aber da sind wir auch an der Grenze der heißen Zone des zu Verschweigenden.
Die sicherlich interessante und Sie auch interessierende Frage, wie die Abgrenzungen denn nun im einzelnen verlaufen oder verlaufen sollten, ob zum Beispiel das Territorium der Antarktis oder auch Honolulu einbezogen sind, vermag ich zu meinem Bedauern wegen der Verpflichtung zur Geheimhaltung nicht zu beantworten. So muß ich mich abschließend mit der Versicherung begnügen, daß die Mitglieder meiner Fraktion im G-10-Gremium ihre Kontrollaufgabe wie bisher so auch in Zukunft sehr ernst nehmen werden, nicht minder allerdings auch ihre Verpflichtung, trotz aller Berichtspflichten strikte Verschwiegenheit zu wahren.
Vielleicht regen meine Ausführungen auch dazu an, einmal zu überlegen, daß Berichtspflichten, die im Gesetz formuliert sind, eine Transparenz vortäuschen, die nicht vorhanden ist und die hier bei dieser Materie auch nicht vorhanden sein kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313137100
Das Wort bekommt nun der Abgeordnete Manfred Such.

Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313137200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrelang haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, den Zusammenbruch der Bundesrepublik und den Untergang des Abendlandes heraufbeschworen, wenn die Frage anstand, ob denn die Grünen in den Kontrollgremien für Verfassungsschutz und Nachrichtendienst vertreten sein sollten. Nichts davon ist eingetreten; das Abendland steht noch, und angeblich soll es sogar blühende Landschaften im Osten geben.
In dieser Legislaturperiode gehört zum erstenmal mein Kollege Rezzo Schlauch dem G-10-Gremium an. Ich hoffe auch, daß nunmehr unser Kandidat für die G-10-Kommission, der vom G-10-Gremium zu wählen ist, in Kürze seiner Kontrollpflicht nachkommen kann.
Mit der Ausweitung des Auftrages im Zuge des Verbrechensbekämpfungsgesetzes sind die Tatbestände, zu deren Aufklärung der Auslandstelefonverkehr großflächig abgehört werden kann, umfangreich erweitert worden. Verbunden wurde damit die jährliche Berichtspflicht der Kommission dem Parlament gegenüber. Der Berichtszeitraum Dezember 1994 bis Mai 1996 umfaßt rechnerisch gesehen zwar eineinhalb Jahre, aber ich denke, man sollte nicht so

Manfred Such
pingelig sein. Seitdem Herr Waigel Finanzminister ist, sind wir ja Überschreitungen um 50 Prozent gewöhnt.
Ich halte es für merkwürdig, daß die Bundesregierung zwar einerseits fleißig daran gebastelt hat, immer mehr Tatbestände überwachen zu lassen, es im gleichen Zuge aber versäumt hat, bei der Deregulierung des Telefonverkehrs entsprechende Vorschriften für die Überwachung der Mobilfunknetze zu erarbeiten.
Diese Laxheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Verbissenheit, möglichst großflächig und umfassend abhören und lauschen zu können, ist schwer zu begreifen. Politisch ist die Erklärung dafür simpel: In der jetzigen Bundesregierung und der sie tragenden Mehrheit des Bundestages gibt es keinen politischen Liberalismus mehr, Herr Stadler,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Das ist mir neu!)

der die Regel des Art. 10 höher bewertet als die Ausnahme. Die Ausnahme, die dann Maßnahmen nach G 10 zuläßt, ist nämlich in der Verfassung außerordentlich strengen Regeln unterworfen. Sie ist nur zulässig zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Bestandes des Bundes.
Wenn wir, nach Aussage eines früheren Innenministers, schon nicht täglich mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen wollen, bleibt die Frage: Ist die Überwachung des Telefonverkehrs wenigstens ein effektives Mittel zur vorbeugenden Gefahrenabwehr und zur Verbrechensbekämpfung? Ich behaupte, das ist sie auf keinen Fall. In Zeiten knapper Kassen wären Sie gut beraten, die öffentlichen Mittel für effektive Sicherheit und nicht für den Schein von mehr Sicherheit einzusetzen.
Die Probleme, die die Nachrichtendienste schaffen, sind größere als die Probleme, die sie lösen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Der Bundesnachrichtendienst hat den Plutoniumhandel nicht verhindert, er hat ihn eingefädelt. Hat er den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen mit deutscher Beteiligung verhindert? Nein, wenn es ernst wird, versagt Ihr Sicherheitssystem auf der ganzen Linie.
Wirksamen Schutz erreichen wir anders: Ich fordere Sie auf, in den kommenden Haushaltsberatungen unseren Vorschlägen zur Kürzung der Mittel für BND, Verfassungsschutz und MAD zu folgen. Das ist eine wirksame Maßnahme, auch die Probleme der Telefonüberwachung zu reduzieren und damit Abs. 1 in Art. 10 wieder dorthin zu stellen, wohin er gehört, nämlich an die erste Stelle. Der Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung und des Bestandes der Bundesrepublik kann nicht von Schlapphüten oder Kryptografen geleistet werden, er braucht aktive Demokraten und wache Bürgerinnen und Bürger.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313137300
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Max Stadler.

Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1313137400
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht des G-10-Gremiums gibt aus meiner Sicht Anlaß zu vier kurzen Anmerkungen.
Erstens. Zunächst einmal ist eine Ausweitung des G-10-Gesetzes anzukündigen, obwohl die letzte größere G-10-Novelle vor noch gar nicht so langer Zeit in Kraft getreten ist. Als Folge der zunehmenden Öffnung der Postdienstleistungsmärkte für private Unternehmen ist es erforderlich, die bestehenden Regelungen zur Überwachbarkeit des Postverkehrs den neuen Entwicklungen anzupassen.
Die Koalitionsfraktionen haben deswegen vor wenigen Tagen einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Bestimmte Postdienstleistungen werden schon jetzt zunehmend durch private Unternehmen wahrgenommen. Die Deutsche Bundespost war zur Mitwirkung an Überwachungsmaßnahmen nach dem G 10 verpflichtet. Wenn der Gesetzgeber es überhaupt für richtig hält, den Postverkehr zu überwachen, dann kann es für die Verpflichtung, an Überwachungsmaßnahmen mitzuwirken, nicht darauf ankommen, wer die Postdienstleistung erbringt. Vom Schutzzweck des G 10 her macht es keinen Unterschied, ob die Dienstleistung wie in der Vergangenheit durch eine öffentlich-rechtliche Anstalt oder wie neuerdings durch private Unternehmen erbracht wird. Man mag es bedauern, daß damit ein neuer privater Bereich in die Anwendung des G 10 fällt. Jedoch ist dies die Folge der neuen Entwicklungen auf dem Postdienstleistungssektor.
Zweitens. Im Kontrast zu dieser wohl unvermeidlichen Ausweitung hat sich das G-10-Gremium im Berichtszeitraum zu Recht bemüht, die Erfassung und Auswertung des internationalen nicht leitungsgebundenen Fernmeldeverkehrs durch den BND auf das vertretbare Maß einzugrenzen. Im Bericht wird zutreffend hervorgehoben, daß die Bestimmungen territorial zu begrenzen und die Zielländer einzeln auszuweisen sind. Mit diesen und weiteren Maßnahmen soll die parlamentarische Kontrolle verstärkt werden. Es wird aber wohl - insofern stimme ich den skeptischen Bemerkungen der Vorredner zu - weiterer praktischer Erfahrungen bedürfen, bis die endgültige effektive Form parlamentarischer Kontrolle im G-10-Bereich gefunden ist. Dazu könnte eine Zusammenfassung der verschiedenen Kontrollgremien, wie vorher von mehreren Rednern angeregt, beitragen.
Drittens. Unabhängig davon sehen wir mit einiger Spannung der Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der gegen § 3 des G 10 im September 1995 erhobenen Verfassungsbeschwerde entgegen. Bekanntlich kann diese Vorschrift jetzt ja nur noch eingeschränkt nach Maßgabe der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts angewandt werden.

(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das ist auch sehr gut so!)


Dr. Max Stadler
Es erscheint aber zweckmäßig, die endgültige Entscheidung abzuwarten, ehe Überlegungen zur Neugestaltung des Grundrechtsschutzes bei der Fernmeldeüberwachung, wie sie Claus Arndt dem G-10-Gremium kürzlich vorgetragen hat, zu konkreten Folgerungen des Gesetzgebers führen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, darauf hinzuweisen, daß sich die Innen- und Rechtspolitiker der Koalition bei den „Eckwerten" zur akustischen Wohnraumüberwachung ausdrücklich darauf verständigt haben, die Erfahrungen mit den Neuerungen, die durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz ins G 10 eingeführt worden sind, sorgfältig ständig zu beobachten, auszuwerten und gegebenenfalls zu nötigen gesetzgeberischen Folgerungen zu kommen. Im übrigen meinen wir, daß bei der akustischen Wohnraumüberwachung sehr wohl - entgegen dem, was Herr Eylmann vorhin gesagt hat - eine Berichtspflicht an das Parlament entsprechend amerikanischem Vorbild eine gewisse Kontrolle sicherstellen kann. Deswegen sehen wir das in diesem Bereich vor.

(Beifall bei der F.D.P.)

Viertens. Aus dem Bericht ist hervorzuheben, daß das G-10-Gremium ein Gespräch mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten geführt hat. Nach § 9 des
G 10 ist es zugelassen, den Bundesbeauftragten für den Datenschutz vor der Entscheidung der G-10-Kommission über die Zulassung der Notwendigkeit von Maßnahmen nach § 9 Abs. 2 beizuziehen. Meines Wissens ist bisher eine solche Stellungnahme des Datenschutzbeauftragten noch nicht eingeholt worden. Die F.D.P. regt an, künftig von dieser Möglichkeit des § 9 Gebrauch zu machen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313137500
Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313137600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der große Lauschangriff ist noch nicht durch dieses Parlament legalisiert. Trotzdem ist bereits heute die Bundesrepublik Weltmeisterin im Abhören. Allein 1995 wurden 3 596 Telefone von der Polizei abgehört. Sie hat dabei Daten von rund 500 000 Personen erfaßt. Hinzuzurechnen sind die Telefonüberwachungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes, deren Ausmaß grundsätzlich nicht veröffentlicht wird. Dazu kommen noch mindestens 4 000 Auslandsgespräche, die der BND täglich aufzeichnet.
Bezüglich des G-10-Berichts gebe ich dem Kollegen Eylmann voll recht: Zweiseitige Berichte, wie sie hier vorgelegt werden, kann man sich wirklich schenken; denn wichtige Daten stehen da nicht drin.
Die Erwähnung von Briefkontroll- und Telefonabhöraktionen der deutschen Geheimdienste umfaßt in diesem Bericht gerade einmal eine halbe Seite. Auch hier gilt das zuvor zum Bericht der PKK Gesagte. Der vorgelegte G-10-Bericht zeigt, wie wenig ernst parlamentarische Kontrolle stattfindet. Sie können doch niemandem erklären, daß es aus anderthalb Jahren nicht mehr als eine halbe Seite über die Geheimdienstschnüffelei zu berichten gibt.
Entweder lag nichts an, dann wäre dieses Gremium überflüssig, oder hier wird der Öffentlichkeit etwas verheimlicht. Natürlich ist letzteres der Fall, wie ich durch die Zahlen bereits bewiesen habe. Das ganze Ausmaß der Überwachungs- und Abhöraktionen wird durch den G-10-Bericht systematisch vertuscht und verharmlost. Wo, so frage ich mich, ist der Erfahrungsbericht der G-10-Kommission zu dem 1994 legalisierten Staubsaugerangriff des BND geblieben?
Mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz wird dem BND erlaubt, nunmehr legal jährlich zirka 36 Millionen Auslandsgespräche aufzuzeichnen und schätzungsweise 1,46 Millionen auszuwerten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben, wobei es sich hierbei tatsächlich nur um das absolute Minimum handelt, das geschätzt wird.
Wir kritisieren diese Kompetenzerweiterung des BND, insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte des deutschen Faschismus. Geheimdienste haben bei der Kriminalitätsbekämpfung nach wie vor nichts zu suchen, doch das wird zunehmend legalisiert. Dementsprechend haben wir mit Genugtuung die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1995 zur Kenntnis genommen, die Ihnen diese Dinge zumindest in einigen Punkten untersagt hat.
Eine Problematisierung der kümmerlichen Befugnisse des G-10-Gremiums erfolgt in diesem Bericht ebenfalls nicht, was ich sehr bedauerlich finde. Darauf wurde bereits hingewiesen. Ebenso bleibt das Problem, daß noch nicht einmal das zahlenmäßige Ausmaß der Geheimdienstschnüffelei veröffentlicht wird. Auch darauf habe ich bereits hingewiesen.
Ich habe bereits zum Ausdruck gebracht, daß wir der Meinung sind, daß es ein richtiger Schritt wäre, die Kontrollkommissionen zusammenzubringen. Dann müßte aber auch ein Mitglied der PDS dazugehören.
Danke.

(Beifall bei der PDS)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313137700
Ich schließe damit die Aussprache und rufe die Tagesordnungspunkte 12a bis 12f auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Lilo Blunck, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umsetzung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes
- Drucksachen 13/1971, 13/3368 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abfallvermeidung organisieren - Gesundheitsgefahren aus Abfallverbrennungsanlagen minimieren
- Drucksachen 13/4352, 13/5023 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter Marion Caspers-Merk
Dr. Jürgen Rochlitz
Birgit Homburger
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, Michaele Hustedt, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kriterien für die oberirdische Ablagerung von Abfällen - Novellierung von TA Abfall und TA Siedlungsabfall
- Drucksachen 13/2496, 13/5024 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Dr. Liesel Hartenstein Marion Caspers-Merk Dr. Jürgen Rochlitz Birgit Homburger
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verwertungsbeschränkungen für Schlacken aus Verbrennungsanlagen für Siedlungsabfälle
- Drucksachen 13/1235, 13/5025 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Marion Caspers-Merk
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller (Düsseldorf), Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bundeseinheitliche Regelung des untertägigen Versatzes von Abfällen in Bergwerken
- Drucksachen 13/2758, 13/5051 -
Berichterstatter:
Abgeordnete Steffen Kampeter Dr. Liesel Hartenstein
Vera Lengsfeld
Birgit Homburger Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß)

- zu dem Antrag der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Michael Müller (Düsseldorf), Ernst Schwanhold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Eckpunkte zur Novellierung der Verpakkungsverordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller (Düsseldorf), Marion Caspers-Merk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erlaß einer Getränkemehrwegverordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Dr. Jürgen Rochlitz, Helmut Wilhelm (Amberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erlaß einer Altautoverordnung
- zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verordnung über die Vermeidung, Verringerung und Verwertung von Abfällen gebrauchter elektrischer und elektronischer Geräte (Elektronikschrott-Verordnung)

- zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ersatz der Verpackungsverordnung durch eine Verpackungsvermeidungs- und Mehrwegverordnung
- Drucksachen 13/2818, 13/2855, 13/3334, 13/
4351, 13/4354, 13/5158 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Marion Caspers-Merk Dr. Jürgen Rochlitz Birgit Homburger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeordneten Marion Caspers-Merk das Wort.

Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1313137800
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine geniale Debattenstrategie hat dafür gesorgt, daß wir eine Große Anfrage darüber, wie das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz überhaupt umgesetzt werden soll, erst 14 Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes diskutieren. Man muß sich schon fragen, wie man jetzt noch ein Stück Aktualität zu dem Thema herstellen kann.
Glücklicherweise hat die Bundesregierung dafür gesorgt, daß das Thema aktueller denn je ist; denn sie hat den Zeitpunkt verstreichen lassen, bis zum

Marion Caspers-Merk
7. Oktober die entsprechenden Verordnungen, die dem Torso Kreislaufwirtschaftsgesetz überhaupt Tiefe, Biß und Inhalt verleihen könnten, vorzulegen. Ich spreche insbesondere von den Verordnungen im Rahmen der Produktverantwortung; denn hier wäre es darum gegangen, die Kreislaufwirtschaft wirklich ernstzunehmen und Regelungen für das Recycling von Altautos, Elektronikschrott und Bauschutt sowie eine Novelle der Verpackungsverordnung vorzulegen.
Dies alles ist bis heute nicht erfolgt, und Herr Hirche, Sie müssen nachher wieder Ihre Nichtvorlage wortreich begründen. Mich erinnert dieses Warten an das Warten auf Godot. Seit 1990 werden wir immer wieder vertröstet, daß die Verordnungen demnächst vorgelegt werden. Im Frühjahr hat die Umweltministerin gesagt, sie lege sie im Herbst vor, aber sie hat nicht gesagt, in welchem Jahr. Insofern an Sie die Frage, in welchem Jahr Sie die Verordnungen, die das Kreislaufwirtschaftsgesetz überhaupt vollziehbar machen, vorlegen werden.
Wir haben dieses Gesetz 1994 beraten; jetzt, zwei Jahre später, tritt es in Kraft. Wir haben also zwei Jahre eine Untätigkeit der Regierung in der Abfallpolitik zu beklagen. Ich finde es schon ein starkes Stück, daß in diesen zwei Jahren gerade einmal die Durchführungsverordnungen vorgelegt wurden, die das Gesetz überhaupt vollziehbar machen, und das Ganze dann auch noch im August, so daß die Kommunen und die Länder, die es vollziehen müssen, überhaupt nicht ausreichend Zeit hatten, sich auf die neue Situation einzustellen. Wir kritisieren dieses Verfahren ausdrücklich.

(Beifall bei der SPD und der PDS Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Darüber werden wir gleich noch diskutieren, ob das so ist!)

- Herr Kampeter, da Sie kein Konzept für Ihre Rede
und kein Konzept in der Abfallpolitik haben, können
Sie nachher gern auf die einzelnen Punkte eingehen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe sowohl als auch, Frau Kollegin!)

