Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich den Präsidenten des makedonischen Parlaments, Herrn Tito Petkovski, und seine Delegation, die auf der Tribüne Platz genommen haben, ganz herzlich begrüßen.
Mit viel Sympathie und Bewunderung haben wir die positive Entwicklung Ihres Landes unter den schwierigen Bedingungen der letzten Jahre mitverfolgt und freuen uns sehr über die Gelegenheit, durch die vielfältigen Begegnungen und Gespräche anläßlich Ihres Besuches, Herr Präsident, unsere Beziehungen zu Makedonien weiter vertiefen zu können.Es ist gut zu wissen, daß der Krieg in Ihrem Nachbarland zu Ende ist, aber wir wissen auch, daß der Frieden noch nicht gesichert ist. Wir hoffen, daß die ganze Region befriedet wird und daß Sie zu normalen Lebensverhältnissen zurückkehren können. Seien Sie sich unserer Unterstützung in diesem Prozeß gewiß.Wir wünschen Ihnen einen gewinnbringenden Besuch und uns weiterhin gute parlamentarische Beziehungen. Herzlich willkommen!
Nachträglich möchte ich der Kollegin Hanna Wolf , die am 14. Juni ihren 60. Geburtstag feierte, die herzlichsten Glückwünsche des Hauses aussprechen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz , Antje Hermenau, Vera Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neue Impulse für den Aufbau Ost - Drucksache 13/4946 -3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr-Ing. Paul Krüger, Gunnar Uldall, Dr. Hermann Pohler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Rainer Ortleb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Aufbau Ost vorantreiben - Drucksache 13/4979 -4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Bundespolitische Konsequenzen zur Rettung des Wattenmeeres5. - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dietrich Austermann, Dr. Peter Ramsauer, Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Birgit Homburger, Jürgen Koppelin, Hildebrecht Braun , Dr. Klaus Röhl und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs - Drucksachen 13/1733, 13/4978 -- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dietmar Schütz , Volker Jung (Düsseldorf), Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs - Drucksachen 13/1736, 13/4978 -- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs - Drucksache 13/2208, 13/4978 -6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Tilo Braune, Dr. Edelbert Richter, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neue Akzente bei der Förderung der Industrieforschung in den neuen Ländern- Drucksache 13/4967 -7. Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dauerhafte Beschäftigungen sozialversichern- Drucksache 13/4969 -8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar Schultz , Ingrid Becker-Inglau, Adelheid Tröscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Siedlungspolitik mit der Agenda von Habitat II in Einklang bringen - Drucksache 13/4966 -9. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Änderung des .,Sommersmog-Gesetzes" - Drucksache 13/4974 -Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist - abgewichen werden.Nach der Kernzeit und den Beratungen ohne Aussprache soll zunächst die Aktuelle Stunde zur Rettung des Wattenmeeres stattfinden. Hieran anschließend soll der Antrag zur Menschenrechtssituation in Tibet beraten werden. Die ursprünglich unmittelbar nach der Kernzeit vorgesehene Beratung des Kraftfahrzeugsteuer-Änderungsgesetzes soll erst nach der wohnungspolitischen Debatte aufgerufen werden.Außerdem sollen der Tagesordnungspunkt 7 j - das ist eine der Vorlagen aus der wohnungspolitischen
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10008 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthDebatte -, die Tagesordnungspunkte 12a bis 12c, „Expo 2000", sowie der Tagesordnungspunkt 13, Beschlußempfehlung zur „Errichtung einer Otto-von-Bismarck-Stiftung", und die Tagesordnungspunkte 21a und b, die ohne Debatte vorgesehen waren, abgesetzt werden.Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung
- Drucksache 13/4941 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten VerteidigungsausschußAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschußb) - Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Manfred Müller und den weiteren Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (§ 116)- Drucksache 13/581 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Annelie Buntenbach, Kerstin Müller , Elisabeth Altmann und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (§ 116)- Drucksache 13/691 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen- Drucksache 13/715 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/2727 -Berichterstattung: Abgeordneter Adolf Ostertagc) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Petra Bläss und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes - Nichtberücksichtigung der Kirchensteuer in den neuen Ländern- Drucksache 13/1843 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/3206 -Berichterstattung:Abgeordnete Marieluise Beck
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Zeit von zwei Stunden vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Arbeitsförderungsgesetz ist 27 Jahre alt. Es hat große Verdienste. Es hat den Strukturwandel begleitet und unterstützt. Seine größte Bewährungsprobe hat es in Sachen deutsche Einheit bestanden. Über Nacht stand die Arbeitsmarktpolitik auf der Seite derjenigen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben.
Trotz all dieser Verdienste - das Gute muß dem Besseren weichen.
Das Arbeitsförderungsgesetz hat zehn Novellen erlebt. Nach hundert Veränderungen ist es kaum noch lesbar. Die Gefahr ist groß, daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Deshalb machen wir eine Reform und kein Reförmchen. Das ist eine Generalüberholung und keine Reparatur.
Reform ist für mich immer eine Mischung aus Erhalten und Verändern. Wir machen nicht Tabula rasa. Aber wir gießen auch nicht die Unveränderbarkeit in Beton.
Die Arbeitsmarktpolitik ist wichtig und unverzichtbar. Dennoch - das sage ich gerade an die Adresse der SPD - schafft die Arbeitsmarktpolitik keine Arbeitsplätze. Sie flankiert, aber sie schafft die Arbeitsplätze nicht. Das AFG ersetzt nicht die Verantwortung der Unternehmer für Arbeitsplätze.
Das AFG ersetzt nicht die Verantwortung der Sozialpartner für Arbeitsplätze. Das AFG ersetzt nicht die Verantwortung von Regional-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Arbeitsmarktpolitik erfüllt ihre
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Aufgabe durch die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes.
Wir sparen und gestalten. Machen Sie den Erfolg einer Politik nicht allein davon abhängig, wieviel Geld verteilt wird. Das ist die bevorzugte Kategorie der SPD, nämlich die Geldmenge zum Maßstab für Qualität zu machen. Es kommt nicht nur auf Geld an. Es kommt auf Geist und Ideen an. Wenn das Geld darüber entscheiden würde, müßten die reichsten Leute die intelligentesten sein. Das sind sie aber nicht. Das sagt noch nicht einmal die SPD.
Wenn das Geld knapp wird, dann muß man sparsam mit dem Geld umgehen. Insofern sind knappe Kassen auch eine Geburtshilfe für neue Ideen. Bevor wir eine Mark ausgeben, müssen wir zweimal überlegen, ob sie an der richtigen Stelle ankommt. Insofern geht es auch um die Zielgenauigkeit und Effektivität der Hilfen.
Der erste Grundsatz, auch für die Arbeitsmarktpolitik: Selbsthilfe ist besser als Fremdhilfe. Zweitens: Arbeit ist besser als Unterstützung. Lohn aus Arbeit ist besser als jedes Arbeitslosengeld.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Enkelmann?
Gut. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß es bei der Einbringung nicht üblich ist, Zwischenfragen zu stellen. Aber ich bin großzügig. Bitte schön.
Ich bedanke mich, Herr Minister. Vielleicht können Sie folgendes aufklären: Momentan ist auf dem Monitor zu lesen, daß wir zur Zeit das „Arbeitgeberförderungsgesetz" behandeln. Hat die Bundesregierung möglicherweise den Titel des Gesetzes geändert?
Frau Kollegin, Sie haben schon bessere Witze als diesen gemacht.
Insofern bedauere ich Ihre Frage. Wenn Sie nichts anderes als den Hinweis auf Druckfehler zu bieten haben, wenn es nicht mehr Einwände gibt, dann sind wir ja in guter Verfassung.
Im Mittelpunkt dieses Gesetzes steht Entlassung vermeiden helfen, Einstieg in die Arbeit erleichtern, Rückkehr in die Arbeit fördern. Die erste Aufgabe ist Vermittlung verbessern. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit beträgt im Westen sieben Monate und eine Woche, im Osten sieben Monate und zwei Wochen. Würden wir durch bessere Vermittlung die
Dauer der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit nur um einen Monat verkürzen, wäre zum einen dem Arbeitslosen geholfen und brächte zum anderen eine Entlastung von 7 Milliarden DM. Ich wiederhole: Ein Monat weniger bringt 7 Milliarden DM, das heißt einen halben Prozentpunkt.
Deshalb meine Aufforderung auch an die Arbeitgeber: Melden Sie jede offene Stelle schnell dem Arbeitsamt, und zwar nicht übermorgen, sondern heute! Wir haben keinen Tag für Einstellungen zu verlieren.
Am schwersten haben es bei der Vermittlung die Langzeitarbeitslosen. In der Statistik zählen wir die Fälle, wobei dieses Wort einen Zug von Zynismus und Unmenschlichkeit hat. Die Betroffenheit der Arbeitslosen und Härte der Arbeitslosigkeit sind nämlich höchst unterschiedlich. Zwei Drittel der Arbeitslosen sind unter sechs Monaten arbeitslos, 30 Prozent sogar unter drei Monaten. Deren Schicksal und deren Lage ist nicht mit denjenigen zu vergleichen, die lange arbeitslos sind; das sind ein Drittel. Es macht einen großen Unterschied, ob ich drei Jahre oder drei Monate arbeitslos bin.
Deshalb: Konzentration auf diejenigen, die es besonders schwer haben. Dies geschieht zum einen mit unserem Langzeitarbeitslosenprogramm, das sehr erfolgreich und milliardenschwer ist. Zudem wurden Trainingsmaßnahmen neu aufgenommen.
Wir wollen den Langzeitarbeitslosen auch helfen, ihre Eignung zu testen. Wir wollen ihnen bei der Bewerbung helfen. Es geht darum, Resignation zu vermeiden. Es geht darum, daß die Langzeitarbeitslosen nicht in einem toten Winkel der Aufmerksamkeit, in einer dunklen Ecke der Resignation verharren.
Deshalb bieten wir einen Eingliederungsvertrag an. Das ist neu. Ich empfehle ihn den Personalchefs sowie den Betriebs- und Personalräten. Bei dem, der einen Langzeitarbeitslosen einstellt, übernimmt die Bundesanstalt für Arbeit in den ersten sechs Monaten das Risiko der Lohnfortzahlung, weil es sich herausgestellt hat, daß die Angst besteht - ob zu Recht oder zu Unrecht, lassen wir beiseite -: zwei Tage im Betrieb, sechs Wochen Lohnfortzahlung. Ich möchte Brücken bauen in den Arbeitsmarkt. Schutz darf nicht Aussperrung sein.
- Ich weiß, Sie stehen bei der Entlassung an der Ausgangstür und helfen den Arbeitslosen; das ist ja auch richtig. Ich stehe an der Eingangstür. Sie polstern die Ausgangstür, wir verbreitern die Eingangstür. Das ist der Unterschied.
Ich bin dafür, daß den Arbeitslosen geholfen wird. Ich zerbreche mir aber nicht nur darüber den Kopf, wie man ihnen hilft, ihre Arbeitslosigkeit zu ertragen, sondern ich zerbreche mir auch den Kopf, wie
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
wir es schaffen, daß sie wieder in den Betrieb hineinkommen. Das ist das erste Ziel.
Das Arbeitsamt ist verpflichtet, spätestens nach sechs Monaten ein Gespräch mit dem Arbeitslosen zu führen: Was kann er selber tun, und was kann für ihn getan werden? Denn die Gefahr ist groß, daß gerade die Langzeitarbeitslosen vergessen werden. Sie sind am schwersten vermittelbar. Man muß der Versuchung des Langzeitarbeitslosen, in Resignation zu versinken, und des Arbeitsamtes, ihn zu vergessen, entgegenwirken.
Deshalb machen wir ja ein Langzeitarbeitslosenprogramm, das im übrigen erfolgreich ist. Trotz gestiegener Arbeitslosigkeit ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen im letzten Jahr nicht gestiegen, was ich auch für ein Ergebnis unserer Anstrengungen halte.
Der zweite Arbeitsmarkt: Ich lasse ihn mir nicht madig machen. Wir brauchen ihn. Wir brauchen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Wir brauchen Fortbildung und Umschulung. Aber der zweite Arbeitsmarkt ist der zweite Arbeitsmarkt, und zwar nicht nur in der Reihenfolge, sondern auch in der Rangfolge. Der zweite Arbeitsmarkt muß Brücke sein, er darf nicht Parkplatz werden. Insofern muß man ihn auf den ersten Arbeitsmarkt richten. Es muß ein Anreiz bestehen, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen.
Deshalb sollten die Löhne auf dem zweiten Arbeitsmarkt zu denen auf dem ersten Arbeitsmarkt Abstand haben. Darum gewähren wir bei einem Einstiegstarif einen Zuschuß von 90 Prozent und ohne Einstiegstarif einen niedrigeren Zuschuß. Wir wollen helfen, daß dieser Abstand bleibt und ein Anreiz erhalten bleibt.
Ich weiß, daß die SPD fast alle Probleme über diesen zweiten Arbeitsmarkt lösen will.
Ich will ein Beispiel nennen. 1950 hatten wir 21 Millionen Erwerbstätige im Westen, 5 Millionen in der Landwirtschaft; das waren 25 Prozent. Heute haben wir 28 Millionen Beschäftigte und 0,8 Millionen in der Landwirtschaft; das sind 3 Prozent.
Nach Ihrem Motto hätten wir heute 4 Millionen ABM für in der Landwirtschaft Beschäftigte aus 1950. ABM ist doch keine Verweilangelegenheit! ABM muß den Strukturwandel begleiten, darf sich allerdings nicht festsetzen. Das ist nicht das bequeme Ruhekissen der Arbeitsmarktpolitik.
Das gilt auch für die neuen Länder; denn dort haben wir mit einem großen Programm von ABM geholfen. Das war auch richtig, und es muß auch weiterhin geholfen werden. Aber wir müssen langsam zurückfahren.
Bei F und U, Fortbildung und Umschulung, haben inzwischen 3 Millionen Arbeitslose in den neuen Bundesländern Weiterbildungsmaßnahmen in Anspruch genommen. Das ist jeder zweite. Wenn wir so weitermachen, wird es demnächst jeder sein. Wenn wir dann noch weitermachten, dann müßten sie sich im Kreisverkehr bewegen. Das kann doch nicht der Sinn sein.
Obwohl wir Arbeitsmarktpolitik zurückgefahren haben, ist die Arbeitslosigkeit im Osten nicht gestiegen. Sie muß sinken - nicht daß jemand meint, ich sei damit zufrieden. Aber obwohl wir die Arbeitsmarktpolitik in ihrem Entlastungseffekt halbiert haben, ist die Arbeitslosigkeit nicht im gleichen Maße gestiegen. Sie sehen, es bewegt sich etwas. Die Bewegung muß dem ersten Arbeitsmarkt gelten.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Steen?
Nein, ich möchte das jetzt im Zusammenhang darlegen.
Lohnkostenzuschüsse, fast ein Buch mit sieben Siegeln. Sie brauchen schon einen Lohnkostenberater, wenn Sie alles durchschauen wollen. Wir fassen sie zusammen, denn die Hilfe muß ja bei denen ankommen, die nicht Tag und Nacht Gesetze lesen.
Das tun weder die Arbeitslosen noch der kleine Handwerksmeister. Was nützt das schönste Gesetz, wenn es nur noch Fachleute verstehen? Deshalb ist diese Zuschußinflation zu einem Eingliederungszuschuß zusammengefaßt.
Wir unterstützen den Ausgang aus der Arbeitslosigkeit in die Selbständigkeit. Auch das ist ein Weg, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. 70 000 Arbeitslose haben im letzten Jahr auf diesem Wege Arbeit gefunden, haben sich selbständig gemacht, unterstützt von der Bundesanstalt für Arbeit. In diesem Jahr sind es bis April schon 27 000, also vergleichweise mehr.
Wir unterstützen das mit Überbrückungsgeld. Wer sich selbständig macht, muß nicht Angst haben, sofort aus sozialer Sicherheit herauszufallen, wenn es schiefgeht. Wir begleiten ihn zunächst mit seinen Ansprüchen, damit die Angst, er würde ins Nichts fallen, nicht seine Selbständigkeit behindert.
Es ist ja auch so, daß ein Selbständiger viele Arbeitsplätze schafft. Deshalb wollen wir auch Lohnkostenzuschüsse in gesonderter Weise für Selbständige schaffen, die Arbeitslose einstellen.
Zu den Frauen. Meine Damen und Herren, auch Sie gehören zu den Gruppen, die besondere Unterstützung erhalten. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld für Frauen, die ihre Erwerbsarbeit unterbrochen haben - es sind ja gerade die Frauen, die sie der Kindererziehung wegen unterbrechen -, bleibt nicht nur
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
im Rahmen der drei Jahre erhalten wie bisher, wir verdoppeln ihn auf sechs Jahre. Sie sehen, wir sparen nicht nur, es ist kein hirnloses Einsammeln, sondern wir helfen. Wer die Erwerbsarbeit wegen Kindererziehung oder Pflege unterbricht, behält die Möglichkeit zur Weiterbildung unbefristet. Wenn sie zurückkommt, kann sie sich durch Weiterbildung für die Rückkehr fit machen und neue Chancen für die Eingliederung erhalten. Auch hier gibt es Lohnkostenzuschüsse.
Ein weiterer wichtiger Punkt - ich kann das Gesetz nur zusammengefaßt darstellen -: Die Bundesanstalt für Arbeit leistet eine gute Arbeit, aber sie kann noch besser werden. Sie ist ein Koloß und steht auf dem Kopf, auf der Bundesanstaltszentrale in Nürnberg. Wir wollen diesen Koloß Bundesanstalt für Arbeit vom Kopf auf die Füße stellen und mehr Entscheidung, mehr Kreativität, mehr Verantwortung vor Ort schaffen. Dort weiß man es besser als in jeder Zentrale.
Das Arbeitsamt Bremen hat wahrscheinlich ganz andere Probleme als das Arbeitsamt Traunstein. Bei dem einen geht es um die Werftarbeiter, die anderen suchen Arbeitnehmer für die Gastronomie. Wenn alles über eine Schablone gezogen wird, dann kann die Arbeitsmarktpolitik nicht helfen.
Deshalb laßt die Menschen in Selbstverwaltung vor Ort entscheiden, was sie machen! Sie bekommen einen Eingliederungshaushalt, und dann sollen sie entscheiden, was sie davon für ABM nehmen, was für Fortbildung, für Lohnkostenzuschüsse, und mit fünf Prozent sollen sie machen können, was sie wollen. Traut den Menschen mehr zu! Schreibt ihnen nicht alles vor! Auch die Selbstverwaltung, auch die Arbeitsämter sind alle volljährig. Die wissen es besser als jede Zentrale. Deshalb mehr Macht vor Ort! Das ist eine Maxime.
Dann haben wir den wichtigen Punkt Solidarität. Solidarität - vielleicht ist das wichtig - ist für mich eine moralische Kategorie, nicht nur eine Geldverteilungskategorie. Solidarität ist schutzwürdig, aber auch schutzbedürftig. Solidarität hat nicht nur Rechte, Solidarität hat auch Pflichten. Deshalb müssen Solidarität und Sozialkassen auch vor Mißbrauch geschützt werden, wie jede Kasse, auch die jedes Finanzamtes.
Die Zumutbarkeit definieren wir eindeutig, und zwar jetzt im Gesetz und nicht in tausend Anordnungen. Wir nehmen den Berufsschutz weg; das ist richtig. Bisher gab es eine Hierarchie: Akademiker, Meister, Facharbeiter, Angelernter, Ungelernter, und zunächst war dem Arbeitslosen nur die Arbeit in der alten Berufskategorie zuzumuten. Haben Sie nicht den Eindruck, das stammt aus dem 19. Jahrhundert? Wir versichern doch kein Diplom, wir versichern Einkommen! Diese berufsständische Ordnung gehört ins 19. Jahrhundert. Auch ein Arbeitnehmer im Betrieb,
auch ein Facharbeiter im Betrieb muß möglicherweise als Angelernter arbeiten, und mancher Angelernte hat einen höheren Verdienst als ein Facharbeiter. Das stimmt doch alles nicht mehr. Berufe wechseln, und deshalb weg mit dieser Hackordnung! Wir versichern das Einkommen. Der Beitrag ist nicht vom Diplom, sondern vom Einkommen bezahlt worden. Das finde ich fortschrittlich, auch im Sinne einer klaren Übersichtlichkeit.
Dann sind in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit Arbeiten zumutbar, mit denen 20 Prozent weniger verdient wird, als der Verdienst vor der Arbeitslosigkeit ausmachte, in den nächsten drei Monaten solche Arbeiten, mit denen 30 Prozent weniger verdient wird. Nach einem halben Jahr wird auch Arbeit zumutbar, wenn der durch sie erzielte Verdienst auf der Höhe des Arbeitslosengeldes liegt.
Ich verstehe die Kritik daran nicht. Arbeit schändet doch nicht, Arbeit ist doch keine Krankheit. Hauptsache, der Mann oder die Frau hat Arbeit! Es ist doch zumutbar zu arbeiten, wenn der Verdienst unterhalb dessen liegt, was man bisher gewohnt war. Anderenfalls würden wir ja eine Gesellschaft wie eine Zementfabrik einrichten, die sich gar nicht mehr bewegt. Mobilität wird doch nicht nur von den Arbeitslosen verlangt, sondern auch von den Arbeitnehmern im Betrieb.
- Das ist es ja, was ich sage: Ihr denkt nur in Mark und Pfennig. Etwas anderes fällt euch nicht ein, liebe Sozialdemokraten. Ihr seid im Gehirn ausgeblutet.
Es geht darum, Bewegung zu schaffen, nicht darum, nur in Mark und Pfennig zu rechnen. Im übrigen wird das Geld von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt. Das bezahlen weder Sie noch ich.
Es gilt doch auch, die Beitragssätze zurückzunehmen, damit neue Arbeitsplätze entstehen. Wir sparen doch nicht, weil es uns Spaß macht. Mir macht Sparen nicht Spaß, mir macht Ausgeben Spaß, privat wie öffentlich. Gleichwohl muß gespart werden, damit mehr Arbeitsplätze entstehen. Das ist das Gebot der Stunde.
Zu den Neuregelungen gehört auch, daß die Arbeitslosenmeldung nur für drei Monate gilt. Es heißt also nicht mehr: einmal arbeitslos gemeldet, immer arbeitslos gemeldet. Ist es denn für einen Mann oder eine Frau unzumutbar, der oder die arbeitslos ist, alle drei Monate zum Arbeitsamt zu gehen und sich dort zu melden? In welcher Welt leben Sie denn? Ich finde, es ist deshalb zumutbar, weil man auch verhindern muß, daß sich jemand arbeitslos meldet, sozusagen vom Arbeitsmarkt abmeldet, und in der
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Schwarzarbeit verschwindet. Das kann auch nicht Sinn der Arbeitsförderung sein.
Es ist ja viel über diese Reform geredet worden. Unter anderem hieß es, wir würden das Arbeitslosengeld kürzen. Selbst als kirchliche Botschaft habe ich das am vergangenen Samstag auf der Demonstration gehört. Liebe Frau Jepsen, du sollst kein falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Das ist ein christliches Gebot. Das Arbeitslosengeld wird nicht gekürzt; alles andere ist eine Falschmeldung.
Verändert wird lediglich die Bezugsdauer bei Arbeitslosigkeit. Die Verlängerung dieser Bezugsdauer ist übrigens durch uns erfolgt. In Zukunft soll die verlängerte Bezugsdauer nicht mehr mit dem 42. Lebensjahr, sondern erst mit dem 45. Lebensjahr beginnen. Da die Altersgrenze angehoben ist, ist es auch logisch, die verlängerte Bezugsdauer um drei Jahre zu verschieben.
- Nein, Ihr Einwand ist nicht richtig. Die Aussage, das Arbeitslosengeld werde gekürzt, wird von der Mehrzahl der Zuhörer so verstanden, wir wollten das Arbeitslosengeld absenken. Wir beginnen statt dessen mit der verlängerten Bezugsdauer bei Arbeitslosigkeit später. Das ist ein elementarer Unterschied zur Absenkung des Arbeitslosengeldes.
- Ja, das war eine halbe Wahrheit, und die ist schlimmer als eine ganze Unwahrheit. Das ist richtig.
Die Abfindung wird auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Im übrigen gibt es das schon im jetzigen Recht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Die SPD hat im Wahlkampf gesagt: Arbeit, Arbeit, Arbeit! Nicht jeder, der „Herr, Herr, Herr!" sagt, kommt ins Himmelreich. Das ist ein biblisches Wort. Mit dem Ruf „Arbeit, Arbeit, Arbeit!" haben Sie nichts verändert. Es kommt auf konkrete Politik an, die darauf ausgerichtet ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosen wieder in Arbeit zu bringen,
und zwar in den ersten Arbeitsmarkt. Dazu leistet das AFG seinen Dienst, dazu müssen die Unternehmer ihren Dienst leisten.
Mein Appell an die Unternehmer: Der Erfolg eines Managers kann weniger an der Zahl der Entlassenen gemessen werden. Vielmehr muß der Manager gelobt und unterstützt werden, der einstellt. Jetzt gilt Backen, nicht Schlachten.
Wir brauchen auch eine neue Wertschätzung der Anstrengung, neu einzustellen. Nicht der ist zu loben, der sich damit brüstet, wie viele freigesetzt wurden. Der kleine Schlossermeister, der mit Mühe und Not einen neu einstellt, hat mehr getan als diejenigen, die kurzerhand tausend freisetzen. Laßt uns die Handwerksmeister loben, die einstellen. Ich setze Ihrer Parole „Arbeit, Arbeit, Arbeit! " entgegen: Einstellen, einstellen, einstellen!
Ich bedanke mich bei allen, die an der Vorbereitung dieser Reform mitgewirkt haben, in Gesprächen mit Sozialpartnern, mit Wohlfahrtsverbänden, in der Arbeitsgruppe der Koalition. Laßt uns diese Reform - es ist kein Reförmchen -, laßt uns diese Generalüberholung - es ist keine Reparatur - auf den Weg bringen. Sie sehen: Wir sparen nicht nur, wir gestalten. Eine wichtige Neugestaltung ist diese Reform des Arbeitsförderungsgesetzes.
Das Wort hat jetzt der Kollege Adolf Ostertag.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der beeindruckenden Demonstration am Wochenende in Bonn ist klar:
Es gibt eine breite soziale Bewegung in Deutschland, die den wirtschaftlich verheerenden und sozialpolitisch ungerechten Kurs der Regierung entschlossen ablehnt. Das ist am Wochenende deutlich geworden.
Die ersten Reaktionen dieser Regierung waren ja entlarvend. Wer hier vom „Druck der Straße" spricht, äußert seine Arroganz und zeigt sein autoritäres Staatsverständnis.
Wenn Hunderttausende sich friedlich versammeln und von ihren vornehmsten demokratischen Rechten Gebrauch machen, dann sollte diese Bundesregierung lieber genau zuhören und ihre Politik überdenken. Das sture Verharren des Bundeskanzlers in seiner Politik der sozialen Ungerechtigkeit zeigt nur, wie weit er sich von den Bedürfnissen der Menschen in diesem Lande entfernt hat.
Das heute zur Beratung anstehende AFRG ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Dieses Gesetz will die Arbeits- und Lebensbedingungen von vielen Millionen Menschen verschlechtern. Die geplanten Kürzungen im Bereich der passiven arbeitsmarktpolitischen Leistungen verschlechtern die Lebenssituation der unmittelbar Betroffenen erheblich. Herr Blüm, da haben Sie eben unrecht: Es wird gekürzt und gestrichen.
Adolf Ostertag
Gleichzeitig führt diese Absenkung auch zu weiterem Druck auf das Lohn- und Gehaltsniveau der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die noch in Arbeit sind. Auch das sind Auswirkungen, die man nicht vergessen darf. Das verheißungsvoll klingende Arbeitsförderungs-Reformgesetz ist ein völliger Irrweg.
- Hören Sie zu, wir kommen darauf zu sprechen. - Es macht die Arbeitslosen selber und die angeblich zu hohen Löhne für die steigende Massenarbeitslosigkeit verantwortlich. Diese Bundesregierung hat den Begriff „Reform" wieder einmal mißbraucht.
Prüft man sorgfältig die Inhalte, muß es ,,arbeitsmarktpolitisches Katastrophengesetz" genannt werden.
Anstatt Arbeit zu fördern, werden Arbeitslose weiter ins Abseits getrieben,
Qualifizierungsmaßnahmen gestrichen, Integrationsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose verbaut, unser Tarifsystem weiter ausgehöhlt und die Selbstverwaltung ein erhebliches Stück ausgehebelt.
Dieses Gesetz wurde wieder vom Finanzminister diktiert. Kohl und Waigel tragen den Sozialstaat Schritt für Schritt zu Grabe.
Und Blüm - das hat er heute wieder bewiesen - darf dabei als Weihrauchschwenker das Ganze vernebeln.
Die neuen Vorschläge sind, Herr Bundesarbeitsminister, in der Tat einschneidender als alle hundert Veränderungen und zehn Novellen zum AFG bisher. Es ist unbestritten, daß das AFG aus dem Jahre 1969 gründlich überholt werden muß. Damals gehörte das Gesetz sicher zu den modernsten seiner Zeit. Aber die zusätzlichen strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt, der technische Wandel, die demographischen Veränderungen bei den Erwerbspersonen, zunehmende Frauenerwerbstätigkeit und starke regionale Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt können damit nicht mehr bewältigt werden. Deshalb kann das alte AFG die heutigen arbeitsmarktpolitischen Probleme sicherlich nicht mehr lösen, aber zu einer grundlegenden Reform kam es bisher nicht. Diese Regierung hat immer nur an den Symptomen kuriert und die Leistungen zusammengestrichen.
Das vorrangige Ziel des AFG, die Vollbeschäftigung zu sichern, hat diese Regierung in 14 Jahren nicht erreicht, und heute wird so getan, als ob sie nun mit einer neuen Arbeitsmarktpolitik anfinge, als hätte sie nicht 14 Jahre lang in diesem Politikbereich das Sagen gehabt.
Im Gegensatz zur arbeitsmarktpolitischen Flickschusterei der Bundesregierung haben wir ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz, ein innovatives und schlüssiges Konzept, vorgelegt.
Dieses ASFG ist das Ergebnis einer breiten Diskussion mit Wissenschaftlern, mit Gewerkschaften, mit den Kirchen, mit Sozialverbänden, und auch die Arbeitgeber haben Zustimmung signalisiert.
Da sollten Sie vielleicht einmal genauer hinhören.
Lediglich die Regierungskoalition ließ sich nach dem Motto „Weiter so" von ihrer bisherigen Politik nicht abbringen und hat weiter dereguliert und Sozialabbau betrieben.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben mit dem ASFG unsere Alternative vorgelegt. Wir können in den nächsten Wochen und Monaten wirklich gut streiten, weil es in der Tat konkrete Vorstellungen und Unterschiede gibt.
Wir werben für ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen Arbeitslosigkeit und für ein Gesetz, durch das schon kurzfristig eine halbe Million Menschen aus der Arbeitslosigkeit herausfinden können. Mit unserem Konzept wollen wir nicht nur den Menschen helfen, die zur Zeit keine Perspektive sehen, sondern wir wollen durch eine Fülle von Maßnahmen dazu beitragen, daß Arbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht. Leitgedanke unserer Vorschläge ist die im Grundgesetz gebotene Vollbeschäftigung als Eckpfeiler für soziale Gerechtigkeit und inneren Frieden.
Die Aussage von Herrn Blüm, wir wollten alles über den zweiten Arbeitsmarkt regeln, ist blanker Unsinn. Es wäre besser, er würde unseren Entwurf lesen.
Wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Arbeitsmarktpolitik muß einem neuen Anspruch gerecht werden. Sie soll eben gestaltende, beschäftigungswirksame und auf Vollbeschäftigung orientierte Politik sein. Deswegen wollen wir Wirtschafts- und regionale Strukturpolitik miteinander verzahnen.
Eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist letzten Endes das Gebot der Stunde, und
Adolf Ostertag
dazu gehören selbstverständlich die Stärkung des Wirtschaftsstandortes
- das haben wir immer gesagt - und zeitgemäße Rahmenbedingungen. Eine gerechtere Verteilung der Arbeit durch weitere Arbeitszeitverkürzungen, die Umwandlung von Überstunden in Arbeitsplätze und eine flexible Gestaltung der Arbeitszeit müssen ebenso hinzukommen.
Es ist eben ein großer Irrtum zu glauben, mit der Wirtschaftspolitik allein oder mit der Arbeitsmarktpolitik allein sei das Problem zu lösen. Der Staat ist also weiterhin gefordert, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Er muß dafür sorgen, daß Arbeitslose oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte sich aus- und fortbilden können und muß Wirtschaftsförderung mit den Möglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik verbinden. Er muß Vorsorge treffen, wenn absehbar ist, daß wirtschaftliche Strukturen sich verändern oder gar zusammenbrechen. Das von der Regierung vorgesehene Prinzip der Fürsorge reicht nicht aus. Es muß Vorsorge getroffen werden.
Wichtig ist uns dabei die regionale Ausrichtung. Das ASFG wurde auch unter dem Aspekt der gesamtdeutschen Bedingungen und Erfahrungen konzipiert und berücksichtigt diese regionalen Problembereiche. Wir streben eine generelle Stärkung der örtlichen Verantwortlichkeiten an. Eine effektive Gestaltung der Arbeits- und Strukturförderung wird nur dann gelingen, wenn die Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekte in Kenntnis der konkreten Arbeitsmarktdefizite vor Ort regional entwickelt und verwirklicht werden können.
Mit unserem ASFG werden wir die Tätigkeit der Arbeitsämter vom Kopf wieder auf die Füße stellen. Vorrang haben Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und zur Eingliederung in den regionalen Arbeitsmarkt. Dabei werden benachteiligte Arbeitslose besonders unterstützt, wie es letztlich dem Sozialstaatsgebot unserer Verfassung entspricht.
Meine Damen und Herren, Politik muß sich an den Interessen der Menschen orientieren. Sie muß das Kernproblem der deutschen Politik, nämlich die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, endlich in Angriff nehmen und die drohende arbeitsmarktpolitische Katastrophe abwenden.
Wir haben dazu unsere Vorschläge gemacht.
Dazu im Gegensatz steht der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der sich bruchlos in das schön umschriebene sogenannte Sparpaket einordnet. Die vorgeschlagenen Regelungen machen deutlich: Der Regierung geht es vorrangig nicht um die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern um die Durchsetzung neuer ordnungspolitischer Ziele. Das AFRG der Bundesregierung setzt auf umfassende Deregulierung, auf Segmentierung des Arbeitsmarktes und auf eine weitere Umverteilung von unten nach oben.
Herr Bundesarbeitsminister, mit diesem Arbeitsgesetz machen Sie Tabula rasa auf dem Arbeitsmarkt. Das werden wir nicht mitmachen. Wir wollen mehr Gerechtigkeit und vor allen Dingen mehr Chancen für die Menschen, die Arbeit suchen.
Vielen Dank.
Es spricht jetzt die Kollegin Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn die Bundesregierung ehrlich gewesen wäre, hätte sie das heute vorgelegte Arbeitsförderungs-Reformgesetz gleich als Teil des Sparpaketes eingebracht. Dann nämlich wäre der Blick über die Kürzung der Lohnfortzahlung, die Vorziehung der Altersgrenzen und die Aufweichung des Kündigungsschutzes hinaus gleich auf dieses Gesetz geweitet worden, das vor allem auf die fünf neuen Länder verheerende Auswirkungen haben wird.
Wer bereit ist, sich den Menschen in Ostdeutschland zu stellen, der konnte in den vergangenen Wochen immer wieder hören, daß die Aufweichung des Kündigungsschutzes, wo es nichts zu kündigen gibt, und daß die Kürzung der Lohnfortzahlung, wo es wegen der Arbeitslosigkeit keine Arbeitsverhältnisse gibt, eher lapidar hingenommen werden. Jetzt aber kommt das Gesetz, das auch und vor allem den Menschen an den Kragen geht, die sich im Bereich des zweiten Arbeitsmarktes bewegen - und das tun sie notgedrungen, meine Damen und Herren.
Die Bundesregierung legt heute ein Gesetz vor, das die „Normalität" im Osten herstellt. „Normalität" soll heißen, daß unter der schönen Überschrift „Angleichung des Arbeitsmarktniveaus Ost an das des Westens" massivste Einschnitte im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit vorgenommen werden, die in der Konsequenz im Osten eine Kürzung der aktiven Maßnahmen um mehr als die Hälfte bedeuten werden. Zudem werden die Standards der Instrumente abgesenkt. Das verschlägt einem den Atem.
- Ich werde Ihnen das belegen. Vielleicht kennen Sie Ihr eigenes Gesetz noch nicht. Es ist auch sehr schwer zu lesen; das gestehe ich Ihnen zu.
Zwar ist bekannt, daß gewichtige Persönlichkeiten von der Regierungsbank den „Spiegel" nicht lesen. Aber allein das, was dort unter dem Titel „Absturz
Marieluise Beck
Ost" zusammengetragen ist, offenbart die ganze Katastrophe, die die fünf neuen Länder überzieht.
Sie wissen es selbst: Die Wachstumsraten der vergangenen Jahre sind in sich zusammengebrochen. Trotz massiver Transfers aus dem Westen hat sich kein ökonomisch selbst tragender Prozeß entwickelt. Viele der mühsam aufgebauten kleinen Existenzen geraten in die Insolvenz. Die Tendenz der Deindustrialisierung schreitet fort.
Viele Menschen in den fünf neuen Ländern stehen vor einem Scherbenhaufen. In dieser Situation ruft die Bundesregierung die „Normalität" aus und streicht ein wesentliches Moment der Politik, die in den fünf neuen Ländern überhaupt noch ein gewisses Maß an Beschäftigung und damit an Perspektive für viele Menschen aufrechterhalten hat.
Bevor man überhaupt ein Wort über die strukturellen Ansätze und Inhalte dieses heute vorgelegten Gesetzes verliert, muß man einen Blick auf das Finanztableau werfen. Vorgesehene Einsparungen im Jahre 1997: 1,7 Milliarden DM. Die Beträge steigern sich im Jahre 1998 auf 3,4 Milliarden DM, auf 5,9 Milliarden im Jahre 1999 und auf 8,3 Milliarden DM im Jahre 2000. Dies alles ist ausschließlich im Osten zu erbringen, meine Damen und Herren.
Jetzt möchte ich mich noch einmal an Sie wenden, Herr Kollege, da Sie gerade gesagt haben: Das stimmt nicht. In den fünf neuen Ländern kommen zur Zeit auf 100 Erwerbslose 43 Personen in Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. In den alten Bundesländern liegt das Verhältnis bei 100:13. Das ist die Zielvorgabe, die die Angleichung an die „Normalität" - das heißt im Klartext: an das Niveau im Westen - beinhaltet.
- Das ist kein barer Unsinn. Sehen Sie sich Ihr eigenes Gesetz an und verabschieden Sie es nicht. Das sind die realen Zahlen, die hinter dem Gesetz stehen. Wie können Sie da von barem Unsinn reden?
Von einem ökonomischen Aufschwung, der diesen Einbruch auch nur im Ansatz kompensieren könnte, ist weit und breit nichts in Sicht. Wenn Sie die Stimmung im Osten vollends in die Depression treiben wollen, meine Damen und Herren, dann müssen Sie nur so weitermachen.
Die Konsequenzen dieses Gesetzes sind ein Spiel mit dem Feuer. Das müssen selbst Sie von seiten der CDU/CSU-Fraktion begreifen. Natürlich kann man die fünf neuen Länder nicht mittels der Bundesanstalt für Arbeit in eine große Beschäftigungsgesellschaft verwandeln. Wer auf der Seite der Ökonomie so wenig tut, um zu verhindern, daß der Notbehelf des zweiten Arbeitsmarktes dermaßen stranguliert wird, ist entweder gnadenlos dumm oder böswillig.
Soll die Arbeitnehmerschaft Ost über die Streichung der Mittel für die Bundesanstalt für Arbeit, über die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung, über die Aufhebung des Berufsschutzes und die im Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vorgesehenen Deregulierungen im arbeitsrechtlichen Bereich endlich in eine massive Senkung der Lohnkostenseite hineingezwungen werden, damit die fünf neuen Länder über den Weg der Billiglohnproduktion noch einmal den Start von ganz unten versuchen, nachdem der erste Start mißlungen ist? Soll die brachliegende Produktion Ost jetzt nach dem Modell Tschechien angekurbelt werden, nachdem der Treuhand mit ihren großzügig gestreuten Subventionen die Puste ausgegangen ist und nachdem mancher Investor diese Gelder dankend angenommen und sich dann vom Acker gemacht hat?
Sie nehmen hier eine Umsteuerung vor, einen zweiten Versuch, einen Aufbau Ost über das Arbeitsförderungs-Reformgesetz zu unternehmen, das mit den anderen Gesetzen des Sparpaketes zusammenwirkt, die alle auf eine Deregulierung des Arbeitsmarktes abzielen, um auf diese Weise mit dem Billiglohnbereich noch einmal neu einzusteigen. Das ist die Logik dieses Gesetzes, über das wir im Augenblick debattieren.
Dieses Gesetz hat einen langen Vorlauf, meine Damen und Herren. In der Tat war das alte AFG mit seinen zehn Novellen und hundert Änderungen, ganz zu schweigen von den hundertfachen Verwaltungsanweisungen der Bundesanstalt für Arbeit, für niemanden mehr durchschaubar. Sie haben - das werden wir bei den Einzelberatungen sehen - durchaus positive Ansätze übernommen, zum Beispiel aus dem von der SPD vorgelegten ASFG-Entwurf und auch aus dem Memorandum-Vorschlag für eine AFG-Reform aus dem Jahre 1994.
Aber mit der Streichung der Zielbestimmung der §§ 2 und 3 des alten AFG haben Sie diese positiven Ansätze auf den Kopf gestellt. Die Grundorientierung des alten Gesetzes - übrigens zu Zeiten der Großen Koalition als Konsequenz aus der Rezession von 1966/67 gemeinsam entwickelt - folgte der Maßgabe, den Beschäftigungsstand hochzuhalten, die Beschäftigungsaussichten des einzelnen zu verbessern und das Qualifikationsniveau zu fördern. Diese Vorgaben waren anderen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen gleichgestellt.
Der Autor des neuen Gesetzes aus dem BMA hat nun in dankenswerter Offenheit formuliert, was dieses neue Gesetz nicht mehr leisten soll. Ich fasse zusammen: Mit der Reform des AFG dürfe der soge-
Marieluise Beck
nannte zweite Arbeitsmarkt nicht so ausgebaut werden, daß das jeweils produzierte und sich entwikkelnde Arbeitsplatzdefizit dadurch ganz oder teilweise ausgeglichen werde.
Damit ist die Katze aus dem Sack, meine Damen und Herren: Das Gesetz soll gar nicht mehr ausgleichen, was der erste Arbeitsmarkt nicht leistet, sondern es soll hier bewußt zurückgeschraubt werden, damit im klassischen Sinne ein großes Angebot auf seiten der Arbeitssuchenden vorhanden ist, um die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu verändern.
Damit wird der soziale Imperativ der sozialen Marktwirtschaft aufgegeben, meine Damen und Herren.
Dazu paßt die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen, die nicht nur im Arbeitsförderungs-Reformgesetz vorgesehen, sondern im Bundessozialhilfegesetz bereits vorgenommen worden ist. 1993 wurden bei rund 3,3 Millionen Vermittlungen der Bundesanstalt für Arbeit 15 345 Sperrzeiten wegen Ablehnung zugewiesener Arbeit verhängt. Das heißt, die Erwerbslosen sind nicht die Faulenzer in der Hängematte, denen man Beine machen muß, damit sie auf den Arbeitsmarkt gehen, sondern sie treffen auf dem Arbeitsmarkt auf absolute Ebbe. Das ist das Problem. Sie aber zerbrechen sich den Kopf über eine Zumutbarkeitsregelung nach der anderen.
Dieses Gesetz steht folgerichtig in der Logik all der Veränderungen, die das 50-Punkte-Programm der Bundesregierung vorsieht: Sobald es Erwerbslosigkeit gibt, müssen die Rechte der Arbeitnehmer beschnitten und die Transferleistungen eingeschränkt werden, dann muß der Druck erhöht werden, damit die Arbeitskraft zu geringeren Standards und Einkommen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Das ist wieder eine Maßnahme, die uns britischen und amerikanischen Verhältnissen näherbringt.
Diese Regierung zerbricht sich weniger den Kopf darüber, wie mit Hilfe der aktiven Arbeitsmarktpolitik die große Beschäftigungsmisere, die uns noch auf Jahre hinaus begleiten wird, abgefedert und wie die Arbeitskraft an der Schnittstelle von öffentlichem Bedarf und Mitteln, die dem Unterhalt der Erwerbslosen dienen, sinnvoll eingesetzt werden kann. Dieses Gesetz setzt im Sozialbereich eine abwärts gerichtete Spirale in Gang, damit sich die Arbeitnehmer zu allen Konditionen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen.
In der Debatte um die Reform der Arbeitsförderung bestand immer Einigkeit, daß es auch um die Schaffung von Brücken in den ersten Arbeitsmarkt gehen muß; das hat auch Herr Blüm heute morgen wieder ausgeführt. Sie schaffen nun ein neues Instrument, das Sie vermutlich als solch eine Brücke qualifizieren, nämlich den Eingliederungsvertrag.
Dieses Instrument korrespondiert mit der beabsichtigten Verlängerung der zulässigen Dauer von befristeten Arbeitsverhältnissen nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz auf 24 Monate sowie der Zulassung von Mehrfachbefristung und der Schaffung eines untertariflichen Niedriglohnsektors. Der Eingliederungsvertrag kann über sechs Monate laufen und seine Kündigung ist jederzeit ohne Angabe von Gründen zulässig. Der Arbeitgeber erhält eine vollständige finanzielle Absicherung für den Arbeitsausfall wegen Krankheit und sonstige Fehlzeiten und einen Eingliederungszuschuß, der selbst im Falle, daß der Arbeitnehmer nicht übernommen wird, nicht zurückgezahlt werden muß.
Auf diese Weise wird faktisch ein dreiseitiges Arbeitsverhältnis begründet: einmal zwischen Arbeitgeber und Arbeitsamt, einmal zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. So wird ein neues Arbeitsrecht für Personen aus dem zweiten Arbeitsmarkt geschaffen, die im ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Das ist eine geniale Konstruktion zur Aushebelung tariflicher Standards.
Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Renate Hellwig?
Ja, natürlich.
Frau Kollegin Beck, halten Sie eine Beschäftigung im zweiten Arbeitsmarkt für ebenso gut wie im ersten Arbeitsmarkt? Wenn ja, dann wundert es mich nicht, daß Sie jede Unterstützung für einen möglichst schnellen Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt als des Teufels ansehen, aber die volle Unterstützung, die der zweite Arbeitsmarkt genießt, klaglos akzeptieren, ja sogar für moralisch besser halten.
Frau Kollegin, ich kann Ihre Fragestellung nicht teilen. Es geht leider für 4 Millionen Menschen nicht um die Alternative, ob sie lieber im ersten oder im zweiten Arbeitsmarkt tätig sein wollen. Das ist das Problem.
Natürlich wünsche ich mir Vollbeschäftigung, ich glaube nur nicht daran, daß wir sie in den nächsten Jahren noch einmal erreichen werden. Deswegen zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie man, wenn es die Möglichkeit einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt nicht gibt, den zweiten Arbeitsmarkt gestaltet. Das ist eine soziale Aufgabe, es sei denn, Sie gäben in diesem Bereich den Löffel ab.
Marieluise Beck
Sie setzen mit diesem Gesetz verschiedene Spiralen in Gang, die durch die Kürzung der passiven Lohnersatzleistungen für ältere Arbeitnehmer, durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen und durch die Streichung der Frühverrentung abwärts führen. Sie erhöhen den Druck auf die minder qualifizierten Arbeitsplätze, indem durch die Zumutbarkeitsregelung solche Arbeitsplätze von höher Qualifizierten eingenommen werden müssen.
Sie erhöhen auch den Druck auf die Kommunen, die angesichts der rapide gesenkten Zuschüsse der BA vermutlich in die Situation kommen werden, daß sie einen Teil der Mittel für Programme gar nicht mehr abrufen, weil ihnen die Komplementärmittel fehlen.
Es ist nicht von der Hand zu weisen - das wissen auch wir -, daß die öffentliche Hand vor leeren Kassen steht und daß gute, aktive Arbeitsmarktpolitik teuer ist. Aber ich frage: Wer stellt endlich einmal eine neue gesamtgesellschaftliche Kosten-NutzenRechnung auf
und überwindet dieses so unendlich bornierte Ressortdenken? An der Küste spielt sich zur Zeit ein ökologisches Drama ab. Das Wattenmeer stirbt. Wir kennen die Ursache: Es ist eine Folge des Verkehrs, der Überdüngung durch die Landwirtschaft, der Schadstoffeinleitung aus den Flüssen. Man kann das Umkippen eines Ökosystems nicht quantifizieren.
Aber natürlich macht es Sinn, die vielen brachliegenden ökologischen Beschäftigungsfelder, von der Erstellung von Radwegen über Recycling bis hin zum ökologischen Landbau, mit der brachliegenden Arbeitskraft zu verbinden.
Die Entlastung, die das auf lange Sicht bei den ökologischen Folgenkosten mit sich bringen würde, könnte auf' der Habenseite einer aktiven Arbeitsmarktpolitik gutgeschrieben werden.
