Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung weise ich darauf hin, daß, abweichend von der Ihnen vorliegenden Tagesordnung, die Fraktion der SPD nur einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache 13/5582 eingebracht hat. Interfraktionell ist vereinbart worden, bei den unter Tagesordnungspunkt 2 stehenden Vorlagen von der Frist für den Beginn der Beratung abzuweichen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich mache darauf aufmerksam, daß die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangte Aktuelle Stunde zur Rückführung von Bürgerkriegsflüchtlingen nach Bosnien-Herzegowina erst im Anschluß an die Fragestunde gegen 16.15 Uhr stattfinden wird.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Aufbau Ost - Chancen und Risiken für Deutschland und Europa, Gesetz zum Schutz des Bodens und Gesetz über den Amateurfunk.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt. Bitte, Herr Minister.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute, kurz vor dem sechsten Jahrestag der Vereinigung, den 2. Bericht über den Aufbau Ost vorgelegt und ihn mit vielen namhaften Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft abgestimmt, die besonderen Einblick in die Situation der neuen Bundesländer haben. Der Bericht - das ist ein Spiegel der Situation - weist eine Menge Licht, aber auch Schatten auf.
Ich habe auf der Aktivseite unserer Zwischenbilanz festzuhalten, daß die Produktivität von 1991 bis 1995 von 31 Prozent auf 55 Prozent und die Bruttoeinkommen von 47 auf 72,4 Prozent des Westniveaus gestiegen sind, daß wir hohe nominale Anlageinvestitionen haben und daß Enormes bei der Verbesserung der Infrastruktur - Telefonanschlüsse, Bundesfernstraßen und Schienenstrecken - geschaffen worden ist. 3,6 Millionen Wohnungen wurden mit Bundesmitteln saniert und modernisiert. Die Privatisierung ist alles in allem - trotz vieler Fehler und Unzulänglichkeiten - gut vorangekommen, und es gibt mittlerweile mehr als 500 000 mittelständische Unternehmen in den neuen Ländern, die 3,4 Millionen Menschen beschäftigen. Das ist ein Ergebnis großer solidarischer Anstrengungen, von Reformbereitschaft im Osten und großer finanzieller Transferleistungen, die sich auf dreistellige Milliardenbeträge im Jahr belaufen.
Es gibt aber auch eine Passivseite, und diese will ich nicht verschweigen. Sie lädt uns nämlich ein und fordert uns auf, nach wie vor große Anstrengungen auf die Entwicklung der neuen Bundesländer zu verwenden. Die Passivseite weist eine geringe Eigenleistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft aus, die weniger als zwei Drittel beträgt. Produktivität und Lohnentwicklung klaffen auseinander. Wir haben eine hohe Unterbeschäftigung - wenn wir die Menschen berücksichtigen, die in verschiedenen staatlichen Maßnahmen beschäftigt sind, liegt sie bei 25 Prozent - und eine geschmälerte industrielle Basis, was sich bei der Bruttowertschöpfung und beim Exportanteil niederschlägt. Es muß noch viel getan werden. Auch die insgesamt verschlechterte Konjunktur hat zu Schwierigkeiten geführt.
Wir werden aber das Ziel nicht aus den Augen verlieren, in Ostdeutschland eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen, die nicht mehr auf Transfers angewiesen ist. Um das sicherzustellen, müssen die Tarifparteien Veränderungen vornehmen. Denn die hohen Lohnstückkosten, die Differenz von Produktivität und Lohnniveau, ist eine der maßgeblichen Ursachen dafür, daß die ostdeutsche Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig ist.
Wir dürfen aber auch nicht nachlassen in der Verbesserung der strukturellen Defizite, also der Ertrags- und Eigenkapitalsituation der Unternehmen, in der Beseitigung von Liquiditäts- und Managementproblemen.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Deshalb kann ich sagen, daß bei allen Maßnahmen, die wir heute haben, die gestrafft und verändert werden müssen, die Notwendigkeit gesehen wird, die Förderung über das Auslaufdatum von Ende 1997 hinaus fortzusetzen. Wir werden 1997 über die Neustrukturierung der Förderung der ostdeutschen Wirtschaft, überhaupt der neuen Bundesländer, zu befinden haben.
Da ist der Bund gefordert. Da sind aber auch die Länder und die Kommunen gefordert. Nur wenn wir mit den Tarifpartnern gemeinsame Anstrengungen unternehmen, wird es gelingen, diese wichtige Aufgabe zu lösen.
Wir brauchen auch den Rückhalt aus der Europäischen Union. Sie wissen alle, meine Damen und Herren, wir stehen in der Diskussion mit der Europäischen Union über die Anwendung des Art. 92 Abs. 2 Buchstabe c, und ich hoffe sehr, daß wir bis Ende dieses Jahres mit der Europäischen Union eine außergerichtliche Einigung darüber herbeiführen können, wie in Zukunft in den neuen Bundesländern gefördert werden kann. Dabei müssen einerseits die besondere, unvergleichbare Situation der neuen Bundesländer, andererseits die sicherlich legitimen Interessen der Europäischen Kommission berücksichtigt werden, die verlangen, daß über die Ostförderung keine Subventionsanarchie, kein Wildwuchs bei den Subventionen entsteht. Das ist eine Quadratur des Kreises; wir versuchen aber unser Bestes - auch und gerade im Interesse der neuen Länder.
Vielen Dank, Herr Minister.
Erster Fragesteller ist unser Kollege Rolf Schwanitz.
Herr Minister, ich habe versucht, in Ihren Ausführungen das Neue zu finden. Wir haben ja in diesem Jahr eine Situation, die von katastrophalen Konjunktureinbrüchen gekennzeichnet ist: im ersten Quartal minus 1,4 Prozent Wachstum, wenn man von dem Begriff überhaupt noch sprechen kann, gegenüber dem gleichen Quartal des Vorjahres. Auch die Prognosen für die Konjunktur in Ostdeutschland in den nächsten Jahren sind katastrophal. Man kann von einer Angleichung oder von einem Aufholen kaum noch sprechen.
Ich möchte Sie fragen, welche Konsequenzen im Kabinett für die aktuelle Politik der Bundesregierung beraten worden sind, Konsequenzen für die Haushaltsberatung oder für andere Vorlagen, die Sie momentan eingebracht haben, damit das einmal in etwas konkretere Bahnen kommt.
Herr Bundesminister, bitte.
Frau Präsidentin! Herr Kollege, die konjunkturelle Entwicklung können wir nicht im Kabinett beschließen,
sondern wir können allenfalls etwas dazu beitragen, daß es in diese oder jene Richtung geht.
- Hoffentlich. - Wir gehen davon aus, daß im nächsten Jahr die konjunkturelle Entwicklung für Gesamtdeutschland kräftig anziehen wird, daß zwischen 2 Prozent und 2,5 Prozent Wachstum erzielbar sind, was in den neuen Ländern zu einem Wachstum in der Größenordnung von 4 bis 5 Prozent führen könnte. Der Abwärtstrend wird also mit absoluter Sicherheit aufgehalten, wenn wir auch nicht mehr - da geben wir uns keinen Illusionen hin - die Wachstumsraten der Jahre 1994 und 1995 erreichen werden, die bei 8 Prozent bzw. bei 9 Prozent lagen.
Was wir tun können - ich habe hier nur fünf Minuten, könnte darüber aber auch drei Stunden reden -, habe ich gesagt. Wir müssen die Förderung der neuen Länder mit Bundesmitteln, aber auch mit Ländermitteln und europäischen Mitteln auf hohem Niveau fortsetzen.
Ich bin froh, sagen zu können, daß sowohl die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Infrastruktur Ost" wie auch die Gewerbeförderungsmaßnahmen, die Sonderabschreibungen und die Investitionszulage zunächst bis Ende des nächsten Jahres fortdauern und daß wir darüber befinden werden, wie wir diese Förderung auch über 1998 hinaus fortsetzen werden.
Die Tarifparteien sind gefordert. Wenn ich eine niedrige Produktivität habe, die nicht einmal 60 Prozent der westdeutschen Produktivität ausmacht, aber mit den Löhnen sehr schnell an das Westniveau herankomme, dann ist es ganz klar - das ist volkswirtschaftlich erstes Semester -, daß die ostdeutschen Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil haben. Diesen Wettbewerbsnachteil dürfen wir nicht größer werden lassen. Er muß durch entsprechende Verhaltensweisen der Tarifparteien kleiner werden.
Darüber hinaus müssen wir natürlich unsere Infrastrukturmaßnahmen - in diesem Zusammenhang unsere Transferzahlungen - auf hohem Niveau fortsetzen. Dafür werde und will ich mich im Bundeskabinett und innerhalb der Koalition einsetzen.
Ihre Zusatzfrage.
Herr Minister, ich will doch einmal konkreter fragen: Hat denn die Beratung über die Risiken, vor denen wir jetzt stehen, heute im Kabinett beispielsweise dazu geführt, daß die Bundesregierung vom Abbau der ABM in Ostdeutschland Abstand nehmen will?
Wir haben heute im Kabinett ausführlich über die ABM gesprochen. Erst einmal müssen wir feststellen, daß die Zahl der ABM-Stellen und der über ABM-Mittel finanzierten Projekte kontinuierlich zurückgeht. Daß dieser Prozeß so stattfindet, liegt nicht nur am Interesse vieler Leute im Westen, die - was ich
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
nachvollziehen kann - das hohe Niveau von 800 000 ABM und sonstigen Maßnahmen nicht wünschen, sondern auch an der Betrachtungsweise vieler neuer mittelständischer Unternehmen im Osten, die meinen, daß ihnen durch bestimmte ABM die Möglichkeit zum Einholen von Aufträgen genommen wird.
Wir wollen die ABM weiter zurückführen. Aber ich sage ausdrücklich - das ist meine volle Überzeugung -: Das kann man nicht blindlings tun, sondern das muß man mit Augenmaß, mit regionaler Differenzierung und mit Differenzierung nach den einzelnen Maßnahmen machen. Dabei kann auch in Betracht gezogen werden, den Lohn für eine ABM-Stelle zu senken, und zwar unter das Niveau des Lohnes, der in der freien Wirtschaft gezahlt wird. Wenn Sie sich mit diesen Dingen befaßt haben, dann werden Sie festgestellt haben, daß die ABM-Entlohnung teilweise über dem liegt, was man in einem normalen Arbeitsverhältnis bekommt. Das kann nicht sein. Ich sage deshalb: Wir werden mit Augenmaß, langsam und mit großer Differenzierung ABM zurückfahren - immer unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation in der jeweiligen Region. Darüber haben wir im Kabinett ausführlich diskutiert.
Als nächster Fragesteller der Kollege Christian Müller, Zittau.
Herr Minister, Sie haben vor der EU im Frühjahr dieses Jahres in Ihrem Memorandum sehr stark dafür geworben, die Sonderförderung Ostdeutschlands in Anbetracht der Entwicklung, die Sie in Ihrem heutigen Eingangsvortrag angerissen haben, fortzusetzen, weil es dafür inzwischen recht gute Gründe gebe. Inzwischen haben wir eine Situation erreicht, in der infolge des charmanten Vorgehens des Ministerpräsidenten Biedenkopf ein Beihilfefall vom Europäischen Gerichtshof entschieden werden soll.
Teilen Sie denn die Auffassung des Ministerpräsidenten, daß die EU in diesem Falle überhaupt kein Mitspracherecht gehabt habe? Wie wollen Sie denn vor diesem Hintergrund in der EU dafür werben, daß es - neben der Fortsetzung der Sonderförderung in Ostdeutschland - auch in Zukunft Förderfälle nach Art. 92 Abs. 2 Buchstabe c, die für unsere Situation sehr wichtig wären, gibt?
Herr Kollege Müller, ich habe immer folgendes gesagt: Wir als Bundesregierung sind der Auffassung, daß die Fördermittel, die VW beansprucht, berechtigt sind und daß diese Mittel VW zur Verfügung gestellt werden sollten - im Interesse der Arbeitsplätze und der Projekte in Chemnitz bzw. in Mosel. Wir haben aber auch immer gesagt, daß das Verfahren, das gewählt worden ist - nämlich diese Mittel ohne Genehmigung der EU auszuzahlen -, von uns nicht gutgeheißen werden kann.
Wir können uns über die Unterstützung der Förderung durch die Europäische Union nicht beklagen und auch nicht über einen ganz bestimmten Kommissar, Herrn van Miert. Diese Förderung lief nie über den Art. 92 Abs. 2 Buchstabe c, sondern immer über den Art. 92 Abs. 3. Es gibt nur zwei Fälle des Art. 92 Abs. 2 Buchstabe c in unmittelbarer geographischer Nachbarschaft der ehemaligen Grenze zur DDR.
Dadurch, daß Sachsen diesen Fall aufgeworfen hat, stehen wir nunmehr vor der Notwendigkeit, den Art. 92 Abs. 2 Buchstabe c zu interpretieren.
In dieser Richtung ist von Sachsen selbst, von uns und von VW geklagt worden. Ich lege aber großen Wert darauf und unternehme alle Anstrengungen - ich habe das in meinem Einführungsbeitrag gesagt -, daß wir möglichst außergerichtlich eine Klärung zur Anwendung des Art. 92 Abs. 2 Buchstabe c herbeiführen, die sicherstellt, daß a) die besondere Situation der neuen Länder berücksichtigt wird und b) wir die Kommission nicht völlig außen vor lassen. Wenn letzteres der Fall wäre, wäre das eine Einladung zur Subventionsanarchie im Binnenmarkt. Letztlich würde damit der Binnenmarkt in Europa gefährdet.
Zusatzfrage?
Ja. - Herr Minister, Sie erwähnten vorhin die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstrukturen. Wir haben bekanntlich die Situation, daß seit Juli der Kompromißvorschlag des Bund-Länder-Planungsausschusses vorliegt. Dieser ist inzwischen in Brüssel zur Genehmigung anhängig. Welche Fortschritte macht denn diese Genehmigung der Neuabgrenzung, die mit dem 1. Januar 1997 in Kraft treten soll, und gehen Sie davon aus, daß wir zum 1. Januar 1997 ein genehmigtes neues Fördergebiet für Gesamtdeutschland vorliegen haben werden?
Herr Kollege Müller, das ist eine schwierige Angelegenheit; das gebe ich ohne weiteres zu. Mit Blick auf die neuen Länder ist sie jedoch gar nicht einmal so schwierig. Da haben wir eine Differenzierung eingeführt, daß die Fördermaßnahmen in unmittelbarer Nähe zu Westdeutschland abgesenkt werden, eine Differenzierung auch entsprechend der Wirtschaftskraft in Ostdeutschland, wo es große Unterschiede gibt. Ich sehe keine großen Probleme, das in Europa über die Bühne zu bekommen.
Wir haben einerseits ein Problem mit der Einbeziehung West-Berlins in die Gesamtostförderung, und wir haben andererseits ein paar Probleme, die die Prozentsätze der Bevölkerung in Westdeutschland betreffen, die in ein förderfähiges Gebiet fällt. Die Kommission ist in Richtung Absenkung dieses Prozentsatzes tätig. Derzeit sind es, glaube ich - aber legen Sie mich nicht fest -, 22 Prozent. Wir werden also noch intensive Gespräche und Verhandlungen zu führen haben.
Ich bin aber fest davon überzeugt - das sage ich nicht, um Sie oder das Haus zu beruhigen -, daß die effektive Förderung in Ost oder West nicht auf Grund der noch offenen lösbaren Fragen irgendwelchen Schaden nimmt.
Danke.
Ich habe noch fünf Wortmeldungen zu diesem Komplex und bitte beide Seiten, sich kurz zu fassen, weil wir sonst nicht rechtzeitig zum Thema Bodenschutz kommen.
Als nächster Dr. Hermann Pohler.
Hen Minister, wir wissen, daß wir im Osten eine sehr dünne Eigenkapitaldecke haben und die Betriebe daran oft kranken. Im letzten Jahr haben wir den Beteiligungsfonds Ost eingerichtet, und er spielt auch heute noch eine Rolle. Auch der Konsolidierungsfonds von seiten der BvS ist von Bedeutung. Meine Frage: Inwieweit ist zu überblicken, wie die Fonds gewirkt haben - soweit ich informiert bin, ist zumindest der Beteiligungsfonds gut abgerufen worden -, und wie stehen die Chancen, daß sie fortgeführt werden? In meinen Augen wären beide Fonds für die Zukunft der Betriebe äußerst wichtig.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Pohler, Sie haben ein Stück Antwort schon gegeben. Es hat besonderer Anstrengungen bedurft, diese Fonds aufzulegen, den Beteiligungsfonds nach dem Vorbild der Berlinförderung und den Konsolidierungsfonds für bestehende Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten sind oder die expandieren wollen. Beide Fonds werden exzellent angenommen und abgerufen. Aus dem Beteiligungsfonds, der 500 Millionen DM ausmacht, sind mittlerweile 300 Millionen DM bewilligt worden. Auch der Rest wird ohne jeden Zweifel weggehen. Ähnliches gilt für den Konsolidierungsfonds. Ich gehe davon aus, daß wir bei Ausschöpfung eine Fortsetzung, das heißt eine Aufstockung dieses Fonds - es ist ja ein Revolvieren des Systems -, bei Bedarf herbeiführen können.
Insgesamt macht uns die Eigenkapitalsituation im Osten natürlich Sorgen. Aber wir werden die EKH-
Finanzierung und die ERP-Finanzierung fortführen.
Ich glaube, daß Existenzgründungen und wichtige Erweiterungen von Unternehmen nicht am Mangel oder der Nichtausstattung staatlicher Förderprogramme scheitern werden. Das wird im übrigen auch in Ostdeutschland so gesehen. Es geht hier nicht primär um Mittel. Es stehen für diese Zwecke ausreichend Mittel zur Verfügung.
Eine Zusatzfrage?
Ja, ich habe noch eine kurze Zusatzfrage. Wenn wir diese Anstrengung zur Stärkung des Eigenkapitals der Betriebe unternehmen, dann frage ich Sie: Welche Chancen sehen Sie, die Gewerbekapitalsteuer wirklich vom Tisch zu bekommen? Denn sie wäre ja in dieser Hinsicht direkt kontraproduktiv und würde einiges zerstören.
Ich teile da Ihre Auffassung. Wir dürfen die Gewerbekapitalsteuer gar nicht erst einführen. Damit kommen wir in die Sphäre der großen Politik. Dabei geht es um das Jahressteuergesetz 1997. Wir müssen einen Kompromiß finden, der dafür Sorge trägt, daß die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer nicht in den neuen Bundesländern erhoben werden. Das wäre direkt kontraproduktiv, Herr Kollege, und würde das Investitionsklima zusätzlich belasten.
Herr Kollege Schwanhold.
Herr Minister, ich würde gerne eine Vorbemerkung machen. Mich würde einmal interessieren, wie viele Unternehmen in Ostdeutschland nach dem gegenwärtigen Stand der Berechnungen Gewerbekapitalsteuer zahlen müssen.
Nun komme ich zu meiner Frage. Ist im Rahmen der Kabinettsberatungen heute darüber nachgedacht und sind Schwerpunkte gesetzt worden, wie eine Verstetigung der Förderung - dies ist ja für Investoren von besonderer Bedeutung - über den Zeitpunkt Ende 1997 hinaus angesetzt und wie die Treffsicherheit erhöht werden soll? Ist darüber nachgedacht worden - denn es gibt ja zur Zeit in Ostdeutschland eine geringe Investitionsneigung -, welche Infrastrukturmaßnahmen mit besonderer Vordringlichkeit noch über das hinaus, was bisher geplant worden ist, durchgeführt werden müssen, falls es dort Hemmnisse geben sollte? Ist darüber nachgedacht worden - -
Das wären jetzt drei Fragen. Die Vorbemerkung war bereits eine.
Frau Präsidentin, ich erwarte nicht, daß Herr Rexrodt auf meine Vorbemerkung eine Antwort gibt. Insofern war das wirklich nur eine Bemerkung. Ich habe ja aber die Möglichkeit zu einer Nachfrage, so daß ich es bei den beiden bisherigen Fragen belassen will.
Herr Minister.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Schwanhold, zum Aspekt Verstetigung. Die Bundesregierung hat heute einen Bericht beschlossen, in dem expressis verbis steht - ich kann es jetzt nicht wörtlich zitieren -, daß die Bundesregierung der Auffassung ist, daß die Förderung für die neuen Bundesländer über das Jahr 1997 hinaus auf hohem Niveau fortgesetzt wird. Das ist heute beschlossen worden. Wir alle, die wir uns mit diesen Dingen befassen, wissen, daß dies bedeutet, daß wir in der Infrastruktur sowohl bei den Sozialtransfers als auch bei der Wirtschaftsförderung bestimmte Maßnahmen verlängern oder neu zuschneiden müssen.
Hinsichtlich Ihrer konkreten Frage zur Wirtschaftsförderung möchte ich antworten: Hier besteht ebenfalls Einigkeit, daß die Wirtschaftsförderung auch nach 1997 primär auf das verarbeitende Gewerbe und die Förderung des Mittelstandes zugeschnitten sein muß. Wir werden darüber nachdenken müssen,
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
ob wir die Sonderabschreibungen noch halten können. Denn wenn wir eine Steuerreform durchführen, die die Sonderabschreibungen für die gesamte Bundesrepublik verändert, dann entsteht die Frage, ob die Sonderabschreibungen für die neuen Bundesländer erhalten bleiben können. Wenn das nicht der Fall sein sollte - ich spreche im Konjunktiv; keiner weiß das objektiv -, dann muß man sich überlegen, ob der Ausfall der Sonderabschreibungen durch eine entsprechende Aufstockung bei den Investitionszulagen ersetzt werden kann.
Was nun die Infrastrukturmaßnahmen angeht, sage ich Ihnen, Herr Kollege Schwanhold: Wenn wir das, was wir uns bei der Infrastruktur - sowohl bei den Verkehrsprojekten als auch bei den kommunalen Infrastrukturprojekten - vorgenommen haben, durchziehen können, dann können wir zufrieden sein. Jeder Mensch, der mit offenen Augen und einigermaßen objektiven Betrachtungsweisen durch die neuen Bundesländer fährt, wird sehen, daß sich die Infrastruktur ungemein verbessert hat: in der Telekommunikation, beim Schienenverkehr, bei den Bundesfernstraßen, bei den kommunalen Einrichtungen. Ich gehe davon aus, daß wir das hohe Niveau, das die Finanzplanung vorsieht, halten können und daß wir, was diesen Bereich angeht, in den neuen Bundesländern planmäßig eine Annäherung an die Situation in den alten Bundesländern herbeiführen.
Zusatzfrage.
Ich beginne wiederum mit einer Vorbemerkung. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie bei den Infrastrukturen auch die Wissenschaftsinfrastruktur angesprochen hätten. Hier sehe ich die größeren Hemmnisse.
Ich habe das vergessen. Ich bin voll Ihrer Meinung, Herr Schwanhold.
Ich möchte gerne von Ihnen dazu eine Aussage darüber hören, Herr Minister, ob Sie in der Lage waren, dem Kabinett einen Bericht durch Inaugenscheinnahme zum Beispiel von Beschäftigungsgesellschaften wie der BUL in Sachsen oder in Brandenburg vorzulegen, aus dem hervorgeht, daß die Arbeitslosigkeit dort nur mühsam unter 30 Prozent zu drücken ist und Restrukturierungsmaßnahmen in der Braunkohle anders gar nicht zu bewältigen sind. Hat dies hinsichtlich der Fortführung der AB-Maßnahmen eine besondere Würdigung im Kabinett gefunden?
Herr Kollege Schwanhold, ich habe zu den AB-Maßnahmen, wie ich meine, das Wichtigste gesagt. Es gibt die sogenannten Mega-ABMs, die bei Großprojekten sein müssen. Ich selbst habe das x-mal gesehen, und zwar nicht nur bei der Braunkohle, sondern auch im Stahlbereich sowie bei ehemals großen Maschinenbaufirmen und anderen mehr, wo ganz wichtige Maßnahmen über Mega-ABMs gemacht werden. Das soll auch weitergeführt werden. Aber Mega-ABMs können nicht Einrichtungen für alle Zukunft sein. Sie müssen dann, wenn die Projekte ausgelaufen sind - das werden sie bei der Braunkohle noch lange, vielleicht über ein Jahrzehnt oder noch länger, nicht sein -, aufrechterhalten werden können. Sie können nur nicht Selbstzweck unserer Arbeitsmarktpolitik sein, sondern - das habe ich vorhin gesagt - sie müssen und können dort stattfinden, wo sie hingehören, aber sie dürfen nicht auf Dauer und nicht unter Beeinträchtigung der Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt bestehen bleiben.
Danke. - Ich muß jetzt die Fragestellung zum ersten Komplex abbrechen und dem zweiten Komplex wenigstens eine Chance geben. Zunächst herzlichen Dank, Herr Minister.
Falls wir gleich noch ein paar Minuten Zeit haben, rufe ich die weiteren Komplexe auf.
Zum Bodenschutz die Kollegin Christa Reichard.
Frau Ministerin, es gibt bereits in den Ländern Bodenschutzregelungen. Meine Frage ist: Wie wird sich das Bundesbodenschutzgesetz auf die bisher bestehenden landesrechtlichen Regelungen auswirken?
Es ist richtig, daß es in Sachsen, in Berlin und in Baden-Württemberg bereits solche landesrechtlichen Regelungen gibt. Das Gesetz des Bundes ist auf der Basis der konkurrierenden Gesetzgebung aufgebaut. Der Vollzug wird bei den Ländern liegen. Wir werden insbesondere bei dem untergesetzlichen Regelwerk, das zu diesem Gesetz auszuarbeiten ist, darauf achten, daß Kompatibilität zwischen den landesrechtlichen und den bundesrechtlichen Regelungen besteht. Wir haben auch jetzt bei der Erstellung des Gesetzes bereits so viel Spielräume für den Vollzug gelassen, daß die landesrechtlichen Regelungen weiterhin gelten können.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Ja, ich würde gerne noch eine Zusatzfrage stellen. Welche Auswirkungen wird das Bundesbodenschutzgesetz auf die Aufgaben der Altlastensanierung in den neuen Ländern bzw. in der gesamten Bundesrepublik haben? Es gibt ja auch in den alten Ländern Altlasten, die zu sanieren sind.
Das ist richtig. Einer der wesentlichen Zwecke dieses Gesetzes besteht darin, gerade Altlastenverdachtsflächen einheitlich zu bewerten. Wir haben 180 000 Altlastenverdachtsflächen in der Bundesrepublik Deutschland, davon ungefähr die Hälfte in den neuen Bun-
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
desländern. Gerade bei der Altlastensanierung in den neuen Bundesländern, wofür der Bund zusammen mit den Ländern erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, ist heute die Frage: Wie sind diese Grundstücke zu bewerten, und was müssen der Sanierungszweck und -gegenstand und das Sanierungsniveau sein? Da ist zur Zeit leider zwangsläufig an manchen Stellen eine ziemlich eifrige Gutachtertätigkeit im Gange: Wieviel muß man sanieren? Wir werden durch das Bundesbodenschutzgesetz zweckabhängig zu bestimmten Werten kommen, die dann eine einheitliche Betrachtungs- und Behandlungsweise über die gesamte Bundesrepublik ermöglichen. Das ist außerordentlich wichtig, damit Investoren aus Baden-Württemberg oder Hessen überall in der Bundesrepublik die gleichen Bedingungen dafür vorfinden, wann sie beginnen können.
Danke. - Als nächstes die Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren.
Frau Ministerin, nachdem nun nach zehnjähriger Leidensgeschichte dieses Gesetz endlich durch das Kabinett gegangen ist, aber, wie wir beobachten mußten, von Entwurf zu Entwurf eine weitere Verwässerung stattgefunden hat, möchte ich Sie fragen: Wie kann dieses Gesetz gewährleisten, daß das auch von Ihnen vertretene Prinzip der Nachhaltigkeit wirklich umgesetzt wird, daß dieses Gesetz seinen Namen verdient - „zum Schutz des Bodens" -, daß der Vorsorgegedanke tatsächlich umgesetzt wird und es nicht nur ein Altlastensanierungsgesetz bleibt?
Wie kann die Umsetzung gewährleistet sein, wenn Sie selbst eben gesagt haben, daß das untergesetzliche Regelungswerk noch nicht vorhanden ist, und auch die Finanzierungsfragen nach wie vor ungeklärt im Raum stehen?
Wie kann es überhaupt zu einer breiten - -
Sie haben gleich noch die Möglichkeit zu einer Zusatzfrage. Der Komplex muß beantwortbar bleiben.
Ich will als erstes darauf hinweisen, daß es außer den Niederlanden weltweit kein einziges Land gibt, in dem es ein Bodenschutzgesetz gibt. Das heißt, die Bundesrepublik ist wirklich führend mit dem Ansatz, nicht nur die Luft und das Wasser zu schützen, sondern auch den Boden. Daß das völlig neue Fragestellungen aufwirft, erklärt die Tatsache, daß die Erarbeitung eines solchen Gesetzentwurfs eine gewisse Zeit benötigt.
Es ist des weiteren völlig unüblich, daß man sogleich alle Verordnungsermächtigungen eines Gesetzes ausfüllt. Das hat es beim Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht gegeben; das hat es beim Wasserhaushaltsgesetz nicht gegeben. Es ist natürlich wichtig, daß man erst einmal das Gesetz beschließt, bevor man alles, was auf - dem Gesetz aufbaut, festlegt.
Aber wir wissen, daß ein breites Interesse daran besteht, zu sehen, was die Kernpunkte des untergesetzlichen Regelwerks sind. Darüber wird schon sehr detailliert mit den Betroffenen verhandelt.
Ich glaube, daß dieses Gesetz ein wichtiger Schritt ist, der nicht etwa nur aus dem Altlastensanierungsgedanken besteht, sondern sehr wohl Vorsorgepflichten enthält. Es sind auch Verordnungsermächtigungen zur Konkretisierung dieser Vorsorgepflicht geregelt. Deshalb muß man sagen, daß dies ein großer Fortschritt ist. Auf der Internationalen Konferenz zum Schutz des Bodens, der ISCO-Konferenz, die hier vor kurzem stattgefunden hat, wurde Deutschland international dafür geachtet, wie weit es mit seinen Überlegungen in diesem Bereich ist.
Zusatzfrage.
Frau Ministerin, wie können Sie das aber damit vereinbaren, daß in dem Gesetz offensichtlich zahlreiche Ausnahmetatbestände verankert sind, so daß die Anwendung des Gesetzes sehr eingeschränkt wird, und das zum Beispiel auch im Bereich von Verkehrsflächen und im Bereich des Bundesverteidigungsministeriums? Da scheint mir doch ein großer Konflikt zu dem Vorsorgegedanken vorzuliegen.
Man weiß, daß bei sehr vielen Flächen aus dem Bereich des Bundesverteidigungsministeriums Altlastensanierung betrieben wird. Ich glaube, jeder, der sich das vor Ort anschaut, wird das bestätigen. Nichtsdestotrotz hat in der Tat der Bundesverteidigungsminister die Möglichkeit, für die Landesverteidigung notwendige Flächen sozusagen ausnahmsweise in Beschlag zu nehmen und diese aus dem Geltungsbereich dieses Gesetzes herauszunehmen.
Das gleiche gilt für die Verkehrsflächen. Aber Sie müssen sehen, daß von der Fläche der Bundesrepublik Deutschland ungefähr 12 Prozent Siedlungs- und Verkehrsflächen sind, und davon fällt wiederum nur ein sehr kleiner Anteil heraus. Das heißt, das Gesetz gilt in seinem Vorsorgeteil und in seinem Sanierungsteil für den überwältigenden Teil unseres Bodens. Da kann man, glaube ich, wirklich nicht sagen, daß das Gesetz nur aus Ausnahmetatbeständen besteht.
Die letzte Frage, die ich zulassen kann - dann ist die Zeit abgelaufen -, vom Kollegen Steffen Kampeter.
Frau Minister, in Form einer Vorbemerkung möchte ich erst einmal nachhaltig begrüßen, daß das Bundeskabinett den Entwurf zu einem Bundes-Bodenschutzgesetz verabschiedet hat.In der etwas längeren Vordiskussion, die wir hatten, ist immer wieder die Frage nach der generellen Notwendigkeit eines solchen Gesetzes thematisiert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. September 1996 11125
Steffen Kampeterworden. Man muß diese Frage vor dem Hintergrund der Diskussion über den Standort Deutschland - brauchen wir überhaupt zusätzliche Regulierungen im Umweltrecht? - ernst nehmen.Mich würde interessieren, wie Sie in dem Gesetzentwurf die Frage nach seiner Notwendigkeit behandelt haben. Bestand überhaupt ein so großes Regelungsdefizit? Wie versuchen Sie in Ihrem Entwurf, der notwendigen und möglichst engen Verzahnung mit dem bereits bestehenden landesrechtlichen Instrumentarium und der Landesverwaltung Rechnung zu tragen?
In der Tat kann man die Frage stellen. Ich glaube, daß es aus umweltpolitischen Gesichtspunkten natürlich konsequent und logisch ist, daß man nicht nur die Luft und das Wasser schützt, sondern auch den Boden.
Es gibt aber auch aus dem Bereich der Wirtschaft ein sehr starkes Interesse an bundeseinheitlichen Regelungen zum Umgang mit Altlasten. Es gibt vor allen Dingen auch die Notwendigkeit, Altlastenflächen nicht brachliegen zu lassen - auch das ist umweltpolitisch nicht sinnvoll -, sondern die Flächen, die schon mal für Zivilisationszwecke benötigt wurden, weiterzuverwenden und nicht immer wieder auf der grünen Wiese zu bauen. Genau diesem Punkt wird das Gesetz Rechnung tragen. Das wird auch von der Wirtschaft begrüßt.