Weil wir es leid sind, auf die Altautoverordnung und die Elektronikschrottverordnung zu warten, haben wir eigene Vorschläge erarbeitet. Wir werden Ihnen Eckpunkte zur Altautoverwertung vorlegen, wir werden Ihnen Eckpunkte zur Elektronikschrottverordnung vorlegen, und wir werden Sie auch bei der Verpackungsverordnung zwingen, endlich Farbe zu bekennen, weil wir die vielen Vertröstungen auch im wirtschaftlichen Interesse der Vorreiterindustrien nicht mehr akzeptieren werden.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen sich folgende Situation vorstellen. Bei den Altautos werden zwei Drittel der jährlich in Deutschland anfallenden Autowracks in östliche Länder exportiert, bzw. der Schreddermüll wird derzeit überwiegend, und zwar zu fast vier Fünfteln, in die Niederlande exportiert. Zum einen ist es so, daß wir, wenn Sie ein Auto abmelden, bislang noch keinen Verwertungsnachweis brauchen. Zum anderen ist es so, daß in den Niederlanden Schreddermüll zum halben Preis abgelagert werden kann.
Gleichzeitig muß man feststellen, daß den Niederländern das gelungen ist, bei dem wir immer denken, wir seien Weltmeister; denn wir sind bei den Umweltstandards ja so toll. Wir hinken allerdings, wenn Sie sich die Altautoverordnung ansehen, bereits zehn Monate hinter den Niederländern her, weil sie zum 1. Januar 1996 eine Altautoverordnung in Kraft gesetzt haben, die wir vom Prinzip her schon immer gefordert haben. Sie deckt sich also mit unserer Vorgehensweise. Die Niederländer machen es so, daß derjenige, der das Auto abgibt, keine Kosten hat und die Recyclingkosten schon beim Erwerb des Autos in den Produktpreis eingerechnet werden. Das Ganze wird sehr unbürokratisch durch einen Fonds verwaltet. Wir haben dadurch nicht eine Situation wie in der Bundesrepublik, daß beispielsweise 15 000 Arbeitsplätze in der Recyclingwirtschaft bei Altautos nicht aufgebaut werden könnten. Jetzt schaffen unsere Nachbarn diese Arbeitsplätze. Wir haben auch die Situation, daß Autos nach wie vor illegal im Wald und an Straßenrändern abgestellt werden, weil Sie nicht in der Lage sind, eine fortschrittliche Verordnung vorzulegen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist eine empörende Behauptung!)

- Herr Heinrich, da ich mich mit der F.D.P. und deren Abfallphilosophie auch nur im einzelnen beschäftige, jetzt nur so viel dazu.
Ihr Minister ist ursächlich daran schuld, daß es zu dieser Situation hat kommen können.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Welchen meinen Sie?)

- Ich meine den Umweltverhinderungsminister, und zwar den Wirtschaftsminister. - Er hat dafür gesorgt, daß in die Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben wurde, daß, statt Verordnungen zu erlassen, jetzt nur noch der Weg über freiwillige Selbstverpflichtungen gegangen werden darf. Was ist passiert? Vier Jahre wurde ohne Ergebnis verhandelt.
Was die Industrie jetzt macht, ist eine Lachnummer. Sie verpflichtet sich nämlich zu dem, was ohnehin wirtschaftlich ist und was nichts kostet. Wenn ein Auto jünger als zwölf Jahre ist, darf man es kostenlos zurückgeben; am besten ist es noch werkstattgepflegt und hat noch alle Originalteile. Dieses Geschäft würde jeder gerne machen. Wirklich notwendig wäre aber gewesen, daß man für alle auf bundesdeutschen Straßen fahrenden Autos - das sind immerhin 40 Millionen Autos - eine Regelung hat. Dies ist in der freiwilligen Selbstverpflichtung nicht vorhanden.
Ich bitte Sie noch einmal, Herr Hirche, dafür zu sorgen, daß Ihre Ministerin anständige Vermerke erhält; denn sie hat auch im Umweltausschuß wieder behauptet, daß die kostenlose Rücknahme für alle

Marion Caspers-Merk
Autos gelte, auch wenn sie älter als zwölf Jahre seien.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das kann der Staatssekretär erklären!)

Ich verweise auf Seite 3 der freiwilligen Selbstverpflichtung. Dort hat man genau geregelt, daß alles, was auch nur einen Tag und mehr älter als zwölf Jahre ist, nicht kostenlos zurückgenommen werden muß. Wenn schon der ADAC, der sozialdemokratischer Umtriebe unverdächtig ist, feststellt, daß das durchschnittliche Autoalter bei uns bei 13,5 Jahren liegt, dann weiß man: Die Industrie verpflichtet sich eigentlich zu nichts. Hier werden die Chancen, die Kreislauf- und Abfallwirtschaft bergen, nicht genutzt.
Dasselbe gilt im übrigen für die Elektronikschrott-verordnung. Auch hier haben Sie uns vier Jahre lang immer wieder versprochen, etwas vorzulegen. Jetzt haben wir die Situation zu beklagen, daß für die Industrie nicht mehr „first mover's benefit", sondern das Mikadospiel gilt: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eure Definition!)

Denn im Prinzip wird überhaupt niemand mehr gefördert.
Herr Kampeter, es wäre vielleicht interessant, wenn Sie sich einmal mit den Fortschrittlichen in der Branche unterhielten, zum Beispiel mit IBM, Siemens-Nixdorf oder anderen Computerherstellern.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da habe ich wahrscheinlich bessere Kontakte als Sie! Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie hat völlig recht! Sie bestrafen sie doch!)

Diese fordern und wollen doch seit Jahren die Elektronikschrottverordnung. Warum? Weil sie vollkommen recyclinggerechte Produkte in der Hoffnung hergestellt haben, daß wir über eine Verordnung die Rücknahme regeln. Aber Sie kommen bei diesem Thema überhaupt nicht in die Schuhe. Jetzt ist es so, daß derjenige, der recyclingfähige Produkte hat, im Prinzip auch noch bestraft wird, weil er davon keinen Marktvorteil hat. Wir wollten mit der Kreislaufwirtschaft erreichen, daß keine abwärts gerichteten Verwertungsspiralen, sogenanntes „downcycling" entsteht, sondern daß der Wert, der in den Produkten steckt, wieder in neue Produkte integriert werden kann. Aber genau dies erfolgt jetzt nicht.
Noch ein Beispiel für Ihre industriefeindliche Politik: Loewe-Opta hat ein recyclinggerechtes Fernsehgerät entwickelt, das anstatt aus 400 Teilen, die teilweise Sondermüll waren, aus nur noch 4 Teilen bestand. Dies geschah in der Erwartung, daß über die Elektronikschrottverordnung die Rückgabe geregelt wird. Diese Produktlinie ist eingestellt worden, weil die entsprechende Verordnung nicht vorliegt. Denn ein teureres Gerät, das gar nicht zurückgenommen werden muß, führt unterm Strich dazu, daß es am Markt keine Chance hat, sich durchzusetzen. Nach wie vor ist es nämlich erlaubt, sein Altfernsehgerät ganz normal auf die Hausmülldeponie zu bringen.
Das kann ja wohl nicht im Sinne fortschrittlicher Kreislaufwirtschafts- und Abfallpolitik sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei der Novelle der Verpackungsverordnung widerstrebt es mir schon, den Begriff Novelle in den Mund zu nehmen; denn sie bietet wenig Neues. Eigentlich handelt es sich um eine Abwärtsspirale: Jeder einzelne Entwurf wird immer mehr verwässert, und unterm Strich haben wir die Situation, daß Sie nur noch die Rahmenbedingungen für das DSD verbessern.
Ich kann Ihnen nur sagen: Der dramatische Akzeptanzverlust, den wir im Bereich Abfallpolitik zu beklagen haben,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hängt im Zweifel mit Ihrer Miesmacherei zusammen! Außerdem haben wir keinen Akzeptanzverlust!)

hängt auch damit zusammen, daß die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, daß, während sie alles sortieren, sammeln und sich umweltgerecht verhalten, die Gebühren davonlaufen. Sie haben den Eindruck, daß nicht sack- und umweltgerecht recycelt wird.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir haben immer weniger Müll!)

Wir halten das im Hinblick auf das Umweltbewußtsein der Bürgerinnen und Bürger für katastrophal. Wenn wir wollen, daß sie beim Müllsortieren und beim Müllsammeln mitmachen, dann müssen erstens die Verwertungswege transparent und nachvollziehbar sein. Zweitens müssen sie die Gewähr haben, daß es im Prinzip auch bei den Kalkulationen eine Offenlegung gibt. Sie müssen auch die Gewißheit haben, daß die Verwertung nicht zu den billigsten Konditionen im Hochofen stattfindet, sondern daß es wirklich einen Einstieg in die Kreislaufwirtschaft und die stoffliche Verwertung gibt.
Ich kann Ihnen nur ankündigen, daß Sie , wenn es bei dem derzeitigen Entwurf - es ist, glaube ich, der vierte Referentenentwurf - in dieser Sache bleibt, im Bundesrat mit diesem Entwurf Schiffbruch erleiden werden.
Abschließend darf ich, Herr Kampeter, sagen: Wir haben damals im Umweltausschuß gemeinsam mit allen Fraktionen § 59 ins Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz eingefügt, der ein Mitspracherecht des Ausschusses bei den künftigen Verordnungen vorsieht. Wir wollen dieses Mitspracherecht nutzen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, endlich die entsprechenden Verordnungen vorzulegen. Ich habe angekündigt, daß wir Eckpunkte dazu erstellen werden. Wir haben vor, daß diese wichtigen Punkte mit den zahllosen Verbänden nicht mehr am Parlament vorbei diskutiert werden, sondern daß der Umweltausschuß und das Parlament eine Mitgestaltungs- und Mitentscheidungsmöglichkeit haben.
Deswegen fordern wir Sie, Herr Hirche, auf, uns umgehend die Verordnungen zuzuleiten und mit uns

Marion Caspers-Merk
zu diskutieren. Hören Sie mit der Strategie der Abfallpolitik auf, die Sie derzeit nach dem Motto fahren: Es gibt viel zu tun, lassen wir es liegen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313137900
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Steffen Kampeter.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313138000
Herzlichen Dank, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegin Caspers-Merk hat mir vorgeworfen, daß ich keine ausformulierte Rede mit in die Debatte gebracht habe. Ich möchte an dieser Stelle meine Rede mit einem Hinweis auf die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der aktuellen Fassung beginnen. In § 33 steht unter der Überschrift „Die Rede":
Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen.
Frau Kollegin Caspers-Merk, Sie hatten offensichtlich eine vorformulierte Rede.

(Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr! Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist doch albern!)

Ich verweise für zukünftige Entgegnungen auf den § 33 und hoffe, daß die Aufzeichnungen, die ich für meine Rede benutze, nicht allzu konkret sind.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313138100
Herr Kollege, soll das eine Rüge an der Handhabung der Geschäftsordnung sein?

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313138200
Nein, Verzeihung. Das war ein Hinweis an die Kollegin Caspers-Merk.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313138300
Ich wollte Ihnen nur sagen: Wenn in der Geschäftsordnung „grundsätzlich" steht, dann heißt das, daß es in der Regel Ausnahmen gibt. - Fahren Sie bitte fort.

(Heiterkeit)


Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313138400
Kollegin CaspersMerk hat mich für das Grundsätzliche kritisiert, deswegen wollte ich sie auf das Grundsätzliche einmal hinweisen.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie hat nicht von „Rede", sie hat von „Konzept" gesprochen!)

Kollegin Caspers-Merk hat darauf hingewiesen, daß wir uns hier unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Kreislaufwirtschaftsgesetzes zu einer, wie ich finde, notwendigen Debatte treffen. Ich will zu Beginn einige Bemerkungen dazu machen, wie es zu diesem Kreislaufwirtschaftsgesetz gekommen ist. In der aktuellen Berichterstattung der letzten Wochen erschienen mir die Grundlagen dieses Gesetzentwurfes nicht vollständig bekannt zu sein.
Wir haben in den Jahren 1993 und 1994 die Grundlagen des alten Abfallrechts grundlegend verändert. Warum haben wir das gemacht? Zum einen, weil es eine ganze Reihe von europäischen Rechtsvorschriften gab, die einer Umsetzung in nationales Recht bedurft haben, und zum anderen, weil es eine ganze Reihe von Rechtslücken gab, die von bestimmten Wirtschaftskreisen ausgenutzt wurden, was uns und dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland geschadet hat. Das heißt, das Anliegen der Gesetzesberatung 1993/1994 war es, europäisches Recht umzusetzen und Rechtslücken im Abfallrecht zu schließen.
Wir haben in einem sehr langwierigen Diskussionsprozeß zwischen den Fraktionen und Gruppen dieses Parlamentes, aber auch im Rahmen eines Vermittlungsverfahrens mit dem Bundesrat ein Ergebnis gefunden, das vor wenigen Tagen Rechtskraft erlangt hat: das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz. Dieses Gesetz hat Zustimmung sowohl von allen Fraktionen hier im Haus, wie auch die Zustimmung des Bundesrates erlangt. Es ist damit von der breitesten politischen Mehrheit, die diese beiden Verfassungsorgane repräsentieren können, in Kraft gesetzt worden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weshalb betone ich das an dieser Stelle? Ich erlebe im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Gesetzes von vielen politischen Kräften - insbesondere von jenen, die Kollegin Caspers-Merk repräsentiert - zeitweilige Absetzbewegungen, als wolle man die Früchte seiner Arbeit nicht mehr akzeptieren. Ich wiederhole hier für die deutsche Öffentlichkeit vor diesem Forum: Wir haben uns nach zwei Jahren langwieriger Diskussionen auf dieses Recht geeinigt, und wir sollten dieses Recht heute auch gemeinschaftlich nach außen vertreten und sollten nicht an einzelnen Aspekten herumnörgeln, weil sie auch einmal Pflichten von denjenigen fordern, die mit Abfallwirtschaft zu tun haben. Wir sollten offensiv das gemeinschaftlich gefundene Ergebnis vertreten.
Wenn wir heute abend einmal drei, vier, fünf Jahre zurückblicken und in den Protokollen des Deutschen Bundestages nachlesen, werden wir feststellen, daß von Entsorgungsnotstand und Deponieknappheit die Rede war. Wenn ich Revue passieren lasse, was in diesen Tagen veröffentlicht wird, dann stelle ich fest, daß es offensichtlich eher darum geht, daß in Deutschland zu wenig Müll produziert wird. „Der Spiegel" kann sogar titeln: „Man kämpft um jede Tonne Müll".
Wir können Dutzende von Beispielen bringen, daß Gebietskörperschaften in ihrem Verantwortungsbereich Schreiben an Wirtschaftsunternehmen schikken nach dem Motto: Der Müll gehört der Kommune, und deswegen müßt ihr den gewerblichen Müll auch an uns abliefern.

(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Lassen Sie den Leuten den Müll!)


Steffen Kampeter
Das bedeutet, daß sich in Deutschland in den letzten Jahren nicht nur, aber wohl wesentlich durch das Gesetz etwas verändert hat, nämlich, daß die Müllmengen gesunken sind. Das hat damit etwas zu tun, daß ein grundsätzlicher Wandel in der Abfallwirtschaft zu verzeichnen ist. Den sollten wir hier heute abend positiv bewerten.
Die Abfallmengen sinken, und immer mehr Länderminister rühmen sich in diesen Tagen, wenn sie ihre Abfallbilanz vorlegen, sinkender Abfallmengen. So hat der baden-württembergische Umweltminister vor wenigen Tagen die Abfallbilanz seines Landes vorgelegt, in der es heißt: Seit 1990 hat sich die Abfallmenge in Baden-Württemberg pro Kopf der Bevölkerung halbiert. - Das ist ein großartiger Erfolg der gemeinschaftlich von diesem Haus verfolgten Abfallwirtschaftspolitik, in der erstens Vermeidung, dann Verwertung und erst zum Schluß Ablagerungen vorgeschrieben sind. Das sollten wir heute abend einmal hervorheben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313138500
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Rochlitz?

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313138600
Selbstverständlich gestatte ich dies.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313138700
Bitte, Herr Kollege Rochlitz.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Jede überflüssige Frage ist zulässig!)


Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313138800
Herr Kollege Kampeter, möchten Sie einmal zur Kenntnis nehmen, daß sich die Gesamtmenge der Abfalleinheiten - solche Mengen, die zur Verwertung gelangen, und solche, die zur Beseitigung vorgesehen sind - keineswegs dramatisch verändert hat? Die Gesamtmenge ist nahezu konstant geblieben. Auch in Baden-Württemberg ist das, soviel ich gesehen habe, der Fall. Wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß diese zur Verwertung gelangenden Abfallmengen in der Tat in Verwertungskreisläufe äußerst dubioser Art oder aber in Durchflußsysteme gelangen, wie zum Beispiel bei den Bremer Stahlwerken?

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313138900
Herr Kollege Rochlitz, ich nehme zur Kenntnis, daß die Menschen denken, daß Müll das ist, was zum Schluß auf der Deponie landet. Deswegen nehme ich zur Kenntnis, daß die Menge der in Deutschland zu deponierenden Abfälle gesunken ist.

(Beifall der Abg. Wilma Glücklich [CDU/ CSU] Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das haben Sie aber eben nicht gesagt!)