Diese gleiche Rechnung ließe sich für viele andere gesellschaftliche Bereiche aufmachen. Viele Projekte, die auch der sozialen und psychischen Stützung von Randgruppen, von Jugendlichen, von Frauen und von Immigranten dienen, werden demnächst vor dem Aus stehen. Die Kasse der Bundesanstalt für Arbeit wird entlastet; das Gesundheitswesen wird sich schon um die Menschen kümmern, die dann einen erhöhten Bedarf in diesem Bereich anmelden - das läßt sich wenigstens ordentlich nach GOA abrechnen.
Frau Beck, kommen Sie bitte zum Schluß!
Ja. - Wir können uns diese Dummheit nicht leisten; wir dürfen sie uns nicht leisten. Die Aufgabe des Ziels des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft ist neben der ethischen Katastrophe sogar eine ökonomische Fehlentscheidung.
Zunächst erhält zu einer Kurzintervention das Wort die Kollegin Dr. Renate Hellwig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in diesem Frage-Antwort-Spiel ist der Unterschied in den Philosophien der Opposition und der Koalition besonders deutlich zum Ausdruck gekommen.
Dazu stehe ich auch voll und ganz.
Mit absolutem Mißtrauen wurde hier der Möglichkeit begegnet, dem privaten Arbeitgeber, der einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt schafft, bei der Einrichtung dieses Arbeitsverhältnisses Unterstützung zu bieten. Das wurde von Frau Beck geradezu als unmoralisch dargestellt; denn das kostet ja Geld. Gleichzeitig wurde der staatlich subventionierte zweite Arbeitsmarkt hochgejubelt, bei dem sich ja der Bedarf überhaupt nicht aus dem marktwirtschaftlichen Spiel von Angebot und Nachfrage ergibt. Das sehe ich geradezu als eine Form des Kommunismus an,
als eine Negativentscheidung gegen die Kräfte des freien Marktes.
Zur Antwort jetzt Frau Kollegin Beck.
Damit habe ich natürlich nicht gerechnet, daß wir heute morgen entlarvt werden. Denn daß wir die Revolutionsstiefel im Rucksack haben, hat bisher noch niemand gemerkt. Frau Kollegin Hellwig hat es heute morgen dummerweise aufgedeckt.
Es gibt im bisherigen Arbeitsförderungsgesetz schon ein Instrumentarium zur Eingliederung von Personen in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist ja keine neue Idee. Der Anwendung dieses Instrumentariums haben wir uns überhaupt nicht verweigert. Es handelt sich um ein Instrumentarium, das sehr wohl auch das Risiko für den Arbeitgeber stark minimiert. Jetzt
Marieluise Beck Bremen
wird dieses differenzierte Instrumentarium wohl offensichtlich nicht mehr als ausreichend angesehen; vielmehr wird jetzt Butter bei die Fische getan, und - das habe ich schon vorhin aufgezeigt - es wird ein Bereich geschaffen, in dem auf massive Weise die Standards von Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung und auch in bezug auf das Lohnniveau eingeschränkt werden.
Benennen Sie das offen, wenn Sie das für den richtigen Weg halten. Herr Geißler drückt sich immer noch ein wenig davor und kriecht in seinen Sitz, wenn wir sagen: Sie wollen zu einer Amerikanisierung des Arbeitsmarktes kommen. Ich weiß auch, daß die Kollegen Sozialpolitiker das alles für eine ganz knifflige Angelegenheit halten und sich total unwohl fühlen.
Sprechen Sie das offen aus, sagen Sie: Dieser soziale Klimbim ist uns viel zu teuer, er bringt auch überhaupt nichts. Wir starten jetzt durch, wir stärken die Ökonomie durch radikale Absenkung der Standards, damit der erste Arbeitsmarkt wieder brummt. Dann werden wir sehen, ob das gesellschaftlich der bessere Weg ist. Sagen Sie das doch!
Sie haben von Kommunismus gesprochen; das zeigt doch, was in Ihrem Kopf vorgeht.
Wenn Sie das Arbeitsförderungsgesetz als den Ausbruch des Kommunismus bezeichnen, dann kann ich nur sagen, daß 1969 die Große Koalition in einem kommunistischen Projekt gesessen hat. Das ist eine ganz neue Art von Geschichtsdeutung.
Es folgt eine Kurzintervention des Kollegen Dr. Geißler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder kann Interpretationen und auch Definitionen vornehmen. Die freie Rede ist ein konstitutives Element des Parlaments. Insofern kann jeder hier bei uns sagen, was er mag.
Ich möchte etwas zu Ihren Beispielen sagen. Sie haben die Lohnfortzahlung angesprochen. Wir sehen eine 20prozentige Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung vor, die man durch Kompensation von fünf Krankheitstagen durch einen Urlaubstag verhindern kann. Wir haben in Deutschland einen durchschnittlichen Urlaubsanspruch von bis zu 32 Tagen. Wenn jemand sechs Wochen krank ist und die Kompensationsregelung in Anspruch nimmt, hat er statt 32 Tagen nur noch 26 Urlaubstage; er hat dann immer noch einen Urlaubstag mehr als der französische Arbeitnehmer oder als die englische Arbeitnehmerin.
Er hat dann immer noch sechs Urlaubstage mehr als der belgische Arbeitnehmer und 14 Tage mehr als der amerikanische Arbeitnehmer.
Wer behauptet, daß durch eine solche Regelung der Sozialstaat plattgemacht wird, der hat, um es gewerkschaftlich auszudrücken, nicht mehr alle Tassen im Schrank und entlarvt sich.
Frau Kollegin Beck.
Herr Kollege Geißler, ich gebe Ihnen vollkommen recht: Dieser eine kleine Punkt macht natürlich nicht den Sozialstaat platt. Das Problem ist - darüber haben wir das letzte Mal debattiert - die synergetische Wirkung; denn Sie reformieren im Augenblick nicht nur ein Gesetz, sondern Sie schnüren Pakete.
Die Pakete muß man sich in ihrer Gesamtwirkung ansehen. Ich will Ihnen sagen: Ich war noch nicht so böse, als es um das alte Sparpaket ging. Aber mit dem AFRG mit seinen Auswirkungen auf den Osten und der Veränderung der Zumutbarkeitsregelung und der BSHG-Reform, die Sie gemacht haben, haben Sie ein Paket geschnürt, dessen Inhalt in eine einzige Richtung weist: Deregulierung.
Das ist eine politische Trendwende, die Sie in einem Bereich vornehmen, in dem Sie jahrelang nicht viel getan haben. Jetzt passiert wirklich etwas. Das sieht man nicht an einem einzelnen Gesetz; nicht das einzelne Gesetz ist der Skandal, sondern dieser wird erst dann deutlich, wenn man die Gesetze in ihrem Zusammenwirken sieht. Darum geht es. Deswegen sollten wir nicht über einzelne Gesetze sprechen, sondern immer darüber, wohin eine Kombination von Gesetzen führt, wen sie treffen und welche Bedingungen sie gesamtheitlich in dieser Gesellschaft schaffen.
Wir fahren in der Rednerabfolge fort. Frau Dr. Babel, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war vorauszusehen, daß die Debatte über die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes von seiten der Opposition benutzt werden würde, um wieder die Frage des Sparpakets und des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung anzusprechen. Es war vorauszusehen, daß Sie mit Ihrer schrillen Sprache glauben, von der Notwendigkeit aller dieser Reformen ablenken zu können.
Es war auch vorauszusehen, daß Sie dies alles in der vermeintlichen Rolle eines Anwalts für den Ar-
Dr. Gisela Babel
beitslosen tun würden. Ich sage Ihnen aber: Sie sind Anwalt der Arbeitsplatzbesitzenden. In Ihrem Vorschlag steht nichts Konkretes zugunsten der Arbeitslosen.
Es handelt sich um eine Konzeption, die alles dem Staat zuwirft. Ihr Bemühen ist nur, alles zu erhalten.
In keiner Ihrer Reden kommt jemals die Sprache darauf, daß im Grunde eigentlich die Verantwortung der Tarifpartner hinsichtlich der Lohnhöhe das entscheidende Moment ist und daß wir hier nur flankierende Maßnahmen besprechen. Darüber reden Sie nie. Solange Sie das nicht tun, kann ich nicht erkennen, daß Ihr Bemühen um Arbeitslose wirklich fundiert ist. Dem ist nicht so!
Die Arbeitslosenversicherung wird reformiert. Sie soll Arbeitslosen schneller und wirksamer helfen und den Arbeitsämtern mehr Freiraum zu wirkungsvollerem Handeln verschaffen. Sie soll insgesamt besser funktionieren und kostengünstiger werden. Es soll also eine Rundumsanierung sein.
Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit dieser Reform ist von der jetzigen wirtschaftlichen Situation fast unabhängig. Wir haben seit 1969 mehr als 90 Änderungen dieses Gesetzes vorgenommen - immer mit dem Ziel, zu mehr Einzelfallgerechtigkeit zu kommen. Diese angestrebte Einzelfallgerechtigkeit ist in einen Wust an Bürokratie gemündet und ist für die Betroffenen abschreckend. Die Flexibilität der Arbeitsämter wurde erstickt. Die ganze Bandbreite der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitsmarktpolitik ist selbst für Experten nicht mehr zu übersehen. Mir haben Arbeitsamtsleiter gestanden, daß sie nicht in der Lage wären, Anträge auf Arbeitslosengeld auszufüllen.
Die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, stehen neben produktiver Arbeitsförderung, Einarbeitungszuschüsse neben Arbeitserprobung und Eingliederungshilfen neben Ausbildungszuschüssen für Behinderte. Dieser ganze bürokratische Wust ist mit einer einfachen weiteren Novellierung nicht mehr zu lichten. Es brauchte wirklich einen neuen Ansatz.
Jetzt komme ich zu dem zentralen Punkt der heutigen Auseinandersetzung. Die Zielvorstellung des alten Arbeitsförderungsgesetzes - Art. 1 - war, einen hohen Beschäftigungsstand zu erzielen und aufrechtzuerhalten. Wir wissen heute besser als unsere Kollegen im Jahre 1969, daß diese Zielvorstellung mit einem Arbeitsförderungsgesetz - auch wenn es noch so modern ist; auch Ihre Gesetze würden es nicht leisten - nicht zu erreichen ist. Heute wissen wir das leider.
Das Testgebiet in den neuen Bundesländern, wo arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in einem gigantischen Ausmaß eingeführt wurden und sozial tatsächlich gewirkt haben - das will ich überhaupt nicht leugnen -, hat gezeigt: Eines hat es nicht gegeben, nämlich nachhaltige Verbesserungen der Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt. Sie wurden nicht erreicht. Deswegen ist es sinnvoll, daß man sich kritisch mit der Frage auseinandersetzt, ob wir hier alles richtig machen.
Meine Damen und Herren, das Ziel eines modernen Arbeitsförderungsgesetzes muß nach heutiger Erkenntnis bescheidener sein. Wir müssen uns darauf beschränken, zu sagen: Es soll dem Arbeitslosen helfen, mit wirklich wirksamen Mitteln die Chancen zu ergreifen, die gegeben sind. Das soll schneller geschehen. Da ist einiges möglich. Damit sollte man sich auseinandersetzen.
Für die F.D.P. ging es darum, mehr Dynamik und frischen Wind in die Arbeitslosenversicherung zu bringen. Die Innovationsfreudigkeit, die Freude an der Arbeit in den Ämtern sollen dadurch unterstützt werden, daß wir den Arbeitsämtern mehr Flexibilität und mehr Verantwortung einräumen sowie dem Arbeitslosen mehr Verantwortung einräumen und von ihm mehr Aktivität bei der Suche nach einem Job fordern. Daß die Situation, wenn Jobs nicht vorhanden sind, natürlich kritisch ist, will ich nicht leugnen. Das enthebt uns aber nicht der Aufgabe, mit Hilfe eines solchen Reformgesetzes das möglichst wirkungsvoll umzugestalten.
Deswegen ist es richtig, daß wir den Akzent auf eine verstärkte Hilfe zur Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt setzen. Das war bislang nicht geschehen. Wir haben ja keine Rangfolge, keine Bewertung der Maßnahmen vorgenommen. Es ist richtig, daß wir den Akzent hier gesetzt haben und damit die Brükkenfunktion der Arbeitsmarktpolitik stärker betonen.
Die F.D.P. hat ihre Auffassung in einer Reihe von Punkten konkret durchgesetzt, die sich in dem Reformwerk widerspiegeln. Zunächst einmal ist zu nennen, daß wir die Maßnahmen nicht nach der Dauer, in der jemand arbeitslos ist, staffeln und die Dauer der Arbeitslosigkeit nicht erst abwarten, bevor wir mit einer Maßnahme einsetzen. Es ist natürlich unsinnig, daß wir Langzeitarbeitslose geradezu produzieren, weil wir ja warten müssen, bis der Betroffene langzeitarbeitslos ist und wir mit der Maßnahme beginnen können. Viel sinnvoller ist es, mit solchen Maßnahmen, wenn sie sich als notwendig und richtig erweisen, schon von vorneherein zu beginnen und damit die Langzeitarbeitslosigkeit als Tatbestand zu verhindern.
Hier appellieren wir gerade auch an die Arbeitsämter, daß sie sich um die Problemfälle kümmern und bei diesen nicht lange warten und sagen, wir warten erst einmal, bis wir mit unseren Möglichkeiten beginnen, sondern daß sie gleich mit einer Beratung, die nach kurzer Zeit des Bestehens der Arbeits-
Dr. Gisela Babel
losigkeit Pflicht wird, einsetzen und sich um den jeweiligen Arbeitslosen kümmern.
Meine Damen und Herren, wichtig ist auch das Instrument des Eingliederungsvertrages. Der Arbeitgeber soll gelockt und dazu gebracht werden, einen solchen Arbeitslosen einzustellen.
Warum macht er das denn nicht? - Weil er nicht weiß, ob ein Arbeitsloser überhaupt in seinem Sinne in seinen Betrieb einzugliedern ist und Arbeit leistet.
Es ist also sinnvoll, daß man dem Arbeitgeber diese Sorge für eine kurze Dauer nimmt, indem man bestimmte Risiken, die ja bei jeder Einstellung einer neuen Arbeitskraft bestehen, seitens des Arbeitsamtes übernimmt.
Es hat sich sehr oft gezeigt, daß solche eingestellten Arbeitslosen, wenn diese Phase der Erprobung einmal vorüber ist, tatsächlich auch in die Belegschaft aufgenommen und länger beschäftigt werden. Ich glaube, dieser Gesichtspunkt ist sehr wichtig.
Die F.D.P. hat sich auch dafür eingesetzt, den berühmten Drehtüreffekt abzuschaffen. Bisher hatten wir das - wiederum aus besten sozialen Absichten - so gestaltet, daß der Besuch einer Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahme neue Ansprüche auf Arbeitslosengeld begründet. Die Gefahr ist offensichtlich: Wir haben dann sogenannte Maßnahmenkarrieren. Dies führt dazu, daß diese Menschen von der Arbeitslosigkeit in eine Maßnahme, aus der Maßnahme in die Arbeitslosigkeit und in den Bezug von neuem Arbeitslosengeld gelangen. Das kann nicht einleuchten und soll unterbunden werden.
Wir haben also geregelt, daß der Besuch einer Fortbildungsmaßnahme nicht neue Ansprüche auf Arbeitslosengeld begründet. Allerdings wird der alte Anspruch während dieser Maßnahme nicht verbraucht, so daß es bei diesem alten Anspruch in seiner Länge und Höhe bleibt, dieser Anspruch also ruht. Nach Abschluß dieser Maßnahme soll es noch drei Monate lang Anschlußarbeitslosengeld geben. Dann muß gesehen werden, ob die neue Qualifikation diesem entsprechenden Arbeitslosen tatsächlich auch zu einem neuen Arbeitsplatz verholfen hat oder nicht.
Meine Damen und Herren, zu dem wichtigen Punkt der Zumutbarkeit: Ich finde, daß wir verpflichtet sein müßten, uns hier die Wahrheit zu sagen. Es gibt natürlich in großem Umfang die Probleme, daß ein Arbeitsplatz als unzumutbar nicht angenommen wird. Das gibt es. Die Gesetzesmöglichkeiten, die es heute schon gibt, wurden in den Arbeitsämtern nicht richtig angewendet, weil es natürlich unbequem ist und vielleicht auch ein bißchen Härte erfordert, die man nicht möchte. Es ist aber auf der anderen Seite
so, daß Sie in der heutigen Arbeitsmarktlage nicht die Garantie eines sozialen Standards abgeben können. Keine Partei kann das mit gutem Gewissen. Wir müssen vielmehr sagen, daß wir von jedem, der heute Arbeit hat, und von jedem, der Arbeit vielleicht verliert, die Flexibilität verlangen, in andere Bereiche, andere Berufe und andere Lohnhöhen umzusteigen. Die Bereitschaft dazu müssen wir einfach fordern.
Deswegen finde ich es richtig, daß man sagt: in den ersten drei Monaten 20 Prozent, in den folgenden drei Monaten 30 Prozent Lohneinbußen. Natürlich ist das hart. Es wäre aber eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, wenn wir über einen Arbeitslosen sagten: Unsere Maßnahmen sind nur darauf gerichtet, daß er seinen sozialen Standard behält und daß alles andere für ihn unannehmbar ist. Für mich ist sozialpolitisch viel wichtiger, daß wir einen Arbeitnehmer in einen Arbeitsplatz vermitteln können, als daß wir ihm die Garantie auf hohe soziale Leistungen vorspiegeln, daß er sozusagen nur das annehmen muß, was seinen bisherigen Lebensstandard ausgezeichnet hat. Es ist auch sozialpolitisch richtig, was wir da machen.
Länger als ein Jahr Arbeitslosengeld wird es künftig erst ab dem 45. Lebensjahr geben; die übrigen Altersgrenzen werden angepaßt. Arbeitslose sind gehalten, ihre Verfügbarkeit nachzuweisen; auch dies ist richtig. Entsprechende Kontrollen werden durchgeführt.
Die berühmten AB-Maßnahmen werden - auch das ist eine Forderung der F.D.P. - künftig nur noch dann gefördert, wenn das Arbeitsentgelt auf 80 Prozent gesenkt wird. Die Gewerkschaften sperren sich - nicht alle, aber noch in der Breite - gegen Einstiegstarife für Arbeitslose. Ich kann das nicht verstehen. Ich finde, daß ein Arbeitsloser seine eigenen Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, enorm erhöht, wenn ihm die Möglichkeit eingeräumt wird, für 20 Prozent weniger zu arbeiten. Wenn ihm das vorenthalten wird, kann man mir nicht sagen, daß sich die Gewerkschaften mit dieser Position für Arbeitslose einsetzen. Ich finde es richtig, daß wir dies zumindest beim Arbeitsförderungsgesetz machen und bei den AB-Maßnahmen, bei denen es keine Einstiegstarife gibt - die im übrigen nur 90 Prozent betragen -, auf 80 Prozent heruntergehen und damit die Chancen im Grunde verbessern.
Auch die Selbständigkeit ist schon angesprochen worden. Deutschland liegt bei der Zahl der selbständigen Existenzen im Vergleich zu abhängig Beschäftigten noch auf einem hinteren Platz. Wir haben also wenig Arbeitsplätze in diesem Bereich. Es ist sicher richtig, daß ein Arbeitsloser nicht unbedingt wieder in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zurückkehren muß, sondern daß wir ihm mit Qualifikation, mit entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen
Dr. Gisela Babel
und einer möglichen längeren Zahlung eines Überbrückungsgeldes auch helfen sollten, in eine selbständige Existenz zu wechseln.
Dazu gehört Mut, Mut zum Risiko. Aber es ist richtig. Die Maßnahmen, die wir in diesem Bereich getroffen haben, stoßen auf eine große Resonanz. Es ist sehr wichtig, daß wir in dieser Frage weiterkommen. Ich habe mich gefreut, daß ich zumindest diesen Punkt auch im Entwurf der SPD gefunden habe. - Jetzt habe ich einmal gelobt, jetzt können Sie auch klatschen.
Zur Organisation: Von großer Bedeutung ist die Dezentralisierung der Bundesanstalt für Arbeit. Ich mache aus meiner Meinung keinen Hehl: Wir - auch die Kollegen aus der Union - hätten den Mut gehabt, die Landesarbeitsämter ganz zu beseitigen, denn sie sind nicht unbedingt notwendig. Das Ganze sollte sich nach unten in die Arbeitsämter verlagern. Gewisse Koordinierungsaufgaben könnte man vielleicht auch auf bescheidenerem Wege erledigen, ohne daß man das institutionalisiert.
Ich gebe aber auch zu, daß unsere Kollegen aus Bayern diesem Vorschlag nichts abgewinnen konnten. Insofern ist es bei einer bescheidenen Organisationsreform geblieben, mit der nur Kompetenzen aus der mittleren Ebene an die Arbeitsämter und die Bundeszentrale verschoben worden sind. Wir sehen nämlich schon voraus, daß wir 16 entrüstete Voten der Bundesländer gegen die Abschaffung von Landesarbeitsämtern zu gewärtigen hätten, wenn wir diese Abschaffung durchsetzen wollten.
Wir hatten uns in der Koalition vorgenommen, gern ein Gesetz vorzulegen, das kurz, knapp, lesbar und verständlich ist. Nachdem wir es nun gesehen haben, sind wir ein bißchen enttäuscht und wissen, dieses Ziel haben wir vielleicht nicht erreicht. Das Gesetz ist ziemlich dick, und es ist nur ein bißchen lesbarer. Aber wenn man weiß, daß es im BMA Beamte gibt, die oft nur einen einzigen Paragraphen hüten, bei allen Änderungen im Auge haben und Konsequenzen bedenken, dann wird erkennbar, wie leicht es ist, kurze, knappe, lesbare Gesetze zu fordern, und wie schwer es offensichtlich ist, dies dann auch noch zu leisten. Vielleicht gelingt uns in den Ausschußberatungen hier noch etwas.
Meine Damen und Herren, ich komme zu einer Gesamtbewertung. Der Entwurf unterscheidet sich ganz deutlich von den Vorstellungen der Oppositionsparteien. Er ist insgesamt bescheidener in der Zielsetzung und vermittelt nicht die Heilsbotschaft, die Arbeitsmarktsituation könne durch ein noch so modernes Arbeitsförderungsgesetz nachhaltig und grundlegend verändert werden. Die Opposition erweckt aber mit einem aufwendigen Apparat von regionalen konferenzdurchtränkten Strukturmaßnahmen den Eindruck, der Staat könnte mit gutem Willen und gutem Geld das Auffangbecken bereitstellen, es gäbe also in einer Sozialen Marktwirtschaft die Möglichkeit, staatliche Beschäftigung ohne Schaden für den eigentlichen Arbeitsmarkt auf Dauer und in der geforderten Ausdehnung zu leisten. Diese Möglichkeit gibt es nicht. Beschäftigung entsteht nur durch das Angebot von Arbeit zu entsprechendem Lohn. Insofern sind die im Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung vorgesehenen Maßnahmen, also Lockerung des Kündigungsschutzes, Flexibilisierung, Änderungen bei der Lohnfortzahlung, insgesamt sicher wirkungsvoller, als das Arbeitsförderungsgesetz. Aber ich denke, daß auch dieses Reformwerk Anerkennung verdient. Trotz des fettleibigen Gesetzestextes: Es wird wirkungsvoller, die Verwaltung tüchtiger, die Ansprüche etwas bescheidener, die Maßnahmen gezielter, und es ist insofern für die Arbeitslosen insgesamt eine bessere Hilfe.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt Frau Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Babel, Sie haben der Opposition erstens gerade vorgeworfen, sie sei vor allen Dingen Anwalt der Arbeitbesitzenden, nicht der Arbeitslosen. Nun erklären Sie doch bitte einmal einer arbeitslosen Frau in Ostdeutschland, was Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf anderes tun, als ihre Qualifikation zu entwerten und ihre Existenzängste weiter zu verschärfen.
Zweitens sagen Sie, daß man mit dem Arbeitsförderungsgesetz nicht alle Arbeitsmarktprobleme lösen kann. Natürlich kann man nicht alle lösen; aber man wird von der Regierung ja wenigstens ein Arbeitsförderungsgesetz erwarten dürfen, das nicht kontraproduktiv die gegenwärtige dramatische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt vorantreibt.
Die grundlegende Reform des Arbeitsförderungsgesetzes - ich denke, darin sind wir uns einig - ist längst überfällig. Nur, mit Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf sind Sie schon jetzt durchgefallen. Die dramatische Lage auf dem Arbeitsmarkt, besonders in Ostdeutschland, werden Sie nicht im Interesse der betroffenen Menschen anpacken. Statt dessen verschärfen Sie die Situation der Arbeitslosen weiter.
Als das Arbeitsförderungsgesetz 1969 beschlossen wurde, hatten wir es mit einer wirtschaftlichen Epoche zu tun, die durch Wirtschaftswachstum und stetige Nachfrage nach Arbeitskräften gekennzeichnet war, von überschaubaren konjunkturellen Einbrüchen abgesehen. Mit dem Arbeitsförderungsgesetz sollte Formen konjunktureller Arbeitslosigkeit staatlicherseits offensiv entgegengesteuert werden.
Wir haben heute eine dramatisch andere Situation. Heute blicken wir auf 20 Jahre anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die sich über Aufschwungzeiten weiter aufgebaut hat und zu einem der brennendsten sozialen Probleme unserer Gesellschaft geworden ist. Hier verlangt es Antworten, die wirkungsvoll sind.
Dr. Heidi Knake-Werner
Als 1969 arbeitsmarktfördernde Instrumente entwickelt wurden, ging es darum, eine Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und erstem Arbeitsmarkt zu schlagen. Heute hängt diese Brücke in der Luft. Einen aufnahmefähigen ersten Arbeitsmarkt mit tarifgerecht bezahlten Arbeitsplätzen gibt es einfach nicht mehr. Um diejenigen, die sich heute auf der Brücke drängen, nutzbringend im Sinne Ihrer Deregulierungspolitik einzusetzen, wird dieses Instrument der Arbeitsförderung mißbraucht, um neue Billiglohnsektoren zu schaffen.
Schließlich wurde das Arbeitsförderungsgesetz in einer Zeit geschaffen, in der sich Förder- und Leistungsrecht an der typischen männlichen Vollerwerbsbiographie ausrichteten. Damit blieben nicht nur die bis heute typischen weiblichen Tätigkeiten wie Erziehungs- und Pflegearbeit völlig ausgespart. In dem Maße, wie Frauen verstärkt auf den Arbeitsmarkt drängten, verstärkten sich zudem die reglementierenden Elemente des Arbeitsförderungsgesetzes zu wirklich frauendiskriminierenden Elementen. Ich erinnere nur an Bedürftigkeitsprüfung, Verfügbarkeitsregelung usw. Heute wissen wir zudem, daß auch als Folge des gesellschaftlichen Wertewandels Erwerbsarbeit ein fester Bestandteil in der Lebensplanung von Frauen ist, daß aber vor allem die Frauen in Ostdeutschland - ich verweise nachdrücklich darauf - zu Hunderttausenden um diese ihre Lebensplanung betrogen werden. Ein am sogenannten Normalarbeitsverhältnis orientiertes AFG bleibt auch ohne Antwort auf die sich vielfältig verändernden Formen von Flexibilisierung und Deregulierung in der Arbeitswelt.
Nun ist es natürlich nicht so, daß im Arbeitsförderungsgesetz seit 1969 nichts passiert wäre. Im Gegenteil: Unzählige Novellen wurden verabschiedet. Es wurde der Versuch unternommen, mit zwei deutlich sichtbaren Problemen fertig zu werden: erstens mit dem Problem, daß Angebot und Leistung immer weniger mit der anschwellenden Arbeitslosigkeit fertig wurden, und zweitens mit dem Problem, daß bei immer stärker ausfallenden Beiträgen notwendige Mehrleistungen kaum mehr zu finanzieren waren.
Beides führte schließlich dazu, daß - natürlich politisch gewollt - die aktive Arbeitsmarktpolitik in ihrem Umfang gekürzt wurde und daß ihre Instrumente demontiert wurden. Darüber hinaus ist ihre diskriminierende Ausgestaltung als zweiter Arbeitsmarkt zu einer Waffe der Deregulierungspolitik verkommen. Es gibt eine Anpassung nicht an beschäftigungspolitische Notwendigkeiten, sondern an das angebliche finanziell Machbare.
Das geschieht seit 25 Jahren und findet in dem vorgelegten Gesetzentwurf seinen vorläufigen Höhepunkt; denn mit diesem Gesetzentwurf wird das vernichtet, was insbesondere in Ostdeutschland in den letzten Jahren als positiver Ansatz entwickelt worden ist, dort vor allem, um den sozialen Frieden zu erhalten. Jetzt passiert genau das, was sich im Westen seit Jahren vollzieht: eine Verkürzung von Arbeitsförderungsmaßnahmen. Die sibyllinische Formulierung „Angleichung an das Westniveau" heißt ja nichts anderes als die massenhafte Vernichtung öffentlich geförderter Beschäftigung in Ostdeutschland, und zwar in einem Umfang von 250 000 Arbeitsplätzen.
Nun liegt dieser neue Gesetzentwurf vor. Ehrgeizige Worte werden dafür verwandt. Man sagt, er sei ein neuer Beweis für den Willen der Regierung, sich für die Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft zu wappnen. Aber schon auf der zweiten Seite Ihres Gesetzentwurfs wird der eigentliche Pferdefuß sichtbar: Bis zum Jahre 2000 sollen 17 Milliarden DM bei der Bundesanstalt für Arbeit und 2,9 Milliarden DM beim Bund eingespart werden. Ich frage Sie: Wie soll das geschehen, wo doch überhaupt nichts darauf hinweist, daß es Ihnen gelingen könnte, die Massenarbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende um die Hälfte zu reduzieren? Ganz im Gegenteil, Ihre Politik - und die Sparpakete werden das erneut deutlich machen - schafft nicht nur nicht mehr Arbeitsplätze, sondern sie vernichtet nachweislich bestehende Arbeitsplätze.
Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf genauer anschaut, ist unschwer erkennbar - und damit stimme ich mit der Sozialministerin von Sachsen-Anhalt völlig überein -, daß er ein reines Sparpaket ist und die nahtlose Fortsetzung dessen bildet, was in der kommenden Woche in den Spargesetzen hier über die Bühne gehen soll.
Der vorliegende Gesetzentwurf mit den darin vorgesehenen Maßnahmen schafft keinen einzigen neuen Arbeitsplatz. Das haben Ihnen auch die vielen Stellungnahmen von betroffenen Verbänden, die inzwischen eingegangen sind, bestätigt.
Wo man auch hinschaut - diese AFG-Reform gibt falsche Antworten auf richtige Fragen. Sie setzen überall dort an, wo Lösungen dringend notwendig sind, aber Sie beantworten sie mit dem Rotstift.
Erstens. Angesichts eines sich ungeheuer beschleunigenden Wandels und zunehmender Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs müßte Qualifizierung eine Hauptaufgabe neuer Arbeitsförderungsgesetze sein. Aber was tun Sie? Der Zwang zur Arbeitsaufnahme vernichtet vorhandene Qualifikationen und zwingt Arbeitslose in eine Negativspirale. Berufsschutz ist passé, Hunderttausende werden in Tagelöhner verwandelt. Das Qualifizierungsangebot reduziert sich in der Konsequenz auf disziplinierende Trainingsprogramme und hat keinen anderen Zweck als den, den Abstieg in niedrigere Qualifikations- und Entlohnungsstufen zu beschleunigen.
Zweitens. Der unumkehrbare Rückgang der industriellen Arbeit würde eine AFG-Reform erfordern, die Arbeitsmarktpolitik mit Struktur- und Regionalpolitik verbindet und neue Nachfrage schafft, die langfristige Projekte für den sozialen und ökologischen Wandel fördert, die wegkommt von der konzeptionslosen Einzelförderung hin zu einer Beschäftigungspolitik, die strukturorientierte Förderung zukunftsfähiger Umbauprojekte in ihr Zentrum stellt, die Arbeiten fördert, die momentan nicht marktfähig, aber in der Lage sind, zukunftsfähige Wirtschaftskreisläufe zu installieren. Hunderttausende neue Exi-
Dr. Heidi Knake-Werner
stenzgründungen werden dieses Problem nicht bewältigen helfen.
Drittens. Der gesellschaftliche Wertewandel fördert die Nachfrage von Frauen nach zukunftsfähigen Dauerarbeitsplätzen. Eine zeitgemäße, mit dem Gedanken der Prävention verbundene AFG-Reform müßte dazu beitragen, neue Integrationsmechanismen zu schaffen.
Aber für Sie sind das alles nur Problemfälle der Arbeitslosenstatistik, die Sie durch Anspruchssenkung, Disziplinierung und Dequalifizierung zu Aspiranten eines neuen Billiglohnsektors machen oder die Sie in private Dienstleistungen abschieben wollen.
Viertens schließlich: Natürlich muß eine AFG-Reform die Arbeitsverwaltung selbst an die neuen Herausforderungen anpassen. Dezentralisierung, Verlagerung von Kompetenzen auf die unteren Handlungsebenen und mehr praxisbezogene Entscheidungsfreiheiten sind fürwahr die richtigen und guten Ideen. Aber das Rezept der Organisationsreform haben Sie bei denen abgeschaut, die gegenwärtig die Hauptverursacher der Massenarbeitslosigkeit sind, nämlich bei den Propheten der „schlanken Produktion". Sie gehen nach dem Muster vor: mehr Aufgaben für die dezentralisierten Einheiten, aber weniger Mittel.
Was sollen die Beschäftigten in den Arbeitsämtern zukünftig alles leisten?
Frau Knake-Werner, kommen Sie zum Schluß.
Ich komme zum Schluß.
Trainingsmaßnahmen und Eingliederungsverträge betreuen, innovativ sein, abrechenbare Erfolgsbilanzen vorlegen. Die Motivation der Beschäftigten wird allein durch Konkurrenzdruck erzwungen.
Ihre Organisationsphilosophie reduziert sich auf Kostenminimierung. Ich muß schon sagen: Dieser Entwurf wird weder Brücken bauen noch neue Beschäftigungsfelder schaffen. Herr Kollege Blüm, wenn Sie dieses Gesetz mit den Worten einbringen „Das Gute soll dem Besseren weichen", dann kann ich nur feststellen: Sie sind ganz schön bescheiden geworden.
Danke schön.
In der Debatte spricht jetzt der Kollege Julius Louven.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem heute vorgelegten Arbeitsförderungs-Reformgesetz
wird ein weiteres wichtiges Reformvorhaben aus der Koalitionsvereinbarung und aus dem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung auf den Weg gebracht.
Zunächst darf ich einmal festhalten, daß Regierung und Opposition übereinstimmend eine Reform der Arbeitsförderung für erforderlich halten. Einigkeit zwischen Regierung und Opposition besteht aber nur hinsichtlich der Feststellung, daß das bestehende AFG deshalb neu gestaltet werden muß, weil es durch zahlreiche gesetzliche Änderungen und durch unzählige Verwaltungsvorschriften unübersichtlich und sogar für Fachleute kaum noch lesbar geworden ist.
Die Zielsetzungen, die auf der einen Seite von der Regierung und auf der anderen Seite von der Opposition mit dem neuen Arbeitsförderungsrecht verbunden werden, unterscheiden sich grundlegend. Die fünf Hauptziele, die wir mit der Reform des Arbeitsförderungsrechts erreichen wollen, sind:
Erstens. Im Vordergrund steht die Verbesserung der Erwerbschancen von Arbeitslosen, mithin die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß.
Zweitens. Dazu sollen die Instrumente der Arbeitsförderung zielgenauer eingesetzt und ihre Wirksamkeit gesteigert werden.
Drittens. Gleiches gilt für die Bundesanstalt für Arbeit. Auch hier sind Effizienzverbesserungen möglich und notwendig.
Viertens. Ein wichtiges Ziel ist für uns auch, daß Leistungsmißbrauch und illegale Beschäftigung wirkungsvoll bekämpft werden können.
Schließlich fünftens. Durch die Effizienzsteigerung und durch die Bekämpfung von Leistungsmißbrauch und illegaler Beschäftigung wollen wir zu Einsparungen kommen, die wir für notwendig halten.
Frau Beck, Sie sind eine Kollegin, die sich gerade mit Arbeitsmarktfragen sehr ernsthaft auseinandersetzt. Sie haben recht, daß wir mit diesem Gesetz Einsparungen vornehmen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, Sie hätten heute in Ihrer Rede einmal einen Vorschlag gemacht, wie Sie denn bei knappen Kassen die Arbeitsförderung verbessern wollen.
Um unsere Zielsetzungen zu erreichen, werden zum einen die Einsatzmöglichkeiten von vorhandenen und bewährten Instrumenten des Arbeitsförderungsgesetzes verbessert. Davon betroffen sind die verschiedenen Formen der Lohnkostenzuschüsse, die berufliche Weiterbildung, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und das Kurzarbeitergeld.
Darüber hinaus werden neue Instrumente geschaffen, mit denen vorhandene Lücken geschlossen werden sollen. Hierbei handelt es sich zum einen um Trainingsmaßnahmen, mit denen kurzfristig und ohne größeren Aufwand festgestellt werden kann,
Julius Louven
was ein Arbeitsloser leisten kann und will. Ferner wollen wir erreichen, daß Sozialpläne nicht nur Abfindungen vorsehen, sondern daß sie auch für frühzeitige Eingliederungsmaßnahmen verwendet werden können.
Weiter sollen spezielle Eingliederungsverträge für Langzeitarbeitslose abgeschlossen werden können.
Es muß bei diesen Instrumenten aber auch wieder einmal deutlich darauf hingewiesen werden, daß sie dazu dienen müssen, in den ersten Arbeitsmarkt zu führen, und daß sie diesen nicht behindern dürfen.
Ich war vorgestern beim Bundesverband für Landschafts- und Gartenbau. Ich war schon erschrocken, dort zu hören, daß im grünen Bereich mehr Arbeitnehmer in AFG-Maßnahmen tätig sind als bei Arbeitgebern. Dies kann wohl nicht richtig sein.
Ich weiß, daß es in den neuen Ländern schwierig ist, dieses Ziel zu erreichen, und auch noch lange schwierig bleiben wird. Deshalb müssen wir beim Zurückführen der Maßnahmen für die neuen Länder Sonderregelungen beschließen. Aber wir müssen auf Dauer zu einer Anpassung der Verhältnisse in Deutschland kommen.
Besonders erwähnenswert ist auch, daß die örtlichen Arbeitsämter neue Gestaltungsspielräume erhalten. In einem bestimmten Umfang können sie künftig entsprechend den Erfordernissen des örtlichen Arbeitsmarktes vergleichsweise frei über zugewiesene Mittel entscheiden. Allerdings müssen die Arbeitsämter darüber jährlich Rechenschaft ablegen. Sie unterliegen insoweit einer Erfolgskontrolle.
Schließlich soll die Einrichtung einer sogenannten Innenrevision in den Arbeitsämtern zu einer Stärkung des Verantwortungsbewußtseins aller Mitarbeiter hinsichtlich der Bekämpfung von Mißbrauch beitragen. Mißbrauch gibt es sowohl auf der Arbeitgeber- wie auf der Arbeitnehmerseite.
Ich habe eingangs darauf hingewiesen, daß sich die Zielsetzungen grundlegend unterscheiden, die auf der einen Seite von der Regierung und auf der anderen Seite von der Opposition mit der Reform der Arbeitsförderung verfolgt werden. Wir haben die Grundentscheidung getroffen, daß die Gewährung individueller Hilfen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß im Vordergrund stehen soll. Nach den Vorstellungen der SPD soll hingegen die Arbeitsförderung erstens die Aufgabe der Strukturförderung übernehmen und zweitens in den Dienst der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gestellt werden.
- Ich halte diesen Anspruch für verfehlt, Herr Gilges. Er schafft sogar gefährliche Erwartungen.
In einer Marktwirtschaft mit Tarifautonomie kann der Staat Vollbeschäftigung nicht garantieren. Der
Versuch, Arbeitslosigkeit mittels staatlicher Beschäftigungsprogramme
einschließlich Arbeitsförderung dauerhaft zu bekämpfen, wurde in vielen Ländern unternommen, Herr Gilges. Er ist aber - wie alle internationalen Vergleichsstudien zeigen - überall gescheitert.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, weigern sich jedoch - ich denke, aus ideologischen Gründen -, dies zur Kenntnis zu nehmen. Es war für mich schon fast deprimierend, Herr Ostertag, wie Sie noch immer an alten Dingen festhalten
und wie wenig Sie bereit sind, sich der neuen Lage zu stellen. Sie weigern sich, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Sie reden von Sozialabbau
und erkennen nicht, daß Ihr Weg in die Sackgasse führt.
Niemand kann ernsthaft in Abrede stellen, daß wettbewerbsfähige Arbeitsplätze nur dann entstehen, wenn die Arbeitskosten erwirtschaftet werden können. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, fordern hingegen flächendeckende Subventionen für Arbeitsplätze.
- Nicht „Quatsch", Herr Gilges, das steht in Ihrem Gesetzentwurf.
Sie verlangen, daß Rechtsansprüche auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verankert werden.
Herr Gilges, möchten Sie eine Frage stellen?
Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf stehen, daß der staatlich geförderte Personenkreis, die zu fördernden Projekte und die Fördermittel erheblich ausgeweitet werden.
Dadurch entstehen keine dauerhaft wettbewerbsfähigen Arbeitsplätze. Damit können Sie den An-
Julius Louven
Spruch nicht einlösen, Arbeitslosigkeit nachhaltig zu bekämpfen.
Insoweit ist auch Ihre Vorstellung irreführend, daß sich eine Ausweitung der Arbeitsförderung in Richtung auf eine Beschäftigungspolitik quasi von selbst finanziert.
Für einen verhängnisvollen Fehler halte ich auch, daß Sie den Staat weiterhin in die Rolle des Reparaturbetriebes für die Fehler der Tarifvertragsparteien drängen wollen.
Die Gewerkschaften haben anerkannt, daß eine moderate und flexible Tarifpolitik unabdingbare Voraussetzung für mehr Beschäftigung ist. Was Sie hingegen vorschlagen, nämlich umfassende Arbeitsbeschaffungsprogramme, mindert den Druck auf die Tarifpartner, arbeitsgerechte Lohnabschlüsse zu tätigen. Auch deshalb verfehlt Ihr Gesetzentwurf das selbstgesteckte Ziel. Wer die aus tariflichem Fehlverhalten resultierende Arbeitslosigkeit durch Arbeitsförderung auffangen will, bekämpft nicht Arbeitslosigkeit, sondern schafft Anreize zur Ausweitung.
Deshalb verteidige ich die von uns getroffene Grundsatzentscheidung nachdrücklich. Im Vordergrund kann nur die Zielsetzung stehen, den von Arbeitslosigkeit betroffenen oder davon bedrohten Arbeitnehmern individuelle Hilfen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß zu geben. Die dafür in Frage kommenden Instrumente müssen in ihrer Wirksamkeit verbessert und neue Instrumente müssen eingesetzt werden.
In diesem Zusammenhang will ich auch kurz auf die Frage der Zumutbarkeit von Arbeit eingehen. Wir weiten den Kreis zumutbarer Beschäftigungen aus.
Künftige Bezieher von Arbeitslosenunterstützung können sich nicht mehr auf einen bestimmten Ausbildungsabschluß berufen, wenn eine geeignete und vom Einkommen zumutbare Arbeit diesem Abschluß nicht entspricht. Ich halte dies für vertretbar. Ich sehe darin keine Abwertung von Ausbildungsabschlüssen, zumal es ja wohl unbestreitbar ist, daß Aus- und Weiterbildung in der jetzigen Zeit wichtiger denn je sind. Jedoch können Ausbildungsabschlüsse nicht die Rolle des Bestandsschutzes für bestimmte berufliche Positionen und insoweit auch nicht für die Höhe der Lohnersatzleistungen übernehmen.
Arbeit, meine Damen und Herren - darauf hat der Arbeitsminister schon hingewiesen -, schändet nicht, auch dann nicht, wenn sie unterhalb des erworbenen Ausbildungsabschlusses aufgenommen wird.
Dieses Reformgesetz wird uns den gesamten Herbst des Jahres beschäftigen, wobei es auch für
uns noch eine Reihe zu klärender Fragen gibt. Ich will zwei nennen, zu denen die Diskussion in meiner Fraktion noch nicht abgeschlossen ist.
Zum einen beschäftigt uns die Frage, ob es bei der Drittelparität in der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit bleiben muß. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß es in einer Selbstverwaltung, die nur mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt ist, klarere Zuständigkeiten gibt. Dadurch könnte verhindert werden, daß sich eine Bank hinter einer anderen versteckt. Bei einer anders gesetzten Selbstverwaltung könnte man dann auch darüber reden, ob nicht Zuständigkeiten auf diese verlagert werden können, die heute nicht bei der Selbstverwaltung angesiedelt sind.
Der zweite Punkt betrifft die künftige Rolle der Landesarbeitsämter. Wenn wir dezentralisieren und die örtlichen Arbeitsämter mit angemessenen Kompetenzen ausstatten, muß die Frage erlaubt sein, ob wir noch die große Anzahl von Landesarbeitsämtern brauchen oder ob nicht eine Mittelinstanz ausreicht, die höchstens fünf oder sechs Standorte hat.
Die dadurch bei den Landesarbeitsämtern eingesparten Arbeitskräfte könnten vor Ort die Effektivität der Arbeitsverwaltung steigern helfen.
Trotz einiger offener Fragen bin ich, meine Damen und Herren von der Opposition, der festen Überzeugung, daß unser Weg der richtige ist und daß wir ein modernes, handhabbares Arbeitsförderungsgesetz vorgelegt haben.
Wir sind selbstverständlich offen für Verbesserungsvorschläge. Nach der Sommerpause werden wir die Sachverständigen anhören. Wir laden Sie ein, den Entwurf mit uns zügig zu beraten, damit das Reformgesetz - dies ist unser Wunsch und Wille - am 1. Januar kommenden Jahres in Kraft treten kann.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Jäger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit gestern liegt von der Koalition ein Antrag vor, in dem es heißt: Bei der Umsetzung der geplanten Einsparungen im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit ist auch ein differenziertes Vorgehen zu beachten, das die besonderen Problemlagen des ostdeutschen Arbeitsmarktes berücksichtigt. - Ich hätte von den Rednern der Koalition gern einmal ein paar Ausführungen zu diesem differenzierten Vorgehen gehört; vielleicht spricht Herr Laumann noch dazu.
Wir sprechen heute über eine Reform, über ein Reformgesetz. Reformen und Veränderungen sind immer dann angebracht, wenn unerwartete oder auch langfristig erwartete Veränderungen und Entwick-
Renate Jäger
lungen nicht mehr in die gegenwärtigen Rahmenbedingungen passen oder diese zu sprengen drohen. Rahmenbedingungen und die Realität sind niemals losgelöst voneinander zu betrachten. Das heißt, einer politischen Maßnahme muß die reale Situation entsprechen.
Deshalb lassen Sie mich, bevor ich auf einige Punkte der AFG-Reform eingehe, die besonders Ostdeutschland betreffen, einen Blick auf die Situation in Ostdeutschland werfen.
Die Insolvenzhäufigkeit im Osten ist fast doppelt so hoch wie die im Westen. Fachleute der Wirtschaft sagen bis Ende 1996 und auch für 1997 eine Welle von Pleiten für Ostdeutschland voraus. Nach guten Anfängen kam das Wachstum in Ostdeutschland Anfang 1996 fast völlig zum Stillstand. Sechs Jahre nach der Einheit gibt es nicht einmal mehr 50 Betriebe mit mehr als 1 000 Beschäftigten. Betriebe mit 400 bis 500 Beschäftigten, die in den alten Ländern zum Mittelstand gehören, sind in Ostdeutschland schon recht große Unternehmen.
Die Arbeitslosenquote betrug im Mai im Osten 15,2 Prozent. Zählt man Beschäftigte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und in Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung dazu, beträgt die Quote derer, die keinen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, 24 Prozent. Auch in der Forschung ist Ostdeutschland abgehängt. Auf 100 000 Einwohner kommen in den alten Ländern 433 Beschäftigte in Wissenschaft und Forschung, in den neuen Bundesländern 118.
Selbst der Wirtschaftsminister, Herr Rexrodt, sieht die neuen Länder noch lange nicht am Ziel. Ich betone es noch einmal: noch lange nicht am Ziel. Es grenzt fast an eine Groteske, wenn die Koalition angesichts dieser Schwächen im Osten mit dem Reformgesetz besonders im Osten sparen will.
Die vorgesehenen Einsparungen im Bereich der Arbeitsförderung für 1997 in Höhe von 1,7 Milliarden DM gehen allein - ich wiederhole: allein - zu Lasten des Ostens. In den späteren Jahren wird dann die Hälfte der geplanten Einsparungen, was aber nahezu dieselbe Summe ausmacht, auf die ostdeutschen Länder abgewälzt.
Das bedeutet, daß in Ostdeutschland nur noch etwa ein Drittel der heutigen Maßnahmen gefördert werden kann. Von den ungefähr 120 000 Teilnehmern in Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung sowie in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Sachsen würden im Jahre 2000 nur noch zirka 38 000 gefördert werden können. Das Ergebnis ist weiter steigende Arbeitslosigkeit. Bis zum Jahr 2000 käme in den neuen Bundesländern eine Viertelmillion an Arbeitslosen dazu, was die Arbeitslosenquote auf nahezu 20 Prozent erhöhen würde.