Von der Landwirtschaft wird begrüßt, daß das Verursacherprinzip angewendet wird, das heißt, daß diejenigen, die Schäden am Boden, der in landwirtschaftlicher Nutzung ist, verursachen, in Zukunft zur Verantwortung gezogen werden können. Wir wissen, daß durch Industrieanlagen, aber auch durch den Verkehr durchaus Schäden bei diesen Böden auftreten können. Aus diesem Grunde ist es wichtig, daß das, was heute bereits im Polizei- und Ordnungsrecht möglich ist, ganz bewußt auf eine umweltpolitische Grundlage gestellt wird.
Wir haben bürokratisch alles versucht, um durch Konzentrationswirkungen und Vorschriften, die eine unbürokratische Handhabung ermöglichen, den bürokratischen Aufwand klein zu halten. Es werden keine neuen Verwaltungseinheiten gebraucht. Die Länder haben die Möglichkeit, im Zuge bestehender Verfahrensordnungen diesen Gesetzesvollzug zu garantieren, so daß ich keine zusätzliche Bürokratie, aber mehr Umweltschutz sehe.
Zusatzfrage?
Eine kurze Zusatzfrage, Frau Minister. Von Betroffenen wird immer wieder die Sorge geäußert, unter dem Deckmantel werde eine Maximalsanierung durchgeführt, unabhängig von den sich auf die Bodenfolgenutzung anschließenden Erfordernissen. Können Sie sagen, welches nutzungsabhängige oder nutzungsunabhängige Sanierungskonzept dieser Regierungsentwurf verfolgt und was dies für die Betroffenen bedeutet?
Genau das ist der Unterschied zum Beispiel zu dem Gesetzentwurf der Grünen. Die Bundesregierung hat ein nutzungsabhängiges Sanierungskonzept. Das heißt, nicht jede Fläche, die als Gewerbegebiet genutzt wird, muß so saniert werden, als wenn sie für den Bau eines Kindergartens genutzt werden sollte. Das ist sinnvoll, vernünftig und entspricht den realen Lebensumständen.
Vielen Dank, Frau Ministerin Merkel.
Ich schließe die Regierungsbefragung und rufe die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b sowie 2 d und 2 e auf:
2. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 13/5583 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 13/5582 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerald Häfner, Kerstin Müller , Christa Nikkels, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Kompensation von Überhangmandaten
- Drucksache 13/5575 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
e) Beratung des Ergänzenden Berichts der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages zu dem Zwischenbericht
Empfehlungen für die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag und zu den wesentlichen Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages
hier: Empfehlungen zu den wesentlichen Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ab der 15. Wahlperiode
- Drucksachen 13/4560, 13/4860 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Wir verfahren entsprechend.
Als erster spricht der Kollege Andreas Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute in erster Lesung drei Gesetzentwürfe zur Reform des Bundeswahlgesetzes. Ich will zu diesem Thema zunächst eine Vorbemerkung machen und für meine Fraktion ausdrücklich erklären, daß wir der Auffassung sind, daß das Thema Wahlrecht kein geeignetes Feld für eine politische Auseinandersetzung ist.
Das Wahlrecht gehört zu den Spielregeln der Demokratie. Ich finde, Herr Kollege Schmidt, es ist ein Gebot der politischen Klugheit, daß man sich in einer Demokratie nicht über die Spielregeln streitet, sondern diese vielmehr als Grundlage benutzt, um sich darauf sachlich zu streiten. Die Spielregeln sollten also nicht in den Streit geraten.
Es war bisher so: Das Wahlrecht war zwischen den großen Parteien und der F.D.P. immer im Konsens. Es war auch ein Stück Stabilität für unsere parlamentarische Demokratie, daß wir diesen Konsens in der Vergangenheit immer wieder herstellen konnten.
Wir haben, um diesen Konsens auch weiterhin gewährleisten zu können, eine interfraktionelle Reformkommission gebildet. Ich finde, diese Reformkommission, in der ja auch viele Sachverständige, die von den Fraktionen benannt worden sind, sitzen, hat-unter dem Vorsitz, Herr Schmidt, Ihres Fraktionskollegen Hans-Ulrich Klose hervorragende Arbeit geleistet. Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion für die Arbeit an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bedanken.
Die Reformkommission hatte drei grundsätzliche Ziele. Das erste Ziel war - das will ich hier noch einmal unterstreichen -, daß wir den Konsens in der Wahlrechtsfrage aufrechterhalten. Das zweite Ziel war, daß wir die notwendigen Reformschritte für die Verkleinerung, die wir ja für das Jahr 2002 beschlossen haben, machen. Das dritte Ziel war, daß wir in der Reformkommission Vorschläge erarbeiten, welchen Zwischenschritt wir für das Jahr 1998 tun müssen, damit auch diese Wahl verfassungsrechtlich in Ordnung sein wird.
Das Ergebnis dieser Kommission liegt in Form einer Bundestagsdrucksache seit dem 8. Mai 1996 vor. Wir haben in der Reformkommission - auch dies will ich hier unterstreichen - einen Konsens erzielt. Ich will diesen Konsens hier noch einmal ausdrücklich benennen.
Wir haben uns in der Kommission mit der SPD und der F.D.P. darauf verständigt, daß wir im Jahre 2002 den Bundestag auf 598 Mandate verkleinern und daß es für die Wahl dann in Deutschland 299 Wahlkreise geben wird. Ich finde, wir geben hiermit auch ein gutes Beispiel für die Landtage in Deutschland, die sich auch in dieser Beziehung einmal ein Beispiel am Bundestag nehmen sollten.
Wir haben uns darauf geeinigt, die Toleranzgrenze von 331/3 Prozent - bisher dürfen Wahlkreise in ihrer Größe vom Durchschnitt nur um 331/3 Prozent nach oben oder unten abweichen - für die übernächste Periode auf 25 Prozent abzusenken. Auch dies ist im Konsens mit der SPD in der Reformkommission beschlossen worden.
Wir haben uns mit der SPD und der F.D.P. darauf verständigt, daß wir für 1998 nur die Wahlkreise verändern, die eine Abweichung um 331/3 Prozent vom Durchschnittswert aufweisen. Auch das macht ja Sinn - deswegen konnten wir uns in dieser Beziehung auch sehr schnell einigen -; denn es ist nicht sinnvoll, im Jahre 2002 alle Wahlkreise zu ändern und zusätzlich im Jahre 1998 größere Veränderungen vorzunehmen. Es hat ja auch etwas Gutes, wenn die Beziehung zwischen dem Bürger und dem Abgeordneten transparent ist und nicht dauernd durch Wahlkreisverschiebungen beeinträchtigt wird.
Wir haben - dies ist ein ganz wichtiger Punkt, Herr Kollege Schmidt -, in der Kommission in bezug auf eine Feststellung Konsens erzielt. Wir haben gemeinsam festgestellt, daß Überhangmandate zulässig sind. Ich will das zitieren; wir haben gemeinsam, mit Ihrer Zustimmung, folgendes festgestellt - es steht auf Seite 38 des Kommissionsberichts -:
Die Reformkommission ... ist ... mit dem Bundesverfassungsgericht, den von ihr hinzugezogenen Gutachtern und der Mehrheit der von ihr angehörten Sachverständigen der Ansicht, daß die bestehenden Regelungen des Bundeswahlgesetzes, die zum Auftreten von Überhangmandaten führen können, verfassungsgemäß sind.
Diese Feststellung ist in dem Bericht der Kommission enthalten. Sie hat Ihre Zustimmung gefunden. Das ist einvernehmlich beschlossen worden. Die Entscheidung ist ja auch richtig. Wir haben ein janusköpfiges Wahlrecht; wir haben ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Damit nehmen wir in Kauf, daß es Überhangmandate gibt. Das entspricht unserem Wahlrecht. Ich sage noch einmal: Wir haben in der Kommission im Konsens mit der SPD festgestellt, daß dies rechtlich überhaupt nicht zu beanstanden ist.
Wir haben in der Kommission Konsens darüber erzielt, daß wir keine Ausgleichsmandate für Überhangmandate wollen. Dies hat die SPD in der Kommission ausdrücklich erklärt. Dies ist Konsens. Sie wissen, warum ich das hier derart unterstreiche; ich komme gleich noch darauf zu sprechen.
Wir haben weiter in der Kommission im Konsens mit der SPD festgestellt: Wir wollen keine Kompensa-
Andreas Schmidt
tion für Überhangmandate. Das ist der Vorschlag der Grünen.
- Herr Kollege Schmidt, Sie können darauf zurückkommen. Ich weiß, daß Sie damals einen Antrag zur Abstimmung gestellt haben - ich will das ja nicht leugnen -, aber Fakt ist, daß Sie dem Kommissionsbericht Ihre Zustimmung erteilt haben. Im Kommissionsbericht steht eindeutig: Wir wollen keine Kompensation, also Streichen von Mandaten auf Landeslisten, und wir wollen keine Ausgleichsmandate für Überhangmandate. Diesem Kommissionsbericht und diesem Ergebnis haben Sie zugestimmt. Der Bericht ist mit 20 Ja-Stimmen gegen fünf Nein-Stimmen bei drei Enthaltungen angenommen worden. Sie werden hier nicht aus Ihrer Verantwortung entlassen, Sie haben dem in der Kommission zugestimmt.
Unser Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, entspricht exakt, vollinhaltlich dem Ergebnis der Reformkommission. Wir hatten, damals noch gemeinsam mit den Sozialdemokraten, die Hoffnung, daß wir das Ergebnis der Reformkommission auch gesetzestechnisch umsetzen könnten. Wir waren der Meinung: Wir wollen einen gemeinsamen Gesetzesantrag machen.
Zunächst sah es auch so aus, daß wir das Ergebnis der Reformkommission gemeinsam umsetzen wollten. Dann hat Ihr Fraktionsvorsitzender den gefundenen Konsens leider zerschlagen. Er hat Ihre Fraktion dazu gebracht, daß Sie jetzt Ausgleichsmandate für Überhangmandate fordern. Ich sage noch einmal: Sie haben sich in der Reformkommission eindeutig gegen die Forderung, die Sie jetzt stellen, ausgesprochen.
Ihr Verhalten ist bedauerlich, weil damit der Konsens aufgekündigt worden ist; aber das können wir nicht ändern. Es geht jedoch nicht, daß Ihr Fraktionsvorsitzender uns jetzt auffordert, zum Konsens zurückzukehren. Das geht nun wirklich nicht. Mich erinnert das an einen Ehemann, der plötzlich, ohne Ankündigung und ohne Grund aus der ehelichen Wohnung auszieht und seiner Frau gleichzeitig vorwirft, sie würde die Ehe gefährden.
Die Sozialdemokraten haben den Konsens aufgelöst und sind sozusagen vom Konsensmodell zum Nonsensmodell abgedriftet. Es macht in der Tat keinen Sinn, für das Jahr 2002 eine Verkleinerung des Parlaments zu beschließen und den Bundestag 1998 durch Ausgleichsmandate zu vergrößern. Das versteht der Bürger nicht, und es besteht für diese Änderung des Bundeswahlgesetzes überhaupt keine Notwendigkeit. Deswegen wird sie unsere Zustimmung nicht finden.
Auch der Vorschlag der Grünen, den ich noch kurz ansprechen will, macht unseres Erachtens keinen Sinn, weil er im Ergebnis die von Ihnen kritisierten Überhangmandate bestehen läßt, aber die von Ihnen nicht kritisierten normal erworbenen Mandate teilweise wegstreicht. Das macht keinen Sinn, und deshalb kann dieser Vorschlag unsere Zustimmung nicht finden.
Unser Gesetzesvorschlag entspricht voll dem Vorschlag der Reformkommission. Dieser Vorschlag hat damals Ihre Zustimmung gefunden. Um den Konsens in dieser wichtigen Frage wiederherzustellen, kann ich Sie nur auffordern, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten: Kommen Sie auf den Standpunkt zurück, den Sie in der Reformkommission vertreten haben. Schließen Sie sich unserem Gesetzesvorschlag an.
Vielen Dank.
Als nächstes spricht der Kollege Wilhelm Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit allem Respekt vor dem, was der Kollege Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion vorgetragen hat, muß ich sagen: Das kann von uns so nicht hingenommen werden. Wir haben in der Vergangenheit sehr viel ruhiger und technokratischer die Wahlrechtsänderungen in diesem Hause diskutiert. Aber auch nach Ihrer Rede zeichnet es sich ab, daß das vorbei ist.
Nun kann man das Aufgeben und Aufkündigen des bisher geübten Konsenses als Vorwurf hin- und herschieben, aber eindeutig ist, daß die Sozialdemokraten zunächst einmal in der Reformkommission aktiv mitgearbeitet haben und wir dort all unsere Vorstellungen, die im Widerspruch zu dem stehen, was Sie hier vermittelt haben, zum Ausdruck gebracht haben, das geht bis hin zu Gegenanträgen. Daß wir dann aber den Zwischenbericht der Reformkommission nicht gekippt haben, lag daran, daß wir den Gedankenprozeß und natürlich den Diskussionsprozeß nicht aufhalten wollten und daß wir damals allen weiteren politischen Aussagen und Entwicklungen Raum geben wollten.
Von daher, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ist es ganz normal, daß man ein Zwischenberichtsergebnis nicht als feststehendes, endgültiges Ergebnis der Verhandlungen aller Fraktionen in diesem Haus abhaken kann. Das geht so nicht. Man kann sich doch auch in einer noch so gut besetzten Reformkommission nicht allen weiteren politischen Entwicklungen und Diskussionen sperren.
Von daher will ich sehr nachdrücklich darauf hinweisen, daß der Konsens in der Reformkommission dem entspricht, was Sie als Gesetzentwurf jetzt vorgelegt haben. Aber von uns sind zusätzlich immer wieder Forderungen angemeldet worden, wodurch auch erkennbar war, daß wir nicht auf dem Niveau stehenbleiben wollten, sondern daß wir jetzt noch zusätzlich diskutieren müssen. Es geht um die Frage: Muß es nicht doch eine Kompensation oder einen Ausgleich für Überhangmandate geben, noch dazu im Lichte auch von verfassungsrechtlichen Fragen, aber - was noch viel wichtiger ist -, auch von verfassungspolitischen Fragen?
Wilhelm Schmidt
Ich will dabei sehr deutlich daran erinnern, meine Damen und Herren von der Koalition insgesamt, daß das Wahlergebnis 1994 durch die Anzahl von Überhangmandaten unzulässig verfälscht worden ist. Nach der Rechnung, die Sie alle kennen, hatte die Koalition gegenüber dem Wahlergebnis 1990 57 Mandate bzw. 57 Sitze verloren. Sie hatte rechnerisch am Ende gegenüber den Fraktionen und Gruppen, die insgesamt die Opposition darstellen, nur noch einen Vorsprung von zwei Sitzen. Durch die zwölf Überhangmandate der CDU und die vier Überhangmandate der SPD war ein zusätzlicher Nettogewinn von acht Sitzen hinzugekommen. Das heißt, die jetzt relativ komfortable Vorsprungssituation der Koalition von zehn Sitzen ist doch eine Verfälschung des Wählerergebnisses, das eigentlich nur eine Mehrheit von zwei Sitzen erbracht hat.
Wenn man so will, ist dies die neue Form, auf die wir noch einmal hinweisen, auf die wir allerdings auch in den Beratungen der Reformkommission immer wieder aufmerksam gemacht haben. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß der Bundestag verkleinert werden muß.
- Herr Schmidt, lassen Sie bitte im Augenblick die Zwischenfrage sein; ich möchte jetzt gerne im Zusammenhang berichten.
Wir werden dafür sorgen, daß die Verkleinerung in dem Sinne, wie wir sie gemeinsam in der Reformkommission erarbeitet haben, stattfinden wird. Wir werden deswegen diesen Teil der Gesetzesveränderungen, die wir heute einbringen und beraten, auch mittragen. Es gibt dahin gehend überhaupt kein Problem. Wir werden also die Verkleinerung auf 598 Sitze, gleich 299 Wahlkreise, mittragen. Wir werden die Veränderung der Toleranzgrenze mittragen, die deswegen mit Recht nach unten abgesenkt wird, weil wir nicht wieder alle gemeinsam einen solchen Reformstau erleben wollen, wie er schon jetzt zu verzeichnen ist.
Bei einer Abweichung von 331/3 Prozent nach oben oder nach unten gibt es zur Zeit die pikante Situation, daß der kleinste Wahlkreis in Deutschland halb so groß wie der größte Wahlkreis sein kann. Das darf nicht aufrechterhalten werden. Deswegen sind wir gemeinsam zu der Auffassung gelangt: Dies muß geändert werden. Darum sind wir mit der Änderung der Toleranzgrenzen - 15 Prozent Soll und 25 Prozent Pflicht - einverstanden.
Wir sind ebenfalls der Meinung, daß ab 2002 der Ausgleich zwischen den Ländern und damit das Regeln der Zuweisung der Wahlkreise pflichtgemäß erfolgen muß. Das, was wir 1998 noch nicht machen, nämlich acht Wahlkreise in Deutschland zwischen einzelnen Bundesländern hin- und herzuschieben, um die Gerechtigkeit auf der Länderebene wiederherzustellen, wird erst 2002 gemeinsam mit der großen Reform in Angriff genommen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Weil wir diese Regelungen erst 2002 vollziehen wollen und können, auch aus gesetzestechnischen und vor allen Dingen aus wahlkreistechnischen Gründen, müssen wir jetzt ganz sorgfältig auf die Übergangslösung für 1998 schauen. Ich appelliere sehr eindrücklich: Es reicht nach unserer Überzeugung nicht aus - das haben wir damals in der Reformkommission auch mit Gegenanträgen geäußert -, die 2002-Regelung jetzt ins Gesetz hineinzuschreiben. Das ist wichtig; das ist auch notwendig; dazu stehen wir. Aber es reicht nach unserer Überzeugung nicht aus, um die 1998er Übergangslösung rechtsfest oder gar verfassungsrechtsfest zu machen.
Das ist der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist für unsere Begriffe mindestens genauso wichtig. Hier versucht die Koalition allein aus machtpolitischem Kalkül - ich will das sehr deutlich sagen -,
die einmal gefundene Lösung, die in den vergangenen Jahren praktiziert wurde, nun auf einmal fortzusetzen.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie uns hier im Hause überstimmen sollten, dann werden Sie erleben, daß diese Dinge vom Bundesverfassungsgericht auf jeden Fall revidiert werden. Denn es sind für die Bundestagswahl 1994 mehrere Klagen anhängig, und zwar nicht nur das Normenkontrollverfahren, angestrengt durch das Land Niedersachsen, das darauf abzielt, die Regelung mit Ausgleichsmandaten als eine Kompensation der Überhangmandate auf den Weg zu bringen; vielmehr sind pikanterweise auch aus den Reihen der CDU Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig, angestrengt von Justitiaren von Landesverbänden der Jungen Union, die sich dagegen wehren, daß ein Kollege der CDU/CSU, der ein Überhangmandat errungen hat, infolge seines Listenplatzes in den Bundestag gekommen ist. Wir sind sehr gespannt, wie das auch in Ihren eigenen Reihen verkraftet wird. Ich glaube, wir sind da schon sehr nahe beieinander; Sie wollen unseren Vorschlag unter den eben genannten machtpolitischen Gesichtspunkten aber nicht mittragen.
- Nun versuchen Sie doch nicht, die Öffentlichkeit irrezuführen. Die Sache wird doch jetzt nur aufgebauscht.
Auch in unserer Anhörung ist immer wieder zum Ausdruck gekommen, daß zwischen schlechten und guten Überhangmandaten unterschieden wird. Von den 16 Überhangmandaten waren zwölf schlecht. Das heißt, der überwiegende Teil der Überhangmandate ist dadurch entstanden, daß der Bundestag einen Reformstau in bezug auf Wahlrechtsmaßnahmen vor sich hergeschoben hat. Daher sind wir dringend genötigt, den Teil der Überhangmandate, der daraus resultiert, zu beseitigen.
Ich sage einmal sehr deutlich: Wenn wir gemeinsam der Auffassung sind, daß dies 1998 noch nicht
Wilhelm Schmidt
gemacht werden kann, weil uns zum Beispiel die Wahlkreiskommission vorgeschlagen hat, dies nicht zu tun - das hätte eine Veränderung zumindest der Hälfte der Wahlkreise in Deutschland bedeutet; diese große Reform vor der weiteren großen Reform 2002 wollten wir uns nicht zumuten -, dann müssen wir wenigstens alle gemeinsam dafür sorgen, daß die zahlreichen schlechten Überhangmandate, die wir als Gesetzgeber eigentlich vermeiden könnten, ausgeglichen werden. Diese Frage wird bei der rechtlichen und insbesondere verfassungsrechtlichen Beurteilung eine entscheidende Rolle spielen.
Nun sage ich noch etwas zum Kompensationsmodell, das uns die Grünen in ihrem Gesetzentwurf vorstellen. Auch wir hatten das ursprünglich ins Gespräch gebracht. Dies läßt sich allerdings - hier besteht Übereinstimmung zwischen den großen Fraktionen - nicht weiterverfolgen; denn es ist uns, nachdem auch wir dieses Modell zunächst favorisiert hatten, entgegengehalten worden, daß das Wegrechnen von entstandenen Überhangmandaten zu Lasten von Landeslisten anderer Länder politisch nicht durchsetzbar ist. Das ist auf Ihrer Seite so, und das ist auf unserer Seite genauso; machen wir uns da nichts vor.
Da wir dies wissen, aber trotzdem der Überzeugung sind, es muß 1998 eine Kompensation von schlechten, von falsch entstandenen Überhangmandaten erfolgen, wollen wir für eine Legislaturperiode, nämlich bis wir wieder alles ordentlich geregelt haben, die Regelung mit Ausgleichsmandaten festschreiben. Dies werden wir mit allem Nachdruck in den weiteren Beratungen verfolgen.
Wir haben dazu einen Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt, übrigens mit einer Regelung, die sogar noch die niedersächsische Regelung mit der dort vorgesehenen Deckelung von Ausgleichsmandaten unterschreitet, und dies zu unseren eigenen Lasten; denn nach unserem Gesetzentwurf würden die entstandenen Überhangmandate einer Partei auf die ihr zustehende Zahl von Ausgleichsmandaten angerechnet. Das würde, legt man einmal das Wahlergebnis von 1994 zugrunde, praktisch bedeuten, daß die SPD nicht acht Ausgleichsmandate - so viele Überhangmandate hat die SPD erhalten - bekommen würde, sondern nur vier. Das zeigt, daß wir damit sehr ehrlich umgehen; ich will das einmal sehr deutlich sagen.
Deswegen fordere ich Sie im Namen der Sozialdemokratischen Partei hier im Hause auf, sich noch einmal sehr, sehr nachdrücklich zu fragen, ob die machtpolitische Seite, die Sie hier durchzuziehen versuchen, nicht durch ein Entgegenkommen bereinigt werden kann und ob Sie unserem Vorschlag nicht doch folgen können. Denn ich glaube, es wird draußen im Lande niemand verstehen, wenn Sie dies auf die Spitze treiben. Sehen Sie zu, daß Sie in den anstehenden Ausschußberatungen auf diese Weise reagieren!
Vielen Dank.
Herr Kollege Gerald Häfner, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir können uns hier im Hause über politische Fragen aller Art trefflich streiten - so kontrovers wie nötig. Aber, und da möchte ich an das anknüpfen, was Sie, Herr Schmidt, am Anfang gesagt haben: Es gibt einen Bereich, über den wir nach Möglichkeit nicht streiten sollten, nämlich über diejenigen Fragen, die die Spielregeln für unsere Demokratie und damit auch für das Zustandekommen des Parlamentes betreffen.
Sie haben es selbst gesagt: Wahlrechtsfragen sollten im Konsens aller Fraktionen entschieden werden. Aber Sie haben sich, aus unserer Sicht, nicht daran gehalten.
- Das müssen Sie sich schon sagen lassen. Das sage übrigens nicht nur ich. Sie haben doch auch den Bericht der Wahlkreiskommission gelesen, über den wir heute beraten. Sie hat festgestellt, die Verteilung der Wahlkreise auf die Länder sei nicht mehr verfassungsgemäß. Und es sei notwendig, hier gesetzgeberisch tätig zu werden bzw. einen Ausgleich zu schaffen. Wir haben hierfür verschiedene Vorschläge gemacht. Herr Schmidt, ich glaube, über die unterschiedlichen Modelle - Ausgleichsmandate, Kompensationsregelungen - können wir im Zuge der Ausschußberatungen noch ausreichend reden. Das will ich hier nicht vertiefen.
Aber Tatsache ist doch: Überhangmandate in diesem Ausmaß verfälschen das Wahlergebnis in erheblichem Maße. Ich möchte gerne einmal wissen, was Sie sagen werden, wenn nach der Bundestagswahl 1998 die Ergebnisse über die Bildschirme flimmern, wenn die Bürger dort anhand der Zahlen und Grafiken erfahren, daß es wie 1994 eine Mehrheit von zwei Stimmen für eine CDU/CSU-F.D.P.-Koalition gibt, aber am nächsten Tag dann gemeldet wird: Das stimmt. Aber wegen einiger Überhangmandate gibt es trotzdem eine Mehrheit für Rot-Grün!
- Ich sehe, wie Sie vor Schmerz das Gesicht verziehen. Es ist jederzeit möglich, daß die Überhangmandate die von den Bürgern gewünschten Wahlergebnisse verfälschen - so wie jetzt, wo eine hauchdünne Kanzlermehrheit von zwei Stimmen durch Überhangmandate auf zehn Stimmen aufgeblasen wird. Es ist aber theoretisch eben genauso möglich, daß sich durch die Überhangmandate sogar eine gänzlich andere Mehrheit im Parlament ergibt als von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Abgabe ihrer Wahlstimme gewollt.
Und Sie wissen auch: Das Bundesverfassungsgericht hat 1988 gesagt, daß ein Überhangmandat verfassungsrechtlich gerade noch zulässig sei, soweit dadurch die engen Grenzen, in denen die Differen-
Gerald Häfner
zierung des Stimmengewichts notwendigerweise zulässig ist, nicht überschritten werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat auch gesagt - das kennen Sie, es ist das oberste Prinzip des Wahlrechts überhaupt, das Prinzip der gleichen Wahl -, daß alle Wähler mit den Stimmen, die sie abgeben, den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben sollen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt: Das Prinzip der Wahlgleichheit erfordert beim Verhältniswahlsystem, daß jeder Stimme auch der gleiche Erfolgswert zukommen muß.
Sie wissen, daß dieses Prinzip gegenwärtig verletzt ist. Bei der letzten Bundestagswahl etwa benötigten Bündnis 90/Die Grünen für die Erlangung eines Sitzes im Bundestag 69 859 Stimmen, während für einen Sitz der Union lediglich 65 941 Stimmen erforderlich waren.
Dies alles verletzt die Grundsätze unseres Wahlrechts. Und es ist auch den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermittelbar.
Aber es ist nicht unvermeidbar. Es gibt zwei Möglichkeiten der Abhilfe. Die eine Möglichkeit ist: Wir ändern jetzt noch die Wahlkreiseinteilung sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen den Ländern so, daß die Wahlkreise wieder - den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend - annähernd gleich groß sind. Dann werden automatisch weniger Überhangmandate anfallen. Zu Ihrer Information: Von 1965 bis 1980 gab es bei den Bundestagswahlen überhaupt keine Überhangmandate; in der Zeit von 1980 bis 1990 im Schnitt eineinhalb; erst 1990 ist ihre Zahl mit sechs und 1994 mit 16 extrem in die Höhe geschnellt. Dies liegt an der ungleichen Verteilung von Wahlkreisen innerhalb der Länder und zwischen den Ländern.
Entweder also wir ändern diese Verteilung - das haben Sie abgelehnt -, oder aber - das ist die zweite Möglichkeit - wir müssen in das Wahlgesetz eine Kompensationsregelung für diese Überhangmandate aufnehmen. Ich halte das sogar für verfassungsrechtlich geboten.
Ich war und bin immer noch der Hoffnung, daß dies im Konsens aller demokratischen Parteien so beschlossen werden kann, daß wir nicht das Risiko eingehen, daß nach der nächsten Bundestagswahl die Zusammensetzung des Bundestages nicht mehr vom Wähler und auch nicht mehr von uns, sondern vom Bundesverfassungsgericht bestimmt werden muß. Übrigens haben Sie vorhin, als Sie den Konsens der Parteien genannt haben, in Ihrer Aufzählung immer Bündnis 90/Die Grünen vergessen. Ich hoffe, daß das ein Versehen war, denn sonst wäre es ein eigenartiger Begriff von Konsens. Mir aber ist an diesem Konsens gelegen. Wir sollten jetzt unsere Hausaufgaben als Gesetzgeber machen und nicht warten, bis uns Karlsruhe dann einen Strich durch die von Ihnen so miserabel aufgestellte Rechnung machen muß.
Danke sehr.
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über einen weiteren wichtigen Schritt im Rahmen der umfassenden Parlamentsreform, die wir in diesem Hause Mitte des letzten Jahres begonnen haben. Nunmehr geht es um die Verkleinerung des Parlaments und um das Wahlrecht.
Die Reformkommission hat ihre Ergebnisse vorgelegt, und ich kann für die F.D.P. feststellen, daß wir die darin gemachten Vorschläge in vollem Umfang unterstützen. Sie stellen einen vernünftigen Weg für die notwendigen Änderungen dar.
Der Vorschlag einer Verkleinerung des Bundestages auf 598 Abgeordnete ab der 15. Wahlperiode berücksichtigt gleichermaßen die Erfordernisse einer Verschlankung, die wir ja auch in anderen Bereichen anstreben, wie die einer höchstmöglichen Arbeitseffektivität. Diese substantielle Verringerung der Abgeordnetenzahl steht im Einklang mit der von uns Liberalen immer geforderten Veränderung mit Augenmaß.
Eine Verringerung der Zahl der Mandate unter diese Grenze in Verbindung mit der Vergrößerung der Wahlkreise würde dagegen zu einer nicht mehr hinnehmbaren schlechteren Vertretung der Bürger durch den Wahlkreisabgeordneten führen. Das gilt insbesondere für die jetzt schon besonders flächengroßen Wahlkreise in den neuen Ländern; ich denke etwa an Mecklenburg-Vorpommern. Wir alle wissen, wie wichtig besonders in einer Zeit zunehmender Politikverdrossenheit intensive Wahlkreisarbeit ist. Gerade darum möchte ich für den hier vorgelegten Kompromiß einer maßvollen Verringerung der Abgeordnetenzahl werben.
Außerdem muß sichergestellt sein, daß eine Partei, die die Fünfprozentmarke übersprungen hat, auch flächendeckend im Bundesgebiet, das heißt, möglichst in allen Bundesländern, präsent ist. Dies wäre bei einer deutlicheren Reduzierung nicht mehr gewährleistet.
Für uns war darüber hinaus wichtig, daß es keine grundsätzlichen Änderungen am Wahlrecht geben wird. Das Bundeswahlrecht folgt nicht dem reinen Verhältniswahlrecht, sondern dem System der personalisierten Verhältniswahl. Dieses System hat sich in der Bundesrepublik bewährt, und viele andere Länder haben es, weil es sich besonders bewährt hat, übernommen.
Die durch Überhangmandate verursachte Abweichung von dem Erfordernis des gleichen Erfolgswertes jeder Stimme ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts notwendige Folge dieses personalisierten Verhältniswahlrechts und damit zulässig, solange die Wahlkreise im Rahmen des
Jörg van Essen
Möglichen annähernd gleich groß sind und keine vermeidbaren Überhangmandate auftreten.
Diesem Erfordernis wird durch die von uns angestrebten Reformen, Herr Häfner, nun nachgekommen.
Ich habe deshalb Verständnis für eine Argumentation, die eine wie auch immer geartete Kompensationsregelung für unnötig hält. Alle Kompensationsmodelle sind ohne gravierende Eingriffe in das bestehende Wahlsystem nicht durchführbar und werden daher von uns aus grundsätzlichen Überlegungen abgelehnt. Eine parteiinterne, länderübergreifende Kompensation von Überhangmandaten, wie sie die Grünen fordern, würde den Erfolgswert der Stimmen für die einzelnen Landeslisten mißachten und faktisch zu einer Bundesliste führen,
die im Wahlgesetz aber gerade nicht vorgesehen ist. Die Mehrheit der Reformkommission zur Größe des Bundestages sah in einem solchen Modell dann auch einen massiven Eingriff in das bestehende Wahlsystem. Die föderale Organisationsstruktur der Wahlen und damit das Wahlrecht würden substantiell verändert. Wir lehnen einen solchen Vorschlag deshalb klar ab.
Neben dieser Kompensationsregelung wird nun auch die Möglichkeit einer Einführung von Ausgleichsmandaten diskutiert, wie sie zum Beispiel im niedersächsischen Wahlgesetz vorgesehen ist; Herr Kollege Schmidt ist darauf eingegangen. Die Reformkommission hat die Einführung einer solchen Regelung auf Bundesebene abgelehnt; auch wir tun dies. Unser Schwerpunkt ist es, Ausgleichsmandate für die Zukunft generell zu verhindern. Eine Regelung für eine Periode halten wir für unnötig.
Darüber hinaus möchte ich fragen, wie es denn wohl den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes zu vermitteln sein soll, einerseits den Bundestag verkleinern zu wollen, ihn im gleichen Atemzug aber durch Ausgleichsmandate wieder zu vergrößern.