Ich nehme auch zur Kenntnis, daß die Menschen von
uns immer gefordert haben: Das, was nicht vermeidbar ist, soll verwertet werden. Herr Kollege Rochlitz, ich nehme ferner zur Kenntnis, daß in Deutschland in den letzten Jahren die Menge der verwerteten Abfälle enorm angestiegen ist. Sie müssen - genauso wie ich - zur Kenntnis nehmen, daß in bestimmten Bereichen der Gesamtstoffumsatz gesunken ist, daß die Leute nicht einfach Müll produzieren, weil es lustig ist, sondern weil sie sehen, daß wir teure Entsorgungs- und nicht ganz so teure Verwertungsmöglichkeiten haben, und daß enorme Müllmengen vermieden worden sind. Herr Kollege Rochlitz, ich nehme zur Kenntnis, daß die von uns vertretene Abf allwirtschaftspolitik ein großartiger Erfolg ist, weil einfach weniger Abfall sowohl hinsichtlich der Zahlen als auch im Empfinden der Menschen produziert worden ist. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie das letztendlich einmal zur Kenntnis nehmen würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Länder werden in diesen Tagen öfter dahin gehend zitiert, daß sie keine hinreichende Zeit für die Umsetzung der gesetzlichen Regelungen erhalten haben. Dies halte ich für falsch. Wir haben hier ein Gesetz verabschiedet, in dem eine zweijährige Übergangsfrist gewährt wird - zwei Jahre, in denen die Bundesländer ihre Länderabfallgesetze haben umsetzen können.
Dies ist nur in zwei von 16 Bundesländern erfolgt. Diese zwei belegen, daß eine Umsetzung des neuen Bundesrechts in Landesrecht möglich ist. Was die Beweggründe der 14 anderen waren, die unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten haben, lasse ich einmal offen. Dieses Bundesrecht war von den Ländern umsetzbar. Alle Länder, die heute behaupten, daß dies nicht so ist, sollten sich an den Landesabfallgesetzen von Bayern und Baden-Württemberg orientieren.
Ich gebe uneingeschränkt zu, daß dieses untergesetzliche Regelwerk, von dem alle reden, schneller hätte umgesetzt werden können. Nur, dafür hätte es der tätigen Mithilfe derjenigen 14 Bundesländer bedurft, die heute beklagen, sie hätten keine Zeit gehabt. Kooperation hätte manches schneller gemacht. Die Umsetzung war also - das will ich ganz klar sagen - möglich.
Ich höre in diesen Tagen auch die Klage der Kommunen, zwei Jahre zur Umsetzung reichten nicht aus. Auch hierzu muß ich sagen: Das kann ich nicht ganz nachvollziehen. Zum einen haben wir die kommunalen Spitzenverbände an der Entwicklung dieses Gesetzes direkt beteiligt, was ein etwas ungewöhnliches Verfahren ist. Sie waren auch bei den internen Beratungen dabei. Frau Kollegin Caspers-Merk, Sie wissen das genauso wie die Kolleginnen und Kollegen der Koalition. Zum anderen war genauso wie für die Länder zwei Jahre Zeit, sich auf die neuen Vorschriften vorzubereiten.
Wenn die Kommunen heute behaupten, sie würden mit zu vielen Aufgaben übersät, kann ich auch das nicht ganz nachvollziehen; denn in anderen Bereichen, wie beispielsweise beim Elektronikschrott, fordern sie ja geradezu neue Kompetenzen, die allerdings auch mit neuen Einnahmequellen verbunden

Steffen Kampeter
sind. Nur bedeutet der Vollzug von Gesetzen nicht notwendigerweise immer die Zuweisung von neuen Finanzströmen. Deswegen, denke ich, müssen wir die Umsetzung dieses Gesetzes von den Kommunen einfordern, die hieran hinreichend früh beteiligt worden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Teil der heute zu beratenden Anträge beschäftigt sich mit den Deponiestandards und der Technologie der Müllvorbereitung - für Spezialisten: TASi-Müllverbrennung und biologisch-mechanische Abfallvorbehandlung. Mich verwundert einigermaßen die derzeit aktuelle Diskussion. Bisher waren alle Gruppen, die hier im Haus vertreten sind, der Auffassung, daß die emissionsarme Deponie - also die Deponie, die wir unseren Kindern und Enkelkindern beruhigt überlassen können - der umweltpolitisch erforderliche Standard ist.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist nur eine Gruppe und vier Fraktionen!)

Hintergrund ist, daß wir in diesem Hause der Auffassung sind, Deponien müssen dauerhaft sicher sein und dürfen keine, wie wir es unter Fachleuten sagen, biologischen Reaktoren werden, von denen wir nicht wissen, was sie zukünftig machen. Das dazu notwendige Instrumentarium haben wir in der Inertisierung, also in der Ablagerung, die langfristig nicht mehr biologisch aktiv ist, gefunden. Diese Politik haben wir als Bundestag und Bundesrat durch eine Verordnung, die wiederum in beiden Kammern Zustimmung gefunden hat, mit einer breiten parlamentarischen Legitimation versehen.
Verschiedentlich gab es Anfragen, ob die Technische Anleitung Siedlungsabfall nicht fortentwickelt werden sollte. Wir haben mehrere Prüfberichte vorgelegt und im Umweltausschuß des Deutschen Bundestages umfassende Expertenanhörungen gemacht. Das Ergebnis war: Wir haben keinen Anlaß, die Technische Anleitung Siedlungsabfall in Frage zu stellen. Deswegen werbe ich heute dafür, nicht bisher akzeptierte Standards in Frage zu stellen, sondern vielmehr an dem Prinzip des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung festzuhalten. Das bedeutet, daß wir die Kriterien der Technischen Anleitung Siedlungsabfall auch in den nächsten Jahren weiterverfolgen.
Allen Anträgen, die darauf abzielen, aus ideologischen Gründen die Kriterien des Gesundheitsschutzes aufzuweichen, weil eine politisch korrekte Abfallvorbehandlungstechnologie wie die biologischmechanische Abfalivorbehandlung von einer kleinen Minderheit dieses Parlamentes favorisiert wird, treten wir als CDU/CSU entschieden entgegen. Ich bitte auch die übrigen Fraktionen, dieser Politik zu folgen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will noch einiges zur derzeitigen Situation der Kosten sagen. In der Diskussion dieser Tage ist gesagt worden, das Kreislaufwirtschaftsgesetz sei der eigentliche Kostentreiber bei den Gebühren in der Abfallwirtschaft. Richtig an dieser Diskussion ist, daß Umweltschutz seinen Preis hat, daß das Umweltschutzniveau auch mittelfristig bezahlt werden muß und daß wir dafür eintreten müssen, daß Umweltschutz ein Kostenfaktor in den Unternehmen und in den privaten Haushalten bleiben muß. Denn wer will von Ihnen beispielsweise die Diskussion über die Gesundheitsschädigung der Bevölkerung führen, wenn wir undichte Deponien oder unsichere Müllverbrennungsanlagen haben? Vorsorgekosten liegen immer niedriger als Sanierungs- oder Nachsorgekosten. Ich kann die Diskussion insoweit nicht nachvollziehen, als das Kreislaufwirtschaftsgesetz im Rahmen dieser Kostensteigerung überhaupt noch nicht in Kraft gewesen ist.
Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, was der Deutsche Steuerzahlerbund zu dieser These sagt. Dessen Präsident hat vor kurzem auf einer Diskussionsveranstaltung darauf hingewiesen, daß die Städte und Gemeinden die Schwächen der Kameralistik zu ihren Gunsten ausnutzen, um die defizitären Haushalte durch überhöhte Abwasser- und Müllabfuhrgebühren zu sanieren.
Er führt weiter aus: Es sind nicht die Personal- oder Sachkosten, die für die Gebührensteigerungen verantwortlich sind, sondern die sogenannten kalkulatorischen Kosten, die mit der aktuellen Rechtssetzung überhaupt nichts zu tun haben. Abschließend stellt er fest: Die Kommunen sind nicht in der Lage, sich auf das geänderte Entsorgungsverhalten der Menschen einzustellen.
Dies zeigt, daß vielfältige Gebührensteigerungen im Bereich des Abfalls nicht darauf zurückzuführen sind, daß sich das Umweltrecht geändert hat, sondern darauf, daß offensichtlich ein immer stärkerer Bestandteil der Kommunen versucht, Kosten des allgemeinen kommunalen Haushaltes auf die Umweltgebühren und Abfallhaushalte abzuwälzen.
Deshalb begrüße ich es nachhaltig, daß die Bundesministerin für Umwelt in diesen Tagen einige Forschungsaufträge zur Aufschlüsselung der Kosten im Abfallbereich erteilt hat, die uns deutlich machen werden, daß der Umweltschutz im eigentlichen Sinne nicht der Kostentreiber der derzeitigen Gebührenhaushalte ist, sondern daß es Fehlentwicklungen und Fehlmanagement bei denjenigen sind, die für die Gebührenhaushalte verantwortlich sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, zusammenfassend möchte ich feststellen: In der Abfallwirtschaft sind wir mit dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz auf einem guten Kurs. Wir sorgen dafür, daß die Produktverantwortung umfassend umgesetzt wird. Wir werden mit der Novellierung der Verpakkungsverordnung und den Regelungen im Bereich des Elektronikschrotts und der Altautos wichtige Impulse setzen,

(Marion Caspers-Merk [SPD]: Wann denn?)

die international wie national eines deutlich machen:
Wir in der Bundesrepublik Deutschland wollen weiter im Bereich der Abfallwirtschaft, im Bereich der

Steffen Kampeter
Kreislaufwirtschaft Vorreiter sein. Dazu lade ich alle Fraktionen dieses Hauses recht herzlich ein.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313139000
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz das Wort.

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313139100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute haben Sie wahrscheinlich zum letztenmal in dieser Legislaturperiode die große Chance, die Abfallpolitik der Bundesregierung in den Kontext ihrer Politik der Deregulierung und der Forcierung von Marktkräften einzubetten, indem Sie den Beschlußempfehlungen des Umweltausschusses nicht folgen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Sie doch frei, Herr Rochlitz!)

Denn in der Tat, meine Damen und Herren: Auf dem Feld der Abfallpolitik toben sich Bundesregierung und Koalitionsfraktionen in einer Regulierungswut aus, die schon unheimlich ist - bis hin zu den Einzelvorschriften für die Verbrennung, bis hin zu naturwissenschaftlich und ökologisch unsinnigen Parametern wie dem sogenannten Glühverlust.
Mit dieser Art von Fehlmanagement in der Abfallpolitik, Herr Kampeter, haben die Bundesregierung und Sie die Einbahnstraßen zur Müllverbrennung zementiert. Sie tragen damit auch die alleinige Verantwortung für die Fehlplanungen in Millionenhöhe für Verbrennungsüberkapazitäten.
Diese Art von Abfallpolitik ist aber auch deswegen ökonomisch falsch programmiert, weil sie den Innovationen und der Marktfähigkeit

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gehen Sie doch einmal auf meine Argumente ein!)

von ökonomisch wie ökologisch günstigeren Technologien - ich nenne hier die mechanisch-biologischen Verfahren, die gerade vermeiden, daß der Bioreaktor Deponie entsteht - einen Riegel vorschiebt.
Die Folge ist, daß damit den mittelständischen Unternehmen die Chancen genommen werden, sich für diesen Kleinanlagenbetrieb einen Markt aufzubauen. Damit verliert die Bundesrepublik insgesamt die Chance, Anlagen zu entwickeln und weltweit zu vermarkten, die für die Kommunen, aber auch für die Länder Osteuropas und des Südens noch bezahlbar sind.
Diese Abfallpolitik ist nicht nur ökonomisch falsch programmiert, sondern auch ökologisch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gehen Sie doch einmal auf meine Argumente ein!)

Das händeringende Suchen nach Müll für Verbrennungsanlagen konterkariert jeden Ansatz zur Müllvermeidung. Was Sie hier präsentiert haben, Herr
Kampeter, waren Zahlen, die nichts mit Müllvermeidung zu tun hatten.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal Herrn Vahrenholt in Hamburg!)

Keine einzige Tonne Müll ist vermieden worden. Die Tonne Müll, die irgendwo vermieden worden ist, müssen Sie mir noch zeigen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gehen Sie doch mal in die Betriebe!)

Das ist alles nur in andere Richtungen verschoben worden.
Wir werfen Ihnen nicht so sehr vor, daß Sie sich trotz aller statistischen Instrumentarien von der Entwicklung der Abfallstrukturen und -mengen Mitte der 90er Jahre haben überraschen lassen, sondern daß Sie die Kommunen in die Müllverbrennungsfallen gelockt und getrieben haben - mit der Folge steigender Gebühren und mit der weiteren Folge abfallpolitischer Inflexibilität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Renate Hellwig [CDU/ CSU])


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313139200
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kampeter?

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313139300
Ja.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313139400
Herr Kollege Rochlitz, ich respektiere Ihre ablehnende Haltung gegenüber der Müllverbrennung sehr. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das aktuelle Positionspapier des umweltpolitischen Sprechers der Grünen und des umweltpolitischen Sprechers der SPD im nordrhein-westfälischen Landtag zur Abfallwirtschaftspolitik,

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Da sind wir doch gar nicht!)

in dem auch von seiten der Grünen in NordrheinWestfalen ein eindeutiges Bekenntnis zur Müllverbrennung zum Ausdruck kommt? Wie beurteilen Sie ferner alle bereits bestehenden Planungen von Müllverbrennungsanlagen in Nordrhein-Westfalen von seiten der Herren Mai und Kasperek?

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313139500
Herr Kampeter, ich kann mir nur vorstellen, daß Sie in diesen Positionspapieren ein oder zwei Seiten überschlagen und nicht gelesen haben. Denn meine Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen wissen sehr wohl, daß landesweit eine ganze Reihe von Müllverbrennungsplanungen eingestellt werden müssen, daß praktisch zuviel Kapazität aufgebaut worden ist.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Aber so ist der Herr Kampeter!)

Insofern gibt es überhaupt keinen Anlaß, jetzt der Müllverbrennung das Wort zu reden.


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313139600
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Hustedt?

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313139700
Ja, bitte.

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313139800
Herr Rochlitz, ist Ihnen bekannt, daß mit der rotgrünen Vereinbarung in Nordrhein-Westfalen für sieben von acht Müllverbrennungsanlagen die Planung eingestellt wurde

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wir sind doch hier nicht in Düsseldorf!)

und nur eine, nämlich die Kölner Müllverbrennungsanlage, weiter geplant wurde, und zwar auch nur deshalb, weil der Planungsstand so weit war, daß er nicht mehr aufzuhalten war?

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313139900
Ja, das ist mir sehr wohl bekannt. Des weiteren ist mir auch bekannt, daß Nordrhein-Westfalen das Land ist, in dem auch in anderen Verbrennungsprozessen in der Vergangenheit Müllmengen verschwunden sind und in Zementöfen eingesetzt worden sind. Wahrscheinlich weiß man teilweise auch, daß damit praktisch ein Verbrennungsstandard praktiziert wird, der sämtlichen ökologischen Regeln widerspricht. Dies gilt es natürlich zu unterbinden, und dazu hat die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen ganz wesentlich beigetragen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So, und jetzt kann es wieder normal weitergehen!)

Bei diesem Dilemma, in dem wir bei der Müllverbrennung stecken, hilft auch nicht das Vermeidungsplacebo eines Kreislaufwirtschaftsgesetzes, meine Damen und Herren, denn diesem neuen Abfallgesetz fehlt ja jeglicher ernsthafte politische Wille zur Abfallvermeidung. Lediglich eine Verbalfloskel, keine Realverpflichtung hat Eingang in Ihr Gesetz gefunden. Deshalb waren wir gezwungen, diese vielfältigen parlamentarischen Initiativen zu ergreifen.
Was hätte nicht alles in das Kreislaufwirtschaftsgesetz Eingang finden können: die Produktverpflichtung zum zerlege- und verwertungsfreundlichen Öko-Design, die dazu notwendige Reduktion der Anzahl und Art der Materialien, die Entgiftung der Stoffströme oder die notwendige Materialkennzeichnung, die Produktverpflichtung zu Langlebigkeit und Nutzungsintensität. All das wäre ganz wichtig gewesen, aber es findet in Ihrem Gesetz nicht einmal unter dem Etikett „wünschenswert" Erwähnung.
Statt dessen werden darin minutiös und ausufernd Heizwert- und Temperaturvorgaben zur Müllverbrennung gemacht, die nicht nur der stofflichen Verwertung als energetische gesetzlich gleichgestellt, sondern ideologisch sogar noch als höherwertig verbrämt wird. Das haben wir soeben durch Herrn Kampeter wieder erfahren.
Dies dokumentiert deutlich die Zukunftsunfähigkeit der Abfallpolitik der Bundesregierung und zeigt erneut die Kurzsichtigkeit ihres Handelns: Warum in langfristig angelegte Vermeidungsstrategien investieren, wenn uns doch die ach so moderne Müllverbrennungsanlage längst schon zur Verfügung steht!
Herr Staatssekretär, lassen wir doch einmal die schillernden Seifenblasen Ihres Gesetzes weg. Im Umweltausschuß auf die Diskrepanz des Gesetzes zwischen uneingelöstem Vermeidungsanspruch auf der einen Seite und Detailverliebtheit in Verbrennungskriterien auf der anderen Seite angesprochen, erwiderte die Frau Ministerin, daß das neue Abfallgesetz doch keine pyromanische Expertise sei.
Schön, und nun beim Wort genommen, Herr Staatssekretär: Dann lassen Sie uns doch all die geplanten Anlagen stoppen, die laufenden Planungen abbrechen und dafür sorgen, daß statt dessen ein freier Wettbewerb der besten abfalltechnischen Behandlungs- und Beseitigungsmethoden entsteht! Dann behindern Sie doch nicht mit Ihrer Unterstützung der Anlagenbaulobby die Entwicklung einer neuen Generation von mechanisch-biologischen Verfahrenstechniken! Dann entlassen Sie doch die Kommunen aus dem von Ihrem Gesetz auf Generationen hinaus erzwungenen Verbrennungszwang! Schon heute werden es uns die Bürger wegen der geringeren Gebühren, ihre Kinder und Enkel aber vor allem wegen der Übernahme einer intakten Umwelt und einer wirklich nachhaltig geordneten Abfallwirtschaft danken.
Für nächsten Monat haben Sie ja die Vorstellung einer Altautoverordnung angekündigt. Aus der Beschlußempfehlung des Umweltausschusses ersehen Sie, daß wir unsere Vorstellungen dazu längst formuliert haben. Sie basieren auf Vorschlägen des Vorgängers von Frau Merkel, Henn Töpfer, die nicht so schlecht waren, daß man sie mit „Umweltpolitik light" bezeichnen müßte, im Gegensatz zu Ihrer Abfallpolitik.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1313140000
mit welchen Autos? Kommen Sie uns doch nicht mit dürftigen Selbstverpflichtungserklärungen der Automobilindustrie! Einer der wenigen fortschrittlichen Ansätze des neuen Abfallgesetzes, die noch von dem Vorgänger stammende Produktverantwortung „von der Wiege bis zur Bahre", mißrät zum Beispiel bei der geplanten Altautoverordnung zu einem gigantischen, unnötigen und falsch gerichteten Ankurbelungsprogramm für die PkwBranche.
Meine Damen und Herren, merken Sie auf! Die im neuen Abfallgesetz formulierte Produktverantwortung sollte natürlich auch für die Regierungsarbeit gelten. Für Ihre Produkte vom Kreislaufwirtschaftsgesetz bis hin zur angekündigten Altautoverordnung gilt: Wer sie in die Welt setzt, der muß sie auch entsorgen - „von der Wiege bis zur Bahre".
Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [PDS])



Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313140100
Ich erteile dem Abgeordneten Professor Rainer Ortleb das Wort.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (FDP):
Rede ID: ID1313140200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Anfang darf ich mir einen lockeren Scherz erlauben: Manuskript oder kein Manuskript? Vorige Woche hatte ich enormes Pech: Da wurde zu Protokoll gegeben, und ich hatte keines. Heute habe ich vorsichtshalber ein Manuskript.