Im Endeffekt heißt das wieder Mehrausgaben für Arbeitslosigkeit: Mehrausgaben an Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Dabei sind die zusätzlichen Kosten in anderen Bereichen noch gar nicht berücksichtigt, etwa Krankheitskosten durch psychosoziale
Störungen. Auch die negativen Auswirkungen auf Familien, insbesondere auf Kinder, und die Folgen der Perspektivlosigkeit für die Jugend, die sich zum Beispiel in dem Ansteigen der Jugendkriminalität äußern, sind dabei noch lange nicht berücksichtigt.
Wenn die Frauenministerin, Frau Nolte, das Reformgesetz als einen Beitrag für mehr Gleichberechtigung rühmt, dann hat sie dabei nicht berücksichtigt, daß der Frauenanteil im Osten in Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung 63 Prozent beträgt, in Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung 66 Prozent. Das heißt, Einsparungen bei diesen Maßnahmen gehen insbesondere zu Lasten der Frauen.
Bereits mit der jährlichen Kürzung der Arbeitslosenhilfe um 3 Prozent, für die die Koalition ja bereits in der vorigen Woche votiert hat, sind die neuen Bundesländer besonders gekniffen. Die Löhne im Osten sind niedriger; das heißt, die Arbeitslosenhilfe fällt niedriger aus; das heißt, diese Menschen sind alle wesentlich früher auf die Sozialhilfe angewiesen, was insbesondere die schwachen Kommunen des Ostens weiter stark belastet.
Diese Einsparungen im Reformgesetz gehen wieder mehr zu Lasten der finanzschwachen ostdeutschen Kommunen. Wenn wir den Einigungsprozeß vollenden wollen, dürfen ungleiche Belastungen nicht noch verstärkt, sondern sie müssen abgebaut werden.
Die SPD hat in ihrem Entwurf für ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorgeschlagen, daß die Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktförderung einen Anteil von mindestens 50 Prozent haben müssen. Damit durchbrechen wir den Mechanismus des geltenden AFG, der bei ansteigender Arbeitslosigkeit die aktiven Kann-Leistungen durch die passiven Pflichtleistungen verdrängt, was in den neuen Bundesländern ohne eine Sonderförderung für den Osten verheerende Auswirkungen gehabt hätte. Im Reformgesetz der Koalition bleibt dieser alte Mechanismus aber erhalten, und die Sonderförderung Ost wird weitestgehend abgeschafft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich wäre es besser, wir hätten für die Arbeitslosen entsprechende wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Natürlich würden wir lieber alle Arbeitslosen im regulären Arbeitsmarkt unterbringen.
Auch für die SPD haben Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt Vorrang.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wissen das auch bis auf wenige Ausnahmen.
Renate Jäger
Wer anderes behauptet, betreibt bewußte Verleumdung.
Herr Minister Blüm, Sie haben die Bibel zitiert: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten. Das aber haben Sie damit getan, wenn Sie der SPD vorwerfen, sie lege auf den ersten Arbeitsmarkt keinen prioritären Wert.
Der Unterschied besteht doch darin: Neben dem ersten Arbeitsmarkt kann doch bei vier Millionen Arbeitslosen die öffentlich geförderte Arbeit nicht zurückgestutzt werden, wie Sie das tun wollen.
Der Gesamteinsatz der Mittel zur Arbeitsförderung muß doch dann und dort am höchsten sein, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist.
Ihre vorgesehenen Veränderungen der Rahmenbedingungen entsprechen nicht den Realitäten in Ostdeutschland. Natürlich, Herr Blüm, ersetzt das AFG keine verantwortungsvolle Wirtschafts- und Strukturpolitik. Schaffen Sie doch die Rahmenbedingungen dafür, daß die Braunkohlereviere im Osten nicht weiter veröden! Schaffen Sie doch Rahmenbedingungen dafür, daß die kapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bundesländern langfristig eine Chance bekommen! Wenn Sie mehr für den ersten Arbeitsmarkt tun, brauchen wir weniger über den zweiten Arbeitsmarkt zu reden.
Danke schön.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Peter Ramsauer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ob die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu einem langfristigen Dauerproblem wird,
hängt im wesentlichen davon ab, ob wir heute fähig und in der Lage sind, die notwendigen Weichen zu stellen und die richtigen weittragenden Entscheidungen zu treffen. Wer sich solchen Reformen heute widersetzt, verspielt das Vertrauen der kommenden Generation.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist eine wirtschaftspolitische, aber natürlich auch eine sozialpolitische Aufgabe. Die Politik selbst kann unmittelbar keine Arbeitsplätze schaffen, aber es ist unsere Verantwortung, die Rahmenbedingungen so zu setzen,
daß die Wirtschaft aus sich heraus wieder einen im volkswirtschaftlichen Maßstab entsprechend hohen Zuwachs an Beschäftigung zustande bringt.
Wir selbst müssen die Rahmenbedingungen setzen, damit Investitionen stattfinden und damit wir auf dem Weg zur Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 die erforderlichen neuen Arbeitsplätze bekommen. Nur mit einer ausreichenden Beschäftigung ist auch die soziale Sicherheit in Deutschland finanzierbar und gesichert.
Wenn wir gestern lesen mußten, daß die uns allen bekannte stellvertretende DGB-Vorsitzende Frau Engelen-Kefer vor katastrophalen Auswirkungen des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfs gesprochen hat, dann kann diese Bewertung nur allgemeines Kopfschütteln auslösen,
ebenso wie die Äußerung des Kollegen Ostertag von heute morgen, dies sei ein Katastrophengesetz.
- Unterstellte man, daß Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen haben, verstünde man das Ganze ja noch, aber, lieber Herr Kollege Ostertag, mit solchen Äußerungen schaden Sie sich nicht nur selbst, sondern Sie schaden vor allen Dingen auch den Arbeitslosen draußen im Lande,
die von uns Handeln und nicht Nörgelei und Miesmacherei erwarten.
Wir wollen keine Neiddiskussion, wir wollen keine Schlechtmacherei, sondern wir müssen entschlossen handeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Gesetzentwurf zu einem neuen Arbeitsförderungsrecht bezeichne ich als eine kleine Revolution. Das, was dieser Gesetzentwurf vorsieht, wäre vor fünf oder zehn Jahren noch nicht möglich gewesen. Ich bin deshalb auch zutiefst davon überzeugt, daß wir mit diesem Reformvorhaben auch ein Zeichen für die Reformfähigkeit in Deutschland setzen,
denn das ist ein Stück Reformfähigkeit unserer Politik. Wir sind nicht so verkrustet, wie wir manchmal in der veröffentlichten Meinung beschrieben werden. Mit solchen Gesetzen und einem solchen Paket, wie es in der nächsten Woche zur Diskussion anstehen wird, zeigen wir unsere Entschlossenheit, die not-
Dr. Peter Ramsauer
wendigen Reformen in Deutschland auch wirklich parlamentarisch anzupacken.
Die wichtigste Weichenstellung hierbei war, Arbeitsförderung nicht als allgemeine Strukturförderung, sondern als individuelle Hilfe zu verstehen, also als Hilfe zur dauerhaften Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt.
Arbeitsförderungsrecht darf sich nicht als Rastplatz für Arbeitslose, sondern muß sich immer als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt hinein verstehen. Ich gebe zu, meine Damen und Herren, daß sich diese Brückenfunktion in den letzten Jahren ausgedehnt hat und diese Brücke so breit und so tragfähig geworden ist, daß viele diese Brücke mit dem Festland verwechselt haben. Wir müssen diese Brücke wieder etwas schmaler machen, damit sie als Brücke erkennbar wird. Ziel muß der erste Arbeitsmarkt sein, nicht ein dauerhaftes Verharren im zweiten Arbeitsmarkt auf Kosten der Beitragszahler.
Diese Beitragszahler sind nicht nur Arbeitgeber, sondern auch Arbeitnehmer, deren Interessen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, immer besser vertreten zu können vorgeben.
Alle neuen Instrumente zur Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wie der neuartige Eingliederungsvertrag als besondere Chance gerade für Langzeitarbeitslose, Weiterbildungsmaßnahmen für Ungelernte, Unterstützung von Sozialplänen zur Wiedereingliederung entlassener Arbeitnehmer, Trainingsmaßnahmen und Hilfen für Arbeitslose, die eine Existenz als Selbständige aufbauen wollen, sind ausschließlich auf dieses Ziel hin ausgerichtet.
Dagegen kann man, meine Damen und Herren von der SPD, die Grundkonzeption Ihres Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes nur als großen, nach hinten gerichteten Irrtum bezeichnen. Ich glaube, es genügt, wenn ich auf zwei Punkte daraus kurz eingehe.
Zum einen ist Ihr Entwurf nicht zukunftsweisend, sondern rückwärtsgerichtet. Sie fordern beispielsweise die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes, nachdem sich die Tarifpartner auf diesem Gebiet längst geeinigt haben. Sie wollen die Wiedereinführung des Arbeitsvermittlungsmonopols und übersehen, daß gerade die Aufhebung des Alleinvermittlungsrechts der Bundesanstalt für Arbeit dazu geführt hat, daß das Ansehen dieser Anstalt gestiegen ist und ihre Anstrengungen der Arbeitsvermittlung vor Ort erheblich zugenommen haben.
Sie hat den Wind des Wettbewerbs um die behördliche Nase gespürt und sich angestrengt. Sie hat neue Systeme entwickelt, die von den Arbeitslosen hervorragend angenommen werden. Es ist Wind hineingekommen - genau das wollten wir bezwecken, auch wenn im Bereich der privaten Arbeitsvermittlung die Zahl der Vermittlungen nicht so gestiegen ist, wie es manche geglaubt haben.
Zum anderen zeugt der SPD-Vorschlag von einer extremen Ausweitung des zweiten Arbeitsmarktes und damit auch von der Lernunfähigkeit der SPD. Die bisherigen Erfahrungen in Westdeutschland zeigen eindeutig, daß mit einer breitangelegten staatlichen Förderung bestimmter Bereiche ein Strukturwandel nicht beschleunigt werden kann. Die Strukturen werden eher verfestigt, wenn durch überzogene Subventionen volkswirtschaftliche Ressourcen fehlgeleitet werden. Das ist eine alte Binsenweisheit, die man im ersten Semester Volkswirtschaft lernt. Auch die Erfahrungen in Ostdeutschland machen deutlich: Eine unbegrenzte Förderung des Ausbaus des zweiten Arbeitsmarktes würde zu keiner verbesserten Funktionsfähigkeit des Strukturwandels führen.
- Genau, Herr Kollege Hornung. - Im Gegenteil, dadurch würde die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen geschwächt, und neue Arbeitsplätze würden gefährdet.
Der Beitragszahler hat übrigens überhaupt kein Verständnis dafür, wenn seine Beitragsmittel in unsinnige Maßnahmen fließen.
An dieser Stelle ein kurzes Wort an Sie, liebe Frau Kollegin Jäger. Sie haben angesprochen, daß die Arbeitsförderung zuwenig Rücksicht auf die neuen Bundesländer nähme. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht sagen, daß die Solidarität, mit der die alten Bundesländer mit Transferleistungen und mit einer glänzenden Aufbauleistung in der Arbeitsverwaltung dem Strukturwandel und dem Arbeitsmarkt in den neuen Ländern unter die Arme gegriffen haben, in der Welt ohne Beispiel ist.
Das soll uns erst einmal jemand nachmachen.
Wenn beim Übergang von einer kaputten Kommandowirtschaft die Zahl der Erwerbstätigen zunächst einmal um ein Drittel, von 9 Millionen auf 6 Millionen, zurückgeht, damit danach wieder frisch angefangen werden kann, dann können Sie die damit verbundenen Probleme nicht einer scheinbar falschen Arbeitsmarktpolitik in die Schuhe schieben; denn unsere Arbeitsmarktpolitik lebt auch nur von endlichen Ressourcen. Hier ist Hervorragendes geleistet worden: vom Beitragszahler über die Transferleistungen in die neuen Bundesländer, von der dort tätigen, investierenden Wirtschaft und auch - dies sage ich ausdrücklich an die Adresse aller, die in der Arbeitsverwaltung beschäftigt sind - von allen, die in der Arbeitsverwaltung beim Aufbau der Arbeitsämter in den neuen Bundesländern tätig waren.
Dr. Peter Ramsauer
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nur durch den zielgenauen Einsatz der Instrumente, die uns das neue Arbeitsförderungsrecht zur Verfügung stellt, sind die Eingliederungschancen zu erhöhen.
Das neue Arbeitsförderungsrecht gibt die Möglichkeit, für jeden einzelnen Arbeitslosen ein breitgefächertes Maßnahmenbündel zu schnüren. Das Arbeitsamt kann individuell und flexibel auf jeden gegebenen Einzelfall eingehen. Ziel ist also eine ganz persönliche Dienstleistung durch die Arbeitsverwaltung für den und mit dem Arbeitslosen. Dies wird durch einen neuen Innovationstopf der Arbeitsämter ergänzt. Wir nutzen sozusagen die Kreativität vor Ort, um Arbeitslosen entsprechend der persönlichen und örtlichen Situation zu helfen.
Die Arbeitsverwaltung darf sich aber nicht nur dem Arbeitslosen widmen. Sie muß sich künftig auch vermehrt für den engagierten Arbeitgeber einsetzen, der Arbeitsplätze schaffen will. Wir brauchen deswegen ein optimales Zusammenwirken aller Beteiligten, um die notwendige Zahl offener Stellen bereitstellen zu können.
Wir wollen die Arbeitsverwaltung dezentralisieren und schlanker machen; das ist ein weiteres wichtiges Ziel dieser Reform. Wir müssen - auch das wurde schon angesprochen - die gesamte Struktur der Arbeitsverwaltung vom Kopf bis zu den Füßen, bis hinein in die letzten Dienststellen bei den Arbeitsämtern unter die Lupe nehmen. Wenn sich herausstellt, daß die Mittelebene nicht mehr hinreichend Aufgaben wahrnehmen kann oder will, dann müssen wir überlegen, ob wir die Mittelebene der Landesarbeitsämter überhaupt noch brauchen. Es gibt auch hier keine Tabus, zumindest ist aber ihre Zahl erheblich zurückzuschrauben.
Besonders, meine Damen und Herren, liegt mir die Selbstverwaltung vor Ort am Herzen, das heißt, wir müssen die Verwaltungsausschüsse bei den Arbeitsämtern stärken. Bisher - das muß man sich einmal ansehen - sind das Kaffeekränzchen, Informationsveranstaltungen mit geringem Unterhaltungswert. Wir müssen die dort sitzenden Vertreter von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und der öffentlichen Bank mit neuen Kompetenzen und neuen Verantwortungen ausstatten.
Sie müssen in Zukunft über den Geldmitteleinsatz entscheiden können, damit sie einen Anreiz haben, regionale und lokale Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Wir nehmen sie auch in die Verantwortung, indem sie in Zukunft Eingliederungsbilanzen vorlegen müssen.
Ich habe wenig Lust, meine Damen und Herren - da stimmen Sie mir bestimmt zu -, daß alle Klagen über zuwenig funktionierende Arbeitsämter bei uns Parlamentariern abgeladen werden. Ich möchte, daß diese Klagen in Zukunft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bei ihren Vertretern in den Verwaltungsausschüssen vorgebracht werden.
Wir in diesem Hause setzen die Rahmenbedingungen als Gesetzgeber, und gemäß dem Subsidiaritätsprinzip muß dieser Rahmen von den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern vor Ort in den Verwaltungsausschüssen ausgefüllt werden. Das ist regionale Arbeitsmarktpolitik.
Das gleiche Verschlankungsrezept empfehle ich auch dem Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Arbeit. 3 mal 17 Mitglieder plus Stellvertreter ist gleich 102 tagende Mitglieder. Das ist zuviel, meine Damen und Herren. Ich stelle die öffentliche Bank in Frage. Dann hätten wir nur noch 2 mal 17 Mitglieder. Wenn man die Zahl von 17 auf die Zahl pro Bank vor der Wiedervereinigung zurückführt, dann hätten wir 2 mal 13 Mitglieder. Das sind 26. Und das, meine Damen und Herren, wäre ein Verwaltungsrat, der wirklich überschaubar, entscheidungs- und arbeitsfähig wäre.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß mit diesem Gesetzentwurf ein entscheidender Schritt getan wird, damit wir bis zum Jahre 2000 die Zahl der Arbeitslosen auf die Hälfte und im Interesse aller Beitragszahler die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um einige Prozentpunkte reduzieren können. Ich lade Sie, meine Damen und Herren von der Opposition ein, mit uns dabei an einem Strang zu ziehen.
Besten Dank.
Ich erteile dem Abgeordnete Konrad Gilges das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Beginn etwas klarstellen. Herr Blüm ist ein Meister der Propaganda und der Agitation. Das hat er heute morgen wieder gezeigt. Aber, Herr Blüm, es geht kein Weg daran vorbei: Für die vier Millionen Arbeitslosen haben Sie, Ihre Regierung, Ihre Mitstreiter die Verantwortung. Die Zahl von vier Millionen ist ein Ergebnis Ihrer verfehlten Arbeitsmarktpolitik.
Das muß am Anfang einmal klargestellt werden, denn Ihre Propaganda und Agitation erwecken den Eindruck, als wären wir Sozialdemokraten die Verantwortlichen.
Zweitens. Über die Notwendigkeit einer Reform wird überhaupt nicht gestritten. Ist es denn eine Reform, was Sie vorlegen? Hat es etwas mit Reform zu tun? Es ist keine Reform. Es ist ein Sozialabbaugesetz, sonst überhaupt nichts.
Es geht darum, 17 Milliarden DM in der Perspektive
einzusparen und nicht darum, neue Wege zu gehen.
Konrad Gilges
Dann hätten Sie sich unserem Gesetzesentwurf anschließen müssen. Alles, was in Ihrem Reformentwurf gut ist, haben Sie von unserem Gesetzentwurf abgeschrieben. So einfach ist die Welt.
Sie beklagen, daß das Gesetz nicht lesbar sei und daß es 100 Novellen gebe. Nun haben wir immer beklagt, daß Sie die Hauptverantwortung dafür tragen. Wer hat das Gesetz denn einmal oder zweimal im Jahr geändert? Doch Ihre Mitstreiter, Ihre Regierung! Wir haben das Gesetz nicht geändert. Es ist Ihre Verantwortung, daß das Gesetz unlesbar geworden ist, daß es keiner mehr versteht, weder der Arbeitnehmer noch der Arbeitgeber, noch die Beamten in der Arbeitsverwaltung. Es wäre gut gewesen, wenn Sie hier heute morgen einmal zu Ihrer Verantwortung gestanden hätten.
In dem Gesetz von 1969, das Ihr großer Vorgänger Hans Katzer als damaliger Arbeitsminister gemacht hat, gab es ein Gleichgewicht der Schwerpunkte, nämlich der Arbeitsförderung und der Hilfen, des Arbeitslosengeldes. Dieses Gleichgewicht war damals eine wichtige Angelegenheit. Man wollte weg von der reinen Arbeitslosenhilfe, von der Unterstützung, und man wollte dazu kommen, durch Umschulungs-, durch Bildungsmaßnahmen und viele andere Maßnahmen - ich will sie jetzt nicht alle im Detail nennen - aktiv in den Arbeitsmarkt einzugreifen.
Das ändern Sie jetzt mit Ihrem Reformentwurf. Das heißt, das Schwergewicht wird verlagert, indem Sie wieder zur reinen Unterstützungskasse zurückkehren, und das Positive, das 1969 in das Arbeitsförderungsgesetz hineingeschrieben worden ist, wird Zug um Zug eliminiert. Das ist das Schlimme an Ihrem Reformentwurf.
Das heißt, Sie verbessern nichts an der Arbeitsmarktlage. Im Gegenteil, Sie schreiben die Arbeitslosen ab. Das ist der Kern Ihres Reformentwurfs.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Die berufliche Weiterbildung ist ein wichtiges Merkmal für unsere Gesellschaft. Im Gesetz gibt es noch einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Ich finde es nach wie vor richtig, daß es im Gesetz diesen Rechtsanspruch gibt. Welche Chancen hat denn jemand, der aus einem Betrieb ausscheiden muß, der entlassen wird, dessen Qualifikation - das gilt insbesondere für ältere Arbeitnehmer - nicht mehr ausreicht, um wieder in den Arbeitsprozeß hineinzukommen, wenn ihm nicht die Möglichkeit zur Weiterbildung, zur Verbesserung seiner Qualifikation gegeben wird? Das ist die einzige Chance, die ein Arbeitsloser in dieser Gesellschaft hat, um wieder in den Arbeitsprozeß hineinzukommen. Diese Chance nehmen Sie ihm aber, indem Sie aus dem Rechtsanspruch eine Kann-Lösung machen. Das heißt, Sie entscheiden willkürlich nach den finanziellen Gegebenheiten, ob er eine Chance bekommt, in den ersten Arbeitsmarkt hineinzukommen oder nicht. Das, was Sie da mit den Arbeitslosen veranstalten, finde ich schlicht und einfach schofelig.
Dann möchte ich noch etwas zum Ausbildungsvermittlungsmonopol sagen. Ich habe überhaupt nicht verstanden, weshalb Sie das Ausbildungsvermittlungsmonopol der Arbeitsämter abschaffen wollen. Wer soll es denn in Zukunft haben? Wie soll diese Ausbildung denn dann vermittelt werden? Was findet denn da statt? Soll das dem freien Markt überlassen werden? Wollen Sie die Jugendlichen, die in den Arbeitsmarkt hineinwollen, eventuell irgendwelchen privaten Ausbildungsvermittlern überlassen? Das kann doch wohl nicht ernstgemeint sein. Es wäre wirklich vernünftig, wenn Herr Laumann, der, glaube ich, noch ein Herz für Auszubildende hat, eine Klarstellung herbeiführen würde, daß Sie genau das nicht wollen. Die Privatisierung des Ausbildungsmonopols ist, glaube ich, eine schlimme Regelung, die im Gesetzentwurf enthalten ist. Es wäre gut, wenn Sie das hier klarstellen würden.
Angesichts der fortgeschrittenen Redezeit will ich nur noch folgendes sagen: Gestern abend ist mir beim Lesen aufgefallen, daß Sie eine Neudefinition der Arbeitslosigkeit vornehmen. Ich habe immer überlegt, was dahintersteckt, was der Hintergrund für eine solche Neudefinition sein kann. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß Sie nur an der Statistik manipulieren wollen. Nur das kann der Grund sein. Das heißt, Sie wollen mit der Neudefinition von Arbeitslosigkeit die Arbeitslosenzahlen nicht real, sondern künstlich über die Statistik herunterschrauben. Das haben Sie in diesem Land ja schon einmal durchexerziert. Damit ist jedoch keinem Arbeitslosen geholfen. Er bleibt weiterhin arbeitslos, auch wenn Sie die Statistik verändern. Das hat mit Reformen überhaupt nichts zu tun, sondern das ist schlicht und einfach - ich sagte es schon - eine Täuschung der Öffentlichkeit.
Dann will ich noch etwas zu der Frage der Zumutbarkeit sagen. Ich kann mir vorstellen, daß das in den Beratungen und in den Anhörungen noch ein spannender Punkt wird. Sie reduzieren ja die Zumutbarkeitsschwelle und sagen schlicht und einfach: Wenn jemand gemäß seiner Qualifikation nicht vermittelbar ist, muß er auch dann einen anderen Arbeitsplatz annehmen, wenn er nur wenig mehr bekommt als durch die Arbeitslosenunterstützung. Das ist, verkürzt gesagt, Ihre Philosophie - so nennen Sie es ja -, die in diesem Gesetz zum Ausdruck kommt.
Andererseits frage ich mich, Herr Blüm, weshalb ein junger Mensch überhaupt noch eine Qualifikation anstreben soll, wenn diese Qualifikation keinen Wert an sich hat. Warum soll er sich noch qualifizieren - das gilt sowohl für die Erst- als auch für die spätere Weiterqualifikation -, wenn ihm jeder mitteilt: „Es ist egal, welche Qualifikation du hast; du hast keinen Anspruch, gemäß deiner Qualifikation auch einen Arbeitsplatz zu bekommen"?
Konrad Gilges
Das einzig wirklich Wertvolle in dieser Republik stellt die Qualifikation unserer Arbeitnehmer dar.
Wer mit dieser Qualifikation Schindluder treibt, versündigt sich mehr als jeder andere an dem Standort Deutschland.
Deshalb ist das, was Sie unter den Begriff Zumutbarkeit fassen, die Aufforderung an junge Menschen, keine Qualifikation mehr anzustreben.
- Herr Lohmann, als Mitglied des Verwaltungsausschusses eines Arbeitsamtes kenne ich die Probleme vor Ort. Ich weiß, daß zum Beispiel die Deutsche Bahn AG Auszubildende sucht. Sie sucht sie aber deswegen, weil sich junge Menschen nicht bei der Deutschen Bahn ausbilden lassen wollen, da sie dort keine Perspektive haben. Die Deutsche Bahn teilt nämlich gleichzeitig mit: Du wirst von uns nicht übernommen. Wir werden das Personal in den nächsten 20 Jahren um ein Drittel reduzieren.
Warum soll ein junger Mensch in solch einem Betrieb eine Ausbildung machen, die speziell nur auf diesen Betrieb zugeschnitten ist? Ein junger Mensch sieht darin keine Logik. Er sieht also nur eine Chance, diese Ausbildungsmöglichkeit wahrzunehmen, wenn ihm gleichzeitig gesagt wird, daß es eine Weiterbildung gibt, die von uns finanziert wird, und auf Grund dieser Qualifikation ferner die Möglichkeit besteht, woanders einen angemessenen Arbeitsplatz zu bekommen. Das ist die entscheidende Frage, die Sie offenlassen. Diese Angelegenheit wird sich, wie ich glaube, ganz schrecklich auf die Qualifikation unserer Arbeitnehmer auswirken.
Zum Schluß will ich etwas zum zweiten Arbeitsmarkt und zu der 20prozentigen Absenkung des Tariflohnes sagen. Frau Babel, ich bin erschrocken über Ihre Argumentation. Sie sind eine Liberale, und das wissen wir alle.
Ein Grundprinzip der Liberalität, so habe ich es immer verstanden, ist die Möglichkeit, Tarifverträge frei aushandeln zu können. Das heißt: Wenn Tarifvertragsparteien etwas aushandeln, gilt das, und der Staat braucht nicht einzugreifen. Nur bei der Tarif autonomie sind Sie anderer Meinung. Daher frage ich Sie ganz ernsthaft: Weshalb geben Sie Ihren liberalen Standpunkt in bezug auf die Tarifautonomie auf? Weshalb lassen Sie nicht zu, daß die Tarifvertragsparteien aushandeln, welchen Lohn ein Arbeitnehmer erhält, und wollen ihn vom Staat festsetzen lassen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel?
Ja, wenn das noch geht.
Ja, sicher, natürlich. - Frau Babel.
Herr Kollege Gilges, erst einmal vielen Dank, daß Sie bestätigen, daß ich eine Liberale bin.
- Das weiß ich. Ich möchte Sie jetzt auffordern, auch über folgende Frage nachzudenken. Die Tarifautonomie ist dazu geschaffen, daß in freier Aushandlung Löhne für geleistete Arbeit vereinbart werden können. Ich mahne an, daß man beim Aushandeln nicht nur an diejenigen denkt, die einen Arbeitsplatz haben, sondern auch an diejenigen, die keinen Arbeitsplatz haben, nämlich die Arbeitslosen. Dafür muß man zum Beispiel das Instrument der Einstiegstarife für Arbeitslose akzeptieren. Mir geht es darum, daß bei diesen Verträgen die in jetzigen Zeiten für die ganze Arbeitswelt notwendige Flexibilität - das gleiche gilt zum Beispiel auch für die betrieblichen Öffnungsklauseln - und die Ausnahmemöglichkeiten vergrößert werden. Sie stärken die Akzeptanz des Flächentarifvertrags und den Status der Tarifparteien, wenn man den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit gibt, sich in diesen Dingen anpassungsfähig und flexibel zu zeigen. Das möchte ich Ihnen, zur Ermahnung, die Tarifautonomie zu erhalten, ins Stammbuch schreiben. Wenn Sie jetzt nicken, dann bin ich schon ziemlich froh.
Frau Kollegin Babel, das war keine Zwischenfrage, das war schon eine ausgewachsene Intervention. Dementsprechend bekommen Sie, Herr Kollege Gilges, zusätzliche Redezeit.
Ich fasse das in die Frage: Stimmen Sie mir zu?
Ich stimme Ihnen nicht zu, und zwar deswegen nicht, weil es sachlich nicht richtig ist. Frau Babel, wenn Sie einmal in den Tarifvertrag hineinsähen, wären viele Debatten viel einfacher. Es hat immer schon Abstufungen in den Tarifverträgen gegeben.
Es gab immer schon Einstellungstarife. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Ich habe nach meiner Lehre im ersten Jahr als Fliesenlegergeselle mit 80 Prozent des Fliesenlegerlohns angefangen. Im zweiten Gesellenjahr habe ich 90 Prozent bekommen. Erst im dritten Jahr bekam ich den 100prozentigen Gesellenlohn. Das ist in vielen anderen Handwerksbereichen genauso, das ist auch in vielen Betrieben so, zum Beispiel in der Chemieindustrie.
Es ist eine Mär, daß der Arbeitgeber nicht in der Lage sei, jemanden unter dem geltenden Tarifvertrag einzustellen, wenn er das will, auch wenn der Beschäftigte Anspruch auf einen höheren Lohn in die-
Konrad Gilges
sem Betrieb hätte, weil er eine vergleichbare Beschäftigung ausübt. Das ist eine Mär und stimmt in der Sache nicht.
Was die IG Chemie gemacht hat, ist etwas anderes. Sie hat einen speziellen Tarifvertrag für eine bestimmte Gruppe gemacht. Das ist etwas ganz anderes. Dazu sage ich: Das kann man als Tarifvertragspartei natürlich machen, ich bin auch dafür, daß man das unter bestimmten Bedingungen macht.
Aber das, was Sie bei den ABM machen, ist etwas anderes. Sie wollen eine vergleichbare Arbeit um 20 Prozent niedriger bezahlen, nur weil der Beschäftigte in einer AB-Maßnahme ist. Das ist schlicht und einfach eine Lohndiskriminierung.
Ich halte etwas davon, Frau Babel, daß für gleiche Arbeit gleicher Lohn bezahlt wird, ob Mann oder Frau, ob schwarz oder weiß, ob Deutscher oder Nichtdeutscher. Das ist das entscheidende Prinzip. Es darf keine Diskriminierung im Lohn geben.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich als Liberale diesem Prinzip anschließen und diese Freiheit jedem Bürger geben würden.
Mein hauptamtlicher Kollege beim DGB-Kreis Köln, der ein engagierter CDA-Mann
und CDU-Kommunalpolitiker ist und mit dem ich dieser Tage über dieses Gesetz gesprochen habe, hat schlicht und einfach gesagt - das will ich Ihnen als Schlußsatz mitteilen -: Das, was das Gesetz ausmacht, ist, daß Sie von der heutigen Arbeitsmarktpolitik und dem heutigen Arbeitsamt wieder zur Stempelbude zurück wollen.
Ich erteile dem Abgeordneten Karl-Josef Laumann das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns in diesem Haus alle darüber einig, daß die Arbeitslosigkeit sowohl sozialpolitisch als auch gesellschaftlich und wirtschaftlich das größte Problem ist, das wir zur Zeit in Deutschland haben.
Ich bin der Meinung, daß es gut ist, in dieser Situation bei allen Schwierigkeiten ein Stück Augenmaß zu behalten. Angesichts der aktuellen politischen Diskussion, die wir führen, Schlagworte ins Land zu bringen als wären wir dabei, den Sozialstaat zu zerschlagen, Katastrophengesetze zu machen, die Soziale Marktwirtschaft außer Kraft zu setzen und eine Gesellschaft des Heuerns und Feuerns in diesem Land einzuführen, macht deutlich, daß die politische Opposition in Deutschland das Augenmaß verloren hat.
Warum sage ich das? Ich halte viel davon, Politik auch so zu gestalten, daß man den Menschen in diesem Land keine Angst macht. Wir sollten anerkennen, daß wir nicht zuletzt im europäischen Vergleich von einem sehr hohen sozialstaatlichen Niveau aus über eine Umgestaltung reden müssen.
In der Arbeitsmarktpolitik setzen viele - das hat die Debatte heute deutlich gemacht - immer noch sehr stark auf staatliche Beschäftigungsprogramme. Ich gebe zu: Die Idee des sogenannten zweiten Arbeitsmarktes hat etwas Bestechendes. Statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, sei es richtiger, Arbeit zu finanzieren, so lautet das eingängige Motto.
Was in der Diskussion häufig vergessen wird, ist, daß die Politik, bevor ein zweiter Arbeitsmarkt aufgebaut wird, die Verpflichtung hat, erst einmal alles zu tun, den ersten Arbeitsmarkt zu vergrößern, zu stärken und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Dies geht nur, wenn wir auch die Kostensituation auf dem ersten Arbeitsmarkt beachten und uns bemühen, diesen Markt davon zu entlasten. Ich finde, nur dadurch können wir seine Weiterentwicklung fördern.
Herr Kollege Gilges, meiner Meinung nach ist es richtig - Sie haben das in Ihrer Rede so gegeißelt -, daß die Entlohnung auf dem zweiten Arbeitsmarkt niedriger sein muß als auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ich finde, man muß deutlich machen, daß ein künstlicher Arbeitsmarkt ein anderer Arbeitsmarkt ist als der erste Arbeitsmarkt.
Ich habe während meiner politischen Tätigkeit mit vielen Leuten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gesprochen. Wie Sie wissen, habe ich viele Jahre als Schlosser in der Landmaschinenindustrie gearbeitet. Daß die Arbeitsplätze in der privaten Wirtschaft einem ganz anderen Druck ausgesetzt sind als ABM, ist wahr. Ich finde, das muß man in der Entlohnung deutlich machen. Ich meine, es muß Ansporn geben, aus einer ABM herauszugehen, wenn man eine andere Arbeit bekommen kann. Das funktioniert in unserem Land nur über das Portemonnaie. Deswegen halte ich das durchaus für verantwortbar - auch als Abgrenzung zu den Arbeitslosen.
In der Lage, in der wir jetzt sind, werden wir immer nur für einen kleinen Teil der Arbeitslosen ABM anbieten können. Die anderen Arbeitslosen müssen von 60 Prozent ihres vorherigen Einkommens, wenn sie keine Kinder haben, und von 67 Prozent, wenn sie Kinder haben, leben. Ich finde, auch deshalb ist es nicht richtig, zu fordern, bei ABM auf volle 100 Prozent zu gehen.
Karl-Josef Laumann
Meiner Meinung nach sind 80 Prozent ein vernünftiges Maß; sie liegen genau zwischen den genannten 60 und 100 Prozent.
Zum Thema Arbeitsmarkt möchte ich noch folgendes sagen - das ist meine Meinung als Abgeordneter Laumann -: Bei uns im Ausschuß müssen die Fraktionen einmal über die Praxis der Erteilung von Arbeitserlaubnissen an osteuropäische Arbeitnehmer reden. Ich sage Ihnen ganz offen: Was ich nicht verstehen kann, ist, daß wir auf der einen Seite zur Zeit mehr als 4 Millionen Arbeitslose haben und auf der anderen Seite Hunderttausende von Arbeitsgenehmigungen an Polen ausgeben, nur um Spargel und Erdbeeren zu bekommen; ich spreche die Saisonarbeit in der Landwirtschaft an.
Die Erteilung von Arbeitserlaubnissen in der Saisonarbeit greift immer mehr um sich: in Baumschulen, in Gärtnereien, im Gaststättengewerbe. Ich finde, wir haben als deutscher Gesetzgeber die Verpflichtung, zunächst einen Markt für unsere Arbeitskräfte zu erhalten, bevor wir immer mehr Arbeitserlaubnisse im Bereich der Saisonarbeit erteilen.
Meine Damen und Herren, der zweite Arbeitsmarkt kann die Probleme nicht lösen. Die Idee, die Probleme über eine Beschäftigungsgesellschaft zu lösen, haben wir in unserem Land schon einmal gehabt: Die alte DDR war eine Beschäftigungsgesellschaft.
Sie ist pleite gegangen, weil sie die Leute zwar beschäftigt hat, aber nicht mehr produktiv war. Ich glaube, daß deswegen gerade wir wissen müßten, daß wir die Probleme nicht mit einer Beschäftigungsgesellschaft lösen können.
Ich glaube, daß wir in Teilbereichen ergänzend natürlich auch Maßnahmen im Bereich FuU, Fortbildung und Umschulung, und auch ABM brauchen. Ich bin der Meinung, daß wir die großen Probleme im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland auch weiterhin ganz klar sehen müssen. Da, wo es am Arbeitsmarkt am meisten brennt, muß natürlich auch am meisten getan werden. Das ist in den jungen Bundesländern der Fall. Das betrifft aber auch Regionen in den westdeutschen Ländern. Ich denke dabei an die Arbeitslosenraten in dem seit Jahrzehnten von der SPD regierten Bremen und an die höchsten Arbeitslosenraten in dem seit 40 Jahren von der SPD regierten Ruhrgebiet. Auch da muß man etwas tun. Ich glaube, wir sollten die Maßnahmen dort ergreifen, wo wir die meisten Arbeitslosen haben, um die Not etwas zu lindern.
Natürlich wollen wir mit dem Arbeitsförderungsgesetz, das wir Ihnen vorgelegt haben, auch einen Beitrag zur Entlastung der Lohnnebenkosten leisten. Ich finde es gut, wenn ein Gesetzgeber sagt: Wir wollen etwas Neues machen. Aber wir wollen auch eine Beitragsentlastung für die Arbeitnehmer in diesem Land und ihre Arbeitgeber vornehmen und durch
diese Reform versuchen, den Beitragssatz von 6,5 auf 5,5 Prozent herunterzudrücken. Es ist wirklich ein Ansporn, das zu schaffen.
Nur, eines sage ich hier auch: Das macht natürlich nur dann Spaß, wenn wir das auch einmal als Beitragsentlastung weitergeben können. Deswegen unterstütze ich unseren Arbeitsminister in der Auseinandersetzung mit dem Finanzminister. Wir sollten das wirklich in Form der Beitragsentlastung weitergeben und nicht als eine Entlastung für den Bundeshaushalt. Ich sage das ganz deutlich, weil mir dies angesichts der allgemeinen Diskussion als wichtig erscheint.
Herr Gilges, Sie haben in Ihrer Rede auch angesprochen, es sei eine schlimme Geschichte, daß wir das Berufsberatungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit dadurch ergänzen wollten, daß auch Private Beratungen durchführen könnten. Wissen Sie, ich glaube, daß das sehr wohl verantwortbar ist. Wir haben ja diese grundsätzliche Auseinandersetzung schon einmal im Ausschuß geführt, als es darum ging, private Arbeitsvermittler einzusetzen.
- Das haben wir gemacht.
Jeder von uns weiß, daß diese privaten Arbeitsvermittler relativ wenig Arbeitsstellen vermittelt haben. Ich stelle aber fest, daß allein durch die Tatsache, daß es dieses Instrument gibt, in der Amtsstube manchen Arbeitsamtes ein bißchen Wettbewerb entstanden ist. Wenn jemand auf privater Basis junge Menschen beraten will, dann soll er das meinetwegen auch gerne tun. Es wird aber weiterhin eine wichtige Aufgabe auch der Bundesanstalt für Arbeit sein, in diesem Bereich junge Menschen zu beraten und auf die richtige Berufswahl und -entscheidung vorzubereiten.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir nach der Sommerpause, wenn wir dieses Gesetz im Ausschuß beraten, sicherlich grundsätzliche Auseinandersetzungen führen werden, weil die SPD eigentlich einen anderen Weg gehen will. Sie glaubt, mit Strukturförderung einen ganzheitlichen Ansatz im Rahmen eines Arbeitsförderungsgesetzes vornehmen zu müssen.
Wir bleiben bei dem alten Grundsatz des AFG, nämlich der Einzelbetrachtung und damit dem Ziel, im Rahmen der Einzelbetrachtung dem Arbeitslosen die Hilfe zu geben, die ihn wieder schneller in den ersten Arbeitsmarkt gelangen läßt. Ich finde zum Beispiel das Instrument völlig in Ordnung, daß Arbeitslose das Einkommen versichert bekommen und nicht ein Berufsbild. Denn das Berufsbild allein ist es nicht. Ich bin schon der Meinung, daß wir nicht an Berufsbildern festhalten und Arbeitslosen bestimmte Tätigkeiten dann nicht zumuten können, weil man das bisher vom Denkansatz her nicht konnte. Die Überlegungen, das Einkommen zu versichern und Abstufungen in der Form vorzunehmen, daß, je länger einer arbeitslos ist, desto mehr man in seinen
Karl-Josef Laumann
Lohnvorstellungen nach unten gehen muß, sind meines Erachtens richtig. Das ist einfach die Lebenswirklichkeit. Die können Sie auch mit Gesetzen nicht außer Kraft setzen.
Wir würden uns im Rahmen eines Arbeitsförderungsgesetzes auch übernehmen, wenn wir damit strukturpolitische Aufgaben lösen wollten. Denn wir haben nun einmal einen föderalen Aufbau unseres Landes. Wahr ist auch, daß im Rahmen dieser föderalen Aufgabenverteilung für Strukturpolitik in erster Linie die Bundesländer zuständig sind und nicht die Arbeitslosenversicherung.
Ich freue mich auf jeden Fall auf die Beratungen, die wir im Herbst in aller Ruhe über dieses Gesetz - im Grunde über die beiden Gesetzentwürfe - durchführen werden. Alles in allem werden wir in der Lage sein, in diesem Bundestag ein modernes Arbeitsförderungsgesetz zu verabschieden, das auch die Flexibilität der Bundesanstalt für Arbeit erhöht. Der hierarchische Aufbau der Katholischen Kirche ist meiner Meinung nach in Ordnung; bei den Arbeitsämtern aber sollten wir ihn beseitigen, indem wir den unteren Arbeitsämtern mehr Möglichkeiten geben, vor Ort aus ihrer Situation heraus zu entscheiden.
Schönen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Abgeordneten Gisela Babel das Wort.
Herr Kollege Gilges, ich möchte noch einmal auf den Punkt zurückkommen, den Sie in Ihrer Rede ansprachen, als Sie sagten: Wir sind für gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
- Und am gleichen Ort.
Ich will Sie folgendes fragen: Wie kommt es denn, daß dann derselbe Baggerführer, der im Osten dieselbe Arbeit gemacht hat, nämlich Räumarbeiten, im Bereich der Geltung der Metalltarife, im Bereich der Geltung der Chemietarife oder in der Landwirtschaft unterschiedlich bezahlt worden ist, nämlich in dem einen Fall 57 000 DM im Jahr, im anderen 36 000 DM im Jahr und im letzten 24 000 DM im Jahr bekommen hat? Das kann doch nun kaum Sinn machen, vor allen Dingen sollte man es nicht bei AB-Maßnahmen wiederholen.
Ich wollte Ihnen eine zweite Frage stellen. Empfinden nicht auch Sie, daß bei einer Betätigung in einer AB-Maßnahme mit einem abgesenkten Lohn der Anreiz, in einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu wechseln, wo es Risiken der Arbeitsplatzerhaltung gibt, während es bei der AB-Maßnahme für eine gewisse Frist kein Risiko gibt, erhalten bleiben muß? Wir haben oft Klagen gerade aus den neuen Bundesländern gehört, daß es den kleineren Betrieben, den Handwerkern nicht gelingt, Arbeitnehmer aus AB-Maßnahmen für eine dauerhafte Beschäftigung in ihrem Betrieb zu gewinnen. Eine Ursache dafür ist der fehlende Anreiz, von einer AB-Maßnahme in eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu wechseln. Wenn wir nicht darauf achten, daß ein solches Element des Anreizes bei der Entlohnung bei AB-Maßnahmen wirklich verankert wird, dann handeln wir falsch, dann steuern wir falsch.
Herr Kollege Gilges, Sie können darauf antworten.
Frau Babel, ich will zu Ihrer ersten Frage folgendes sagen. Die Tatsache, die Sie ansprechen, daß es unterschiedliche Tarifverträge gibt, legitimiert überhaupt nichts. Wir und auch die Gewerkschaften beklagen dies. Unser ganzes Streben in den letzten 50 Jahren war immer, durch Veränderungen der Tarifverträge Angleichungen zu erreichen. Das heißt, die Differenzierung in den Tarifverträgen, die unterschiedliche Bezahlung hat uns große Sorgen und Schwierigkeiten gemacht. Eine solche Angleichung haben die Arbeitgeber leider verhindert; sie wollen die Differenzierung.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus dem öffentlichen Dienst nennen. Die Gewerkschaften haben gesagt, man muß die Bezahlung in den unteren Lohngruppen im öffentlichen Dienst anheben und die der Staatssekretäre, der Minister und Oberstadtdirektoren nicht anheben; sie könnten in diesem Jahr mit einer Null-Runde auskommen. Wir werden einmal sehen, wie diese Frage ausgeht.
Gerechtigkeit in der Lohnfindung ist ein großes Ziel der Gewerkschaften. Deshalb - ich sage es noch einmal - kann der Mißstand, den Sie dargestellt haben, nicht zur Begründung einer Absenkung der Bezahlung herangezogen werden. Man muß es in Richtung Angleichung verändern.
Auch zu möglichen Anreizen bei ABM will ich Ihnen etwas sagen. Sie können darüber durchaus mit mir streiten. Die ÖTV hat ein Modell entwickelt, nach dem 80 Prozent der Vergütung gezahlt werden, aber auch nur 80 Prozent der Arbeitszeit gearbeitet wird und in den restlichen 20 Prozent der Arbeitszeit eine Weiterbildungsmaßnahme erfolgt. Bei einer Fünftagewoche wird also vier Tage gearbeitet, die bezahlt werden, und am fünften Tag wird eine Weiterbildungsmaßnahme besucht. Damit wird die Möglichkeit, in den ersten Arbeitsmarkt hineinzukommen, verbessert. Genau das verhindern Sie aber. Das wollen Sie eben nicht. Schreiben Sie doch hinein, daß die Zeit, die gearbeitet wird, bezahlt wird, gleichzeitig aber eine Fortbildungsmaßnahme besucht werden muß! Dann hätten Sie uns wahrscheinlich auf Ihrer Seite. Das ist doch der entscheidende Punkt.
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Im Ergebnis bleibt, daß Sie jemanden bestrafen wol-
Konrad Gilges
len, der sowieso schon in einer schwierigen sozialen Lage ist.
Ich erteile dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Geißler hat heute morgen gesagt, diejenigen, die in der Öffentlichkeit verkünden, der Sozialstaat in Deutschland werde plattgemacht, hätten nicht alle Tassen im Schrank.
Dem Kollegen Geißler ist von Frau Beck dann zu Recht entgegnet worden, es komme nicht auf die Betrachtung einzelner gesetzlicher Regelungen an, sondern entscheidend darauf, das Zusammenwirken verschiedener gesetzlicher Maßnahmen in seinen gesellschaftspolitischen Auswirkungen zu betrachten. Ich will Ihnen dazu ein aktuelles Beispiel geben.
Wenn ein Arbeitnehmer, der Mitte fünfzig ist, mit einem durchschnittlichen Einkommen in einem kleinen oder mittelständischen Betrieb, in dem keine Sozialplanregelungen bestehen, arbeitslos wird, dann wird dieser Arbeitnehmer zunächst in die zu kürzenden Beträge des Arbeitslosengeldes und anschließend in den Arbeitslosenhilfebezug hineingeraten. Die Arbeitslosenhilfe soll nach dem Willen der Bundesregierung jährlich um 3 Prozent gekürzt werden. Er wird dann teilweise in die Sozialhilfe rutschen.
Wenn er wegen Arbeitslosigkeit mit 60 Jahren in Rente geht, hat er damit zu rechnen, daß er für den Rest seines Lebens Abschläge von der Monatsrente in Höhe von knapp 20 Prozent hinnehmen muß. Wenn dieser Rentner den Haushalt mit seiner Ehefrau, die die Familie versorgt und vier Kinder großgezogen hat, teilt, dann hat dieses Rentnerehepaar ein Monatseinkommen, das unterhalb der Sozialhilfeschwelle liegt. Das heißt, dieses Rentnerehepaar ist auf zusätzliche Gelder aus der Sozialhilfe angewiesen.
Wohlgemerkt ein Rentnerehepaar, bei dem der Ehemann als Arbeitnehmer über 40 Versicherungsjahre, das heißt über 40 harte Arbeitsjahre hinter sich gebracht hat. Er darf im Alter mit seiner Ehefrau teilweise von der Sozialhilfe leben.
Wenn dieses Ehepaar von kaputtem Sozialstaat redet, wer hat dann hier nicht alle Tassen im Schrank, der Kollege Blüm oder dieses Ehepaar?
Ich könnte Beispiele dieser Art auf viele andere Felder übertragen. Entscheidend ist die Auswirkung verschiedener gesetzlicher Maßnahmen auf gesellschaftliche Fallgruppen. Da kann mit Fug und Recht sehr wohl von einem Kaputtmachen des Sozialstaates gesprochen werden.
Mein Thema ist ein anderes, nämlich das AFRG, dessen erste Lesung heute ansteht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, die entscheidende Meßlatte für die grundlegende Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes ist die Frage, ob mit dem novellierten Arbeitsförderungsgesetz ein nennenswerter Beitrag zu dem von der Bundesregierung proklamierten Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 geleistet werden wird.