Bei aller Sympathie, die ich grundsätzlich für alle Überlegungen hinsichtlich einer Eindämmung der Auswirkungen der Überhangmandatsregelung habe, muß festgestellt werden, daß das Ausgleichsmandat und sonstige Kompensationsregelungen nicht die angemessene Lösung darstellen. Niemand sollte sich hier von kurzfristigen Erwägungen leiten lassen. Wir werden mit Interesse sehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird. Aber nicht das Gericht, wir sind der Gesetzgeber und müssen deshalb entscheiden.
Was die Grundmandatsklausel anbetrifft, sind wir Liberalen nach wie vor der Auffassung, daß sie in ihrer bisherigen Form erhalten bleiben soll.
Wir wollen keine Lex PDS.
Jede Änderung bei der Grundmandatsklausel aber würde eben genauso verstanden werden. Die Auseinandersetzung mit der PDS muß - das ist für einen Liberalen selbstverständlich - politisch geführt werden. Das Wahlrecht sollten wir dafür nicht bemühen.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da zeigt sich mal wieder, daß es in diesem Parlament noch Demokraten gibt. - Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sollen nach dem Willen der Regierungskoalition mit dem vorliegenden Entwurf sowohl auf eine grundsätzliche Neuaufteilung der Wahlkreise bereits für die nächste Bundestagswahl als auch auf eine Kompensation von Überhangmandaten verzichten und lediglich einer Übergangsregelung für die nächste Bundestagswahl zustimmen. Begründet wird dies insbesondere damit, daß zwei grundsätzliche Neuzuschnitte von Wahlkreisen innerhalb von vier Jahren verhindert werden sollen.
Dem kann ich zunächst auch folgen. Jedoch trifft diese Argumentation auf die Überhangmandate nur bedingt zu. Überhangmandate bedeuten meines Erachtens immer einen Eingriff in die formale Wahlrechtsgleichheit. Sie sind irregulär, weil jedes Überhangmandat bedeutet, daß eine bestimmte Anzahl von Wählerinnen und Wählern quasi doppeltes Stimmrecht gehabt hat. Darüber hinaus sind Überhangmandate gerade auch deshalb irregulär, weil durch sie Parteien einen parlamentarisch und außerparlamentarisch überproportionalen Einfluß gewinnen, den sie nach dem geltenden Wahlrecht gerade nicht haben sollen.
Der Verhältnisausgleich soll die formale Wahlrechtsgleichheit sichern und darüber hinaus sicherstellen, daß eine Partei nicht mehr parlamentarischen Einfluß gewinnt, als ihr nach dem prozentual gemessenen Wählervotum zusteht. Es ist bereits davon gesprochen worden, daß hier eindeutig eine Verfälschung des Wählervotums vorgenommen wird.
Man stelle sich nur einmal die Situation der jetzigen Bundesregierung in der Öffentlichkeit und im Parlament bei der Abstimmung zum sogenannten Sparpaket vor, wenn ihre Überhangmandate kompensiert worden wären und sie es nicht geschafft
Dr. Dagmar Enkelmann
hätte, ihre kranken Abgeordneten transportfähig zu machen. Nebenbei bemerkt halte ich diese Art von Umgang mit Abgeordneten auch für unmenschlich.
- Schwerkranke Abgeordnete nur für eine Abstimmung heranzuholen, das ist unmenschlich.
Nun hat Dr. Schäuble in der Öffentlichkeit die mit der Grundmandatsklausel gewonnenen Mandate der PDS als Vorteil der Opposition gegenüber den Überhangmandaten der Regierungskoalition bezeichnet. Meines Erachtens verfälscht er damit die Tatsachen. Denn während der Verhältnisausgleich gerade zeigt, daß Überhangmandate nicht der Verhältniswahl entsprechen, entspricht die Grundmandatsklausel durchaus dem Verhältnisausgleich. Ich verweise Sie nur auf die Ergebnisse der Anhörung der Reformkommission. Die PDS hat entsprechend der Zahl ihrer Zweitstimmen Sitze in diesem Bundestag - wie ich denke, völlig zu Recht.
Soweit Herr Dr. Schäuble mit seinen Äußerungen zur Grundmandatsklausel nun auch noch behaupten will, daß die Mandate der PDS und die Zahl der Überhangmandate zusammenhängen würden, so ist dazu zu sagen, daß diese Behauptung ebenfalls die Tatsachen verfälscht. Überhangmandate können sich nämlich durchaus auch dann ergeben, wenn kleinere Parteien regional viele Zweitstimmen erhalten. Das könnte nicht nur auf die PDS zutreffen, das wäre durchaus auch bei der F.D.P. oder beim Bündnis 90/ Die Grünen möglich. Wir halten es für dringend notwendig, daß Überhangmandate bereits bei der nächsten Wahl vermieden und auch vollständig kompensiert werden.
Noch ein paar Bemerkungen zur Verkleinerung des Parlaments. Wir lehnen sie ab. Angesichts von Transrapid und immensen Kosten für den Umzug nach Berlin ist der Spareffekt eigentlich eine zu vernachlässigende Größe. Der Effekt an Demokratieabbau, an Verlust von Nähe zu den Wählerinnen und Wählern und von Bindung der Abgeordneten an ihre Wahlkreise ist wesentlich größer. Insofern tritt hier ein deutlicher Demokratieverlust ein, der unbedingt diskutiert werden muß.
Hinzu kommt, daß von der Verkleinerung des Parlaments vor allen Dingen die kleineren Parteien betroffen sind. Die Verkleinerung begünstigt eben die größeren Parteien gegenüber den Minderheiten und schränkt damit demokratische Beteiligungsmöglichkeiten ein. Ich denke, wer mehr Demokratie und neue Formen der Bürgerbeteiligung in diesem Parlament will - darüber haben wir ja auch schon diskutiert -, der muß dafür eintreten, daß die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen stärker verankert und damit den Bürgerinnen und Bürgern stärker verbunden sind. Das schließt im übrigen eine mögliche Abwahl von Abgeordneten innerhalb einer Legislaturperiode durchaus ein.
Frau Kollegin, Sie haben schon einen bedeutenden zeitlichen Überhang.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen der Vorlagen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Fragestunde
- Drucksache 13/5565 -
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Dr. Rainer Jork auf:
Welche Strompreise für die Stahlerzeuger sind gegenwärtig - absolut und relativ - in den neuen Bundesländern und den alten Bundesländern vereinbart und wirksam?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege Jork, die Bundesregierung besitzt keine repräsentativen Informationen über die Strompreise für die Stahlerzeuger. Sie wissen, daß die Strompreise für Stahlerzeuger ebenso wie für alle anderen industriellen Stromkunden zwischen Stromerzeugern und -verbrauchern individuell ausgehandelt werden und deswegen in der Regel nur den Vertragspartnern bekannt sind.
Herr Kollege Jork, wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?
Ja, das möchte ich gern. - Ich möchte Sie fragen, Herr Staatssekretär, ob der Bundesregierung bekannt ist, daß zum Beispiel für Freital Strompreise mit einem Unterschied von 65 Prozent gegenüber denen im Sauerland angegeben werden und daß durch regionale Verträge die Mitarbeiter in den Betrieben gezwungen sind, zu absolut ungewöhnlichen Zeiten zu arbeiten.
Ist diese Aussage aus Ihrer Sicht realistisch? Was könnte man dagegen tun?
Herr Kollege Jork, ich kann die vorgetragene Strompreisdifferenz im konkreten Fall jetzt natürlich nicht nachprüfen und insofern weder bestätigen noch ausdrücklich zurückweisen.
Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
Richtig ist, daß wir Strompreisniveauunterschiede sowohl im allgemeinen zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland als auch zwischen konkreten Standorten in dem einen wie in dem anderen Teil unseres Landes haben. Insofern kann man - unabhängig von dem konkreten Fall, den Sie sicher im Auge haben - nicht sagen, daß es eine generelle Strompreisverzerrung zu Lasten konkreter Unternehmen in den neuen Ländern gäbe. Das ist in unterschiedlichen Fällen zum Teil ganz unterschiedlich gelagert.
Eine zweite Zusatzfrage.
Die aus meiner Sicht doch deutlich höheren Strompreise für die Stahlwerke in den neuen Bundesländern, vor allem auch in Sachsen, werden in erster Linie damit begründet, daß höhere Investitionskosten bei den Stromerzeugern gegeben sind. Sehen Sie - wie ich - darin einen erheblichen Standortnachteil für die Stahlindustrie in den neuen Bundesländern? Wie könnte man dies beseitigen?
Zunächst sind die hohen Investitionen und die sich damit ergebenden Abschreibungseffekte ohne jeden Zweifel ein Grund für das im ganzen höhere Energiepreisniveau in den neuen Ländern im Vergleich zu Westdeutschland.
Davon unbeschadet besteht aber die Möglichkeit, in individuellen Vertragsverhandlungen konkrete Strompreisvereinbarungen zu treffen. Von diesen Möglichkeiten wird ja auch völlig zu Recht intensiv Gebrauch gemacht mit dem Ergebnis, daß es in vielen konkreten Fällen gelungen ist, Vereinbarungen abzuschließen, bei denen die Preise deutlich unter dem allgemeinen Strompreisniveau in den betroffenen Regionen liegen.
Im übrigen will ich mir den Hinweis erlauben, daß der Strompreis einer von vielen Faktoren ist, die über die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit von Standorten im Vergleich miteinander entscheiden.
Gelegentlich habe ich auch den Eindruck, als würden sich Unternehmen besonders gern in diesem Bereich auf tatsächliche oder vermeintliche Standortprobleme beziehen, deren Lösung sie von staatlichen Eingriffen erwarten, während sie bei Kosten, auf die sie selber einen unmittelbaren Einfluß haben, die Frage der Wettbewerbsfähigkeit nicht mit der gleichen Gründlichkeit betrachten.
Das gilt beispielsweise auch für die Tarifentwicklung an den Standorten in den neuen Ländern, bei denen, wie inzwischen mehrfach von Instituten aus den neuen Ländern selbst vorgetragen worden ist, längst eine Entwicklung stattgefunden hat, die sich so weit von der Produktivität entfernt hat, daß dies ohne jeden Zweifel ein Standortproblem und damit ein Problem für die Beschäftigung geworden ist.
Herr Kollege Brecht, Ihre Zusatzfrage bitte.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß das Argument, das von den Stromunternehmen im Osten vorgetragen wird, nämlich daß die höheren Stromkosten durch höhere Investitionskosten bedingt seien, nachvollziehbar ist?
Grundsätzlich ist dieses Argument sicher nachvollziehbar, weil es offensichtliche Unterschiede zwischen der westdeutschen und der ostdeutschen Situation gibt. Es taugt aber nicht als Generalrechtfertigung für jedes beliebige Strompreisniveau. Darauf hat die Bundesregierung bei verschiedenen Gelegenheiten immer wieder aufmerksam gemacht. Im übrigen ist das einer der Hintergründe für die Vereinbarung, die Anfang dieses Jahres zwischen den betroffenen Unternehmen auf der einen Seite und den Repräsentanten der öffentlichen Hand - sowohl der Länder wie auch der Bundesregierung - auf der anderen Seite getroffen wurde.
Werden zu dieser Frage weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 2, ebenfalls vom Abgeordneten Jork gestellt, auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Strompreise für Stahlerzeuger in den neuen Bundesländern auf dem Niveau der alten Bundesländer zu gestalten und zu vereinbaren?
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Jork, die Bundesregierung kann und will nicht in die Vertragsfreiheit für die Aushandlung individueller Strompreise eingreifen. Sie unterstützt allerdings die politischen Anstrengungen insbesondere der neuen Länder selbst für vergleichbare Strompreisniveaus in Ost und West. So ist es Anfang dieses Jahres in Erfurt gelungen, den Energiekonsens Ost herbeizuführen, bei dem die Wirtschaftsminister der neuen Länder und Vertreter des Bundeswirtschaftsministers gemeinsam mit Vertretern der ostdeutschen Stromwirtschaft aller Versorgungsstufen sowie der Braunkohlewirtschaft und deren Gesellschaftern eine Übereinkunft erzielt haben, die eine wettbewerbsfähige Stromversorgung der neuen Länder längerfristig sicherstellen soll.
Die Umsetzung dieser Übereinkunft ist unter maßgeblicher Beteiligung der Wirtschaftsministerien in vollem Gange. Ich gehe davon aus, daß davon auch die Stahlerzeuger profitieren werden. Ich weiß, daß es unter Hinweis auf diese Vereinbarung in einigen Fällen bereits zu einer Veränderung der Ausgangslage gekommen ist.
Zusatzfrage.
Angesichts eines Artikels, der am 11. September 1996 in der „Welt" er-
Dr.-Ing. Rainer Jork
schienen ist, möchte ich Sie, Herr Staatssekretär, fragen, ob Sie es für eine gangbare Alternative halten, daß man erwägt, billigen sogenannten Industriestrom aus den Anrainerstaaten Tschechien und Polen zu importieren.
Grundsätzlich muß in diesem wie auch in anderen Zusammenhängen die Möglichkeit bestehen, die günstigste Belieferung mit den Rohstoffen, mit den Materialien oder - wie in diesem Fall - mit der Energie zu sichern, die für die Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Unternehmens am Ort erforderlich sind.
Diese Frage steht aber über den konkreten Zusammenhang, den Sie gerade angesprochen haben, hinaus in dem weiteren Kontext einer von der Bundesregierung für notwendig erklärten und vorbereiteten Novelle des Energierechtsrahmens, die nicht zuletzt das Ziel hat, auch im Energiebereich - als dem letzten großen noch in Monopolstrukturen verbliebenen Wirtschaftsbereich - sicherzustellen, daß Angebot und Nachfrage sich unter Wettbewerbsbedingungen vollziehen und nicht mit abgegrenzten Lieferbeziehungen monopolartig strukturiert bleiben.
Zweite Zusatzfrage.
Würde die Bundesregierung, falls die genannten Diskrepanzen ausschlaggebend und relevant sind, die Bemühungen für den Import von ausländischem Strom stützen wollen?
Die Bundesregierung hat keinen Ehrgeiz, auf die Organisation der Energielieferungen bei einzelnen Unternehmen aktiv Einfluß zu nehmen - weder im abwehrenden noch im fördernden Sinne. Aber die Bundesregierung ist durchaus in einer Reihe von Fällen in den neuen Bundesländern - nicht nur, aber auch im Bereich der stahlproduzierenden Industrie - bei dem Bemühen behilflich gewesen, mit den jeweiligen Energieversorgungsunternehmen konkrete Unternehmensvereinbarungen herbeizuführen, die einen Strompreis für den betroffenen Hersteller ermöglichen, der hilft, die Wettbewerbsfähigkeit am Standort zu sichern.
Wird aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen dazu eine weitere Zusatzfrage gestellt? - Das ist nicht der Fall. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung.
Die Frage 3, die der Kollege Dr. Weng zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung gestellt hat, möge bitte schriftlich beantwortet werden. Das gleiche gilt für die Frage 4 des Kollegen Manfred Such zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Die Fragen wird uns die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl beantworten.
Ich rufe die Frage 5 auf, die der Kollege Hans Büttner gestellt hat:
Welche gesundheitspolitischen Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um der von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde festgestellten „drastischen Steigerung der Anzahl von Suchterkrankten", darunter rd. 10 Millionen Alkoholkranke, rd. 1 Million Medikamentenkranke und 50 000 Drogenabhängige, wirkungsvoll zu begegnen?
Ich bitte die Frau Parlamentarische Staatssekretärin um Beantwortung.
Herr Kollege Büttner, die von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde geschätzte „drastische Steigerung der Anzahl von Suchtkranken" kann nach den vorliegenden Schätzzahlen der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren von der Bundesregierung nicht bestätigt werden. So wird zum Beispiel die Zahl der behandlungsbedürftigen Alkoholkranken von der DHS für die alten und die neuen Länder seit 1993 auf zirka 2,5 Millionen Personen geschätzt.
Unabhängig davon ist die Bundesregierung der Auffassung, daß alle Möglichkeiten genutzt werden sollten, dem Problem sowohl illegaler als auch legaler Suchtmittel noch gezielter zu begegnen. Für die Bundesregierung gelten nach wie vor die Ziele und Grundsätze, die 1990 im Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan von der Bundesregierung, den Ländern, den Kommunen und den gesellschaftlichen Gruppen verabschiedet worden sind. Zu Recht wurde dabei der Prävention, die zuallererst Aufgabe der Länder und Kommunen ist, höchste Priorität eingeräumt. Sie ist das wirkungsvollste Mittel zur Reduzierung der Nachfrage nach illegalen und legalen Suchtmitteln.
Neben der Prävention stellen Therapie und Rehabilitation ebenfalls ein wirksames Mittel zur Hilfe für die Betroffenen und zur Reduzierung der Nachfrage nach Suchtmitteln dar. Im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten hat der Bund in Vergangenheit und Gegenwart das Beratungs- und Behandlungsangebot der Länder und Kommunen für Gefährdete und Abhängige sowie deren Angehörige durch Modellprogramme maßgeblich gefördert.
Zusatz, Herr Kollege Büttner.
Auf welche Höhe schätzt die Bundesregierung den Anteil Jugendlicher unter den in Frage 5 genannten Suchtkranken durch Alkohol, Medikamente und Drogen?
Herr Kollege Büttner, das ist natürlich eine spekulative Zahl, die
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
mir zur Zeit auch nicht gegenwärtig ist. Ich werde gerne versuchen, das über die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren herauszubekommen, und Ihnen das dann schriftlich geben.
Zweite Zusatzfrage.
Welche gesetzlichen Schritte gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um die Abgabe von Alkohol, Medikamenten und Drogen an Suchtkranke einzuschränken?
Da gibt es schon eine Menge von gesetzlichen Bestimmungen. Ich denke nur an das Arzneimittelgesetz, das unter anderem die Abgabe von Medikamenten regelt. Wir glauben aber, daß Gesetze allein keine wirkungsvollen Maßnahmen gegen Suchtgefahren darstellen, sondern daß die Aufklärung höchste Priorität haben muß.
Wollen weitere Kolleginnen und Kollegen dazu Zusatzfragen stellen? - Bitte, Frau Kollegin Fuchs.
Wenn Sie sagen, Aufklärung werde dazu führen, daß die Zahl der Drogenkranken sinkt, frage ich Sie: Was tut die Bundesregierung, um so aufzuklären, daß die Anzahl der Drogenkranken abnimmt, und welche Einschätzung haben Sie, wie die Reduzierung in den nächsten Jahren voranschreiten wird?
Frau Kollegin Fuchs, wir müssen davon ausgehen, daß die präventiven Maßnahmen, die wir - übrigens gemeinsam- im Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan beschlossen haben, auch gegriffen haben; denn Gott sei Dank ist ja nur eine Minderheit der Bevölkerung bereit, regelmäßig legale bzw. illegale Suchtmittel zu nehmen. Insofern denke ich, daß die Prävention greift. Das hängt natürlich aber auch von der individuellen Einstellung jedes einzelnen ab, wie er diesen Suchtmitteln gegenübersteht. Insofern kann die Prävention immer nur ein Anreiz sein, die individuelle Einstellung zu diesen Suchtmitteln in positivem Sinne zu fördern.
Weitere Zusatzfragen werden zu dieser Frage nicht gestellt.
Dann rufe ich die Frage 6, die ebenfalls Kollege Büttner gestellt hat, auf:
Welche Kosten verursachen die in Frage 5 genannten Suchterkrankungen jährlich bei den gesetzlichen Krankenkassen und den übrigen Trägern gesundheitlicher Leistungen?
Ich bitte Frau Parlamentarische Staatssekretärin um Beantwortung.
Herr Kollege
Büttner, der Bundesregierung liegen dazu keine verläßlichen Kostenanalysen vor.
Eine Zusatzfrage.
Ist die Bundesregierung dann wenigstens in der Lage, zu erkunden, wie hoch der wirtschaftliche Wert alkoholhaltiger Produkte und Medikamente ist, die an Suchtkranke abgegeben werden?
Herr Kollege Büttner, ich sehe jetzt keinen unmittelbaren Zusammenhang mit Ihrer gestellten Frage. Sie haben nach den Kosten gefragt, die Alkoholkranke oder Kranke, die andere Suchtmittel nehmen, bei den Krankenkassen verursachen. Diese Kosten sind ganz schwer bezifferbar, weil eine Behandlung nicht unter der Diagnose „Alkoholabängigkeit", sondern zum Beispiel unter den Diagnosen „Magenulkus", „Leberzirrhose" oder - bei einem Raucher - unter den Diagnosen „chronische Bronchitis" bzw. „Bronchialkarzinom" durchgeführt wird. Die Suchtkrankheit finden Sie also immer in anderen Diagnosen versteckt. Deswegen wären alle Kostenanalysen spekulativer Art.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, erlauben Sie mir eine Bemerkung: Es besteht natürlich schon ein Zusammenhang mit der gestellten Frage. Aber Sie haben ja dazu geantwortet.
Kollege Büttner hat jetzt noch eine Zusatzfrage. Bitte.
Hält es die Bundesregierung nicht für angebracht, angesichts der sehr hohen Zahl von Alkohol- und Medikamentensüchtigen konkrete Erfassungsmerkmale festzulegen, um eine Prävention überhaupt sinnvoll gestalten zu können?
Herr Kollege Büttner, ich habe gesagt, daß sich die Krankheit Sucht in anderen Diagnosen versteckt.
Ich wage zu bezweifeln - selbst wenn wir die genauen Kosten kennen würden -, ob die Kosten einen Einfluß auf die Präventionsziele haben würden bzw. in unmittelbarem Zusammenhang damit stehen. Denn die Prävention soll zur Folge haben, daß es erst gar nicht zur Sucht kommt. Sie verfolgt ein ganz anderes Ziel. Insofern sehe ich den Zusammenhang nicht ganz.
Frau Kollegin Fuchs.
Vielleicht ist noch eine Frage suggerierbar? - Das ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich für die Beantwortung, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
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11136 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. September 1996
Vizepräsident Hans KleinIch rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf.Die Frage 7, die unsere Kollegin Dr. Elke Leonhard gestellt hat, soll bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Paul Laufs zur Verfügung.Ich rufe die Frage 8, gestellt vom Kollegen Klaus Barthel, auf:Aus welchen Gründen setzt sich die Bundesregierung im EU-Ministerrat für eine beschleunigte Liberalisierung des Postmarktes, insbesondere der Infopost, und eine Herabsetzung der hohen Anforderungen des Richtlinienentwurfes der Europäischen Kommission über „Gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung der Postdienste und die Verbesserung der Dienstqualität in der Gemeinschaft" an den Universaldienst ein und setzt sich damit in Widerspruch zu Beschlüssen des Europäischen Parlamentes, das der Richtlinie zustimmen muß?Ich bitte den Parlamentarischen Staatssekretär um Beantwortung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, Herr Kollege Barthel, die Bundesregierung folgt dem Verfassungsauftrag des Art. 87f Grundgesetz, nach dem die Dienstleistungen im Bereich des Postwesens als privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die Deutsche Post AG und andere private Anbieter erbracht werden sollen. Sie hat daher auf nationaler Ebene bereits die Öffnung des Bereichs der Massensendungen in die Wege geleitet.
Sie verfolgt diese Zielsetzung im Einklang mit dem europäischen Recht auch bei den Verhandlungen über den Richtlinienvorschlag in den Gremien des Europäischen Rates. Diese Verhandlungen sind derzeit noch im Gange. Der Rat wird sich in seiner Sitzung am 27. September 1996 insbesondere auch mit diesen Fragen der Liberalisierung befassen. Dem Rat ist die Haltung des Europäischen Parlaments zu dem Richtlinienvorschlag bekannt. Dies schließt nicht aus, daß der Rat dazu eine eigenständige Auffassung entwickelt. Diese müßte gegebenenfalls im weiteren Verlauf des Entscheidungsverfahrens nach Art. 189b EG-Vertrag mit den Auffassungen des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission in Einklang gebracht werden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Barthel.
Trifft denn dann die Einschätzung zu, die sich aus Ihrer Antwort ergibt, daß die Bundesregierung im Europäischen Rat die Liberalisierung des Postmarktes einseitig vorantreibt - und auch weiterhin vorantreiben will - und damit gegen die Auffassung anderer Staaten und vor allen Dingen des Europäischen Parlaments vorgeht, die einen umfassenden, qualitativ hohen und bezahlbaren Universaldienst und dessen Finanzierung durch einen reservierten Bereich für möglich und für erforderlich halten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Barthel, in der Tat sind die Vorstellungen der Mitgliedstaaten, was die Festlegung eines reservierbaren Bereiches betrifft, unterschiedlich. Darüber ist in den Gremien sehr ausgiebig diskutiert worden. Die irische Präsidentschaft hat zu streitig gebliebenen Positionen einen Kompromißvorschlag gemacht, dem die Bundesregierung grundsätzlich zustimmen kann. Wir werden sehen, ob am 27. September Einigkeit herbeigeführt werden kann. Wenn dem so ist, werden auf der nächsten Sitzung des Rates am 28. November die Entscheidungen über den gemeinsamen Standpunkt zu dem Richtlinienvorschlag getroffen werden können.
Zweite Zusatzfrage.
Um die nächste Frage stellen zu können, muß ich zunächst Herrn Minister Bötsch zitieren. Er hat im November 1995 erklärt - ich zitiere ihn wörtlich -:
Die im Grünbuch Post vorgelegten Leitlinien für die Entwicklung der Postmärkte in Europa finden unsere volle Unterstützung.
Und er fährt fort:
Liberalisierungsschritte finden dort ihre Grenze, wo sie sich mit dem Ziel einer flächendeckenden Grundversorgung nicht vereinbaren lassen. Wettbewerb ist kein Selbstzweck.
Und er hat an anderer Stelle erklärt:
Ich denke, daß die Qualitätsvorgaben der zum 1. Januar 1996 in Kraft getretenen Postkundenschutzverordnung einen Anhaltspunkt für die genannte Rechtsverordnung bilden können.
Daraus ergibt sich meine Frage: Steht das Vorgehen der Bundesregierung, den Europäischen Rat in eine andere Richtung zu bewegen, nicht im Widerspruch zu den hier mehrfach dargestellten Positionen des Ministers und der Bundesregierung, ein hohes Niveau des Universaldienstes in der Bundesrepublik, haben, angelehnt an den Monopol- und Pflichtbereich, aufrechtzuerhalten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Barthel, diesen Widerspruch sehe ich nicht, insbesondere auch deshalb nicht, weil der überarbeitete Richtlinienentwurf eine Definition des Universaldienstes enthält, die im Rat auf eine breite Zustimmung - wir erwarten sogar Einstimmigkeit - stößt und selbstverständlich auch die Unterstützung der Bundesregierung finden wird.
Herr Kollege Büttner.
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung nicht einen Widerspruch zwischen ihrem Drängen im EU-Ministerrat auf beschleunigte Liberalisierung, auf forcierten Abbau des reservierten Bereiches durch eine schnelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. September 1996 11137
Hans Büttner
I Öffnung für den Wettbewerb bei Massensendungen und dem grundgesetzlich festgelegten Infrastrukturauftrag und der Sicherung der Finanzierung eines Universaldienstes?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Büttner, das Grundgesetz verpflichtet den Bund, zu gewährleisten, daß flächendeckend angemessene und ausreichende Postdienstleistungen angeboten werden; das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß der deutsche Gesetzgeber durch das 1994 - auch mit Unterstützung Ihrer Fraktion - geänderte Grundgesetz in Art. 87 f und 143b verpflichtet wird, Aufgaben zu privatisieren und auch im Postbereich Wettbewerb einzuführen. Dies muß kein Widerspruch in sich sein. Sie können eine flächendeckend ausreichende und angemessene Versorgung mit Postdienstleistungen selbstverständlich auch im Wettbewerb sicherstellen. Dafür gibt es die staatliche Regulierung mit Instrumenten, die dafür sorgen, daß wir dies im Interesse der Bürger erreichen.
Im Moment sind drei Mini-Konferenzen im Gange. Vielleicht können wir uns wieder auf die Fragestunde konzentrieren.
Werden zu dieser Frage weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 9 auf, die ebenfalls der Kollege Barthel gestellt hat:
Welche Auswirkungen auf den Postsektor in Deutschland erwartet die Bundesregierung, wenn die EU-Kommission ihren Richtlinienentwurf zurückzieht, weil dessen Verabschiedung durch die vorrangig auf Liberalisierung des Postmarktes ausgerichtete Politik der Bundesregierung blockiert wird, und von ihrer „Bekanntmachung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Postsektor" Gebrauch macht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Barthel, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß eine Richtlinie zur Herstellung des Binnenmarktes für Postdienste angebracht und erforderlich ist und daß die Kompromißmöglichkeiten bei den gegenwärtig laufenden Verhandlungen keineswegs ausgeschöpft sind. Sie geht davon aus, daß der Rat und das Europäische Parlament sich in dem bereits erwähnten Entscheidungsverfahren nach Art. 189b EG-Vertrag auf eine gemeinsame Haltung zum Vorschlag für eine Richtlinie über „Gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung der Postdienste und die Verbesserung der Dienstequalität in der Gemeinschaft" einigen werden.
Zusatzfrage.
Eine Delegation des Ausschusses für Post und Telekommunikation war Anfang dieser Woche in Brüssel. Das Stimmungsbild, das uns dort vermittelt worden ist, ist diametral zu dem, was die Bundesregierung jetzt hier erklärt. Deswegen meine Frage: Stützt sich die optimistische Einschätzung der Bundesregierung auf die Bereitschaft der Bundesregierung, im Rat zu dem bisherigen Konsens, nämlich dem Konsens des Grünbuches, des Richtlinienentwurfs, zu der Position des Europäischen Parlaments zurückzukehren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Barthel, alle Mitgliedstaaten der EU haben den Wunsch, den Binnenmarkt für Postdienste durch eine Richtlinie gemeinschaftlich zu ordnen. Ich bin sicher, daß wir den Konsens bzw. die qualifizierte Mehrheit dafür im Rat finden. Ich habe Ihnen schon angedeutet, daß die irische Präsidentschaft Kompromisse vorgeschlagen hat, die wir als Bundesregierung unterstützen können.
Zusatzfrage zwei.
Im Zusammenhang damit steht immer die Drohung im Raum, daß die Kommission von sich aus handeln muß, wenn keine Einigung zustande kommt. Deswegen meine Frage: Benutzt die Bundesregierung nicht den Umstand, daß die Kommission für den Fall eines Scheiterns dieser Verhandlungen, wenn also kein Konsens zustande kommt, mit der Inkraftsetzung ihrer „Bekanntmachung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf dem Postsektor" droht, als Druckmittel gegen diejenigen Staaten und auch gegen das Europäische Parlament, die die Art und das Tempo der Liberalisierung, wie es die Bundesregierung wünscht, ablehnen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Barthel, zunächst möchte ich etwas richtigstellen. Der Eindruck, daß allein die Bundesregierung Liberalisierungen durchsetzen will, trifft nicht zu. Das Meinungsbild im Rat ist sehr differenziert. Es gibt neben der Bundesregierung, die einen Verfassungsauftrag umzusetzen hat, viele andere Länder, die ähnlich denken und die Liberalisierung in Europa mit Augenmaß erreichen wollen.
Zur Bekanntmachung der Kommission möchte ich sagen: Dadurch sind die Entscheidungskompetenzen des Europäischen Parlaments und des Rates nicht geschmälert worden. Ich selbst halte es für unwahrscheinlich, daß die Kommission hierzu eine Initiative nach dem Verfahren des Art. 90 Abs. 3 EG-Vertrag zur Liberalisierung des Postmarktes entwickeln wird. Ich bin sehr zuversichtlich, daß der Rat in diesen wichtigen Fragen einen Konsens finden wird.
Werden zu der Frage 9 weitere Zusatzfragen gestellt? - Dies ist nicht der Fall. Vielen Dank für die Beantwortung, Herr Kollege Laufs.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf.
Die Fragen 10, 11, 12, 13 und 14 mögen bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Vizepräsident Hans Klein
Für die mündliche Beantwortung der folgenden Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 15, gestellt von dem Kollegen Siegfried Vergin, auf:
Wie konnte es passieren, daß ca. 30 deutsche Fans, die mit dem Zug zum Fußball-Länderspiel Polen-Deutschland am 4. September 1996 nach Zabrze anreisten, Presseberichten zufolge ohne gültige Reisepässe die polnische Grenze überschritten haben, und welcher Art waren die Informationsdefizite, die zu der unerlaubten Einreise dieses Personenkreises nach Polen führten?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Vergin, Erkenntnisse zu zirka 30 deutschen Fans, die im Rahmen der Anreise mit dem Zug zum Fußballänderspiel ohne gültige Reisepässe die Grenze überschritten haben sollen, liegen dem Bundesgrenzschutz nicht vor.
Der Bundesgrenzschutz hat die Ausreisekontrolle an der Schengener Außengrenze entsprechend den Regelungen des Schengener Durchführungsübereinkommens vorgenommen und dabei verfahrenstechnisch die Möglichkeit der Sichtvermerksvereinbarung mit der Republik Polen vom 4. April 1991 einzelfallbezogen berücksichtigt. In diesem Zusammenhang wurde vier Personen die Ausreise wegen ungültiger Grenzübertrittdokumente untersagt; elf Personen wurden Reiseausweise als Paßersatz zusätzlich zum vorliegenden Personalausweis ausgestellt. In diesem Personenkreis befanden sich aber keine sogenannten Hooligans. Informationsdefizite lagen also nicht vor.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, auf Grund Ihrer Antwort frage ich mich, wie die Journalisten, die dieses Faktum - bei den Zahlenangaben schwankend - als solches mitgeteilt haben, zu diesen Erkenntnissen gekommen sind.