(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie müssen ja nicht sprechen! Es zwingt Sie niemand!)

Vor einigen Tagen ist das Kreislaufwirtschaftsgesetz in Kraft getreten. Es wird oft kritisiert, es werde zuviel geregelt, und die Umsetzung des Gesetzes werde hohe Kosten verursachen. Diese Kritik halte ich für unberechtigt.
Mit der Übernahme von EG-Abfallrecht wurde das deutsche Abfallrecht auch auf die Verwertung ausgedehnt. Das Umdeklarieren in verwertbares Wirtschaftsgut, um der Abfallüberwachung zu entgehen, wird es nicht mehr geben. Durch diese Ausdehnung der zu überwachenden Abfallmengen brauchen wir zwangsläufig ein neues, abgestuftes Überwachungssystem. Natürlich müssen auch Anforderungen an die Verwertung gestellt werden.
Die Rechtsverordnungen für den Vollzug sind gerade noch rechtzeitig erlassen worden. Es hätte im Interesse aller gelegen, sie früher zu beschließen; aber die schwierigen Verhandlungen mit den Bundesländern ließen dies nicht zu. Die F.D.P. begrüßt, daß die dirigistischen Vorstellungen der Länder sich nicht durchgesetzt haben. Sie wollten den Abfallkatalog aufblähen. Sie wollten die Abfälle und Sekundärrohstoffe völlig unter ihre Kontrolle bekommen. Das ist der falsche Weg. Der Staat darf seinen Vollzugsauftrag nicht dazu mißbrauchen, staatseigene Betriebe mit Abfällen zu füllen und der Privatwirtschaft Konkurrenz zu machen.
Die oft geäußerte Kritik an den überhöhten Kosten, die angeblich durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz entstehen, ist nicht nachzuvollziehen. Die bisherigen Kostensteigerungen sind unter dem alten Abfallgesetz entstanden. Hier rächen sich die Sünden der Vergangenheit; denn die heute bestehenden Deponien bedürfen der aufwendigen und teuren Nachsorge über ihren Betrieb hinaus.
Die vom Bundesrat in der TA Siedlungsabfall durchgesetzte Verlängerung der Übergangsfristen für Deponien von acht auf zwölf Jahre war ein Fehler. Jetzt verfüllen die Deponiebetreiber nach Kräften, und Müllverbrennungsanlagen laufen teilweise leer. Statt weiterhin auf Deponien zu setzen und verzweifelt nach Abfällen dafür zu suchen, sollten Kommunen Kooperationen eingehen, um nicht ausgelastete Müllverbrennungsanlagen besser zu nutzen. Hier entstehen unnötige Kosten, aber nicht durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz.
Immer noch auf die kalten Verfahren zu setzen ist der falsche Weg. Mit diesen Verfahren können die Schadstoffe nicht so weit eliminiert werden wie durch eine thermische Behandlung. Sie sind nach Meinung des Umweltbundesamtes auch nicht kostengünstiger.
Überlegungen der SPD-Umweltminister, Überkapazitäten bei der Müllverbrennung durch Kunststoffverpackungen zu füllen, sind ein Salto rückwärts. Vor fünf Jahren schrieb der SPD-geführte Bundesrat die stoffliche Verwertung fest; jetzt sollen drei Viertel aller Kunststoffverpackungen im Müllofen landen.

(Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist Unsinn!)

Da bleibt die Produktverantwortung auf der Strecke.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Verwertungskapazitäten, die geschaffen wurden, gehen verloren - und damit auch Arbeitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Die F.D.P. will die Kreislaufwirtschaft ausbauen. Der von den Grünen und der SPD eingeschlagene Weg der Verordnungen findet aber nicht unsere Zustimmung. Wir setzen auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft, sofern damit unsere umweltpolitischen Ziele erreicht werden. Für Altautos und den Bereich der Bürokommunikationsmittel wurden bereits Selbstverpflichtungen zur Rücknahme und Verwertung abgegeben. Wir brauchen dafür noch die rechtlichen Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung soll die „schlanken" Begleitverordnungen rasch vorlegen. Dieser Weg ist auch für die Koalition ein Lernprozeß. Freiwillige Kooperation der Wirtschaft und Wettbewerbsrecht müssen in Übereinstimmung gebracht werden.
Mit der Novelle der Verpackungsverordnung will die F.D.P. die Rahmenbedingungen für die mittelständische Entsorgungswirtschaft verbessern. Dazu gehören Ausschreibungspflicht, die Beschneidung des kommunalen Einflusses und Kostentransparenz. Wir wollen einen an der ökologischen Vorteilhaftigkeit ausgerichteten Verwertungsmix aus werkstofflicher, rohstofflicher und energetischer Verwertung. Es wird spannend sein, zu erfahren, was der Bundesrat und was die rot-grünen Länder wollen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Den Mehrweganteil bei den Getränken will die F.D.P. stabilisieren. Die Ökobilanz spricht hier eindeutig für Mehrweg. Gleichzeitig haben wir es mit einem Verdrängungswettbewerb zu Lasten der kleinen und mittelständischen Brauereien zu tun. Vor allem in den neuen Ländern hat sich der Trend zum Dosenbier verstärkt.

(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die jetzt vorgelegten Gutachten zeigen, daß eine Lizenzierung für Einwegdosen wirksam, praktikabel und auch EG-rechtlich machbar ist.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das müssen wir noch einmal diskutieren!)


Dr. Rainer Ortleb
- Das glaube ich Ihnen gerne.
Die F.D.P. unterstützt solche marktwirtschaftlichen Ansätze auf jeden Fall. Die Bundesregierung sollte jetzt rasch die Konsequenzen ziehen und Vorschläge unterbreiten.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche? Das ist die Frage!)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313140300
Ich erteile der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter das Wort.

Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1313140400
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz ist in einigen Punkten ein Fortschritt gegenüber dem alten Abfallrecht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In allen eigentlich!)

Seine Mängel treten jedoch deutlich zutage. Der Kreislaufgedanke wurde in wesentlichen Teilen den Interessen der Entsorgungswirtschaft geopfert. Trotz verabschiedetem untergesetzlichen Regelwerk herrscht große Unsicherheit über den Gesetzesvollzug.
Wie der Deutsche Landkreistag mitteilte, haben kommunale Praktiker erhebliche Zweifel, ob der Zeitdruck, unter dem die Beratungen von nicht weniger als sieben Verordnungen geführt wurden, der Qualität dieser Vorschriften gutgetan habe.
Der Umweltrat hat in seinem Jahresgutachten 1996 darauf hingewiesen, daß seit der 10. Wahlperiode Verordnungen zur Ausgestaltung des bis September gültigen Abfallgesetzes für 17 Regelungsbereiche einer Verabschiedung harrten. So kann man wohl getrost davon ausgehen, daß der Kreislaufgedanke in den für die Wirtschaft empfindlichen Bereichen des Abfallrechts auch nach Inkrafttreten des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und seines untergesetzlichen Regelwerkes kaum Konturen bekommen wird. Dementsprechend existiert weder eine Altpapier- noch eine Batterie- und Akkumulatorenverordnung. Gleiches gilt für eine Altauto- und eine Elektronikschrottverordnung.
Der mit zirka 285 Millionen Tonnen in 1992 größte Posten am gesamten Abfallaufkommen, die Bauabfälle, wird weiterhin größtenteils auf Deponien landen. Eine Bauabfallverordnung scheint hier notwendig, wird aber von der Bundesregierung mit dem Verweis auf Verhandlungen zur Selbstverpflichtung nicht erlassen. Angesichts des Rohstoffverbrauchs im Bausektor und der bekannten Strukturen dürfte eine Selbstverpflichtung hier wohl ein denkbar ungeeignetes Instrument sein.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

„Umweltpolitisch ungeeignet" - dieses Zeugnis stellt übrigens auch die aktuelle Studie aus, die vorige Woche durch Zufall ans Licht kam. Frau Merkel - man sah es im Fernsehen - war es offensichtlich ziemlich peinlich, daß diese Studie veröffentlicht wurde.
Weiter zum Bau: Der Abbau von mineralischen Bodenschätzen erfolgt nach Bedarf. Gebaut wird, was das Zeug hält. Was im Weg steht, reißt man lieber ab, als es neu zu nutzen; denn Neubau ist allemal profitabler als Um- oder Ausbau. Die Bauabfälle wachsen und wachsen. Die Passagen der Friedrichstraße in Berlin - wir werden sie demnächst sehen - sind dafür ein anschauliches Beispiel.
Die Bautätigkeit ist für viele Firmen seit der Vereinigung noch billiger geworden. Vor allem westdeutsche Baustoffversorgungsunternehmen hatten sich in den neuen Bundesländern rechtzeitig mit Bergbauberechtigungen ausgerüstet, die auch nach der Herausnahme der mineralischen Bodenschätze aus dem Bergrecht die Tür zum fast ungehinderten Raubbau öffnen.
Die Gleichstellung von stofflicher und energetischer Verwertung von Abfällen wird in Verbindung mit den Forderungen der TA Siedlungsabfall für ein gigantisches Müllverbrennungsprogramm sorgen. Gerade wird in Köln eine Müllverbrennungsanlage gebaut, die für eine Abfallmenge von 420 Kilo pro Kopf ausgelegt ist. In Wuppertal, also in einer vergleichbaren Region, hat die dort existierende MVA allerdings schon Mühe, die dort zugrunde gelegten 220 Kilo je Einwohner zusammenzubekommen.
Der Oberbürgermeister von Ingolstadt forderte Anfang dieses Monats eine Verbrennungspflicht für Gemeinden, die ihren Müll noch deponieren. Meine Heimatstadt hat nämlich gerade zwei Müllverbrennungslinien im Wert von 350 Millionen DM eröffnet - bloß der Müll fehlt. 50 000 Tonnen freie Kapazitäten pro Jahr sollen nun als Grund dienen, die klassische Deponierung von Abfällen schon vor dem Jahre 2005 zu verbieten. Wie immer ist Bayern der Vorreiter.
Das Ganze zeigt also, daß durch die Abfallpolitik ein gigantischer Sog nach Müll entstanden ist - zum Nutzen der Anlagenbauer. Es gibt keine Konkurrenz zur Vermeidung von Müll, sondern eine Konkurrenz um Abfall.

(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Das stimmt nur teilweise!)

Doch der Schwindel beginnt schon beim dualen System. Seien Sie doch einmal ehrlich, meine Damen und Herren von der Koalition: Die Zahlen des DSD stimmen doch überhaupt nicht. Das können wir auch beweisen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn alle um Müll konkurrieren, dann muß es doch wohl weniger geworden sein, oder? Entweder ist es weniger oder mehr! Es ist offensichtlich weniger!)

Nicht nur, daß Kunststoffe mit dem Grünen Punkt auf
Kippen im Trikont landen. Wie Stichprobenuntersuchungen in Berlin-Hellersdorf ergaben - das ist eine

Eva Bulling-Schröter
ganz neue Studie -, werden im Neubaugebiet mit 100 000 Einwohnern nur 10 bis 13 Prozent der Verbundstoffe mit dem Grünen Punkt wiedererfaßt - und das bei gesetzlich vorgeschriebenen Erfassungsquoten zwischen 64 und 72 Prozent. Ich denke, dies ist ein Beispiel dafür, wie weit postulierter Anspruch und Realität in der Abfallpolitik auseinanderdriften.
Noch einmal: Es gibt zu viele überdimensionierte Müllverbrennungsanlagen.

(Beifall bei der PDS)

Wenn sich ein CSU-Landrat hinstellen und sich bei der Bevölkerung dafür entschuldigen muß, daß er zu groß gebaut hat und es zu teuer wird, dann kann man, so denke ich, Fehler ruhig einmal zugeben. Das sollten auch Sie endlich einmal tun.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313140500
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein das Wort.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1313140600
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer noch vor zwei oder drei Jahren die Feststellung getroffen hat, das Abfallproblem sei das Umweltproblem Nummer eins, der mußte kaum mit Widerspruch rechnen. Wenn man aber heute den Kollegen von der Koalition zuhört, insbesondere Ihnen, Herr Kampeter,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann kann man uns gratulieren, Frau Hartenstein!)

dann hat man den Eindruck, im Müllsektor sei plötzlich alles paletti. Das ist aber leider nicht so.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Es ist schon besser geworden!)

- Das stimmt nicht, nicht für den Sondermüll, schon gar nicht für den Verpackungsmüll, auch nicht für die Einweg-Lawine, die ständig weiter anschwillt.
Im übrigen wird dieser Sachverhalt nicht dadurch besser, daß Sie uns überflüssigerweise noch einmal die Geschichte des Kreislaufwirtschaftsgesetzes zu erzählen versuchen. Das hilft nicht weiter.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es scheint mir aber notwendig zu sein!)

Eines allerdings hat sich positiv verändert; das möchte ich ausdrücklich hervorheben: Wenn Erfolge beim Abschmelzen der Müllberge erzielt worden sind, dann ist das in erster Linie den Bürgerinnen und Bürgern zu verdanken, die ein sehr hohes Umweltbewußtsein entwickelt haben

(Beifall des Abg. Michael Müller [Düsseldorf] [SPD])

und die das Sammeln, Sortieren und Kompostieren sozusagen zu ihrem Hobby gemacht haben.

(Beifall des Abg. Steffen Kampeter [CDU/ CSU])

Das ist der wirkliche Fortschritt, den wir verzeichnen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Trotzdem bleiben viele gravierende Probleme; ich kann nur einige ansprechen. Nehmen wir das Beispiel Sonderabfälle. Ich will die Recyclinganstrengungen der Industrie in gar keiner Weise kleinreden. Im Produktionsprozeß hat sich in Richtung abfallvermeidende Verfahren wirklich einiges getan. Dazu hat übrigens auch die Sonderabfallabgabe beigetragen, die Länder wie Baden-Württemberg, Hessen oder Niedersachsen eingeführt haben.

(Beifall des Abg. Michael Müller [Düsseldorf] [SPD] und des Abg. Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der weitverbreitete Optimismus aber, den Sie unterstützen, wonach ein Rückgang um 50 Prozent eingetreten sei, ist nicht gerechtfertigt. Bei ehrlicher Betrachtung haben wir einen Rückgang um etwa ein Viertel bis ein Drittel; auch das ist schon ein Erfolg.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Anerkennen Sie das bitte auch!)

Nur bleibt die Frage: Wo sind denn die Kanäle, in denen der Giftmüll verschwindet? Tatsache ist - das wurde schon gesagt -, daß Überkapazitäten vorhanden sind. Aber man muß ja den Ursachen für den scheinbar so imponierenden Rückgang nachgehen. Diese Ursachen sind, daß diverse Pseudo-Verwertungswege eingeschlagen werden.

(Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)

Erstens werden große Mengen an Sonderabfällen, besonders sogenannte Flüssigprodukte wie Altöl oder verschmutzte Lösemittel, als Wertstoffe deklariert, nach Belgien und Frankreich transportiert und dort in Zementwerken verbrannt, übrigens ohne Rauchgasreinigung. Das ist billiger als die ordentliche Entsorgung in einer deutschen Anlage, die der 17. BImSchV unterworfen ist.
Beträchtliche Mengen an Sondermüll werden auch weiterhin als Brennstoffe nach Osteuropa verfrachtet, zum Beispiel nach Polen und nach Rumänien. Der Grund ist derselbe: Billigentsorgung ohne Berücksichtigung strenger ökologischer Standards. Das verfälscht übrigens die Abfallstatistik gewaltig; denn diese Mengen fallen aus der Statistik heraus, weil sie ja nicht mehr als Abfälle gelten, sondern als Wertstoffe. Das ist nicht akzeptabel.
Der zweite Schlupfweg ist die Ablagerung von Sonderabfällen in ausgedienten Bergwerken und Salzstollen. Dazu bemerkt - hören Sie einmal bitte zu, Herr Kampeter -

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe gerade zum Applaus bei den Kollegen aufgefordert!)

das Umweltbundesamt in seinem Jahresbericht 1995, der ja vor knapp einer Woche vorgelegt worden ist, diese Entwicklung bei der untertägigen Entsorgung von Abfällen sei nicht erfreulich. Wörtlich heißt es:

Dr. Liesel Hartenstein
Insbesondere nimmt die Menge der auf diese Weise beseitigten Sonderabfälle erheblich zu: Sie ist inzwischen doppelt so hoch wie die in zugelassenen Untertagedeponien beseitigte Abfallmenge - mit steigender Tendenz.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Hört! Hört!)

Das ist die Realität. Wen wundert es, daß parallel dazu die Einlagerungsmenge etwa in der Untertagedeponie in Herfa-Neurode in Hessen stark zurückgeht? 1991 wurden dort noch 150 000 Tonnen eingelagert; jetzt sind es noch knapp 90 000 Tonnen. Das hat übrigens entsprechende Konsequenzen für die Arbeitsplätze in diesem Raum und in dieser Anlage. Der Grund dafür ist einfach: Das Abkippen von Sondermüll in dafür nicht gesicherten Bergwerken kostet zwischen 100 und 300 DM pro Tonne; in genehmigten Untertagedeponien dagegen kostet es 800 bis 900 DM pro Tonne. So wird der Sondermüll eben an Herfa-Neurode vorbei transportiert und zum Beispiel nach Bernburg oder Teutschenthal in Sachsen-Anhalt gebracht. Gleiches gilt übrigens auch für die alten Bundesländer; das ist nicht auf die neuen beschränkt. Da wird zum Beispiel fröhlich das alte Salzbergwerk in Kochendorf in Baden-Württemberg aufgefüllt, und die zehn Kilometer entfernte

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist denn dagegen einzuwenden?)