Die wesentlichen Eckpunkte dieses Gesetzes lauten: Erstens. Die noch vorhandenen arbeitsmarktpolitischen Instrumente werden weiter rabiat zurückgefahren. Kollegin Jäger hat darauf hingewiesen. Die Auswirkungen, nur auf Ostdeutschland bezogen, bedeuten die zusätzliche Arbeitslosigkeit für über 250 000 Menschen auf der Zeitachse dieses Gesetzentwurfes. Das heißt, von einem bemerkenswerten Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kann nicht nur keine Rede sein, sondern dieser Gesetzentwurf wird in seinen Folgewirkungen die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter dramatisch erhöhen.
Zweitens. Die Kernziele des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969 sind in den Eingangsparagraphen zu finden. Da heißt es: Es soll ein Beitrag zur Erzielung und Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsstandes geleistet werden. Nachteilige Folgen aus dem wirtschaftlichen Strukturwandel sollen möglichst vermieden werden. Das waren die Kernziele des alten Arbeitsförderungsgesetzes. Diese Kernziele werden mit der Novellierung ausdrücklich aufgegeben. Es ist nicht mehr die Rede davon, daß ein Beitrag zur Wiederherstellung eines hohen Beschäftigungsstandes geleistet werden soll - und dies in einer Zeit, 1996, mit vier Millionen registrierten Arbeitslosen, während wir zum Zeitpunkt des Inkraftsetzens des alten Arbeitsförderungsgesetzes in Westdeutschland eine Arbeitslosenquote von etwa 0,8 Prozent hatten.
Bei einem dramatischen Wandel wird gerade das Gegenteil dessen getan, was politisch notwendig wäre, nämlich dafür zu sorgen, daß über eine aktive Arbeitsmarktpolitik auch hier ein nennenswerter Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleistet wird.
Meine Damen und Herren, den Vogel hat heute morgen Kollegin Hellwig abgeschossen, die ich bislang für einen intelligenten Menschen gehalten habe. Die Kollegin Hellwig ist der Auffassung, daß aktive Arbeitsmarktpolitik kommunistisches Gedankengut sei.
Damit hat sie wirklich den Vogel abgeschossen.
Dann müßten nämlich die Vertreter der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im Jahre 1969 sämtlich
Ottmar Schreiner
heimliche Kommunisten gewesen sein. Das ist die Logik dieses Gedankengangs.
Es ist nicht zu fassen, wie tief hier Teile der Koalitionsfraktionen auch intellektuell abgesunken sind.
Der Kollege Blüm, der Bundesarbeitsminister, hat davon geredet, man dürfe nicht zulassen, daß die Langzeitarbeitslosigkeit im toten Winkel der Gesellschaft, in der Ecke der Resignation lande.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hellwig?
Ich habe gerade versucht, ein Gespräch mit dem Kollegen Blüm in Gang zu bringen.
Das können Sie dann im Anschluß tun. Ich halte die Uhr an.
Bitte schön.
Herr Kollege, können Sie mir zustimmen,
daß ich in bezug auf Frau Beck gesagt habe, daß es mich an den Kommunismus erinnere, wenn sie die Förderung des Einstiegs in den ersten Arbeitsmarkt als Geldverschwendung verteufele und gleichzeitig den zweiten Arbeitsmarkt als den edlen beschwöre? Können Sie dieser Feststellung auch zustimmen?
Nein, dem kann ich nicht zustimmen, weil schon Ihre Unterstellung in bezug auf Frau Beck nicht stimmen kann; denn die Kollegin Beck ist so intelligent, daß sie weiß, daß die Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes sehr wohl zur Förderung der Wiederaufnahme von Arbeit im ersten Arbeitsmarkt eingesetzt werden können.
Ihre Unterstellung ist also bereits im Ansatz so falsch, daß ich vermute, daß Sie von Dingen reden, von denen Sie wirklich nichts verstehen.
So etwas kann man im Wirtshaus tun, sollte es aber im Parlament tunlichst vermeiden.
Nun zu der Äußerung des Kollegen Blüm, man solle die Langzeitarbeitslosen aus dem toten Winkel der Gesellschaft herausholen. Diese Absicht ist löblich. Sie selbst gehen in Ihrem Gesetzentwurf davon aus, daß im Jahr 2000 Mehrausgaben bei der Arbeitslosenhilfe in einer Größenordnung von rund 3,5 Milliarden DM entstehen werden. Das heißt im Klartext: Sie gehen davon aus, daß unter anderem als Auswirkung Ihres eigenen Gesetzentwurfes die Langzeitarbeitslosigkeit in den nächsten Jahren weiter deutlich ansteigen wird.
Kollege Blüm, es ist pure Heuchelei, was Sie heute morgen mit Ihrem Weihrauchfaß veranstaltet haben.
Der nächste Punkt: Der Gesetzentwurf enthält eine deutliche ideologische Komponente. Es soll massiv Druck auf die Arbeitslosen ausgeübt und damit der Schein erzeugt werden, Arbeitslosigkeit sei primär ein bloß individuelles Problem, das auch individuell lösbar sei. Das ist der ideologische Kern der Repressalienkataloge, die Sie zukünftig verschärft gegen Arbeitslose anwenden wollen. Arbeitslosigkeit wird von der Regierung nicht mehr als gesellschaftspolitisches Problem begriffen, sondern als ein individuelles und individuell lösbares Problem. Das ist eine grundfalsche Einschätzung der Lage.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Bundesregierung führt im Ergebnis zu einem weitgehenden Rückzug des Staates aus seiner beschäftigungspolitischen Verantwortung. Wir brauchen heute bei 4 Millionen registrierten Arbeitslosen mehr denn je eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Vorrang genießt vor der phantasielosen bloßen Finanzierung von Arbeitslosigkeit.
Ich will Ihnen nicht vorenthalten, was Frau Martens in der vorigen Woche in der Wochenzeitung „Die Zeit" zu dem Gesetzentwurf geschrieben hat. Ich zitiere:
Ein wesentlicher Baustein der sozialen Marktwirtschaft, 1969 von der Großen Koalition zusammen mit anderen Gesetzen der Konjunktur-, Stabilitäts- und Wachstumspolitik, der Berufsbildungsreform und der Sozialhilfereform zu einem Paket geschnürt, wird damit zu Grabe getragen. Die soziale Flankierung des Strukturwandels wird staatlichen Sparzwängen geopfert, betriebswirtschaftliche Belange werden vor gesellschaftspolitische Interessen gestellt.
Das ist die Kommentierung von Frau Martens. Ich glaube, sie trifft den Kern.
Im Ergebnis wird dieser Gesetzentwurf dazu führen, daß aus der Bundesanstalt für Arbeit wieder das wird, was sie vor 1969 und vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen ist: eine Bundesversicherungsanstalt
Ottmar Schreiner
für Arbeitslosigkeit. Das ist der reaktionäre Weg zurück, den Sie hier vorzeigen.
Letzter Punkt. Die Koalition hat bis zur Stunde die zentrale Frage, mit welchem Konzept, mit welchen Schritten und mit welchen Überlegungen Sie das von Ihnen proklamierte Ziel Halbierung der Arbeitslosigkeit bis 2000 - dieses Ziel wird von den Sozialdemokraten uneingeschränkt unterstützt - realisieren wollen, nicht beantwortet.
Die Ausgangslage - wenn ich etwas mehr Zeit hätte, könnte ich sie Ihnen ausführlich schildern - ist, daß die Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums plus 2 Prozent beträgt, das heißt, erst oberhalb dieser Wachstumsrate haben wir positive Beschäftigungseffekte auf Grund von wirtschaftlichem Wachstum. Sie kennen die Wachstumsrate dieses Jahres. Sie kennen die Prognosen für die nächsten Jahre. Eines kann man mit Sicherheit sagen: daß über wirtschaftliches Wachstum in den nächsten Jahren die Arbeitslosigkeit, wenn überhaupt, nur marginal zurückgeführt werden wird.
Dann ist die Frage: Was haben Sie als Halbierungsstrategie anzubieten? Alles, was Sie bisher gemacht haben, führt in die genau umgekehrte Richtung, nämlich zu weiteren Erhöhungen oder zur passiven Hinnahme der Arbeitslosigkeit.
Dazu nenne ich Ihnen ein paar Stichworte. Die Bundesregierung ist neben der britischen Regierung die einzige Regierung in Europa, die massiv zu verhindern sucht, daß in der Europäischen Union eine beschäftigungspolitische Initiative gestartet wird und daß beschäftigungspolitische Ziele in den Maastricht-Vertrag aufgenommen werden. Die Teilzeitoffensive der Bundesregierung ist bereits in den Rheinauen kläglich gescheitert: Sie lehnen im Parlament eine Initiative des Bundesrates ab, die mit ähnlichen Förderkonditionen arbeitet wie bei der Altersteilzeit. Selbst das lehnen Sie ab.
Herr Kollege Schreiner, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß.
Vor diesem Hintergrund ist die behauptete Halbierung der Arbeitslosigkeit als Ziel der Bundesregierung ein gigantisches Täuschungsmanöver.
Letzter Satz. Da der Kollege Blüm heute morgen die Bibel mehrfach zitiert hat, sage ich: Wenn derjenige heute unter uns wäre, der vor 2 000 Jahren die Falschmünzer aus dem Tempel gejagt hat, wären die Plätze der Regierungsbank und ebenfalls die der Koalitionsfraktionen ganz rasch leer.
Zu einer Kurzintervention gebe ich nun das Wort dem Abgeordneten Norbert Blüm.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn heute morgen etwas zu beweisen war, dann die Tatsache, daß die SPD die Güte der Arbeitsmarktpolitik allein davon abhängig macht, wieviel Geld ausgegeben wird. Das, finde ich, ist ein Offenbarungseid der Einfallslosigkeit.
Daß dieses Arbeitsförderungsgesetz, wie wir es vorlegen, mit neuen Instrumenten arbeitet, hat etwas mit neuen Ideen zu tun.
Beispielsweise der Eingliederungsvertrag, der den Langzeitarbeitslosen hilft. Er nimmt dem Betrieb das Lohnfortzahlungsrisiko. In erster Linie ist das eine Verminderung von Aussperrungsblockaden, die gegen Langzeitarbeitslose errichtet worden sind.
Sie denken immer nur: Je mehr Geld, um so besser. Das finde ich ganz typisch für die Sozialdemokraten. Geld ersetzt nicht Geist. Das sage ich noch einmal.
Zweiter Punkt: Weiterbildung mit Rechtsanspruch. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet, daß der Betrieb sagt: Du hast einen Rechtsanspruch, laß dich doch von der Bundesanstalt ausbilden. Ich bleibe dabei: Weiterbildung ist in erster Linie eine Aufgabe der Betriebe selber. Die Bundesanstalt hat nur eine Ersatzfunktion. Jeder Rechtsanspruch entlastet die Betriebe von dieser Pflicht und schiebt sie den öffentlichen Kassen zu.
Dritter Punkt. Zu der Aussage, daß das Monopol bei der Lehrstellenvermittlung aufgelöst wird, sagt der Kollege Gilges unter dem Beifall seiner Fraktion: Wer soll denn dann vermitteln? Offenbar kann sich die SPD nur vorstellen, daß Monopole vermitteln.
Das ist ein Offenbarungseid.
Es nimmt doch niemand der Bundesanstalt das Recht, auch weiterhin so gut wie bisher zu vermitteln. Aber die Wirklichkeit ist doch längst darüber hinausgegangen. Wollen Sie eine Industrie- und Handelskammer, wollen Sie eine Pfarrei oder einen Wohlfahrtsverband dafür bestrafen, daß sie mithelfen, Lehrstellen zu suchen? Das ist der alte sozialdemokratische Glaube: Nur der Staat kann gut sein.
Für alle, die zuhören, wiederhole ich die Offenbarungseide: Erstens. Geld ist alles. Zweitens. Der Staat
Dr. Norbert Blüm
kann alles besser. Ein Offenbarungseid der Einfallslosigkeit der Sozialdemokraten!
Herr Kollege Schreiner, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu antworten. Bitte sehr.
Herr Präsident! Der Kollege Blüm frißt wirklich fast täglich sein eigenes Wort. Es ist unglaublich, zu welchen Pirouetten Sie, Herr Minister, fähig sind. Unglaublich!
Sie haben 1991, als es angesichts einer dramatischen Beschäftigungslage in Ostdeutschland darum ging, die Arbeitsmarktinstrumente rasch hochzufahren, immer wieder betont - selbst in Hochglanzbroschüren des Ministeriums -: Arbeit fördern ist nicht teurer als Arbeitslosigkeit finanzieren.
Gilt dieser Satz noch?
Wenn dieser Satz noch gilt, können Sie uns nicht mit Ihrem ersten Vorwurf begegnen, die SPD wisse nur, wie Geld ausgegeben werden könne. Das ist dann dummes Zeug.
Das ist wirklich grober Unfug. Wenn grober Unfug strafbar wäre, wären Sie Serientäter.
Entweder das gilt, oder das gilt nicht.
Der zweite Punkt. Der Kollege Louven hat heute morgen eigentlich die Katze aus dem Sack gelassen. Es geht nicht um die Frage, wie hoch der finanzielle Beitrag zur Arbeitsförderung sein soll. Das ist überhaupt nicht die Frage. Der Kollege Louven hat heute morgen nämlich sinngemäß gesagt: Eine kochentwickelte Arbeitsmarktpolitik reduziert die offen ausgewiesene Arbeitslosigkeit. Wenn die offen ausgewiesene Arbeitslosigkeit sinkt, dann nimmt der Druck ab, Verträge mit möglichst niedrigen Löhnen abzuschließen. Das heißt im Umkehrschluß: Der Kollege Louven vertritt als sozialpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die klare Botschaft: je höher die Arbeitslosigkeit, um so niedriger die Löhne. Das sei die Lösung des Problems. Das ist erneut großer Unfug.
Ich schließe damit die Aussprache.Wir haben nun eine Reihe von Abstimmungen zu erledigen. Wir beginnen mit einer Überweisung.Interfraktionell wird die Überweisung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung auf Drucksache 13/4941 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen nun zur Abstimmung über eine Reihe von Gesetzentwürfen in zweiter Lesung. Ich lasse in der Reihenfolge der Größe der Fraktionen der Antragsteller abstimmen.Wir stimmen zunächst über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes auf Drucksache 13/715 ab. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/2727 unter Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 13/715 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen und der Gruppe der Opposition abgelehnt.Da der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt worden ist, entfällt damit nach der Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich lasse nun über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes auf Drucksache 13/691 abstimmen. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/2727 unter Buchstabe b, auch diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/691 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt worden ist.Damit entfällt auch in diesem Falle die weitere Beratung.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes auf Drucksache 13/581. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/2727 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 13/581 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Gruppe der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996 10039
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschPDS bei Stimmenthaltung im übrigen abgelehnt worden ist.Damit entfällt auch in diesem Falle die weitere Beratung.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes - Nichtberücksichtigung der Kirchensteuer in den neuen Ländern - auf Drucksache 13/1843. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/3206, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 13/1843 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen abgelehnt worden ist.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und b und die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Anke Fuchs , Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDen wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands voranbringen- Drucksache 13/4702 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
FinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschußb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Manfred Hampel, Tilo Braune, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEinsetzung eines Ausschusses Aufbau Ost - Drucksache 13/4572 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft HaushaltsausschußZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz , Antje Hermenau, Vera Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNeue Impulse für den Aufbau Ost- Drucksache 13/4946 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
FinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung HaushaltsausschußZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul Krüger, Gunnar Uldall, Dr. Hermann Pohler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Rainer Ortleb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Aufbau Ost vorantreiben - Drucksache 13/4979 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung HaushaltausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Rolf Schwanitz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlaß dieser Debatte heute ist ein Antrag meiner Fraktion zum wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands. Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt werden können. So titelte ein nicht einflußloses Wochenmagazin dieser Tage: „Absturz Ost - Das Ende der Blütenträume".
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte bereits im März in ihrem Jahresarbeitsmarktbericht Ostdeutschland auf die verheerende wirtschaftliche Situation in den neuen Ländern aufmerksam gemacht, als noch die Bundesregierung und ihre Helfershelfer von Ostdeutschland als der „dynamischsten Region Europas" schwärmten. Der Sachverständigenrat und die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben unsere Befunde wenige Wochen später bestätigt. Zwischenzeitlich mußte selbst die Bundesregierung in Brüssel kleinlaut zugeben, daß sich Ostdeutschland in einer kritischen Lage befindet. Von „blühenden Landschaften" und der „dynamischsten Region Europas" kann keine Rede mehr sein.
Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern hat sich im vergangenen Jahr dramatisch verschlechtert. Praktisch ist die Aufholjagd Ostdeutschlands gegenüber Westdeutschland beendet. Ich will das an fünf Eckpunkten festmachen:
Erstens. Das Wirtschaftswachstum ist regelrecht abgestürzt: von 9,4 Prozent Ende 1994 auf 0 Prozent Anfang dieses Jahres. Zur Zeit wächst die Wirtschaft im Westen schneller als im Osten.
Zweitens. Der Bauboom, der eigentliche Motor der Konjunktur im Osten, bricht zusammen. Die Auftragslage im Baugewerbe ist katastrophal.
Drittens. Die Investitionstätigkeit geht zurück, vor allem im verarbeitenden Gewerbe, also dort, wo es am notwendigsten wäre. Die gesamtwirtschaftlichen
Rolf Schwanitz
Investitionen werden im nächsten Jahr um mehr als 3 Prozent schrumpfen.
Viertens. Der äußerst bescheidene Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen seit der zweiten Hälfte 1993 ist schon fast wieder aufgezehrt worden. Was nach sechs Jahren deutscher Einheit bleibt, ist der Verlust von über 3,5 Millionen Arbeitsplätzen. Das ist eine bittere Bilanz sechs Jahre nach der Wiedervereinigung.
Fünftens. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen steigt saisonbereinigt, im Mai 1996 allein um 140 000. Wir alle wissen, daß dies nur die Hälfte der Wahrheit ist. Die Zahl der Unterbeschäftigten, also derjenigen, die arbeitslos sind, und derjenigen, die in irgendwelchen Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit stecken, lag im Mai 1996 bei 1,95 Millionen oder 27,8 Prozent. Das ist mehr als doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Das ist die Lage, und niemand - auch hier in diesem Haus - sollte diese Situation beschönigen.
Meine Damen und Herren, was wir heute in den neuen Ländern vorfinden, ist ein wirtschaftlicher Torso. Von einer funktionierenden Marktwirtschaft kann keine Rede sein. Die wirtschaftliche Entwicklung ist noch nicht selbsttragend, sondern weitestgehend von Transfers aus Westdeutschland abhängig. Angesichts dieser wirtschaftlich dramatischen und sozial explosiven Lage erklärt die Bundesregierung: Wir haben zur Zeit keinen Handlungsbedarf, wir warten bis zum nächsten Jahr und werden dann entscheiden, ob etwas - und gegebenenfalls was - getan werden muß. - Das ist das, was die Bundesregierung heute sagt.
Dabei ist es ja nicht so, als ob die Bundesregierung nichts tut. Sie tut schon etwas, nur etwas vollkommen Falsches. Die Bundesregierung untergräbt die solidarische Finanzierung des wirtschaftlichen Aufbaus in Ostdeutschland.
Die Bundesregierung kürzt die investiven Ausgaben im Bundeshaushalt. Die Bundesregierung streicht die steuerliche Investitionsförderung zusammen. Die Bundesregierung höhlt die arbeitsmarktpolitischen Hilfen aus und vermehrt damit direkt die Zahl der Arbeitslosen. Die Wahrheit ist: Das Programm der Bundesregierung, das nach ihren eigenen Worten und Ankündigungen für mehr Wachstum und Beschäftigung sorgen soll, wird in Ostdeutschland das genaue Gegenteil bewirken. Es wird dort weniger Wachstum und weniger Beschäftigte geben, meine Damen und Herren. Was Sie tun, ist nichts anderes, als die lebensnotwendigen Hilfen für Ostdeutschland zum Ausschlachten freizugeben. Besonders bei den beiden kleinen Koalitionsparteien F.D.P. und CSU werden hierbei immer neue Begehrlichkeiten geweckt, um ihre Klientel zu bedienen. Dabei wird darauf gepfiffen, welche Folgen dies für die Wirtschaft und das Gemeinwesen haben wird.
Den Solidaritätszuschlag ersatzlos zu kürzen zu einem Zeitpunkt, in dem der wirtschaftliche Aufbau Ostdeutschlands ins Stocken geraten ist, ist einfach absurd.
Als die F.D.P. mit ihrer unsäglichen Diskussion über die Abschaffung des Solidaritätszuschlags vor den Landtagswahlen am 24. März begann, meinte der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf - ich zitiere -:
Die F.D.P. hat offensichtlich Ostdeutschland parteipolitisch abgeschrieben und glaubt deshalb, auch keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen.
Das trifft genau den Punkt, um den es geht.
Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Türk?
Ich würde sie gerne im Anschluß beantworten. Ich renne Ihnen nicht weg, Herr Türk.
Oder nehmen wir uns die CSU vor: Ministerpräsident Edmund Stoiber und sein Finanzminister Erwin Huber sind im Dauereinsatz, um immer neue ungerechtfertigte Ostsubventionen auszumachen. Ich muß allerdings sagen, daß ich angesichts der Kürzungsvorschläge von seiten der CSU - auch dessen, was im Bundesrat läuft - einen schlimmen Verdacht hege, der schon längst hätte ausgeräumt werden müssen.
Der „Münchner Merkur" machte am 3. November des letzten Jahres eine Meldung mit der Überschrift auf: „Keine DM für PDS-Wähler". In der Meldung hieß es - ich zitiere -:
Eine kritische Überprüfung des Solidaritätszuschlags „bis hin zur Abschaffung" hat gestern der bayrische JU-Landesvorsitzende Markus Söder gefordert. Als Grund nannte Söder das Wahlverhalten der Ost-Bürger. „Wer die PDS wählt, braucht keine D-Mark. Es geht nicht an, ständig über den Westen zu schimpfen und die PDS-Fuzzis zu wählen, aber gleichzeitig den Aufbau vor Ort allein aus dem Westen mit dem Solidaritätszuschlag zu finanzieren", betonte Söder, für den „nun die Schmerzgrenze erreicht" ist.
Meine Damen und Herren, ich gelte in diesem Haus sicherlich nicht als Verteidiger der PDS.
Aber ich meine: Dies ist eine unglaubliche Entgleisung.
Rolf Schwanitz
Und es ist ein Skandal, daß diese Entgleisung von der Führung der CSU bislang unwidersprochen und ungerügt blieb. Diese Aussage des bayerischen JULandesvorsitzenden muß weg, heute noch, hier in dieser Debatte.
Daß staatliche Hilfen für Ostdeutschland vom Wahlverhalten seiner Bürger abhängig gemacht werden könnten, ist eine Ungeheuerlichkeit.
Ich fordere deshalb den CSU-Vorsitzenden und Bundesfinanzminister auf, sich von dieser Äußerung seines Parteifreundes klar und eindeutig zu distanzieren.
Es darf nicht der leiseste Verdacht aufkommen, daß sich diese Bundesregierung oder auch nur eine der sie tragenden Parteien von diesen demokratiezerstörenden Aussagen des bayerischen CSU-Jungpolitikers leiten ließ oder heute noch leiten läßt.
Meine Damen und Herren, ohne meinen Kollegen vorgreifen zu wollen, möchte ich am Schluß meiner Rede noch auf drei Punkte eingehen: Erstens. Wir wollen verhindern, daß die Unternehmen in Ostdeutschland dauerhaft von Subventionen abhängig bleiben.
Deshalb schlagen wir vor, daß jedes Unternehmen, das Subventionen erhält, ein separates Subventionskonto führt, auf dem jede staatliche Hilfe genau registriert wird. Wir schlagen weiter vor, daß Subventionshöchstgrenzen für Unternehmen eingeführt werden, die an der jeweiligen Wertschöpfung orientiert sind.
Zweitens. Wir müssen heute sicherstellen, daß das Präferenzgefälle zwischen Ost- und Westdeutschland auf dem Niveau von 1996 bis Ende 1998 festgeschrieben wird und erst danach entsprechend dem Fortschritt beim wirtschaftlichen Aufbau degressiv reduziert wird.
Wir wollen, daß gerade steuerliche Hilfen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Industrie und im produktionsnahen Dienstleistungsbereich konzentriert und gegenüber den Fördersätzen, die zur Zeit gelten, deutlich erhöht werden.
Drittens. Wir wollen die arbeitsmarktpolitischen Überbrückungshilfen fortführen und sie nicht, wie die Bundesregierung dies plant, zu einem Zeitpunkt zurückführen, in dem sie dringend gebraucht werden. Einen arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag wird es mit uns nicht geben.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt: Wir stehen in Ostdeutschland in diesem Jahr vor einer Weichenstellung. Wir brauchen einen neuen Anlauf, um dem wirtschaftlichen Aufbau neuen Schwung zu geben. Die Länder und Gemeinden Ostdeutschlands sind dabei vollständig überfordert. Die Bundesregierung ist hier gefordert, und meine Fraktion hat für diese überfällige Wende hier einen konkreten Vorschlag auf den Tisch gelegt.
Herzlichen Dank.
Es tut mir leid. Ich kann keine Frage mehr zulassen, nachdem die Redezeit abgelaufen ist.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Dr. Paul Krüger das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schwanitz, Sie haben hier große Worte gemacht, Sie haben hier auf die Pauke gehauen, ein Horrorszenario entworfen. Ich frage mich, ob Sie sich darüber im klaren sind, daß diese Aussagen auch dem Image der deutschen und insbesondere der ostdeutschen Wirtschaft schaden. Wenn Sie so übertreiben und Falsches reden, kann ich nur sagen, wir müssen schnell zur Realität zurückkehren.
Ostdeutschland - das ist wahr - spielt in der europäischen Wirtschaftsliga noch am unteren Tabellenende. Sie sollten aber nicht vergessen, mit welchem Minuspunktekonto wir vor sechs Jahren gestartet sind.
Kurz vor dem Fall der Mauer skizzierte der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der DDR, Gerhard Schürer, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft mit folgenden Sätzen:
Bei dem jetzt erreichten Niveau unserer Verschuldung würde eine Unterschreitung der geforderten Exportziele unweigerlich die Zahlungsunfähigkeit bedeuten.
Einen Monat später resümierte er:
Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt.
Wenn selbst Schürer zu dieser schonungslosen Bankrotterklärung kommt, kann man sich vorstellen, wie schlimm die Situation wirklich war.
Seither haben wir viel erreicht. Von Anfang an verfolgten Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen klare Ziele für den Aufbau in den neuen Ländern. Vom Aufbau einer leistungsfähi-
Dr.-Ing. Paul Krüger
gen, modernen Infrastruktur über die Privatisierung und Sanierung ehemaliger Staatsunternehmen, den Aufbau von Verwaltung und Justiz, die Klärung der Eigentumsverhältnisse, die Förderung privater Investitionen bis hin zur sofortigen Einbeziehung der Bürger in die sozialen Sicherungssysteme und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente reichten die Schwerpunkte, die wir von Anfang an verfolgten. Von absoluter Priorität war immer die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze.
Insgesamt sind seit 1991 Nettotransfers in Höhe von 740 Milliarden DM in die neuen Länder geflossen. Daß davon zirka 240 Milliarden DM allein Sozialtransfers waren, zeigt, daß die Soziale Marktwirtschaft auch unter den extremen Bedingungen der Umwandlung einer Planwirtschaft in eine wettbewerbsfähige Wirtschaft funktioniert - und das unter Berücksichtigung der Notwendigkeit des völligen Neuaufbaus von Arbeitsverwaltung en.
Ich glaube, gerade die noch enorm hohen Sozialtransfers zeigen auch, daß wir erst die erste Hälfte des Weges absolviert haben. Alle Erfolge dürfen uns nicht dazu verleiten, zu einer undifferenziert positiven Bewertung der Lage zu kommen. Eine realistische Sichtweise der Dinge ist angebracht, wenn wir uns die Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland anschauen: Die Arbeitsproduktivität beträgt trotz hoher Steigerungsraten erst zirka 54 Prozent der westdeutschen. Die industrielle Basis ist noch viel zu schmal. Wir haben derzeit einen Anteil an der Bruttowertschöpfung durch die Industrie, der etwa halb so hoch ist wie in Westdeutschland. Der Industrieforschungsbereich ist viel zu klein. Bezogen auf die Einwohnerzahl haben wir nur ein Drittel der Forscher und Entwickler.
Die Lohnstückkosten sind seit zwei Jahren 30 Prozent höher als im Westen und sind im vergangenen Jahr erstmals wieder gestiegen; das ist ein entscheidender Kernpunkt, über den wir nachdenken müssen. Die Arbeitslosigkeit ist trotz weit überproportionaler arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wesentlich höher als im Westen.
Trotz großer Fortschritte bestehen noch erhebliche Schwierigkeiten und Defizite bei der wirtschaftlichen Erneuerung in Ostdeutschland, stellt die Bundesregierung in einem Memorandum über die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland am 13. Mai 1996 fest. Wir müssen konstatieren: Derzeit stagniert der Aufbau Ost. Der Zustand ist insgesamt besorgniserregend. Die Bürger in den neuen Ländern erwarten auch weiterhin rasches politisches Handeln.
Offensichtlich haben wir unterschätzt, wie schwierig es ist, Unternehmen aus einer sozialistischen Planwirtschaft in eine marktwirtschaftliche Ordnung zu überführen. Das größte Problem ist die geringe Eigenleistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft. Nur etwa zwei Drittel des Verbrauchs in den neuen Ländern wurden dort erwirtschaftet. Die Produktionslücke hatte dadurch 1995 eine Größenordnung von zirka 220 Milliarden DM erreicht.
Das zeigt zum einen, in welch hohem Maße Transfers von West nach Ost fließen, also: wie stark die Hilfestellung des Westens für den Osten immer war und auch heute noch ist. Das zeigt zum zweiten, daß die ostdeutsche Wirtschaft noch in sehr starkem Maße auf West-Ost-Transfers angewiesen sein wird. Es ist deshalb unumgänglich, daß die Politik auch in Zukunft den Aufholprozeß Ostdeutschlands mit wirksamen Transfers unterstützt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben die Wichtigkeit des Aufbaus Ost von Anfang an betont und auch entsprechend gehandelt. Die noch auf uns zukommenden Probleme werden wir weiterhin mit großer Priorität behandeln.
Das wichtigste Ziel bleibt aber die Erreichung eines sich selbst tragenden Aufschwungs durch vermehrte Existenzgründungen, die Ansiedlung von weiteren Unternehmen, die Erhöhung der wirtschaftlichen Wertschöpfung, die Verbesserung der Arbeitsproduktivität, die Verbreiterung der industriellen Basis und vor allem die Stärkung der Innovationsfähigkeit. Die Fördermaßnahmen sind deshalb kontinuierlich diesen veränderten Bedingungen anzupassen. Dies, meine Damen und Herren, ist in der Vergangenheit geschehen. Ich denke zum Beispiel an das Jahressteuergesetz 1996.
Darüber hinaus - das sage ich mit allem Nachdruck - sind flankierende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in einem Umfang nötig, wie sie die besondere Arbeitsmarktsituation Ostdeutschlands erfordert.
Der Aufbau einer modernen und leistungsfähigen Wirtschaft in den neuen Ländern bleibt ein zentrales Thema der deutschen Wirtschaftspolitik.
Besondere Schwerpunkte liegen vor allem in der zielgerichteten Verbesserung der Innovationsfähigkeit der Wirtschaft durch eine Innovationsoffensive Ost. Hier denke ich an zum großen Teil bereits ergriffene Maßnahmen: von der Erfinderförderung über die Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen bis hin zur Risikokapitalproblematik. Ich denke an die Fortführung der Maßnahmen zur Eigenkapitalstärkung der Unternehmen in den neuen Ländern, angefangen beim Eigenkapitalhilfeprogramm über die Konsolidierungsmaßnahmen bis hin zu den Operativmaßnahmen, die wir seit langer Zeit durch die Runden Tische aufgenommen haben und die große Erfolge zeigen.
Schwerpunkte werden ebenfalls durch die nachhaltige Verbesserung der Ansiedlungsbedingungen, durch zielgenauere Anwendung der steuerlichen Förderung in den neuen Ländern - hier insbesondere für den industriellen Bereich, vor allem für Innovationen -, die planmäßige Fortführung des Ausbaus der
Dr.-Ing. Paul Krüger
Infrastruktur und die weiterhin nachhaltige Investitionsförderung im industriellen Bereich, auch für Existenzgründungen, gesetzt.
Letzter Punkt: Förderung der Sanierung der Bausubstanz, insbesondere im innerstädtischen Bereich, durch kontinuierliche Städtebauförderung und Wohneigentumsförderung. Hier haben wir im letzten Jahr besonders viel getan. Das beginnt, seine Früchte zu tragen. Dies wird auch 1997 und in den Folgejahren im Haushalt seinen Niederschlag finden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen haben viele Punkte, die ich eben angesprochen habe, bereits umgesetzt. Jetzt scheinen sie endlich auch bei der Opposition Beachtung zu finden. Sie scheint endlich aufgewacht zu sein und aufzunehmen, worum wir uns bereits seit langer Zeit kümmern.
Wir freuen uns, daß sich die Opposition teilweise unserer Meinung anschließt. Aber es gibt bei Ihnen viele Punkte, die unausgereift zu sein scheinen.
Zudem steht zu befürchten, meine Damen und Herren von der Opposition, daß das alles Lippenbekenntnisse bleiben. In den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, sieht die Sache jedenfalls nicht so gut aus. - An den Taten sollt ihr sie erkennen, Herr Schwanitz. - Die Gesamtverschuldung in Sachsen-Anhalt und Brandenburg liegt mit 6 000 DM pro Einwohner weit über dem Niveau der anderen neuen Länder. Auch haben Brandenburg und Sachsen-Anhalt unter den neuen Ländern die niedrigsten Investitionsquoten.
Der höchsten Gesamtverschuldung stehen in den neuen SPD-regierten Ländern die niedrigsten Investitionsquoten gegenüber, ganz zu schweigen von der mangelnden Hilfsbereitschaft der alten SPD-regierten Länder bei der Verwirklichung der Programme für den Aufbau Ost.
Ich glaube, angesichts dieser Realität wäre es mit Blick auf die Umsetzung der SPD-Vorschläge am besten, wenn die CDU auch in Brandenburg und Sachsen-Anhalt die Regierungsverantwortung bekäme.
Die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. nimmt die Aufgaben der zweiten Hälfte des Aufbaus Ost voll an. Wir haben dafür im parlamentarischen Bereich funktionierende Strukturen und Mechanismen aufgebaut und entwickelt. Deshalb halten wir die Schaffung weiterer parlamentarischer Gremien für wenig hilfreich bei der Lösung anstehender Probleme. Sie würden weitere Kapazitäten binden und weitere Bürokratie hervorrufen.
Meine Damen und Herren, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze werden nicht durch staatliche Administration geschaffen, sondern durch privatwirtschaftliche Initiative.
Wir haben in der Vergangenheit leidvoll erfahren, daß man weder mit planwirtschaftlicher Bürokratie noch mit Überadministration eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufbauen kann.
Vielmehr kommt es darauf an, daß nunmehr alle gesellschaftlichen Gruppen durch die Gestaltung besserer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen ihren Beitrag zum Wirtschaftsaufbau auch und insbesondere in den neuen Ländern leisten.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Aufbau Ost steht längst nicht mehr auf der parlamentarischen oder politischen Tagesordnung, auch wenn er heute wieder einmal Thema ist. Wenn ich mir die Rednerliste anschaue, dann ist es mehr eine Ost-Insider-Veranstaltung, wo sich die ostdeutschen Abgeordneten den Kopf darüber zerbrechen, wie das halb gefallene und halb geschubste Kind mit rhetorischen Hilfsstricken aus dem Brunnen geholt werden kann. Das große Feiertagspathos der deutschen Einheit, Herr Schwanhold, ist längst vorbei. Selbst wenn man sich die Medien in dieser Woche anschaut: Im ,,Zerr-Spiegel" erscheinen nur noch die Extreme, also: Milliardengrab Ost oder Absturz Ost. Es geht von einem Extrem ins andere.
Ich glaube, daß die Wahrheit auch hier in der Mitte liegt, also zwischen Verschwendung und Verelendung. Das ist die Situation im Osten.
Aber machen wir uns nichts vor: Das Erfolgskapitel deutsche Einheit hat auf der Rückseite eine verheerende wirtschaftspolitische Bilanz. - Herr Westerwelle. Ich hoffe, daß Sie auch hier klatschen können. -
Denn es ist ein Stillstand eingetreten. Und das Gefährliche daran ist: Es ist noch nicht einmal ein selbsttragender Stillstand, den wir im Osten haben. Der Aufschwung Ost kommt zum Erliegen, obwohl der Aufbau Ost längst nicht befriedigend ist, längst nicht abgeschlossen ist. Auch da sollten wir uns nichts vor-
Werner Schulz
machen: Im Osten steht nicht der Rohbau eines stabilen Wirtschaftsgebäudes, sondern eher die Frage, ob überhaupt ein wirtschaftliches Fundament vorhanden ist. Falls in den nächsten Monaten - und das sagen viele voraus - die Konjunktur wieder anspringen sollte, wird das vor allem in Westdeutschland zu Buche schlagen, denn hier befinden sich die exportkräftigen Industrien. Die sind an Rhein, Main und Neckar und leider nicht an Elbe, Mulde und Saale.
Es rächt sich die Leichtfertigkeit, mit der die Regierung, vor allem auch der Kanzler, die schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse angekündigt hat. Die „blühenden Landschaften" haben sich im Osten vielerorts als Pusteblumen erwiesen. Es fehlt ein Konzept für den Aufbau Deutschland; es fehlt ein Konzept auch für den Aufbau Ost, und symbolisch für die mangelnde Konzeption ist der Abriß des Palastes der Republik. Man hat eigentlich nur eine Vorstellung davon, wie die Fassade aussehen soll. Was dahinter sein wird, darüber weiß im Moment noch niemand Bescheid. Ich glaube, das ist bezeichnend für die Politik, mit der wir es momentan zu tun haben.
Auch die Treuhandpolitik steht vor einem Scherbenhaufen. Frau Breuel sitzt - hochbezahlt, mit doppeltem Kanzlergehalt - im Grunde genommen schon auf dem nächsten Flop, auf dem nächsten Fehlprojekt. Staatssekretär Ludewig kann gar nicht so schnell schauen, wie die industriellen Kerne im Moment wegbröckeln. Auch die vielen Baustellen im Osten täuschen nicht darüber hinweg, daß der Bauboom in sich zusammengebrochen ist, daß er außer vielen Abschreibungsruinen und nicht gebrauchten Büroräumen eigentlich kaum eigenständige Zulieferbetriebe hinterlassen hat.
Profitiert haben von dieser Politik hauptsächlich westdeutsche Unternehmen. Ich will einmal einige Zahlen herausgreifen, die einer Bilanz der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" zu entnehmen sind. In der Zeit von 1993 bis 1995 sind allein 18 Milliarden DM in den Osten geflossen. Dadurch sind nur 48 000 Arbeitsplätze entstanden. Das heißt, ein einzelner Arbeitsplatz wurde mit 390 000 DM subventioniert.
„Angaben über die im Rahmen dieser Förderung geschaffenen Arbeitsplätze liegen uns nicht vor." Ich muß Ihnen sagen: Wer das Geld so zum Fenster hinausschmeißt, der sollte nicht von Sparen reden. Wer so leichtfertig mit Geld umgeht, hat nicht das Recht, dieses Geld bei den sozial Schwachen wieder hereinzuholen.
Das nenne ich unverantwortlich, das nenne ich üble und ungerechte Politik.
Die Regierung ist auch in anderer Hinsicht unglaubwürdig. Bezüglich ihres Aktionsprogramms für Wachstum und Beschäftigung redet sie davon, daß bis zum Jahre 2000 2 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Der Bundeskanzler hat das gestern vor laufenden Kameras - wie es sich für ihn gehört, in einer Aufzeichnung - wiederholt. Am gleichen Tag - es ist paradox - erklärt uns die Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage, in der wir die Wirksamkeit dieser 50 Punkte ihres Aktionsprogramms im einzelnen hinterfragt haben, nichtssagend: „Der Beschäftigungseffekt kann nicht näher quantifiziert werden. " Oder: „Die Arbeitsplatzeffekte lassen sich nicht voraussagen. " Ich finde, wer solche nichtsagenden Auskünfte gibt und dann die Halbierung der Arbeitslosigkeit verspricht, der hat nicht nur im Sprachgebrauch den - so will ich einmal sagen - Freudschen Defekt erkennen lassen - denn es geht nicht um eine Halbierung der Arbeitslosigkeit; die haben wir momentan: knapp 2 Millionen im Osten und über 2 Millionen im Westen; Sie meinen sicherlich die Verringerung der Arbeitslosigkeit auf die Hälfte -, sondern der macht unhaltbare Versprechungen. Das zeigt Ihr 50-Punkte-Programm.
Übrigens: Was ist denn eigentlich - Herr Westerwelle, Sie schütteln den Kopf; da gehörten Sie diesem Hause noch gar nicht an - aus dieser Zaubertüte von 1994 geworden? Da gab es ein Aktionsprogramm, das zufälligerweise „Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung" hieß und die gesamte damalige Hitliste der F.D.P. enthielt, also private Arbeitsplatzvermittlung, steuerfinanzierte Hausarbeitsplätze, Überführung von Arbeitslosen in die Selbständigkeit. Was ist denn daraus geworden? Wie viele Arbeitsplätze haben Sie denn damit geschaffen? Im Grunde genommen zaubern Sie mit Ihrem neuen Programm weiße Kaninchen aus den gleichen alten Hüten hervor.
In dieser Situation vom Abbau des Solidaritätsbeitrages zu reden ist nicht das Ende der Gefälligkeitspolitik, sondern das ist der Anfang der Selbstgefälligkeitspolitik; denn Sie erreichen doch im Grunde genommen das glatte Gegenteil von dem, was Sie vorhaben. Verantwortliche Politik müßte den Bürgerinnen und Bürgern doch heute erklären, daß wir auf den Solidaritätsbeitrag noch lange Zeit angewiesen sind, daß wir ihn brauchen, um die Situation im Osten zu stabilisieren, um den zweiten Arbeitsmarkt zu erhalten.
- Herr Türk, ich habe Ihre Rostocker Erklärung gelesen. In ihr sprechen Sie davon, daß die Transfers in den Osten natürlich auch beibehalten werden, wenn es den Solidaritätsbeitrag nicht mehr gibt. Aber wie das passiert, verschwindet dann im Küstennebel der Rostocker Erklärung.
Werner Schulz
Das haben Sie darin jedenfalls nicht erklärt. Vielleicht widmen Sie jetzt die Gelder der Naumann-Stiftung, die Sie großzügigerweise nicht empfangen haben, für den Solidarbeitrag Ost um. Oder vielleicht akquiriert Graf Lambsdorff jetzt Spenden für den Aufbau Ost; das wäre mal eine neue Variante des Handaufhaltens.
Herr Kollege Schulz, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? - Bitte schön.
Ich habe folgende Frage. Sie haben Ihre Rede damit begonnen, daß Sie gesagt haben - deshalb habe ich Ihnen auch Beifall gespendet -: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Aber ist denn nicht der gesamte bisherige Verlauf Ihrer Rede nichts anderes als eine Schwarzmalerei, die Sie zu Beginn beklagt haben?
Als zweites möchte ich Sie fragen: Ist nicht der Solidaritätszuschlag Ausdruck der Tatsache, daß es in diesem Land eine viel zu hohe Steuern- und Abgabenlast gibt? Ist es nicht vielmehr beklagenswert, daß der Solidaritätszuschlag, der ja ausdrücklich auch in den neuen Ländern erhoben wird, dort die Konjunktur abwürgt? Brauchen wir nicht auch dort eine Steuersenkungspolitik, um die konjunkturelle Belebung zu bekommen, damit wir neue Arbeitsplätze schaffen können?
Ich glaube, Herr Westerwelle, Sie haben Schwierigkeiten mit unbequemen Wahrheiten. Deswegen können Sie wahrscheinlich nur bei der Hälfte meiner Rede Applaus spenden. Der Solidaritätsbeitrag wird - wie Sie richtig sagen - in Ost und West und von allen Steuerzahlern in dieser Gesellschaft erhoben. Es handelt sich bei ihm im Grunde genommen um eine einmalige Solidarleistung dieser Gesellschaft, die zu einem Lastenausgleich beiträgt. Wir brauchen ihn eben nicht nur, um den Erblastentilgungsfonds zu bedienen; wir brauchen ihn für eine wirkliche Solidaritätsleistung. Aber wenn man wie Sie so tut, als sei diese Solidarität nicht mehr erforderlich, als könne man das alles mit Mitteln aus dem Staatshaushalt ausgleichen, ohne daß Sie dabei sagen, wie das geschehen soll, oder wenn Sie in bezug auf die Steuerprivilegien, die Sie eingeführt haben, sagen, daß derjenige, der Fehler gemacht habe, sie auch wieder wegräumen könne - ich warte darauf, daß Sie das tun -, entgegne ich: Es ist heute wichtig zu sagen, daß wir diesen Solidaritätsbeitrag brauchen, auch noch für längere Zeit; wir brauchen ihn zweckbestimmt für diese oder jene Aufgaben im Osten; er soll kein Sammeltopf sein, dessen Inhalt dann in eine große Kasse fließt.
Ich glaube, wir können uns zumindest in bezug auf eine Frage verständigen, daß nämlich die Industrieproduktion in den neuen Ländern wesentlich größer sein müßte, als sie im Moment ist, und daß vor allen Dingen die Förderpolitik auf die Industrie, das verarbeitende Gewerbe und die mittelständischen Unternehmen konzentriert werden muß. Heute steht gerade der Mittelstand, der ja die tragende Säule des Aufbaus Ost sein soll, vor der Überlebensfrage. Deswegen brauchen wir für die Existenzgründer Ost ein Stabilisierungs- und Überbrückungsprogramm, da sie eine viel zu schwache Eigenkapitaldecke haben und mitunter auch auf Grund der mangelnden Zahlungsmoral ihrer Kunden in Liquiditätsengpässe und Insolvenzen geraten.
Die Pleiten, die Ostdeutschland durchziehen, sind natürlich nicht nur auf Pech und Pannen zurückzuführen und gehören nicht nur zum persönlichen Schicksal des einzelnen. Vielmehr offenbart die Vielzahl der Pleiten die katastrophale Wirtschaftspolitik dieser Regierung. Auch diese Wahrheit kann ich Ihnen leider nicht ersparen.
Von Notfällen abgesehen, muß die Wirtschaftsförderung vor allem langfristig angelegt werden, weil Investoren, die nicht nur auf billige Schnäppchen aus sind, wissen müssen, wie sich die Situation auf lange Sicht für sie entwickeln wird. Das heißt also: Es ist eine langfristig angelegte Grundförderung für die nächsten zehn Jahre für den Aufbau Ost erforderlich.
Auch die Förderstrategie muß so überarbeitet werden, daß die Schwachstellen beseitigt werden. Zielorientierte Konzepte, leistungsfähige, beschäftigungsintensive und ökologisch verträgliche Aufgaben müssen in den Mittelpunkt gestellt werden. Ich will das nicht alles im einzelnen wiederholen, das ist auch von meinen Vorrednern schon betont worden. Ich glaube, in bezug auf manche Punkte sind wir uns einig.
Es ist ja nicht so, Herr Türk, daß man nicht wüßte, was getan werden muß. Es wird bloß eben zu wenig in dieser Richtung getan. Es ist ja bekannt, daß die ostdeutschen Existenzgründer kapitalschwach sind, daß man Risikokapital und Eigenkapital und wahrscheinlich auch regionale Entwicklungsgesellschaften, Beteiligungs- und Managementgesellschaften braucht, die den Unternehmen vor Ort helfen können. Denn viele Firmenzusammenbrüche wären vermeidbar gewesen, wenn man vor Ort diese Hilfen gehabt hätte. Den Großen, wie Vulkan, Maculan, SKET und anderen, wird durch Staat und Banken geholfen. Die kleinen und mittleren Unternehmen sterben vielfach einen sehr leisen Tod und verschwinden in der Statistik, die ihnen verdeutlicht, daß sie nicht allein sind und daß es nicht nur an ihnen gelegen haben kann. Es geht nicht nur darum, Besitzstände abzubauen, sondern es müssen auch Widerstände abgebaut oder aufgegeben werden.
Werner Schulz
Gerade heute, fünf Jahre nach der Entscheidung für Berlin, möchte ich das zeit- und kraftaufwendige Gezerre um den Umzug ansprechen. Hier müssen endlich Tatsachen geschaffen werden, nur das wird den Aufbau Ost voranbringen und nicht die ständige Bedienung von Unsicherheiten.
Ich will noch anmerken, daß die öffentlichen Aufträge intensiviert und verbessert werden müssen, daß also bessere Bedingungen für öffentliche Aufträge geschaffen werden müssen, daß die Exportförderung für die ostdeutsche Industrie verbessert werden muß, weil die Revitalisierung der Ostmärkte für eine im Moment jedenfalls noch nicht exportorientierte ostdeutsche Wirtschaft sehr wichtig ist, die andererseits ihr Know-how und ihre Erfahrungen auf diesen Märkten gesammelt hat.