Herr Kollege Vergin, es handelt sich offenbar um ein Gerücht, das seinerzeit schon während des Fußballspiels bekannt war. Deshalb haben sowohl der Vertreter des DFB als auch unsere Polizeibeamten versucht, aufzuklären, ob es in der Tat zu einer solchen Einreise von 30 Personen gekommen ist. Aber auch vor Ort konnten dafür keine Belege gefunden werden. Möglicherweise handelt es sich um eine Verwechslung mit den von mir geschilderten Fällen. Ich kann es letztlich nicht entscheiden.
Zweite Zusatzfrage?
Meine zweite Frage dazu: Wie würden Sie nachträglich die Zusammenarbeit mit Polen in diesem Bereich beurteilen?
Die Zusammenarbeit war an sich gut. Sie wird von allen als relativ reibungslos geschildert. Sie kann praktisch nicht intensiviert werden, weil alle vorliegenden Erkenntnisse sehr zeitnah weitergegeben worden sind: zunächst an unseren Rauschgiftverbindungsbeamten an der Botschaft in Warschau und dann weiter zur Woiwodschaftspolizei.
Was möglicherweise eine Rolle gespielt hat, war die Tatsache, daß sich die polnische Seite mehr auf 2 000 Hooligans aus dem polnischen Bereich, die angekündigt waren, konzentriert hat und daß sie gemeint hat, daß diese die Hauptschwierigkeit darstellen würden, weniger die avisierten 300 bis 350 deutschen Hooligans. Das hat sich dann leider als Irrtum erwiesen.
Weitere Zusatzfragen dazu? - Sie werden nicht gestellt.
Dann rufe ich die Frage 16 des Kollegen Siegfried Vergin auf:
Teilt die Bundesregierung die Ansicht des Europäischen Parlaments , daß „die polizeiliche Aufsicht von örtlichen Polizeibeamten geführt werden muß, die bei internationalen Begegnungen nach der notwendigen Konsultierung und Absprache mit den zuständigen Behörden von Polizeibeamten unterstützt werden, die aus dem gleichen Ort stammen wie die auswärtsspielende(n) Mannschaft(en)''?
Ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege Vergin, die Bundesregierung teilt diese Ansicht. Auf Veranlassung der Zentralen Informationsstelle für Sporteinsätze beim Landeskriminalamt Düsseldorf waren vier Beamte der Polizeien der Länder als Kontaktbeamte zur örtlichen Polizeiführung in Zabrze entsandt worden.
Da die gewalttätigen Zuschauergruppen aus zahlreichen Städten Deutschlands angereist waren, konnten orts- und szenekundige Beamte lediglich aus den Hauptanreiseregionen eingesetzt werden. Der Entsendung sind die notwendigen Konsultationen mit den polnischen Behörden vorausgegangen.
Zusatzfrage.
Vor dem Hintergrund eines Kommentars einer Berliner Zeitung, in dem es hieß, daß nach den Ereignissen in England und jetzt in Polen das Problem der Gewalt in den Fußballstadien, das europaübergreifend ist, für den Bundestag Anlaß sein sollte, eine Aktuelle Stunde zu dem Thema durchzuführen, frage ich folgendes.
Herr Kollege, Sie sind aber weit weg von Ihrer ursprünglichen Frage.
Nein, nein. Vizepräsident Hans Klein: Doch, doch.
Herr Präsident, ich werde gleich ganz dicht an die Frage herankommen.
Vor diesem Hintergrund also frage ich, welche Vorsichtsmaßnahmen in bezug auf die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Nationen ergriffen werden müssen, um solche Dinge besser in den Griff zu bekommen, als das bisher der Fall war.
Herr Kollege Vergin, das übersteigt fast die Möglichkeiten einer kurzen Antwort, weil es sehr ins Detail geht.
Ich möchte Ihnen beispielhaft ein Problem nennen, das wir auf Grund der Nachbesprechung als drängend bezeichnen müssen. Es besteht darin, daß für die Kontrollen bei der Ausreise solcher Fans Dokumentationen, also Namen und Bilder, von Gewalttätern den jeweiligen Grenzorganen sehr schnell übermittelt werden müssen. So war ja der BGS bei der Rückreise dieser Leute leider nicht in der Lage, sie zu identifizieren, einfach deshalb, weil entweder von der polnischen Polizei vor Ort - ich weiß es nicht - eventuell keine Bildaufzeichnungen angefertigt worden sind oder sie den BGS-Beamten nicht rechtzeitig vorgelegt worden sind. Die Beamten hatten auch keine Listen mit Namen. Sie haben zwar kontrolliert und haben sich teilweise Namen aufgeschrieben, aber letztlich konnte keine Verhaftung vorgenommen werden, weil der Beweis nicht geführt werden konnte, daß es sich bei einer konkreten Person um einen Täter handelt. Das ist also ein wichtiger Aspekt.
Ansonsten möchte ich darauf hinweisen, daß in bezug auf die Organisation und die gegenseitige Information sich die Dinge auf Grund der Erfahrungen, die wir durch die Ereignisse in der Vergangenheit gewonnen haben, sehr verbessert haben und daß es normalerweise kein Informationsdefizit gab. Möglicherweise werden vor Ort manchmal die Lagen nicht zutreffend eingeschätzt. Dann kann es eben vor Ort zu unkontrollierbaren Ereignissen kommen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt insbesondere den Bereich der Nachbereitung thematisiert, den auch ich gemeint habe. Sie haben mir ja vor vier Monaten zu den Ereignissen in Großbritannien mitgeteilt, daß in den EU-Gremien Überlegungen angestellt werden, wie man zu einer besseren Abstimmung untereinander gelangen kann. Ich frage Sie: Welche Möglichkeiten gibt es denn jetzt in bezug auf die osteuropäischen Staaten?
Es gibt im Grunde genommen alle bilateralen Drähte, die eben zur Verfügung stehen. Es gibt im Einzelfall sogar Regierungsabkommen, die die konkrete Zusammenarbeit an der Grenze regeln, die auch entsprechende Gremien geschaffen haben. Ich nenne auch noch die Tatsache, daß wir beispielsweise in Warschau, aber auch in den meisten anderen osteuropäischen Hauptstädten Rauschgiftverbindungsbeamte stationiert haben. Das trägt sehr dazu bei, daß es bei der Informationsübermittlung keinerlei Zeitverlust gibt. Es steht dann vor Ort ein fachkundiger Berater aus dem Nachbarland, aus dem die Information stammt, zur Verfügung.
Ich darf noch auf etwas hinweisen, was ich in meiner Antwort auch schon zu erkennen gegeben habe: Auch Länderpolizeibeamte sind - ich glaube - zwei Tage oder einen Tag vor dem Fußballspiel dort hingefahren und haben der dortigen Polizei als Hilfskräfte oder als Berater, wenn Sie so wollen, zur Verfügung gestanden. Ein deutscher Beamter hat dann während des Fußballspiels auf Bitten der polnischen Polizei oder auf eigene Initiative hin sich in deutscher Sprache an die deutschen Fans gewendet. Sie sehen, daß eigentlich die Voraussetzungen für ein optimales Zusammenwirken gegeben waren.
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Ich rufe die Frage 17 auf, die der Kollege Hans-Peter Kemper gestellt hat:
Welche Erkenntnisse gab es im Vorfeld des Fußball-Länderspiels Polen-Deutschland in Zabrze am 4. September 1996 hinsichtlich der Zusammensetzung der mitreisenden Fußballfans?
Herr Kollege Kemper, die Antwort lautet: Im Vorfeld des Länderspiels PolenDeutschland sind den beteiligten Polizei- und Bundesgrenzschutzbehörden von der Zentralen Informationsstelle für Sporteinsätze beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen Hinweise auf die beabsichtigte Anreise von Zuschauergruppierungen mitgeteilt worden, die entweder als „gelegentlich gewaltbereit " oder als „zur Gewalt entschlossen" bundeseinheitlich kategorisiert werden. - Gemeint sind die Gruppen B und C, wie Sie wissen. - Die Mitteilung erstreckte sich auf die voraussichtlich zu erwartende Zahl der jeweiligen Personen sowie auf die voraussichtlich benutzten Regelzüge der Deutschen Bahn AG. Das Verfahren resultiert aus dem nationalen Konzept „Sport und Sicherheit", das die Bekämpfung der Gewalt von Zuschauern bei Sportveranstaltungen zum Ziel hat.
Die Erkenntnismitteilungen beruhen insbesondere auf Informationen, die von szenekundigen Polizeibeamten der Länder in den Städten mit Fußballvereinen beider Bundesligen sowie der Regionalligen jeweils anlaßbezogen erhoben werden. Darüber hinaus hat die ZIS über unbestätigte und nicht näher zu verifizierende Hinweise aus dem Bereich der östlichen Bundesländer unterrichtet, wonach rechtsgerichtete Gruppen ebenfalls zum Fußballänderspiel anzureisen beabsichtigten. Konkrete Personalien wurden in keinem Fall übermittelt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß bereits am 2. August, also etwa vier Wochen vor dem Spiel,
Metadaten/Kopzeile:
11140 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. September 1996
Hans-Peter Kempernach einer gezielten fernschriftlichen Anfrage der ZIS Hinweise aus elf Fußballstandorten eingegangen sind, auf deren Grundlage ein Lagebild erarbeitet wurde, wonach sich zwischen 150 und 200 gewaltbereite Hooligans auf den Weg machen würden?
Herr Kollege Kemper, die Nachricht datiert vom 26. August. Da lagen entsprechende Hinweise bei der ZIS vor. Diese Hinweise sind, wie ich es vorhin bereits geschildert habe, über unseren RGVB unmittelbar an die polnischen Stellen bis hin zur Woiwodschaftsebene weitergereicht worden.
Zweite Zusatzfrage.
Sind auch konkrete Maßnahmen auf deutschem Gebiet durch deutsche Behörden auf Grund der Hinweise der ZIS ergriffen worden?
Ja, es hat einen Kontakt der deutschen Zentralstelle mit den polnischen Polizeibehörden gegeben. Es hat also, wenn Sie so wollen, Beratung stattgefunden. Am 30. August gab es einen zusätzlichen Kontakt des DFB mit dem polnischen Fußballverband mit dem Hinweis, daß die Zahl der zu erwartenden Hooligans mittlerweile auf etwa 300 angewachsen sei.
Auch dort ist noch einmal die Bitte geäußert worden, mit der Kontaktstelle ZIS in Düsseldorf in Verbindung zu treten. Im übrigen - wenn ich das ergänzen darf - sind in einem Zug, der dafür in Betracht kam, BGS-Beamte und Bahnpolizisten mitgereist.
Gibt es eine weitere Zusatzfrage? - Herr Beucher, bitte.
Herr Staatssekretär, warum sind die zuständigen Sicherheitskräfte nicht angewiesen worden, noch im Geltungsbereich deutschen Rechts gegen die rechtsgerichteten Randalierer und gewaltbereiten Hooligans vorzugehen, zumal konkret mitgeteilt wurde, daß man unter dem Motto „Einmarsch in Polen" angereist ist, und es im Zug bereits zu antisemitischen Äußerungen, Schlägereien und zu Kontakten - im negativen Sinne - mit den Polizeikräften gekommen ist?
Das kann ich nicht bestätigen. Im Zug waren die - später gewalttätig werdenden - Personen relativ unauffällig. Es hat für unsere Leute keine gesetzliche Grundlage zum Einschreiten gegeben.
Herr Kollege Krüger.
Herr Staatssekretär, ich möchte gerne wissen, ob die im Zug mitgereisten Bundesgrenzschutzbeamten die Straftaten Sachbeschädigungen und Äußerungen, die sich mit Volksverhetzung und Rassenhaß in Verbindung bringen lassen, festgestellt haben.
Herr Krüger, Sie gehen offenbar von der irrigen Annahme aus, daß dies auf deutschem Gebiet stattgefunden habe. Es hat nicht in Deutschland stattgefunden, sondern das, was Sie jetzt meinen, ist entweder erst im Fußballstadion in der polnischen Stadt geschehen oder auf der Rückreise. Dort hat es beispielsweise eine Toilette gegeben, die angezündet worden ist. Das ist aber auf polnischem Gebiet gewesen.
Was Sie möglicherweise meinen könnten, waren zwei Betrunkene, die entfernt worden sind. Aber noch einmal: Auf deutscher Seite hat es die von Ihnen jetzt abgefragten Ereignisse nicht gegeben.
Dazu weitere Zusatzfragen? - Nein.
Dann rufe ich die Frage 18 auf, die ebenfalls der Kollege Hans-Peter Kemper gestellt hat:
Gab es im Vorfeld dieses Länderspiels direkte Kontakte von seiten des Bundesministeriums des Innern, des Bundeskriminalamtes und der Grenzschutzdirektion Koblenz zu Interpol Warschau bzw. zur deutschen Botschaft in Polen, und wenn ja, welche?
Ich bitte um Beantwortung.
Bereits im Juli 1996 hat sich das Bundesministerium des Innern über die deutsche Botschaft in Warschau um Kontakte zu den polnischen Polizeibehörden bemüht. Anläßlich des Fußballänderspiels Polen-Deutschland führt die Zentrale Informationsstelle für Sporteinsätze beim Landeskriminalamt Düsseldorf die Konsultationen mit dem Interpol-Büro Warschau und der Kommandantur der Woiwodschaft Kattowitz in Abstimmung mit dem BMI fort.
Zusatzfrage?
Zunächst einmal die Frage: Wem oblag die Federführung während der Vorbereitung für den begleitenden Einsatz der Sicherheitskräfte?
Die oblag der ZIS und der Bahnpolizei, soweit es sie betrifft, sowie dem BGS und dem Innenministerium. Beide arbeiten aber eng zusammen, wie Sie aus dem ganzen Ablauf ersehen.
Zweite Zusatzfrage.
Ich hätte dazu gerne noch einmal nachgefragt. Das waren mehrere Behörden, die dort tätig waren.
Herr Kollege Kemper, wenn ich Ihnen behilflich sein darf: Die besagten Züge, in denen sich diese Hooligans eingefunden haben, sind einerseits von Polizeibahnbeamten, also Bundesbeamten, andererseits von Sonderkräften des Bundesgrenzschutzes begleitet worden. Aber es sind auch Länderpolizeibeamte dabei gewesen, weil wir auf szenekundige Beamte angewiesen sind. Diese können eben nur von der Länderpolizei gestellt werden.
Sie sehen also: Es hat sich alles zusammengetan. Alles hat zusammengearbeitet, was zusammenwirken muß.
Das war meine Frage. Wer hat denn dabei die Federführung?
Herr Kollege Kemper, Sie haben schon zwei Fragen gestellt. Aber ich nehme an, daß der zweite Teil nur eine Erläuterung war. Bitte.
Herr Staatssekretär, hat es nach Ihrer Kenntnis daneben auf der fußballerischen Ebene, sozusagen auf der kollegialen Ebene, Nachrichtenaustausch bzw. Ratschläge von der deutschen an die polnische Seite gegeben und somit auch Erkenntnismitteilung?
Ich habe darauf hingewiesen, daß, soweit ich mich erinnere, am 30. August 1996 ein Vertreter des DFB mit dem polnischen Fußballverband in Kontakt getreten ist und noch einmal auf die anrückenden Hooligans aufmerksam gemacht hat. Er hat dort auch Ratschläge gegeben. Auch war er während des Spiels vor Ort. Also auch auf der sportlichen Seite hat es durchaus die Kontakte gegeben, nach denen Sie gefragt haben.
Jetzt Herr Kollege Vergin.
Herr Kollege Lintner, sind Ihnen Formen der sportlichen Zusammenarbeit bekannt, wie wir das von Deutschland her kennen, daß auch der Sport selbst versucht, diese Gewalterscheinungen einzudämmen?
Herr Kollege Vergin, als Mitglied des Innenausschusses wissen Sie, daß wir sogenannte Fanberater beispielsweise beim Fußballbund und bei den einzelnen Vereinen haben, die aus dem Vereinsinnenleben heraus versuchen - -
- Ich bin jetzt überfragt, ob entsprechende Einrichtungen beispielsweise auch in Polen vorhanden sind. Das kann ich Ihnen nicht sagen.
Herr Kollege Krüger.
Herr Staatssekretär, gibt es bei der Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie sich diese Vorfälle auf das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland ausgewirkt haben? Welche Schlußfolgerungen werden für weitere Sportveranstaltungen, insbesondere Fußballspiele in der Zukunft gezogen?
Herr Kollege Krüger, daß diese Vorfälle dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland sicher nicht gutgetan haben, können Sie schon daraus entnehmen, daß sich der Bundesaußenminister in aller Form beim polnischen Volk entschuldigt hat. Auch der DFB hat das getan. Ich kenne keine Stimme aus dem Bereich der Bundesregierung, die sich nicht wirklich kritisch dazu geäußert hätte.
Man kann nur sagen: Es gibt Nachbereitungen. Eine Runde hat schon stattgefunden; eine weitere Runde ist mit dem DFB und der Bahn AG für Mitte Oktober verabredet. Wir versuchen natürlich, entsprechende Rückschlüsse daraus zu ziehen, um uns und andere in die Lage zu versetzen, solche Dinge zukünftig zu vermeiden.
Herr Kollege Beucher.
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich vorstellen, daß es zwingend notwendig ist, daß eine öffentliche Aufarbeitung der ganzen Fragen, im Zusammenhang mit dem verabscheuungswürdigen Gepöbel, so will ich es nennen, und mit antisemitischen Äußerungen im Stadion zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland, zum Nachteil der betroffenen Menschen, aber auch zum Nachteil des Fußballs vorgenommen wird, unter Einbeziehung der ZIS, des DFB, der Fanprojekte und aller Beteiligten, um Grundlagen dafür zu schaffen, daß so etwas nicht wieder vorkommt?
Herr Kollege, ich finde, es ist alles getan worden, was im Zusammenhang mit diesem Vorfall angeraten und auch notwendig war. Es ist nichts verheimlicht worden. Wir sprechen in aller Offenheit darüber, welche Maßnahmen ergriffen worden sind und wo möglicherweise Defizite waren. Auch der polnische Staatspräsident hat sich beim Bundeskanzler schon ausdrücklich für die Reaktion der Bundesregierung und des deutschen Volkes bedankt. Ich sehe angesichts unseres Fazits aus den bedauerlichen Ereignissen eigentlich keinen Anlaß, darüber jetzt noch sozusagen ad infinitum zu diskutieren.
Gibt es weitere Zusatzfragen? - Solche werden nicht gestellt.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung. Denn die Fragen 19 des Abgeordneten Thomas Krüger, 20 des Abgeord-
Vizepräsident Hans Klein
neten Dr. Egon Jüttner, 21 und 22 der Abgeordneten Kerstin Müller und 23 der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer sollen schriftlich bzw. nach Nummer 2 Abs. 2 der Richtlinien beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf. Die Fragen wird uns der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke beantworten.
Herr Staatssekretär, die Fragen 24 und 25, gestellt vom Kollegen Michael Teiser, mögen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 26 hat die Kollegin Ulla Schmidt gestellt:
Zu welchen Ergebnissen hat die in der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Rainer Funke auf meine Frage 29 in Drucksache 13/4596 angegebene Prüfung geführt, ob mittlerweile ein Ermittlungsverfahren gegen den mit einem Lehrauftrag in Dresden arbeitenden Dr. L. eingeleitet wurde, und hat die Bundesregierung die schweizerischen Behörden in Zürich auf die von dem auch dort wohnenden Dr. L. ausgehenden Gefahren aufmerksam gemacht?
Ich bitte um Beantwortung.
Frau Kollegin, das Bundesministerium der Justiz hat schon im Februar 1996 die Informationen über Verdachtsmomente hinsichtlich eines sexuellen Mißbrauchs von Kindern auf den Philippinen durch den deutschen Staatsangehörigen Dr. L. an die Landesjustizverwaltung NordrheinWestfalen weitergeleitet. Eine mögliche Zuständigkeit der Landesjustizverwaltung Nordrhein-Westfalen zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ergab sich aus dem Umstand, daß der Verdächtige zwar seinen Hauptwohnsitz im Ausland hat, jedoch angeblich einen Arbeitsplatz in Bonn besitzt.
Die über die Generalstaatsanwaltschaft Köln eingeschaltete Staatsanwaltschaft Bonn mußte jedoch feststellen, daß sich der Verdächtige nur gelegentlich in Bonn aufhält und keinen einen Gerichtsstand begründenden Wohnsitz gemäß § 8 StPO im Landgerichtsbezirk Bonn besitzt.
Die Generalstaatsanwaltschaft Köln war in der Folgezeit bemüht, unter Beteiligung des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen und des Bundeskriminalamts, einen Wohnsitz des Verdächtigen im Bundesgebiet zu ermitteln. Diese Ermittlungen stellten sich als schwierig und langwierig heraus, da sich Angaben des Verdächtigen zu verschiedenen Wohnsitzen als unrichtig herausstellten. Es konnte jedoch ermittelt werden, daß der Verdächtige bis 1985 seinen letzten inländischen Wohnsitz im Landgerichtsbezirk Ulm hatte. Mit Schreiben vom 18. September 1996 wurde der Vorgang daher von der Generalstaatsanwaltschaft Köln an die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart weitergeleitet, der die Akte am 20. September 1996 vorlag.
Nach der Festnahme des Verdächtigen in Tschechien Ende August 1996 wurde die seinerzeit mit der Sache noch befaßt gewesene Landesjustizverwaltung in Düsseldorf mit Schreiben des Bundesministeriums der Justiz vom 11. September 1996 über die neuen Verdachtsmomente unterrichtet. Mit Telefax vom 23. September 1996 wurden sicherheitshalber zusätzlich die zuständigen Stellen in Baden-Württemberg von den neuen Vorwürfen gegen Dr. L. unterrichtet, und es wurde um Prüfung der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Dr. L. gebeten.
Ich will einen weiteren Sachverhalt hinzufügen: Eine Unterrichtung der schweizerischen Behörden ist bereits am 28. März 1996 auf dem Interpolwege über das Bundeskriminalamt in Wiesbaden erfolgt.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Langwierigkeit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens am 18. September 1996 unter Berücksichtung der Tatsache, daß der Beschuldigte im November 1995 auf den Philippinen verhaftet, nach vier Wochen gegen Kaution freigelassen, ihm die Ausreise von den Philippinen nur ermöglicht wurde, weil die deutsche Botschaft ihm den Reisepaß aushändigte, der zuvor von den philippinischen Behörden eingezogen worden war, er ungehindert in die Bundesrepublik ein- und ausreisen konnte, obwohl schon auf den Philippinen klar war, daß sein Hauptwohnsitz Zürich ist? Jetzt konnte er diese Taten - direkte Handlungen sexueller Gewalt gegenüber Kindern, nachdem er sie vorher durch Heroin gefügig gemacht haben soll - alle weiter ausüben. Was in der Schweiz passiert ist, weiß man noch nicht so genau.
Im Hinblick auf das Vorgehen der Bundesregierung sage ich: Das hat bis September gedauert, nachdem er in Tschechien verhaftet war, nachdem in der Schweiz ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Man war erst dann in der Lage, eine zuständige Staatsanwaltschaft zu ermitteln.
Wenn sich ein Bürger nicht ständig in der Bundesrepublik aufhält, muß natürlich sehr gründlich untersucht werden, wo der Gerichtsstand nach § 8 StPO gegeben ist. Ich kann hier kein Verschulden der Bundesregierung erkennen, daß hier irgend etwas verzögert worden ist. Die Ermittlungen wurden zügig betrieben. Die Bundesregierung hat die Landesjustizverwaltungen, wie eben von mir geschildert, informiert. Die Bundesregierung selbst verfügt ja nicht über Staatsanwaltschaften, die von sich aus ermitteln.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie es denn angesichts dieser Tatsachen für vertretbar, daß dem Beschuldigten im Dezember 1995 durch die deutsche Botschaft der Reisepaß ausgehändigt wurde, ohne dafür zu sorgen, daß er direkt den deutschen Strafverfolgungsbehörden zugeführt werden konnte, die dann darüber hätten
Ulla Schmidt
befinden können, was weiter mit ihm zu geschehen hat?
Auch wenn es außerhalb unseres Zuständigkeitsbereiches liegt: Das Ganze richtet sich nach dem Paßgesetz. Ich sehe keine Möglichkeit, daß die deutsche Botschaft beispielsweise in Manila einen Paß mit bestimmten Auflagen aushändigt. Die deutsche Botschaft kann zwar die deutschen Behörden von den Vorgängen informieren; aber das deutsche Paßrecht kennt keine Regel, daß man Pässe mit Auflagen vergibt.
Frau Kollegin Dr. Däubler-Gmelin, bitte.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß dem Bundesjustizministerium - ich glaube über das Auswärtige Amt - ganz umfangreiche Akten in Sachen Dr. Lewicki vorlagen, aus denen sich ergab, daß die Bestimmung einer zuständigen Staatsanwaltschaft bzw. eines entsprechenden Gerichtes zur Strafverfolgung in Deutschland sehr kompliziert war? Teilen Sie meine Auffassung, daß wir Bestimmungen haben, nach denen der Bundesgerichtshof in solchen Fällen sehr wohl - und zwar sehr schnell - eine zuständige Gerichtsbarkeit bestimmen kann? Und warum hat das Bundesjustizministerium in diesen Fällen nicht einfach eine derartige Bestimmung beim Bundesgerichtshof beantragt, obwohl es in seiner Macht gelegen hätte, oder bei dem Bundesverband Mittelständischer Wirtschaft durch schlichten Telefonanruf geklärt, daß Dr. Lewicki zwar in Manila als ehrenamtlicher Funktionär tätig war, daraus aber keineswegs ein Wohnsitz hätte abgeleitet werden können?
Das Bundesministerium der Justiz ist ja keine Ermittlungsbehörde, sondern es kann über die Landesjustizverwaltungen Ermittlungsbehörden einschalten. Das ist in diesem Fall nach unserer StPO die Generalstaatsanwaltschaft in Köln.
Herr Kollege Dr. Meyer.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die Auskünfte, die die Bundesregierung der Öffentlichkeit gibt, wahr und unzweideutig sein sollten? Wenn Sie dies tun, dann bitte ich Sie um Stellungnahme zu folgendem Vorgang: Vor zwei Wochen hat „Focus TV" bei der Bundesregierung nachgefragt, ob die deutsche Botschaft Herrn Dr. Lewicki „einen neuen Paß ausgestellt" habe. Die Antwort war, davon sei der Bundesregierung nichts bekannt. Meinen Sie nicht auch, daß die Auskunft, davon sei der Bundesregierung nichts bekannt, zumindest irreführend ist, weil doch der tatsächliche Vorgang in der rechtlichen Wirkung völlig gleich war? Bekanntlich ist Herrn Dr. Lewicki der alte Paß ausgehändigt und ihm dadurch die Flucht nach Deutschland bzw. in die Schweiz ermöglicht worden. Einfach zu antworten, davon sei nichts bekannt, ist doch wohl mindestens zweideutig und gibt nicht die ganze Wahrheit wieder. Teilen Sie diese Auffassung?
Mir ist dieser Vorgang so nicht bekannt.
Er gehört auch nicht in unseren Zuständigkeitsbereich; es wäre der Zuständigkeitsbereich des Auswärtigen Amtes.
- Das weiß ich doch auch selber. Aber die Kollegen vom Auswärtigen Amt, die von dieser Frage ganz besonders betroffen sein könnten, sind jetzt nicht hier. Da diese Frage nicht bei uns im Hause aufgelaufen ist und wir mit ihr nicht beschäftigt gewesen sind, kann ich sie Ihnen jetzt nicht beantworten. Ich werde Ihnen diese Frage gerne schriftlich beantworten.
Als nächste hatte sich Frau Kollegin Fograscher gemeldet.
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß nach § 7 des Paßgesetzes die deutsche Botschaft die uneingeschränkte Herausgabe des Passes hätte versagen können, da die Annahme mehr als begründet war, daß sich Dr. Lewicki nicht nur der Strafverfolgung auf den Philippinen, sondern auch der Strafverfolgung in der Bundesrepublik entziehen werde?
Ich gehe davon aus, daß die deutsche Botschaft in Manila genau geprüft hat, ob und in welchem Umfang ein Paß an Herrn Dr. Lewicki auszustellen ist. Die Prüfung dürfte so ausgefallen sein, wie es dann tatsächlich umgesetzt worden ist.
Frau Kollegin Wolf.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Kontakt mit der Tschechischen Republik aufgenommen, um darauf hinzuweisen, um was für einen Gewalttäter es sich hier handelt?
Ich habe in meiner Antwort ja deutlich gemacht, daß die Bundesregierung, nachdem sie
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
Kenntnis davon bekommen hat, daß der Tatverdächtige in Tschechien inhaftiert worden ist, dies den Generalstaatsanwaltschaften mitgeteilt hat. Die Generalstaatsanwaltschaften ihrerseits sind gehalten, sich dann mit den tschechischen Justizbehörden in Verbindung zu setzen. Das werden sie auch tun oder schon getan haben.
Frau Kollegin Hanewinckel.
Hat die Bundesregierung Kenntnis davon gehabt, welche entsprechenden Erkenntnisse die schweizerischen Behörden über Herrn Dr. Lewicki gesammelt haben? Wenn ja, was haben Sie damit gemacht?
Wir haben - auch das habe ich in meiner Antwort deutlich gemacht - die schweizerischen Behörden bereits am 28. März 1996 auf dem Wege über Interpol und das Bundeskriminalamt in Wiesbaden unterrichtet.
Herr Kollege Vergin, wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?
Herr Staatssekretär, wenn ich Revue passieren lasse, was für ein Frage-und- Antwort-Spiel eben abgelaufen ist, dann frage ich mich als Nichtjurist: Was muß denn eigentlich ein geschundener Mensch - es ist ja ein Kind, um das es geht - unternehmen, damit der Täter endlich über die Abschottung der einzelnen Ministerien hinweg ausgeliefert und verurteilt wird?
Herr Kollege, hier liegt doch keine Abschottung durch die Ministerien vor.
Es gibt nach unserer Verfassung bestimmte Zuständigkeiten, sowohl was die Exekutive, also in diesem Fall die Bundesregierung, als auch was die Ermittlungsorgane, nämlich die Staatsanwaltschaft, angeht. Diese rechtstaatlichen Wege sind eingehalten worden.
Ermittelt wurde - wie in solchen Fällen allgemein üblich - von den Generalstaatsanwaltschaften.
Frau Kollegin Dr. Niehuis.
Herr Staatssekretär, Sie haben ausgeführt, daß erst vier Monate, nachdem Dr. L. - wie Sie sagen - von den Philippinen ausgereist war, Kontakt mit den schweizerischen Behörden aufgenommen wurde. Das sind vier Monate, wo ein
Mann wie Dr. L. weiterhin Kinder schänden kann. Welche Erklärung haben Sie dafür, daß Sie sich vier Monate Zeit lassen, um nach der Ausreise den wichtigen Kontakt zur Schweiz aufzunehmen?
Wir haben unmittelbar, nachdem wir vermutet haben, daß er hier in der Bundesrepublik einen zweiten Wohnsitz hat - -
- Ich habe den Sachverhalt durch Ihren Zuruf jetzt nicht ganz verstanden. Lassen Sie mich zunächst einmal fortfahren.
Wir haben vermutet, daß er hier seinen zweiten Wohnsitz hat, und damit wäre auch ein Gerichtsstand nach § 8 StPO gegeben. Die Generalstaatsanwaltschaft hat dies überprüft. Das halte ich für ein völlig ordentliches und der Sache angemessenes Verfahren.
Herr Kollege Schmidt.
Herr Staatssekretär Funke, wir sind uns sicherlich einig, daß es sich hier urn einen skandalösen und schlimmen Vorgang handelt. Sind nicht auch Sie der Auffassung, daß das von Ihnen hier Berichtete in der Recherche und in der Beantwortung der Frage der Kollegin Schmidt und der Zusatzfragen völlig unzureichend war? Sind Sie deswegen nicht auch der Auffassung, daß Sie uns zumindest noch einen Bericht nachzuliefern hätten, der uns das ganze Thema ressortübergreifend - das vermerke ich ausdrücklich - noch einmal berichtet?
Ich habe Ihnen die Informationen gegeben, die ich hier habe.
Wenn Sie weitere Informationen benötigen, kann ich nur sagen, daß die Kollegin Schmidt schon vor ein bis zwei Monaten eine schriftliche Frage, wie ich glaube, an mich gerichtet hat, die ich dann beantwortet habe.
Ich bin natürlich gerne bereit, die hier eben noch zusätzlich aufgeworfenen Fragen schriftlich zu beantworten.
Jetzt hat sich die Kollegin Marx gemeldet.
Herr Staatssekretär, warum wurde, nachdem - schlimm genug - nach vier Monaten endlich klar war, wo der Beschuldigte wohnt, kein Haftbefehl erlassen?
Ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, einen Haftbefehl zu beantragen - dafür gilt § 112 StPO -, liegt nicht in meinem Ermessen, sondern im Ermessen der jeweiligen Staatsanwaltschaft.
Herr Kollege Struck, bitte.
Ich möchte vorausschicken, daß der Straftäter, wenn er nicht in der Tschechei gefaßt worden wäre, möglicherweise jetzt immer noch frei herumlaufen würde und sein Unwesen treiben könnte. Mein Eindruck aus der Diskussion ist, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung wirklich die Möglichkeit gehabt hätte, viel eher einzugreifen.