- ich sage es Ihnen gleich - zugelassene Untertagedeponie in Heilbronn wird geflissentlich gemieden. Diese Mißstände müssen endlich abgestellt werden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Sie, Herr Kampeter, fragen: Warum? Hier tickt doch eine hochgefährliche Zeitbombe:

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn das sicher ist, dann doch wohl kaum!)

mit drohender Grundwasserverseuchung, dem Austritt von Schadstoffen, möglichem Zusammenbrechen von instabilen Hohlräumen und anderem mehr.
Genau diese Problematik greift unser Antrag auf, den Sie abgeschmettert haben. Wir verlangen, daß die Einbringung von bergbaufremden Abfällen als Versatzstoffen den gleichen materiellen Anforderungen unterworfen werden soll, wie sie in der TA Abfall, Teil 1, vorgeschrieben sind. Ich frage Sie, warum Sie dies eigentlich abgelehnt haben. Ich möchte darauf hinweisen, daß dieselbe Forderung der Umweltministerrat im Mai 1995 bereits erhoben hat, und zwar einstimmig. Auch dies vermerkt der Jahresbericht des Umweltbundesamtes. Der Erklärungszwang liegt bei Ihnen, nicht bei uns.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Umweltbundesamt sagt, es sei besorgt wegen dieser Entwicklung. Auch wir sind es. „Zu spät!" könnte es eines Tages heißen, wenn Flüsse wie der Neckar oder die Saale oder die Elbe durch austretende Giftstoffe verseucht sind.
Schöne neue Abfallwelt - sie ist noch keineswegs Wirklichkeit. Es ist zu befürchten, daß sie auch mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz nicht verwirklicht wird, wie Sie das als wundersames Gemälde an die Wand werfen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das verspricht die Politik auch nicht, dafür aber vernünftige Lösungen! - Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir sind ihr aber nähergekommen!)

- Das müssen Sie mal erläutern.
Wer soll eigentlich noch die Entsorgungswege kontrollieren, wenn infolge Ihrer, Herr Heinrich, Deregulierungsphilosophie und Ihrer Privatisierungsbegeisterung künftig

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alles mit Ihrer Zustimmung beschlossen, Frau Hartenstein!)

- in diesem Punkt nicht, Herr Kampeter; das stimmt überhaupt nicht - jeder gewerbliche Abfallproduzent selber entscheiden kann, wie und wo er seinen Müll entsorgt?

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das steht im Gesetz! Das ist mit Ihrer Zustimmung beschlossen worden! - Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das stimmt doch nicht!)

- Langsam! Er wird ihn dahin kutschieren lassen, wo er die billigsten Entsorgungsmöglichkeiten findet. Diese Auffassung ist auch aus Ihren Reihen zu hören, wie Sie sich genau erinnern werden, wenn Sie die Diskussion im Ausschuß verfolgt haben. Das liegt doch auf der Hand.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Frau Hartenstein, haben Sie für das Gesetz gestimmt oder nicht?)

Eine Studie des Wuppertal-Instituts prognostiziert eine Verzwanzigfachung der Abfalltransporte, zumal das Prinzip der Nahentsorgung auch bei Abfällen für Verwertung aufgegeben worden ist und die Transportkosten überhaupt nicht ins Gewicht fallen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer tritt eigentlich für Kooperation ein? Das ist doch etwas Vernünftiges!)

- Um Ihnen da kurz zu antworten: Wir haben im Rahmen der Arbeit im Vermittlungsausschuß vieles verbessern können. Wir haben aber bei weitem nicht alles reparieren können, was in diesem Gesetzentwurf und in dem zur Zeit gültigen Gesetz reparaturbedürftig ist.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313140700
Frau Kollegin Dr. Hartenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kampeter?

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1313140800
Ja, bitte. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön.


Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313140900
Frau Kollegin Hartenstein, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in Ihrer Argumentation eine gewisse Spannung besteht? Auf der einen Seite beklagen Sie die angeblich enormen Überkapazitäten bei den Behandlungs-
und Entsorgungsanlagen. Auf der anderen Seite beklagen Sie, daß auch Abfälle transportiert worden sind.
Beides kriegt man aber nur gedeckt, wenn man regional kooperiert, um die Kosten zu reduzieren. Das setzt voraus, daß nicht jeder Kreis seine Sonderabfallanlage, nicht jeder Kreis seine Müllverbrennungsanlage und nicht jeder Kreis seine Hausmülldeponie hat, sondern daß man regional kooperiert und damit gelegentlich auch mal Abfälle transportiert.
Unter dem Strich - Frau Kollegin Hartenstein, sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? - kommt das für den Bürger allerdings günstiger und wird im übrigen auch von der rot-grünen Koalition in NordrheinWestfalen

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Er hat da ein Trauma!)

genauso wie von mir gefordert.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1313141000
Herr Kollege Kampeter, in der Schule würde man sagen „Thema verfehlt"; denn darüber habe ich überhaupt nicht gesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Ich habe nicht bestritten, daß die Mengen zurückgegangen sind. Ich habe nur zu erklären versucht, in welche Kanäle die offensichtlich so stark gesunkenen Abfallmengen - das tragen Sie triumphierend vor sich her - tatsächlich gehen. Das kann ich Ihnen belegen - geographisch und auch mit Zahlen, wenn Sie das wollen, nicht im Augenblick; aber ich liefere das gern nach.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Darüber würde ich mich sehr freuen!)

- Oh ja. Wir haben Gelegenheit dazu, ich hoffe das.
Meine Damen und Herren, das Kreislaufwirtschaftsgesetz enthält zweifellos gute Ansätze. Das bestreiten wir nicht.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das hätten Sie früher sagen sollen!)

Aber es bringt nicht den großen Sprung nach vorn zu einer vermeidungsorientierten Abfallwirtschaft. Solange noch Konstruktionen wie das Duale System das Sagen haben und das Feld beherrschen, hat die Abfallvermeidung keine Vorfahrt. Daran werden Sie nichts ändern können.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer sitzt denn im Kuratorium? Der Abgeordnete Müller!)

Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Dosenproblematik. 6 Milliarden Dosen sind allein im Getränkebereich auf dem Markt. Die Hälfte davon sind
Bierdosen. Wer wissen will, wie Preisdumping funktioniert, der kann es am Biermarkt ganz genau studieren. Großbrauereien unterbieten derzeit die Preise für Flaschenbier bis zu 50 Prozent. Die Entsorgungskosten für den Einwegmüll trägt aber die Allgemeinheit.
In diesem Bereich herrscht ein knochenharter Verdrängungswettbewerb, der letztlich zu Lasten der Pfandflasche, zu Lasten des Mehrwegsystems und auch zu Lasten des mittelständischen Gewerbes geht, das doch ganz besonders Ihnen am Herzen liegen müßte, Herr Heinrich - ob es nun Brauereien, Mineralbrunnen oder Hersteller von Fruchtsäften sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Ich muß zum Schluß kommen. Unsere Forderung ist: Warten Sie nicht, bis es zu spät ist! Wir bestehen darauf, daß der Erlaß einer Mehrwegverordnung unverzichtbar ist. Sie muß getränkespezifische Quoten festlegen. Sie muß eine Kennzeichnungspflicht für Einweg und Mehrweg enthalten, um dem Verbraucher klare Entscheidungsmöglichkeiten zu geben. Sie muß bei Massengetränken zu einer Standardisierung für Behälter und Kästen kommen, um Rücknahme und Rücktransport so rationell wie möglich zu gestalten.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313141100
Frau Kollegin Dr. Hartenstein!

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1313141200
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. - Der Zug ist längst im Rollen; aber die Politik sitzt nicht auf der Lokomotive, sondern sie läßt den Zug treiben. Wer nicht rechtzeitig die Richtung angibt, der wird sich einmal wundern, wohin er kommt. Wenn Sie Ihre Hausaufgaben machen,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Haben wir gemacht!)

dann sind wir bereit, mitzuarbeiten. Danke schön. .

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313141300
Nun gebe ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Hirche.

Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1313141400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierung und die Koalition haben sehr wohl ihre Hausaufgaben gemacht, und ich glaube, das ist es, was den Ärger bei der SPD auslöst.

(Rolf Köhne [PDS]: Welche Zensur hat sie denn dafür gekriegt? Sechs!)

Wir haben ja im Laufe des letzten halben Jahres hier mehrere Debatten erlebt, in denen gesagt

Parl. Staatssekretär Walter Hirche
wurde, daß die Regierung das untergesetzliche Regelwerk nicht rechtzeitig fertigstellen würde. Wir haben es rechtzeitig getan, meine Damen und Herren. Wenn es da überhaupt eine Verzögerung gegeben hat, dann lag das daran, daß wir das im Vorfeld sehr sorgfältig mit den Ländern und auch mit den verschiedenen Verbänden vordiskutiert haben. Da kann überhaupt niemand sagen, der Tag der Veröffentlichung oder der Verabschiedung sei der Tag gewesen, an dem diese Dinge zum erstenmal bekannt geworden wären. Nein, die Länder und die Kommunen hatten sehr viel Zeit, sich auf die ganze Situation vorzubereiten.
Meine Damen und Herren, eines ist hier deutlich geworden: Der Rahmen der Abfallwirtschaft ist abgesteckt, und das Kreislaufwirtschaftsgesetz hat bereits vor seinem Inkrafttreten auch entsprechende Verhaltensweisen ausgelöst.
Der Hauptpunkt in den Diskussionen mit den Ländern war - deswegen habe ich mich schon etwas über einige Vorwürfe amüsiert, die hier kamen -, daß wir die Länder davon abhalten mußten, noch mehr Regelungen einzuführen, als sie von Europa überhaupt vorgegeben waren.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Die Länder waren es doch, die versuchen wollten, die Kataloge von überwachungsbedürftigen und besonders überwachungsbedürftigen Abfällen noch weit über das europäische Vorgabemaß hinaus auszuweiten.
Wir haben das nicht mit uns machen lassen. Insofern ist mit diesen Verordnungen nicht mehr Bürokratie gemacht worden, sondern wir haben die Deregulierungsmöglichkeiten des Gesetzes ausgeschöpft. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt. Wir haben damit auch das Ziel geschafft, unser Gesetz so nahe wie möglich an den europäischen Vorgaben sein zu lassen.
Wenn es hier wirklich einen internationalen Markt, einen Abfallmarkt, Abfallströme und Verhaltensweisen gibt, dann ist es wichtig, daß wir in diesem Zusammenhang nicht überall Sonderregelungen haben, sondern daß wir den Versuch machen, in Europa einheitliche Regelungen zu bekommen.
Wir haben die modernen Instrumente der Auditierung und Zertifizierung über die Verordnungen ausgefüllt, indem Entsorgerfachbetriebe und Entsorgergemeinschaften in der Abfallwirtschaft eine besondere Rolle spielen können. Mit den Übergangsregelungen

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die sind fair, sehr fair!)

haben Kommunen ausreichend Zeit, sich auf alles einzustellen, so daß alles das, was Sie hier in der Debatte dazu vorbringen, völlig abwegig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, jeder von uns weiß, das Kreislaufwirtschaftsgesetz ist auf eine langfristige Umsteuerung angelegt. Man kann vielleicht beklagen, daß die eine oder andere Maßnahme nicht früher erfolgt, aber wer hier ohne Schaden für die deutsche Volkswirtschaft eine solche Umsteuerung erreichen will, der muß eben auch auf mittel- und langfristige Prozesse setzen.
Die Bundesregierung setzt darauf, daß mit Überzeugung der Betroffenen und einem Mindesteinsatz von ordnungsrechtlichen Instrumenten die Produktverantwortung schrittweise und in besonders wichtigen Bereichen eingeführt werden kann. Ich denke, wir sind hier auf einem guten Wege.
Meine Damen und Herren, wie die Erfahrungen mit der Verpackungsverordnung zeigen, erfordert eine Kreislaufwirtschaft mehr als ein schlichtes ordnungspolitisches Denken. Wir haben mit der Verpakkungsverordnung erstmals die Produktverantwortung eingeführt.
Man kann doch an den Zahlen nicht vorbeigehen, Frau Hartenstein, die sich da ergeben haben. Sie haben es ja im zweiten Teil Ihrer Ausführungen auch eingeräumt. Zwischen 1990 und 1993 - das sind die letzten Zahlen, die vorliegen - ist die Gesamtmenge des Abfalls von 370 auf 330 Millionen Tonnen zurückgegangen, und im Verpackungsbereich allein ist von 1991 bis 1995 der Abfall um über eine Million Tonnen zurückgegangen. Das sind immerhin 14 Prozent in dieser Zeit von vier Jahren.
Der Vorwurf, hier gebe es nicht genug Transparenz, Frau Caspers-Merk, der greift überhaupt nicht. Denn Sie könnten diese Kritik gar nicht üben, wenn es eine solche klare Transparenz über alle Zahlen an dieser Stelle nicht gäbe.
Auch die Bilanz, daß dem Dualen System seit 1993 Verwertungsmengen von mehr als 14 Millionen Tonnen zugeführt worden sind, kann sich sehen lassen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die unter der geltenden Verpackungsverordnung gemachten Erfahrungen werden natürlich in die Novellierung einfließen.
Da hier beim Thema Mehrwegquote eine Verschärfung der Richtlinien gefordert wurde, darf ich vielleicht bemerken: Wir führen derzeit einen noch nicht beendeten Streit mit der Europäischen Kommission, die der Bundesregierung vorwirft, wir hätten in Deutschland eine zu stringente Mehrwegquote, und dies sei ein Verstoß gegen den freien Wettbewerb in Europa. Wir als Bundesregierung teilen diese Auffassung nicht.
Aber wenn noch nicht einmal das, was wir umgesetzt haben, außer Streit ist, kann man doch nicht, wie Sie, Frau Hartenstein, das am Schluß getan haben, nur fordern: Sie muß dieses, sie muß jenes und das auch noch! Wollen Sie denn, daß wir unsere Rechtsposition gegenüber Brüssel noch einmal verschlechtern, am Ende scheitern und dann sehr viel weniger haben als heute? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Bei der Diskussion um die europäische Richtlinie für Verpackung und Verpackungsabfälle ist man in

Parl. Staatssekretär Walter Hirche
Brüssel jetzt so weit, daß dort die Absicht besteht, unsere deutschen Erfahrungen aufzunehmen, sozusagen als Grundmuster für eine europäische Regelung. Das fände ich sehr positiv. Wir sollten dann aber auch dafür sorgen, daß diese Regelungen in Deutschland nicht diskreditiert, sondern gelobt werden, damit sie in der Europäischen Union übernommen werden.
Gar kein Verständnis kann ich dafür haben, daß einerseits beklagt wird, daß für jeden Bundesbürger pro Jahr Gebühren in Höhe von etwa 50 DM für das Duale System anfallen, während andererseits Vorschläge für eine das Duale System ersetzende Verpackungsabgabe gemacht werden,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das kostet das Fünfzigfache!)

deren Umsetzung Mehrkosten in deutlich spürbarer Höhe verursachen würde. Was stimmt denn nun? Sind die Gebühren heute zu hoch, oder muß man in dem Zusammenhang mehr machen? Ich glaube, an diese Frage muß man differenzierter herangehen als in dieser pauschalen Form vorgetragen.
Wir haben - das ist richtig - die endgültigen Verordnungsentwürfe für den Bereich Elektroschrott und Altautoverwertung noch nicht vorgelegt. Das Kabinett soll sich im November mit der begleitenden Verordnung zur freiwilligen Selbstverpflichtung zur umweltgerechten Altautoverwertung beschäftigen. Die Altautoverordnung und die Selbstverpflichtung werden, so denke ich, insgesamt zu einer deutlichen Verbesserung dieses Problems führen.
Meine Damen und Herren von der SPD, vielleicht müßten Ihnen das die Wirtschaftspolitiker Ihrer Fraktion einmal deutlich machen: Es macht für eine Volkswirtschaft einen Unterschied, ob es in dem Wirtschaftsraum Automobilproduzenten gibt, mit denen man über so etwas reden muß, oder ob dies, wie in den Niederlanden, nicht der Fall ist. Von daher sind diese Vergleiche zwar bemerkenswert, aber das läßt sich eben nicht Punkt für Punkt auf Deutschland übertragen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Dennoch bin ich immer der Meinung - insofern nehme ich das auf -, daß man von anderen lernen sollte.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die IT-Geräte-Verordnung stellt - das wissen Sie - nur eine erste Teilregelung für den Bereich des Elektronikschrotts dar. Aber sie spielt insofern eine Art Pfadfinderrolle für die Betroffenen. Die Rücknahme aller Geräte durch die Hersteller stellt hier eine Grundpflicht dar. Die Regelungen zielen in der Tat darauf ab, der Produzentenverantwortung Rechnung zu tragen. Das wird dann auch bei der Verordnung für den Bereich der Batterien der Fall sein.
Einem Wunsch kann ich nicht entsprechen - ich glaube, Sie waren es, Frau Caspers-Merk, die das hier vorgeschlagen, wenn nicht gefordert hat -, nämlich daß die Gewaltenteilung, in der heute Verordnungen erarbeitet werden, quasi aufgehoben wird.
Sie haben gesagt, daß das Parlament an solchen Verordnungen von Anfang an beteiligt sein sollte. Es gibt aber eine klare Trennung zwischen den exekutiven Aufgaben, die der Regierung zugewiesen sind, und der Legislative, die das Recht hat, einen Vorschlag, den die Regierung gemacht hat, in voller Souveränität zurückzuweisen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ein Parlament, das in die Erarbeitung von Anfang eingebunden ist, wird am Ende nicht in der Lage sein, die Souveränität zu wahren, die Verordnung, an der man zunächst mitgearbeitet hat, gegebenenfalls zurückzuweisen. Diese Aushebelung der Gewaltenteilung werden wir in dieser Form nicht mitmachen. Die Regierung bekennt sich in diesem Zusammenhang zu ihrer Verantwortung.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313141500
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Dr. Hartenstein?

Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1313141600
Gern.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313141700
Bitte.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1313141800
Herr Staatssekretär Hirche, darf ich Sie daran erinnern oder Ihnen vielleicht auch mitteilen, falls Sie es nicht wissen sollten, daß der stärkste Verfechter dafür, daß auch der jeweils zuständige Ausschuß des Deutschen Bundestages an der Erarbeitung von Verordnungen beteiligt sein soll, im Bereich des Kreislaufwirtschaftsgesetzes Ihr ehemaliger Kollege und früherer Innen- und Umweltminister Gerhart Baum war? Auf dessen Betreiben ist beispielsweise dieser eine Passus auch in das Kreislaufwirtschaftsgesetz aufgenommen worden.

(Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Was? Da waren wir aber nicht dabei!)


Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1313141900
Frau Kollegin, vielleicht sind hier in der Diskussion zwei Dinge durcheinandergekommen. Ich kann es mir nicht vorstellen - dazu kenne ich den Kollegen Baum zu lange -, daß er einer Vermischung der Gewalten das Wort geredet hat. Er wird vorgeschlagen haben, daß die Regierung ihre Aufgabe zunächst erledigen muß, daß dann aber, bevor eine Verordnung in Kraft gesetzt wird, das Parlament in einen Dialog einbezogen werden muß und darüber dann gemeinsam gesprochen wird.
Es kann doch nicht darum gehen, daß die Regierung, statt daß sie ihre Arbeit macht und dabei auch mit den Verbänden und Betroffenen redet, sich erst einmal rückversichert, ob die Dinge überhaupt laufen. Das ist nicht mein Verständnis von Gewaltenteilung und von Regierungsverantwortung.
Das schließt jedoch überhaupt nicht aus, daß man vor Inkraftsetzen der Verordnung mit dem Parlament

Parl. Staatssekretär Walter Hirche
redet. Das halte ich für eine Neuerung im Sinne eines offenen Umgangs zwischen den Gewalten.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313142000
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kampeter?

Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1313142100
Ja.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1313142200
Herr Kollege Hirche, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Kollege Baum an der Vorbereitung dieser Rechtsvorschrift überhaupt nicht beteiligt war, sondern daß dies ausschließlich von den zuständigen Berichterstattern der Koalition für das Kreislaufwirtschaftsgesetz initiiert worden ist?

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Aber da sagen Sie nun die Unwahrheit!)


Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1313142300
Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Kollege; aber ich habe die Kollegin Hartenstein so verstanden, daß sie frühere Positionen des Kollegen Baum in diesen Zusammenhang gebracht hat. Meine Bemerkung bleibt gleichwohl in der Sache stehen.
Lassen Sie mich zum Thema Kostentreiberei zunächst darauf verweisen, daß Herr Kampeter und Herr Ortleb auf diese Themen schon eingangen sind. Diese Kosten sind in einer Zeit entstanden, als das Kreislaufwirtschaftsgesetz überhaupt noch nicht in Kraft war. Im wesentlichen sind sie durch Fehlplanungen auf kommunaler Ebene und durch das Nichtvorhandensein von Landesplanungen im Zusammenhang mit der gesamten Abfallthematik verursacht worden.
Meine Damen und Herren, auf Grund der Kompetenzverteilung im Föderalismus - hier in Bonn wird der gesetzliche Rahmen beschlossen, während der Vollzug auf den anderen Ebenen liegt - wird auch in Zukunft vieles von dem, was bei den Bürgern positiv oder negativ ankommt, nicht im wesentlichen durch die Gesetze, sondern durch das bestimmt, was im Vollzug daraus gemacht wird.
Da komme ich auf den wichtigen Punkt der Technischen Anleitung Siedlungsabfall. Ich möchte ganz deutlich sagen, daß die Bundesregierung allen Bestrebungen entgegentritt - sie tut dies auf der Basis der gemeinsam mit dem Bundesrat gefundenen Beschlußlage -, die darauf zielen, die strengen Umweltbedingungen aufzuweichen, die mit der TA Siedlungsabfall an den Abfall gestellt worden sind. Ich halte es für ganz erstaunlich, aber nicht untypisch, daß der Kollege Rochlitz an der Stelle, an der es darum geht, daß über den Parameter Glühverlust gesichert wird, daß der Abfall keine tickende Zeitbombe für nachfolgende Generationen ist, die Regelungswut beklagt.
Meine Damen und Herren, die Regelungswut besteht an dieser Stelle auf Grund der Beschlußlage von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat darin, daß wir sehr strenge und präzise Vorschriften im Zusammenhang mit dem Abfall erlassen haben.
Herr Rochlitz, Sie sprachen an dieser Stelle von Regelungswut. Sie meinen, das müßte beseitigt werden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Sie diese Bedingungen für falsch halten. Das ist vorhin in der Debatte so auf den Punkt gebracht worden: Der Gesundheitsschutz für die Enkel ist Ihnen nichts wert; das ist für Sie eine Nullsumme. Sie wollen nur Ihre Polemik gegen Verbrennung und gegen die Vorschriften aufrechterhalten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Eines ist allerdings zu befürchten. Einige Länder glauben, im Zusammenhang mit Ausnahmebestimmungen, die in der TA Siedlungsabfall stehen, heute ihren Kommunen empfehlen zu sollen - Niedersachsen ist so ein Fall -, keine Verbrennungsanlagen zu bauen, sondern alles auf die Deponien zu bringen. Ich sage Ihnen: Das bedeutet, morgen muß das wieder von den Deponien heruntergeholt werden und anschließend verbrannt werden. Das verursacht doppelte Kosten, und dafür sind Sie in den Ländern, in denen Sie an der Regierung beteiligt sind oder die Regierung ermuntern, mitverantwortlich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ein letztes Wort zum Thema Versatz von Abfällen in Bergwerken: Frau Hartenstein, ich bin geradezu gerührt, in welcher Weise Sie das hier vortragen. Aber Sie müßten doch die Rechtslage kennen. In den Ländern ist die Bergbehörde zuständig. Jeder Wirtschaftsminister, dem die Bergbehörde untersteht und der die Verantwortung dafür trägt, ob Versatz eingebracht wird oder nicht, muß mit diesem Thema ins Kabinett. Wo war denn Ihr Umweltminister Harald Schäfer - wenn Sie das so stört - in Baden-Württemberg und hat das aufgehalten? Das wäre doch möglich gewesen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich finde es schon ganz erstaunlich, dem Bund etwas vorzuhalten, was man auf Landesebene ohne weiteres in eigener Verantwortung hätte regeln können.
Ich sage Ihnen noch eines: Seit dem 7. Oktober geht es mit dem Inkrafttreten des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes sowohl beim Bergversatz als auch bei der untertägigen Ablagerung jeweils um Verfahren der Abfallentsorgung.

(Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abfallverwertung!)

Insoweit gelten sowohl für die Verwertung wie für die Beseitigung die gleichen Rechtsgrundlagen. Insoweit ist seit dem 7. Oktober eine neue Rechtssituation gegeben. Zwar bleibt der praktische Vollzug abzuwarten, aber es besteht keine Notwendigkeit, eine Rechtsverordnung in diesem Bereich vorzulegen.
Das Kreislaufwirtschaftsgesetz insgesamt hat sich auch vor seinem Inkrafttreten dadurch als gut ausge-

Parl. Staatssekretär Walter Hirche
zeichnet, daß es den richtigen Kurs eingeschlagen hat. Es fehlen noch ein paar Bojen - wenn ich das als jemand von der Küste sagen darf -, die gesetzt werden müssen, aber Richtung und Kurs stimmen.
Es ist so, daß wir weniger Müll in Deutschland haben. Das bedeutet, es muß sorgfältiger geplant werden. Das wird die Kosten reduzieren und uns allen nützen, sowohl was die Finanzen betrifft als auch was der Umwelt in Deutschland dient.
Schönen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313142400
Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, möchte ich denen, die es noch nicht wissen, sagen, daß die Reden zu den Tagesordnungspunkten 13, 14 und 16 zu Protokoll gegeben worden sind. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist, so daß wir dann eine Reihe von Abstimmungen im Zusammenhang vornehmen können.
Wir kommen damit zu den Abstimmungen, und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen zur Organisation der Abfallvermeidung auf der Drucksache 13/5023. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4352 abzulehnen. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Kriterien für die oberirdische Ablagerung von Abfällen auf. Das ist die Drucksache 13/5024. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2496 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit der gleichen Stimmenmehrheit angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Verwertungsbeschränkungen für Schlacken aus Verbrennungsanlagen für Siedlungsabfälle, Drucksache 13/5025 auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1235 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung mit der gleichen Stimmenmehrheit angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion der SPD zu einer bundeseinheitlichen Regelung des untertägigen Versatzes von Abfällen in Bergwerken, Drucksache 13/5051, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 2758 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit der gleichen Stimmenmehrheit wie bisher bei Stimmenthaltungen aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion der SPD zu Eckpunkten zur Novellierung der Verpackungsverordnung, Drucksache 13/5158, Buchstabe a, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2818 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit der gleichen Stimmenmehrheit wie bisher angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion der SPD zum Erlaß einer Getränkemehrwegverordnung, Drucksache 13/5158, Buchstabe b, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2855 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch dieser Antrag mit der gleichen Stimmenmehrheit angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zum Erlaß einer Altautoverordnung, Drucksache 13/ 5158, Buchstabe c, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3334 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltungen aus der Fraktion der SPD und Gegenstimmen im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu einer Elektronikschrott-Verordnung, Drucksache 13/5158, Buchstabe d, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4351 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD und Gegenstimmen im übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu einer Verpackungsvermeidungs- und Mehrwegverordnung, Drucksache 13/5158, Buchstabe e, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4354 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluß-

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
empfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD und Gegenstimmen im übrigen angenommen worden ist.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dr. Michael Meister, Werner Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun, Dr. Klaus Röhl, Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Aktionsprogramm zur CO2-Minderung und
Energieeinsparung im Gebäudebereich
- Drucksache 13/5761 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ich stelle fest, daß die Reden dazu zu Protokoll gegeben worden sind und unterstelle das Einverständnis des Hauses.*)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14e auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Ulrike Höfken, Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedrohung der Meere und Zerstörung der Küsten durch Ölkatastrophen
- Drucksache 13/3884 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdverkehr und Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Angelika Beer, Kristin Heyne, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sofortmaßnahmen gegen die Verseuchung der Meere durch illegale Öleinleitungen - Maßnahmen zur überwachten Entsorgung von Altölen und Ölschlämmen an Land
- Drucksache 13/4237 -
*) Die Redetexte werden in einem Nachtrag als Anlage 2 abgedruckt.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Fremdverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg), Annette Faße, Konrad Kunick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz vor Öltankerunfällen und Umweltschäden in europäischen Gewässern
- Drucksache 13/5155 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Fremdverkehr und Tourismus
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg), Annette Faße, Konrad Kunick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz der Nordsee durch Schiffsölentsorgung in Seehäfen
- Drucksache 13/5756 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß)

- zu dem Antrag der Fraktion der SPD Geplante Versenkung der Shell-Ölplattform und glaubwürdiger europäischer Nordseeschutz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, Joseph Fischer (Frankfurt), Kerstin Müller (Köln) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Meer ist keine Müllhalde
- Drucksachen 13/1738, 13/3211, 13/5159 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Paziorek
Dietmar Schütz (Oldenburg)

Michaele Hustedt Günther Bredehorn
Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben worden.') Ich unterstelle das Einverständnis des Hauses. - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3884, 13/4237, 13/5155 und 13/5756 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen.
*) Die Redetexte werden in einem Nachtrag als Anlage 3 abgedruckt.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur geplanten Versenkung der Shell-Ölplattform und zu einem glaubwürdigen europäischen Nordseeschutz auf Drucksache 13/5159, Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1738 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die übrigen Stimmen des Hauses angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen „Das Meer ist keine Müllhalde" auf Drucksache 13/5159, Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3211 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß auch dieser Antrag mit der gleichen Stimmenmehrheit wie eben angenommen worden ist.
Nunmehr rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Matthias Berninger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts
- Drucksache 13/2728 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Finanzausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 10 Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann machen wir das so.
Ehe ich die Aussprache eröffne, schlage ich vor, daß die Kolleginnen und Kollegen, die der Aussprache nicht weiter beiwohnen wollen, uns verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Volker Beck.

Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313142500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Anfang eine kleine Rückblende: 1962 legte die Regierung Adenauer einen Entwurf zur Reform des Strafgesetzbuches vor. Darin wurde an der Strafbarkeit der männlichen Homosexualität festgehalten. Als Begründung führte die damalige Regierung - übrigens auch eine CDU/CSU-F.D.P.-Koalition - unter anderem an, wenn die Strafbarkeit wegfiele, dann stünde für die Homosexuellen nichts im Wege, „ihre nähere
Umgebung durch das Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen" .
Genauso ist es auch gekommen. Allerdings fühlt sich die Gesellschaft immer weniger von homosexuellen, „eheähnlichen Verhältnissen" belästigt. Dafür belästigen die Homosexuellen jetzt sogar schon den Gesetzgeber. Die Kollegen vom Petitionsausschuß können Ihnen bestätigen, daß es eine Fülle von Eingaben zum Eheschließungsrecht, zur rechtlichen Anerkennung schwuler und lesbischer Paare gibt. Auf die Entkriminalisierung, die Aufhebung der strafrechtlichen Kategorie Homosexualität muß jetzt auch die zivilrechtliche Anerkennung folgen.
1992 zogen 250 schwule und lesbische Paare auf Deutschlands Standesämter. Vier Jahre danach beschäftigt sich auch endlich der Gesetzgeber mit diesem Anliegen. Die schwule und lesbische Bürgerrechtsbewegung hat das Eheschließungsrecht für homosexuelle Paare auf die politische Tagesordnung gesetzt. Ich verspreche Ihnen: Es wird keine Ruhe mehr geben, bis die Gleichberechtigung für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften durchgesetzt ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schwule und lesbische Lebensgemeinschaften sind heute praktisch rechtlos. Die Partner dieser Lebensgemeinschaften gelten nicht als Familienangehörige; sie haben nicht einmal den rudimentären Rechtsschutz von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, und sie sind meilenweit vom Rechtsstatus der Ehepaare entfernt.
Ich will Ihnen nur kurz einige Beispiele der Rechtsprobleme, die schwule und lesbische Lebensgemeinschaften haben, schildern. Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Niemand hat es in der Hand, wo die Liebe hinfällt.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das ist schön!)

In Deutschland ist jede zehnte Ehe eine Ehe zwischen binationalen Partnern. Auch bei Schwulen und Lesben dürften Amors Pfeile sich in ähnlicher Weise auf Deutsche und Ausländer verteilen. Aber diese sind dadurch mit einem nicht lösbaren Rechtsproblem konfrontiert.
Faktisch existiert ein zivil- und ausländerrechtliches Verbot solcher binationaler schwuler und lesbischer Lebensgemeinschaften. Es führt kein legaler Weg zum Erwerb eines Visums, zum Erwerb einer Aufenthaltsberechtigung. Das einzige, was der Gesetzgeber heute anbietet, ist: Ein schwules Paar sucht sich ein lesbisches Paar, und man geht über Kreuz eine Scheinehe ein. - Das kann doch auch nicht in Ihrem Sinne sein. Das ist unter der Würde des Rechtsstaates und unter der Würde der Menschen, denen man so etwas zumutet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])

Auf Grund von Aids brennen uns schwulen Männern die Rechtsfolgen vor allen Dingen auch im Zu-

Volker Beck (Köln)

sammenhang mit Krankheit und Tod auf den Nägeln. Im Krankenhaus hat der schwule Lebenspartner, aber auch die lesbische Lebenspartnerin kein rechtlich verbrieftes Besuchsrecht. Patiententestamente sind nicht in jedem Fall gültig.
Verliert jemand seinen Lebenspartner, mit dem er eine gemeinsame Wohnung bezogen hatte, muß er die Wohnung verlassen, wenn der Lebenspartner der Mieter war. Er hat keinen rechtlichen Anspruch auf Fortsetzung des Mietvertrages.
Im Zusammenhang mit der Erbschaft hat der homosexuelle Partner kein gesetzliches Erbrecht; Pflichtteilansprüche der Eltern und erst recht die Erbschaftsteuer lassen sich auch durch ein Testament nicht umgehen. Der Erbschaftsteuerfreibetrag beträgt 3 000 DM, und durch die Progression werden in Null Komma nichts Steuersätze von 32 bis 48 Prozent erreicht.
Ich kenne viele Beispiele aus der Praxis, daß eine schwule Lebensgemeinschaft gemeinsam eine Eigentumswohnung gekauft hatte, und diese schuldenfrei war. Wenn der eine Partner stirbt - der andere ist womöglich auch erkrankt -, dann gehört hinterher ein großer Teil dieser schuldenfreien Wohnung den Eltern und dem Finanzamt. Der verbliebene Partner muß eine Hypothek aufnehmen. Am Ende muß er ausziehen, weil er die Hypothek nicht mehr tilgen kann.
Ich frage Sie vor allem als Christdemokraten: Warum erkennen Sie diese Lebensgemeinschaften, wo der Partner über Jahre hinweg solidarisch gepflegt wird, wo man in den schwersten Zeiten des Lebens füreinander einsteht, wo die Lebensgemeinschaft in der Tat bis zum Tode geht, nicht an? Wo wären rechtlicher Handlungsbedarf und ein legitimer Anspruch auf Schutz und Solidarität der Gesellschaft notwendiger als bei solchen Lebensgemeinschaften?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, es geht natürlich aber nicht nur um Rechte, rechtliche Diskriminierungen und Gesetze. Es geht auch um Gefühl und darum, daß eine Heirat ebenso eine stolze Demonstration ist, ein selbstbewußtes Zeigen: Hier gehören zwei Menschen zusammen, die füreinander einstehen wollen, die einen Lebensabschnitt oder das ganze Leben miteinander verbringen wollen. Sie wollen das vor ihren Freunden, Verwandten und Nachbarn sagen. Sie wollen klarmachen: Wir sind ein Paar. Die Rechtsordnung unserer Republik verweigert beides: Rechtssicherheit und Zeremoniell.
Das Eheverbot bei Gleichgeschlechtlichkeit ist historisch das letzte Eheverbot, das wir in unserer Rechtsordnung noch haben. Bei dem Eheschließungsrecht für homosexuelle Paare geht es auch um die Stellung der homosexuellen Minderheit in der Gesellschaft. Es geht um ihre Gleichberechtigung und darum, daß sie nicht Bürger zweiter Klasse sind, sondern daß sie alle Rechte, die jeder Bürger in dieser Gesellschaft genießt, besitzen. Das Recht, die Ehe mit einem selbstgewählten Partner einzugehen, ist in unserer Verfassung ein Grundrecht und in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ein verbrieftes Menschenrecht.
Ich finde, es ist eine beispiellose Ignoranz, wenn Sie hier im Hause und draußen im Land die rechtliche Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften immer grundsätzlich mit dem Hinweis auf die Möglichkeit zur Eheschließung abwehren und dann aber homosexuellen Paaren nicht den Zugang zur Ehe eröffnen, sie nicht heiraten lassen. Wir meinen, auch für schwule und lesbische Paare darf das Standesamt kein Sperrbezirk sein. Auch für sie müssen in einer demokratischen Gesellschaft die Hochzeitsglocken läuten dürfen.
Wenn wir hier über das Eheschließungsrecht sprechen, dann tun wir das im Sinne von Wahlfreiheit. Niemand will Zwangsbeglückung. Natürlich wollen nicht alle Schwulen und Lesben heiraten. Schließlich zieht es längst auch nicht alle gemischtgeschlechtlichen Paare zum Traualtar. Viele Schwule und Lesben haben zudem Vorbehalte gegen die Ehe, weil ihre Lebensweise zu häufig mit der Begründung angefeindet wurde, man wolle die Institutionen Ehe und Familie vor ihnen schützen.
Meine Damen und Herren, es hat aber keinen Sinn, alle möglichen Einzelprobleme juristisch gesondert zu regeln. Wirklich gleiche Rechte gibt es nur in einem Gesamtpaket. Frau Wolf, wir haben weitergehende Vorstellungen. Diese können Sie in unserem Antrag „Wahlfreiheit und gleichberechtige Anerkennung für alle Lebensgemeinschaften" nachlesen. Darüber werden wir in diesem Haus zu einem anderen Zeitpunkt noch zu diskutieren haben.
Die Bevölkerung hat inzwischen verstanden, worum es den Schwulen und Lesben geht. Es geht um gesellschaftliche Akzeptanz, Gleichberechtigung und um die Lösung der juristischen Probleme. Es hat in unserer Gesellschaft ein Wandel der Anschauungen stattgefunden. Meinungsumfragen aus diesem Sommer zeigen: Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt inzwischen unsere Forderung nach einem Eheschließungsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Zwei Drittel bejahen ein Antidiskriminierungsgesetz für Schwule und Lesben.
Außerhalb dieses Hauses tut sich auch in den Koalitionsparteien etwas. Im Parlament von Schleswig-Holstein wurde ein Antrag unserer dortigen Fraktion einstimmig verabschiedet, der unter anderem f orderte, die Entschließung des Europäischen Parlamentes, die die Forderung nach dem Eheschließungsrecht für gleichgeschlechtliche Paare enthält, endlich auf Bundesebene umzusetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Skandinavien - in Dänemark, Schweden, Norwegen und Island - ist die rechtliche Anerkennung längst Gesetz. Auch Ungarn hat unlängst schwule und lesbische Lebensgemeinschaften zumindest in Teilbereichen rechtlich anerkannt.
Meine Damen und Herren, Schwule und Lesben besitzen in Deutschland noch immer nicht gleiche Bürgerrechte. Wir sind hier in der Pflicht, den Bür-

Volker Beck (Köln)

gerfreiheiten der Aufklärung auch für Homosexuelle mit zweihundertjähriger Verspätung endlich Geltung zu verschaffen. In diesem Sinne an Sie, Herr Justizminister, die Aufforderung: Sire, geben Sie Ehefreiheit!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der F.D.P.)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313142600
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo das Wort.