Ich denke, wir sollten das Investivlohnmodell intensiv in die Diskussion einbringen. Es ist bisher viel zuwenig genutzt worden. Der DGB-Vorsitzende Schulte hat uns unlängst besucht - worüber wir sehr froh waren - und hat sich für die Beibehaltung der Flächentarife ausgesprochen. Aber das ist nur dann sinnvoll, wenn wir hier bestimmte Spielräume für unternehmensspezifische Investivlohnvereinbarungen freilassen.
Gerade die Investivlöhne drücken die Betriebsausgaben, sie erhöhen das Eigenkapital und verbessern die Kreditwürdigkeit der Unternehmen. Auch so könnten wir einen Weg aus der Falle finden, in die viele ostdeutsche Betriebe nach der Währungsunion und die darauf logisch folgende Lohnangleichung hineingelaufen sind.
Ich will noch eine Sache aufgreifen, die wir vor knapp zwei Stunden hier behandelt haben, und zwar nicht die Novellierung, sondern die Nivellierung des Arbeitsförderungsgesetzes; denn das, was da auf uns zukommt, ist im Grunde verheerend. Die Bundesregierung will 18 Milliarden DM in den nächsten Jahren einsparen. Das heißt, es werden etwa 300 000 Menschen von der überbrückten Arbeitslosigkeit in die registrierte Arbeitslosigkeit geraten.
Ich bitte deswegen die Abgeordneten der ostdeutschen CDU: Sie haben die Chance, dieses Vorhaben zu stoppen. Sie haben die Chance, Ihren Wählern im Wahlkreis deutlich zu machen, daß Sie an dieser Stelle wirklich einmal Ostprofil gezeigt haben und sich nicht hinter einem zagen Rehberg verstecken.
Sollten Ihnen noch Argumente fehlen, so glaube ich, daß die Bundesregierung Ihnen welche liefert. Ich will Ihnen vorlesen, was die Bundesregierung als Antwort auf eine Kleine Anfrage zu ABM schreibt. Es heißt wörtlich, daß die ABM-Förderung in den neuen Ländern „als Instrumente der aktiven Arbeitsmarktförderung von besonderer Bedeutung ist".
Zu § 249h AFG heißt es wörtlich:
Wie bei der ABM-Förderung ergeben sich hieraus vielfältige positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus konnten bereits insbesondere in den Bereichen der Umweltsanierung und der Verbesserung von sozialen Diensten und Jugendhilfe wichtige, im öffentlichen Interesse liegende Aufgaben erledigt werden. Dementsprechend beurteilt die Bundesregierung den Erfolg des § 249h AFG sehr positiv.
Das ist doch eine Handlungsrichtlinie.
Zwar habe ich bisher immer das Gegenteil erlebt. Doch Sie würden nicht nur mich verblüffen, wenn sich der Bettvorleger zum Bären entwickelt und sich für die Interessen der Ostdeutschen einsetzt.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Abgeordneten Jürgen Türk das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Schulz, ich glaube, wir kommen mit Schwarzmalerei genausowenig wie mit Schönfärberei weiter. Aber der Aufbau Ost braucht wirklich neue Impulse. Das ist richtig, und deswegen ist die heutige Debatte auch gut; denn in Zeiten knapper Kassen besteht die Gefahr, daß man an der falschen Stelle spart.
Falsch wäre es in der Tat, wenn wir vor allem am Aufbau Ost sparen würden, wenn er als Steinbruch dienen würde; denn der gewünschte selbsttragende Aufschwung ist noch nicht erreicht. Das muß man einfach feststellen.
Das kann er auch nicht; denn 45 Jahre lassen sich nicht in fünf Jahren aufholen. Das ist realistisch.
Natürlich sind auch Fehler von der Treuhandanstalt, von den westlichen Tarifpartnern und von der Politik gemacht worden, so zum Beispiel bei der Übernahme gesetzlicher Bestimmungen, ohne der ostdeutschen Aufbausituation gerecht zu werden. Das ist natürlich nicht so gelaufen, wie es vielleicht hätte laufen können. Wir als Abgeordnete sollten uns da auch nicht ausnehmen.
Ich denke dabei an die Blockadepolitik im Bundesrat. Zum Beispiel war das vielumstrittene Sachenrechtsbereinigungsgesetz - wenn ich vielleicht wei-
Jürgen Türk
terreden dürfte; Sie können sich ja zu einer Zwischenfrage melden -, bei dem es um Eigenheime auf fremdem Grund und Boden ging, ein guter Kompromiß, wie sich in der Praxis gezeigt hat. Wir haben für die Lösung aber zu lange gebraucht. Betroffene, die drei Jahre auf die Lösung des Problems warten müssen, werden natürlich verunsichert.
Herr Kollege Türk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwanitz?
Ja, bitte.
Herr Kollege Türk, nachdem das mit der Zwischenfrage vorhin nicht so geklappt hat, klappt es vielleicht jetzt; oder Sie nutzen die Gelegenheit umgekehrt.
Wenn Sie sagen, das mit dem Aufschwung und dem Aufbau habe alles nicht so geklappt, nehmen wir das natürlich zur Kenntnis. Aber wie erklären Sie sich und wie werten Sie es, daß der Bundeskanzler noch in den Haushaltsberatungen zum Haushalt 1996 im Herbst letzten Jahres für die jetzige Situation den Begriff der „blühenden Landschaften in Ostdeutschland" verwendet hat?
Das habe ich nicht gehört. Ich bezweifle es auch. Daß es sich 1989/90 um eine Fehleinschätzung handelte, ist bekannterweise festgestellt.
Herr Kollege Türk, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Türk, ich konzediere Ihnen, daß Sie in der Vergangenheit häufig auf Mißstände hingewiesen haben, zum Beispiel auf die falsche Vorgehensweise bei den Ansprüchen auf Grundstücke, um Investitionshemmnisse abzubauen - also Entschädigung vor Rückgabe. Warum haben Sie eigentlich in der Vergangenheit, wenn Sie das als falsch erkannt haben, in keiner einzigen Frage den Mut bewiesen, gegen die verordnete Meinung zu stimmen?
Erstens möchte ich etwas zu dem konkreten Prinzip Rückgabe vor Entschädigung sagen. Es ist gemeinsam beschlossen worden, einschließlich der SPD; das muß man klar feststellen.
Zweitens haben wir mit dem Investitionsförderungsgesetz ganz klar korrigiert. Ich glaube, das hat letztlich doch noch ganz gut geklappt.
Auch muß zu denken geben - das möchte ich kritisch anmerken -, daß clevere Kommunalchefs, die die Weichen in der sogenannten gesetzlosen Zeit 1990/91 gestellt haben, einen unübersehbaren Vorsprung gegenüber furchtsamen Bürgermeistern und Landräten erreicht haben. Damit will ich keinesfalls der Gesetzlosigkeit das Wort reden, möchte aber eines sagen: Wenn wir schon die Chance der deutschen Einheit zuwenig genutzt haben, müssen wir jetzt aber mit dem Aufbrechen gewachsener Verkrustungen beginnen. Es ist, glaube ich, nie zu spät.
Bei aller Unabhängigkeit unserer Richter kann es nicht sein, daß zum Beispiel erst zweieinhalb Jahre nach einer Landratswahl deren Ungültigkeit festgestellt wird. Wir brauchen schnellere Verfahren, die noch einen Bezug zur Sache haben.
Als F.D.P. sind wir nach wie vor davon überzeugt, daß das Niedrigsteuergebiet die bessere Alternative zu dem undurchsichtigen Bündel staatlicher Einzelmaßnahmen gewesen wäre.
Aber auch heute sind wir nicht vor Fehlern gefeit. Wer ist das schon? Erstens. Nicht in Ordnung ist zum Beispiel, daß bei allen berechtigten Einsparbemühungen hauptsächlich Bundeseinrichtungen in den neuen Bundesländern geschlossen bzw. in die alten Bundesländer verlagert werden wie zum Beispiel, Herr Kollege Röhl, die Bundesanstalt für Straßenbau in Berlin.
Zweitens. Wir gehen davon aus, daß die Regionalkontrollstelle Ost der Deutschen Flugsicherung GmbH in Berlin, die erst am 9. November 1994 nach Investitionen von rund 150 Millionen DM eröffnet wurde, nicht geschlossen wird, weil sie zur Entwicklung des Flugwesens in den neuen Bundesländern dringend gebraucht wird. Nachdem das Personal aus Lotsen der ehemaligen Interflug, der Bundesanstalt für Flugsicherung, der Alliierten, der Bundeswehr und der NVA zu einer funktionierenden Einheit verschmolzen wurde, die schon jetzt schwarze Zahlen schreibt, wäre die Schließung das falsche Signal. Das zum Bund.
Nun zu den alten Ländern. Daß der Länderfinanzausgleich - wir reden ja hier sehr viel über das nötige Geld für den Aufschwung Ost - erst 1995 zustande gekommen ist, war wahrlich kein Ruhmesblatt. Beim Geld aber hört wahrscheinlich die Freundschaft auf. Nur wer nichts macht, macht keine Fehler. Es ist etwas gemacht und durch Härte und Flexibilität der Ostdeutschen und Solidarität der Westdeutschen viel erreicht worden, zum Beispiel bei der Altersversorgung - um nur einiges zu nennen -, durch Schaffung des sozialen Netzes, bei der Entwicklung von Wirtschaftsstandorten - wir haben ja welche entwickelt -
Jürgen Türk
und beim Aufbau der Infrastruktur. Nur ein Blinder würde übersehen, was da geschaffen worden ist.
Es wäre aber verhängnisvoll, wenn wir jetzt auf halbem Weg steckenblieben. Unser gewaltiger bisheriger Einsatz - das ist unzweifelhaft so - wäre vergebens gewesen. Wir dürfen keine Investitionsruinen produzieren. Das wäre natürlich volkswirtschaftlicher Unsinn. Wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Das tun wir auch nicht. Vom Programm der Bundesregierung für mehr Wachstum und Beschäftigung wird auch die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern durch mehr Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze profitieren. Da bin ich ganz sicher. Das ist nicht aus Spaß und Tollerei gemacht worden, sondern deswegen, um gerade den wirtschaftlichen Aufschwung im Osten zu fördern.
Es ist erkennbar, daß wir in Ost und West zunehmend die gleichen Probleme haben, natürlich in den neuen Bundesländern mit sehr viel härteren Einschnitten, weil - erstens - die Ausgangslage bekanntlich sehr viel schlechter war und weil - zweitens - bereits mit der notwendigen Umstrukturierung begonnen wurde. Wir in Ostdeutschland haben sowohl vor der Wende als auch während der Zeit der Wende schon Erfahrungen gewonnen. Diese Erfahrungen sollten bei dem längst überfälligen Strukturwandel auch und gerade der alten Bundesländer genutzt werden.
Nun zu einigen Lösungsansätzen. Bekannt ist die chronische Liquiditätsschwäche ostdeutscher kleiner und mittlerer Betriebe. Natürlich muß etwas dagegen getan werden. Ich glaube, die ab 1996 gültige Regelung, daß die Mehrwertsteuer erst nach Bezahlung der Rechnung abzuführen ist, dürfte ein konstruktiver Beitrag sein. Wichtig sind meines Erachtens unsere Bemühungen zur Wiederherstellung der Zahlungsmoral und damit zur Wiederherstellung des Leistungsprinzips. Wenn wir nicht aufpassen, schaffen wir das Leistungsprinzip ab. Die ostdeutschen Länder fordere ich hiermit auf, zentrale Mahngerichte einzurichten, weil es dann nämlich nicht ein Jahr dauert, bis man Titel bekommt, sondern nur eine Woche.
Das geht zum Beispiel in Berlin. Dort gibt es solch ein zentrales Mahngericht. Das kann Brandenburg nutzen. Das muß schnell umgesetzt werden.
- Trotz negativer Fusion sollte man das machen.
Mit dem Bundesjustizminister sind wir uns nach einem Gespräch mit ihm und Mittelständlern einig, daß das Zwangsvollstreckungsrecht und die Vergabeverordnung Bau novelliert werden müssen. Wir wollen und dürfen nicht zusehen, daß an sich wettbewerbsfähige Betriebe wegen ausstehender Rechnungen Konkurs anmelden müssen und geschaffene Arbeitsplätze wieder kaputtgehen.
Sinnvoll ist sicherlich, daß ab 1. Januar 1996 auch der kleine und mittlere Handel eine steuerfreie 10prozentige Investitionszulage erhält. Eine wirksame Starthilfe ist das ebenfalls ab 1996 in Kraft gesetzte Meister-BAföG in Kombination mit der völligen Abschaffung der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Das ist jedenfalls das Ziel der F.D.P. Zum Beispiel bei Betriebsübernahmen von älteren Handwerksmeistern dürfte das eine echte Startchance für viele junge Meister und Arbeitnehmer sein.
Das „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" - fälschlicherweise auch nur als Sparpaket bezeichnet -
geht sinnvollerweise neben der Fortführung von Förderprogrammen von einer drastischen Steuer- und Abgabenentlastung sowohl der Unternehmen als auch der Arbeitnehmer aus. Das geschieht nicht aus ideologischen Gründen - wie das manchmal der F.D.P. unterstellt wird -, sondern weil sich solch ein Konzept schon mehrfach bewährt hat. Wir greifen ja nur auf Bewährtes zurück. So konnten in der Bundesrepublik in der Zeit von 1982 bis 1989 zum Beispiel durch Steuersenkungen mehr als 3 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Strategie hat sich zum Beispiel auch - ich komme darauf zurück - in Neuseeland bewährt, wo nach diesem Rezept die Arbeitslosigkeit von 12 Prozent auf 6 Prozent reduziert werden konnte. Sagen Sie nicht, Neuseeland ist weit. Wir sollten endlich einmal unsere Arroganz, alles selbst und besser zu wissen, ablegen und von Erfahrungen anderer lernen.
Man muß das Fahrrad natürlich nicht immer neu erfinden, man kann sich wirklich vieles Gute abgukken.
Natürlich reicht die von uns immer wieder geforderte Streichung der Gewerbekapitalsteuer nicht aus. Bei dieser Gelegenheit wollte ich Sie, Herr Schwanitz, fragen, ob nicht auch Sie den Solidaritätszuschlag als Steuer ansehen und welcher Stand bei der SPD denn jetzt gilt: Wollen Sie es nun abschaffen, oder wollen Sie es nicht? Diese Frage haben Sie leider nicht beantwortet.
- Dazu bin ich leider nicht gekommen.
Fatal wäre es, wenn wir zum Beispiel die Gewerbekapitalsteuer, die wir im Osten jetzt nicht haben, dort einführen müßten, wo wir doch gemeinsam die Abgabenlast senken wollen. Auch deswegen wollen wir eine ganze Steuerreform mit drastischen Senkungen und Vereinfachungen. Natürlich ist sie lange überfällig. Das bringt - jedenfalls sind wir dieser Meinung - für die neuen Bundesländer mehr als die Anträge der SPD und der Grünen.
Wir gehen davon aus, daß erste Vorschläge Ende 1996 vorgelegt werden und daß die Reform bereits 1998 in Kraft tritt. Wir müssen natürlich sehr aufpas-
Jürgen Türk
sen, daß das auch so wird, aber wir werden es tun. Wenn richtigerweise - ich will es einmal so nennen - Spargerechtigkeit gefordert wird, dann ist diese Steuerreform eine Chance, steuerliche Ausnahmeregelungen, Vergünstigungen und Betrugsmöglichkeiten zu beseitigen. Ich glaube, wir kommen auf diesem Wege auch an die Großen heran. Abgesehen davon, daß diese Strategie, wie schon bewiesen, mehr Wachstum, Arbeitsplätze und damit auch wieder mehr Steuereinnahmen bringen wird, ist es natürlich zwingend notwendig, Einsparungen vorzunehmen. Irgendwoher muß das Geld kommen. Wenn gespart werden muß, dann müssen das alle. Man kann nicht
- wie wir das zum Beispiel machen - Nullrunden verlangen, ohne beispielhaft voranzugehen. Um so zufriedener bin ich, daß die F.D.P. es geschafft hat, die beiden großen Fraktionen dieses Hauses zu überzeugen, daß man im Bundestag mit einer Diäten-Nullrunde beginnen muß.
- Das ist die Realität. Es hat mich schon sehr verwundert, daß Sie dazu so lange gebraucht haben.
Im übrigen ist die F.D.P. bereit, Regelungen vorzusehen, daß auch die Bundestagsabgeordneten an der teilweisen Rückführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall betroffen sind, denn: Gleiche Verpflichtungen für alle. Ich darf darauf verweisen, daß das eine so schlimme Sache nicht ist. Sie kennen das aus der DDR. Wir hatten keine 100prozentige Lohnfortzahlung.
Nun noch einige Bemerkungen zum Antrag der SPD. Sehr geehrter Herr Kollege Schwanitz, Sie unterstellen an Hand der Tatsache, daß die Fördermittel über 1997 hinaus noch nicht auf dem Niveau von 1996 festgeschrieben sind, daß die Fördermittel ab 1998 nicht mehr gewährt werden. Sie gehen bei den neun Punkten Ihres Antrags, den ich so schlecht nicht finde - ich finde darin viele Forderungen von uns wieder -, Herr Schwanitz, erfreulicherweise davon aus, die Subventionsmentalität nicht fördern zu wollen. Da sind wir uns einig. Mit der Festschreibung des 96er Levels, die Sie im Antrag fordern, würden Sie genau das Gegenteil tun. Lassen Sie uns wie bisher die konkrete wirtschaftliche Lage betrachten und dementsprechend auch fördern! Bei Förderungen ist generell wichtig, daß nicht gedankenlos einfach gestrichen wird oder aber gedankenlos gefordert und festgeschrieben wird. Man muß entsprechend der konkreten Situation differenziert vorgehen. Das werden wir machen.
Das gleiche muß auch bei arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gelten. Auch hier wird im SPD-Antrag eine Festschreibung gefordert. Wir kritisieren dies. Richtig ist meines Erachtens, daß nicht blind gestrichen wird, aber auch nicht, dies sagte ich schon, auf Jahre festgeschrieben wird. Immerhin sollen ABM bzw. die Maßnahmen nach § 249h ein Übergangsinstrument sein.
Es kann nicht sein, daß zum Beispiel Braunkohlesanierungsgesellschaften, die nach § 249 h tätig sind - dies hat die F.D.P. übrigens mit eingerichtet -, über Jahre arbeiten müssen, weil die Verträge entsprechend gestaltet sind. Es kann nur so sein, daß es ein Junktim gibt, daß mit dem Abschluß von ungeförderten Dauerarbeitsplatzverträgen angefangen wird, und zwar zur Sicherheit der Arbeitnehmer und um den umliegenden mittelständischen Betrieben nicht zu schaden.
Ich glaube, daß zum Sparen auch ein effizienterer Mitteleinsatz gehört. Dazu gibt es ganz konkrete Vorschläge. Wir müssen beim Bau von Infrastruktur von den Mehrfachleistungen wegkommen. Das heißt, wir müssen wirklich darüber beraten, wie wir Bauleistungen für die Infrastruktur koordinieren. Wir müssen weg von dem Prinzip „Straße auf, Straße zu". Ich bin Bauingenieur, und ich weiß, wovon ich rede. Da sind Milliarden an Einsparungen möglich, wenn wir das endlich einmal hinbekommen würden.
Wir sollten auch - das sage ich immer wieder; ich glaube, das ist richtig - das kameralistische Haushaltsführungssystem in den Gemeinden und Kommunen abschaffen. Dieses Haushaltsführungssystem entspricht eher einem sozialistischen Bilanzsystem. Bis zum Jahresende alle Mittel verbraten zu müssen kann mit Effizienz nicht in Übereinstimmung sein. Wir müssen von diesem System wegkommen. Das sind ganz konkrete Einsparvorschläge.
Letztlich will ich noch sagen: Wir müssen auch im Westen von Finnen weg, die die Struktur sozialistischer Großkombinate haben. Die Treuhand hat in der DDR alle ehemaligen sozialistischen Großkombinate richtigerweise beseitigt. Wieso denn nicht auch im Westen? Ich spreche ganz konkret vom Vulkan. Die Beseitigung dieser unübersichtlichen Gebilde, dieser Dauersubventionsempfänger im Westen müssen wir betreiben. Wenn es die Treuhand noch gäbe, wäre das vielleicht eine Aufgabe für sie. Aber das kann eventuell auch die BVS machen.
Herr Kollege Türk, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Kollege Türk, Sie haben im .Zusammenhang mit dem Aufbau Ost die Rekultivierung der Braunkohle angesprochen. Ich frage Sie: Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es, um Sicherheit in die weitere Rekultivierung zu bringen, allerhöchste Zeit wird, daß aus der Option nach 1997 eine verbindliche Vereinbarung wird, die Förderung durch die Bundesregierung sicherzustellen?
Lieber Werner Labsch, ich bin mit dir einer Meinung, daß wir erstens Dauerarbeitsplatzverträge abschließen müssen und nicht weiterhin auf § 249h abstellen dürfen. Dafür kannst du sor-
Jürgen Türk
gen. Du bist Vorstandsmitglied dieser Sanierungsgesellschaft.
Zweitens bin ich ganz klar dafür, daß wir die Mittel für die Sanierung dieser geschundenen Landschaft über 1997 sicherstellen müssen. Wir müssen dafür sorgen, daß diese sinnvollen Mittel auch effizient eingesetzt werden.
Zum Abschluß möchte ich auf einen klugen, lebenserfahrenen Mann der SPD verweisen, auf Herrn von Dohnanyi. Herr von Dohnanyi fordert nämlich, Regierung und Opposition sollten sich zusammensetzen und etwas für das Vaterland tun. Das schließt natürlich Ostdeutschland ein. Er hat recht: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos, wenn wir bereit sind, ergebnisorientiert statt ideologisch zu streiten. Natürlich werden wir weiter streiten, und zwar im Zweifel für Arbeitsplätze in Ost und West.
Vielen Dank.
Ich erteile nun der Abgeordneten Frau Professor Luft das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man muß es einmal rundheraus sagen: Das ostdeutsche Land, der Osten Deutschlands, steht inzwischen wieder einmal an einem Scheideweg. Das scheinen aber die meisten Regierungsmitglieder und die meisten Koalitionsabgeordneten nicht wahrhaben zu wollen, denn sonst wäre die Präsenz in diesem Hause größer.
Die Wegegabelung, vor der wir in den neuen Bundesländern stehen, lautet doch: Entweder setzt sich die wirtschaftliche Talfahrt, wie sie sich in den letzten Monaten deutlich ankündigt, fort, oder es kommt zu einem Umsteuern, damit die neuen Bundesländer die Chance erhalten, sich aus dieser Talsohle herauszubegeben.
Das bequeme Motto dieser Bundesregierung, Wirtschaftspolitik finde in der Wirtschaft statt, hat den Landstrich zwischen Elbe und Oder wirtschaftlich geradezu in den Abgrund geführt.
Herr Krüger und Herr Türk, mit Verlaub: Ich kenne kaum ostdeutsche Menschen, die sich mit dem Verweis auf die maroden Ausgangsverhältnisse zufriedengeben würden.
Dadurch kann man doch heute von den Versäumnissen dieser Bundesregierung nicht ablenken.
Sie beide, die Sie doch in großen Unternehmungen tätig gewesen sind, werden doch sicherlich erkennen: Es kann nicht nur am maroden Zustand gelegen haben, daß es dort eine Abwicklung gegeben hat. Ich glaube, ein bißchen mehr Differenzierung ist auch hier angezeigt.
In einem gesellschaftlichen Umbruchprozeß hat die Bundesregierung zugelassen, daß allein unternehmerisches Kalkül zum Regulativ geworden ist. Das, was sich unternehmerisch bewähren muß, kann bei der Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft nicht der Maßstab sein.
Der Osten ist nach der Währungsunion einem gnadenlosen Konkurrenzkampf ausgesetzt worden. Wenn das in anderen, ökonomisch ähnlich wie die DDR gelagerten Ländern, zum Beispiel in Tschechien, auch so passiert wäre, wären sie ebenfalls in die Knie gegangen. Dort ist es aber anders gelaufen, und das zeugt davon, daß in diesem Land etwas falschgelaufen ist.
Das Handeln der Bundesregierung war und ist, obwohl das immerzu verbal, auch heute, bestritten wurde, ideologisch ausgerichtet und nicht von ökonomischem Sachverstand getragen gewesen. Ich kann nur Beispiele nennen: Das unselige Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" hat jahrelang Investitionen behindert.
Die Maxime der Treuhand „Privatisierung hat Vorrang vor der Sanierung" führte zur Vernichtung von Forschungs- und Produktionskapazitäten in großem Maßstab. Die Industriereste, die es jetzt noch gibt, drohen abgewickelt zu werden. Wir stehen vor einer zweiten Industrieabwicklung in den ostdeutschen Ländern. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Jede Woche gehen privatisierte Unternehmen in die Gesamtvollstreckung. Der Beweis ist für die Ostdeutschen also noch nicht erbracht, daß private Unternehmen es besser schaffen als die staatlich geleiteten Unternehmen.
Wir wollten gerne diese Erfahrung machen. Bisher ist sie nicht gemacht worden.
Auch die Verteufelung des historisch gewachsenen Tauschhandels der DDR mit ihren Haupthandelspartnern im RGW beschleunigte den Zusammenbruch von Absatzmärkten. Inzwischen ist der Barterhandel wieder hoffähig geworden. Ich kann das
Dr. Christa Luft
nicht kritisieren, aber das wäre vor vier, fünf Jahren schon notwendig gewesen.
Mir hat neulich jemand gesagt - ich selber war darauf noch nicht gekommen -: Sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war zwischen Elbe und Oder die Wirtschaftsdynamik bereits stabiler und größer als sieben Jahre nach dem Fall der Mauer. Meine Damen und Herren, ich denke über diesen Satz nach. Gibt er Ihnen nicht auch zu denken?
Jawohl, wir sind im verflixten siebten Jahr, und auch der vergangene Protestsonnabend hier in Bonn war dafür ein Zeichen.
Gewiß, wir haben frische Häuserfassaden, wir haben glitzernde Bürobauten, wir haben ausgebaute Straßen, eine moderne Telekommunikation und manches andere mehr - das wird niemand bestreiten -,
überwiegend finanziert durch Transfers, aber deren wirtschaftlicher Effekt ist doch zum ganz großen Teil in den Westen zurückgeflossen. Das heißt, der Westen hat auch Solidarität mit sich selbst geübt.
Aber - und das ist das entscheidende - die Wirtschaft ist 1996 weiter davon entfernt, auf den Pfad einer selbsttragenden Entwicklung zu gelangen, als in den Jahren zuvor. Es brechen wieder mehr Arbeitsplätze weg, als neue geschaffen werden. Die Massenarbeitslosigkeit verharrt auf Rekordniveau. 30 Prozent, sagt die Statistik aus, beträgt die Unterbeschäftigung. Diese Tendenz wird steigen, wenn der Streichkatalog - man müßte sagen: die Streichorgie - dieser Bundesregierung sich durchsetzt.
Die Zahl der Gewerbeabmeldungen rückt immer näher an die der Anmeldungen heran, Ich prophezeie Ihnen, daß wir am Ende des Jahres dabei mindestens einen Gleichstand, wenn nicht einen Minussaldo erreicht haben werden. Im ersten Quartal 1996 weist die Statistik ein Nullwachstum aus. Es gibt kaum noch industrielle Kerne. Damit fehlt das Fundament für einen Mittelstand, der gesund werden soll.
Ich sage Ihnen, in den Ostberliner Stadtbezirken - früher Standorte von weltbekannten Industriebetrieben - sind heute die Bezirksämter die größten Arbeitgeber. Das ist doch wohl eine Absurdität und hat mit Verschlankung des Staats nichts zu tun. Wir machen den Staat nicht schlanker und reduzieren die Beschäftigung in der Industrie und in anderen produktiven Bereichen. Das ist doch ein Unsinn.
Der Ausbildungsnotstand war nie so groß wie gegenwärtig. Ein im internationalen Maßstab höchst qualifiziertes Arbeitskräftepotential liegt brach. Von zehn Arbeitslosen sind acht solche mit abgeschlossener Berufsausbildung, mit Meisterprüfung, mit Hochschulstudium oder Fachschulstudium. Sie haben eine solch qualifizierte Mannschaft nirgendwo noch auf der Welt in der Arbeitslosigkeit verharrend. Damit haben Sie auch ein Stück Nationalreichtum verschleudert - das muß ich Ihnen so deutlich sagen -, ganz abgesehen von den menschlichen Schicksalen, die sich dahinter verbergen.
Inzwischen gibt es - zumindest was den Finanzrahmen anbetrifft - nicht einmal mehr eine Politik des Weiter-so, sondern jetzt soll die Arbeitsmarktförderung im Osten, wie wir gehört haben, auf das Westniveau zurückgeführt werden. Zusammen mit anderen Maßnahmen, zum Beispiel mit den Streichungen im Gesundheitswesen, werden an die 300 000 bis 400 000 Arbeitsplätze wegfallen.
Ich nenne Ihnen einmal ein einziges Beispiel, das ich in der jüngsten Zeit erfahren habe. In Bad Muskau, einer Kleinstadt in Sachsen, beträgt die Erwerbslosigkeit 60 Prozent. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte wollte dort eine Kurklinik mit 220 Betten bauen. Das war eine Hoffnung für die dort erwerbslosen Menschen. Nachdem die Streichvorhaben dort bekanntgeworden sind, hat die BfA ihr Vorhaben zurückgezogen. Was sagen Sie den betroffenen Menschen? Das wären Arbeitsplätze auf dem ersten und nicht auf dem von Ihnen gern so geschmähten zweiten Arbeitsmarkt gewesen.
Die Europäische Union beabsichtigt, wie wir hören, die Fördermittel für Ostdeutschland zu straffen. Zweifelsohne ist auch dies eine Folge des Subventionsbetrugs beim Bremer Vulkan. Was wollen Regierung und Parlamentsmehrheit denn noch riskieren, um den Ruf der Bundesrepublik Deutschland im Ausland weiter zu schädigen, wenn nicht endlich und unverzüglich eine Aufklärung dieses Skandals erfolgt? Wir haben das oft genug gefordert. Es ist immer wieder unter Vorwänden auf eine kleine Flamme zurückgeschraubt worden.
Wie wir hören, will nun die Europäische Union von VW die Rückzahlung von Subventionen im Umfang von 240 Millionen DM verlangen, die der Autokonzern angeblich für ein Auto- und Motorenwerk in Sachsen zuviel erhalten hat.
Hier bahnen sich ernste Bedrohungen für die weitere Entwicklung in den neuen Bundesländern an. Man muß überhaupt kein Prophet sein, um zu sagen: Wenn nur das eben Gesagte - das waren nur wenige Beispiele - realisiert werden würde, dann wird das gefürchtete Mezzogiorno-Gespenst im Osten kein Gespenst bleiben, sondern dann wird es Realität werden. Das würde das Gesicht dieses ganzen Landes verändern.
Ich kenne niemanden im Osten, der dünne Bretter bohren will. Ich kenne auch kein Unternehmen, das sich am Markt vorbeimogeln will. Aber die ostdeutschen Unternehmen haben es oft nicht einmal mit dem Scharfrichter Markt zu tun, sondern zum großen Teil mit unlauterer Konkurrenz, mit Abzockern, mit
Dr. Christa Luft
Hasardeuren, mit unsauberen Marktbereinigungsstrategen. Wie anders könnte man sich das leidvolle Schicksal des Unternehmens Foron, des ersten Herstellers FCKW-freier Kühlschränke, vorstellen und erklären oder das der Bischofferöder Kaligrube? Diese hatte ein Produkt, das gefragt ist, einen Markt und zahlungsfähige Kunden. All dies - das habe ich inzwischen gelernt - sind eigentlich Kriterien, die man braucht, um in einer Marktwirtschaft zu existieren. Aber das hat hier nicht funktioniert.
Wir fordern, daß das Fördermittelvolumen für den Osten im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe auf dem Niveau von 1995 beibehalten werden muß. Das würde im Haushalt 1996 eine Aufstockung von Bundesmitteln um 550 Millionen DM bedeuten. Damit die Länder ihren Komplementärbeitrag aufbringen können, darf ihnen der Bund die Finanzierungsquellen nicht weiter beschneiden. Das heißt: Weg die Hand von der Vermögensteuer und keine Kürzung des Solidaritätszuschlages!
Ihre Redezeit!
Ich komme zum Ende, Herr Präsident.
Wir fordern ein langfristiges, ein mehrjähriges Programm für die Ausbildung junger Menschen, damit wir hier endlich von der Kurzatmigkeit wegkommen, die für die jungen Leute unwürdig ist.
Meine Damen und Herren -
Keinen neuen Absatz mehr, Frau Kollegin.
-ja-, ich würde mir im übrigen - neben dem, was ich gerne noch gesagt hätte - wünschen, daß in der Wirtschaft vielleicht auch ein paar Frauen mehr das Sagen bekommen. Wenn man sich einmal die Rednerliste anschaut: Es sind nur Männer. Nichts gegen Männer, aber Frauen haben vielleicht eine etwas andere Hand in dieser Angelegenheit.
Danke schön.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Heinrich Kolb, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern ist - zumindest insoweit scheint mir hier Konsens zu bestehen - trotz aller Fortschritte weiterhin schwierig.
Einerseits ist der Aufbau Ost in den vergangenen fünfeinhalb Jahren, insbesondere angesichts der desolaten Ausgangslage, schon weit vorangekommen.
Das ist insbesondere das Ergebnis des Aufbauwillens und auch der Veränderungsbereitschaft der Menschen in den neuen Ländern angesichts eines beispiellosen Strukturumbruchs. Dazu hat auch die Solidarität der westdeutschen Bürger beigetragen. Die Bundesregierung hat diesen Prozeß durch ihr konsequent wachstumsorientiertes Konzept unterstützt.
Andererseits haben wir nach dem Aufbruch der ersten Jahre noch die zweite, vielleicht schwierigere Hälfte des Weges vor uns. Die Bundesregierung hat dies in ihrem Bericht „Aufbau Ost - Die zweite Hälfte des Weges - Stand und Perspektiven" vom September 1995 im einzelnen beschrieben und unsere Antworten dargestellt. Der Bericht hat auch in den Ausschüssen des Bundestages und insbesondere bei der Opposition viel Zustimmung gefunden. Die Bundesregierung wird im Oktober erneut umfassend Bilanz ziehen und die notwendigen Konsequenzen darlegen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, könnten Sie vielleicht kurz erläutern, wie die Bundesregierung auf den Gedanken kommt, die erste Hälfte des Weges sei nach fünf oder sechs Jahren bereits bewältigt, und muß man aus dieser Formulierung die Schlußfolgerung ziehen, daß der Aufbau Ost nach Auffassung der Bundesregierung in fünf Jahren abgeschlossen sein wird?
Herr Kollege, das ist hier von mir nicht gesagt worden. Ich bin sehr wohl der Meinung, daß wir die Hälfte des Weges zurückgelegt haben. Das ergibt sich schon fast mathematisch. Wenn Sie die Wachstumsraten der ersten Jahre sehen und unterstellen, daß wir trotz aller Schwierigkeiten nicht ganz bei Null angefangen haben, dann können Sie feststellen, daß wir die Lücke, die zwischen den neuen und den alten Bundesländern besteht, mindestens zur Hälfte haben schließen können.
Ich habe nicht davon gesprochen, daß wir in den nächsten fünf Jahren die zweite Hälfte des Weges zurückgelegt haben werden. Das hängt natürlich entscheidend davon ab, wie wir Rahmenbedingungen setzen.
Ich werde gleich einiges dazu sagen.
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
Der Aufschwung in Ostdeutschland - zumindest das ist hier einzuräumen - hat sich seit Herbst 1995 deutlich verlangsamt. Die Wirtschaftsforschungsinstitute schätzen in ihrem Frühjahrsgutachten das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes für das Jahr 1996 insgesamt auf lediglich 3 Prozent. Dies bereitet uns in der Tat allergrößte Sorge.
Die Gründe für diese Entwicklung liegen einmal in der stärkeren Verflechtung mit der westdeutschen Wirtschaft. Die Zeit der - wenn Sie so wollen - ostdeutschen Sonderkonjunktur ist vorbei. Deswegen ist auch die Verbesserung der Standortbedingungen in ganz Deutschland wichtig. Ich begrüße daher, daß in Ostdeutschland in vielen Bereichen - nehmen wir den Ladenschluß oder die Lohnfortzahlung - ein viel größeres Verständnis für notwendige Änderungen besteht, als dies zum Teil im Westen der Fall ist.
Ein weiterer Grund für die schwierige Lage ist die seit 1993 stagnierende, immer noch unzureichende Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen und gerade in der Industrie. Unzureichendes Eigenkapital, zuwenig Forschung und Entwicklung, Probleme im Absatz und im Management, aber auch zu hohe Lohnstückkosten sind die Gründe.
Die Bundesregierung hat auf diese Situation in den letzten Monaten in umfassender Weise geantwortet.
Erstens. Wir haben zur Verbesserung der Wirtschaftsentwicklung in ganz Deutschland - ich weise nur auf den Jahreswirtschaftsbericht hin - das Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze sowie kürzlich in Konkretisierung und Ergänzung dieses Programms das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung verabschiedet. Die zügige Umsetzung wesentlicher Teile dieser Programme bis zur Sommerpause wird auch den neuen Bundesländern neue Wachstumsimpulse geben. Ich kann die Opposition nur auffordern und bitten, hier nicht mit Verzögerungen den Weg dieser Gesetze zu beschweren, sondern dafür zu sorgen, daß diese Verbesserungen möglichst schnell in Kraft treten können.
Zweitens. Die Leistungen für Infrastruktur, für die Wirtschaftsförderung, für die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen werden 1996 um rund sieben Prozent gegenüber 1995 erhöht.
Drittens. Herr Kollege Schwanitz, wir haben die Förderung für die neuen Bundesländer hier doch nicht demontiert, nicht abgebaut, sondern wir haben im letzten Jahr mit dem „Mittelfristigen Förderkonzept", das im Jahressteuergesetz 1996 umgesetzt wurde, die Förderung auf den Engpaß der wirtschaftlichen Entwicklung, nämlich die Industrie und den Mittelstand, konzentriert. Wir haben in diesem Gesetz auch die häufig kritisierten Abschreibungsbedingungen für Immobilien den veränderten Bedingungen angepaßt.
Das ist eine klare Weichenstellung gewesen, die auch den Investoren bis Ende 1998 entsprechende Entscheidungssicherheit gegeben hat.
Viertens und nicht zuletzt. Der durch Minister Rexrodt initiierte Eigenkapitalfonds Ost ist von der Wirtschaft entgegen vielen Prognosen - ich sage das hier ganz offen - sehr gut angenommen worden und ist, das kann man heute schon sagen, ein großer Erfolg.
Inzwischen liegen Anträge in Höhe von rund 350 Millionen DM vor. Wir prüfen derzeit, wie wir den Fonds aufstocken können, falls die Mittel von 500 Millionen DM, die für dieses Jahr vorgesehen sind, erschöpft sein sollten. Damit ist doch klar, für das Problem der Eigenkapitalschwäche ist so ein wesentlicher Lösungsansatz nicht nur diskutiert, sondern bereits verwirklicht. Er greift in der Praxis.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist klar, und es ist außerhalb jeden Zweifels, daß die Wirtschaftsförderung auf hohem Niveau fortgeführt wird, und ich unterstreiche diese Forderung aus dem Koalitionsantrag nachdrücklich.
Klar ist auch, daß die Wirtschaftsförderung - entgegen der Behauptung der SPD - 1998 nicht beendet sein wird. Jeder muß und wird doch einsehen, daß Wirtschaftsförderung immer von der absehbaren wirtschaftlichen Lage abhängen muß. Daher hat die Bundesregierung bereits im Jahreswirtschaftsbericht entschieden, im Verlauf des Jahres 1997 über Art und Umfang der Förderung ab 1999 zu entscheiden, so wie wir es zuvor im Jahre 1996 für den Zeitraum bis 1998 getan haben.
Aber ich sage auch: Die Bundesregierung allein kann den Aufbau Ost nicht schaffen. Der entscheidende Punkt in der heutigen Lage ist: Die Lohnstückkosten in Ostdeutschland sind die höchsten in der industrialisierten Welt.
Um hier voranzukommen, muß einerseits die Produktivität weiter gesteigert werden. Das geschieht durch Investitionen. Die Fortschritte erkennt man an der Investitionsquote. Sie ist mehr als doppelt so hoch, wie dies zu Wirtschaftswunderzeiten der Fall gewesen ist. Ich glaube, nachdrücklicher kann man dies hier nicht unterstreichen.
Auf der anderen Seite stehen die Kosten, für die die Tarifparteien eine besondere Verantwortung tragen. Es geht mir hier überhaupt nicht um Vorwürfe an Gewerkschaften und an Arbeitnehmer. Ich sage ganz deutlich: Auch die Politik hat dazu beigetragen, hohe Erwartungen über Lohnsteigerungen zu wekken.
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
Aber heute müssen wir feststellen, Herr Kollege Schwanhold, die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat mit der Lohnentwicklung nicht Schritt gehalten. In Zahlen: Während die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft erst 54 Prozent des westdeutschen Niveaus beträgt, liegen die Löhne bei rund 73 Prozent. Das zeigt doch das Problem hier ganz klar.
Mittlerweile fordern die Forschungsinstitute, Gewerkschaften und Unternehmen sogar unmißverständlich zu einer lohnpolitischen Kehrtwende, ja zu Lohnsenkungen auf. Entscheidend für den weiteren Aufschwung sind flexible Vereinbarungen, die sich an der wirtschaftlichen Leistungskraft der Unternehmen orientieren.
Schon aus den letzten Jahren kennen wir eine Vielzahl solcher Regelungen, solcher - wenn Sie so wollen - Bündnisse für Arbeit auf Betriebsebene, die von allen Beteiligten gemeinsam ausgehandelt wurden. Hier muß noch mehr passieren, damit sich die neuen Länder im Verlauf dieses Jahres von der Wachstumsschwäche erholen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gefordert sind in dieser Situation alle wirtschaftspolitisch Verantwortlichen. Nicht nur Forderungen an andere zu stellen, sondern die eigenen Hausaufgaben zu machen, das muß die Devise sein. Die Bundesregierung war und wird auch weiterhin ein verläßlicher Partner für den Aufschwung Ost bleiben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat sich ausgeblüht. Die Blüten welken und fallen herab. Der Aufbau Ostdeutschlands war von Ihnen mit der amtlichen Prognose blühender Landschaften in drei bis fünf Jahren verbunden worden. Nun sind wir im sechsten Jahr der deutschen Einheit, und das Wachstum in Ostdeutschland stagniert. Es wird in absehbarer Zukunft nicht mehr die westdeutschen Wachstumsraten übersteigen. Gewiß ist viel erreicht worden; aber der Abstand zwischen West und Ost nimmt inzwischen wieder zu. Mit anderen Worten: Das Ende der Angleichung der Lebensverhältnisse scheint eingeläutet zu sein.
Das ist nicht hinzunehmen. Die ohnehin weit überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit nimmt zu. Schon allein der von Ihnen geplante Rückgang der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wird über 100 000 Arbeitslose in Ostdeutschland zur Folge haben. Jede dritte ABM-Stelle in Ostdeutschland wird dadurch gefährdet. 70 000 bis 100 000 Jobs stehen in der Baubranche zur Disposition. Das sind keine Horrorzahlen, das ist keine Schwarzmalerei. Nicht die Wahrheit schadet, meine lieben Kollegen und insbesondere Herr Krüger, sondern ihr Verschweigen.
Es bleibt Ihr und der Arbeitgeber Geheimnis, wie durch Einsparungen Arbeitsplätze geschaffen werden können. Sie werden vielmehr vernichtet. Das macht angst, nicht der Widerstand dagegen im Osten und anderswo.
Gegen diese Realität hilft auch nicht, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben. Wenn Sie davon reden, daß im Osten noch besondere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen unverzichtbar bleiben, und weiter schreiben, deshalb sei auf ein differenziertes Vorgehen zu achten, dann halte ich das - gestatten Sie den Ausdruck - für ziemlich leisetreterisch oder, anders gesagt, für eine nur mühsam kaschierte Niederlage in den Verteilungskonflikten, in denen Sie immer verlieren, liebe ostdeutsche Kollegen.
Seit sechs Jahren beschwört diese Bundesregierung die zweifellos hohen Aufwendungen für Ostdeutschland. Sie macht aber zugleich eine Wirtschaftspolitik, die teilweise wieder zunichte macht, was die Menschen mit gutem Willen, mit größter Anstrengung und manchmal auch mit zähneknirschender Solidarität geleistet haben.
Herr Kollege Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Selbstverständlich.
Herr Thierse, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es durchaus Sinn machen kann, bei der Vergabe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Regionen, die weniger Probleme im industriellen und wirtschaftlichen Bereich haben, die also mehr Arbeitsplätze und weniger Arbeitslosigkeit haben, weniger mit ABM zu fördern als Regionen wie etwa die Lausitz oder Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern, die derzeit mit sehr hohen Arbeitslosenproblemen zu kämpfen haben, und daß deshalb eine Differenzierung notwendig sein kann und darüber hinaus eine Reihe von weiteren Differenzierungen dazu führen kann, daß man mit etwas weniger Geld durchaus auch heilvoll noch die Arbeitsmarktprobleme begleiten kann?
Lieber Kollege Krüger, Differenzierung und Zielgenauigkeit machen immer Sinn. Aber Sie sagen ja, bei den Einsparungen solle man differenziert vorgehen. Dazu sage ich: Angesichts einer im Osten Deutschlands wieder wachsenden Arbeitslosigkeit, angesichts der Tatsache, daß es keinen selbsttragenden Aufschwung gibt - darin waren wir uns doch einig -, überhaupt von Einsparungen zu reden und das dann mit der Aussage zu be-
Wolfgang Thierse
mänteln, dabei müsse man differenziert vorgehen, das nenne ich leisetreterisch und ein Dokument der Niederlage.
Wie lauteten doch die Verheißungen, die wir gehört haben: Es seien nur gute Produkte erforderlich, dann gehe es auch ziemlich schnell gut. Die Filmfabrik Wollen hatte ein sehr gutes, innovatives Produkt. Die MuZ-Motorenfabrik, die Staßfurter Fernsehgerätehersteller, der sächsische Kühlschrankhersteller Foron - sie alle hatten gute, innovative Produkte. Den Zugang zu den Märkten haben sie alle nicht geschafft. Foron hatte eine gute Presse, ist geradezu berühmt. Die anderen hatten den Designer Luigi Colani; es gab Werbestrategien, aber keine Vertriebswege in den Westen, und die alten Kunden im Osten können nicht mehr bezahlen. So stehen wir vor einer weiteren Pleitewelle in Ostdeutschland, die die engagierten kleinen Handwerker ebenso treffen wird wie innovative Unternehmen.
Seit sechs Jahren verlangen wir, daß den Unternehmen auf die Märkte geholfen wird. Die Bundesregierung schafft es gerade einmal, daß sich Westfirmen freiwillig verpflichten, ein bißchen auch im Osten einzukaufen. Hinter dieser Fassade machen diese dann potentielle Konkurrenten platt, wie man an Foron unübersehbar studieren kann.
Meine Damen und Herren, der Abbruch des Aufbaus Ostdeutschland ist - natürlich - nicht zu trennen von der Konjunktur- und Strukturkrise der Wirtschaft in Deutschland überhaupt. Der Nachteil Ostdeutschlands sind die hohen Lohnstückkosten; das stimmt, Herr Kolb. Aber wie niedrig müßten dann die Löhne sein, um noch etwas zu retten? Auch diese Frage muß man beantworten, wenn man klagt. Offen wird gegen die geltenden Tarifverträge polemisiert. Aber die werden doch ohnehin nicht eingehalten. Zwischen der tarifvertraglichen und der tatsächlichen Lohnsumme in Ostdeutschland klafft eine riesige Lücke.
Vielleicht darf ich Ihnen einmal ein anderes Datum nennen: Im vergangenen Jahr kostete nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Köln, eine Arbeitsstunde in Ostdeutschland 26,50 DM, in Westdeutschland kostete sie 44 DM. An den Arbeitskosten also kann es alleine nicht liegen. Danach müßte Ostdeutschland ein Paradies der Vollbeschäftigung sein,
zumal bei uns noch immer länger gearbeitet wird als im Westen. Die Kürze der Arbeitszeit sei ja auch ein Grund für vermeintliche Standortprobleme, wie der Kanzler gelegentlich sagt. Beide Behauptungen werden in Ostdeutschland widerlegt.
Dem Wettbewerb mit Italien und Frankreich halten wir bei diesen Arbeitskosten stand. Völliger Unsinn wäre es allerdings, mit den östlichen Nachbarn konkurrieren zu wollen. Die Löhne dort betragen nun einmal nur etwa 10 Prozent der unsrigen. Um ein solches Lohnniveau kann es selbst Ihnen, meine Herren von der F.D.P., nicht ernsthaft gehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Thierse, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in dieser Debatte von unserer Seite von Lohnstückkosten und nicht von Lohnkosten gesprochen worden ist und daß das zwei völlig verschiedene Dinge sind? Wenn wir hier diskutieren, sollten wir den Versuch machen, auf die Stichworte einzugehen, die aus meiner Sicht in der Sache unbestreitbar richtig sind.
Ich weiß sehr wohl, daß ein Unterschied besteht zwischen Lohnstückkosten und Lohnkosten, aber es gibt natürlich doch einen Zusammenhang, der sich über den einzelnen Arbeitnehmer herstellt. Sie schüren ja eine öffentliche Debatte, die gerade in Ostdeutschland den Eindruck erweckt, die Löhne seien insgesamt zu hoch. Daraufhin antworte ich Ihnen: Dies ist im internationalen Vergleich richtig wie falsch zugleich. Auf diesem Sektor werden Sie die Lösung nicht finden. Denn Ostdeutschland kann - das können selbst Sie nicht ernsthaft wollen - doch kein Niedriglohnland werden, nur damit die Lohnstückkosten dramatisch gesenkt werden können. Es geht um die Steigerung der Produktivität. Ich komme darauf zurück.