Ich möchte den Chef des Bundeskanzleramtes, Herrn Bohl, fragen, ob er nicht mit mir der Auffassung ist, daß es Aufgabe zur Not auch des Bundeskanzlers oder seine persönliche wäre, die Sache koordinierend in die Hand zu nehmen, dem Parlament möglichst kurzfristig einen umfassenden Bericht zur Verfügung zu stellen und auch eventuelle Versäumnisse der Bundesregierung darzulegen.
Herr Bundesminister, bitte.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin erst in den letzten zehn Minuten dabeigewesen, so daß ich den Sachverhalt nur partiell habe wahrnehmen können. Ich bin aber gern bereit, für die Bundesregierung zu versichern, daß wir - erstens - zu diesem Sachverhalt einen umfassenden schriftlichen Bericht erstellen und daß - zweitens, und hier gibt es zwei Möglichkeiten, für beide Wege bin ich aufgeschlossen - die betroffenen Minister dem hier anwesenden Kreis von Kollegen in einer besonderen Veranstaltung zur Verfügung stehen oder dies in einer gemeinsamen Sitzung des Rechtsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses geschieht. Man kann darüber reden, welchen Weg man wählen möchte.
Ich bin sehr daran interessiert, daß es eine umfassende und deutliche Aufklärung gibt, gegebenenfalls auch unter Beteiligung des betroffenen Bundeslandes - ich weiß das im Moment nicht - oder mehrerer Bundesländer.
Frau Kollegin Iwersen, bitte.
Hält es die Bundesregierung für möglich, daß vielleicht eine gewisse Gesetzeslücke daran schuld ist, wenn man nicht rechtzeitig oder nicht früher hat tätig werden können?
Nein, Frau Kollegin.
Herr Kollege Hagemann, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin das Zuständigkeitsgerangel innerhalb der Bundesregierung dargelegt, ich glaube, nicht im positiven, sondern im negativen Sinne. Hier muß man doch fragen: Ist das höherwertig als der Schutz der Kinder?
Nein. Wir haben hier überhaupt nicht von einem Zuständigkeitsgerangel auszugehen, sondern ich habe dargelegt, daß die Paßangelegenheit sicherlich eine Frage des Auswärtigen Amtes und daß das Paßrecht eine Angelegenheit auch des Innenministeriums ist. Aber sobald eine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erfolgt und strafrechtliche Ermittlungen notwendig sind, liegt dies im Bereich des Bundesministeriums der Justiz bzw. nach unserem föderalen Aufbau in der Bundesrepublik bei den Ländern bzw. deren Generalstaatsanwaltschaften.
Frau Kollegin Steen.
Herr Staatssekretär, ich würde Sie gern fragen, ob ich richtig verstanden habe, daß Sie sagten: Die Prüfung, ob ein Paß im Ausland ausgestellt wird, wenn er als verloren oder eingezogen gilt, bezieht sich nicht auf die Ursache des Verlustes oder des Einzugs, sondern auf die Tatsache, ob es sich um einen deutschen Staatsbürger handelt. Gilt das auch für Leute, die einen Banküberfall gemacht haben? Gilt das auch für Leute, die des Terrorismus verdächtig sind?
Die deutsche Botschaft hat zu untersuchen, ob es sich um einen deutschen Staatsangehörigen handelt und ob dieser deutsche Staatsangehörige Anspruch auf einen deutschen Paß hat. Wenn dies zu bejahen ist, hat er einen deutschen Paß zu bekommen.Das bedeutet aber nicht, daß die deutsche Botschaft gehindert wäre, mit den philippinischen Behörden zusammenzuarbeiten und darauf aufmerksam zu machen, daß es sich hier zwar um einen deutschen Staatsangehörigen handelt, der aber, wenn er sich nach philippinischem Recht strafbar gemacht hat, natürlich auf den Philippinen zu bestrafen wäre. Wenn er in die Bundesrepublik Deutschland einreisen will, kann und muß die deutsche Botschaft den deutschen Behörden in der Bundesrepublik Informationen über die ihr bekannten Sachverhalte geben.
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11146 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. September 1996
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen, den ich hiermit aufrufe, steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Hansgeorg Hauser zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Herr Staatssekretär, die Fragen 27, 28 und 29 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun die Frage 30 des Kollegen Schily auf:
In welcher Weise ist der an Rußland in diesem Jahr vergebene Kredit in Höhe von 4 Mrd. DM verwendet worden?
Herr Präsident! Verehrter Kollege Schily, Rußland benötigt für die nächsten Jahre eine Zahlungsbilanzhilfe. Das ist auch Sinn und Zweck des Beistandsabkommens mit dem IWF, das zwischen dem Ministerpräsidenten Tschernomyrdin und dem geschäftsführenden Direktor des IWF Camdessus am 22. Februar 1996 abschließend verhandelt wurde. Der IWF vergibt Kredite an Mitgliedstaaten in Zahlungsbilanzschwierigkeiten, das heißt an Länder, die nicht genügend Devisen aus Ausfuhrerlösen oder ausländischen Investitionen einnehmen, mit denen Importe finanziert werden können.
Auf Grund des Transformationsprozesses hat Rußland zur Zeit noch nicht solche Devisenerlöse im ausreichenden Umfang. Es verfügt auch noch nicht über genügend Devisenreserven. Damit besteht die Gefahr des Kaufkrauftverlustes der Währung und der Verringerung der für den Reformprozeß benötigten Einfuhren. In dieser Situation gewährt der IWF durch sein Beistandsabkommen Hilfe, um die Währung zu stabilisieren, den Handel zu stärken und die Reformen zu stützen.
Der Bankenkredit von insgesamt 4 Milliarden DM, den die Bundesregierung garantiert, fügt sich in das Unterstützungsprogramm des IWF ein und ergänzt es. Die Bundesregierung hat in engem Kontakt und in enger Beratung mit dem IWF auf Anfrage Rußlands die notwendigen Verhandlungen geführt.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß der russische Reformprozeß durch die internationale Staatengemeinschaft nachhaltig unterstützt werden muß. Hinzu kommt das besondere deutsche Interesse an einem Erfolg der politischen und wirtschaftlichen Reformen der Russischen Föderation als dem mit Abstand größten Partner in Osteuropa. Die Bundesregierung hat daher der Regierung der Russischen Föderation eine Bundesgarantie für einen Bankenkredit von insgesamt 4 Milliarden DM in enger Abstimmung mit dem IWF zugesagt.
Außerdem hat sie sich im Pariser Club aktiv für das Umschuldungsabkommen vom 29. April 1996 eingesetzt, das eine umfassende Regelung der russischen Altschulden im Volumen von insgesamt 40 Milliarden DM durch eine langfristige Streckung der Rückzahlungsfristen vorsieht. Neben diesen Maßnahmen sind darüber hinaus zur Schließung der russischen Zahlungsbilanzlücke weitere Kredite anderer Länder und natürlich eine Rückführung des russischen Fluchtkapitals erforderlich.
Der von der Bundesregierung garantierte Gesamtkreditbetrag von 4 Milliarden DM setzt sich aus zwei Teilbeträgen zusammen, auf die die Bundesregierung eine Bundesgarantie gewährt hat bzw. gewähren wird. Ein Teilbetrag von 3 Milliarden DM ist im März 1996 durch ein Konsortium deutscher Banken an die Russische Föderation ausgezahlt worden. Er soll der unmittelbaren Unterstützung der Wirtschaftsreformen dienen, die von der Regierung der Russischen Föderation durchgeführt werden. Mit derselben Zielsetzung haben auch Frankreich und Japan ähnliche Kredite gewährt.
Ein weiterer Teilbetrag von 1 Milliarde DM wird von der Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Verfügung gestellt, um längerfristige Projekte zu finanzieren, die im gemeinsamen wirtschaftlichen Interesse Rußlands und Deutschlands stehen.
Das war ja auch eine lange Frage von drei Zeilen, Herr Kollege Struck.
Herr Kollege Schily, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die ausführliche Antwort, die nur leider meine Frage nicht trifft. Ich hatte nämlich nicht gefragt, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen der Kredit vergeben worden ist, sondern meine Frage lautete, in welcher Weise der Kredit verwendet worden ist. Ich könnte mir vorstellen, daß sich Gläubiger - die Bundesregierung ist nicht unmittelbar Gläubiger dieses Kredits, sondern sie verbürgt den Kredit -, aber auch der Bürge dafür interessieren könnten, wie dieser Kredit - das waren 3 Milliarden DM ungebundener Kredit, wie Sie gerade auch dargestellt haben - ausgegeben worden ist. Das war meine Frage, und vielleicht sind Sie so liebenswürdig, meine Frage jetzt zu beantworten.
Herr Kollege Schily, ich habe Ihre Frage sehr wohl beantwortet. Diese garantierten Kredite werden für den vorgesehenen Zweck, nämlich die Unterstützung der Wirtschaftsreformen, gewährt. Der IWF hat das in gleicher Form getan. Der IWF überwacht die Ausgaben, für die die mit unserer Garantie verbrauchten Kredite verwendet werden, sehr streng - das wissen auch Sie - und berichtet darüber unter anderem der Bundesregierung.
Herr Staatssekretär, „Unterstützung der Wirtschaftsreformen" ist mir ein bißchen zu wolkig; das muß ich Ihnen schon sagen. Sie werden sich vielleicht erinnern, daß wir das Thema schon einmal in einer Fragestunde diskutiert haben. Deshalb meine Frage: Ist der Kredit in irgendeiner Weise in Ausgaben eingegangen, die das Militär-
Otto Schily
engagement - wenn ich das sehr zurückhaltend so nennen darf - in Tschetschenien betreffen?
Herr Kollege Schily, ich habe vermutet, daß Ihre Frage in' diese Richtung zielen wird.
Deshalb bin ich gespannt auf Ihre Antwort.
Die nächste Frage besagt das expressis verbis.
Die nächste Frage ist ein bißchen anders, Herr Präsident. Darauf kommen wir gleich.
Ich wollte nur die Vermutung des Herrn Staatssekretär stützen.
Die russische Regierung hat der Bundesregierung versichert, daß sie die Mittel - das habe ich bereits ausgeführt - in enger Abstimmung mit dem IWF nur für diesen vorgesehenen Zweck - Unterstützung der Wirtschaftsreformen - ausgeben wird. Die russische Regierung wies auf Nachfrage auch auf ein Dekret von Präsident Jelzin hin, welches dies sicherstellt. Die Bundesregierung geht daher davon aus, daß die Mittel entsprechend dieser Zweckbestimmung verwendet werden.
Ich habe leider keine dritte Zusatzfrage.
Da ich die erste Frage als Erläuterung betrachte, Herr Kollege Schily, haben Sie jetzt noch eine zweite Zusatzfrage.
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident.
Herr Staatssekretär, haben Sie denn irgendwelche konkreten Informationen darüber bekommen, was die genauen Ausgabetitel waren, die unter dem Stichwort Wirtschaftsreformen laufen? Immerhin sind 3 Milliarden DM keine kleine Summe. Ich könnte mir schon vorstellen, daß man, wenigstens in der Größenordnung von Millionen, darauf sieht, was mit solchen Mitteln, die eventuell aus Steuergeldern aufgebracht werden müssen, wenn die Bürgschaft wirksam wird, geschieht. Sind möglicherweise doch an anderer Stelle - weil es ein ungebundener Kredit war, mit dem man Ausgaben bestritten hat - Mittel freigeworden, die man in Tschetschenien hat einsetzen können?
Herr Kollege Schily, die letzte Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, weil ich den russischen Haushalt und die russischen Finanzierungen nicht kenne. Jedenfalls verlassen wir uns auf die Zusicherung - wie gesagt, gibt es ein Dekret von Präsident Jelzin -, daß die Mittel, die hier gegeben worden sind, für die Zwecke verwendet werden, die ich Ihnen beschrieben habe, und nicht für andere Zwecke.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, wäre denn die Bundesregierung, was die Verwendung eines solch hohen Betrages angeht, genauso sorglos, wenn dieser beispielsweise für die neuen Bundesländer eingesetzt werden sollte? Würden Sie sich nicht auflisten lassen, was unter dem wolkigen Begriff „Wiederaufbau der Infrastruktur" zu verstehen ist?
Herr Kollege, wenn eine Vereinbarung, wie sie hier mit dem IWF vollzogen worden ist, getroffen wird, und die Bundesregierung sowie andere Länder - zum Beispiel Frankreich und Japan, wie ich Ihnen dargestellt habe - diese Maßnahmen ebenfalls unterstützen, dann ist es durchaus international üblich, daß eine Kreditgarantie gegeben wird und keine ausdrückliche Zweckbindung mit einer Liste der Anschaffungen, wofür diese Gelder verwendet werden.
Ich denke, das ist nichts Ungewöhnliches. Im Falle der neuen Bundesländer handelt es sich sicherlich um eine etwas andere Maßnahme. Hier werden konkrete Projekte gefördert, hier werden keine ungebundenen Kredite an Unternehmen vergeben.
Weitere Zusatzfragen werden dazu nicht gestellt.
Dann rufe ich die Frage 31, ebenfalls vom Kollegen Schily gestellt, auf:
In welchem Umfang sind Finanzmittel aus dem an Rußland vergebenen 4-Mrd.-DM-Kredit an die von Rußland in Tschetschenien eingesetzte Regierung weitergeleitet worden?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Frage 31 steht ebenfalls im Zusammenhang mit Tschetschenien. Dazu kann ich Ihnen folgende Antwort geben: Die russische Regierung hat sich bei der Kreditgewährung schriftlich gegenüber der Bundesregierung verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß die Kreditmittel in vollem Umfang dem vorgeschlagenen Zweck zugute kommen. Die russische Regierung hat der Bundesregierung hochrangig versichert, daß die Mittel aus diesem Kredit nicht an die in Tschetschenien eingesetzte Regierung weitergeleitet werden.
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
Über die Konkretisierung der mit dem Teilbetrag von 1 Milliarde DM zu finanzierenden Projekte finden zur Zeit Gespräche zwischen der Bundesregierung und der Regierung der Russischen Föderation statt. Projekte in Tschetschenien stehen dabei nicht zur Diskussion. Sie wissen, der Kredit wurde im März 1996 vereinbart. Deswegen sind die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die russische Regierung der von ihr in Tschetschenien eingesetzten Marionettenregierung Mittel in einer Größenordnung von über 1 Milliarde DM zugeführt hat, und kann sie ausschließen, daß diese Mittel dadurch aufgebracht worden sind, daß andere Haushaltstitel durch den ungebundenen Kredit ausgeglichen worden sind? Ist der Bundesregierung in diesem Zusammenhang auch bekanntgeworden, daß der russische Politiker Lebed erklärt hat, der größte Teil dieses Betrages in Höhe von 1 Milliarde DM sei in illegale Kanäle geflossen?
Herr Kollege Schily, Sie verstehen es zwar, die Fragestellung zuzuspitzen und eine Verbindung herzustellen zwischen der Tatsache, daß ein Kredit in Höhe von 1 Milliarde DM von der Bundesregierung gewährt wurde, und der Information, daß auf der anderen Seite Mittel in Höhe von 1 Milliarde DM nach Tschetschenien geflossen sind. Ich kann aber nicht bestätigen, daß es sich hier um die gleichen Gelder handelt. Ich kann Ihnen auch nicht erläutern - ich habe das bereits ausgeführt -, ob es im russischen Haushalt eine sogenannte Umwegfinanzierung gegeben hat, mit der man freiwerdende Gelder in anderer Form verwendet.
Auf Ihre letzte Frage kann ich Ihnen keine Antwort geben. Mir ist dieser Vorfall nicht bekannt.
Zweite Zusatzfrage.
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang gerne einmal den mir darüber vorliegenden Zeitungsbericht zur Verfügung stellen, damit vielleicht auch das Bundespresseamt solche Dinge auswertet. Herr Lebed ist ja nicht irgend jemand und hat vielleicht doch einen ganz guten Einblick in die Verhältnisse.
Herr Staatssekretär, was ist denn eigentlich die Erklärung der russischen Regierung wert, die Mittel nicht nach Tschetschenien zu vergeben, wenn sie auf sehr einfachem Wege eine solche Umwegfinanzierung vornehmen kann?
Ich halte das für eine Unterstellung, daß Sie jetzt sagen, ich hätte bestätigt, daß es hier eine Umwegfinanzierung gebe.
Das habe ich in keiner Form gesagt.
Entschuldigen Sie, Herr Staatssekretär, Sie haben erklärt, es gebe eine Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der russischen Regierung, daß keine Mittel aus dem Kredit an die tschetschenische Regierung vergeben würden. Meine Frage lautete: Welchen Wert hat diese Vereinbarung, wenn Sie jetzt sagen, Sie könnten nicht ausschließen, daß eine solche Umwegfinanzierung stattgefunden habe?
Herr Kollege Schily, ich kann Ihnen nochmals versichern, daß es sich um eine schriftliche Verpflichtung handelt. Ich gehe davon aus, daß diese schriftliche Verpflichtung auch solche Maßnahmen beinhaltet.
- Nein, ich kenne sie nicht.
Eine Zusatzfrage, Kollege Lippelt.
Herr Staatssekretär, dann noch einmal nachgefaßt. Sie wissen doch, daß der Tschetschenien-Krieg die Finanzen Rußlands ruiniert hat. Das weiß jeder, der Zeitung liest. Wenn die Bundesregierung einen Kredit an Rußland vergibt, dann werden auf der anderen Seite - das muß Ihnen doch klar sein - Mittel, die man sonst dringend braucht, um Gehälter oder sonst etwas zu bezahlen, zur Finanzierung in Tschetschenien frei. Ist das so schwer nachzuvollziehen? Ist insofern nicht doch das Argument des Kollegen Schily, daß Sie hier eine höchst ungute Umwegfinanzierung betreiben, richtig?
Herr Kollege, ich habe Ihnen erklärt, daß ich nicht weiß, wie das im russischen Haushalt finanziert worden ist. Aber ich halte die Maßnahme, die hier getroffen worden ist, für richtig, weil wir die Russische Föderation in ihrem Wirtschaftsaufbau unterstützen wollen. Daher ist dieses Geld geflossen. Daher sind auch die Mittel des IWF geflossen. Wie ich bereits ausgeführt habe, sind an dieser Maßnahme mehrere Länder beteiligt.
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
Darüber hinaus gibt es die Verpflichtung, die wir Ihnen sicherlich zur Verfügung stellen können. Wir gehen davon aus, daß diese Verpflichtung eingehalten wird. Im übrigen ist es die Gepflogenheit des IWF, genau nachzuprüfen, wie die entsprechenden Kredite verwendet worden sind.
Es liegt keine weitere Zusatzfrage vor.
Die Frage 32 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf. Zur Beantwortung steht die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Gertrud Dempwolf bereit.
Ich rufe die Frage 33 der Kollegin Anke Fuchs auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß 170 000 Frauen in der Bundesrepublik Deutschland obdachlos sind und sich ihr Anteil an den Wohnungslosen in Einpersonenhaushalten von 1991 bis 1995 von 10 % auf 20 % verdoppelt hat und der Frauenanteil in Mehrpersonenhaushalten sogar auf 40 % gegenüber einem Männeranteil von 20 % geschätzt wird, und welche wohnungspolitischen und sonstigen Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um der zunehmenden Wohnungslosigkeit von Frauen entgegenzuwirken?
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Fuchs, die in Ihrer Frage genannten Zahlen zur Obdachlosigkeit von Frauen stammen aus einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. nach dem Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit Alleinstehender. Dieses System der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist jedoch in seiner jetzigen Form wohl nicht geeignet, die Gesamtzahl der obdachlosen Personen zu schätzen; denn nach eigenen Angaben im Statistikbericht von 1993/94 - im Juni 1996 veröffentlicht - stellte nur jede zehnte Einrichtung der Wohnungslosenhilfe Datenmaterial zur Verfügung.
Bei diesen Schätzungen wird im übrigen über -den Personenkreis der Obdachlosen hinaus ein weiter Begriff von Wohnungslosigkeit zugrunde gelegt. Einbezogen wurden alle Personen ohne mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Darüber hinaus handelt es sich um Jahresgesamtzahlen, das heißt, es werden alle Personen erfaßt, die während eines Jahres, gegebenenfalls nur kurzzeitig, ohne eigenen Wohnraum waren.
Der Bundesregierung liegen keine bundesweiten Daten zur Wohnungslosigkeit aus dem Bereich der amtlichen Statistik vor. Die Bundesregierung ist um eine Verbesserung der Grundlagen für eine Wohnungslosenstatistik bemüht. Lediglich die Länder Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hamburg verfügen bisher über eine Wohnungsnotfallstatistik. Ausgehend von diesen Statistiken erscheint die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geschätzte Größenordnung der Zahl der obdachlosen Frauen als deutlich überhöht.
Für die Bundesregierung haben natürlich der Abbau und die Vermeidung von Obdachlosigkeit, auch im Hinblick auf die besonderen Probleme von Frauen, einen hohen Stellenwert. Prinzipiell sind aber für die Maßnahmen zur Vermeidung und Bekämpfung von Obdachlosigkeit Länder und auch Kommunen gefordert.
Um die Situation obdachloser oder von Obdachlosigkeit bedrohter Menschen zu verbessern, wurden in dem Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts vom 23. Juli 1996 unter anderem die Regelungen zur Übernahme rückständiger Mieten ausgebaut. Nach § 15 a des Bundessozialhilfegesetzes ist der Sozialhilfeträger nun verpflichtet, rückständige Mieten zu übernehmen, wenn dadurch Obdachlosigkeit vermieden werden kann.
Die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72 BSHG, die auch für Wohnungslose besondere Maßnahmen vorsieht, wurde neu und effektiv gestaltet. Ferner ist in § 15 a Abs. 2 BSHG gesetzlich geregelt worden, daß die Gerichte dem zuständigen Träger der Sozialhilfe Räumungsklagen wegen Zahlungsverzugs nach § 554 BGB mitzuteilen haben.
Die eingeleiteten und die geplanten Maßnahmen unter anderem im Bereich der Wohnungsversorgung und der sozialen Hilfen sowie eine Vielzahl von Modellvorhaben sind im Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit - Bundestagsdrucksache 13/5226 vom 4. Juli 1996, die Sie sicher haben - beschrieben.
Die Probleme der Wohnungslosigkeit von Frauen hat unser Ministerium durch Vergabe eines Modells „Hilfen für alleinstehende wohnungslose Frauen" aufgegriffen. Dieses Modell wird seit dem 1. Juli 1995 an vier Standorten durchgeführt. Im Rahmen dieses Modellprojektes sollen innovative frauenspezifische Hilfsansätze entwickelt und erprobt werden, um den betroffenen Frauen eine langfristige soziale und gesellschaftliche Integration zu ermöglichen.
Die Bundesregierung hat zudem eine Regierungskommission „Obdachlosigkeit, Suchtfolgen etc." beauftragt, die nach Wegen zu suchen hat, wie spezifische Formen sozialer Notlagen zielgerichteter angegangen werden können. Ein Bericht über die Arbeit dieser Kommission wird noch im Laufe des Jahres vorgelegt.
Eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie nicht so recht wissen, wie groß das Problem ist? Sind Sie bereit, sich nach den Erfahrungen von Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Berlin darum zu bemühen, daß es eine Gesamtstatistik über die Obdachlosigkeit und Wohnungsnot von Frauen gibt, um damit Ihrem Argument entgegenzuwirken, es handele sich vielleicht doch nicht um eine so gravierende Zahl von Menschen?
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11150 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. September 1996
Frau Kollegin Fuchs, wir wären sicher alle blauäugig, wenn wir das Problem der obdachlosen Frauen nicht sehen würden. Ich bin sicherlich genauso daran interessiert wie Sie auch, daß wir diesem Problem begegnen können.
Zweite Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß die Förderung des sozialen Wohnungsbaus und auch eine längst fällige Anpassung des Wohngeldes der Obdachlosigkeit von Frauen entgegenwirken könnten? Deswegen frage ich Sie: Wann wird die Bundesregierung wieder Mittel für den sozialen Wohnungsbau einsetzen, die tragfähig zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit von Frauen sind, und wann wird endlich die geforderte Wohngeldreform kommen?
Das letztere, wissen wir, ist in Arbeit.
Die Bundesmittel für den sozialen Wohnungsbau, speziell bezogen auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit, belaufen sich in den Haushaltsjahren 1995 und 1996 jeweils auf 50 Millionen DM und sind auch im Haushaltsjahr 1997 wieder in dieser Größenordnung eingestellt.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Iwersen.
Frau Staatssekretärin, teilen Sie die Einschätzung, daß es eine bedrohliche Entwicklung ist, wenn trotz einer erkennbaren Entspannung auf dem Wohnungsmarkt die Wohnungslosigkeit gerade bei Frauen zunimmt und zu diesem Personenkreis auch viele Frauen mit Kindern gehören, die nicht nur unter die Rubrik „Wohnungsnotfälle" fallen, sondern tatsächlich obdachlos sind, so daß man das überhaupt nicht mehr anders umschreiben kann? Halten Sie das vielleicht für ein Versagen der Wohnungspolitik oder für ein Versagen der Sozialpolitik dieser Regierung?
Frau Iwersen, ich glaube, wir beurteilen das Problem gleichermaßen. Ich kann mir nicht denken, daß dafür allein die Politik verantwortlich ist. Ich sehe die Ursachen gerade der Wohnungslosigkeit von Frauen vielfach etwa auch im sozialen und privaten Bereich.
Ich rufe die Frage 34 der Kollegin Anke Fuchs auf:
Hält die Bundesregierung frauenspezifische Dringlichkeitskataloge für die Wohnungsvergabe für erforderlich, die sich an den weiblichen Wohnungsnotfällen orientieren?
Frau Kollegin Fuchs, bei der Aufstellung von Dringlichkeitskatalogen für die Vergabe von Sozialwohnungen sind natürlich in erster Linie die Länder und Kommunen gefordert. Aber durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 1992 ist schwangeren Frauen ein Vorrang bei der Vergabe von Sozialwohnungen eingeräumt worden. Auch alleinstehende Elternteile mit Kindern - dies sind nach wie vor ganz überwiegend Frauen - sind gemäß § 26 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes, auf den § 5 a Satz 3 des Wohnungsbindungsgesetzes Bezug nimmt, vordringlich mit Wohnraum zu versorgen.
Die Bundesregierung sieht gegenwärtig keine Veranlassung, über diesen Rahmen hinaus generell einen Versorgungsvorrang vorzusehen, der allein an das Geschlecht knüpft. Sie geht aber davon aus, daß den spezifischen Problemen von Frauen, die in Wohnungsnot geraten - zum Beispiel auch der Wohnungsbedarf nach einem Aufenthalt in Frauenhäusern auf Grund von Gewaltanwendung des Ehegatten oder Lebenspartners -, bei der Feststellung der Dringlichkeit im Rahmen der Wohnungsvergabe auch von seiten der Kommunen Rechnung getragen wird.
Eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich glaube, wir sind uns in diesem Punkt ziemlich einig. Deswegen soll meine Frage so lauten: Sind Sie als Bundesregierung - wie wir in unserer Fraktion - bereit, einen Beitrag dazu zu leisten, daß das Gesamtthema „Besondere Probleme der Frauen bei Wohnungssuche und Obdachlosigkeit" mehr ins Bewußtsein der Öffentlichkeit kommt und, daraus folgend, auch die angedachten und nachher noch zu diskutierenden Instrumente der Öffentlichkeit vorgestellt werden? Sind Sie bereit, dem Pressesprecher der Bundesregierung anheimzustellen, darüber mal ordentlich zu berichten?
Frau Kollegin Fuchs, da wir beide das selbe Anliegen haben und auch mir dieser Personenkreis sehr am Herzen liegt, bin ich natürlich bereit auch weiterhin über diesen Personenkreis zu sprechen und die Öffentlichkeit auf seine Probleme aufmerksam zu machen.
Es gibt keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 35 der Kollegin Hanna Wolf auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß laut DWA fast 40 % der wohnungslosen Frauen die Flucht vor dem (Ehe-)Partner, meist wegen Gewaltanwendungen, als Ursache ihres Wohnungsverlustes angaben, und ist die Bundesregierung bereit, § 1361 b des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Zuweisung
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
der ehelichen Wohnung in einer Weise zu ändern, die gewährleistet, daß künftig die Frau und ggf. die Kinder statt der gewalttätigen Ehemänner in der Wohnung verbleiben können?
Frau Kollegin Wolf, der Bundesregierung liegen keine Zahlen darüber vor, wie viele der wohnungslosen Frauen wegen Gewalt ihres Partners die Wohnung verlassen haben. Die Frage der Wohnungszuweisung an die Ehefrau nach § 1361 b BGB, wenn diese von ihrem Ehemann mißhandelt wird, wurde durch den Bundestagsausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - ich glaube, auch durch die Abgeordnete Frau Wolf - mit der Bitte um eine entsprechende Rechtstatsachenforschung an die Bundesregierung herangetragen. Die Bundesregierung hat eine diesbezügliche Ausschreibung veranlaßt.
Eine Zusatzfrage.
Ich frage Sie noch mal, Frau Staatssekretärin: Sehen Sie nicht die Notwendigkeit, eine Statistik darüber aufzustellen, wie viele Frauen mit ihren Kindern ihre Wohnung verlassen und ins Frauenhaus gehen müssen, während ihre Männer die Wohnung behalten? Sehen Sie da nicht gesetzlichen Handlungsbedarf, damit die Frauen, die Opfer, mit ihren Kindern in der Wohnung bleiben können und die Täter, also die Schläger, die Wohnung verlassen müssen?
Wir haben es veranlaßt, Frau Wolf, aber ich habe noch kein Ergebnis.
Weitere Zusatzfrage?
Ja, ich bin jetzt etwas sprachlos. Haben Sie veranlaßt, daß es Änderungen im Gesetz gibt?
Ich habe veranlaßt, daß es zunächst einmal geprüft wird, so wie Sie es beantragt haben.
Ich rufe jetzt die nächste Frage der Kollegin Hanna Wolf auf, die, jedenfalls nach meinen Unterlagen, die die offiziellen sind, die Nummer 36 trägt:
Beabsichtigt die Bundesregierung, § 5 Abs. 1 Satz 1 des Wohnungsbindungsgesetzes in Verbindung mit § 8 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes so zu ändern, daß künftig auch nichtverwandte und nichtverheiratete Personen mit Wohnberechtigungsscheinen zusammenleben können, so daß z. B. zwei alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern gemeinsam eine Sozialwohnung beziehen können und dadurch Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung eher zu gewährleisten sind?
Herr Präsident, in meinen Unterlagen ist das die Nummer 35.
Vielleicht müßte man noch einmal sehen, daß eins plus eins im Ministerium und beim Präsidium des Bundestages dasselbe ergeben.
Ich füge mich.
Das ist nett von Ihnen; danke.
Machen wir jetzt aus der Frage 35 die Frage 36; eins im Sinn.Frau Kollegin Wolf, die öffentliche Wohnungsbauförderung ist im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes in erster Linie auf Familien ausgerichtet. Insofern haben Wohngemeinschaften bei der Vergabe von Sozialwohnungen Zugangsprobleme. So erhält zum Beispiel ein Wohnungssuchender bei Vorliegen der einkommensmäßigen Voraussetzungen nach § 5 Wohnungsbindungsgesetz eine Wohnberechtigungsbescheinigung zum Bezug einer Sozialwohnung in der Größe, wie sie grundsätzlich für ihn und seine Familie und die dazuzurechnenden Angehörigen angemessen ist. Damit soll verhindert werden, daß Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus, die mit erheblichen öffentlichen Mitteln erstellt werden, von Wohnungssuchenden bezogen werden, die sie der allgemeinen Lebenserfahrung nach auf Dauer nicht auslasten.Das Wohnungsbindungsgesetz beinhaltet jedoch auch Möglichkeiten für flexible Regelungen in besonderen Fällen. Das sind ja die Fälle, die Sie meinen. So kann zum Beispiel in Härtefällen eine Ausnahmewohnberechtigungsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c Wohnungsbindungsgesetz oder eine Freistellung einer Wohnung von Belegungsbindungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Wohnungsbindungsgesetz in Betracht kommen. Diese Ausnahmeregelungen, die auch bei Wohngemeinschaften Alleinerziehender mit Kindern einschlägig sind, werden derzeit als ausreichend zur Problembewältigung angesehen.In dem Modellprojekt unseres Ministeriums „Hilfen für alleinerziehende Frauen", das wir in Wuppertal angesiedelt haben, haben wir festgestellt, daß kein Interesse an Wohngemeinschaften bestand, so daß die Konzeption daraufhin geändert werden mußte. Auf Grund der Erfahrungen ist der Bedarf an Wohngemeinschaften Alleinerziehender mit Kindern als äußerst gering einzustufen.Aber ich denke, wir kommen Ihrem Anliegen nach, Frau Kollegin Wolf, wenn wir hier feststellen können, daß es auch die Möglichkeiten für die Kom-
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11152 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 124. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. September 1996
Parl. Staatssekretärin Gertrud Dempwolfmunen gibt, daß Wohngemeinschaften mit zugelassen werden.
Zusatzfrage.
Es freut mich, daß Sie dieses jetzt in Angriff nehmen. Aber wenn Sie sagen, daß die Personen das gar nicht wollen und daß sie vielmehr eine Wohnung für sich allein haben möchten, frage ich, wie die Bundesregierung die Möglichkeiten einschätzt, die Wohnungsnot von Alleinerziehenden zu mildern oder zu beseitigen, die ja von ihrem Einkommen im Verhältnis viel mehr für die Miete aufwenden müssen und somit dazu oft nicht in der Lage sind.
Ich glaube, daß das eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und auch Kommunen ist.
Ja, aber wie könnten Sie sich das konkret vorstellen? Was würde die Bundesregierung tun, um diese Situation der Alleinerziehenden, die immer prekärer wird, kurzfristig wenigstens zu mildern?