Dr. Dietrich Mahlo (CDU):
Rede ID: ID1313142700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema, das uns heute beschäftigt, ist nicht neu. Die Argumente pro und contra sind - gesellschaftlich, politisch und rechtlich - hier und außerhalb des Hauses längst auf breiter Front ausgetauscht.
Es besteht heute in Deutschland Konsens darüber, daß jeder die Freiheit hat, nach seiner Façon zu leben, solange er die gleiche Freiheit anderer nicht antastet, und daß namentlich gleichgeschlechtlich Veranlagten diese Freiheit als Ausfluß des allgemeinen Persönlichkeitsrechts uneingeschränkt zusteht.
Einem Teil der Betroffenen und den heutigen Antragstellern ist dieses Recht aber nicht ausreichend. Die Gesellschaft soll gleichgeschlechtliche Partner nicht einfach nur in Ruhe lassen, sondern soll sie, ähnlich wie die Ehe, rechtlich privilegieren und wirtschaftlich subventionieren.

(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wieso privilegieren?)

Es geht dabei im wesentlichen um drei Argumente. Erstens. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft sei das gleiche wie die Ehe, und Gleiches müsse auch vom Staat gleich behandelt werden. Zweitens. Die gleichgeschlechtliche Gemeinschaft sei zwar nicht eine Ehe, aber doch gesellschaftlich in gleichem Maße wertvoll wie diese und müsse daher entsprechende Förderung verlangen. Drittens. Der gleichgeschlechtlich veranlagte Mensch sei in der Gesellschaft erheblich benachteiligt und habe dafür einen Ausgleich zu beanspruchen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen keinen Ausgleich! Wir wollen gleiche Rechte!)

Das Problem besteht nun darin, daß jedes dieser Argumente ein Stück Wahrheit enthält, ohne doch die ganze Wahrheit zu sein. Die Behauptung, gleichgeschlechtliche Partnerschaft und Ehe seien quasi identisch, ist bekanntlich bereits vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen worden.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)

Ohne Parallelen zwischen beiden Einrichtungen, die es gibt, zu leugnen, ist es nun einmal so, daß man seit mindestens 5 000 Jahren - also seit der Zeit der alten Ägypter - unter Ehe die Lebensgemeinschaft zwischen Frau und Mann versteht

(Simone Probst [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist historisches Bewußtsein!)

und daß dieses Begriffsverständnis auch nicht blanke Willkür ist. Denn es geht davon aus, daß die geschlechtsverschiedene Partnerschaft wesensmäßig auf Zeugung und Erziehung von Kindern angelegt ist

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht die Bevölkerung inzwischen anders als Sie!)

daß aus ihr typischerweise die Familie hervorgeht, die als kleinste gesellschaftliche Einheit den Beginn der Sozialisation des Menschen darstellt, und daß sie letztlich das Überleben der Gesellschaft sichert, was gleichgeschlechtliche Partnerschaften - bei allem Respekt sei es gesagt - eben nicht leisten.

(Dr. Barbara Höll [PDS]: Woher wissen Sie das?)

Natürlich gibt es im Einzelfall Ehen, die weniger wertvoll sein mögen als andere von Verantwortung getragene Formen von Lebensgemeinschaften. Letztere verdienten daher durchaus die Unterstützung der Allgemeinheit. Aber der Gesetzgeber kann keine Einzelfallbewertung vornehmen. Er muß sich idealtypischer Tatbestände bedienen. Alles andere ist nicht zu leisten.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313142800
Herr Kollege Mahlo, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt?

Dr. Dietrich Mahlo (CDU):
Rede ID: ID1313142900
Ja, bitte sehr.

Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1313143000
Herr Kollege, nachdem Sie begründet haben, daß die Ehe seit Jahrtausenden erwiesenermaßen auf die Zeugung und die Erziehung von Kindern ausgerichtet sei, frage ich Sie: Darf ich daraus schließen, daß Sie das Heiraten zwischen Mann und Frau ohne diesen Kinderwunsch gleichsam für illegitim erachten? Wenn nicht, würden Sie entsprechend in gleichem Maße zugestehen, daß gleichgeschlechtliche Lebenspartner oder Lebenspartnerinnen, die sich zusammenfinden und diesen Kinderwunsch vielleicht haben - oder auch nicht haben -, die gleiche Freiheit der Eheschließung bekommen sollten?

Dr. Dietrich Mahlo (CDU):
Rede ID: ID1313143100
Herr Kollege, es tut mir leid, aber Sie haben wirklich nicht zugehört, was ich gesagt habe. Ich habe genau diese Frage eben beantwortet mit meinem Hinweis darauf, daß sich der Gesetzgeber auf idealtypische Tatbestände beschränkt. Die Untersuchung, ob eine Gemeinschaft im Einzelfalle eine besondere Förderung wert ist oder nicht, kann nicht geleistet werden. Im übrigen bin ich auch noch nicht fertig mit dem, was ich zu diesem Thema zu sagen habe.

Dr. Dietrich Mahlo
Bleibt das Argument der Benachteiligung. Niemand wird leugnen, daß die gleichgeschlechtliche Veranlagung in einer heterosexuell orientierten Gesellschaft ein beträchtliches Lebenserschwernis darstellt.
Andererseits ist klar, daß jede erhebliche Abweichung vom Durchschnitt und von der Norm fast immer eine Belastung für den Betroffenen darstellt, aber ein Sozialstaat, der jede nachteilige Unterschiedlichkeit ausgleichen wollte, sich übernehmen würde.

(Zuruf von der PDS)

Die Suche nach immer größerer Gleichheit und immer größerer Sicherheit hat ihren Preis. Die Frage ist daher, ob die durch gleichgeschlechtliche Veranlagung eintretende Belastung für den Betroffenen ein Ausmaß hat, das die Chancen des einzelnen auf ein erfülltes Leben unerträglich einschränkt und eine Verlagerung dieser Nachteile auf die Gesellschaft unabweisbar gebietet.

(Dr. Barbara Höll [PDS]: Die Gesellschaft produziert die Nachteile!)

- Da Sie ununterbrochen dazwischenrufen, darf ich Ihnen vielleicht sagen, daß die Ehe ein privilegiertes Institut ist, das auch wirtschaftlich erheblich zu Buche schlägt. Wenn Sie die gleichen Rechte wie in einer Ehe wollen, ist es eine Privilegierung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen uns doch den Sachverhalt klarmachen.

(Christina Schenk [PDS]: Genau um den Sachverhalt geht es hier!)

Die andere Frage ist, ob es sich um Erschwernisse der Art handelt, von denen wir sonst meinen, daß der einzelne mit ihnen noch selbst fertig werden kann.

(Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist doch unverschämt!)

Die Antragsteller haben - ihre Übersicht ist nützlich - einmal, über die Dörfer gehend, alle Nachteile, die je entstehen könnten, mit großem Fleiß zusammengeschrieben. Die Durchsicht dieser Spiegelstrichsammlung beweist aber, daß man ihr keineswegs nur mit der Zulassung gleichgeschlechtlicher Paare zur Eheschließung angemessen und abhelfend begegnen kann.
Vielmehr ist zu differenzieren: Ein Teil der Nachteile ist nur erfunden, weil er von der falschen Voraussetzung der absoluten Gleichheit der verschiedengeschlechtlichen und der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft ausgeht.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Punkte?)

Ein anderer Teil der Benachteiligungen, die Rechte Dritter oder Rechte der Allgemeinheit gar nicht tangieren, könnte auch ohne Einführung homosexueller Ehen abgestellt werden.

(Christina Schenk [PDS]: Das ist richtig! Dr. Barbara Höll [PDS]: Tun Sie es doch!)

Einen dritten Teil der Benachteiligungen, etwa im Versicherungsrecht, im Erbrecht, im Mietrecht, kann man durch das zur Verfügung stehende rechtliche Instrumentarium zwar nicht völlig ausgleichen - das ist richtig -, wohl aber erheblich abmildern.

(Dr. Barbara Höll [PDS]: Tun Sie es!)

- Nein, das ist eine Möglichkeit, die die Betroffenen selbst haben.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie machen Sie das beim Erbschaftsteuerrecht?)

- Beim Erbschaftsteuerrecht geht es nicht, Herr Kollege. Da haben Sie recht.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und beim Pflichtteilsanspruch?)

Der Rest, der in diesem Bereich noch verbleibt, etwa der größere Pflichtteilsanspruch der leiblichen Eltern, ist hinzunehmen

(Christina Schenk [PDS]: Warum eigentlich?)

und nicht als Katastrophe zu dramatisieren.
Die von den Antragstellern wiederholt aufgestellte Behauptung, die gleichgeschlechtliche Partnerschaft in Deutschland sei rechtlos, hat mit der Rechtsrealität in diesem Lande nichts zu tun.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Rechte haben wir denn?)

Zieht man die genannten Vorgänge aus der Diskriminierungsliste der Antragsteller heraus, bleiben in der Tat noch Probleme übrig, bei denen sich elementare Interessen des einzelnen und wichtige Interessen der Allgemeinheit gegenüberstehen und die gegen einander abzuwägen sind. In der zukünftigen Diskussion sollten wir uns auf diesen Kern konzentrieren.
Einem allgemeinen Recht auf Eheschließung gleichgeschlechtlich veranlagter Paare wird die CDU/CSU-Fraktion nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313143200
Nun erteile ich der Abgeordneten Margot von Renesse das Wort.

Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1313143300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon merkwürdig, wenn man Herrn Beck und Herrn Mahlo zu demselben Thema reden hört. Man hat immer das Gefühl, da reden zwei völlig aneinander vorbei. Der eine versteht nicht, wovon der andere redet, und die Begriffe, die gewählt werden, haben miteinander, obwohl sie gleich klingen, nichts zu tun.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dafür haben wir ja Sie!)


Margot von Renesse
Es gibt eine merkwürdige Situation bei der Frage nach dem familienrechtlichen Institut für gleichgeschlechtliche Paare. Ich sage jetzt einmal nicht „Ehe", ich sage „familienrechtliches Institut".

(Christina Schenk [PDS]: Es geht hier um die Ehe!)

- Das habe ich schon gemerkt.
Die einen sagen: Wir schützen die Ehe auch vor dem Angriff, vor der Provokation, daß gleichgeschlechtliche Paare den Zugriff auf dieses Institut wollen. Und die anderen, Frau Schenk, sagen, daß sie etwas gegen die Ehe als einem Relikt aus dem 19. Jahrhundert haben.

(Christina Schenk [PDS]: Warten Sie meine Rede ab!)

- Ich habe sie schon etliche Male gehört.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Es ist immer dasselbe: ein Machtinstrument in der Hand von irgendwem gegen irgendwen, und deswegen muß sie abgeschafft werden: Écrasez l'infâme!

(Christina Schenk [PDS]: Das habe ich nie gesagt, Frau Kollegin! Weitere Zurufe von der PDS)

- Okay, ich habe von den einen und von den anderen gesprochen. Vielleicht sind Sie so freundlich und hören sich meinen Beitrag einen Augenblick zusammenhängend an. Ich verspreche Ihnen, bei Ihnen dasselbe zu tun.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Jeder zieht sich den Schuh an, der ihm paßt!)

Das Ergebnis ist dasselbe: Bloß kein familienrechtliches Institut für Gleichgeschlechtliche!
Erlauben Sie mir, daß ich einer Linie folge, die ich in schwierigen Fällen gerne handhabe, vor allem wenn es sich um Lebenslagen handelt, die rechtlich geregelt oder nicht geregelt sind für Leute, die sich in einer anderen Lebenslage befinden als ich selbst.
Da gibt es nur einen guten Rat: Man schaue in die Verfassung. Da ist zuerst einmal die Verfassungsgerichtsentscheidung, die Kammerentscheidung, die sich mit dem Anspruch der gleichgeschlechtlichen Paare aus der Kampagne, die Sie schilderten, beschäftigte. Es war die Frage, ob sie einen Anspruch auf Zugang zu dem haben, was wir Ehe nennen. Die Kammer des Verfassungsgerichts hat nein gesagt. Daraus folgt im übrigen nicht, daß es nicht geht. Daraus folgt nur, daß es keinen Anspruch gibt.
Daraus folgere ich, daß es untunlich ist - und da bin ich voll auf der Linie der Kammer -, den Begriff Ehe für eine Sache zu verwenden, die wir in einer ganz bestimmten Form geprägt vorfinden. Deswegen rede ich lieber von einem familienrechtlichen Institut.
Die Frage ist: Können wir homosexuellen Paaren, lesbisch oder schwul, den Zugang zu einem familienrechtlichen Institut verweigern, das die Folgen hat, die gleichgeschlechtliche Paare im Augenblick nicht bekommen können?
Ich frage mich, ob das eine Privilegierung ist. Manche Privilegierungen gibt es, und die gehören abgeschafft. Manche Dinge sind aber nur verfassungsrechtlich gebotene Rücksichtnahmen auf bestehende rechtliche Verbindlichkeiten.
So werden wir zum Beispiel nie darum herumkommen, wenn schon das Ehegattensplitting in der bisherigen Form nicht bestehenbleiben kann - jedenfalls ist das die Meinung meiner Fraktion und auch die meine -, bestehende Unterhaltsansprüche, soweit sie zu erfüllen sind, als Minderung der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen nach Art. 3 immer zu berücksichten. Deswegen ist keine ersatzlose Abschaffung möglich.
Bis zu diesem Punkt haben wir es nur mit der Rücksichtnahme auf eine bestehende rechtliche Verpflichtung zu tun. Die Frage ist: Können wir diese Rücksichtnahme gleichgeschlechtlichen Paaren verweigern, weil ihre Beziehung etwas fundamental anderes ist? Herr Mahlo hat dazu gesagt: Sie können keine Kinder kriegen. Ich kenne auch Paare von Mann und Frau, die keine Kinder kriegen können, zum Beispiel alte Paare.
Die Behauptung, daß eine Ehe - wie Sie sagten - möglicherweise in ihrem Wert, wenn auch nicht individuell bemessen, unterschiedlich sei, kann ich vom Recht her nicht teilen. Das Recht kennt keine Ehen minderen Rechts.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Es kennt nur die rechtlich verbindliche Ehe. Da steht ein bißchen knapp: Das ist die eheliche Lebensgemeinschaft. Das Gewirr der Verpflichtungen kommt anschließend.
Ich hätte dort lieber stehen - es klingt vielleicht ein wenig lyrisch; ich habe noch nicht die rechtliche Formulierung dafür -, daß es die Verpflichtung von zwei Menschen zur Übernahme rechtlich verbindlicher umfassender Verantwortung für den jeweils anderen ist.
Dann fragt es sich, mit welchem Recht wir sagen, daß gleichgeschlechtliche Paare eine solche rechtlich verbindliche umfassende Verbindung miteinander nicht eingehen können.
Das Kinderkriegen kann es also nicht sein. Wenn es das aber nicht ist, dann sagen Sie mir doch bitte einmal, bevor Sie lachen, ein Argument dafür, warum das so fundamental verschieden ist. Können Mann und Frau inniger miteinander verbunden sein - ich rede einmal nicht von Kindern - als zwei gleichgeschlechtliche Personen? Ich habe bei aller Lektüre nie ein Argument dagegen gefunden, und die Wirklichkeit lehrt, daß es geht. Das ist für mich das Problem. In diesem Augenblick kommt nämlich Art. 3: Gleichbehandlung. Ich rede nicht von Ehe; ich rede von einem familienrechtlichen Institut. Ich will nicht Namen verwenden, die begrifflich geprägt sind.