Sind Sie bereit, dem Kollegen Hirche eine weitere Zwischenfrage zu beantworten?
Ja.
Sind wir uns dann wenigstens darin einig, Herr Kollege, daß die Lohnstückkosten entscheidend sind für die Produktivität und daß die Probleme der Arbeitslosigkeit kaum zu beseitigen sind, solange die Lohnstückkosten in Ostdeutschland die höchsten in Europa sind?
Das habe ich überhaupt nicht bestritten. Mein erster Satz in dieser Passage - ich habe es hier in meinem Manuskript - war: Die Lohnstückkosten in Ostdeutschland sind zu hoch; das stimmt.
Wolfgang Thierse
Dann habe ich aber gesagt: Dieses ändern zu wollen über die Unterminierung von Tarifverträgen, das halte ich für falsch.
Meine Damen und Herren, der Traum billigster Löhne ist nicht alles. Es wird Stimmung gemacht gegen die Transfers nach Ostdeutschland.
Auch die Kollegin Luft würde Sie gerne etwas fragen.
Bitte.
Herr Kollege Thierse, stimmen Sie mir zu, daß sich das Problem der Lohnstückkosten in den neuen Bundesländern - jedenfalls ein gutes Stück davon - allein dadurch lösen könnte, wenn endlich die Unterauslastung der Kapazitäten durch fehlenden Marktzugang beendet würde? Denn die Lohnstückkosten sind ja durchaus ein Produktionswert zu Lohnkosten.
Wenn man also eine bessere Auslastung der Produktionskapazitäten durch mehr Aufträge, durch mehr Zugang zu den Märkten hätte, würde sich dieses Problem lösen. Ich glaube, wir müssen über Innovationen reden, über Märkte reden
und nicht pausenlos über die Löhne und auch nicht über Lohnnebenkosten.
Frau Luft, ich stimme Ihnen da zu. Ich habe vorhin schon darüber gesprochen, daß der Marktzugang für die ostdeutschen Unternehmen ein entscheidender Punkt ist.
Ich will von den Transfers sprechen, über die ständig öffentlich Klage geführt wird. Die Gesamtaufwendungen pro Jahr für diese Transfers nach Ostdeutschland sinken derzeit. Also rechnet man propagandistisch die letzten sechs Jahre zusammen; das wirkt.
Aber, meine Damen und Herren, es gibt Berechnungen, denenzufolge die Transfers nach Ostdeutschland 1,9 Millionen Arbeitsplätze gesichert hätten - allerdings im Westen. Am Beginn der 90er Jahre haben sie wie ein klassisches Konjunkturprogramm im Westen gewirkt und die konjunkturelle Talfahrt um gut zwei Jahre hinausgeschoben. Daß der Westen kurzfristig von der Lage Ostdeutschlands profitiert hat, ist mittlerweile unbestritten. Sehen wir uns deshalb die Transfers, wie sie heute gelten, noch einmal genauer an.
Es handelt sich erstens um Rechtsansprüche der in Ostdeutschland lebenden Menschen auf Rente, auf Arbeitslosengeld, auf Wohngeld zum Beispiel. Keiner anderen Region wagt die Bundesregierung vorzurechnen, was sie dafür ausgibt.
Nord- oder Südwesttransfers gibt es im öffentlichen Sprachgebrauch nicht.
Die deutsche Einheit, der Einigungsvertrag lassen es aber nicht zu, zwischen einem arbeitslosen Schwaben und einem arbeitslosen Sachsen zu unterscheiden.
Beide haben dasselbe Recht.
Es handelt sich zweitens um Bundesaufgaben wie zum Beispiel den Bau von Bundesfernstraßen oder Verteidigungsaufwendungen. Es ist doch tatsächlich so, daß der Neuanstrich einer Kaserne in Ostfriesland zu den Verteidigungsaufwendungen zählt, dasselbe in Thüringen aber Osttransfer ist.
Auch die Aufwendungen, zu denen der Bund durch die Verfassung oder durch Verträge und Gesetze verpflichtet ist, wie der Bund-Länder-Finanzausgleich oder die grundgesetzlich definierte Gemeinschaftsaufgabe, sollten nicht als Heldentaten westlicher Großzügigkeit gefeiert werden, für die man unablässig Dank verlangt.
Drittens bestehen die Osttransfers aus unmittelbar investitionsfördernden Mitteln; das ist inzwischen der mit Abstand kleinste Teil der gesamten Aufwendungen. Er ist im vergangenen Jahr drastisch gekürzt worden, und jetzt kündigen Sie dasselbe wieder in Ihrem famosen Paket gegen - Entschuldigung: für Wachstum und Beschäftigung, wie es heißt, an.
Es gelingt dieser Politik nicht einmal, einen Anteil an öffentlich geförderter Forschung in den Osten Deutschlands zu bewegen, der dem Anteil der Bevölkerung auch nur nahekommt. Wir Ostdeutschen sind 19 Prozent von allen Deutschen, aber bei uns befinden sich nur 5 Prozent der industriellen Produktion und etwas über 2 Prozent der Forschungskapazitäten.
Herr Kollege Krüger würde gern noch eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Herr Thierse, sind Sie meiner Auffassung,
daß es ein bedeutender Anteil ist, wenn derzeit
40 Prozent der gesamten Forschungsaufwendungen
in den neuen Bundesländern allein vom Bund getra-
Dr.-Ing. Paul Krüger
gen werden, wohingegen in den alten Bundesländern der Anteil der vom Bund getragenen Forschungsförderung, von der Sie gesprochen haben, nur 4 Prozent beträgt?
Ich meine, das ist ein weit überproportionaler Anteil, den die öffentlichen Hände in den neuen Bundesländern übernehmen. Das sind genau zehnmal soviel Aufwendungen, bezogen auf die gesamten Ausgaben im Bereich der Forschung, wie in den alten Bundesländern. Ich meine, daß das ein großer Anteil ist.
Ich frage Sie: Sind Sie der gleichen Meinung?
Herr Krüger, Sie wissen doch, daß Ihre Zahlen die meinigen nicht widerlegen. Sie wissen, daß die ostdeutschen Länder finanziell noch nicht in der Situation sind, hinreichend Forschungsförderung zu betreiben. Sie müßten es viel mehr tun; sie können es gegenwärtig finanziell nicht. Um des Ausgleichs in Deutschland willen muß der Bund einspringen, und zwar viel stärker, als in den vergangenen Jahren geschehen. Sonst wird es gerade in diesem nach vorn, in die Zukunft weisenden Bereich politischer Gestaltung eben nicht zu einer Angleichung oder Annäherung kommen.
Wenn der Lebens- und Arbeitsstandort Ostdeutschland eine wirkliche Zukunftschance haben soll, dann müssen die Forschungs- und Innovationspotentiale im Osten stabilisiert und aufgebaut werden. Deswegen sage ich es noch einmal, Herr Krüger: Ostdeutschland muß Schwerpunkt der Forschungsförderung des Bundes sein und bleiben.
Das heißt im übrigen auch - diese Wahrheit muß man aussprechen -: Wenn man keine Zuwächse hat, die man verteilen kann, dann muß man dem stärkeren Teil etwas abverlangen, wenn der schwächere sonst nicht überleben kann.
Wer dagegen jetzt am Osten spart, wird die Dauer der Unterstützung nur verlängern und ihren endlichen Erfolg gefährden. Wer jetzt die Schmerzen der Solidarität verringern will, verlängert sie nur. Wenn der Aufbau Ost schiefgeht, wackelt der Standort Deutschland insgesamt.
Deswegen fordern wir Kontinuität und Verläßlichkeit der Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland. Das ist das zentrale Anliegen unseres Antrags.
Übrigens - eine Nebenbemerkung -: Ein Verein Bürgerbüro wird und darf kein Ersatz für eine wirksame Politik sein. Er wird weder die Haftentschädigung für Bautzen-Häftlinge noch die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland erhöhen können. Das alles, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, können Sie mit Ihrer Mehrheit machen, und zwar ohne ein Bürgerbüro, aber Sie tun es nicht.
Was jetzt not tut, ist die Konzentration der Fördermittel auf den Mittelstand, der produziert oder produktionsnahe Dienstleistungen erbringt. Wir brauchen den Erlaß der Altschulden, die manche Kommunen handlungsunfähig machen. Wir fordern eine Offensive zur Vermögensbildung in ostdeutscher Hand. Wir verlangen die Förderung ostdeutscher Forschungsstandorte und die Bereitstellung von Risikokapital; denn Ostdeutsche haben in aller Regel kein Eigenkapital, und die Banken geben ihnen keines und halten oft selbst ihren guten Rat zurück.
Wir brauchen - nicht nur in Ostdeutschland, aber da besonders - eine Initiative für mehr Arbeitsplätze. Ostdeutschland als Investitionsruine werden wir uns alle gemeinsam nicht leisten können.
Was konzeptionsloses Sparen, zumal im Osten, aber auch sonst überall, bedeutet, schreibt Ihnen Ihr Parteifreund Lothar Späth ins Stammbuch:
Mißlingt der Versuch, Ostdeutschland auf eine eigene wirtschaftliche Grundlage zu stellen, ist der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat nicht zu halten.
- Der Mann hat recht. Halten Sie sich daran!
Kollege Gunnar Uldall, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Herr Kollege Thierse, in vielen Punkten kann ich mich Ihren Ausführungen anschließen; und ich werde mich bemühen, das Thema so differenziert anzugehen, wie Sie es getan haben. Ich meine aber, daß Sie in vielen anderen Punkten, wenn Sie noch einmal Gelegenheit haben sollten, eine solche Rede zu halten, etwas vorsichtiger sein müßten.
Es muß immer Ziel einer solchen Rede sein, die Menschen nicht zu entmutigen, sondern zu ermutigen.
Letzteres fehlte in Ihrer Rede völlig.
Sie haben keine Alternativen geboten. Sie haben nicht versucht, Mut zuzusprechen. Sie haben die Dinge in vielen Punkten schlechter dargestellt, als sie sind.
Gunnar Uldall
Meine Damen, meine Herren, es gibt genügend Probleme; mein Kollege Paul Krüger hat das vorhin in seiner eindrucksvollen Rede
dargestellt.
Ich möchte zwei Punkte ansprechen, die mir besondere Sorge bereiten. Der erste Punkt: In den neuen Bundesländern wird pro Einwohner nur die Hälfte dessen produziert, was in Westdeutschland produziert wird. Das ist einer der Kernpunkte, weswegen wir so große Probleme zu bewältigen haben.
Der zweite Punkt: Der Export aus den neuen Bundesländern ist noch viel zu gering. Er müßte pro Kopf zehnmal so hoch sein, um an den Westdeutschlands heranzureichen.
Das sind die beiden Kernpunkte. Nun müssen wir überlegen, wie wir es am besten in den Griff bekommen, aus dieser Lage herauszukommen, wie wir Wege weisen können, die Situation zu verbessern.
Deswegen möchte ich vorweg ein Wort zu den Ursachen sagen. Ich hatte mir eigentlich nicht vorgenommen, darüber zu sprechen. In mancher Rede wurde aber so getan, als ob es nur einen Schuldigen gäbe, als ob er allein schuld daran habe, daß es so schlecht vorangeht. Nein, lieber Herr Schwanhold, das ist. anders.
Als die Mauer geöffnet wurde, gab es kaum einen Betrieb in Ostdeutschland, der wettbewerbsfähig gewesen wäre. Es wurde seit Jahren nicht mehr das Notwendige investiert.
Es wurde über Jahre eine viel zu hohe Kostenstruktur in den Betrieben akzeptiert. Es wurde in Ostdeutschland mit dem Kostenfaktor drei bis vier produziert im Vergleich zu den Wettbewerbern auf den Weltmärkten. Deswegen mußte jede Mark der DDR, die im Export erlöst wurde, mit vier multipliziert werden, um entsprechende Subventionen für die Betriebe zu bekommen.
Das sind die eigentlichen Ursachen, von denen wir uns bisher noch nicht voll erholt haben. Das sind die Kostennachteile, die immer noch bestehen.
Dazu kam noch ein weiteres Problem, nämlich daß dann eine Situation auf den Weltmärkten eintrat, die nicht durch überbordende Investitionsfreude weltweit und große Nachfrageschübe gekennzeichnet war; vielmehr kam es zu einer Abkühlung der Konjunktur weltweit. Beides führte dazu, daß es weltweit gar keine großen Investitionsströme gab, die man nach Ostdeutschland hätte lenken können. Das ist die Entwicklung. Ich lehne es einfach ab, hier so zu tun, als wenn man nur ein bißchen mehr guten Willen hätte irgendwo zeigen können, und die Geschichte wäre dann besser gelaufen.
Ich sage, man sollte die Situation nicht schlechterreden, als sie ist, und vor allen Dingen sollte man den Menschen Mut machen.
Ich will einen Vergleich anstellen, der Sie auch nicht begeistern wird, lieber Herr Kollege Schwanhold. Wir haben bisher immer einen Vergleich zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland angestellt; wir haben das Niveau, das in Ostdeutschland erreicht wurde, mit dem Niveau, das in Westdeutschland vorhanden ist, verglichen. Dieser Vergleich ist wichtig und muß durchgeführt werden.
Ich möchte einen weiteren Vergleich bringen, an dem deutlich wird, wie gut bisher der Aufholprozeß in Ostdeutschland gelaufen ist. Ich möchte die Entwicklung in Ostdeutschland mit der Entwicklung in Ländern Osteuropas vergleichen, die auch das Problem hatten, daß ihre sozialistische Wirtschaft plötzlich dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt wurde, so daß man sich mit seinen Produkten auf völlig neuen Märkten behaupten mußte.
Ich greife einige Länder heraus: Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Ich vergleiche zunächst einmal die Arbeitslosenquote. Auch in diesen Ländern ist die Arbeitslosenquote bedauerlicherweise sehr hoch. Sie liegt in der Größenordnung - wie in den ostdeutschen Ländern - von etwa 16, 17 Prozent: in Polen 16 Prozent, in der Slowakei ebenso, einen Tick besser in Ungarn, und nur in Tschechien ist sie deutlich besser.
Man sieht also: Auch in diesen Ländern, in denen es keine böse CDU/CSU-F.D.P.-Regierung gegeben hat, sieht die Situation nicht besser aus.
Zweitens will ich die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in den genannten Ländern betrachten, und zwar in den Jahren 1991 und 1995. In Tschechien lag 1995 das Bruttoinlandsprodukt gegenüber 1991 um 20 Prozent niedriger, in der Slowakei um 21 Prozent niedriger, in Ungarn um 12 Prozent niedriger. Lediglich in Polen gab es eine positive Entwicklung; hier lag das Bruttoinlandsprodukt 1995 gegenüber 1991 um 8,8 Prozent höher.
Das reale Wachstum in den neuen Bundesländern betrug von 1991 bis 1995 32 Prozent. Deshalb sage ich: Wir brauchen uns doch mit unseren Leistungen nicht immer schlechter darzustellen, als wir tatsächlich sind. Lassen Sie uns viemehr mit Optimismus an die Problemlösung herangehen! Wenn wir nur Pessimismus verbreiten, ermutigen wir die Menschen nicht, dann bringen wir weltweit keinen Investor dazu, nach Ostdeutschland zu gehen.
Meine Damen und Herren, es wird oft gefragt: Warum gehen die Betriebe aus Westdeutschland gleich weiter nach Osten in die Slowakei, nach Tschechien oder nach Polen? Ich antworte: Lassen
Gunnar Uldall
Sie uns die Auseinsandersetzung mit diesen Ländern doch einmal offensiv führen! Natürlich gibt es dort niedrigere Löhne, aber diese Länder haben auch viele Nachteile. Unsere Aufgabe ist es, darauf hinzuweisen, daß wir in Ostdeutschland oder in Westdeutschland nicht nur Nachteile haben - beispielsweise bei der Lohnhöhe -, sondern daß wir viele Vorteile gegenüber diesen genannten Ländern aufweisen.
Beispielsweise sind die Kapitalkosten in den genannten Ländern höher. Die physische Infrastruktur - Brücken, Straßen, Verkehrsanbindungen - ist dort viel schlechter als bei uns.
Daneben gibt es noch so etwas wie eine weiche Infrastruktur, nämlich das Kreditwesen, das Versicherungswesen oder die Qualität bei den örtlichen Dienstleistungen und Handwerksleistungen. Alles das sind doch Aspekte, bei denen wir meilenweit voraus sind. Der Vorteil eines vielleicht etwas niedrigeren Stundenlohns nützt einem überhaupt nichts, wenn die Produktion plötzlich für längere Zeit ausfällt, weil eine notwendige Reparaturleistung nicht erbracht werden kann.
Gehen wir also mit Mut an diese Fragen heran; verstecken wir uns nicht hinter irgendwelchen Sorgen und Problemen! Versuchen wir, die potentiellen Investoren davon zu überzeugen, daß es gut ist, in den neuen Bundesländern zu investieren; denn die großen Chancen des Standortes Ostdeutschland werden in den nächsten Jahren ja noch kommen, nämlich dann, wenn der riesige Markt von 100 Millionen Einwohnern in den osteuropäischen Ländern an Kaufkraft gewonnen hat. Wenn die Grenzen zwischen der EU und Osteuropa verschwunden und die Handelshemmnisse beseitigt sind, gibt es für die Unternehmen doch keinen besseren Standort, um diese riesigen Märkte für sich zu erschließen, als die Städte in Ostdeutschland. Dort wohnen Ingenieure, Facharbeiter und Kaufleute, die die Sprachen Osteuropas beherrschen, die die Mentalität der Menschen kennen und aus früheren geschäftlichen Verbindungen heute noch viele Beziehungen in diesen Raum haben.
Hier gibt es also eine Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten, so daß ich jeden Unternehmer, der sich langfristig diesen Markt in Osteuropa sichern will, nur dazu aufrufen kann: Versuche heute schon, deine Position zu sichern! Um sich diese Märkte zu erschließen, gibt es keinen besseren Standort als Dresden, Potsdam oder Chemnitz. Diese Städte verfügen über große Vorteile.
Ich kann nur sagen: Wir werden alles tun, um diese Entwicklung dort mit zu unterstützen.
Der Kollege Thierse würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Lieber Kollege Uldall, das, was Sie über uns Ostdeutsche und den Standort Ostdeutschland gesagt haben, ist ja alles sehr lieb. Aber das ist schon seit fünf Jahren bekannt und nicht neu. Neu ist die Kürzung der Fördermittel für Ostdeutschland.
Meinen Sie nicht - das ist die Frage -, daß Stabilität und Verläßlichkeit in bezug auf Fördermittel das wichtigste Mittel sind, um Unternehmer dazu zu bewegen, nach Ostdeutschland zu gehen, wenn sie sich also darauf verlassen können, daß sie diese Subvention oder jene finanzielle Unterstützung bekommen? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß das aussichtsreicher ist, als freundliche Worte an sie zu richten?
Lieber Herr Thierse, einer der Kollegen - ich weiß nicht, ob Sie es waren oder Herr Schulz - hat eben schon gesagt, daß die vorhandenen Mittel möglichst effizient eingesetzt werden müssen. Darin sind wir uns einig. Wir haben nur ein begrenztes finanzielles Volumen zur Verfügung. Daher haben wir uns dazu entschlossen, die Investitionshilfen auf den Gebieten, wo es in Ostdeutschland wirklich keinen Investitions- und Förderbedarf mehr gibt, zu begrenzen. Das sind die Handelsinvestitionen und die Investitionen in Immobilien. Wenn man durch die Vororte von Leipzig oder Schwerin fährt, dann sieht man doch, wie die Investitionen dort fehlgeleitet worden sind. Wir haben die Fördermöglichkeiten bei den Handelsinvestitionen und beim Wohnungsbau zurückgefahren. Das ist auch richtig so; denn das Geld, das wir haben, müssen wir punktgenau einsetzen.
Ich möchte abschließend noch einige Sätze zu dem SPD-Antrag sagen. Dieser Antrag ist falsch. Er führt in die falsche Richtung, und zwar deswegen, weil wieder nur an einzelnen Progrämmchen gedreht und überall noch eine Mark mehr draufgelegt wird. Das ist nicht die Lösung. Die Probleme in Ostdeutschland können wir nicht so lösen, daß wir überall noch ein bißchen mehr Geld drauflegen. Es wird nicht schaden, wenn Sie noch ein bißchen Geld drauflegen; aber das stellt noch keine Lösung dar. Die Lösung liegt viel tiefer und ist sehr viel schwerer zu erreichen.
Die Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. - Die Probleme, die wir in Ostdeutschland haben, sind die gleichen Probleme wie in Westdeutschland. Das sind gesamtdeutsche Wirtschaftsprobleme, die darin bestehen, daß unsere Unternehmen in weiten Feldern im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten können. Wir müssen damit beginnen, eine solche Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Das ist der Inhalt unseres Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung. Ich kann alle ostdeutschen Kollegen der SPD nur aufrufen: Unterstützen Sie dieses Programm!
Ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen.
Jawohl. - Denn nur dann, wenn die Wirtschaft im Westen floriert, wird im Osten investiert.
Der Kollege Schwanitz hatte sich schon während der Rede des Kollegen Thierse zu einer Kurzintervention gemeldet. Dazu gebe ich ihm jetzt das Wort.
Ich darf mir die Bemerkung an die Adresse aller Kollegen erlauben, daß diese apotheotischen Schlußappelle in die Redezeit eingerechnet werden sollen und sie nicht erst nach Ablauf der Redezeit an die Kollegen gerichtet werden dürfen.
Bitte, Herr Kollege Schwanitz.
Schönen Dank. - Herr Kollege Uldall, ich möchte als Einleitung vorweg sagen: Sie haben ja in den letzten Wochen einen konkreten Vorschlag für eine Steuerreform gemacht. Es wäre interessant zu erfahren, wie dann, wenn Ihr Vorschlag tatsächlich mehrheitsfähig würde, die Förderung für Ostdeutschland fortgesetzt werden könnte. Das aber nur am Rande.
Ich will einen Punkt angreifen, den Sie ebenfalls angeführt haben, nämlich die Frage der Differenzierung und der Konzentration, und noch einmal den Bogen zu dem schlagen, was im Antrag der Koalition für den Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und FuU-Maßnahmen vorgeschlagen worden ist. Ich finde, jetzt ist die Zeit, in der wir das einmal konkret machen sollten. In dem Papier heißt es - ich darf zitieren -:
Da in den neuen Ländern vielerorts besondere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen unverzichtbar bleiben, ist ... auf ein differenziertes Vorgehen zu achten.
Damit ist ein regional differenziertes Vorgehen gemeint.
Ich will jetzt gar nicht darauf hinweisen, daß die ostdeutschen Arbeitsämter schon seit Monaten und Jahren die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen unter Verwendung von Arbeitsmarktindikatoren regional differenzieren. Das nenne ich nur mal am Rande.
Wenn wirklich gefordert wird, daß man in dieser Situation die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf das Westniveau herunterschrauben soll - das hieße für das nächste Jahr: 2 Milliarden weniger -, und wenn man gleichzeitig regional differenzieren will, dann bitte ich, mir den Maßstab zu nennen und
konkret zu sagen, aus welchen ostdeutschen Bereichen wir die Gelder, über die normale, durchschnittliche Kürzung hinaus, abziehen und in welche anderen Problembereiche in Ostdeutschland wir sie stekken sollen. Ich bitte, mir konkret die Bereiche zu nennen, die in bezug auf die Förderung von Maßnahmen auf Null gesetzt werden können. In bezug auf welche Regionen soll denn dann noch zusätzlich regional differenziert werden?
Jetzt wäre die Gelegenheit, das einmal konkret zu sagen. Das sollte nicht in solch nebulösen Sätzen geschehen, mit denen nur versucht werden soll, über die Abstimmungsprobleme der nächsten Wochen und Monate hinwegzukommen.
Herr Kollege Uldall, Sie haben die Möglichkeit zu replizieren.
Zunächst zu dem letzten Punkt: Wir werden die Arbeitsmarktregionen, in denen eine Differenzierung vorgenommen werden soll, danach auswählen, ob es dort entweder eine überdurchschnittlich schlechte Situation oder - positiv ausgedrückt - eine positive Situation auf dem Arbeitsmarkt gibt. Die letztgenannten Gebiete würden dann herausgenommen.
- Ich bitte folgendes zu berücksichtigen: Es gibt auch in Westdeutschland Regionen, für die eine sehr hohe Arbeitslosigkeit zu verzeichnen ist.
Erfreulicherweise gibt es in Ostdeutschland - reden Sie das bitte nicht immer kleiner, als es sich tatsächlich darstellt - Regionen, deren Situation schon sehr gut ist. Unsere Intention ist, daß wir nun auch dort zu einer entsprechenden - -
- Wissen Sie, wir haben die Zahlen dafür noch nicht vorgelegt.
- Das ist auch noch gar nicht Gesetz; greifen wir doch jetzt nicht der Entwicklung vor.
Das entscheiden wir dann, wenn wir soweit sind; denn wir wollen nach aktuellen Zahlen und nicht auf Grund irgendwelcher theoretischer Begründungen entscheiden.
Gunnar Uldall
Im übrigen kann ich nur sagen: Jede Mark, die für Hilfen ausgegeben wird, muß so eingesetzt werden, daß sie möglichst viel Nutzen bringt.
Deswegen kann es doch nur in Ihrem Interesse sein, eine solche Formulierung zu akzeptieren, daß differenziert vorgegangen werden soll. Ein pauschales Streuen ruft nur die Kritik hervor, die Herr Schulz zu Beginn seiner Rede erwähnte. Die Streueffekte, die dadurch entstehen, will doch keiner von uns verteidigen. Unser ganzes Bemühen ist es, hier zu einem effizienteren Einsatz zu kommen. Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen.
Jetzt möchte ich etwas zum ersten Teil der Intervention sagen - es wurde nach meinem Steuersystem gefragt -: Dieses Steuersystem geht davon aus, Herr Kollege - das konnte man in verschiedenen Veröffentlichungen ausreichend lesen -, daß es keine Sonderabschreibungen und damit auch keine Sonderabschreibungen in Ostdeutschland mehr gibt.
Aber ich habe in meinem Programm auch vorgesehen, daß an die Stelle einer Abschreibungsmöglichkeit das staatliche Gestalten durch eine direkte Zuwendung treten soll. Wer wollte bestreiten, daß durch die Sonderabschreibungsregelungen für Ostdeutschland viel Geld in falsche Kanäle gelenkt worden ist? Gehen Sie einmal durch die Vororte von Leipzig oder Schwerin. Sie werden sehen, daß es dort bereits jetzt Bauten gibt, die vom Markt nicht mehr abgenommen werden. Man kann nicht sagen, daß es bei Realisierung meiner Vorschläge zu einer Verschlechterung kommen würde.
Meine Vorschläge würden dazu führen, daß die Mittel sehr viel effizienter, sehr viel nachprüfbarer eingesetzt werden.
Herr Kollege Uldall, da beim Sprechen vom Platz aus nicht so leicht erkennbar ist, wann die Redezeit abgelaufen ist, teile ich es Ihnen hiermit mit: Sie ist abgelaufen.
Wenn eine so umfangreiche Fragestellung erfolgt, dann müßte man die Zeit für die Beantwortung verlängern.
Nein, drei Minuten gibt es für die Kurzintervention und drei Minuten für die Replik. Zum Instrument der Kurzintervention darf ich noch etwas Allgemeines sagen. Herr Kollege Schwanitz, wen hätten sie gefragt, wenn ich Ihre Meldung nicht übersehen hätte?
Am liebsten Herrn Krüger.
Dann hätten Sie sich bei der Rede von Herrn Krüger melden müssen und nicht bei der Rede des Kollegen Thierse. Wir sollten das Instrument der Kurzintervention nicht dazu benutzen, sich schlicht zusätzliche Redezeit zu besorgen, sondern man sollte wirklich auf den anderen eingehen.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Christian Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit ein paar grundsätzlichen Bemerkungen zur heutigen Debatte beginnen. Ich meine erstens: Es bestand in den letzten Monaten ein Mißverhältnis in der Debattenlage. Es gab den Jahreswirtschaftsbericht mit einem sehr anspruchsvollen Titel, der von einem Vorrang für Beschäftigung sprach; inzwischen liegt die Korrektur durch ein Sondergutachten vor. In Kontrast dazu steht das Frühjahrsgutachten der fünf wirtschaftswissenschaftlichen Institute, das heute bereits mehrfach erwähnt worden ist.
Ich will feststellen, das allein hätte verdient, in einer ausführlichen Debatte vertieft zu werden. Ich finde es ziemlich mißlich, daß statt dessen nur sehr einseitig über Ausgabenkürzungen in verschiedenen Bereichen debattiert werden konnte, als ob das die einzige Bedingung sei, zu mehr Wachstum in diesem Lande zu kommen.
Dabei wäre man nämlich zweitens automatisch auf die besonders problematische Lage Ostdeutschlands gestoßen, die in diesem 13. Bundestag nach meiner Empfindung ohnehin zu kurz gekommen ist. Ich gestehe Werner Schulz zu, daß er recht hat: Wir führen hier zunehmend Insider-Diskussionen über dieses Thema. Ich glaube, auch das ist mißlich.
Vorhin hat sich Herr Uldall zunächst zur Ermutigung geäußert. Ich finde, verehrter Kollege, die größte Ermutigung, die wir auch den Ostdeutschen, aber den Deutschen insgesamt geben könnten, bestünde darin, ihre Probleme ständig in ihrer gesamten Komplexität besser aufzugreifen und sie als einen regelmäßig wiederkehrenden Diskussionsgegenstand ernst zu nehmen. Das ist meiner Empfindung nach nicht der Fall.
Das ist der Situation nicht angemessen. Es würden manche Zuspitzungen, die sich vielleicht durch eine Debatte wie die heutige ergeben, nicht aufkommen.
Freilich hatten wir dieses Problem in den vorangegangenen Jahren auch deswegen nicht, weil angesichts der höheren Wachstumsraten Illusionen über die tatsächliche Lage entstehen konnten. Diese war aber, wie wir wissen, zu keinem Zeitpunkt beruhigend, weil eigentlich schon immer durch unglaublich hohe Unterbeschäftigung, überdurchschnittlich großen Mangel an Ausbildungsplätzen und die schwierige Lage von mittelständischen Unternehmen und Existenzgründern geprägt. Gerade der Mangel an Ausbildungsplätzen ist ein ganz wesentlicher Indikator für die tatsächliche Lage der ostdeutschen Wirtschaft. Ich denke, das dürfen wir nicht übersehen.
Christian Müller
Ich glaube, darüber gibt es aber auch keinen besonderen Dissens.
Meiner Meinung nach hat das alles etwas mit der Frage zu tun, wie die letzten Jahre verlaufen sind. Letztendlich wurden Privatisierungslasten auch durch Privatisierungsverträge erzeugt.
Drittens. Dabei bestand immer die Gefahr - sie besteht auch heute noch -, daß die öffentliche Meinung zu diesem Thema „Förderung der ostdeutschen Wirtschaft, Angleichung der Lebensverhältnisse" endgültig kippen könnte. Zum Glück scheint es aber noch immer so zu sein - laut einer Umfrage aus diesen Tagen -, daß eine Mehrheit der Deutschen, nämlich 69 Prozent, dafür ist, die Transferleistungen noch für mindestens fünf Jahre fortzusetzen.
- Ja, ja. So ist es.
Nach der Verschwendungsdebatte der letzten zwei Jahre und dem heute schon erwähnten Geschrei aus ganz bestimmten Richtungen ist dies fast schon ein Wunder.
Vom Deutschen Bundestag müßte die Botschaft ausgehen, jedem Versuch von Meinungsmacherei entgegenzutreten, wie sie vor einigen Wochen auch im Bonner „General-Anzeiger" zu lesen war: Der Strukturwandel im Osten sei abgeschlossen; ab sofort müsse man mit der dortigen Lage so zurechtkommen, wie sie sei. - Damit aufzuräumen könnte, glaube ich, ein Sinn der heutigen Debatte sein.
Viertens. Das führt dazu, noch einmal zum Frühjahrsgutachten zurückzukommen, speziell zur Beurteilung der ostdeutschen Situation durch das DIW und das Wirtschaftsinstitut in Halle, die durch ihre größere geographische Nähe eventuell eine etwas andere Sichtweise der Problemlage Ostdeutschlands einbringen, was uns an und für sich nur guttun kann.
In dieser Beurteilung kommt klar zum Ausdruck, daß es in Deutschland ein einziges riesiges Standortproblem gibt: Das ist das ostdeutsche Standortproblem. Es liegt im Interesse der gesamten Volkswirtschaft - ich darf wohl auch sagen: der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland -, daß dieses Problem gelöst wird.
Der Strukturwandel im Osten ist in der Tat noch nicht abgeschlossen; es sei denn, man akzeptierte die vorhandenen erheblichen Strukturdefizite als Dauerzustand und nähme die Transferleistungen in soziale Bereiche, die Wanderungsbewegungen, die damit im Zusammenhang stehen, und all das, was heute schon reichlich besprochen worden ist, in Kauf.
Es ist folglich kein Wunder, wenn festzustellen ist, daß die Konjunkturlage und die Konjunkturabhängigkeit der ostdeutschen Wirtschaft ganz besonders prekär sind. Auch in den Expertisen, die uns für die kurz bevorstehende Anhörung zur Lage in Ostdeutschland bereits zur Verfügung stehen, kommt zum Ausdruck, daß durch das Zurückfahren ganz bestimmter Sonderfaktoren im öffentlichen Investitionsbereich, die der Konjunkturabhängigkeit der ostdeutschen Wirtschaft bisher gegensteuerten, das Einschwenken auf die allgemeine Konjunkturlinie die Folge ist und daß in dieser Situation, die wir diskutieren, die Konjunkturabhängigkeit der ostdeutschen Wirtschaft natürlich besonders groß ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Sätze - meine Redezeit ist bald abgelaufen - zu dem sagen, was durch Herrn Kolb und andere sowie durch Ihren Entschließungsantrag auf der Tagesordnung steht:
Es ist in Ordnung, wenn der Bundeswirtschaftsminister in Brüssel in seinem Memorandum sagt: In Ostdeutschland ist noch keine tragfähige und dauerhaft sichere wirtschaftliche Situation vorhanden. Damit mahnt er an, daß wir nach 1999 natürlich noch weitere Wirtschaftsförderleistungen durch die Europäische Union brauchen. Es ist völlig in Ordnung, wenn dies gemacht wird. Das ist aber, Herr Kolb, in der Tat ein erhebliches Kontrastprogramm zu dem, was wir hier heute diskutieren; denn auf der nationalen Ebene stehen Kürzungen an. Ich erinnere noch einmal an die letzte Diskussion im Rahmen der Haushaltsberatungen, die wir ja auch im Wirtschaftsausschuß geführt haben, in der aus der Richtung des Bundeswirtschaftsministeriums letztendlich Bedauern darüber laut wurde, daß so etwas wie die Regionalförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", die Fernwärmeprogramme und ähnliche Dinge zurückzufahren seien. Das stimmt doch nicht mit Ihrer Aussage überein, daß in den nächsten Jahren gar kein Rückgang dieser Förderung bevorstehe. Die Zahlen sprechen doch ihre eigene Sprache. Es kann nur unterstrichen werden, daß gerade im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe eine Wiederaufstockung dieser Mittel angemessen wäre.
Meine Damen und Herren, Herrn Ludewig ist nur zuzustimmen, wenn er ausführt, daß ein Ziel nur darin bestehen könne, es müsse eine ostdeutsche Wirtschaft geben, die auf eigenen Beinen steht und sich selber trägt. Wer will denn etwas anderes behaupten?
Diese lineare Betrachtungsweise hinsichtlich der Wege, die zur Hälfte zurückgelegt sind, machte aber spätestens dann keinen Sinn mehr, wenn wir mit Wachstumsraten von 0 bis 0,1 bzw. 0,5 Prozent rechnen müßten. Denn daraus ergäbe sich für den zweiten Teil des Weges ein Programm für die nächsten 50 Jahre, also in einer sehr wenig linearen Form. Dies ist es nach meinem Dafürhalten dann nicht!
Meine Redezeit geht zu Ende. Ich wollte diese Dinge hier ganz einfach noch einmal in den Mittelpunkt der Debatte stellen. Sie sind ja schon sehr ausführlich auch auf den Inhalt unseres Antrags eingegangen. Ein letzter Gedanke zu diesem Thema von meiner Seite ist: Über den Sinn und Unsinn von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu streiten und zu diskutieren ist eigentlich wenig ergiebig. ABM im
Christian Müller
Osten werden letztendlich auch im Zusammenspiel mit den Kammern diskutiert und von diesen genehmigt. Wer will denn sagen, welche Alternative es dazu gibt, auch in der nächsten Zeit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten durchzuführen?
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Pohler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Worten meines Kollegen Müller ist zu entnehmen, daß wir eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten beim Erkennen der Problematik haben. Sicher gibt es dann immer wieder einige Differenzen bei deren Lösung. Trotzdem aber schönen Dank für die Sachlichkeit, mit der Sie gesprochen haben!
Wenn man nach zirka sechs Jahren deutscher Einheit zurückschaut, so kann man natürlich ohne Zweifel feststellen, daß die Fortschritte im Aufbau der neuen Länder unübersehbar sind. Verkennen dürfen wir jedoch nicht die noch bestehenden Schwierigkeiten. Auf diese stürzen sich natürlich unsere Kritiker - leider oft, ohne konkrete Vorschläge zu machen.
Sie sollten jedoch dabei auch bedenken, daß, ausgehend von der desolaten Ausgangsposition der DDR-Wirtschaft im Oktober 1990 und angesichts des kurzen Zeitraums, der für eine grundlegende Umstrukturierung der Wirtschaft Ostdeutschlands zur Verfügung stand, Defizite unvermeidlich sind. Trotz aller Finanztransfers in die neuen Bundesländer - in den Jahren 1991 bis 1996 betrug der Nettotransfer zirka 746 Milliarden DM - und der erzielten Wachstumsraten konnte ein selbsttragender Aufschwung noch nicht erreicht werden. Erschwerend kommt hinzu, daß die derzeitige Wirtschaftskonjunktur in Gesamtdeutschland alles andere als zufriedenstellend ist.
Das muß sich auf die jungen Betriebe und Unternehmen im Osten Deutschlands deshalb besonders negativ auswirken, weil sie nicht über das notwendige Eigenkapital verfügen, um derartige Durststrekken einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Sollen die hoffnungsvollen Anfänge nicht zusammenbrechen, ist also trotz angespannter finanzieller Lage weitere finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder erforderlich. Darüber, meine Damen und Herren, sind wir uns alle in diesem Hohen Hause trotz verschiedener Ansätze wohl einig.
Lassen Sie mich diese Aussage mit einigen Zahlen unterstreichen. Nach vorliegenden Untersuchungen zur Wirtschaftslage vom Frühjahr 1996 liegt die Eigenkapitalquote von fast der Hälfte der ostdeutschen mittelständischen Unternehmen unter 10 Prozent. Eine Eigenkapitalausstattung von über 30 Prozent wäre dagegen sicher ein erstrebenswertes Ziel.
Einig sollten wir uns auch darüber sein, daß es nicht um Dauersubventionen gehen kann. Negativbeispiele, wohin diese führen, gibt es in den alten Bundesländern genügend. Wir brauchen eine gesunde, sich selbst tragende Wirtschaft. Dieser Zielstellung sollte alles andere untergeordnet werden. Dies können wir nur erreichen, wenn die vorhandenen, aber leider begrenzten Mittel schwerpunktmäßig zum Einsatz kommen.
Welche Schwerpunkte sehe ich dabei? Der Förderung von Existenzgründungen kommt ohne Zweifel eine besondere Bedeutung zu. Sie hat sich in der letzten Zeit nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern über Jahrzehnte auch im Westen Deutschlands bewährt. Wenn man davon ausgeht, daß ein Existenzgründer bereits kurzfristig drei bis vier neue Arbeitsplätze schafft,
brauchen wir uns gerade in dieser Zeit über diese Maßnahme nicht weiter zu unterhalten. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß der Mut zur Existenzgründung erhalten bleibt. Das ist nur dann der Fall, wenn Zusammenbrüche von kleinen und mittelständischen Betrieben weitestgehend verhindert werden. Ausschließen kann man sie nicht. Es geht nicht darum, Unternehmen künstlich am Leben zu erhalten, sondern darum, den Betrieben mit Zukunftschancen zu helfen, die trotz guter Konzepte und voller Auftragsbücher in Schwierigkeiten geraten sind. Ursache dafür ist in der Regel fehlendes Eigenkapital. Dieser Schwerpunkt wurde erkannt und durch gezielte Förderinstrumente in Angriff genommen. Ich denke dabei unter anderem an den Konsolidierungsfonds, der über die BvS und die Länder eingesetzt wird, und an den im vorigen Jahr eingerichteten Beteiligungsfonds Ost. Mit ihm wurde eine Möglichkeit geschaffen, privates Kapital für die Stärkung unserer Betriebe zu mobilisieren. Beide Wege haben sich bewährt und sollten fortgesetzt bzw. ausgebaut werden.
Wesentlich ist auch die zielgerichtete Vergabe. In diesem Zusammenhang möchte ich den sogenannten Runden Tisch erwähnen, eine Beratungsform, die von Leipzig ausgegangen ist und inzwischen weitverbreitet Anwendung findet. An ihm sind unter anderem die zuständige IHK, die Deutsche Ausgleichsbank und die jeweilige Hausbank beteiligt. Hier wird über die jeweilige Vergabe von Fördermitteln und Krediten entschieden, und die Betriebe werden, soweit erforderlich, auch beratend begleitet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Dr. Pohler, mit Interesse habe ich vernommen, daß Sie eine Konzentra-
Dr. Barbara Hall
tion der sicher begrenzten Mittel auf bestimmte Unternehmen fordern. Sie haben die kleinen und mittelständischen Unternehmen hervorgehoben. Wie sehen Sie es in diesem Zusammenhang, daß gestern im Haushaltsausschuß bestätigt wurde, für die geplante Chip-Fabrik in Dresden im Bundesland Sachsen eine Bürgschaft in Milliardenhöhe zu übernehmen, und daß über die GA mehrere hundert Millionen DM dorthin fließen? Eine solche Konzentration von Mitteln dient dem Bau einer Hochtechnologiefabrik mit nur 1 430 Arbeitsplätzen. Dieses „nur" setze ich in ein Verhältnis zur eingesetzten Summe. Wie vereinbart sich dies mit Ihren Vorstellungen?
Wenn Sie noch etwas gewartet hätten, wäre ich darauf eingegangen. Ich kann es aber auch in diesem Zusammenhang erklären. Wir müssen zwei Sachen unterscheiden. Zum einen geht es um die Förderung kleiner und mittelständischer Betriebe. Aber wir wissen genausogut, daß sie, wenn sie regional tätig sind, nur einen begrenzten Absatz haben, weil die Kaufkraft nicht für starke Expansionen ausreicht. Deshalb ist es unabdingbar, daß wir auch den industriellen Bereich stärker in die Förderung einbeziehen. Im Endeffekt kommen nämlich aus dem Bereich der Industrie die dringend erforderlichen Auftraggeber für den Mittelstand.
Ohne sie werden wir sicher keine gesunde Wirtschaft aufbauen. Diese Zusammenhänge gibt es nun einmal.
Die Stärkung der Betriebe, die über die regionale Bedeutung hinausgehen, muß, wie ich bereits erwähnte, ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Fördermaßnahmen sein. Dafür sehe ich gerade in dieser Richtung folgende Schwerpunkte: erstens die weitere, verstärkte Werbung von Investoren - dies wird nicht ohne Geld gehen -, zweitens die Förderung der Industrieforschung zur Entwicklung neuer marktfähiger Produkte und drittens eine gezielte Absatzförderung, insbesondere auf den ausländischen Märkten.
Die in diesem Bereich noch unzureichende Wettbewerbsfähigkeit zeigt sich in einer eklatanten Exportschwäche. So beträgt der Anteil ostdeutscher Firmen nur rund 3 Prozent des gesamtdeutschen Exports. Diese Zahl unterstreicht deutlich die Notwendigkeit dieser Fördermaßnahmen.
Wenn wir über weitere Wirtschaftsförderung und ihre Effektivität sprechen, dürfen wir aber auch die Problematik der Lohnstückkosten und der Arbeitsproduktivität nicht ausklammern. Die Ursachen für diesen Zustand sind vielschichtig. Sie sind unter anderem in der grundsätzlich richtigen und politisch gewollten Zielsetzung einer möglichst raschen Angleichung des Lebensstandards West und Ost begründet. Aber es muß uns auch klar sein, daß diese
Zielsetzung nur über eine leistungsfähige Wirtschaft realisierbar ist.
Das wiederum setzt eine Übereinstimmung zwischen Arbeitsproduktivität und Lohnniveau voraus. Daher sind neben den in unserem Programm für Wachstum und Beschäftigung ausgewiesenen Maßnahmen zur Senkung der Lohnnebenkosten auch die Tarifpartner gefordert. Dabei sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht zumindest die zeitweise Einführung einer Öffnungsklausel in das Tarifsystem hilfreich wäre, würde sie den Betrieben doch die Möglichkeit einer besseren Anpassung an die Realitäten ermöglichen. Denn nur über Rationalisierungsmaßnahmen, die in der Regel auch zu einer Reduzierung von Arbeitsplätzen führen, ist das Problem nicht zu lösen. Ich bin davon überzeugt, daß dadurch bereits mittelfristig ein positiver Effekt auf die Arbeitsplatzsituation eintreten würde.
Herr Kollege Pohler, Frau Kollegin Luft würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Dr. Pohler, Sie haben soeben davon gesprochen, daß Tariföffnungsklauseln den Prozeß in Ostdeutschland begünstigen könnten. Ich frage Sie: Wie weit wollen wir uns von Tarifen denn noch entfernen? Schon 60 Prozent der Unternehmungen in Ostdeutschland gehören nicht dem Unternehmerverband an, fühlen sich an keine Tarife gebunden, zahlen unter Tarif und sind auch, was die Lohnnebenkosten betrifft, weit unter dem, was in Unternehmen der alten Länder üblich ist. Wohin soll das also noch gehen? Es ist doch der Beweis erbracht, daß niedrigere Löhne auch nicht dazu beitragen, mehr Investoren anzulocken.
Frau Kollegin Luft, wenn ich von Tariföffnungsklauseln spreche, dann meine ich folgendes: Wir denken immer nur an ein Minus. Es gibt aber auch bei uns Zweige, die eine sehr hohe Arbeitsproduktivität haben. Geben Sie denen doch auch die Möglichkeit, mehr zu zahlen!
- Wir sollten auch einmal beide Seiten sehen. - Aber ich glaube, es führt, ohne das jetzt weiter auszuführen, kein Weg daran vorbei: Wenn wir eine gesunde Wirtschaft haben wollen, müssen wir stärker als bisher die Produktivität im Blick haben. Sonst werden wir auf Dauer von dem Tropf nicht wegkommen, und wir werden keine gesunde Wirtschaft haben.
Als ein wichtiges Ziel dabei sehe ich nicht unbedingt die Reduzierung der Löhne an, sondern eher eine Senkung der Lohnnebenkosten und eine moderate Anpassung.
Dr. Hermann Pohler
Meine Damen und Herren, daß das zu günstigen Ergebnissen führt, zeigen uns doch auch kleinere Betriebe, die in ihrer Entscheidung frei sind. Ich kenne viele, die sich in der Zwischenzeit sehr positiv entwickelt haben und bei den Löhnen, nachdem sie Fuß gefaßt haben und gesund sind, nicht hinterherlaufen, sondern durchaus eine führende Stellung einnehmen. Das sind nicht nur Banken und Großbetriebe, sondern es sind auch kleine Betriebe, die im Bereich des Handwerks angesiedelt sind.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Abschließend möchte ich nur noch einmal darauf hinweisen: Auch wenn die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Unternehmen bis auf wenige Ausnahmen geringer ist als die der westdeutschen und die Branchen - und die Größenstruktur zwischen den alten und den neuen Bundesländern deutlich voneinander abweichen, so zeigt die große Anzahl der Unternehmen in Ostdeutschland, daß sich in beachtlichem Ausmaß -
Ihre Redezeit!
- unternehmerische Initiative entwickelt hat. Ich glaube, darauf kann man aufbauen.
Ich weise im Regelfall auf das Ende der Redezeit erst hin, wenn sie schon eine Weile überschritten ist. Dann aber bitte nur noch einen Satz und nicht noch einen ganzen Absatz! - Herr Kollege Ernst Schwanhold, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ohne daß ich irgend jemanden ganz besonders ansprechen will, möchte ich doch gerne einmal darauf hinweisen, daß wir nach zwei Jahren die erste Debatte über Ostdeutschland führen, daß hier fast nur Kollegen aus Ostdeutschland sind und daß dieses Thema für die Regierung nicht mehr wert ist, als einen Minister und einen Staatssekretär in dieses Plenum hineinzuschikken, um der Debatte beizuwohnen.
- Ich schaue nicht in irgendeine Richtung, aber es ist auch eine Frage des Forschungsministeriums, es ist eine Frage des Sozialministeriums - alle sind nicht vertreten. Herr Staatssekretär Kolb, daß Sie den Minister vertreten, ist begrüßenswert. Ich finde es gut, daß Sie da sind. Aber der Stellenwert dieser Frage wird in diesem Parlament und, wie ich glaube, auch
in dieser Regierung nicht angemessen wahrgenommen.