Frau Wolf, ich kann von hier aus jetzt nicht sagen, was die Bundesregierung dazu tun kann. Ich weiß nur, daß wir 50 Millionen DM für gezielte Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit auch wieder im neuen Haushalt für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung haben und daß wir über keine Statistiken verfügen, aus denen hervorgeht, daß alleinerziehende Frauen und Kinder hier nicht mit bedacht werden können.
Das waren an sich schon zwei Fragen, Frau Wolf. Aber die eine lasse ich einmal als Zusatzfrage zur ersten gelten.
Jetzt kommt Ihre zweite Frage.
Ihre Antwort hat mich ratlos gemacht. Ich frage Sie: Wie kann man überhaupt planen, wenn man keine Statistik hat? Warum erheben Sie keine Zahlen, obwohl Sie sagen, Sie wollen handeln? Das verstehe ich nicht. Wieso gibt es keine Untersuchungen und keine Zahlen?
Weil die Wohnungsvergabe Aufgabe der Kommunen ist, schließlich haben sie den besseren Einblick.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Fuchs.
Wenn die Bundesregierung, Frau Staatssekretärin, sagt, das Thema Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit von Frauen sei ein besonderes Thema für diese Gesellschaft und deshalb wolle sie handeln, dann muß doch auch die Bundesregierung auf Grund von Fakten handeln. Deshalb stelle ich die Frage, die ich vorhin bereits gestellt habe, noch einmal: Sind Sie bereit, uns zuzusagen, daß Sie auch auf Grund dieser Diskussion in der Bundesregierung anregen, daß Zahlenmaterial erstellt wird, damit wir für die Zukunft auf gesicherter Basis bundespolitisch argumentieren können?
Ich habe es Ihnen schon einmal zugesagt, Frau Fuchs.
Ohne Rechthaberei merke ich an: Ich habe mir die letzte amtliche Drucksache beschafft. Danach rufe ich die Frage 37 der Kollegin Christel Hanewinckel auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß nicht nur der Weg in die Obdachlosigkeit, sondern auch das Leben von Frauen in der Obdachlosigkeit besondere typische Merkmale aufweist, die insbesondere durch männliche Gewaltausübung gekennzeichnet sind?
Herr Präsident! Frau Kollegin Hanewinckel, erste Erkenntnisse aus dem Modellprojekt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Hilfe für alleinstehende wohnungslose Frauen" auf den Seiten 8 und 9 der Bundestagsdrucksache 13/5226 vom 4. Juli 1996 machen deutlich, daß obdachlose Frauen vielfach aus gescheiterten oder sehr schwierigen Beziehungen, auch nach Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie oder in der Partnerbeziehung kommen.
Das Leben in der Obdachlosigkeit ist in der Regel durch gewalttätige Beziehungen geprägt. Um auf der Straße überleben zu können, suchen Frauen oft ein vorübergehendes Unterkommen bei einem Mann oder den Schutz durch andere obdachlose Männer. Diese Abhängigkeit führt zur Gewalterfahrung.
Auch in den Obdachlosenheimen kommt es nach Angaben der zuständigen Hilfeeinrichtungen vielfach zu sexuellen Übergriffen, wenn Frauen und Männer dort gemeinsam ohne besondere Schutzräume untergebracht werden. Im Zuge unseres Modellvorhabens sollen deshalb unter anderem geschützte Wohnformen für obdachlose Frauen eingerichtet und erprobt werden.
Zusatzfrage.
Liegt Ihnen statistisches Material vor, in dem typische Merkmale für Frauenwohnungsnot und Frauenobdachlosigkeit aufgelistet werden? Beziehen Sie sich jetzt nur auf die Modellprojekte, die Sie gerade angesprochen haben?
Das Problem ist sehr viel größer. Nachdem Sie ausgeführt haben, daß genaue Zahlen gar nicht vorlie-
Christel Hanewinckel
gen, und der Definition der Obdachlosigkeit und Wohnungsnot widersprochen haben, frage ich, ob Sie aus Ihrer Sicht heraus mit dem geringen Zahlenmaterial, über das Sie verfügen, über Ihre Modellprojekte hinaus zum Handeln kommen.
Frau Kollegin Hanewinckel, die Modellversuche sind wie alle Modellprojekte zunächst einmal Modellprojekte des Bundes, die dann, so hoffen wir, von den Ländern und Kommunen übernommen werden. Die Erfahrungen belegen, daß diese Modellprojekte gut angenommen werden.
Ich habe keine gesicherten Zahlen über Wohnungslosigkeit von Frauen. Wir haben aber bereits besprochen, daß wir uns darum bemühen werden.
Zweite Zusatzfrage.
Gibt es bei der Bundesregierung Erkenntnisse darüber, inwieweit unter anderem Arbeitslosigkeit, Sozialhilfeempfang und Alleinerziehung spezifische Merkmale von Frauenwohnungsnot und Frauenobdachlosigkeit sind?
Meines Wissens nicht, aber ich werde mich gern erkundigen und es Ihnen schriftlich zukommen lassen.
Zusatzfrage von der Kollegin Lörcher.
Frau Staatssekretärin, ich möchte zur Arbeitslosigkeit nachfragen, welche beruflichen Chancen und Fördermöglichkeiten obdachlose Frauen haben, wenn sie in einer Obdachlosenunterkunft unterkommen. Kennen Sie Modelle, wo tatsächlich Wohnen und Beschäftigung verbunden werden? Inwiefern ist die Bundesregierung bereit, solche Modelle zu fördern?
Die Modelle, Frau Kollegin Lörcher, die wir jetzt begonnen haben, zielen genau in diese Richtung. Ich denke, wenn wir bei der Halbzeit der Modelle sind, werden wir dann einmal darüber berichten.
Ich rufe die Frage 38 der Kollegin Christel Hanewinckel auf:
Welche Maßnahmen hält die Bundesregierung für erforderlich, damit wohnungslose Frauen und Mädchen nicht länger gezwungen sind, sich der Gefahr sexueller Übergriffe von Freiern, bei denen sie Obdach suchen, oder von Männern in Gemeinschaftsunterkünften auszusetzen?
Frau Kollegin Hanewinckel, auf Grund des zunehmenden Problems der Wohnungslosigkeit von Frauen ist es erforderlich, die frauenspezifischen Hilfsangebote zu verbessern. Die Bundesregierung hat das Problem im Rahmen des Modells „Hilfen für alleinstehende wohnungslose Frauen" aufgegriffen, um innovative Ansätze zur Verbesserung des Hilfesystems für Frauen zu entwickeln und zu erproben. Im Rahmen des Modells werden Angebote der Beratung, der Betreuung sowie der Versorgung mit Wohnraum und Qualifikationshilfen berücksichtigt.
Zusatzfrage.
Das heißt dann, wenn ich das einmal positiv deute, daß die Bundesregierung der Meinung ist, daß spezielle Beratungsstellen und auch spezielle Unterkünfte für obdachlose Frauen und Mädchen erforderlich sind. Sieht die Bundesregierung hier eine Verpflichtung, sich auch in Zukunft finanziell anders zu beteiligen als nur durch Modellprojekte?
Frau Kollegin Hanewinckel, die Bundesregierung hat nur die Möglichkeit, über diese Modelle jetzt diesen Problembereich anzufassen. In der Regel ist es so, daß diese Modelle von den Kommunen weitergeführt werden. Eine andere Möglichkeit haben wir hier nicht.
Weitere Zusatzfrage?
Ihnen ist aber bewußt - das haben wir gerade heute bei der Haushaltsdebatte in unserem Ausschuß Familie, Senioren, Frauen und Jugend erlebt -, daß Modellprojekte drei Jahre dauern, und dann steht das Problem der Finanzierung erneut an; denn die Kommunen und die Länder haben, genauso wie das auch die Bundesregierung immer für sich in Anspruch nimmt, keine Mittel. Sehen Sie hier einen Zusammenhang zwischen dem Kürzungspaket der Bundesregierung und den nicht mehr vorhandenen Finanzen bei Ländern und Kommunen, die solche Modellprojekte dann letztendlich doch nicht weiterführen können?
Frau Kollegin Hanewinckel, bei der Ausschreibung dieser Modellprojekte kommen zumeist mehr Nachfragen, als wir dann vergeben können. Die Bundesländer und die Kommunen, die sich dann für dieses Modellprojekt zur Verfügung stellen, wissen, daß diese Modellprojekte nach einer gewissen Zeit auslaufen und von den Kommunen und Ländern übernommen werden.
Zusatzfrage der Kollegin Lörcher.
Frau Staatssekretärin, sind Ihnen Unterschiede in West- und Ostdeutschland bekannt? Haben Sie diese Modellprojekte wenigstens in den Schwerpunkten angesiedelt, bei denen die Probleme am größten sind? Ist Ihnen klar, daß diese Probleme im Moment wirklich weiter wachsen werden?
Frau Kollegin, wir haben natürlich diese Modellprojekte dort angesiedelt - so steht es auch im Bericht -, wo wir die größten Aussichten auf Erfolg haben.
Ich rufe jetzt die Frage 39 des Kollegen Klaus Hagemann auf:
Wie begründet die Bundesregierung ihr Verhalten in der Familien-, Kinder- und Jugendpolitik, wenn sie einerseits dem Deutschen Bundestag vorschlägt, die bereits für 1997 gesetzlich beschlossene Kindergelderhöhung zu verschieben, im Haushaltsplanentwurf den Einzelplan 17 gegenüber den Vorjahren mit am stärksten zu kürzen, den Kinder- und Jugendplan um ca. 11 % (ca. 20 Mio. DM) zurückzufahren, und andererseits die Politik der Kommunen laut „CVJM-Informationen" Heft 5+6/96 kritisiert, in dem die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Nolte, wie folgt zitiert wird: „Angesichts drohender Kürzungen in vielen Kommunen warnte Bundesjugendministerin Claudia Nolte vor deren Folgen. Sie wisse um die angespannte Haushaltssituation in den Kommunen, warne aber deshalb vor weiteren Kürzungen im Bereich der Jugendhilfe "?
Herr Kollege Hagemann, ich werde die Frage so beantworten, wie sie heute morgen schon meine Ministerin im Ausschuß beantwortet hat. In der derzeitigen Haushaltssituation ist es natürlich unumgänglich, daß auch das Hauptförderinstrument für die Jugendhilfe auf Bundesebene, der Kinder- und Jugendplan des Bundes, einen Sparbeitrag leistet, nachdem er seit 1991 wesentlich erhöht wurde.
Bei der Kürzung haben wir klare Schwerpunkte gesetzt, indem wir einmal auf die zeitlich begrenzten und zum Teil auslaufenden Sonderprogramme gesetzt haben. So entfällt zum Beispiel die Hälfte der Einsparsumme, das heißt über 10 Millionen DM, auf das Ende des Jahres 1996 auslaufende Bundesprogramm „Zielgruppenorientierte Prävention", unser Programm AGAG, das nun überwiegend von den Ländern weitergeführt wird.
Durch diese deutliche Schwerpunktsetzung wird die Kontinuität der Jugendhilfe des Bundes weiterhin sichergestellt. Beispielsweise wird die Förderung der Jugendverbandsstrukturen nur mit einer Kürzung von 2,7 bis 3,7 Prozent belastet.
Mit der zitierten Äußerung von Frau Bundesministerin Claudia Nolte zur Förderung der örtlichen Jugendhilfe sollte auf die verfassungsgemäße Ordnung hingewiesen werden, die vorsieht, daß die Jugendförderung vorrangig von den Kommunen zu leisten ist.
Zur Aussage bezüglich der Kindergelderhöhung kann ich nur sagen, daß es sich nicht um eine Kürzung, sondern um eine Verschiebung der vorgesehenen Erhöhung handelt.
Zusatzfragen?
Frau Staatssekretärin, die Verschiebung der Kindergelderhöhung ist ein Bruch einer gesetzlichen Vorgabe; das nur nebenbei gesagt. Die Erhöhung des Kindergeldes ist für 1997 gesetzlich zugesagt worden.
Ich möchte noch einmal auf die Finanzsituation der Gemeinden zu sprechen kommen; auch danach hatte ich gefragt. Die Frau Ministerin hat in einem „Spiegel''-Interview den Gemeinden vorgeworfen, sie stellten lieber Prachtbauten - sie nannte das Beispiel Feuerwehrhäuser - hin, als sich um die Jugendhilfe zu kümmern. Ist der Bundesregierung die Finanzsituation der Gemeinden nicht bekannt. Weiß sie nicht, daß sie gar kein Geld mehr haben, um Prachtbauten hinstellen zu können, daß die Gemeinden wegen der vielen Belastungen, die durch die Beschlüsse der Mehrheit des Hauses auf sie verlagert worden sind, große Schwierigkeiten haben, daß sie gar kein Geld mehr für die Jugendhilfe haben und es ihnen schwerfällt, die Leistungen zu erbringen, daß es ihnen auch schwerfällt, Prachtbauten hinzustellen, und daß sogar das Geld fehlt, um den Bau und Erhalt wichtiger öffentlicher Gebäude sicherzustellen?
Herr Kollege Hagemann, wir wissen beide, daß die Kommunen erheblich belastet wurden, daß aber dafür die Länder zu einem überwiegenden Teil mit Verantwortung tragen. Ich denke, daß wir bei der Jugendhilfe - darum geht es uns ja - nur so mäßige Kürzungen vorgenommen haben, daß wir damit leben können. Die Jugendverbände, mit denen ich bisher Gespräche geführt habe, waren mit diesem Ergebnis auch zufrieden.
Zusatzfrage?
Ich habe auch andere Stimmen gehört.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was wird die Bundesregierung an die Stelle des ausgelaufenen Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt als neues Angebot für die Länder und für die Gemeinden setzen, um die Bundesförderung weiter zu betreiben, wo doch auf der anderen Seite im Kinder- und Jugendplan gekürzt worden ist?
Die ausgelaufenen Modelle werden zum großen Teil von den Ländern und Kommunen weiter-
Parl. Staatssekretärin Gertrud Dempwolf
geführt. Wir haben in dieser Richtung noch keine weiteren Vorstellungen.
Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin. Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Die nicht mehr beantworteten Fragen werden nach unseren Regeln schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde
Lage in Bosnien und Absicht der Bundesregierung zur Rückführung von Bürgerkriegsflüchtlingen nach Bosnien-Herzegowina beginnend ab dem 1. 10. 1996
Die Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen statt.
Mir ist gesagt worden, daß die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen als Fraktion beantragt, den Herrn Bundesinnenminister Kanther herbeizurufen.
- Er ist auf dem Wege hierher. Müssen wir dann abstimmen?
Ich höre, er ist in wenigen Minuten hier. Ich glaube, dann brauchen wir darüber nicht abzustimmen.
Ich verstehe es so, Sie legen Wert darauf, daß Sie sprechen, wenn der Minister anwesend ist.
Dann unterbreche ich die Sitzung für wenige Minuten.
Wir setzen die kurzfristig unterbrochene Sitzung fort.
Ich begrüße den Herrn Innenminister.
Das Wort in der Aktuellen Stunde hat die Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich für Ihre Geduld, aber ich finde es wirklich wichtig, daß Herr Innenminister Kanther bei dieser Debatte anwesend ist.
- Nein, es ist gut und wichtig, daß er da ist.
Herr Kanther, Sie wollten mit Ihrem Beschluß offensichtlich Tatkraft demonstrieren - das ist jedenfalls mein Eindruck -, und zwar koste es, was es wolle; diesmal auf Kosten der Flüchtlinge. Ich meine,
Zwangsabschiebungen jetzt vor dem bevorstehenden Winter gefährden den gesamten Friedensprozeß.
Aber um den Friedensprozeß und um die Flüchtlinge ging es Ihnen bei diesem Beschluß offensichtlich nicht.
Meine Damen und Herren, in Bosnien-Herzegowina ist längst noch kein Frieden. Man kann höchstens von einem sehr labilen Waffenstillstand sprechen. Das sieht übrigens der Herr Verteidigungsminister Rühe genauso. Er sagte: „Ich glaube, daß man die Rückführung nur ganz vorsichtig machen kann und differenziert je nach der Einzelsituation, wenn man sich die Lage vor Ort anschaut." Der Außenminister hat sich ähnlich geäußert.
Herr Kanther, wenn Sie uns schon nicht glauben, dann hören Sie doch wenigstens auf Ihre Ministerkollegen. Aber Sie haben alle Warnungen in den Wind geschlagen, die des UNHCR, ja selbst die Lageberichte des Auswärtigen Amtes.
Auch die sogenannte flexible Handhabung des Abschiebetermins hilft nur wenigen Flüchtlingen weiter. Das bedeutet nämlich nur eines: Jedes Bundesland kann tun und lassen, was es will. Die einen, also Berlin, Baden-Württemberg, Bayern und jetzt auch Niedersachsen, werden sofort abschieben, die anderen wie Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Hessen werden noch abwarten.
Herr Kanther, Sie konnten sich offensichtlich mit Ihrer Hardlinerposition - 1. Oktober, sofort und alle - nicht gegenüber den rot-grünen Ländern durchsetzen; das begrüßen wir natürlich nachdrücklich.
Dennoch: Die Flüchtlinge werden durch die drohende Fristsetzung zum 1. Oktober in Panik versetzt. Viele stellen jetzt Asylanträge; in Berlin können wir das schon sehen. Von einer einheitlichen und klaren Linie in der Ausländerpolitik kann also überhaupt keine Rede sein. Ich nenne das Chaos: Chaos in der Flüchtlingspolitik!
Es ist nämlich jetzt so, daß der zufällige Aufenthaltsort des Flüchtlings in Deutschland über sein weiteres Schicksal entscheidet. Das ist völlig absurd. Entscheidend kann doch nur die Lage vor Ort sein. Die Lage in Bosnien aber ist sehr labil: so labil, daß die Bundesregierung jetzt sogar Kampftruppen entsenden will. In diese Situation wollen Sie die Flüchtlinge zurückschicken? Ich finde, das ist wirklich der Gipfel an Zynismus.
Zwei Drittel der hier lebenden Flüchtlinge stammen aus der Serbischen Republik. Diese Flüchtlinge können in absehbarer Zeit nicht zurück. Auch diese Flüchtlinge, Herr Kanther, haben nach dem Vertrag von Dayton ein Recht auf Rückkehr in Sicherheit und
Kerstin Müller
Würde, und zwar an ihren Heimatort. Wir alle, meine Damen und Herren, wollten diesen Vertrag von Dayton, weil er die einzige Chance für einen Frieden ist, weil er die ethnischen Säuberungen beenden und rückgängig machen sollte. Keinesfalls dürfen wir diese Flüchtlinge nun in Regionen abschieben, aus denen sie nicht herkommen, womöglich dann auch noch nach ethnischer Zugehörigkeit sortiert. Wenn Sie jetzt Moslems zu Moslems, Kroaten zu Kroaten, Serben zu Serben zurückschicken, wenn Sie jetzt den Menschen nicht mehr zugestehen, daß sie in ihre Heimat zurückkehren dürfen, dann zementieren Sie mit der Rückführung die ethnische Teilung des Landes, dann legitimieren Sie im nachhinein die ethnischen Säuberungen und dann kapitulieren Sie vor den Nationalisten und vor den Kriegsverbrechern.
Wenn Sie an dem Abschiebetermin festhalten, dann verstoßen Sie diametral gegen den Vertrag von Dayton. Sie gefährden den Prozeß des Wiederaufbaus des Landes und die Chance auf eine Versöhnung der Menschen untereinander. Herr Kanther, Sie wissen ganz genau, daß die 22 Regionen, in die Sie jetzt abschieben wollen, keineswegs sicher sind. Der UNHCR hat immer wieder betont, daß es sich um Regionen handele, in denen nur der Wiederaufbau beginnen kann, nicht jedoch eine Rückkehr von Vertriebenen.
Ein Versöhnungsprozeß nach solch furchtbaren Erfahrungen geht nur sehr langsam. Wir dürfen diesen Prozeß nicht gefährden; wir müssen ihn unterstützen. Deshalb brauchen wir statt inhumaner Abschiebungen behutsame Rückkehrprogramme auf freiwilliger Basis. Die meisten wollen zurück: 800 bis 1 000 gehen schon jetzt jeden Monat freiwillig, und es werden mehr werden, je schneller der zivile Aufbau vorankommt. Dieser muß Priorität haben.
Auf der anderen Seite, Herr Kanther, können Sie sich auf europäischer Ebene, solange die Flüchtlinge noch hier sind, für eine Lastenteilung bei den Unterbringungskosten einsetzen.
Wer jetzt Fristen und Termine setzt, handelt verantwortungslos. Damit machen Sie nur populistisch Stimmung gegen Flüchtlinge. Wir müssen jetzt den Bürgern hier klarmachen, daß der Prozeß der Versöhnung in Bosnien noch lange dauern wird und daß wir den Menschen, die vor Vertreibung und Mord geflohen sind, noch weiterhin ein Bleiberecht gewähren müssen.
Das Wort hat der Kollege Dietmar Schlee, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße es, Frau Kollegin Müller, ausdrücklich, daß wir heute diese aktuelle Debatte führen können. Der Deutsche Bundestag sollte, so meine ich, deutlich machen, daß er die ausgewogene und verantwortungsvolle Linie,
die die Innenminister des Bundes und der Länder einvernehmlich beschlossen haben, unterstützt.
Die Debatte ermöglicht es auch unseren Bürgern, die nach vielen Umfragen in ihrer überwiegenden Mehrheit für die Rückführung der Bürgerkriegsflüchtlinge jetzt sind, die Positionen der einzelnen Fraktionen kennenzulernen. Deshalb ist es wirklich richtig, daß wir diese Debatte heute führen.
Ich darf Ihnen die Ausgangslage noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen, Frau Kollegin Müller. Diese haben Sie wohlweislich überhaupt nicht angesprochen. Die Bundesrepublik Deutschland war es, die 320 000 Personen aufgenommen hat - weit mehr als alle anderen Aufnahmeländer zusammen.
Der deutsche Steuerzahler hat inzwischen 14 Milliarden DM dafür aufgewendet, so Ihr Parteifreund, der Hamburger Innensenator. Es war von Anfang an klar, daß es eine humanitäre Maßnahme war. So haben wir es den Bürgerinnen und Bürgern auch gesagt. An ein dauerndes Bleiberecht hat niemand gedacht, am allerwenigsten die Flüchtlinge selber.
Es haben sich auch schon viele Flüchtlinge auf den Weg nach Hause gemacht. Ich glaube, daß man mit Sicherheit sagen kann, daß es inzwischen weit mehr als 10 000 sind, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Unbestritten ist natürlich, daß der Friedensprozeß und die Stabilisierung des Landes nur schleppend verlaufen. Das kann man ernsthaft nicht bestreiten. Aber es gibt auch eine ganze Reihe positiver Entwicklungen: Die Wiederaufbauprogramme der EU und der internationalen Staatengemeinschaft zeigen Wirkung. Modellprojekte markieren den Weg. Das ist doch etwas.
Ein Zweites: Der UNHCR hat 22 Regionen ausgewiesen, in die die Menschen ohne Schwierigkeiten zurückkehren können - das ist die Formulierung des UNHCR. Mit der Ausweisung weiterer Regionen als sichere Regionen ist in Bälde zu rechnen, wie wir alle wissen.
Dietmar Schlee
Ein weiteres: Das Rücknahmeabkommen mit Bosnien-Herzegowina ist in weiten Teilen paraphiert. Das sind alles Schritte in die richtige Richtung.
Nun können Sie ja jeden Tag hören, daß die Repräsentanten der Republik Bosnien-Herzegowina immer wieder ihre Landsleute flehentlich bitten, in ihr Land zurückzukommen und beim Aufbau des Landes zu helfen, weil die dort Verbliebenen die Probleme nicht lösen können. Das ist die Wahrheit, und alles andere ist doch nicht in Ordnung.
Nun haben die Innenminister über die Parteigrenzen hinweg den Beschluß gefaßt - ich weiß gar nicht, warum Sie nur den Bundesinnenminister ansprechen; er war das doch nicht allein, alle Innenminister haben den Beschluß gefaßt -
und festgelegt, daß differenziert und schrittweise vorgegangen werden soll - Frau Kollegin, über was haben Sie eigentlich geredet? -, daß die Menschen in die sicheren Regionen freiwillig zurückkehren sollen. Differenziert heißt auch, daß zunächst Unverheiratete, dann Ehepaare ohne Kinder die Bundesrepublik verlassen und in ihr Land zurückkehren sollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn einer, dem die Rückkehr zugemutet werden kann,
nicht geht, dann muß er abgeschoben werden. Daran führt kein Weg vorbei. Ich darf auch einmal daran erinnern, daß man diesen armen und erschöpften Menschen, die im Land geblieben sind, ein Zeichen geben muß, daß sie all das, was jetzt geleistet werden muß, nicht allein zu leisten brauchen, sondern daß ihre Landsleute, die bei uns sind, ihnen helfen.
Wir dürfen auch unsere Bevölkerung nicht überfordern. Unsere Bürgerinnen und Bürger wissen, wie man ein Land aufbaut, Frau Kollegin Müller. Wir wissen aus Erfahrung, daß man da alle Hände braucht.
Lieber Joseph Fischer, die Leute verstehen nicht, daß bosnische Maurer, Flaschner und Dachdecker bei uns Sozialhilfe bekommen, während ihre Arbeitskraft in ihrem Land dringend gebraucht wird. Das können Sie in dieser Republik niemandem ernsthaft nahebringen.
Sie dürfen nie vergessen: Wir dürfen auch unsere Leute nicht hinters Licht führen. Sie haben - ich habe es einleitend gesagt - große Opfer gebracht. Wir brauchen die Hilfsbereitschaft unserer Bürgerinnen und Bürger bei nächster Gelegenheit wieder. Das kann schon sehr bald wieder der Fall sein, wenn Bürgerkriegsflüchtlinge aus ganz anderen Gebieten aufgenommen werden müssen. Die Leute erinnern sich daran. Man hat ihnen gesagt: Jawohl, es sind Bürgerkriegsflüchtlinge; wenn der Krieg vorbei ist, gehen sie wieder zurück. - Dann werden sie sich erinnern: Das haben sie damals schon nicht gemacht, und sie werden es diesmal sicher auch nicht machen.
Das ist ein Vertrauensverlust, den die Politik hier hinnehmen müßte, den wir alle zusammen aber eigentlich nicht hinnehmen sollten.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Herr Präsident, ich darf noch ein letztes Zitat nennen. Der derzeitige Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der Hamburger Innensenator,
hat am 3. September vor der Versöhnungskommission in Bosnien-Herzegowina mit bemerkenswerter Offenheit erklärt - ich zitiere wörtlich -:
Ich möchte Ihnen
- so hat er den Versammelten in dieser Versöhnungskonferenz gesagt -
die Illusion nehmen, daß Deutschland die Milchkuh ist, die man bis zu ihrer Entkräftung melken kann.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Minister Dewes aus Thüringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Innenminister des Bundes und der Länder haben sich in Konferenzen im Dezember 1995 und im Mai 1996 mit der Problematik der Rückführung der etwa 320 000 in Deutschland befindlichen bosnischen Kriegsflüchtlinge beschäftigt und haben am 19. September, also in der vergangenen Woche, in einer weiteren Sitzung den Beschluß gefaßt, den Sie alle kennen und dessen Grundlagen ich Ihnen aus Sicht der SPD-Innenminister kurz erläutern möchte.
Grundkonsens in der Innenministerkonferenz ist, daß die Flüchtlinge nach Beendigung des Bürgerkrieges, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen, in sichere und geschützte Lebensumstände zurückkehren können, zurückkehren müssen. -
Es besteht Einigkeit darüber, daß eine Rückkehr nur möglich ist, wenn das Rücknahmeabkommen mit Bosnien-Herzegowina vollständig paraphiert ist, wenn die adäquate Unterbringung der Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina gesichert ist und keine Gefahr für Leib und Leben der Rückkehrer besteht.
Minister Dr. Richard Dewes
Bereits in der Mai-Sitzung waren sich die Innenminister einig, daß die Frage, ob und wann eine Rückführung möglich ist und in welche Regionen zurückgeführt werden kann, einer Entscheidung bedarf, die nur die Bundesregierung in ihrer außenpolitischen Kompetenz und in Wahrnehmung ihrer ausländerrechtlichen Zuständigkeit treffen kann.
Die augenblicklich in Deutschland geführte politische Diskussion um die Rückführung von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina erweckt den Eindruck der Kleinmütigkeit, der Ungeduld im Hinblick auf die großen materiellen Aufwendungen insbesondere für Länder und Gemeinden.
Vor allem die deutschen Städte und Gemeinden sowie die Länder, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben in den vergangenen vier Jahren zweistellige Milliardenbeträge aufgewendet, um die mehr als 320 000 Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen und angemessen zu versorgen.
Die Bundesregierung - auch dies gilt es hier zu sagen - hat sich auf die vielen Aufforderungen der Länder hin immer beharrlich geweigert, in eine Kostenbeteiligung gegenüber Ländern und Gemeinden einzutreten.
Die Bundesrepublik hat - dies ist wichtig - wie kein anderes Land in Europa in den vergangenen vier Jahren eine humanitäre Leistung erbracht, die vorbildlich ist. Sie hat mehr als 60 Prozent aller Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet des ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Allein die Hansestadt Hamburg hat mehr Flüchtlinge als Großbritannien aufgenommen. Die Hauptlast tragen die Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Berlin. Dafür gebührt vor allem ihnen, aber auch allen anderen Anerkennung und Respekt.
Es ist bedauerlich, daß ein so großartiges Beispiel von Solidarität und Humanität in Europa durch die momentane öffentliche Diskussion abgewertet zu werden droht.
Ungeachtet aller verbalen Kraftakte mit der Rückführungsandrohung zum 1. Oktober 1996 steht folgendes fest:
Erstens. Eine Rückführung von Bürgerkriegsflüchtlingen wird erst dann wirksam beginnen können, wenn die Bundesregierung das Rückübernahmeabkommen mit Bosnien vollständig ausgehandelt hat und dieses auch vollständig paraphiert ist.
Zweitens. Die ausländerrechtliche Vorbereitungsprozedur, die eine Ankündigungsfrist der Abschiebung von drei Monaten beinhaltet, hat bisher nur in wenigen Fällen stattgefunden.
Drittens. Die Ausschöpfung von Rechtsmitteln gegenüber diesen Bescheiden ist in vielen Fällen zu erwarten. Nach Abschluß dieser Verfahren ist der Weg ins Asylrecht nicht auszuschließen.
Angesichts dieser Fakten gehe ich davon aus, daß allenfalls einige hundert Menschen - wenn Bosnien sie jetzt zurücknimmt - in den nächsten Monaten zwangsweise und unter hohen Risiken für die Betroffenen - ich denke, auch unter hohen Risiken für uns - zurückgeführt werden können. In den serbisch-bosnischen Teilstaat Srpska kann jetzt und in absehbarer Zeit nicht zurückgeführt werden.
Herr Kollege Schlee, weil Sie das, was die Bosnier selber wollen, so euphorisch sehen, folgendes zu den Zahlen: Der UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der UNO, geht davon aus, daß es - wenn wir nicht riskieren wollen, daß sich die Region insgesamt destabilisiert - 1997 allenfalls möglich sei, 60 000 Flüchtlinge dorthin zurückzubringen.
Deshalb erscheint es ratsam, in den nächsten Monaten die zur Rückreise verpflichteten Flüchtlinge förmlich über die Rückkehrverpflichtung zu bescheiden, die sich daraus ergebenden Rechtsbehelfsverfahren abzuschließen und dann ab April 1997 in Abstimmung mit der Administration vor Ort, dem UNHCR und den Menschenrechtsorganisationen die Rückführung in die 23 Regionen zu beginnen, die vom UNHCR als Aufbauregionen benannt worden sind.
Dabei dürfen die Flüchtlinge nur in Regionen gebracht werden, in denen sie wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe nicht bedroht sind.
Daß die Rückführung beginnt und in den nächsten zwei Jahren im wesentlichen auch durchgeführt wird, ist zum einen für den Wiederaufbau BosnienHerzegowinas und der anderen betroffenen Regionen notwendig, zum anderen aber auch für die zukünftige Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme bei der deutschen Bevölkerung. Diese hat die Flüchtlinge offen aufgenommen und bereitwillig unterstützt. Sie erwartet zu Recht, daß diese Menschen ab April 1997 in Gruppen so sensibel und abgestimmt zurückgeführt werden, daß nicht deshalb eine Destabilisierung der politischen Lage eintreten kann.
Die SPD-Innenminister haben in der Innenministerkonferenz erreicht, daß der Bundesinnenminister es ausländerrechtlich ermöglicht, die Rückführung nicht in den Wintermonaten beginnen zu müssen. Ob das Rückübernahmeabkommen mit Bosnien-Herzegowina kurzfristig von den Vertragspartnern vollständig paraphiert werden kann, ist abzuwarten. Gleiches gilt für die Beantwortung der Frage, ob Bosnien-Herzegowina derzeit in der Lage und ohne den Abschluß eines Rückübernahmeabkommens überhaupt bereit ist, Flüchtlinge zurückzunehmen.
Minister Dr. Richard Dewes
Die in den vergangenen Tagen vorgenommenen, sehr unterschiedlichen Bewertungen von Mitgliedern der Bundesregierung über die Möglichkeit und Verantwortbarkeit der Rückführung zum jetzigen Zeitpunkt haben den Umgang mit der schwierigen Problematik für die Länder nicht vereinfacht.
Die Länder gehen davon aus, daß die Bundesregierung mit der Regierung von Bosnien-Herzegowina vor Ort sicherstellt, daß die Menschen, die in ihre Heimat zurückgeführt werden, menschenwürdig untergebracht und versorgt werden können und eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Rückkehrer nicht besteht.