Margot von Renesse
Wenn ich aber ein familienrechtliches Institut nicht hätte und Paaren Möglichkeiten wie die des Partnerschaftsnachzugs gäbe, dann wäre automatisch das heterosexuelle Paar benachteiligt. Denn das bekommt zum Beispiel den Ehegattennachzug oder die Unterhaltsberücksichtigung nur bei der höchsten Verbindlichkeit. Das kann ich doch wohl nicht alles den gleichgeschlechtlichen Paaren bieten, wenn Mann-und-Frau-Paare dafür schwer bluten müssen. Ich bin Familienkonkursrichterin gewesen; ich weiß, wie schwer das fällt.
Deswegen scheint es mir sehr überlegenswert, ob man nicht diese Richtung einschlagen muß, obgleich ich eine Reihe von Fragen habe, die man sicherlich noch miteinander diskutieren muß. Allerdings rechne ich nicht damit, Herr Beck, daß Sie in dieser Legislaturperiode ein solches Gesetz sehen.
Es werden nicht nur die gleichgeschlechtlichen Paare sein, die nach Gleichbehandlung drängen. Es ist auch die Verfassung selbst. Ich glaube, diese Wunde wird sich erst schließen, wenn Art. 3 vernünftig umgesetzt ist, in welcher Form auch immer, wie auch immer dieses Institut aussehen mag, wie auch immer es heißt. Sonst werden wir die Ehe für heterosexuelle Paare auch abschaffen müssen. Da kann ich nur sagen: Eine verfassungsändernde Mehrheit dafür wird es nicht geben.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will noch ein letztes ausführen. Ich muß kühl sagen: Das Familienrecht kennt den Begriff Liebe nicht. Es kennt nur den Begriff rechtlicher Verbindlichkeit, irreversibel, identitätsprägend und mit einer umfassenden Verantwortung, die keine Grenzen kennt. Wie gesagt, die Frage ist für mich: Warum gleichgeschlechtliche Paare nicht?
Es gibt ein Problem, das mir öfter begegnet ist. Das hat etwas mit Empathie zu tun. Es geht um die Einsamkeit von gleichgeschlechtlichen Menschen. Auf jeder Party - ich rede nicht von den Hochzeitsglokken, Herr Beck - schmeißen Jungen und Mädchen einander Äugelchen zu. Es ist normal, daß ein junger Mann und eine junge Frau etwas miteinander haben könnten. Ein gleichgeschlechtlicher Mann, eine gleichgeschlechtliche Frau geht immer ein hohes Risiko ein, wenn eine personale Bindung gesucht wird. Die Nichtanerkennung ihrer Bindungsfähigkeit führt zu einer Verurteilung zur Einsamkeit, zur Rotlichtszene, zum Inserat.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Bei euch zu Hause vielleicht!)

- Wenn Sie es mir nicht glauben: Ich habe es erlebt. Das geht einem nahe; denn es sind Menschen, die vielleicht nicht wie Sie sind. Aber ich sage frank und frei: Es sind Menschen wie ich.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313143400
Ich erteile dem Abgeordneten Hildebrecht Braun das Wort.

Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1313143500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mehrheit der Deutschen glaubt an einen Gott. Sie glaubt, daß dieser Gott die Welt erschaffen habe. Die Krönung dieser Schöpfung sollte der Mensch sein. So war es denn Gottes weiser Ratschluß, auch bei den Menschen große Unterschiede entstehen zu lassen. Es gibt Große und Kleine, Schwarze und Weiße, Grüne und Christdemokraten, Linkshänder und Rechtshänder.
Noch bis vor relativ kurzer Zeit hielt man Linkshänder für einen Fehler der Schöpfung. Man versuchte in unseren Schulen, die Linkshänder zu Rechtshändern zu machen, was zu mancherlei psychischen Störungen führte.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Solange es nicht auch noch der Linksdenker ist, ist es ja gut!)

Man hat das dann allerdings sein lassen. Man hat einfach respektiert, daß es eben Linkshänder gibt. Dies ist kein Thema mehr. Mittlerweile kann man als Linkshänder ohne weiteres amerikanischer Präsident werden. Man kann als Linkshänder vielleicht auch Parlamentsstenograph oder Tennismillionär werden.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Die CDU muß rechts schreiben!)

Nun gibt es aber eben auch heterosexuell Veranlagte und Schwule bzw. Lesben. Viele Menschen glauben noch immer, hier habe wohl der Schöpfer geirrt.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Die Schöpferin! - Heiterkeit)

Dies trifft aber nicht zu. Es ist eine schlichte Frage des Respekts vor der Schöpfung, die alle, insbesondere die Christen in unserem Lande, veranlassen sollte, Menschen so zu belassen, wie sie sind, das heißt, sie in einer Weise leben zu lassen, wie es ihrem Wesen entspricht: Schwule sind schwul, und sie haben einen Anspruch darauf, ein schwules Leben zu führen.
Es wäre eine Verletzung der Menschenwürde, die wir nach unserer Verfassung als höchstes Gut zu schützen haben, wenn wir Homosexuelle daran hindern würden, ein ihnen gemäßes Leben zu führen. Zu diesem Leben gehört in Hundertausenden von Fällen eine klare, eindeutige Entscheidung für einen Partner, mit dem man das Leben teilen will, in guten wie in bösen Tagen, wie es in der Traditionsformel der Eheschließung heißt.
Warum sollen nun schwule Partner nicht auch öffentlich zueinander und voneinander sagen, daß sie zueinander gehören, daß sie füreinander einstehen wollen und daß sie ihre Gemeinsamkeit als Teil ihres Anspruchs auf Selbstverwirklichung, eben auf menschliche Freiheit, leben wollen?
Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, daß das Traditionsinstitut der Ehe heterosexuellen Bindungen vorbehalten sei. Nicht die Fortpflanzungsfähigkeit ist ausschlaggebend; sonst könnten Querschnittsgelähmte oder auch Frauen über fünfzig

Hildebrecht Braun (Augsburg)

nicht mehr die Ehe eingehen. Entscheidend ist offensichtlich das überkommene Verständnis, daß die drei Buchstaben EHE einer heterosexuellen Partnerschaft vorbehalten seien. Mit dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts müssen wir leben. Wir können auch damit leben.
Sie hätte aber auch anders lauten können. Ich darf nur an folgende befremdliche Geschichte erinnern: Es gibt Männer in unserem Lande, die per Katalog eine Frau nach bestimmten Beschaffenheitskriterien aus Rußland, von den Philippinen, aus Thailand oder woher auch immer einfliegen lassen und die trotz fehlender sprachlicher Verständigungsmöglichkeit nach einem vorübergehenden Zusammensein auf Probe, das noch mit einem Touristenvisum machbar ist, zum Standesamt marschieren. Nur, zuerst gehen sie natürlich zum Notar, um dort sämtliche Verpflichtungen auszuschließen, die überhaupt abdingbar sind. Ich meine den Zugewinnausgleich, den Versorgungsausgleich oder auch die Verpflichtung zur Zahlung des Unterhalts nach der Ehe, die selbst für Zeiten der Not ausgeschlossen wird.
Was also übrigbleibt, ist ein Torso einer Beziehung, der mit Liebe oft weniger zu tun hat als mit Sklaverei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)

Aber dieser Torso reicht, um das staatliche Eheprädikat zu erlangen. Diese Ehe steht dann unter dem besonderen Schutz des Staates. Dies gilt aber nicht für eine lebenslängliche Verbindung von Homosexuellen, auch dann nicht, wenn - was mittlerweile sehr häufig vorkommt - ein schwuler Partner seinen an Aids erkrankten Partner über viele Jahre weg bis zum Tode pflegt und damit bilderbuchmäßig das vorlebt, was eigentlich Liebe ausmacht. Das erscheint doch vom Ergebnis her einigermaßen unerträglich zu sein.
Was ist nun zu tun? Die Ehe zwischen Homosexuellen ist aus verfassungsrechtlichen Gründen auch nach meinem Dafürhalten nicht möglich. Sehr wohl möglich und dringend nötig ist aber, diese Menschen aus Respekt vor ihrer Entscheidung füreinander so zu stellen, daß sie nicht mehr diskriminiert sind. Deshalb müssen wir die Erfahrungen in unseren Nachbarländern mit „eingetragenen Partnerschaften" von Homosexuellen vorurteilsfrei prüfen. Sie können sehr wohl der Schlüssel zur Lösung einer gesellschaftlichen Problematik sein, vor der dieses Parlament die Augen nicht verschließen darf.
Unabhängig davon sind wir gehalten, in allen Bereichen, angefangen beim Mietrecht über das Erbrecht, das Steuerrecht und das Arbeitsrecht bis hin zum Ausländerrecht, dafür zu sorgen, daß schwule Menschen, die sich füreinander entschieden haben und diese ehegleiche Verbindung auch nachgewiesen haben, von unserem Staat nicht mehr diskriminiert und so behandelt werden, als wenn sie nicht zueinander gehörten.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deutschland für das nächste Jahrhundert fit zu machen heißt auch und gerade, Spießigkeit und Engstirnigkeit aus unserem Denken und politischen Handeln zu verbannen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313143600
Nun gebe ich der Abgeordneten Christina Schenk das Wort.

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1313143700
Her Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will hier ganz deutlich vorausschicken, daß es selbstverständlich keinen einzigen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund gibt, Lesben und Schwule vom Heiratsrecht auszuschließen. Es hat hier auch niemand vermocht, insbesondere Herr Mahlo nicht, eine sachliche Argumentation zugunsten der Beibehaltung des anachronistischen Zustandes darzutun.
Aber ich möchte auch einen Schritt über die bisherige Debatte hinaus tun: Einfach nur die Teilhabe von Lesben und Schwulen am Rechtsinstitut der Ehe zu fordern ist kein Beitrag zur Gleichstellung aller Lebensweisen. Nun mag es sein - das scheint mir sehr wahrscheinlich -, daß die Bündnisgrünen derartiges nicht vorhaben; denn die Grünen wollen lediglich die Ausdehnung der Eheprivilegien auf einen größeren Personenkreis, nämlich auf den der beiratswilligen lesbischen und schwulen Paare.
Der Gesetzentwurf ignoriert dabei komplett die feministische Kritik an der hiesigen, also an der deutschen Form der Institution Ehe. Es wird einfach übergangen, daß in der Bundesrepublik Deutschland die an die Ehe gekoppelten Rechte die Extremform eines geschlechtshierarchischen Herrschaftsmodells zwar nicht erzwingen, aber fördern, nämlich die Hausfrauenehe.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann bei homosexuellen Paaren schlechterdings nicht der Fall sein!)

Ich erinnere hier nur an das Ehegattensplitting. Der finanzielle Vorteil, der aus dem Ehegattensplitting gezogen wird, ist um so größer, je größer der Unterschied zwischen den Einkommen der Eheleute ist.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Thema!)

Auch die abgeleitete Sozialversicherung ist also für Paare nur dann von Vorteil, wenn einer von beiden nicht erwerbstätig ist.
Das heißt: Die ökonomische Abhängigkeit voneinander, die jeden Versuch, gleichberechtigt miteinander zu leben, zwar nicht verhindert, aber doch konterkariert, wird gefördert. Das - als Erinnerung für die Grünen - war der Kernpunkt der Kritik und ist es noch immer.
Die Nachteile, die Lesben und Schwule erfahren, weil ihnen der Angehörigenstatus verweigert wird, können durch die Ehe zudem nur für diejenigen be-

Christina Schenk
seitigt werden, die bereit und in der Lage sind, zu heiraten. Ich möchte hier angesichts der hohen Scheidungsraten erinnern, daß es sehr gute Gründe gibt, genau dieses Rechtsinstitut zu vermeiden; denn damit wird eine Eigendynamik in Gang gesetzt, die durchaus nicht immer wünschenswert ist.

(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sollen sich auch scheiden lassen dürfen! Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will andeuten, was ich meine: Was spricht dagegen, daß jeder Mensch einen selbstgewählten Personenkreis - von mir aus mit notarieller Beurkundung - als Angehörige definieren kann? Das wäre eine Lösung für Personen, die, unabhängig von der sexuellen Orientierung, nicht heiraten wollen oder mit mehreren Menschen in einer langfristig angelegten Wohngemeinschaft leben.
Für alle anderen Probleme, Herr Beck, die in Ihrem Gesetzentwurf aufgeführt worden sind und die zweifellos in dieser Form bestehen, lassen sich durchaus Lösungen finden, ohne daß auf das Rechtsinstitut der Ehe zurückgegriffen wird.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum legen Sie dann seit Jahren nichts vor?)

Es kann also nicht angehen - das sage ich noch einmal ganz deutlich -, daß Rechte ausschließlich an die Ehe gebunden bleiben. Im Gegenteil: Die Entmystifizierung, die Entprivilegierung der Ehe ist angesagt. Alle Lebensweisen, ob man nun als Single, zu zweit oder mit mehreren Personen zusammen lebt, ob man nun heterosexuell, bisexuell oder homosexuell ist, müssen die gleichen Rechte und auch Pflichten haben.

(Beifall bei der PDS)

Ein erster Schritt wäre die Abschaffung des Ehegattensplittings. Die überaus positiven Auswirkungen eines solchen Schritts können in Schweden oder auch in den Niederlanden besichtigt werden.
Der Gesetzentwurf - damit komme ich zum Schluß - ist ein eher peinliches Dokument Ihres Abschieds von emanzipatorischen Ansätzen, die - es tut mir durchaus leid, das so sagen zu müssen - Sie zum großen Teil einst selbst in die öffentliche Diskussion gebracht haben.
Viele Lesben und Schwule werden den Gesetzentwurf der Bündnisgrünen, jedenfalls in der Form, wie er jetzt vorgelegt worden ist, nicht akzeptieren. Dessen bin ich mir absolut sicher.

(Beifall bei der PDS Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ihn offensichtlich nicht einmal gelesen!)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313143800
Ich erteile dem Bundesminister der Justiz, Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, das Wort.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1313143900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Monaten wiederholte sich die Aktion Standesamt. Homosexuelle Paare zogen vor die Standesämter deutscher Großstädte, um für sich das Recht einzufordern, die Ehe miteinander schließen zu können. Diesen Menschen gilt wie allen Paaren, die sich entschließen, fortwährende Verantwortung füreinander zu übernehmen, mein Respekt.

(Beifall des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.] und der Abg. Margot von Renesse [SPD])

Unsere Pflicht als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist es aber, sorgfältig zu bedenken, was wir ihnen als Gesetzgeber außer guten Wünschen mit auf den Weg geben können.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie schön, daß Ihr Haus einen Beitrag dazu leistet!)

Erst kürzlich habe ich in diesem Hause namens der Bundesregierung zugesagt, auch gesetzgeberische Maßnahmen zu prüfen, um die Lebenssituation nichtehelicher Lebensgemeinschaften und damit selbstverständlich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare zu verbessern.
Eine erste summarische Prüfung - Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf ja auch verschiedene Fälle aufgeführt - hat eine nicht unerhebliche Anzahl nachteiliger Regelungen, insbesondere im Mietrecht, im Erbrecht, im Steuerrecht, aufgezeigt.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Ausländerrecht!)

Es gibt aber im übrigen auch - ohne daß ich das hier in irgendeiner Weise gegeneinander ausspielen will - einige rechtlich vorteilhafte Regelungen. Insofern gebe ich Ihnen, Frau Kollegin von Renesse, völlig recht: Es ist ein Thema der Ungleichbehandlung im Guten wie im Schlechten. Es gibt also auch einige rechtlich vorteilhafte Regelungen, wie etwa beim Zugriff von Gläubigern oder beim Ausschluß von Richtern, zum Beispiel in den Bestimmungen des § 22 StPO.
Diese Unterschiede müssen im Kontext des jeweiligen Rechtsgebietes gesehen werden. Mir schwebt vor, bei anstehenden Vorhaben, wie etwa der Reform des Mietrechts, solche Unterschiede möglichst abzubauen. Dies gilt aber nicht speziell für gleichgeschlechtliche Partnerschaften, sondern dies gilt in meinen Augen eben für alle nichtehelichen Lebensgemeinschaften.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie des Abg. Wolf-Michael Catenhusen [SPD])

In beiden Konstellationen haben die Partner fortwährende Verantwortung füreinander übernommen. Es gilt deshalb, sorgfältig zu prüfen, wo Benachteiligungen liegen und wie diesen abgeholfen werden kann. Auch in diesem Ansatz kann ich Ihnen viel Zustimmung signalisieren.

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Hätten alle in diesem Haus - jetzt werde ich natürlich ein bißchen anzüglich - Ihre Vorschläge ebenso sorgfältig geprüft, dann wäre die Gesetzesvorlage, über die wir heute zu beraten haben, wohl gar nicht erst eingebracht worden. In ihrem Entwurf schreiben die Kolleginnen und Kollegen der Grünen, dem einfachen Gesetzgeber stehe es verfassungsrechtlich eindeutig frei, das Institut der Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren zu öffnen. So einfach liegen die Dinge eben gerade nicht.
Nun will ich es mir nicht so einfach machen und hier sozusagen ex cathedra verkünden, Ihr Entwurf sei zweifelsfrei verfassungswidrig. Aber daß er im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken hervorrufen muß, wird Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben sein; für so grün halte ich Sie denn doch nicht. Die Ehe ist nun einmal - das kann man beklagen oder nicht; aber es ist nun einmal so; deswegen macht vernünftige Politik nicht vor dieser Erkenntnis halt - nach traditionellem, dem Grundgesetz zugrunde liegendem und vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestätigtem Verständnis eine Lebensgemeinschaft von Frau und Mann. Dieses Begriffsverständnis muß man nicht unbedingt als unumstößlich hinstellen. Aber es ist so. Der einfache Gesetzgeber jedenfalls kann es mit einem Federstrich nicht ändern.
Insofern, meine Damen und Herren Rechtspolitiker von den Grünen: Über das rechtspolitische Ziel, nichtehelichen und damit auch gleichgeschlechtlichen Paaren ihr Zusammenleben zu erleichtern,

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie bei den Einmalleistungen gestern noch ganz anders gesehen!)

brauchen wir nicht zu streiten. Vom Einsatz der Brechstange als Gesetzgebungswerkzeug

(Zuruf von der CDU/CSU: Und das in diesem Zusammenhang!)

rate ich dagegen dringend ab. Der dialektische Idealismus der Grünen in allen Ehren - aber auch ein ehrenvoller Irrweg bleibt ein Irrweg.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1313144000
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2728 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara
- Drucksache 13/5725 -
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
Die Reden sind zu Protokoll gegeben worden.*) -Ich stelle fest, daß darüber Einverständnis des Hauses besteht.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5725 an den Auswärtigen Ausschuß vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Oktober 1996, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.