Denn wenn wir den Aufbau Ost nicht schaffen, werden wir auch keine Standortverbesserung in Westdeutschland hinbekommen und das Grundübel der Arbeitslosigkeit nicht mit Erfolg bekämpfen.
Es kann also die schlechte wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands - wer wollte sie denn schönreden? - zum Mühlstein der gesamten Volkswirtschaft werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht haben Sie das Sondergutachten der Sachverständigen oder das der wirtschaftswissenschaftlichen Institute, die eindringlich genau auf dieses Thema hinweisen, nicht richtig gelesen.
Ich will ein paar weitere Zahlen nennen: Die Creditreform schätzt für dieses Jahr 7 600 Konkurse in Ostdeutschland. Damit wird die Zahl der Unternehmen erreicht, die neu gegründet werden.
Wir haben 1995 8 000 Neugründungen gehabt, ausgehend von einem deutlich niedrigeren Niveau als in Westdeutschland, übrigens sehr viele davon gefördert, zwischenzeitlich wieder pleite - eine Fehlallokation, Vernichtung von Volksvermögen. Wir haben schon ein bißchen mehr darüber nachzudenken, was wir tun können.
Herr Pohler hat sich hier hingestellt und gesagt, die Schwäche sei eigentlich der Export. Was muß man sich eigentlich von Ihnen an Selbstverleugnung noch anhören? Seit Jahren reden wir darüber, die Messeförderung für Ostdeutschland aufzustocken, den ostdeutschen Unternehmen Zugang zu den Westmärkten zu verschaffen, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre alten Verbindungen zu den osteuropäischen Ländern aufrechtzuerhalten. Alles ist von Ihnen abgelehnt worden, und jetzt stellen Sie sich als Ostdeutscher in einer Schamlosigkeit hierher und sagen, das sei alles Mist, als wenn Sie nichts damit zu tun hätten.
Wie lange wollen Sie eigentlich Ihre Mitbürger in Leipzig noch belügen? Das kann doch nicht wahr sein!
Ich glaube, wir haben ein paar Punkte, an denen wir ansetzen können. Ich nehme den Punkt von Herrn Uldall, der leider nicht mehr dasein kann, was ich nicht kritisiere. Er hat sich bei mir als einem nachfolgenden Redner dafür ausdrücklich entschuldigt. Herr Uldall sagte: Wir müssen Hoffnung machen. Richtig! Im nächsten Satz sagte er aber dann: Wir haben nur 50 Prozent Produktivität in Ostdeutschland. Dabei tut er so, als läge es an den Menschen in Ostdeutschland, die zu faul wären. Nein, es sind die
Ernst Schwanhold
fehlenden Investitionen, die dazu führen, daß man keine ausreichende Produktivität erwirtschaften kann.
Was ist mit der Produktivitätsrate von 50 Prozent denn eigentlich los? Herr Krüger hat das aufgegriffen, jeder greift das auf. Ich kann mit der Produktivitätszahl nichts anfangen, jedenfalls mit einer volkswirtschaftlichen Produktivitätszahl nichts, weil ich damit nicht an die Ursachen herankomme. Es gibt Betriebe, die hochproduktiv sind, produktiver als Betriebe in Westdeutschland. Es gibt andere, die nie die Chance hatten, in eine Produktivität hineinzukommen, weil sie keinen Markt hatten, keine Investitionen bekommen haben, weil sie keinen westdeutschen Investor gefunden haben, weil sie schlechtes Management gehabt haben, weil sie mit alten Schuldenlasten versehen sind. Rühren Sie das doch nicht durcheinander! Wenn Sie es nicht differenzieren, können daraus auch keine Konsequenzen gezogen und keine politischen Forderungen abgeleitet Werden. Ich bitte Sie sehr herzlich, diese Totschlagsargumente sein zu lassen.
Wenn man sich dies anschaut, bleiben ein paar Punkte übrig, die wir dringend angehen müssen. Wir haben dringend, trotz aller Fortschritte in der Infrastruktur, die Verkehrsinfrastruktur zu den mittel- und osteuropäischen Nachbarn aufzubauen, nicht nur im Interesse Ostdeutschlands, aber im besonderen Maße auch im Interesse Ostdeutschlands.
Wir wissen das doch aus Westdeutschland. Wenn in Helmstedt die Züge enden mußten, weil es dort nicht weiterging, wenn man viel Geld dafür aufwenden mußte, um eine Region am Leben zu erhalten, und wenn es aus anderen Gründen keine Verkehrsmittel gibt, obwohl die Grenze offen ist, dann darf man sich nicht wundern, wenn der Markt nicht erschlossen werden kann und dort niemand investiert. Das heißt also: transeuropäische Netze.
Zweitens. Der Kollege Krüger stellt sich hier hin und beklagt die schlechte Forschungslandschaft. Herr Krüger, mir fallen dazu fast nicht mehr die Worte ein. In Ihrer Zeit als Forschungsminister ist der Kahlschlag geprobt und durchgeführt worden. Jetzt stellt er sich hier hin und sagt: Wir haben keine Forschungslandschaft.
In Ostdeutschland sind schon heute die Betriebe, die dort angesiedelt sind, mit Produkten am Markt, von denen wir wissen, daß sie in drei, vier oder fünf Jahren nicht mehr exportfähig sind. Es gibt die Mitnahmeeffekte. Wie will ich denn dort die neuen und modernen Produkte hinbringen, wenn ich nicht die korrespondierende Forschungslandschaft habe? Es war ein Fehler, sie zu zerstören. Deshalb ist es um so notwendiger, sie jetzt wieder aufzubauen, damit solche Technologien und solche Produkte dorthin gelangen.
Herr Kollege Schwanhold, der Kollege Krüger würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich würde meine Rede gerne zu Ende vortragen. Sie wissen, Herr Präsident, daß auch ich gerne Zwischenfragen stelle, aber jetzt möchte ich gerne ohne Unterbrechung weiterreden. Herr Krüger, Sie können nachher in einer Kurzintervention dazu Stellung nehmen.
Ich will Ihnen einen weiteren Punkt benennen. Wir haben nach wie vor in Ostdeutschland erhebliche Probleme, was die Beratung insgesamt angeht. Es gibt die Deutsche Ausgleichsbank, die sich geradezu vorbildlich Spielräume erarbeitet, um Unternehmens-, Management- und Finanzierungsberatung vorzunehmen. Dennoch reicht es nicht, sonst würden nicht so viele Unternehmen pleite gehen.
Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken, ob wir nicht Fehlallokationen dadurch vermeiden können, daß wir ein Institut einrichten, welches sich ganz besonders auf den Aufbau Ostdeutschlands und die begleitende Beratung in der ersten Phase konzentriert. Ich halte davon außerordentlich viel, weil wir Technologietransfer, Marktzugang, Finanzierungs- und Managementberatung und auch die Beschaffung der notwendigen Kredite darüber abwickeln können. Wir werden es jedenfalls nicht schaffen, wenn wir die Entscheidung, welches Unternehmen gefördert wird, dem bisherigen Universalbanksystem überlassen, das am Ende über dingliche Absicherung in jedem Falle verdient, völlig egal, ob ein Unternehmen pleite geht oder weitergeführt wird. Auch muß es das Ziel der öffentlichen Finanzwirtschaft und der staatlichen Kredite sein, möglichst viel in Arbeitsplätze und Wertschöpfung umzusetzen.
Letzte Bemerkung, die in diese Bereiche hineingeht: Der industrielle Bestand in Ostdeutschland ist katastrophal. Fehllenkungen kann man wohl nur überwinden, wenn man schonungslose Analysen betreibt. Das geht nicht mit weiterem Schönreden. Wenn wir ein Stückchen von dem Geld zurück hätten, welches fehlgelenkt worden ist, wäre es vielleicht möglich - so wie wir es vorgeschlagen haben -, durch erhebliche Aufstockung von Investitionen im industriellen und produzierenden Bereich jetzt für einen Schub zu sorgen. Wenn es uns nicht gelingt, dort jetzt für diesen Schub zu sorgen, wenn Sie auf die allgemeine Standortdebatte hinweisen, dann wird dies auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden; denn Ihr erstes Wachstumsprogramm 1994 - mein Kollege Schwanitz hat darauf hingewiesen - hat keine Erfolge gezeitigt. Alle Wirtschaftswissenschaftler sagen Ihnen zur Zeit, daß das, was Sie jetzt vorsehen, keine hinreichende Gewähr dafür ist, daß wir zusätzliche Beschäftigung bekommen.
Lassen Sie uns in Ostdeutschland einen ganz besonderen Schub vornehmen, damit der Wettlauf um die Investitionsstandorte nicht an Ostdeutschland vorbeigeht. Dort sind die größten Probleme. Wir dürfen die Menschen nicht entmutigen.
Ernst Schwanhold
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe dies alles eher in einem friedlichen Ton gesagt, damit wir die notwendigen Maßnahmen gemeinsam ergreifen, und nicht, weil ich mich scheue, mich mit Ihnen und Ihren Vorschlägen auseinanderzusetzen. Dazu könnte ich Ihnen viele zusätzliche Beispiele sagen: Risikokapital, Technologieförderung, Marktzugang, Handelsentwicklungsgesellschaften für Osteuropa und andere Dinge. Meine Sorge ist aber größer, daß wir es nicht schaffen. Dann würde ein bißchen mehr darunter leiden als das, was wir hier an Streit haben.
Lassen Sie uns wirklich Ostdeutschland zum zentralen Problem unserer Auseinandersetzung mit ein paar richtigen Schritten machen, die in unterschiedlichen Parteien diskutiert werden. Ich fordere Sie auf, den Mut zu haben - vielleicht nicht ganz soviel Mut wie die Sozialdemokraten -, nicht immer nur anzukündigen und Luftblasen von sich zu geben, Herr Krüger, und in ostdeutschen Zeitungen zu sagen, gegen was alles man ist, sondern auch einmal aufzustehen und dagegen zu stimmen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Paul Krüger das Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Schwanhold, Sie haben hier - genau wie einige Ihrer Kollegen schon heute morgen - ein Horrorszenario von der ostdeutschen Wirtschaftssituation gemalt.
Wir erkennen - das habe ich in meiner Rede sehr deutlich gesagt -, wie problematisch diese Situation ist. Ich habe auch versucht anzudeuten, wo die Probleme ihre Ursachen haben. Ich habe aber auch eine ganze Reihe von Schwerpunkten angedeutet, an denen wir arbeiten müssen und an denen wir schon seit langer Zeit arbeiten.
Wenn Sie hier den Eindruck erwecken, es wäre über Jahre nichts unternommen worden - ganz unabhängig von der Höhe der Förderung, die allein für sich spricht -, dann ist das einfach nicht richtig.
Viele der von Ihnen angesprochenen Defizite in der Förderung, zum Beispiel in der Exportförderung, sind in der Realität so nicht vorhanden. Wir haben eine ganze Menge im Bereich der Hermes-Bürgschaften, bei der Exportförderung und bei der Messeförderung gemacht. Auch auf dem Gebiet der Beratung, bei dem Sie Defizite angesprochen haben, gibt es ein ganzes Spektrum von Maßnahmen, die in der Vergangenheit eingeleitet wurden.
Wenn Sie hier auch noch die öffentliche Forschungsförderung an den Pranger stellen und das auf die Zeit meiner Regierungsmitgliedschaft beziehen, dann muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen, daß Sie einfach nicht gut informiert sind, oder Sie wollen nicht wahrnehmen, was in der Realität passiert ist.
Ich hatte heute schon einmal Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß allein im Bereich der Forschungsförderung für die neuen Bundesländer eine enorme Steigerung - auch während meiner Amtszeit - erfolgt ist und daß die Förderung bezogen auf das gesamte Forschungsvolumen - wenn ich von Forschung spreche, meine ich immer Forschung und Entwicklung, die zu Innovationen führen - für die neuen Bundesländer sogar weit über 50 Prozent beträgt, wenn man Bund und Länder zusammennimmt. Hier zu sagen - wenn man weiß, daß in den alten Bundesländern gerade einmal 4 Prozent der Forschung öffentlich gefördert werden -, man täte zuwenig bzw. in diesem Bereich sei überhaupt nichts getan worden, halte ich, gelinde gesagt, für eine schlimme Sache.
Ich bin der Meinung, wir sollten die Dinge wahr ansprechen. Wir müssen in den neuen Bundesländern im Bereich der Forschungslandschaft und der Innovationsförderung noch viele Probleme lösen; auch das habe ich gesagt. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß sich die neuen Bundesländer hier sehr zurückhalten. Wenn ich nach Brandenburg schaue, also auf ein SPD-regiertes Land, wo gerade in der letzten Zeit ein enormer Abbau der Forschungsförderung erfolgte, dann ist es für mich schwer zu verstehen, daß Sie sich hier hinstellen und - während wir in letzter Zeit trotz großer Probleme im Haushalt unsere Linie aufrechterhalten haben - so tun, als würden wir nicht genug tun. Ich finde es nicht gut, wenn man die Menschen in den neuen Bundesländern mit Verzweiflung infiziert, statt sie gegen Verzweiflung zu immunisieren und ihnen Mut zu machen.
Herr Kollege, die Redezeit ist abgelaufen.
Ja.
Herr Kollege Schwanhold zur Replik.
Herr Präsident! Ich will kurz auf drei Aspekte von Herrn Krüger eingehen. Erstens, Herr Krüger: Hermes-Bürgschaften sind etwas anderes - wenigstens für mittelständische Unternehmen - als eine Exportförderung, die in Ostdeutschland notwendig ist, weil Hermes-Bürgschaften insbesondere auf Grund der hohen Risiken, unter denen die ehemaligen Staatshandelsländer eingestuft sind, viel zu teuer sind und diese Unternehmen nicht in der Lage sind, ihren Anteil an Finanzierung selbst zu erbringen. Das sagen Ihnen alle Unternehmen. Das liegt auch an der schlechten Einstufung mancher dieser Länder, die zwischenzeitlich besser eingestuft werden könnten. Darüber, welche Wirkungen Hermes-Bürgschaften in der ehemaligen Sowjetunion haben, sind wir uns einig: Dies wird alles vom Staat, der nicht in der Lage ist, diese zu verwal-
Ernst Schwanhold
ten, genehmigt; es muß vom ihm genehmigt werden. Wir müssen ermöglichen, daß zwischen dort florierenden Unternehmen und Unternehmen aus Ostdeutschland direkt Wirtschaftsbeziehungen aufgebaut werden. Das geht anders als mit Hermes-Bürgschaften. Das ist die erste Bemerkung.
Die zweite Bemerkung. Ich habe nicht negiert, was an Forschungsförderung geschehen ist. Aber sich hier hinzustellen und dieses alte Spiel weiter zu treiben, es wären die Länder, die die Förderung nicht betrieben hätten: Mir ist das Thema zu ernst, als dieses wirklich dümmliche Spiel weiterzuführen.
Ich habe gesagt: Wir haben abgebaut, um dann mühsam wieder aufzubauen. Es wäre notwendig gewesen, schnell umzustrukturieren und bestehende Forschungseinrichtungen zu fördern, um nicht einen Teil der Mittel westdeutschen Forschungseinrichtungen geben zu müssen, damit sie Gutachten über Ostdeutschland schreiben. Es wäre besser gewesen, wenn wir die Mittel direkt nach Ostdeutschland gegeben hätten.
Das ist der Punkt, den ich bei Ihnen kritisiere, nichts anderes.
Drittens. Wenn man beklagt, daß die Förderung in Westdeutschland viel geringer ist, oder wenn man feststellt, daß die Förderungsmittel für Ostdeutschland sehr hoch sind, dann muß man sich zugleich fragen: Ist dies denn eigentlich ein Wunder angesichts der Beziehungen der Industrie in Westdeutschland, die seit vielen Jahren ihre Kontakte zu den Forschungsinstituten hat, von denen Drittmittel eingeworben werden? Welchen Stand sollten eigentlich die ostdeutschen Unternehmen haben, und wie sollten sie mit denen im Westen konkurrieren können?
Der nackte Zahlenvergleich sagt also zuwenig aus. Das sollte jemand insbesondere dann wissen, wenn er Bundesforschungsminister gewesen ist.
Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe.
Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zunächst am Schluß der Debatte festhalten, es ist und war gut, daß der Bundestag zu einer zentralen Zeit dieses schwierige Thema „Aufbau Ost" diskutiert. Es ist außerparlamentarisch im Augenblick in der Diskussion, und es ist auch gut, daß wir uns als Parlamentarier damit befassen. Dem Haus liegen heute interessante Anträge vor. Ich hoffe, daß wir gemeinsam etwas aus diesen Anträgen zum Wohle des Aufbaus Ost machen.
Da bringt es wenig, Herr Schwanitz, jetzt mit irgendeinem JU-Vorsitzenden, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, anzukommen. Da werten wir den Mann doch nur auf. Ich könnte Ihnen
auch aus Ihrer Partei viel höherkarätige Genossen nennen, Lafontaine und Schröder, und Sie dann mit deren Äußerungen zum Aufbau Ost traktieren. Das wollen wir nicht machen. Wenden wir uns doch dem Aufbau Ost gemeinsam zu!
Dazu gehört fairerweise, Herr Schwanitz, auch einmal das zu benennen, was in den letzten sechs Jahren passiert ist. Irgendwo kam die Bemerkung, es sei nichts passiert. Das ist natürlich auch Quatsch. Ich nenne nur den Verkehrswegeausbau, sechs Millionen Telefone, Herr Bötsch, ich sage Bundeswehr der Einheit, Frau Geiger, sowie Rechtseinheit, Herr Funke. Es gibt keine Versorgungsprobleme mehr. Was sagt es eigentlich aus, daß englische und holländische Arbeitnehmer auch nach Sachsen oder Thüringen drängen, um dort zu arbeiten? Das sind Arbeitnehmer aus alten Industrienationen. Das zeigt doch, daß wir durchaus nicht das Schlußlicht darstellen.
Also bitte weder Miesmacherei noch Zweckoptimismus! Wir machen auch nicht auf Zweckoptimismus. Wir haben in unserem Antrag die Lage ganz exakt definiert. Die Lage ist ernst. Wir haben im Osten Deutschlands 20 Prozent der Bevölkerung, sind aber nur mit 10 Prozent am Bruttosozialprodukt beteiligt, mit nur 5 Prozent an der Industrieproduktion und mit nur 2,5 Prozent an den gesamtdeutschen Ausfuhren und an den gesamtdeutschen Forschungs- und Innovationsaufwendungen.
Wir sind uns, glaube ich, alle in diesem Haus einig: Das kann nicht so bleiben.
Dies greift auch die Bundesregierung auf, Herr Kolb. Wir sind Ihnen auch sehr dankbar für die guten, objektiven und nüchternen Berichte, die gerade aus Ihrem Hause kommen.
Ich zitiere das Memorandum der Bundesregierung an die Europäische Kommission:
Heute ist die ostdeutsche Industrie auf Grund ihrer labilen Situation der entscheidende Engpaß der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland, der insbesondere auch ein kräftiges Wachstum des Dienstleistungssektors verhindert.
Das ist so, und hier sind wir alle gefordert, liebe Kollegen.
Uns machen auch die Wachstumsraten Sorge, Herr Schwanitz. Deshalb ist es gut, daß die Debatte zum jetzigen Zeitpunkt stattfindet. Wir hatten in der Tat sehr hohe Wachstumsraten. Der Osten Deutschlands war während einiger Jahre die am dynamischsten wachsende Region Europas.
Manfred Kolbe
Das ist er im Augenblick nicht mehr.
Wir sind im Augenblick an einer Sollbruchstelle angelangt. Wir haben im ersten Quartal 1996 null Prozent Wachstum im Osten Deutschlands, während wir im Westen immerhin ein Wachstum von 0,3 Prozent hatten. Zum erstenmal also seit vielen Jahren haben wir im Osten in diesem ersten Vierteljahr ein schwächeres Wachstum als im Westen gehabt. Das ist eine Tatsache, die wir zur Kenntnis nehmen müssen und auf die wir auch reagieren müssen.
Es fragt sich, ob das ein bloßer Ausrutscher oder eine Trendwende ist. Wir dürfen es nicht zur Trendwende kommen lassen. Wir müssen aber in dieser Richtung einiges tun; denn gerade die Konjunkturlokomotive Bauwirtschaft wird im nächsten Jahr diese Funktion nicht mehr wahrnehmen können. Sie hatte ja einmal überproportional zum ostdeutschen Wachstum beigetragen.
Was müssen wir also tun? Wir müssen dreierlei tun. Zunächst einmal ist noch keine Normalität eingekehrt. Die Förderung des Aufbaus Ost muß weitergehen. Wir ostdeutschen CDU-Bundestagsabgeordneten haben das auch in Strausberg formuliert. Wir sind der Meinung, es darf bei den investiven Titeln im Bundeshaushalt 1997 keine wesentlichen Kürzungen geben.
Das betrifft die Gemeinschaftsaufgabe Ost, die Eigenkapitalförderung, die Absatzförderung, die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die Städtebauförderung und die Infrastruktur der Bundeswehr. Für den besonders problematischen Bereich der Forschung Ost brauchen wir eine Innovationsoffensive Ost.
Das sage ich insbesondere in Richtung des leider leeren Stuhls des Bundesfinanzministers: Wer jetzt überproportional in diese Aufbautitel Ost einschneidet, riskiert den Aufschwung Ost. Deshalb müssen wir das alle gemeinsam verhindern.
Weil vorhin von ABM die Rede war, möchte ich dazu sagen: Wenn wir demnächst einen Wirtschaftsboom bekommen, dann können wir den zweiten Arbeitsmarkt zurückführen. Wenn wir ihn nicht bekommen, wenn die Arbeitslosigkeit stagniert oder gar ansteigt, können wir den zweiten Arbeitsmarkt nicht in dem Umfang zurückführen, wie er im Gesetzentwurf der Koalition zahlenmäßig beziffert worden ist.
Zweitens. Zur Tarif- und Lohnpolitik haben Sie kluge Einsichten in Ihrem Papier. Erstmals ist auch bei Ihnen von einer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik die Rede. Das ist gut so. Wir freuen uns über hohe Löhne im Osten, aber diese hohen Löhne dürfen nicht zu Lasten der Beschäftigung gehen. Wir müssen hier im Interesse aller, der Arbeitnehmer wie der Arbeitslosen, zu einer vernünftigen Lohnpolitik kommen, damit der Aufbau Ost voranschreitet.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin auch sofort fertig.
Drittens. Dieser Lohnverzicht sollte durch Maßnahmen der Vermögenspolitik, also durch eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen, belohnt werden.
Wenn wir diese drei Schritte ergreifen - wir haben dazu jetzt die Chance -, dann wird der Aufbau Ost im Interesse Gesamtdeutschlands weitergehen. Denn der Osten darf im gesamtdeutschen Interesse kein Subventionsgebiet auf Dauer werden.
Das Wort hat der Kollege Gerhard Schulz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kommentar zum vorliegenden Antrag: blinder Aktionismus und verzweifelter Populismus. Diese Debatte ist der pure politische Existenzkampf der Sozialdemokratie in Ostdeutschland.
Sie ist nicht Ihre Entdeckung des Aufbaus Ost als Sachthema.
Dafür nenne ich Beispiele aus Ihrem Programm, zunächst Ihre Forderung zur steuerlichen Investitionsförderung. Eine Investitionszulage in Höhe von 20 Prozent für Mittelstand und Handwerk hatten wir bereits 1993 eingeführt. Weil sie jedoch nur Ostdeutschen zustand, wurde sie von der EU nachträglich als diskriminierend für andere Mitgliedstaaten eingestuft. Sie durfte nur dann weiter gewährt werden, wenn sie für alle EU-Bürger galt. Das war zu teuer, und sie wurde deswegen zum 1. Juli 1994 auf 10 Prozent reduziert. Das, was 1994 zu teuer war, ist leider Gottes jetzt immer noch zu teuer. Sie fordern jetzt eine Erhöhung auf 20 Prozent, wohl wissend, daß a) sie nicht finanzierbar ist und b) es außerordentlich fraglich ist, ob sie von Brüssel genehmigt werden wird. Das ist unredlich.
Gerhard Schulz
Das gleiche gilt für die steuerneutrale Wiederanlage betrieblicher Veräußerungsgewinne. Dies ist bereits mit dem Jahressteuergesetz 1996 beschlossen worden. Bisher wurde auch diese Maßnahme von der EU-Kommission leider nicht genehmigt. Auch hier machen Sie also falsche Versprechungen. Sie fordern etwas, was längst im Gesetz ist, dessen Wirksamwerden aber von Verhandlungen der Regierung in Brüssel abhängt. Diese Verhandlungen werden geführt.
Noch zu Beginn dieses Jahres zettelte der SPDBürgermeister Voscherau aus Hamburg eine völlig unnötige Neiddebatte an und forderte die Abschaffung von Sonderabschreibungen im Osten. Heute fordern Sie in Ihrem Antrag eine Ausweitung der Sonderabschreibungen.
Ich enthalte mich hier jedes weiteren Kommentars.
Leider - das will ich nicht verschweigen - hat der bayerische Finanzminister, Herr Huber, diese Debatte im Bundesrat aufgenommen und fordert nun die umgehende Kürzung der bis 1998 rechtsgültigen Sonderabschreibungen. Das ist wenig hilfreich, vor allem ist es falsch. Denn Abschreibungsmodelle für Schiffe können nicht mit Sonderabschreibungen für Investitionen und Wohnungsbau in Ostdeutschland in einen Topf geworfen werden. Ich bin überzeugt: Hätte der Freistaat Bayern 16 Prozent Arbeitslosigkeit, wie das aktuell in Ostdeutschland der Fall ist, würde Herr Huber alle ordnungspolitischen Grundsätze, die er jetzt einfordert, über Bord werfen.
Dieses Über-Bord-Werfen geschieht jetzt schon regelmäßig im Saarland, in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Gerade die Ministerpräsidenten Lafontaine und Rau werden in Zukunft Farbe bekennen müssen. Denn wir haben, wie Sie wissen, keine finanziellen Zuwächse mehr: Die Konjunktur ist, wie sie ist; höhere Neuverschuldung und höhere Steuern wollen wir nicht - warum, wissen Sie.
Wenn wir in Zukunft vor der Entscheidung stehen, entweder mit teuren Subventionen den Steinkohlebergbau am Leben zu erhalten oder für neue Wirtschaftsstrukturen im Osten zu sorgen, werden wir sehen, meine Damen und Herren von der SPD, ob die Bekenntnisse, die Sie hier ablegen, nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben. Wir werden Sie daran erinnern.
Wir brauchen die steuerliche Ostförderung; denn sie ist - das ist schon mehrfach gesagt worden - der Garant für den wirtschaftlichen Aufschwung. Seit 1990 hat der Bund allein für Investitionszulagen und Sonderabschreibungen 16 Milliarden DM in die neuen Länder fließen lassen. Aus diesen 16 Milliarden DM wurde bis 1995 ein Investitionsvolumen in Höhe von 315 Milliarden DM. Das ist das Zwanzigfache der gewährten Förderung. Damit hat die steuerliche Ostförderung den mit Abstand höchsten Wirkungsgrad.
Mit der in der Höhe leicht abgesenkten Festschreibung dieser Instrumente im Jahressteuergesetz 1996 setzen wir bis 1998 einen erheblichen Anreiz für weitere Investitionen - einen Anreiz, den man sonst nirgendwo in der Europäischen Union findet. Und jetzt kommen Sie angeturnt und fordern das, was wir längst machen, wenn auch - das gebe ich zu - ein bißchen modifiziert; aber im Prinzip ist es das gleiche.
Ich sage Ihnen auch: Ich halte nichts von Ihrer Forderung, die steuerliche Ostförderung schon jetzt für die Zeit nach 1998 zu konkretisieren und zu beschließen. Das wäre falsch. Denn durch die Befristung erreichen wir, daß jetzt investiert wird und nicht erst später, wenn alles gut läuft und nur reine Mitnahmeeffekte die Folge sind. Jetzt muß investiert werden, jetzt müssen neue Werkhallen gebaut werden, jetzt müssen neue Maschinen gekauft werden. Eine Festschreibung heute bis in das Jahr 2000 hinein würde den Investoren signalisieren: Ihr könnt euch Zeit lassen, ihr könnt auch im Jahr 2000 investieren, das reicht dann immer noch. - Das wollen wir nicht. Wir brauchen die Arbeitsplätze jetzt und nicht erst im Jahr 2000.
Sie zementieren den Ist-Zustand und reduzieren die Investitionstätigkeit, wenn Sie bei der Förderung jetzt den Zeitdruck wegnehmen. Was wir nach 1998 an Förderung benötigen - ich gehe davon aus, das wird erheblich sein -, das besprechen wir dann 1998, zeitnah und aktuell.
Sie haben immer noch nicht begriffen, daß wir vorhaben, ab 1999 eine neue Einkommensbesteuerung gelten zu lassen. Auch unter diesem Aspekt muß die Art und Weise der Ostförderung betrachtet werden. Wir müssen die Fördermasse, die zur Verfügung steht, so einsetzen, daß sie ihre höchste Wirkungskraft entfalten kann und nicht für falsche Bereiche eingesetzt wird. Was falsch und was richtig ist, sehen wir 1998 deutlicher als jetzt.
Wir müssen uns darüber im klaren sein: Eine Förderdebatte macht keinen Sinn, solange die Betriebe in den neuen Bundesländern keine Gewinne erzielen. Das ist der Kern des Problems. Solange die Lohn- und Gehaltsentwicklung in Ostdeutschland schneller vorangeht als die Produktivitätsentwicklung, können wir uns „totfördern", weil jede Förderung sofort wieder aufgefressen wird.
Sie selber sprechen in Ihrem Antrag die Tarifentwicklung an. Dafür möchte ich Sie ausdrücklich loben. Ich bitte Sie: Nutzen Sie Ihre letzten noch verbliebenen Kontakte zu den Gewerkschaften, und nehmen Sie konstruktiv Einfluß auf diesen Tarifpartner, um realistische Lohnabschlüsse zu erreichen,
Lohnabschlüsse, die den ostdeutschen Betrieben Luft geben, um den immer größer werdenden Wettbewerbsnachteil aufzuholen, Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen. Sonst wird unsere Arbeit, die wir hier verrichtet haben, umsonst gewesen sein.
Gerhard Schulz
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, bevor ich die Aussprache schließe, möchte ich doch noch gern eine Bemerkung machen. Diese runde Sitzordnung verleitet natürlich zu mancherlei Bruch unserer Geschäftsordnung. Deshalb sei mir der Hinweis, daß zu meiner Linken der Bundesrat, zu meiner Rechten die Bundesregierung und mir gegenüber der Bundestag sitzt, zwischendurch wieder einmal erlaubt. Wenn zwischen Bundesratsmitgliedern und Mitgliedern des Hauses Gespräche geführt werden sollen, dann doch bitte außerhalb des Raumes und nicht auf der Bundesratsbank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4702, 13/4572, 13/4946 und 13/4979 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. - Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 c bis 21 m auf:
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 17. Juli 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits
- Drucksache 13/4790 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. November 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 13/4791—Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Januar 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Peru über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/4792 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Januar 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Namibia über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/4793 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Litauen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/4794 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Kuwait über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/4795 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. März 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea über den Luftverkehr
- Drucksache 13/4797 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr Finanzausschuß
j) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen US-Wohnsiedlung Hügelstraße in Frankfurt am Main
- Drucksache 13/4711—Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
k) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen US-Edwards-Wohnsiedlung in Frankfurt am Main
- Drucksache 13/4751 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Vizepräsident Hans Klein
1) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen US-Wohnsiedlung Platenstraße in Frankfurt am Main
- Drucksache 13/4752 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt , Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), Kristin Heyne und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaftlichkeit der ICE-Strecke Nürnberg-Ingolstadt-München
- Drucksache 13/4962 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß
Eine Debatte ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Besteht darüber Einverständnis? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 a bis 22f. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 22a:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. März 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Seeschiffahrt
- Drucksache 13/4046 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/4896 -
Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/4896, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. April 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Seeschiffahrtsbeziehungen
- Drucksache 13/4047 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/4897 -
Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/4897, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen gedenken, bitte ich, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Gegenprobe! - Herr Kollege Krüger, sind Sie dafür oder dagegen?
- Wenn ich es richtig beurteile, ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über den Bau einer Grenzbrücke an der gemeinsamen Staatsgrenze im Zuge der Europastraße E 49
- Drucksache 13/4338 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/4936 -
Berichterstattung: Abgeordneter Rudolf Meinl
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/4936, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei einigen Stimmenthaltungen ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses
Übersicht 5
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 13/4732 -
Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Frau Kollegin Jelpke, Sie enthalten sich?
Vizepräsident Hans Klein
- Die Abstimmungsvorgänge werden ein bißchen erschwert, wenn sie zur Gaudi benutzt werden.
Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 22 e:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 124 zu Petitionen - Drucksache 13/4881 -
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Die Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 f:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 126 zu Petitionen - Drucksache 13/4883 -
Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundespolitische Konsequenzen zur Rettung des Wattenmeeres
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Vera Lengsfeld das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Folgte man den Möchtegern-Trendsettern des neuen ökooptimistischen Zeitgeistes, könnte man sich ganz entspannt zurücklehnen: Die totgesagten Wälder wachsen munter weiter. Das Ozonloch wird sich früher oder später wieder schließen. Sogar Unilever ist zu nachhaltigem Fischfang übergegangen, nachdem der Konzern festgestellt hat, daß bei Beibehaltung der derzeitigen Fangmethoden die Fischgründe in fünf Jahren leergefischt sein würden. Aber kaum hat man sich alles so schön zurechtgelegt, droht der Ökooptimismus in einem schwarzen Loch zu versinken, und zwar in den schwarzen Flächen der Nordsee, die in diesem Jahr fußballfeldartige Ausmaße angenommen haben.
Zwar kennt man diese Flecken seit 1984, aber noch nie haben sie wie in diesem Jahr 10 bis 20 Prozent der gesamten Wattfläche Niedersachsens eingenommen. Neue Befliegungen zeigen, daß sich diese Flächen nach wie vor weiter ausbreiten.
Über den Flächen stinkt es nach Methan und Schwefelwasserstoff, in den Flächen ersticken die im Watt lebenden Organismen wie Würmer, Muscheln und Krebse. Die Nahrungsgrundlage für Fische,
Meerestiere und Vögel geht mit dem Absterben der größeren Bodenlebewesen im Watt verloren. Durch die Größe dieser Flächen sind nun ganze Lebensräume gefährdet. Die Folgen für das Ökosystem, das immerhin das zweitartenreichste nach dem tropischen Regenwald ist, sind unabsehbar.
Die schwarzen Flächen im Watt sind ein Signal dafür, daß die Zeit der Ökokatastrophen leider noch lange nicht vorbei ist. Das war nicht das erste Signal: Diesen schwarzen Flächen gingen das Robbensterben im Jahr 1989, das Fische- und Krebssterben und die jährlichen Meldungen von riesigen Algenteppichen voraus.
Eine jahrzehntelang anhaltende Überdüngung kann ein Ökosystem nicht unbeschadet überleben. Wattexperten und Biologen sind immer wieder erstaunt darüber, daß es in der Nordsee bisher zu keinen größeren Katastrophen gekommen ist.
Hier nützt aber kein Abwiegeln und Schönreden. Ursache für die schwarzen Flächen ist weder der Eiswinter, der die Muscheln sterben ließ, noch das Speiseöl von dem russischen Schiff; auch die Kieselalge trägt keine Schuld daran. Dies alles kann höchstens der auslösende Faktor gewesen sein; denn solange die ostfriesischen Wattführer zurückdenken können, war dies nicht der erste Eiswinter, den das Wattenmeer erlebt hat, und leider auch nicht die erste Öleinleitung. Schwarze Flächen von diesem Ausmaß hat, es jedoch noch nie gegeben.
Die Ursachen sind seit Jahrzehnten klar; darin sind sich sämtliche Wissenschaftler einig. Die Nordsee wird von allen Anrainerstaaten als Müllkippe benutzt, und zwar leider noch immer ganz legal und gesetzeskonform. Organische Abfälle, Düngemittel, Pestizide, Schwermetalle, chlororganische Verbindungen und andere Giftstoffe werden über die Flüsse in die Nordsee geschwemmt. Das Ökosystem muß jedes Jahr allein 1,5 Millionen Tonnen Stickstoff verkraften.
- Ja, ich bin ganz Ihrer Meinung.
Die intensive Agrarindustrie mit überhöhtem Mineraldüngereinsatz, Massentierhaltung und Gülleüberschüssen, die sonst über die Felder entsorgt werden, ist der Hauptverursacher für die enorme Stickstoffbelastung.
Die kürzlich beschlossene Düngeverordnung und die darin festgelegten Grundsätze der guten fachlichen Praxis beim Düngen werden kaum zur Minderung der Stickstoffbelastung beitragen, da die Vorschrift viel zu lasch ist.
Die Nordsee-Anrainerstaaten versprühen jährlich mehr als 190 000 Tonnen giftiger Pflanzenschutzmittel, von denen erhebliche Mengen über die Atmosphäre und über Flüsse in die Nordsee gelangen.
Vera Lengsfeld
Während andere europäische Staaten wie Dänemark, Schweden und die Niederlande längst positive Erfahrungen mit Pestizid-Reduktionsprogrammen gemacht haben, fehlen in Deutschland weiterhin wirksame Schritte.
Die Anrainerstaaten haben sich in den vergangenen Jahren zu zahllosen Konferenzen zum Nordseeschutz getroffen. Die vollmundigen Erklärungen, engagierten Reden, Zustandsberichte, Aktionspläne und Fortschrittsberichte füllen Aktenordner um Aktenordner. Viel Diagnose und wenig Therapie, so könnte man die Behandlung der Patientin Nordsee charakterisieren. Die Halbierung der Stickstoffeinträge zwischen 1985 und 1995, die bei den Nordseeschutzkonferenzen beschlossen wurde, ist noch lange nicht erreicht. Auch Deutschland verfehlte die angestrebte Reduzierung bei weitem.
Große Defizite gibt es nach wie vor bei der Abwasserreinigung. Auch Deutschland erfüllt derzeit die EU-Bestimmungen noch nicht, nach denen bis 1998 die kommunalen Kläranlagen mit einer Stufe zum Nährstoffabbau nachgerüstet werden müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie: Sollen wir wieder warten, bis die Tourismusindustrie uns zum Handeln zwingt? Es gibt bereits die ersten Stornierungen. Sie wissen, zehn Millionen Touristen verbringen alljährlich ihren Urlaub an der Nordsee. Wenn diese Industrie zusammenbricht, dann wird die Politik handeln müssen. Ich würde es sehr viel besser finden, wenn sich die Politik wieder auf ihre eigentliche Aufgabe, die Gestaltung, besinnt und als erstes aktiv wird und sich nicht erst wieder von der nächsten Katastrophe leiten läßt.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Peter Harry Carstensen, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Lengsfeld hat die Schuld, wem wir die Flecken zu verdanken haben, zugeordnet. Auch in der Zeitung steht es:
Die Landwirtschaft düngt nach wie vor nicht nur ihre Felder, sondern auch die See. Direkt von den Feldern wird der Dünger ausgewaschen und fließt ins Meer.
Ich habe das Gefühl, daß mancher von Ihnen überhaupt noch nicht die Entwicklung in der Landwirtschaft in den letzten Jahren gesehen hat.
Der Agrarsektor darf im Zusammenhang mit der zunehmend schlechter werdenden Situation des Ökosystems Nordsee nicht an den Pranger gestellt werden.
Es ist noch weitestgehend ungeklärt, inwieweit die
Landwirtschaft mit der aktuellen Situation der Nordsee zu tun hat. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, daß in den letzten Jahrzehnten Düngung und intensive Veredlungswirtschaft als ein Faktor von vielen zur Belastung der Nordsee beigetragen haben. Es soll jedoch jeder zur Kenntnis nehmen, der sich dafür interessiert, daß die Landwirtschaft allein im Vergleichszeitraum von 1980 bis 1994 rund 58 Prozent weniger Phosphat, 54 Prozent weniger Kali und 22 Prozent weniger Stickstoff ausgebracht hat:
Meine Damen und Herren, ich staune ein bißchen über Ihre Reaktion. Ich habe - Herr Präsident, ich hätte es vorher anmelden sollen; ich weiß es - aus einer Pressemitteilung zitiert, die der niedersächsische Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke, SPD, am 17. Juni in ,,Agra-Europe" veröffentlicht hat. Er schreibt in diesem Artikel weiter:
Keine Einigkeit über schärfere Kontrollen.
Der niedersächsische Landwirtschaftsminister sagt dann:
So seien die wahren Sünder doch bekannt. An erster Stelle die Briten. Auf der einen Seite strahle Großbritannien die irische See unverändert weiter und auf der anderen Seite werde die Nordsee nach wie vor als Kläranlage mißbraucht. Die direkten Einleitungen, die unveränderte Verklappung von Klärschlamm und Chemie, sei alles kein Geheimnis.
Er sagt weiter:
Zu guter Letzt redet niemand über die möglichen negativen Folgen des harten Winters für die Mikrolebewesen im Watt.
Weiße Flecken in Forschung und Wissenschaft wohin er auch schaue, resümiert der Minister, und diese verpflichteten zur Objektivität und nicht zu diskriminierender Kaffeesatzleserei.
Meine Damen und Herren, auch ich stelle fest, daß hier jedesmal, wenn es um das Wattenmeer geht, die gleichen Leute reden. Ich bin seit 1983 in diesem Parlament. Wir sprechen darüber, und ich staune darüber, daß zum Beispiel die Kollegin Lilo Blunck seinerzeit sicherlich noch sagen konnte, die Entwicklung des Wattenmeeres, die Entwicklung der Nordsee gehe zu einer übelriechenden Kloake über, wo man ein Badeverbot aussprechen sollte.
Wenn es so ist, meine Damen und Herren, daß wir in den letzten Jahren bei uns Verbesserungen gehabt haben, dann ist es sicherlich auch denjenigen zu verdanken, die insbesondere das aufgenommen haben, was Karl-Heinz Funke am Schluß geschrieben hat, daß es - -
- Seit wann gibt es eine SPD-Regierung in Schleswig-Holstein?
- Seit 1988, das ist richtig. Aber die Frage ist doch, Frau Mehl, warum denn die Kollegin Blunck 1983 so etwas sagen konnte, wobei vorher die Verantwor-
Peter Harry Carstensen
tung für die Politik, insbesondere auch für den Nordseeschutz hier in Bonn nicht bei der CDU-Regierung gelegen hat.
Ich erinnere daran, daß der erste, der eine Nordseeschutzkonferenz einberief und sich Gedanken über die Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit machte, Innenminister Fritz Zimmermann gewesen ist, dem ich an dieser Stelle für seine Initiative noch einmal herzlich danke. Seitdem wissen wir, daß es nicht ausreicht, Alleingänge zu machen und nur einem Faktor, nur einer Seite, nämlich der Landwirtschaft, die Schuld zuzuschieben, sondern daß wir uns viel häufiger zusammensetzen müssen und auch einmal den Finger in die Wunde legen müssen, ob es an uns oder nicht vielleicht an den Briten oder Belgiern liegt. Trotzdem erinnere ich noch einmal an die Reduzierungsmöglichkeiten und -ergebnisse, die wir bei uns in der Landwirtschaft erreicht haben.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich weiter informieren wollen, dann wäre ich dafür dankbar, daß man auch das liest, was wir im Parlament veröffentlichen. Der Agrarausschuß hat kürzlich eine Anhörung zu Stoffeinträgen in der Landwirtschaft durchgeführt. Ich glaube, wir haben gezeigt, Herr Kollege Bredehorn, daß wir uns der Verantwortung, die die Landwirtschaft trägt, bewußt sind.
- Herr Kollege Fischer, daß Sie inzwischen vom Naturschützer zum Naturnutzer geworden sind, zeigte eben Ihre Bewegungsfähigkeit bei den Abstimmungen. Auch der Körperumfang zeigt das.
Ich finde, man sollte sich seine Informationen auch holen. Wir sind vom Agrarausschuß aus gerne bereit, Ihnen die Informationen zu geben. Wir arbeiten im Agrarausschuß sehr gerne mit den Kollegen von der SPD zusammen, aber man muß auch bereit sein, Informationen, die auf dem Tisch liegen, zu akzeptieren, statt Schuldzuweisungen nur in eine Richtung zu machen.
Herzlichen Dank.
Das Wört hat der Kollege Dietmar Schütz, SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Massensterben im Watt ist eine Konsequenz des jahrelangen Versagens beim Nordseeschutz. Die schwarzen Flecken führen uns auf dramatische Weise vor Augen, wie unzulänglich alle unsere Anstrengungen waren. Es rächt sich, daß in den letzten zwölf Jahren bei vier internationalen Nordseeschutzkonferenzen die Chancen für einen effektiven Nordseeschutz weitgehend ungenutzt blieben.
Die schwarzen Flecken sind nicht das Produkt eines harten Winters. Ich habe heute morgen noch mit einem sehr erfahrenen Wattführer gesprochen. Er hat gesagt: So etwas, was ich hier bisher gesehen habe, habe ich noch nie in meinem langen Leben als Wattführer erlebt. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir müssen feststellen, daß die Umsetzung der Beschlüsse der Konferenz von 1990 in Den Haag, wo wir uns eine 50prozentige Halbierung der Nähr- und Schadstoffzufuhren vorgenommen haben, nur in einem Umfang von 25 bis 30 Prozent gelungen ist.
Es bringt uns auch nicht weiter, wenn wir auf die Verfehlungen anderer Nordseeanrainer schimpfen. Natürlich haben die Belgier in Brüssel noch keine Kläranlagen; natürlich verklappen die Briten Schadstoffe in der Nordsee. Aber wir sind hier, um unsere eigenen Positionen in Frage zu stellen. Wir haben eben eine Reduktion der Nährstoffeinleitungen nur im Umfang von 25 bis 30 Prozent erreicht, wie es auch letzten Mittwoch im Ausschuß gesagt worden ist.
Um einen Zusammenbruch des Ökosystems und der Nordsee bis zur Doggerbank zu verhindern, müssen wir die Nähr- und Schadstoffeinleitungen ganz drastisch reduzieren. Die internationalen Nordseeschutzkonferenzen haben das immer wieder betont. Aber sie haben uns bisher kein zureichendes Instrument an die Hand gegeben. Die nächste Konferenz, die erst im Jahre 2000 oder 2002 stattfindet, ist viel zu spät, so daß wir heute und jetzt über Maßnahmen nachdenken müssen.
1980 hat Professor Buchwald schon einmal auf das Umkippen hingewiesen. Ich habe jetzt meine eigene Rede von 1987 noch einmal nachgelesen. Damals haben wir im Umweltausschuß - Herr Carstensen, auch Sie waren dabei - den „Quality Status Report" über die Nordsee diskutiert. Genau an dieser Stelle wurde gesagt, daß wir vor allen Dingen wegen der Nährstofffrachten besorgt sein müssen und daß wir in etwa 20 Jahren ein Umkippen der Nordsee zu befürchten haben. Möglicherweise fängt dieses Umkippen jetzt mit den schwarzen Flecken an.
Wir müssen also die Nährstofffrachten reduzieren. Ferner müssen wir fragen, was die Bundesregierung, Herr Staatssekretär Hirche, bis jetzt zur beschleunigten Reduzierung der Schadstoff- und Nährstoffeinträge gemacht hat. Wir müssen Sie fragen, was Sie zum Beispiel von einer Stickstoffabgabe halten, um eine Reduzierung zu erreichen.
Das hat ja Herr Funke, den Herr Carstensen gerade zitiert hat, gefordert. Er will ja die Nährstofffrachten herunterbekommen. Das müssen wir machen. Um die Nordsee zu retten, brauchen wir eine Reduzie-
Dietmar Schatz
rung der Stickstoffeinträge aus diffusen Quellen im Verkehr und im Agrarbereich.
Darüber gibt es überhaupt keinen Streit. Alle Wissenschaftler sagen uns das. Wir sollten wenigstens in diesem Punkt auf sie hören.
Die schwarzen Flecken machen sehr deutlich, daß die Selbstheilungskräfte der Nordsee zwar vorhanden sind - ich hoffe sehr, daß sie auch hier wieder greifen -, aber die Entwicklung geht immer mehr in Richtung von Katastrophenszenarien. Eines Tages werden wir oder unsere Nachfahren sagen: Jetzt ist es erreicht. Dann können wir nichts mehr rückgängig machen. Dann können wir gar nichts mehr erreichen. Wir müßten den Patienten Nordsee dann möglicherweise begraben.
Die Wasserqualität wird dann immer noch gut sein. Baden wird man dann immer noch können. Aber das Ökosystem Nordsee wird dann ein anderes sein. Genauso, wie wir jahrelang Debatten über das Waldsterben geführt haben, werden wir dann Debatten über das Wattsterben führen. So etwas möchte ich nicht noch einmal erleben.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Günther Bredehorn, F.D.P.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die in den letzten Jahren zunehmenden schwarzen Flecken im Watt, die inzwischen ja eine Ausdehnung von 10 bis zu 20 Prozent der niedersächsischen Wattenmeerfläche, insbesondere vor der ostfriesischen Küste, erreicht haben, sind ein Alarmsignal, das wir sehr ernst nehmen müssen und das wir nicht negieren können. Darin sind wir uns doch alle einig.