Im Hinblick auf die insbesondere von den Bundesministern Kinkel und Rühe dargelegten Risiken und Gefahren der Rückführung, auf das Votum des UNHCR und auf das von Hans Koschnick sollten die Länder jetzt die administrativen Vorbereitungen für die Rückkehr aufnehmen, freiwillige Rückkehr ver- waltungsseitig fördern und unterstützen, jedoch von zwangsweisen Rückführungen bis Ende April 1997 absehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Schmalz-Jacobsen, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte dem Herrn Innenminister des Landes Thüringen ausdrücklich dafür danken, daß er ein paar Dinge geradegerückt hat, und vor allem für die Feststellung, daß es ein gemeinsamer Beschluß der Innenministerkonferenz war, an dem auch die vier Länder mit rotgrüner Regierung teilgehabt haben. Deswegen können Sie, Frau Müller, sich nicht klammheimlich davon distanzieren.
Es ist immer etwas mühsamer, wenn man Verantwortung gegenüber mehreren Personengruppen unter einen Hut bringen muß. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen; wir haben eine Verantwortung gegenüber der einheimischen Bevölkerung - mir ist es übrigens vollkommen egal, ob die einheimische Bevölkerung einen deutschen Paß hat oder nicht, weil nämlich auch die Ausländer zur Wohnbevölkerung gehören und sich Sorgen machen -; und schließlich haben wir eine Verantwortung gegenüber Flüchtlingen, die irgendwann einmal kommen werden.
Das Datum 1. Oktober ist - das ist hier schon festgestellt worden - ausdrücklich der Beginn, aber nicht der Beginn von Abschiebung mit der Brechstange.
Es ist ein Signal, daß wir es mit dem vorübergehenden Status ernst meinen. Kein Termin wäre je der richtige, auf den sich alle einigen können. Daß jetzt niemand in die Srpska abgeschoben wird, dürfen Sie, glaube ich, den verantwortlichen Innenministern abnehmen.
Der Beschluß der Innenministerkonferenz enthält die Möglichkeit für flexible Regelungen. Anders als Sie, Frau Kollegin Müller, halte ich das für sehr vernünftig. Allerdings macht das nur Sinn, wenn davon in vernünftiger Weise Gebrauch gemacht wird.
Die Zahlen und die Gegebenheiten sind sehr unterschiedlich. Es ist doch richtig, daß man hier einen Rahmen setzt, der dann - hoffentlich mit Vernunft - ausgefüllt werden kann. Es rächt sich heute, daß die Länder es so lange versäumt haben, Erhebungen zu machen, so daß die meisten von ihnen gar nicht wissen, wer woher kommt. Der UNHCR hat das immer wieder angemahnt, und auch ich habe Briefe geschrieben. Es ist immer wieder gesagt worden und nicht geschehen.
Es wird weiter so sein, daß Freiwilligkeit Vorrang hat. In Berlin sind 320 Flüchtlinge freiwillig zurückgegangen, 1 200 haben dort eine Orientierungsreise beantragt. Beim UNHCR liegen 15 000 Anträge auf Rückkehrhilfen vor. 2 500 Personen wollen übrigens in die USA weiterwandern, andere nach Kanada. Wichtig ist, daß die sicheren Gebiete und nicht nur der Personenstand der Menschen hier Priorität haben.
Die meisten Menschen wollen zurück. Aber es gibt unterschiedliche Interessenlagen. Es gibt diejenigen, die nicht zurück können, jedenfalls lange nicht: die Traumatisierten und die alten Menschen, die dort keine Verwandten haben, sehr wohl aber hier. Es gehört zur Ehrlichkeit, heute festzustellen: Es wird auch Menschen geben, die hierbleiben.
Es gibt aber ein breites Spektrum zwischen der Situation derer, die nicht zurück können, und der Überlegung, Menschen abzuschieben. Wir wissen doch, wie die Wirklichkeit ist. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die Arbeit haben und Geld verdienen. Sie könnten heute vielleicht zurück; aber sie müßten unvernünftig sein, wenn sie sich jetzt freiwillig melden würden. Ich kenne Familien, die sagen: Wir bleiben so lange hier, wie wir irgend können, weil wir hier mehr Geld verdienen als dort. Diese Menschen werden sich aber nie und nimmer abschieben lassen, sondern sie werden im letzten Moment gehen.
So sieht die Lebenswirklichkeit nun einmal aus.
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Es wird lange dauern, bis die letzten derjenigen, die nicht hierbleiben können, gegangen sein werden. Ich habe den Eindruck, daß das Land BadenWürttemberg das ganz vernünftig angegangen ist. Sie haben Rückkehrberatungsstellen eingerichtet, sie informieren die Leute, sie schreiben sie an und legen Rückantwortbögen bei. Das macht einen guten Eindruck, soweit ich das beurteilen kann.
Ich möchte allerdings ganz deutlich eine Warnung aussprechen: Wer glaubt, sein Ziel mit besonders rigorosem Verhalten zu erreichen, der schneidet sich ins eigene Fleisch.
Er wird damit nämlich nichts anderes erreichen, als daß er die Menschen vor Gericht treibt oder eine Art Drehtüreffekt in Gang setzt, indem die Leute zwar gehen, weil sie gehen müssen, aber auf Umwegen wieder hereinkommen.
Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, es tut mir leid, aber ich bin nun einmal in der Situation, auf die Zeit verweisen zu müssen.
Ich bin bei meinem letzten Satz. - Es spricht ein gerüttelt Maß an Hochmut daraus, daß man es besser zu wissen glaubt als der bosnische Präsident Izetbegovič, der seine Landsleute flehentlich bittet zurückzugehen. Dann können wir es nicht besser wissen wollen und sagen, die Flüchtlinge könnten nicht zurückkehren.
Der Dank gebührt nicht nur den staatlichen Stellen in Deutschland, sondern auch vielen Menschen, die geholfen haben, den Flüchtlingen das Leben in diesem Land zu erleichtern.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Schmalz-Jacobsen, Sie haben zwar recht, daß die Tonlage der Innenminister etwas unterschiedlich ist. Das ändert aber meines Erachtens nichts daran, daß der Beschluß der Innenministerkonferenz grausam und insbesondere zynisch ist, wenn ich Innenminister Kanther sprechen höre. Zynisch auch deswegen, weil sich Regierungskoalition und SPD gleichzeitig - Kollegin Müller hat das schon gesagt - für Kampfeinsätze in Bosnien-Herzegowina einsetzen mit dem Argument, daß dort eine labile Lage herrscht.
Ich möchte ein Zitat von Verteidigungsminister Volker Rühe anführen. Er sagt:
Ich glaube, die wichtigste Aufgabe ist, zu verhindern, daß der Krieg zurückkehrt.
Ich denke, das macht eigentlich sehr deutlich, wie
die Lage dort ist. Diese Aufgabe zu erfüllen wird angesichts Ihrer Rückführungs- und Abschiebepolitik schwer möglich sein.
Das Gegenteil wird der Fall sein: Eine schnelle Rückführung der noch in der Bundesrepublik lebenden Bürgerkriegsflüchtlinge verschärft die Konfliktsituation in den Herkunftsländern. Die Gefahr neuer kriegerischer Auseinandersetzungen steigt meiner Meinung nach damit.
Herr Schlee, ich möchte Ihnen einige Fakten nennen: Bosnien hat im Moment allein 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge unterzubringen und zu versorgen. Der Wohnraum, der zur Zeit existiert, ist von diesen Flüchtlingen belegt. Vier Fünftel der derzeitigen Bevölkerung in Bosnien sind arbeitslos. Ebenfalls vier Fünftel leben von Hilfslieferungen. Die landwirtschaftlichen Nutzflächen sind vermint. Wegen der katastrophalen hygienischen . Bedingungen drohen dort Seuchen. Die Ernährungssituation ist schon jetzt schlecht. Der harte Winter - dies ist schon erwähnt worden - wird dies noch weiter zuspitzen.
Unter diesen Bedingungen zu behaupten, die Flüchtlinge müßten schnell zurückkehren, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen, halte ich für ziemlich verlogen. Sie wissen es nämlich besser.
Alle Flüchtlings- und Hilfsorganisationen einschließlich der dortigen UNHCR-Repräsentanten haben an die Innenminister appelliert, in diesem Jahr nicht mit der Rückführung zu beginnen. Rund zwei Drittel der hier lebenden Bosnierinnen und Bosnier können sicher nicht in ihre Herkunftsorte zurück. Sie sind Muslime - das ist allgemein bekannt -, die aus der heutigen Serbischen Republik stammen. Dort droht ihnen ebenso nationalistisch motivierte Verfolgung wie serbischen Bosnierinnen und Bosniern im Gebiet der Föderation.
Die Innenminister von Bund und Ländern scheren sich offensichtlich kaum noch um den Friedensvertrag von Dayton. Dieser sieht die Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Herkunftsorte auf freiwilliger Basis vor. Das wurde hier mehrfach gesagt. Das Prinzip der Freiwilligkeit wird schon in diesem Jahr unterlaufen. Ganz offen kündigt der Berliner Innensenator Schönbohm, der übrigens Bundeswehroffizier war, an, Flüchtlinge auch zwangsweise im Winter abschieben zu wollen. Andere haben bekräftigt, daß die Dayton-Prinzipien ein Fehler waren. Damit zementieren die Innenminister von Bund und Ländern ganz offensichtlich die ethnische Teilung in BosnienHerzegowina.
Durch die Rückführungspropaganda unterminieren Sie, meine Damen und Herren von der Regierungs- und der Bundesratsbank, die in der Bevölkerung vorhandene Solidarität mit den Bürgerkriegsflüchtlingen. Die Bundesregierung habe hier genug geleistet - das haben wir heute wieder hier gehört -, und jetzt müsse endlich Schluß sein. Wir könnten das nicht mehr finanzieren. So heißt es. Ich frage Sie: Haben Sie in diesem Zusammenhang jemals über die Frage nachgedacht, wie hoch die Kosten für die Kampfeinsätze sind? Was denken Sie darüber, wenn zum Beispiel Innenminister Kanther nach der Innenministerkonferenz ankündigt - ich zitiere -:
Ulla Jelpke
Wer zurück kann, aber nicht geht, hat keinen Anspruch auf die volle, sondern nur auf abgesenkte Sozialhilfe.
Das sind ziemlich erpresserische Methoden, um die Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen. Ich kann das überhaupt nicht unterstützen.
Die Innenminister von Bund und Ländern liefern mit dieser Strategie ein weiteres Beispiel für die Entwicklung der Bundesrepublik im Verein mit den EU-Partnerländern zur weiteren Festigung. Hier wird weiterhin eine Abschottungspolitik betrieben. Das Schlimme ist, daß es auch noch mit militärischen Mitteln begleitet wird.
Die PDS fordert deswegen nach wie vor, die Prinzipien des Dayton-Vertrags einzuhalten, nämlich die freiwillige Rückkehr und vor allem, daß die Flüchtlinge in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren können. Ich bin der Meinung, die Mittel der Bundesregierung für den Wiederaufbau von Bosnien sollten massiv erhöht werden, damit die Lebenssituation für zurückkehrende Flüchtlinge entsprechend menschlich aussieht.
Ich danke.
Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der letzte Beitrag hat mit der Wirklichkeit und den Problemen wenig zu tun gehabt. Mit dem Wort „Rückführungspropaganda" die für den größten Teil - ich danke für die entsprechenden Hinweise - vorhandene Bereitschaft zu bezeichnen, wieder in die Heimat zurückzukehren, wenn es wieder geht, ist so neben der Sache, daß es eigentlich eine Unverschämtheit gegenüber den bosnischen Flüchtlingen ist, die sicherlich im Innersten nichts lieber wollen, als in ihre Heimat zurückzukehren und dort zu leben, wo sie aufgewachsen sind.
Wir wissen, daß es in vielen Bereichen nicht möglich ist, daß die Zielsetzung, hinter die wir uns alle stellen, des Dayton-Abkommens, nämlich die Zielsetzung, daß jeder ungeachtet seiner ethnischen Zugehörigkeit wieder dort hingehen kann, wo er geboren wurde, wo er gelebt hat, also eine Umsetzung dessen, was wir Heimatrecht nennen und womit eine Ächtung aller Vertreibungsmaßnahmen verbunden ist, leider nicht realisiert werden kann. Deswegen ist - darum verstehe ich Ihre Aufregung nicht - bei einer Lektüre des Beschlusses der Innenministerkonferenz sehr genau nachzulesen, daß auf diese Problemstellungen Rücksicht genommen worden ist und daß es jetzt um Bürger geht, die aus Gebieten stammen, in die die Rückführung möglich ist, weil keine Gefahren drohen.
Man muß schon fragen: Wie kann man verhindern, daß in diesen und anderen Gebieten neue Gefahren entstehen? Damit sind wir natürlich bei dem, was Frau Jelpke gerade wieder in beachtlicher Weise diffamiert hat, ohne eine Kenntnis der Problemzusammenhänge, was Volker Rühe gesagt hat. Das hat nichts mit der Frage von Kampfeinsätzen im Sinne von knarrenden Waffen und Panzern zu tun, sondern das hat damit zu tun, daß die militärische Implementierung des Dayton-Abkommens erfordert, daß durch eine entsprechende internationale Präsenz ein Wiederaufflammen des Flächenbrandes verhindert wird. Wir brauchen und wir schulden als internationale Gemeinschaft eine Brandwache. Darum geht es. Das ist die Diskussion, die wir in den nächsten Tagen, morgen in Bergen beim NATO-Treffen und auch in den nächsten Wochen und Monaten mit der Frage eines sogenannten IFOR-II-Mandates diskutieren.
Ich gestehe durchaus zu, daß dies eine der Voraussetzungen sein wird, um die Rückkehr der Flüchtlinge in den nächsten Monaten und Jahren zu erleichtern und sicherzustellen. Es bleibt nur zu hoffen, daß die inneren Kräfte in Bosnien-Herzegowina, die das Dayton-Abkommen wirklich akzeptieren, mehr und mehr zunehmen.
Wie alle haben mit Freude gehört, was Präsident Izetbegovič gesagt hat.
- Ich habe auch den Zwischenruf gehört. - Ich kann nur hoffen, daß es von allen Politikern in BosnienHerzegowina ernst gemeint ist mit den Prinzipien des Dayton-Abkommens und mit der Aufforderung an einen der Gott sei Dank geschonten Teile der Bevölkerung, nämlich denen, die in allen europäischen Ländern Zuflucht und Sicherheit gefunden haben, wieder zurückzukehren und beim Wiederaufbau zu helfen.
Im übrigen bin ich deswegen auch überzeugt, daß es gut ist, daß wir unsere Wiederaufbauhilfen an die Bereitschaft zur Aufnahme der Flüchtlinge knüpfen. Das ist eine Conditio, die gerechtfertigt ist und die vielleicht auch hilft, manchen Attentismus etwas zu überwinden. Es kann doch wohl nicht sein - das ist kein Populismus, das ist gesunder Menschenverstand -, daß europäische Hilfsorganisationen, NGOs, den Wiederaufbau leisten und erst dann die Frage der Rückführung zur Diskussion gestellt werden kann.
Nein, wir haben die Aufgabe, jetzt die zivile Implementierung voranzutreiben. Darunter verstehe ich auch, daß engagierte Menschen, die nicht von der Hetzpropaganda der verschiedenen ethnischen Gruppierungen in Bosnien für das Zusammenleben - ich will einmal sagen - verdorben wurden, sondern hier bei uns gewesen sind, einen mäßigenden Impuls in die weitere Entwicklung Bosnien-Herzegowinas einbringen.
Aus diesem Grunde ist der Beschluß der Innenministerkonferenz ausgewogen. Sie hat sich mit allen Problemen, die die Rückführung betreffen, auseinandergesetzt.
Christian Schmidt
Wir werden sicherlich noch einige Male über diese Fragen diskutieren müssen. Denn es werden nicht 320 000 am 1. Oktober zurückgehen. Das ist ein Prozeß, der jetzt beginnt, behutsam, aber mit einem Ausmaß an Entschlossenheit, das auch die deutsche Interessenlage und die europäische Interessenlage widerspiegeln muß.
In diesem Sinne haben wir überhaupt keine Veranlassung, uns der Kritik der Grünen anzuschließen. Sie täten gut daran, den Beschluß der Innenministerkonferenz noch einmal zu lesen, in sich zu gehen und anschließend unserer Position zuzustimmen.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ehrlich gesagt, fand ich, daß sowohl im Redebeitrag des Kollegen Schlee als auch bei der Kollegin Jelpke und etwas auch bei der Kollegin Müller ein gerüttelt Maß an Pathos und Unehrlichkeit mitschwang. Das muß man, glaube ich, einmal in aller Deutlichkeit hier sagen.
Ich muß gestehen: Nach der Sitzung der Innenminister von Bund und Ländern in der vergangenen Woche war ich erleichtert, und zwar deshalb, weil die Länder jetzt flexibel handeln können
und der 1. Oktober 1996 nicht mehr wie eine Guillotine über den Flüchtlingen schwebt.
Meine Fraktion erwartet nun, daß nach folgenden Grundsätzen gehandelt wird, die der Kollege Dewes schon umrissen hat: daß wahrscheinlich nur eine sehr geringe Zahl in den nächsten, den rauhen Wintermonaten zurückgeschickt werden kann und daß für die allermeisten der Betroffenen mehr Zeit, sorgfältige Vorbereitung und die Prüfung der Situation im Einzelfall nötig sein wird.
Daß eine behutsamere Regelung gefunden wurde, als ursprünglich befürchtet,
- Frau Müller, haben wir der Einsicht und dem sanften Überzeugungsdruck mehrerer Landesinnenminister zu verdanken, am allerwenigsten leider dem wirklich Verantwortlichen, nämlich dem Bundesinnenminister; der hat nicht sehr viel dazu geleistet.
Ich möchte an die innenpolitische Diskussion erinnern, die in Deutschland in dem Dreivierteljahr nach Dayton gelaufen ist. Da gab es zuerst die harte Phase, in der einige Kollegen auch von der CDU/
CSU gewissermaßen postwendend mit der Abschiebung beginnen wollten. Einige haben das sogar mit dem Vorschlag einer Art Kopfprämie garniert. Erst allmählich hat sich auch der Bundesinnenminister zugegebenermaßen zu einer zurückhaltenderen Einschätzung durchgerungen: daß der 1. April nicht realistisch sei und der 1. Juli auch nicht.
- Ich erinnere Sie daran.
Zweifellos haben solche Drohkulissen die Betroffenen zutiefst verunsichert. Ich finde in der Rückschau: Es war so nicht nötig. Hinzu kommt, daß die Flüchtlinge erst seit Juli vom Recht auf Erkundungsfahrten, auch Schnuppertouren genannt, Gebrauch machen; denn erst seit diesem Zeitpunkt gibt es überhaupt entsprechende Vereinbarungen mit den Transitländern.
Wir haben von Anfang an Behutsamkeit und einen längeren Atem für den Prozeß der Rückführung verlangt. Denn auch wir wissen: Der Flüchtlingsstatus ist ein Status auf Zeit; aber der Friedensprozeß in Bosnien-Herzegowina läuft noch langsamer, noch labiler, noch anfälliger und widersprüchlicher, als viele und selbst Skeptiker es befürchtet hatten. Kaum eine der zivilen Voraussetzungen von Dayton ist bislang erfüllt.
Herr Kollege Schlee, es ist völlig unbestritten, welch hohe Anzahl von Flüchtlingen wir bei uns aufgenommen haben. Das hat große Anstrengungen, hohe Geldsummen für Unterbringung und Betreuung gekostet. Leider hat der Bund Länder und Gemeinden dabei nicht sonderlich unterstützt,
hat durch mangelnde Bereitschaft, sich endlich an den Kosten zu beteiligen, nicht viel Hilfestellung gegeben.
Die lobenswerte Leistung, die es auch gegeben hat, darf nicht in eine Politik einmünden, mit der wir den Flüchtlingen eine Neuauflage ihres Elends bereiten würden. Das ist, glaube ich, mit der Entscheidung der vergangenen Woche verhindert worden.
Zweifellos dürfen wir bei der Antwort auf die Frage, wem wir die Rückkehr zumuten können, nicht bundesdeutsche Maßstäbe an Unterkunft und Infrastruktur anlegen. Unsere Maßstäbe sind Sicherheit und Menschenwürde. Ich bin überzeugt davon, daß das Staffelungsprogramm - zuerst Alleinstehende, dann kinderlose Ehepaare, dann Familien und danach die traumatisierten Personen und die Folteropfer - als Kategorisierung allein nicht ausreicht. Wir brauchen regionale Differenzierung. Wir brauchen klare Auskünfte darüber, ob die Flüchtlinge auf ein Gebiet treffen, das mehrheitlich ihre ethnische Zugehörigkeit aufweist. So ist die Lage, ob ich das schön finde oder nicht.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Dazu lautet der dringende Appell: Die Bundesregierung, speziell der Bundesinnenminister und das Auswärtige Amt, muß den Ausländerbehörden verbindliche Kriterien liefern. Vor allen Dingen die Flüchtlinge selbst brauchen deutliche Informationen über ihr persönliches Schicksal. Sie brauchen Hilfestellung und konkrete Ratschläge.
Ich höre immer die Floskel: Die Flüchtlinge werden für den Aufbau gebraucht. Aber: Beim Aufbau können wohl nur diejenigen helfen, die ohne Angst um Leib und Leben existieren können und unter halbwegs menschenwürdigen Bedingungen untergekommen sind.
Allen, die sich zu diesen Problemen geäußert haben - mit oder ohne Pathos -, sollte dieser Grundsatz wohl einleuchten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen eine Debatte, die aus einer der größten Tragödien der letzten vier Jahre in Europa herrührt. Wir haben bei der Aufnahme der Flüchtlinge eine großartige Arbeit geleistet. Europa hat bei der Verhinderung der dortigen Situation keine großartige Arbeit geleistet.
Insofern sind wir herausragend bei der humanitären Aufnahme dieser Flüchtlinge. Das haben wir in der besten Weise gemacht. Da kann uns kein anderes Land in irgendeiner Weise etwas vormachen.
Ich stimme auch mit der Zielsetzung überein, daß diese Flüchtlinge nicht alle Einwohner der Bundesrepublik Deutschland werden sollen. Sie sind Gäste; und sie sollen zurückkehren, wenn es möglich ist. Darüber gibt es offensichtlich auch keinen Konflikt.
Die Frage ist, wie wir diese Rückkehr ermöglichen. Dazu gibt es klare Vorgaben im Annex 7 des DaytoAbkommens. Sie sollen als freie Rückkehrer in ihre alten Heimatorte gehen. Sie sollen frei sein von Verfolgung und Diskriminierung auf Grund ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder politischer Überzeugung.
Der UNHCR hat sich mit sehr viel Arbeit vor Ort um die Regionen bemüht, wo so etwas möglich ist. Aber er hat sehr deutlich gesagt: freiwillige Rückkehr. Es gibt keinen Konnex zu einer zwangsweisen Rückkehr.
Wer diese Regionen kennt, weiß, daß es dort lauter kleine Ortschaften gibt, die anders sind als die Gesamtregion. Wer aus dieser kommt, wird unter Umständen niedergeschlagen oder mit Steinen aus seiner Ortschaft verwiesen. Das muß man wissen. Wer dort öfter war, weiß vielleicht ein bißchen mehr als manche andere, die nur davon reden.
Die Realität ist, daß wir das Dayton-Abkommen in militärischer Hinsicht sehr gut gemacht haben, in der Frage der zivilen Implementierung - nicht wegen der Schuld der Bosnier, sondern wegen des mangelnden Mutes der westlichen Staatengemeinschaft - aber weit im Rückstand sind. Die Kriegsverbrecher sollten ausgeliefert werden.
Wann sollten sie ausgeliefert werden, wenn nicht . dann, wenn 60 000 IFOR-Soldaten vor Ort sind? Etwa dann, wenn diese abgezogen sind? Das ist ein ganz wesentlicher Punkt der Demokratisierung, der nicht umgesetzt wird.
Die Bewegungsfreiheit in der Republik Srpska ist gleich Null; in vielen Teilen der Föderation ist es nicht besser. Deswegen dürfen wir natürlich nicht den zweiten und dritten Schritt vor dem ersten tun, wenn diese Voraussetzungen nicht geschaffen werden.
Die Innenministerkonferenz hat Grundeinstellung und Zielrichtung durchaus richtig beschrieben. Wenn ich einzelne Stimmen aus ihr höre, dann muß ich sagen, daß ich durchaus mit ihnen übereinstimmen kann. Wir legen zunächst - Herr Beckstein sagt das - großes Gewicht darauf, daß die Rückführung freiwillig erfolgt.
Dann kommt natürlich eine psychologische Überzeugung hinzu - sie steht natürlich nicht im Beschluß -, bei der man durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann, nämlich: Dann, wenn die Appelle an die Freiwilligkeit nichts nutzen, muß mit einer zwangsweisen Rückführung begonnen werden; wir hoffen allerdings, daß nach den ersten zwangsweisen Abschiebungen der freiwillige Rückkehrprozeß in Gang kommt. Das ist eine psychologische Einschätzung, die man teilen kann oder nicht. Das kann auch anders ausgehen; es kann zum Bumerang werden. Die Geschichte wird zeigen, was richtig war; das hat mit dem Beschluß nichts zu tun.
Auch das, was Kollege Kanther gesagt hat, möchte ich durchaus unterstreichen, daß nämlich die Flüchtlinge Gäste auf Zeit sind und daß es darum geht, schrittweise die Möglichkeiten, die sich in BosnienHerzegowina ergeben, für die Rückkehr und den Aufbau zu nutzen. Genau das ist das Richtige.
Ich frage mich dann nur: Warum hat die Innenministerkonferenz in ihren Beschlüssen nicht etwas deutlicher die Stimmung unter den Flüchtlingen berücksichtigt? Warum sagt man nicht, daß keiner Angst davor zu haben braucht, in die Republik Srpska zwangsweise abgeschoben zu werden? Warum steht das nicht drin?
Unter den Flüchtlingen, die ja zu weit über die Hälfte - es sind ja fast 60, 70 Prozent - aus dieser Region kommen, verbreitet sich eine große Panik, weil ein Satz mit einem solchen Inhalt nicht drinsteht. Wenn man sagt, die könnten ja alle vor das Gericht
Dr. Christian Schwarz-Schilling
gehen, entgegne ich, daß das eine Meinung ist, die man nach 20 Jahren Rechtsstaat bei uns hat. Wenn man es bisher nur gewohnt war, daß die Behörden immer nur zuschlagen und daß man dann, wenn man Anweisungen der Behörden nicht Folge leistet, an Leib und Leben bedroht ist, kann man nicht so schnell lernen, daß das in Deutschland total anders ist. Man hat ja auch manchmal nicht nur gute Erfahrungen auf Ausländerämtern gemacht.
Ich möchte also sagen: Es ist schade, daß die richtigen Intentionen nicht in entsprechender Weise umgesetzt worden sind. Deswegen möchte ich feststellen: Es kommt darauf an, daß wir die freiwillige Rückkehr in wirklich guter Weise unterstützen. Das heißt, daß es eine Koordination der Programme geben muß. Wenn man dort hinkommt und feststellen muß, daß das Geld der EU für ein Projekt, das im November beginnen sollte, noch nicht angekommen ist, dann muß man eben einsehen, daß dieses Projekt in diesem Winter jedenfalls als Rückkehrmöglichkeit ausfällt. Das ist doch klar. Aber trotzdem wird so getan, als wäre es möglich. Ich sage: Das geht eben nicht. Das heißt: Wir müssen die Reihenfolge des ersten und des zweiten Schrittes beachten.
Ich bin den Ländern im übrigen sehr dankbar, daß sie auch durch bilaterale Projekte diese Maßnahmen durchaus unterstützen. Von daher gesehen ist die Intention des Innenministers absolut richtig, in Brüssel eine harte Aufforderung an die EU zu richten, entsprechende Gelder bereitzustellen, weil hier ein spezielles Problem vorliegt. Auch das ist völlig in Ordnung. Ich möchte nur bitten, daß wir die guten Dinge, die wir hier in Gang setzen, möglichst nicht durch Übertreibungen, falsche Interpretationen und Wunschdenken in bezug auf die Lage vor Ort gefährden.
Insofern möchte ich folgenden Appell richten: Vielleicht können einige ergänzende Bemerkungen für eine solche Beschlußlage Klarheit schaffen, auch im Hinblick darauf, wer denn wirklich abgeschoben wird. Es wird gesagt: Dort, wo Leute freiwillig zurückkehren, können auch die anderen hingehen. Dazu sage ich: Gut, wenn die Freiwilligkeit bei der Rückkehr mit dem Ort verbunden ist, aus dem man kommt, dann ist das eine klare Sache.
Aber wenn wir, meine Damen und Herren, durch unsere Beschlüsse dafür sorgen, daß das „ethnic cleansing", die Rassentrennung - ich formuliere es einmal so; es handelt sich dort aber eigentlich nicht um Rassen; es sind fanatische Ideologien -, befördert wird, dann wäre das in etwa so, als hätten wir vor 10 Jahren gesagt: Ach, die Schwarzen und die Weißen dort in Südafrika wollen ja nicht zusammenleben; dann lassen wir doch diese Geschichte; sollen sie es doch selber machen. Dann würden wir uns mitschuldig machen.
Wir müssen auf der Seite der Freiheit, der persönlichen Integrität und der Würde des Menschen, die keine Rassen- und Religionsseparationen in einem Land dulden kann, stehen und müssen alle Kräfte, die dafür sind, auch dort unterstützen. Denn die Wahlen haben auch Hoffnungsschimmer gesetzt. Es gibt heute Opposition im Parlament der „Republik Srpska", genauso wie in den Parlamenten in der Föderation.
Diesen Menschen müssen wir helfen, damit sie ihre entsprechenden Vorstellungen umsetzen können. Sie können die Leute, die in ihre Orte zurückgehen wollen, nur mit Mühe davon abhalten. Das aber ist wichtig, um zu vermeiden, daß IFOR eingreifen muß.
Wenn Sie das berücksichtigen, dann ist es völlig falsch zu sagen: Die wollen das ja gar nicht. Das ist das, was uns die Fanatiker und Extremisten gern einreden wollen. Hoffentlich haben sie damit keinen Erfolg. Der nächste Krieg würde in dieser Region in einigen Jahren vor der Tür stehen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während sich die Politik schwergetan hat, die Herausforderung auf dem Balkan anzunehmen, haben die Menschen - Herr Kollege Schwarz-Schilling hat es soeben beschrieben - viel eher verstanden, wo Täter und wo Opfer waren. Die Bevölkerung hier hat, als die Politik noch gezögert und nicht gewagt hat, den Aggressor und die Opfer voneinander zu unterscheiden, als die europäische Politik nicht wirklich hingeschaut hat, was eigentlich im ehemaligen Jugoslawien passiert, ganz offen und großartig gehandelt und ist bereit gewesen, die Menschen aufzunehmen. Sie hat sich auf die Seite der Opfer gestellt, und zwar umstandslos.
Das war in anderen Ländern auch so, Herr Schlee. In Schweden sind prozentual zur Bevölkerung mehr Menschen als in Deutschland aufgenommen worden. Das schmälert den deutschen Einsatz nicht, aber wir sollten uns das klarmachen und bei der Bewertung ein bißchen vorsichtiger sein.
Die Debatte um die Rückführung ist von politischer Seite zu einem Zeitpunkt losgetreten worden, als es die Diskussion in der Bevölkerung noch nicht gegeben hat. Die Menschen haben im Fernsehen Bilder von der Zerstörung des Landes gesehen, und ihnen wurde klar, daß der Friedensprozeß mehr auf dem Papier als im Land selber stattgefunden hat. Die Bevölkerung hatte durchaus den Impuls und das klare Gefühl, daß man zu dieser Zeit die Menschen, die unsere Gäste sind, nicht zurückschicken kann.
Die Debatte ist von politischer Seite losgetreten worden. Das eigentlich Traurige ist, daß ohne Not und obwohl die Bevölkerung bereit war, geduldig zu sein und weiter mitzuhelfen, von oben eine Debatte ausgelöst wurde, die forderte: Diese Menschen müssen jetzt gehen.
Marieluise Beck
Es ist auf humanitärer Ebene jetzt etwas passiert, das auch die Politik gegenüber Bosnien die ganze Zeit hindurch begleitet hat: Es gibt viele Lügen, die auf politischer Ebene in den vergangenen Jahren über diesen Krieg verbreitet worden sind, und Beschönigungen, die nicht wirklich benennen, was dort passiert ist. Über Prijedor hat man nicht gesprochen, erst über Srebrenica, dabei war Prijedor bereits einige Jahre zuvor das Srebrenica. Das wollte niemand so gern sehen.
Das alles ist immer und immer wieder zugedeckt worden, weil Europa nicht so handeln wollte, wie es hätte handeln müssen. Jetzt wird ein zweites Mal das zugedeckt, was Dayton geleistet, aber auch nicht geleistet hat. Es ist gut, daß es Dayton gegeben hat. Es ist aber durch und durch unzulänglich. Wahrscheinlich war Dayton anders auch gar nicht machbar.
Aber wir sollten jetzt nicht die nächste Lüge anführen und so tun, als wäre Dayton wirklich umgesetzt. Es gibt im Augenblick nicht mehr als eine Situation des fragilen Nichtkämpfens. Wer in das Land fährt, sieht das und hat das Gefühl, es könnte morgen bereits wieder losgehen.
Jetzt sagen wir: Es ist soweit befriedet, daß die Menschen zurückgehen können. Das ist eine neue Lüge. Wir sollten uns wirklich davor hüten. Wir müssen ehrlich sagen: Dayton gibt es noch nicht, es gibt keine Freizügigkeit, und es gibt sie nicht nur in der sogenannten „Republik rbska" nicht, sondern es gibt sie auch nicht in den großen Teilen, die kroatisch dominiert sind. Auch das müssen wir, gerade weil wir Kroatien politisch nahestehen, ganz deutlich aussprechen.
Der zivile Teil also fehlt. Es gibt jetzt eine Debatte, daß wir daran basteln, in diesen faktischen Gaza-Streifen, der nach wie vor besteht - ein Gaza-Streifen mitten in Europa -, mit all seiner Zuspitzung und Angespanntheit noch mehr Menschen hineinzuschieben und dort den Druck zu erhöhen.
Es gibt diese Äußerung von Präsident Izetbegovič. Aber wie ist sie zu erklären? Es ist die Angst des Präsidenten, daß sein Volk in der Diaspora verbleibt. Diese Angst treibt die Bosnier zu Recht seit vier oder fünf Jahren um. Sie hatten das Gefühl: Wir europäische Muslime werden in unserer Heimat vielleicht nie wieder zusammen leben können; wir werden in Europa, in Amerika, in Kanada oder in Neuseeland verstreut sein. Deswegen gibt es diese Äußerung, daß alle zurückkommen sollen.
Wenn Sie aber mit den Bürgermeistern vor Ort sprechen, dann sagen sie: Wie sollen wir es denn im Augenblick machen? Wir haben die Flüchtlinge notdürftig im Land untergebracht. Es gibt viele kollektive Zentren, Schulen und Flüchtlingsheime, wo nach wie vor 20 oder 30 Menschen in Stockbetten schlafen. Im Laufe der letzten sechs Monate hat sich nichts geändert, weil praktisch im Land noch nichts passiert. Diese Bürgermeister sagen: Was sollen wir jetzt machen, wenn in diese angespannte Situation hinein, in der wir Menschen in Wohnungen gesetzt haben, nun die Rückkehrenden aus Deutschland kommen? Es gibt einen neuen Druck, Flüchtlinge von außen gegen Vertriebene im eigenen Land.
- Herr Westerwelle, im Augenblick tut sich im Land noch nichts. Fahren Sie doch bitte einmal nicht mit einem diplomatischen Auto, mit dem Sie überall durchkommen. Fahren Sie einmal mit einem Auto mit bosnischem Kennzeichen durchs Land. Fahren Sie als normaler Mensch, nicht geschützt durch UNHCR oder OSZE oder andere Label, mit denen Sie überall durchgewunken werden.
Versuchen Sie einmal, durch die Kontrollen hindurchzukommen, die jeder bosnische Lkw und jeder bosnische Pkw dort ertragen müssen. Erst sind es herzegowinische Polizisten, die schikanieren. Die Bosnier wagen sich noch nicht einmal alleine durch die IFOR-Zone über die Save hoch nach Kroatien. Es gibt praktisch überhaupt keine Bewegungsmöglichkeit. Deswegen werden noch keine Fenster, kein Glas, keine Werkzeuge und all das ins Land transportiert, wovon Sie immer sprechen. Wohin sollen die Handwerksmeister gehen? Es bewegt sich in diesem Land praktisch noch nichts, weil der zivile Teil von Dayton fehlt. Das ist das große Problem.
Im Augenblick steht wirklich an, alle Kraft daranzusetzen - das ist die Aufgabe des Außenministeriums; Herr Kanther sollte sich wirklich noch zwei Jahre zurücklehnen;
vielleicht dauert es noch zwei Jahre -, den zivilen Teil von Dayton umzusetzen, damit es in diesem Land Bewegung gibt.
Wenn Sie sagen: Auch bei uns wurden 1945 die Flüchtlinge nicht auf Rosen gebettet, dann stimmt das natürlich. Natürlich wird die Situation immer schwierig sein. Auch das ist richtig. Aber wir hatten nicht die vollkommen ungeklärte Situation, daß die Menschen im Augenblick nicht wissen, wo sie hingehen sollen. Sie wissen es zum überwiegenden Teil nicht.
- Es geht um die Zeit.
Ich sage noch einmal: Spielen Sie nicht mit dem Feuer. Die Bereitschaft in der Bevölkerung ist da, Zeit zu lassen. Alle sind froh, daß der Krieg vorbei ist. Lassen Sie es nicht soweit kommen, daß irgendwann jemand in der Bevölkerung nicht trennen kann, wer gehen und wer nicht gehen könnte, und irgendwann brennt ein bosnisches Unterbringungsheim in Deutschland!
Das Wort hat der Bundesminister Kanther.
Ich habe aufmerksam zugehört, Frau Kollegin. Ich finde es fatal, mit welchem Bild Sie geendet haben. In einem Land, das 60 Prozent der Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen hat, die im Ausland Aufnahme gefunden haben, das jedes Jahr Milliarden Mark seit Jahren für diese Bürgerkriegsflüchtlinge aufwendet, wird aus den Reihen der Politik ein derart fatales Bild an die Wand gezeichnet.
Wir werden noch viel Verständnis des deutschen Volkes dafür brauchen, daß die Mehrzahl der aus Bosnien stammenden Flüchtlinge für längere Zeit hierbleibt. Aber jeder, der solche Bilder verwendet, der strapaziert das Verständnis und baut es nicht auf.
Die Innenminister haben einen abgewogenen Beschluß gefaßt. Glauben Sie ernsthaft, daß 16 Länderinnenminister und ich über alle Parteigrenzen hinweg ein Einvernehmen erzielen können, wenn die Welt so wäre, wie Sie sie beschreiben, wenn die Herzlosigkeit so umginge? Ich glaube, Sie haben den Beschluß überhaupt nicht ernsthaft gelesen, sondern Sie haben nur Ihr vorgefaßtes Bild wiederfinden wollen.
Dieser Beschluß setzt an vielen Punkten differenzierend an.
Er zeigt den Menschen einen Weg über eine längere Frist: daß alleinstehende Personen zuerst gehen sollen, daß Rücksicht genommen wird auf Familien, daß Rücksicht genommen wird auf Ausbildungsverhältnisse, die noch laufen.
Der Beschluß aus der vorigen Woche differenziert dann noch einmal dahin gehend, daß an die auch vom UNHCR so bezeichneten 22 Aufbauregionen angeknüpft wird, in denen sich etwas bewegen kann und in die deshalb die Menschen zurückkehren können. Sie können aber nicht von uns dort hingewiesen werden. Das gibt das Ausländerrecht beim besten Willen nicht her.
Die Menschen werden sich vielmehr, wenn sie aus Deutschland kommen und nach Bosnien zurückkehren, ihren Platz suchen müssen. Das ist keine unbillige Zumutung. Anders geht es nicht.
Ich wünsche mir, daß sie ihren Platz suchen, wie es Dayton vorsieht. Kaum jemand, der auf diesem Gebiet sachverständig ist, nimmt heute an, daß die Menschen sich, wenn sie aus ethnisch umstrittenen
Gebieten kommen, erneut in die ethnische Minderheit begeben werden.
Deshalb wird es noch mehr geben müssen, als nur das Beharren auf Dayton. Es ist notwendig, daß diejenigen, die in Deutschland im Verhältnis zu denen, die den Krieg vor Ort ertragen mußten, häufig - es gibt auch andere - nicht den schlimmsten Teil des bosnischen Schicksals erlitten haben, nun auch zupacken und das eigene Land aufbauen.
Dies muß zuerst in den Regionen geschehen, die dafür unbestrittenermaßen zur Verfügung stehen - und dies nicht im Wege irgendeiner Hauruck-Methode, sondern sehr sorgfältig und auf kleine Gruppen bezogen. Das ist ein ausländerrechtlicher Vorgang, der klarmacht, daß Bürgerkriegsflüchtlinge Gäste auf Zeit sind, und daß aus der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen in unserem Land kein verdecktes Einwanderungsprogramm auf Dauer wird. Das ist ein wesentlicher Aspekt dieses Beschlusses.
Diese Meinung teilen die sozialdemokratischen Innenminister, die eine Mehrheit in der Konferenz darstellen, mit den von der Union gestellten Innenministern und auch mit mir. Deshalb habe ich nicht vor, diesen Beschluß nach allen Ecken hin zu entschuldigen. Vielmehr stehe ich für diesen Beschluß ein; er ist der richtige Schritt und ein rücksichtsvoller Schritt in dieser Situation.
Es muß erst einmal jemand erklären, warum in eine Region, in die man freiwillig zurückkehren kann, in der man also ethnisch nicht gefährdet wäre, wenn man es täte, nicht auch jemand, der von dem Beschluß betroffen ist, mit ausländerrechtlichen Mitteln zurückgeführt werden kann? Wieso ist derjenige ethnisch mehr gefährdet, als jemand, der freiwillig dahin zurückkehrt? Das alles hält der Nachfrage nicht stand.
Ich brauche für die Vertretung dieser Politik keine lauten Töne; im ganzen Feld der Ausländerpolitik brauche ich die nicht.
Ich brauche eine klare und entschiedene Politik, die auch die betroffenen Menschen nachvollziehen können; das können sie auch. Bürgerkriegsflüchtlinge sind Gäste auf Zeit.
Das bedeutet, daß unter Rücksichtnahme auf die
Verhältnisse im Herkunftsland der Flüchtlinge nach
dem Ende des Bürgerkrieges vom Gastland auch die
Bundesminister Manfred Kanther
Aufenthaltsdauer bestimmt wird, wie lange die Gastfreiheit im Lande noch währt. Das hat auch etwas mit den Verhältnissen in unserem Land zu tun.
Nur wenn wir klarmachen, daß Bürgerkriegsflüchtlinge Gäste auf Zeit sind, Frau Kollegin, nur dann erhalten wir die Bereitschaft der Deutschen, m dieser großzügigen Weise zu hellen - vielleicht auch wieder einmal helfen zu müssen in dieser unruhigen Welt. Wir müssen dann nicht den Vorhalt befürchten, die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen sei immer nur eine andere Form von Einwanderung auf Dauer, die nicht erneut gewollt sei.
Nur wenn man argumentiert, wie die Innenminister es getan haben, kann man deutsche Hilfe auch in Zukunft bereitstellen; anderenfalls wäre dies ein einmaliger Fall gewesen. Ich hoffe, daß es so ist. Aber leider hat die Welt auch Züge, die einen daran zweifeln lassen, daß man davon sicher ausgehen kann. Deshalb bitte ich sehr, die Polemik zu diesem Punkt einzustellen und das Ganze auf die Basis eines sehr sachgerechten und rücksichtnehmenden Beschlusses der Innenminister, auf diese notwendige ausländerrechtliche Basis zu stellen.
Danke sehr!
Das Wort hat der Kollege Jupp Vosen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, daß uns irgendwelche markigen Sprüche - egal, von welcher Seite sie kommen - oder irgendwelche Ideologien an diesem Punkt nicht weiterhelfen. Wir haben hier ein wirklich praktisches Problem: Wie gehen die Menschen sozialverträglich und möglichst freiwillig zurück? Denn daß die Abschiebung in großem Ausmaß funktionieren würde, glaube ich nicht. So viele Abschiebehaftanstalten werden wir nicht haben. Das wird schwierig.
Bevor man abschiebt, kommt noch das Asylrecht dazwischen. Deutsche Gerichte - in sie habe ich nach wie vor ein großes Vertrauen - werden auf Gefahren für Leib und Leben der Menschen Rücksicht nehmen. Die Sache ist nicht so einfach.
Viele Kriegsflüchtlinge sind Vertriebene. So wie man Sudetendeutsche nach dem Krieg nicht in die damalige Tschechoslowakei zurückschicken konnte oder Donauschwaben nicht nach Restjugoslawien, kann man das heute mit vielen Kriegsflüchtlingen, die hier sind, auch nicht machen.
Es gibt Kriegsflüchtlinge, die zurückgehen können. Aber jeder Fall ist von Dorf zu Dorf selbst in der
Föderation, wie es Herr Schwarz-Schilling geschildert hat, unterschiedlich zu handhaben.
In die „Republik Srpska" werden Sie zur Zeit kaum einen Bosnier schicken können. Sie werden aber auch keinen Serben in die Föderation schicken können. Das wird belegt durch die Art und Weise, wie die Serben Sarajevo nach dem Friedensschluß von Dayton verlassen haben: Sie haben ihre Toten ausgegraben und mitgenommen. Ich habe das mit eigenen Augen gesehen.
Meine Damen und Herren, ich sage auch als Bürgermeister einer Stadt, die das Problem täglich handhaben muß, und als Außenpolitiker, der mehrmals dort war zu Zeiten, als Schnee lag und kaum einer von uns schon hingefahren war: Diese Dinge werden wir mit Augenmaß regeln müssen; da wird uns der Innenministererlaß, der in Teilen vielleicht hilfreich sein kann, nicht wesentlich weiterhelfen. Die deutschen Kommunen und die Bundesländer geben für diese Problemfälle zur Zeit im Jahr zwischen 3 und 4 Milliarden DM aus. Die meisten Mittel stellen die Kommunen zur Verfügung, aber sie kommen am wenigsten zu Wort. Sie sind und werden ja auch nicht gefragt.
Ich sage Ihnen: Dieses Geld ist vorhanden - teilweise für eine vernünftige Programmatik vor Ort, für vernünftige Rückkehrhilfen und nicht für Prämien, Frau Beck.
- Okay, dann war das jemand anders. Ich nehme es zurück. Sie haben übrigens die Lage treffend geschildert. Ich will Sie nicht kritisieren. Ich bin hier ein ganz konservativer Bürgermeister. Da ist nichts mit Rot-Grün.
Ich sage Ihnen das aus der Praxis.
Ein Teil dieses Geldes in vernünftige Wiederaufbau- und Rückführungsprogramme zu stecken ist eingespartes Geld in Deutschland;
denn dieses Geld auf viele Jahre hinaus weiterhin für Menschen auszugeben, die hier keine Perspektive haben können, kann nicht richtig sein. Das ist ein Appell an die Länder und Gemeinden, aber auch an den Bund.
Es kann doch nicht richtig sein, daß wir noch jahrelang die Bundeswehr dort im Lande haben müssen. Das kostet ja mit allen Hilfsprogrammen zusammen auch 1 Milliarde DM im Jahr. Auch hier muß es doch das Ziel des Bundes sein, dieses Geld nicht nur in militärische Maßnahmen, sondern vor allem in den zivilen Aufbau dieses Landes zu stecken.
Josef Vosen
Um so eher können wir unsere Bundeswehr wieder nach Hause holen, was wir doch letztlich alle wollen.
Hier muß ein Konsens über Bund, Länder und Gemeinden hinaus erreicht werden. An diesem Konsens mangelt es uns; das bedaure ich zutiefst. In diesem Parlament gibt es einzelne, die an die Vernunft appellieren. Nicht flotte Sprüche helfen weiter, sondern man muß genau hinschauen und dann die Projekte entwickeln, die die Europäische Union in der Menge, wie sie nötig sind, niemals entwickeln kann. Herr Kanther, Sie bemühen sich - ich weiß es - um Projekte; aber das sind nur Modelle. Wir brauchen diese Modelle in der Breite.
Der Deutsche Städtebund und der Deutsche Städtetag sind ebenso wie die Länder aufgerufen, auch die Bundesministerien - hier ist etwas mehr Koordination nötig: Auswärtiges Amt, BMZ, Innenministerium; manchmal weiß man gar nicht, wer zuständig ist - sowie die Europäische Union. Schließlich geht es nicht gegen das aufnehmende Land. Der dortige Flüchtlingsmininister fordert seit langem eine zentrale Ansprechstelle hier in Bonn. Glauben Sie, er unterschreibt das Rückkehrabkommen ohne vernünftige Hilfen? - Ich glaube das nicht. Da müßten wir noch lange warten.
Genauso wird Rest-Jugoslawien nicht ohne weiteres die Kosovo-Albaner zurücknehmen, bevor da etwas passiert. Auch Rest-Jugoslawien hat ja 400 000 serbische Flüchtlinge aufgenommen, die ebenfalls nach Bosnien, vermutlich in die Föderation, zurück wollen; denn von dort sind sie vertrieben worden. Was ist denn in Ostslawonien, wenn dort demnächst 200 000 Serben über ihren Status entscheiden müssen? Wird da ein zweites Sarajevo passieren? Gehen sie vielleicht nach Rest-Jugoslawien? Bleiben sie? Gehen sie in die „Republik Srpska"? Was ist mit den Krajina-Serben aus dem Brčko-Korridor? Gehen sie zurück in die Krajina? Lassen das die Kroaten zu? Wer spricht über so etwas?
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Nach Dayton I wird Dayton II kommen müssen. Der Vertrag von Dayton ist für den Frieden in diesem Land sehr wichtig gewesen: um endlich den Krieg zu stoppen. Aber wir werden noch nachschauen müssen, ob wir nicht Dayton II brauchen und den bestehenden Vertrag - wohlgemerkt unter Einbeziehung der örtlichen Politik - der heutigen Situation anpassen müssen. Das geht nicht über die Köpfe der Kroaten, der Bosnier und auch der Rest-Jugoslawen, also der Serben, hinweg. Wir werden sie darin einbeziehen müssen. Dies ist realistische Politik.
Wir kommen mit Beschimpfungen und Parolen nicht weiter. Laßt uns zusammenarbeiten, Projekte in der Menge und Breite formulieren! Darum bitte ich.
Das Wort hat der Kollege Meinrad Belle, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen von der Opposition, von einem Teil Ihrer heutigen Debattenbeiträge war ich enttäuscht. Ich bin der Meinung, das Thema der heutigen Aktuellen Stunde eignet sich wirklich nicht für parteipolitische Profilierungsübungen. Es eignet sich auch nicht für polemische Angriffe gegen den Innenminister. Unser Innenminister hat sich von Anfang an einer einheitlichen und klaren, aber auch zurückhaltenden Linie befleißigt. Ich habe in allen Innenausschußsitzungen gar nichts anderes vernommen; möglicherweise waren Sie in anderen Ausschußsitzungen.
Meine Damen, meine Herren, es ist eben ein erheblicher Unterschied, ob ich - wie in Baden-Württemberg - 54 000 Bürgerkriegsflüchtlinge habe oder 4 100 wie in Schleswig-Holstein. Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, vielen Dank für die lobenden Worte in Richtung Baden-Württemberg. Es wird dort auch gute Arbeit bei der Rückführung geleistet.
- Nicht nur, aber sie hat immerhin Baden-Württemberg besonders herausgehoben.
Mit 4 100 Flüchtlingen kann ich mich leicht zurücklehnen und, auf der humanitären Woge schwimmend, verkünden, daß die Rückführung erst ab 1. April 1997 beginnt. Als scheinheilig würde ich das Verhalten nicht gerade bezeichnen, aber ich meine, daß daraus doch jeder seine Schlüsse ziehen kann.
Als Politiker in der Gesamtverantwortung müssen wir, der menschlichen Dimensionen und Probleme voll bewußt, trotz allem nüchtern und realistisch an das Thema herangehen. Dazu möchte ich einige Feststellungen treffen.
Jedem Bürgerkriegsflüchtling war und ist klar, daß sein Aufenthalt in Deutschland nur vorübergehend sein kann. Der Wiederaufbau in Bosnien muß von den Bewohnern geleistet werden, natürlich mit Hilfe von außen, die ja auch geleistet wird. Wir fördern die freiwillige Rückkehr. Der Arbeitsstab des Bundesinnenministers bei der deutschen Botschaft in Sarajevo hat mit dem Pilotprojekt „Wiederaufbau im Kanton Una Sana" gute Arbeit geleistet. Wir danken - und das muß auch heute einmal erwähnt werden - den Mitgliedern dieses Arbeitsstabes für die enorme Arbeit und für den enormen Einsatz. Ausdrücklich begrüßen wir auch, daß es Innenminister Kanther und seinen Mitarbeitern gelungen ist, die Übernahme dieses Pilotprojektes durch die EU und die Bereitstellung von 10 Millionen ECU, also 18 Millionen DM, als Anschubfinanzierung noch in diesem Jahr zu erreichen.
Etwa 40 000 Flüchtlinge aus dem Bereich Una Sana sind zur Zeit in Deutschland. Wenn diese Zahl in einem ersten Schritt im nächsten halben Jahr zurückgeführt werden könnte, wären wir alle sehr zufrieden. Natürlich unterstützen wir von Deutschland aus auch weitere Selbsthilfeprojekte.
Die Bekanntgabe der Bundesregierung, daß ab 1. Oktober 1996 zwangsweise Rückführungen möglich sind, war - das weiß man doch - wegen der be-
Meinrad Belle
sonderen Signalwirkung unverzichtbar. Sie hat Signalwirkung einmal gegenüber den bosnischen Regierungsstellen, unter anderem wegen des Rücknahmeabkommens, aber sie hat natürlich auch Signalwirkung gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen in Deutschland. Sie wissen, daß sie nicht auf Dauer hierbleiben können. Fast alle kroatischen Bürgerkriegsflüchtlinge sind freiwillig zurückgegangen, nur ganz wenige mußten abgeschoben werden. Natürlich hat dazu auch die Androhung einer zwangsweisen Rückführung beigetragen. Warum soll dies bei den bosnischen Flüchtlingen anders sein?
Wir wollen die Aufnahmebereitschaft unserer Bürger für Flüchtlinge, die Gott sei Dank uneingeschränkt vorhanden ist, nicht aufs Spiel setzen. Daher fordern wir, mit uns die Mehrheit der Innenminister der SPD-geführten Bundesländer, die Bürgerkriegsflüchtlinge auf, in ihre - und jetzt kommt es - als sicher geltenden Herkunftsorte freiwillig zurückzukehren. In der ersten Phase werden unverheiratete Flüchtlinge ohne Kinder, ab 1. Juli 1997 auch Flüchtlinge mit Kindern zur Rückkehr aufgefordert. Die Möglichkeit der zwangsweisen Rückführung muß den zuständigen Stellen offenbleiben. Ich bin mir sicher, daß Bund und Länder die Flüchtlinge in menschlicher und auch anständiger Weise zurückführen werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Karsten Voigt, SPD.
Der heftige Streit hier im Bundestag, aber auch in der Öffentlichkeit über den Termin 1. Oktober ist ein Streit über ein Symbol, nicht über die Realität bzw. kaum über die Realität. Es kehren schon jetzt Flüchtlinge zurück; es werden auch im zweiten Halbjahr Flüchtlinge freiwillig zurückkehren, hoffentlich mehr. Die Hoffnung einiger CDU-Politiker, daß das Datum 1. Oktober zu einer größeren Zahl von zwangsweisen Rückführungen in diesem Jahr führen könnte, ist illusionär. Die Polemik der Grünen gegen diese Hoffnung, die keine Realität werden wird, ist ebenso nicht mit der Realität verbunden.
Das wahre Problem beginnt nämlich im Laufe des nächsten Jahres. Das ist das Problem: Was passiert mit denjenigen - das ist wahrscheinlich jetzt schon die Mehrheit der bei uns lebenden Flüchtlinge; wenn mehr zurückkehren, wird es bestimmt die Mehrheit derjenigen werden, die hier leben -, die aus Gebieten stammen, die heute von Serben dominiert werden, wo aber Muslime und Flüchtlinge hingehören, oder wo es umgekehrt ist, wo also Serben hingehören?
Im Dayton-Abkommen ist vorgesehen, daß sie in ihre Heimat sollen zurückkehren können. Dafür bin ich, dafür sind wir alle. Ich glaube, daß man diesen Prozeß mit politischen und ökonomischen Maßnahmen so weit wie möglich von außen fördern soll. Aber, Herr Schwarz-Schilling, dieser Prozeß ist von außen nicht erzwingbar.
Es ist richtig, daß wir mit militärischen Maßnahmen nicht erzwingen können, daß es ein friedliches Nebeneinander gibt. Ein friedliches Miteinander ist mit militärischen Mitteln - auch wenn es mehr als 70 000 Soldaten wären - nicht erzwingbar.
Wir können Kriegsverbrecher festnehmen; ich bin dafür. Aber daß Leute in der Nachbarschaft sich wechselseitig tolerieren, ist Ausfluß einer zivilen politischen Kultur, einer demokratischen Kultur, die man letzten Endes durch kein Mittel von außen erzwingen kann.
Dieser Frage müssen wir uns stellen, um sie dürfen wir uns nicht herummogeln. Ich hoffe, daß ich mit meiner Skepsis unrecht habe, und ich möchte, daß es dort wieder zu einer pluralistischen Demokratie kommt.
Wenn es nicht dazu kommt, stehen wir vor einem Dilemma. Denn wenn wir dann trotzdem zwangsweise zurückführen, verstärken wir die ethnische Trennung, was keiner von uns will.
Wenn wir sie nicht zurückführen, bedeutet das, daß die ethnische Trennung dort zwar erhalten bleibt, aber nicht durch uns zusätzlich vertieft wird, daß aber wahrscheinlich über 50 Prozent der Flüchtlinge auf Dauer bei uns bleiben werden.
Das ist das eigentliche Problem und Dilemma, vor dem wir stehen, und nicht der 1. Oktober!
Der 1. Oktober ist nicht eine Frage der massenweisen Rückführung, sondern die Frage nach dem Beginn eines Prozesses, in dem Leute freiwillig in ihre Heimat zurückkehren. Hoffentlich wird keiner zwangsweise zurückgebracht. Darin bin ich anderer Meinung als die CDU/CSU. Aber die Frage, daß jemand in ein Gebiet zurückgeführt wird, aus dem er ursprünglich gar nicht kommt, wo heute eine andere ethnische Majorität herrscht, hat doch in diesem Plenum keiner gestellt.
Deshalb kommt ein anderes Problem auf uns zu.
- Die wollen zurück. Wir haben schon bei den Wahlen gesehen, welche gewaltsamen Auseinandersetzungen es gegeben hat. Nicht einmal die IFOR-Truppen haben in den jeweiligen Heimatorten den Wahlgang erzwingen können. Wie können wir dann mit IFOR-Truppen oder irgendwelchen anderen ein friedliches Zusammenleben erzwingen? Das kann nur in der Gesellschaft selbst wachsen, oder es wird nicht wachsen. Dieses Dilemma kommt immer mehr auf uns zu.
Karsten D. Voigt
Nun kommt ein Zweites. Während wir hier über die Rückkehr der Flüchtlinge reden, haben wir - wenn wir nicht auf Bosnien allein sehen, sondern auf das ehemalige Jugoslawien insgesamt - die Situation, daß pro Monat doppelt soviel Flüchtlinge neu nach Deutschland kommen, wie freiwillig dorthin zurückkehren. Das ist eine Realität, die heute keiner ausgesprochen hat. Das betrifft besonders Flüchtlinge aus dem Kosovo.
Jetzt stellt sich in dieser Debatte nicht nur die Frage, wie wir erreichen, daß Flüchtlinge freiwillig zurückkehren, sondern auch die Frage, wie wir verhindern, daß neue Flüchtlingsströme entstehen.
Ohne eine Lösung des Kosovo-Problems, das immer explosiver wird, wird es neue Flüchtlinge geben, ganz egal, was die Bundesregierung beschließt.
Und ich sage jetzt an die Adresse einiger Grüner, nicht der Grünen insgesamt: Ohne IFOR II wird es neue Flüchtlinge geben. Es stellt sich letzten Endes die Frage, wie man das verhindern kann. Deshalb muß über die Post-IFOR-Situation gesprochen werden, was heute allerdings nicht geschehen ist.
Die Aussage von Frau Jelpke, daß es dort um Kampfeinsätze gehe, geht völlig an der Sache vorbei. Es geht um Kampfverhinderungseinsätze, wenn man überhaupt einen derartigen Begriff dafür wählen darf.
Derjenige, der gegen Post-IFOR ist, will das zwar nicht, bewirkt aber objektiv, daß es mehr Flüchtlinge geben wird. Ich unterstelle nicht, daß dies die Absicht ist; aber es ist die Wirkung.
Derjenige, der nicht dafür sorgt, daß diese Truppen gut ausgerüstet sind, wird ermöglichen, daß sie angegriffen werden, wie das bei UNPROFOR geschehen ist. Das heißt, eine gute Ausrüstung ist die Voraussetzung für die Verhinderung von neuen Kämpfen.
Deshalb müssen wir in diesem Zusammenhang erstens sagen, daß wir gegen eine zwangsweise Rückführung in diesem Jahr sind. Das ist unsere Position. Zweitens müssen wir fragen: Was machen wir mit denen, denen wir versprochen haben, daß sie in ihre Heimat zurückkehren können, die das aber möglicherweise nicht tun können? Da setzt unser konzeptionelles, politisches und - was die Flüchtlinge betrifft - auch praktisches Dilemma ein.
Schrittweise müssen wir erreichen, daß es keine neuen Kampfhandlungen dort gibt - Stichwort: IFOR II. Wie verhindern wir, daß dort wie im Kosovo überhaupt Kämpfe entstehen? - Das ist die Frage nach unserem Post-Jugoslawien-Konzept. In diesem Bereich mangelt es. Ich möchte nicht, daß wir uns in einem Jahr vorwerfen, das in diesem Jahr nicht diskutiert zu haben. In Wirklichkeit hätten wir es schon viel früher diskutieren müssen. Auch das gehört in diese Diskussion.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Voigt, ich halte vieles von dem, was Sie eben gesagt haben, für richtig. Allerdings möchte ich den Eindruck vermeiden, als hänge die Lösung der schwierigen Fragen in Bosnien-Herzegowina von deutschen politischen Entscheidungen ab.
Sicherlich sind wir Teil der Europäischen Union; natürlich haben wir unseren Anteil an den Hilfsmaßnahmen. Letztendlich müssen die Dinge aber vor Ort geregelt werden. Das ist die erste Prämisse. Es ist ein Irrtum, zu glauben, wir in Deutschland könnten letztlich den Frieden in Bosnien-Herzegowina sichern oder entscheidend beeinflussen. Denn die Voraussetzungen dafür müssen dort geschaffen werden.
Auch ein anderes ist klar: Die Bundesregierung kann Verträge über die Durchführung der Rückführung von Flüchtlingen nur dann schließen, wenn bei uns eine einvernehmliche politische Grundeinstellung herrscht. Mit Ausnahme der Grünen wird einvernehmlich gesagt, daß Flüchtlinge nur Gäste auf Zeit sind und daß man davon ausgehen muß, daß sie in ihr Heimatland zurückkehren sollen und müssen.
Natürlich sind wir alle der Auffassung, daß das sehr schonend geschehen soll und daß man eine Einzelfallprüfung braucht.
Ich glaube, es ist auch klar, daß das Dayton-Konzept, das nur von einer Freiwilligkeit ausgeht, eine Fehllösung ist. Denn bei den Unterschieden der sozialen Gegebenheiten bei uns und in diesem schrecklich geschundenen Land werden nicht alle Menschen freiwillig gehen. Auch das muß man einmal laut sagen. Deswegen ist für das weitere Verfahren sehr entscheidend, welche Entschlossenheit die deutsche Politik zeigt, dort zu helfen.
Wir tun das als Teil der EU; daran gibt es sicherlich zu kritisieren, wieso die Europäische Union auf diese Art und Weise hilft und wieso das so bürokratisch und institutionell geschieht. Wir müssen aber auch sehen, daß in der deutschen Bevölkerung spürbar erwartet wird, mit der Rückführung zu beginnen. Es ist auch klar, daß der Vorrang bei freiwilliger Rückkehr liegen soll. Letztlich wird es aber nicht ohne Zwang gehen.
Ich wiederhole das, was der Innenminister gesagt hat. Gegenüber demjenigen, der zurückkehren
Wolfgang Zeitlmann
kann, muß es im Weigerungsfalle möglich sein, Zwang anzuwenden. Das ist auch notwendig, um die Akzeptanz von Flüchtlingen in der deutschen Bevölkerung zu erhalten. Es ist eine große Notwendigkeit, daß die deutsche Öffentlichkeit erfährt, daß sie nicht über die Maßen beansprucht wird.
In dieser Diskussion finde ich allerdings eines nicht ganz gerecht, nämlich daß von seiten des Bundesrates immer auf die Bundesregierung verwiesen wird, wenn es um die Kosten geht. Jeder kennt die Rechtslage: Nach der Verfassung sind die Länder und Kommunen zuständig. Dieses Thema haben wir schon beim Asylkompromiß diskutiert. Ich erinnere mich sehr gut daran, daß der von uns geschätzte Kollege Wartenberg von der SPD - jetzt ist er Staatssekretär in Berlin - in diesem Hause an die Adresse der Länder gesagt hat: Es muß ein Wandel her.
Ich bleibe dabei: Damals sind wir davon ausgegangen, daß die Länder und nicht der Bund zuständig sind. Ich verstehe, daß die Länder gerne den Bund zur Kasse bitten wollen. Bei der derzeitigen finanziellen Situation ist es aber nicht realistisch, zu sagen, der Bund müsse hier finanziell unterstützen. Dann muß es im Gesamtsystem des Finanzausgleichs von
Bund und Ländern Veränderungen geben. Aber jetzt so zu tun, als ob der Bund hier etwas zugesagt hätte und jetzt im Wort stünde, ist nicht fair.
Ich glaube wirklich, die Diskussion hat eines deutlich gemacht: Der Entscheid der Innenminister ist abgewogen. Es muß begonnen werden. Es sollen Einzelprüfungen stattfinden, Freiwilligkeit soll Vorrang haben. Ich halte diese Lösung für richtig. Vor allen Dingen wird - das ist das Entscheidende für die deutsche Öffentlichkeit - mit Rückführungen begonnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 26. September, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.