Wenn die Grünen in ihrem Antrag allerdings vom sterbenden Wattenmeer sprechen, so ist das zumindest leichtfertig, wenn nicht verantwortungslos. Alle Jahre wieder - so möchte man schon fast sarkastisch sagen - gerät das einzigartige Natur- und Erholungsgebiet Wattenmeer in die Schlagzeilen. Ich erinnere an Algenpest, Robbensterben, Apron-Plastikbeutel oder ölverseuchte Seevögel. Für mich als Wattenmeeranwohner und als einen der wenigen langjährigen und altgedienten Wattläufer sind schwarze Flekken an und für sich nichts Neues. Diese gibt es seit vielen, vielen Jahren.
Das Phänomen, mit dem wir es in diesem Frühjahr zu tun haben, ist die explosionsartige Ausdehnung von schwarzen Flecken zu schwarzen Flächen.
Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Wir hatten einen der strengsten Eiswinter seit Jahrzehnten. Dadurch sind viele Wattorganismen wie Herz- und Miesmuscheln, Schnecken, Würmer und Krebse abgestorben. Die im Frühjahr beginnende Planktonblute, insbesondere bei den Kieselalgen, wurde durch die fehlenden Wattorganismen nicht mehr filtriert. Das sehr heiße Wetter an einigen Tagen beschleunigte den organischen Abbau der unverbrauchten Algenmassen. Der dadurch bedingte Sauerstoffmangel im bodennahen Wasser führte zum weiteren Absterben der Wattorganismen und letztendlich zu den schwarzen Flächen.
Was können wir tun? Die Verbreitung eines Horrorszenarios hilft dem Wattenmeer nicht; sie schadet vielmehr den Insel- und den Küstenbadeorten, die vom Fremdenverkehr abhängig sind.
Die Bundespolitik hat zusammen mit den Bundesländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein Verantwortung für die Erhaltung unseres Wattenmeersystems. Politische Entscheidungen müssen allerdings auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse über die Ursachen von Fehlentwicklungen getroffen werden.
Professor Dr. Flemming, Leiter des Meeresforschungsinstituts Senckenberg in Wilhelmshaven, erklärte - ich zitiere -:
Das verbreitete Auftreten von schwarzen Flächen ist keineswegs eine anormale Naturkatastrophe. Das Watt stirbt mit Sicherheit nicht, wenngleich es in einer unverkennbaren Krise steckt.
Diese wissenschaftlich fundierte Aussage steht in diametralem Gegensatz zu den Verlautbarungen anderer Wissenschaftler. Das zeigt doch, daß es einen erheblichen Forschungsbedarf in bezug auf das Wattenmeer gibt. Ich fordere die Bundesregierung auf, zusammen mit den Bundesländern die Wattenmeerforschung zu intensivieren, sie problemorientiert voranzubringen und entsprechende Forschungsmittel bereitzustellen.
Nach wie vor - das ist doch ebenfalls kein Streitpunkt - ist die Überdüngung der Nordsee ein großes Umweltproblem. Auch wenn das starke Anwachsen der schwarzen Flächen wohl nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Überdüngung steht,
fordere ich die Bundesregierung auf, alles zu tun, um die Beschlüsse der Internationalen Nordseeschutzkonferenz nun auch in allen Anliegerstaaten umzusetzen.
Immer noch wird die Nordsee als Kläranlage mißbraucht. 30 Millionen Bürger im Einzugsbereich der Nordsee sind nicht an eine Kläranlage angeschlossen. Einige Länder verklappen nach wie vor Klärschlamm und Chemikalien. Die Ölverschmutzung hat eher zugenommen.
Es ist interessant, daß das Bundesland SchleswigHolstein und die Stadtstaaten Hamburg und Bremen die kostenlose Ölentsorgung eingestellt haben. Dort hat die SPD das Sagen, in Niedersachsen entsorgen wir noch. Im Jahre 1990 sind 170 000 Kubikmeter Öl-
Günther Bredehorn
rückstände entsorgt worden. Auch darauf muß man sicherlich achten.
Die Reduzierungsziele, so hat es Kollege Carstensen gesagt, sind bei Phosphaten und Kali erreicht, beim Stickstoff erst zur Hälfte. Dort liegt die Verminderung bei 25 Prozent, 50 Prozent wollen wir. Dabei ist die Düngeverordnung ein richtiger Ansatz, auch hier voranzukommen.
Wir alle sind aufgefordert, den komplexen Ursachen der starken Ausbreitung der schwarzen Flächen im Wattenmeer auf die Spur zu kommen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ich hoffe, daß die kommenden Herbststürme für eine Regeneration des Sauerstoffs in den oberflächennahen Sedimenten sorgen und im nächsten Jahr wieder normale Verhältnisse im Wattenmeer herrschen.
Wir alle sind aufgerufen, durch unser politisches Handeln und Tun unserer Verantwortung zum Erhalt des in der Welt einmaligen und einzigartigen Ökosystems Wattenmeer gerecht zu werden. Dazu fordere ich Sie alle auf, damit auch in Zukunft gilt: Das Wattenmeer lebt.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Bulling-Schröter, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am fehlenden Wissen über Zusammenhänge des Ökosystems Wattenmeer kann es nicht liegen, daß die Belastung der Nordsee und des Watts kaum Einfluß auf die Umweltpolitik genommen hat. Seit Jahren sitzen Wissenschaftler im Auftrag der niedersächsischen Landesregierung im Schlick oder fotografieren ihn aus dem Flugzeug. Dabei sind die schwarzen Flecken ebensowenig geheimnisvoll wie ihre Ursachen.
Was schwer bestimmbar bleibt, ist allenfalls der Zeitpunkt des völligen Umkippens des Nordseewatts. Was die schwarzen Flecken - ähnlich wie die schwindende Ozonhülle oder der drohende Klimakollaps - zutage fördern, ist einmal mehr die Tatsache, daß sich Umweltqualitäten sprungartig und irreversibel verändern können.
Jetzt wird wieder hektische Betriebsamkeit einsetzen, neue Gutachten werden erstellt und zusätzliche Forschungsgelder bewilligt. Ich habe nichts dagegen, aber was will man herausfinden? Daß auch Bodenlebewesen Sauerstoff zum Atmen brauchen? Daß dieser ihnen entzogen wird, wenn die Nordsee als Kläranlage Europas fungiert? Oder daß der Haupteintrag der Nährstoffe, Stickstoff und Phosphor, aus der Landwirtschaft kommt? Das alles ist längst bekannt, wird jedoch immer bestritten. Das ist bekannt und trotzdem uninteressant für die aktuelle Entwicklung im Umweltrecht und im entsprechenden Gesetzesvollzug.
Gerade erst letzte Woche wurde in diesem Haus eine Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz verabschiedet, bei der mit der Vorbehaltsklausel strengere Einleitungsbestimmungen unterlaufen werden können. Die von PDS und Bündnisgrünen vorgeschlagene Verankerung des Vorsorgeprinzips als Leitgedanke im Wasserhaushaltsgesetz wurde verhindert.
Auch die vierte Novelle des Abwasserabgabengesetzes war für die Gewässerökologie ein Rückschritt. Mit ihr wurde es wieder billiger, die Abwasserabgabe zu zahlen, als die Verschmutzung der Abwässer zu vermeiden. Das Einfrieren der Abgabe auf 70 DM pro Schadstoffeinheit an Stelle einer schrittweisen Steigerung dieses Betrags war ein Kniefall vor den Interessen der Hauptverschmutzer.
Ein ähnliches Szenario gab es bei der Düngemittelverordnung. Die Bundesregierung konnte sich nicht zu einer Düngemittelabgabe durchringen. Ein Gros der landwirtschaftlichen Betriebe - 45 Prozent im Westen und 78 Prozent im Osten - sind nach der in diesem Jahr verabschiedeten Verordnung für ihren Stickstoffeintrag nicht einmal bilanzpflichtig, und das, wo schon jetzt zwei Drittel der Grundwassermeßstellen stark überhöhte Nitratwerte aufweisen. Ich denke, das kann niemand hier in diesem Hause bestreiten.
Was aber erst einmal im Boden ist, ist irgendwann auch in den Flüssen. Ein gehöriger Teil davon landet in der Nordsee.
Auf europäischer Ebene deutet sich im Gewässerschutz ebenfalls ein umweltpolitischer Blindflug an. Ende Mai wurde in Brüssel die Konzeption der EUKommission für eine gemeinschaftliche Wasserrichtlinie diskutiert. Der Versuch von seiten der Industrie und der Landwirtschaft, verbindlichen Regelungen zum Gewässerschutz zuvorzukommen, war offensichtlich. Das ging so weit, daß die Landwirtschaftsverbände rundweg eine Verantwortung für Gewässerverschmutzung ablehnten.
Die Kommission schlug weiter vor, die Entscheidung über die Anwendungen von Emissions- und Immissionswerten den Mitgliedstaaten zu überlassen. Sollte sich europäisch der Immissionsansatz, also die an einer imaginären Aufnahmefähigkeit der Gewässer orientierte Zulassung von Einleitungen, durchsetzen, werden wir am Unterlauf der Flüsse noch manch böse Überraschung erleben. Selbst wenn man grob abschätzen könnte, wieviel der örtliche Fluß gerade noch verträgt: Wer will wissen, wie sich die gegebenenfalls bis zur jeweiligen zulässigen Obergrenze mit Schadstoffen aufgefüllten Gewässer verhalten, wenn sie zusammenfließen?
Unserer Meinung nach ist nur ein konsequenter Emissionsansatz - also einheitliche, dem Vorsorge- und dem Verursacherprinzip verpflichtete Mindestanforderung an die Einleitungen in die Gewässer - geeignet, solche Kettenreaktionen wie die im Wattenmeer zu verhindern.
Aber alle wasserpolitischen Bemühungen bleiben irgendwie witzlos, wenn als normal angesehen wird,
Eva Bulling-Schröter
daß Schiffe durch das Wattenmeer fahren und Erdgasleitungen in ihm verlegt werden.
Das Wort hat die Kollegin Gila Altmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Ja, wir waren an derselben Stelle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ostfriesen sind geduldige Leute; aber wenn man versucht, ihnen das Wattenmeer unter den Füßen wegzuziehen, werden sie sauer.
Diese Katastrophe kommt nicht überraschend. Immer wieder hat es Warnsignale gegeben, die konsequent ignoriert worden sind. Seit 1976 sind schwarze Flecken bekannt. Ende der 80er Jahre starben die Seehunde. Auch damals waren wir alle ganz betroffen. Danach ging man aber schnell zur Tagesordnung über.
Seit 1990 steht das Wattenmeer unter Schutz. Aber was heißt das? Es wird weiter eingeleitet; es wird weiter abgefischt; eine riesige Gasleitung namens „Europipe" wurde durch das Wattenmeer geknolzt - alles kein Problem. Auch diesmal wird wieder abgewiegelt. Die Algen sind schuld - die pazifischen, nicht die deutschen; alles ganz natürlich.
Dabei wissen Sie doch genau, daß die Algenbildung das Ergebnis andauernder Überdüngung ist. Es ist klar wie Kloßbrühe, daß, wenn man ein System jahrzehntelang als Müllkippe und Kloake benutzt, zum Beispiel durch Massentierhaltung, durch tonnenweise Schadstoffe aus den Auspuffrohren, die Jahr für Jahr auf das Meer niedergehen, durch Abwässer aus Industrie und Haushalten und - nicht zu vergessen - durch den Schiffsmüll, man sich nicht wundern darf, daß ein Meer den Bach runtergeht.
Vielleicht gibt es ihn dann ja, den harten Winter, der dem Meer den Rest gibt. Das ist wie bei einem angezählten Boxer, der immer wieder aufsteht, bis er so schwach ist, daß ihn ein relativ harmloser Schlag umhaut.
Ich frage mich, ob Sie wissen, was in diesem Fall eigentlich kaputtgeht. Das Wattenmeer ist einzigartig auf der Welt. Es ist die größte biologische Kläranlage.
Millionen von Kleinlebewesen, die jetzt sterben, sind
die Putzkolonnen der Nordsee. Diese einmalige Artenvielfalt greift arbeitsteilig mit ihren Funktionen ineinander wie Zahnräder. Wenn ein Rädchen fehlt, gerät das gesamte System ins Wanken. Genau dies geschieht seit Jahrzehnten.
Früher war ein Drittel des Wattenmeeres mit Muschelbänken bis zu 1,80 Meter Höhe bedeckt. Die haben nicht nur das Wasser gefiltert, sondern auch die Küsten geschützt. Heute gibt es gerade noch zwei Miesmuschelbänke. Die sind zum Befischen freigegeben, anstatt daß ein Verbot ausgesprochen worden ist.
Die Bilanz: Das ist genau diese traurige Matsche - das Wattenmeer im wahrsten Sinne des Wortes eingemacht. Ich lasse es für Herrn Hirche stehen, damit er nachher mal daran riechen kann.
Können Sie sich eigentlich vorstellen, was dies für eine Region bedeutet, die vom Tourismus lebt, und was es für diese Region bedeutet, wenn die Küsten durch erodierendes Watt immer unsicherer werden? Wer glaubt, er könne auf Kosten der Umwelt Beschleunigungsprogramme durchpeitschen, wie die Bundesregierung das tut, setzt die ökologischen und ökonomischen Grundlagen aufs Spiel. Wer Umweltstandards herunterfährt, gefährdet gerade an der Küste Arbeitsplätze. Das sind 60 000. Das muß man sich einmal vorstellen.
Ich sage Ihnen eines: Die Ostfriesen haben in jahrhundertelangem Kampf den Sturmfluten getrotzt. Wir werden auch noch diese Regierung überstehen.
Für jeden einzelnen Arbeitsplatz, für jede mittelständische Existenz, die dort den Bach runtergeht, werden wir Sie von der Koalition verantwortlich machen. Es stinkt zum Himmel - nicht nur das Wattenmeer, auch Ihre Umweltpolitik, Ihre kurzgegriffene Standortdebatte, der alles andere geopfert wird. Wo bleibt denn da die berühmte Versöhnung von Ökologie und Ökonomie? Mit welchen Arbeitsplätzen andernorts wird denn der Tod des Wattenmeers erkauft?
Dafür müssen die Menschen an der Küste bluten. Dieses Gesundbeten, das Ihre Kollegen von SPD und CDU auch vor Ort machen, ärgert mich nicht nur, ich finde es vielmehr auch verantwortungslos.
Jetzt muß Alarm geschlagen werden, wenn wir überhaupt noch etwas retten wollen.
Gila Altmann
Wir dürfen nicht so lange warten, bis die Deiche wegrutschen und der Gestank des verwesenden Meeres die letzten Touristen vertrieben hat. Es reicht nicht mehr, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen, nach England und sonstwohin, wie es Herr Funke in Niedersachsen macht oder Herr Bredehorn und Herr Carstensen hier. Wir müssen vielmehr jetzt in den Bereichen der Landwirtschaft und des Verkehrs, bei der kostenlosen Altölentsorgung an Land und zum Beispiel auch auf EU-Ebene bei der Realisierung der dritten Klärstufe handeln.
Das Meer muß endlich den Schutz erhalten, den es verdient. Klar muß sein: Das, was in Jahrzehnten zerstört wurde, kann nicht von heute auf morgen repariert werden. Gerade deshalb müssen wir heute damit beginnen.
Ein letztes Wort an Herrn Carstensen und Herrn Bredehorn: Alle Ihre Hinweise auf Forschungsbedarf in Ehren - Handeln ist das Gebot der Stunde. Sonst bleibt uns bald wirklich nur noch die Rolle des Pathologen, der die Leiche seziert, um festzustellen, woran der Patient gestorben ist.
Danke schön.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Walter Hirche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Größe und Wachsen der schwarzen Flecken geben Anlaß zu außerordentlicher Sorge um das Wattenmeer. Unter uns allen ist es gar keine Frage, daß Konsequenzen gezogen werden müssen. Eine Krise, eine kritische Situation verlangt aber in besonderer Weise sachliche Lösungen und nicht hysterische Beschreibungen und Forderungen nach blinden Aktionen.
Das um so mehr, als wir laut Zeitzeugen und dem Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie wissen, daß schwarze Flecken auch in dieser Größenordnung bereits unmittelbar nach dem Kriege in den Jahren 1947 und 1948 aufgetreten sind. Das ist keine Beruhigung, wenn ich das sage; ich will das ausdrücklich unterstreichen. Das, was wir jetzt erleben, ist vielmehr ein Zeichen für die schwierige und sensible Situation im Wattenmeer.
Deswegen müssen wir uns intensiv mit den anstehenden Fragen beschäftigen. Es ist aber nicht so - wie eben von einigen Vorrednern gesagt worden ist -, daß man schon alles darüber wisse. Natürlich wissen wir zum Beispiel, daß die Nährstofffracht viel zu hoch ist und daß wir dort etwas tun müssen.
- Herr Kollege Schütz, wir müssen unabhängig von
dem Thema schwarze Flecken etwas tun, weil wir
den Zusammenhang in diesem Sektor nicht genau kennen.
Es ist so, daß die Entstehung der schwarzen Flekken noch nicht völlig geklärt ist - entgegen alldem, was von den Grünen gesagt worden ist.
Meine Damen und Herren, auch als es das Robbensterben gab, waren viele mit einer flinken Erklärung dabei und haben gesagt, das liege an der Nährstofffracht. Hinterher hat sich herausgestellt, daß es am Staupevirus lag.
Eine andere hysterische Diskussion haben wir im Zusammenhang mit den Nematoden in Fischen gehabt. Lassen Sie uns die Sachverhalte auseinanderhalten.
Ich sage Ihnen, trotzdem werden wir uns insbesondere mit dem Thema der zu hohen Nährstoffeinträge beschäftigen müssen. Denn natürlich führen diese zur Bildung verstärkter organischer Substanz. Der kalte Winter hat dann wahrscheinlich zusätzlich seinen Teil dazu beigetragen und die Situation verschärft.
Wir wissen leider trotz der langen Forschungen, die es gegeben hat, noch nicht ausreichend Bescheid über die Zusammenhänge in diesem hochsensiblen Ökosystem.
Ich denke, daß die Bundesregierung an Hand der Zahlen, die ich Ihnen nenne, nachweisen kann, wie intensiv sie sich um dieses Thema gekümmert hat. Es sind in den letzten Jahren viele Forschungsarbeiten durchgeführt worden. Es sind in den letzten Jahren insgesamt 64 Millionen DM in das Forschungsvorhaben „Ökosystemforschung Wattenmeer" geflossen. Der Bund hat davon zwei Drittel der Kosten übernommen. Speziell für die Untersuchung des Phänomens „schwarze Flecken" haben Bund und das Land Niedersachsen bereits 2,5 Millionen DM eingesetzt.
Zwei Tage, bevor die Mediendiskussion über dieses Thema begonnen hat, am 10. Juni dieses Jahres, hat sich der Bund auf Antrag Niedersachsens bereit erklärt, weitere 2 Millionen DM für eine Synthese der bisher gewonnenen Ergebnisse bereitzustellen. Niedersachsen stellt dafür zusätzlich 750 000 DM zur Verfügung. Ein besonderer Schwerpunkt wird in diesem Zusammenhang die nähere Untersuchung zur Entstehung und zu den Wirkungen von schwarzen Flecken bilden.
Wir halten auch dies insgesamt noch nicht für ausreichend. Deswegen sind wir dabei, die Vorbereitungen für ein Fachsymposium in Deutschland mit internationalen Experten über die Entstehung der schwarzen Flecken und natürlich Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in der Nordsee insgesamt zu treffen.
Wir können auf der einen Seite auf eine Bilanz verweisen. Aber in einer solchen Situation nützen Bilanzen und Verweise auf Konferenzen, die stattgefunden haben, auf Bücher, die veröffentlicht worden sind, nichts. Tatsache ist, daß das Phänomen in die-
Pari. Staatssekretär Walter Hirche
sem Jahr schlagartig in erheblich vergrößerter Dimension aufgetreten ist. Aber wenn es so war, wie Zeitzeugen von 1947/48 sagen,
muß festgestellt werden: Damals hat es die intensive landwirtschaftliche Bewirtschaftung überhaupt noch nicht gegeben, und es hat auch nicht die heutigen Einträge aus der Luft gegeben.
Wir wissen also, verehrter Herr Kollege Lippelt, über die Zusammenhänge noch nicht ausreichend genug. Ich wiederhole, um Mißverständnisse zu vermeiden, daß uns diese Tatsachen in keiner Weise hindern sollten, sondern vielmehr ermutigen müssen, jetzt daranzugehen, die engeren Zusammenhänge aufzudecken.
Insgesamt kommt es auf folgende Punkte an. Erstens: konsequente Umsetzung der Beschlüsse der 3. und 4. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz. Das hat etwas mit Kläranlagen zu tun. Im Bereich der Nordsee sind 30 Millionen Anwohner noch nicht an Kläranlagen angeschlossen. Es hat etwas mit der Entsorgung des auf Schiffen anfallenden Mülls auf hoher See und, was Herr Bredehorn angesprochen hat, den Möglichkeiten der Entsorgung für Schiffe an Land zu tun.
Zweitens nenne ich die weitere Reduzierung der Nährstoffemissionen aus dem Bereich der Landwirtschaft. Die Bundesregierung geht im Unterschied zu einigem, was Vorredner gesagt haben, davon aus, daß durch die Düngeverordnung vom Januar dieses Jahres die Nährstoffüberschüsse aus der landwirtschaftlichen Produktion weiter deutlich abgebaut werden.
Drittens muß die Fortsetzung des Ausbaus der dritten Reinigungsstufe mit dem Ziel einer flächendekkenden 50prozentigen Reduzierung der Nährstofffracht durch Kläranlagenbau gemäß der EU-Richtlinie „Kommunale Abwasserbehandlung" erfolgen. Ich denke, die Diskussion, die wir zum Teil streitig mit einigen Ländern führen, hat gezeigt, daß man nicht einfach sagen kann, auf einer bestimmten Seite liege der Schwarze Peter. Wir wollen, daß diese Zeitpläne eingehalten werden.
Viertens nenne ich die Aufgabe, die die Länder und Gemeinden haben: die Förderung des Baus und Ausbaus von Kläranlagen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird sich mit aller Intensität darum bemühen, anerkannte Erkenntnisse darüber, welches die Ursachen sind, auf den Tisch zu legen, in der Zwischenzeit aber die Hände nicht in den Schoß legen, sondern in den Punkten, die ich genannt habe, Maßnahmen ergreifen. Eines ist ganz selbstverständlich: Die Verantwortung aller, ungeachtet, ob sie auf kommunaler Ebene, auf Landesebene oder im Bund Verantwortung haben, für die Erhaltung des einzigartigen Ökosystems Wattenmeer ist gegeben. Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung in vollem Umfang.
Das Wort hat Kollege Klaus Lennartz, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unter dem Stichwort „Watt" findet sich im „Brockhaus" folgender Eintrag:
Das Watt hat eine reiche Mikrofauna, von der sich Würmer, Muscheln, Schnecken, Krebse und Fische nähren. An der deutschen Nordseeküste wurden zum Schutz des reichen Lebensraumes drei Nationalparks eingerichtet.
Wenn nationale und internationale Umweltschutzpolitik weiterhin so fahrlässig wie bisher betrieben wird, werden solche Einträge schon bald aus den Lexika gestrichen werden müssen.
Genau zehn Jahre ist es her, daß der niedersächsische Teil des Wattenmeeres zum Nationalpark erklärt wurde. Es steht zu befürchten, daß es in den nächsten zehn Jahren keinen Grund mehr gibt, dieses weltweit einmalige Ökosystem zu schützen. Mittlerweile nehmen die toten Zonen 20 Prozent der gesamten Fläche ein. Das entspricht einer Verdoppelung in nur 14 Tagen. Das Artensterben ist kaum noch aufzuhalten. Tier- und Pflanzenwelt faulen vor sich hin. Das ist die Realität.
Dem Watt geht buchstäblich die Luft aus. Experten sind sich einig, daß sich nun jahrelanger Mißbrauch rächt und zu schwarzen Flecken insgesamt von der Größe Bremens führt.
Die Ursachen für den Kollaps sind seit langem, Herr Staatssekretär, geklärt. Ungeklärt aber bleiben weiterhin die Abwässer. Ungeachtet aller Warnungen leiten die Europastadt Brüssel und die Großstadt Antwerpen Tag für Tag, Stunde für Stunde tonnenweise ungeklärte Abwässer in die Nordsee.
Die Wiederaufbereitungsanlage im englischen Sellafield belastet die Nordsee außerdem mit Radioaktivität. Die hohe Schadstoffbelastung aus der Luft besteht nach wie vor.
- Herr Kollege Grill, zu Ihnen komme ich noch. - Die hohe Nährstoffbelastung durch Überdüngung in der deutschen und europäischen Landwirtschaft raubt dem Patienten Wattenmeer die letzte Überlebenschance.
Nun hoffen Experten auf eine neue Wetterlage, die das Watt mit Sauerstoff beleben soll. Meine Damen und Herren, müssen wir auf besseres Wetter hoffen, damit unsere Meere und unsere Nordsee nicht sterben? Das darf doch wohl nicht wahr sein.
Wir brauchen eine Veränderung in der politischen Großwetterlage. Schwarze Politik verursacht
Klaus Lennartz
schwarze Flecken, und die schwarze Politik wird von der rechten Seite dieses Hauses gemacht.
Ich frage Sie, Frau Merkel, und Sie, Herr Staatssekretär: Warum werden die auf der NordseeschutzKonferenz von 1990 gefaßten Beschlüsse nicht umgesetzt? Wo bleibt der Druck der Bundesregierung auf die europäischen Anrainerländer - auf England und auf die Niederlande - und auf die deutschen Bundesländer, diese Beschlüsse umzusetzen? Warum sind die Schadstoff- und Nährstoffeintragungen nur um rund 20 Prozent statt auf die auf der Nordseeschutz-Konferenz bis 1995 vereinbarten 50 Prozent reduziert worden? Vielleicht weil die Devise dieser Regierung lautet: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen? Wer national auf Stillstand im Umweltschutz setzt, verspielt international seine Glaubwürdigkeit und auch seine Möglichkeiten zur politischen Einflußnahme.
Im Umkreis der Nordsee leben - das haben Sie richtig zitiert, Herr Staatssekretär - zirka 30 Millionen Menschen ohne Kläranlagen. Nur, die Folgerungen muß man erkennen: Druck muß ausgeübt werden, und nicht einfach konsumieren und hinnehmen. Arbeiten muß man daran, daß dies verändert wird. Das ist Ihre Aufgabe.
Es muß leider bezweifelt werden, daß die von der EG-Richtlinie vorgesehene dritte Reinigungsstufe, Herr Staatssekretär, bei Kläranlagen bis zum Jahre 1998 überhaupt verwirklicht wird. Es reicht eben nicht aus, Beschlüsse formal zu fassen, die in der Praxis nicht umgesetzt, und, wenn doch, dann auch noch unzureichend kontrolliert werden.
Damit schutzbedürftige Gebiete wie das Watt nicht auf dem Opfertisch politischer Willenlosigkeit geschlachtet werden, muß die Bundesregierung endlich dem Vorsorgeprinzip Folge leisten. Schließlich sind auch zirka 60 000 Arbeitsplätze gefährdet. Dazu wird meine Kollegin Mehl noch etwas sagen.
Die von Herrn Töpfer eingeführte Politik des Zögerns und Zauderns wird von Frau Merkel leider in Tradition fortgeführt. Statt zu schützen und zu erhalten, wird von Ihnen nur reagiert und, wenn überhaupt, repariert.
Meine Damen und Herren von der Regierung, kommen Sie Ihrer Pflicht zur Berichterstattung und auch zur Aufsicht über unsere Länder, aber auch über die europäischen Staaten nach. Nennen Sie schonungslos die Namen der europäischen, aber auch der deutschen Länder und der Städte, die die Auflagen, die wir im Deutschen Bundestag und auf Länderebene beschlossen haben, umgehen. Keiner darf sich aus der Gesamtverantwortung zum Schutz der Nordsee stehlen. Kein einziger!
Wer schweigt, macht sich mitschuldig am Sterben der Nordsee.
Meine Damen und Herren, wer aus der Nordsee eine Abfallgrube macht, darf sich nicht wundern, wenn sie eines Tages auch so stinkt. Die Umweltpolitik der Bundesregierung stinkt jedenfalls schon lange zum Himmel. Schwarze Politik - ich wiederhole es bewußt - macht schwarze Flecken. Demzufolge, meine Damen und Herren: Schwarz zu Schwarz!
Das Wort hat der Kollege Norbert Rieder, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon traurig, daß solche Debatten im Plenum immer nach dem gleichen Schema ablaufen:
Die Opposition fordert eine Aktuelle Stunde, wenn die Presse irgendein Thema, das sie teilweise falsch darstellt, hochgekocht hat. Dann wird hier diskutiert nach dem Motto: Pinkeln wir der Regierung ans Bein! Es wird für uns - also die Opposition - schon etwas Gutes dabei herauskommen.
Es werden gleichzeitig noch Reden gehalten - ich will keinen Namen nennen -, bei denen außer der persönlichen Betroffenheit inhaltlich nichts zu Stuhle kommt. Auch das muß man leider sagen.
Wenn dann noch Gläser mit Faulschlamm verteilt werden - etwas anderes ist es ja nicht - und so getan wird, als sei das für das Wattenmeer etwas Besonderes, dann stinkt die Ignoranz zum Himmel.
Ist dieses Problem wirklich ein Problem? Die Frage muß man stellen, denn Herr Hirche hat ausdrücklich gesagt, daß schwarze Flecken im Wattenmeer nichts ganz Neues sind, sondern immer wieder in Generationenabständen in erheblichem Ausmaße auftauchen.
Dr. Norbert Rieder
Deswegen wollen wir versuchen, uns das Ganze ein bißchen sachlich anzuschauen.
Dazu wollen wir uns zuerst die diskutierten Faktoren anschauen. Daß als wichtigster Faktor der Nährstoffgehalt des Wattenmeeres diskutiert werden muß, ist richtig und gut.
Dabei müssen wir uns im klaren darüber sein, daß gerade der große Nährstoffgehalt für unser norddeutsches Wattenmeer das Typische ist. Denn wir haben extrem hohe Nährstoffgehalte, die dazu führen, daß wir im Wattenmeer überall, wo es typischerweise ausgebildet ist, in Normaljahren eine niedrige oberste Schicht haben, die sogenannte Oxidationszone, und darunter die Reduktionszone folgt, aus der Sie jedes Jahr immer beliebig viele Gläser von diesem schwarzen Zeug abfüllen können.
In diesem Jahr ist seit über einer Generation zum erstenmal wieder das Phänomen aufgetaucht, daß wir sehr große Flächen haben. Woran kann es liegen, außer am Nährstoffgehalt, der in großen Grenzen für das Wattenmeer natürlich ist?
Diskutiert werden unter anderem klimatische Faktoren - darauf ist schon eingegangen worden -, aber auch Strömungsverhältnisse. Darauf ist noch nicht eingegangen worden. Wir hatten nämlich im vergangenen Winter eine Saison mit außergewöhnlich geringen Wasserbewegungen, weil die üblichen Winde bzw. Stürme sehr viel geringer ausgefallen sind als sonst.
Ich will niemandem zu nahe treten, aber in diesem Parlament bin ich garantiert der einzige Biologe, der sich jemals wissenschaftlich mit dem Wattenmeer beschäftigt hat. Das muß man auch in aller Deutlichkeit sagen.
Ich glaube, es gibt hier niemanden, der mir in diesem Punkt auch nur annähernd Nachhilfeunterricht erteilen kann.
Zum Wattenmeer gehört nun einmal, daß durch diese Turbulenzen des Wassers in der winterlichen Zeit - Herbst, Winter und Frühjahr - nicht nur die obersten Schichten des Wassers, sondern auch des Schlicks durchwirbelt werden und dadurch die Oxidationszone geschaffen wird. Wenn diese Turbulenzen ausfallen, wird es zwangsläufig - das ist immer so, wenn im Winterhalbjahr die Wasserbewegungen gering sind - zu schwarzen Flecken kommen. Wenn
Sie sich die Klimadaten aus 1946/47 anschauen, kommen Sie genau dahin.
- Harte Winter ja, aber keine Winter, wo es lange gefroren hat und dies mit geringen Wasserbewegungen gekoppelt war. Das sind Faktoren der natürlichen Art, die wir ins Kalkül ziehen müssen.
Jetzt zu dem Nährstoffgehalt. Wir alle sind uns in diesem Parlament einig,
daß die Nährstoffgehalte, die in die Nordsee eingetragen werden, zu groß sind. Wir haben das oft genug diskutiert. Herr Schütz, Sie und jeder im Parlament - zumindest der, der im Umweltausschuß ist - kennt dazu meine Ansicht. Ich glaube, daran können Sie nicht allzuviel herumdeuteln. Wir müssen die Einträge reduzieren.
Aber wir dürfen nicht der Bundesregierung die Vorwürfe machen; denn die Bundesregierung hat mehr als jeder europäische Staat, wahrscheinlich mehr als jeder andere Staat auf dieser Welt dazu beigetragen, daß diese Nährstoffeinträge in unsere Oberflächengewässer reduziert wurden.
Wir haben aus diesem Grund erst in der letzten Woche einen Entschließungsantrag zum Wasserhaushaltsgesetz angenommen, in dem wir gemeinsam festgestellt haben, daß bei unseren kommunalen Kläranlagen im Prinzip alle Wünsche erfüllt sind. Das war ein gemeinsamer Entschließungsantrag. Auf dieser Basis sollten wir weiter arbeiten.
Der nächste Punkt ist -
Dieser Punkt muß allerdings Ihr letzter sein.
- daß wir eine Düngeverordnung haben, die seit diesem Frühjahr gilt und nun erst greifen muß. Sie wird hervorragend greifen. Damit wird sich auch der Zustand unserer Oberflächengewässer noch weiter verbessern.
Vielen Dank,
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Mehl, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die abgestorbenen, schwarzen Flecken im Wattenmeer machen es wieder einmal deutlich: Schäden in einem Ökosystem - egal, ob es Wälder sind, die sterben, Gewässer, die umkippen, ob es der dramatische Verlust der Artenvielfalt oder jetzt das flächenhafte Sterben des Wattenmeers ist - entstehen nicht plötzlich - das wurde schon einmal
Ulrike Mehl
gesagt -, sondern in langen Zeiträumen. Umgekehrt gesagt: Wenn solche Schäden in langen Zeiträumen entstehen, kann man sie nicht plötzlich abstellen. Das ist völlig klar.
Wir sind aber seit langen Jahren dabei, zu sagen, worin die Fehler liegen. Das ist offenbar vergeblich gewesen, trotz aller Beteuerungen, diese Schäden abzustellen. Es sind Schäden durch jahrelange Obernutzung, Schadstoffbelastungen und Überdüngung.
Selbst wenn sich, Herr Kollege Carstensen, in der Landwirtschaft einiges geändert hat - das will ich gar nicht bestreiten -, haben wir trotzdem noch die Diskussion, inwieweit sich die Landwirtschaft negativ auswirkt. Ich sage noch einmal, damit das ganz klar ist: Es geht überhaupt nicht darum, irgendeine Berufsgruppe an den Pranger zu stellen, sondern darum, daß politische Entscheidungen getroffen werden, die dazu führen, daß diese Berufsgruppe gar nicht mehr an den Pranger gestellt werden kann. Es kommt darauf an, daß sie nachhaltig wirtschaftet. Das ist jedenfalls mein Ziel.
Die Grundmisere des Natur- und Umweltschutzes wird an diesem Beispiel besonders deutlich. Wir sind im Moment noch nicht in der Lage, die komplexen Wechselbeziehungen in Ökosystemen vollständig zu verstehen. Das Schlimme ist, daß sehr häufig so getan wird, als würden wir sie verstehen und als hätten wir dazu auch gleich die Antworten. Das ist aber eben nicht der Fall.
Das Wesentliche ist zwar bekannt, nämlich daß Ökosysteme Pufferkapazitäten und daß diese Pufferkapazitäten Grenzen haben. Aber wir wissen nicht genau, wo die Grenzen sind. Auch wissen wir nicht genau, wann diese Grenzen überschritten sind. Auch wissen wir nicht genau, was passiert, wenn wir die Grenzen überschritten haben. Deswegen ist in diesem Fall Dramatik angebracht. Sind wir denn tatsächlich auf dem Weg, die Pufferkapazität dieses Ökosystems zu überschreiten? Deswegen muß sofort etwas begonnen werden, auch wenn wir die Schäden nicht unmittelbar beseitigen können.
Es müssen also Entscheidungen getroffen werden, die es ermöglichen, den Nährstoffeintrag - die Hauptursache; das ist schon gesagt worden - zu reduzieren, und zwar sehr drastisch und nicht nur auf dem Papier.
Was ich langsam bis oben hin satt habe, sind die Diskussionen, bei denen gesagt wird: Wir haben alles schön aufgeschrieben, wir haben internationale Verträge, wir haben die Agenda 21 mit unterschrieben, wir haben an der Umweltschutzkonferenz in Rio teilgenommen. Aber es wird nichts umgesetzt. Es steht alles wunderbar auf dem Papier.
- So dumm bin ich nun auch nicht. Natürlich wird etwas umgesetzt. Aber man muß doch das, was hier
diskutiert wird, an dem messen, was dabei herauskommt. Es gab schon einmal jemanden, der das formuliert hat.
Als Resultat kommt heraus, daß wir angeblich alles geregelt haben. Aber das Gegenteil tritt ein: Wir haben einen drastischen Artenrückgang, wir haben eine dramatische Situation im Wattenmeer, wir haben belastete Gewässer und und und. Das läßt sich der Reihe nach aufzählen, ohne daß jetzt die Welt untergeht. Nur, es schönzureden, liebe Kolleginnen und Kollegen,
zu sagen „Wir haben alles im Griff" und dann den Herrn Flemming zu zitieren, das geht nicht. Was der Herr Flemming da aufgeschrieben hat, finde ich unverantwortlich.
So darf sich Wissenschaft nicht mißbrauchen lassen.
In der letzten Woche hat es eine Reihe von Wissenschaftlern gegeben, die zusammengesessen haben und sich die Köpfe darüber zerbrochen haben. Die haben gesagt: Es läßt sich nicht bis zum letzten erklären, warum das aufgetreten ist. Nur eines ist klar: Maßgebliche Ursache ist der Nährstoffeintrag - das ist der entscheidende Faktor; Herr Kollege Rieder sagte das ja auch -,
den zurückzuführen wir nicht geschafft haben. Da nützen auch schöne Papiere nichts.
Ich will dem Herrn Hirche ja gerne glauben, daß er sich das auf die Fahnen schreibt.
Aber ich möchte auch wirklich sehen, daß im Ergebnis das eintritt, was er sich auf die Fahnen geschrieben hat. Das sehe ich nicht.
Deswegen fordere ich auch dazu auf, daß wir hier nicht einen Katastrophengewöhnungseffekt einreißen lassen, sondern daß Umwelt- und Naturschutz wirklich ernst genommen wird. Wenn ich mir Ihren Gesetzentwurf zum Bundesnaturschutzgesetz angucke, dann sehe ich nicht, daß das ernst genommen wird.
Ich habe auch Herrn Gröbl eben beobachtet; da habe ich ebenfalls nicht gesehen, daß das ernst genommen wird.
Ulrike Mehl
Solange Sie das Signal geben, daß alles gar nicht so schlimm ist, daß wir im Grunde alles im Griff haben, müssen Sie sich diese Kritik gefallen lassen.
Das Wort hat der Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Fischer, ich will das ruhig einmal aufnehmen. Ich habe mich schon mit der Reinhaltung der Nordsee beschäftigt,
da haben Sie noch in Hessen versucht, in Turnschuhen Atomtransporte aufzuhalten oder so etwas ähnliches. Ich brauche diese Belehrungen nicht.
Ich sage mal, Frau Mehl: Der Katastrophengewöhnungseffekt könnte genau in der Tatsache liegen, daß Ereignisse, deren Auswirkungen, deren Bilder wir ja überhaupt nicht in Abrede stellen, von Ihnen immer zur Katastrophe und sozusagen in die Nähe des Weltuntergangs geredet werden. Ich will Ihnen das am Beispiel der Robben nachweisen.
In diesem Hause ist im Mai 1987 einstimmig eine Resolution zur Umsetzung der Beschlüsse der Nordseeschutz-Konferenz verabschiedet worden.
- Das 10-Punkte-Programm. - Damals gab es auf den deutschen Fernsehschirmen keine toten Robben. Dann tauchten sie auf, und dann zogen einige in diesem Hause, die gerade noch die Übereinstimmung aller in den Vordergrund gestellt hatten, ihre Zustimmung zurück und behaupteten, daß jetzt alles viel dramatischer sei.
- Sehen Sie, Herr Fischer: Der letzte Heuler damals war das Problem. Nur, Sie - wie viele in der Öffentlichkeit und vielleicht auch in den Medien - haben überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, daß wir heute bereits wieder eine Population von 3 300 Seehunden haben und daß es Experten gibt, die genau das gleiche wie damals behaupten, nämlich daß wir
möglicherweise wieder vor dem Problem einer Überpopulation von Seehunden stehen.
Dies, Frau Mehl, ist genau der Punkt, den ich Ihnen, Frau Altmann und vielen anderen zum Vorwurf mache, nämlich daß Sie eine Katastrophe herbeireden, die nicht stattfindet, und damit langfristig beim Bürger den Eindruck erwecken, es sei eigentlich vielleicht gar nicht so schlimm, und man brauche sein Verhalten nicht zu verändern.
Den Gipfel der Unverfrorenheit hat heute eigentlich Herr Lennartz geliefert. Herr Lennartz, der sich hier beredt so äußert, daß man gerade noch erkennen kann, daß er von der Sache auch Ahnung hat, der aber auch Polemik gegen die Bundesregierung richtet,
hat da, wo er sozusagen nicht erwidern muß, nämlich in einer Presseerklärung, ganz anderes gesagt.
Vielleicht vorweg, Herr Lennartz und Frau Mehl: Es muß ja eigentlich erstaunen, daß wir dann, wenn wir über schwarze Flecken im Wattenmeer sprechen, insbesondere über solche im niedersächsischen Wattenmeer sprechen, während in den Bereichen des sonstigen Wattenmeeres die gleichen Erscheinungen nicht auftauchen.
- Warten Sie ab! Es kommt noch etwas dicker, Herr Lennartz. Die Backen nicht so weit aufblasen! Es kommt gleich.
Ich denke, daß es schon eine Erklärung dafür gibt, die von Wissenschaftlern geliefert wird, nicht von Politikern, nicht von der Bundesregierung. Wenn ich mir meine Unterlagen, die von den Fachleuten der niedersächsischen Landesregierung zusammengestellt worden sind, durchlese, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß die Ursachen vielfältiger sind, als Sie das heute in dieser vereinfachten und vereinfachenden Art aus politischer Zweckmäßigkeit hier dargestellt haben.
Ich lese in einer Tickermeldung: „ 13 Uhr 30, 16. 6. 1996 - Fettiger Teppich vor Ostfriesland beeinträchtigt Sauerstoffzufuhr." Eine der Erklärungen.
Dann heißt es hier:
Nach Meinung des SPD-Umweltexperten Klaus Lennartz steht das Wattenmeer am Rande einer Katastrophe. Er gab vor allem Großbritannien die Schuld.
Hier stellen Sie sich hin und tun so, als seien die schwarzen Flecken ein Problem von Herrn Hirche, Frau Merkel und dieser Bundesregierung. Draußen in der Öffentlichkeit geben Sie Großbritannien die Schuld. Dann fordern Sie - und darüber waren wir
Kurt-Dieter Grill
uns ja, vor 14 Tagen im Umweltausschuß noch einig -, daß der Deutsche Bundestag in Anbetracht der 30 Millionen Menschen, die noch nicht an eine Kläranlage angeschlossen seien, einen Weg finden müsse, unsere europäischen Nachbarn davon zu überzeugen, ihrer Verpflichtung zur Nordseereinhaltung genauso nachzukommen wie wir in Deutschland.
Dies war einstimmige Haltung im Ausschuß. Und dann schämen Sie sich nicht, hier herzugehen und eine solche Rede voller Polemik gegen diese Bundesregierung zu halten.
Es kommt noch viel schöner. Gleichzeitig heißt es in dieser Meldung - Sie können sagen, daß die Journalisten Sie falsch zitiert haben; das ist die berühmte Ausrede von uns allen -:
Gleichzeitig warf Lennartz der niedersächsischen Umweltministerin Monika Griefahn vor, zu lamentieren, aber die internationalen Abkommen selbst nicht umzusetzen. So dulde die SPD-Politikerin, daß Cuxhaven den Bau einer dritten Klärstufe zurückgestellt habe und die Bauern die Böden überdüngten.
Herr Kollege Grill, Sie müssen zum Schluß kommen.
Herr Lennartz - damit kann ich auch zum Schluß kommen, weil sich das übrige in der Debatte schon widergespiegelt hat -, Sie gehören genauso wie Frau Altmann und Frau Lengsfeld zu denjenigen, die „Feuer!" rufen und unfähig sind, den Brand zu löschen. Sie haben in dieser Debatte nicht einen einzigen konstruktiven Vorschlag gemacht.
- Wir haben diese Debatte in dieser Form nicht gewollt. Das ist nicht der Punkt.
Sie haben die Regierung kritisiert, aber in dieser Debatte ist nicht deutlich geworden, welche Alternativen Sie zur Lösung des Problems vorschlagen. Außer Polemik und Horrorszenarien haben Sie nichts geboten. Das ist die Realität dieser Debatte.
Das Wort hat die Kollegin Susanne Kastner, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen besonders von den Unionsfraktionen! So habe ich mir die Diskussion vorgestellt. Sie ist so nach dem Motto gelaufen: verharmlosen, ein bißchen vertuschen, dann noch abschieben der Verantwortlichkeiten auf die Länder, ein bißchen Ignoranz des Problems und auch - Herr Bredehorn, das muß ich Ihnen sagen - ein Stück Selbstgerechtigkeit.
Herr Kollege Grill, ich muß Ihnen schon sagen: Es geht in der Debatte niemandem darum, Katastrophen herbeizureden. Mit Sicherheit nicht! Aber es kann auch nicht angehen, daß Sie für eine Situation, wie sie jetzt im Wattenmeer entstanden ist, den Medien die Schuld geben.
Diese Aktuelle Stunde soll dazu beitragen, in der Sache ein Stückchen weiterzukommen. Vielleicht ist das ja damals nach dem Robbensterben gelungen, als wir zunächst eine Problembeschreibung vorgenommen haben und dann vielleicht auch zu Problemlösungen gekommen sind. Jedenfalls ist die Situation der Robben besser geworden.
Eines ist Tatsache: Das Wattenmeer ist in Gefahr. Die Fachleute vor Ort sprechen davon, das Absterben großer Teile des Wattenmeeres - wie das mein Kollege Schütz schon gesagt hat - sei „erschreckend einmalig".
Tatsache ist aber auch, daß die völlig unzureichende Gewässerschutzpolitik der Bundesregierung und der europäischen Nordseeanlieger - Herr Kollege Grill, ich komme darauf noch einmal im Detail -, insbesondere Belgiens und Großbritanniens, katastrophale Folgen für das Öko-System Nordsee hat. Noch immer gibt es viel zu hohe direkte und diffuse Schad- und Nährstoffeinträge in die Gewässer aus der Landwirtschaft, der Industrie und durch den Autoverkehr. Wir können es hier nicht wegleugnen, verehrter Herr Kollege Bredehorn: Die Stickstoffeinträge sind die Hauptursache dessen, was jetzt im Wattenmeer an Negativem passiert.
Natürlich kann man zu diesen Problemen eine etwas merkwürdige Verteidigungshaltung einnehmen, wie es die Bundesregierung in vielen Fällen tut; aber das lenkt nicht von der Tatsache ab, daß der Gewässerschutzbericht der EU auch der Bundesrepublik in punkto Gewässerschutz nicht gerade hervorragende Noten gegeben hat. Dies bestätigt im übrigen auch der Bericht der EU über die Qualität der Badegewässer. Seit Jahren, Herr Kollege Grill, fordern wir Sie auf, einen vorsorgenden - ich lege jetzt ganz bewußt die Betonung auf Vorsorgen - Gewässer- und Meeresschutz bei uns in Deutschland und auch in der EU durchzusetzen.
Sie aber tun exakt das Gegenteil. Wir haben in der letzten Woche - Herr Kollege Rieder, da haben Sie natürlich recht: Es war schade, daß die Diskussion zum Wasserhaushaltsgesetz mitten in der Nacht war - im Rahmen der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes über Deregulierungsmaßnahmen im Interesse der Industrie- und der Landwirtschaftslobby diskutiert. Sie haben dann bei der Abstimmung zum
Susanne Kastner
Wasserhaushaltsgesetz eine Abschwächung der Anforderungen an die Abwasserreinigung herbeigeführt. Statt weniger also noch mehr Schadstoffeinträge in die Nordsee!
Wir alle miteinander haben uns schon ein paarmal über Gerichte geärgert. Aber es ist doch gut, daß es noch Gerichte gibt, die falsche Entscheidungen der Politik korrigieren.
Der Europäische Gerichtshof hat dies in dieser Woche getan und die vom Agrarministerrat beschlossene Pflanzenschutzrichtlinie für nichtig erklärt, weil diese Richtlinie den Gewässerschutz nicht ausreichend gewährleistet. Ich muß Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Da war Ihre Unterstützung gleich Null, ja, sie ging ins Minus. Ich bin jedenfalls froh, daß das Europäische Parlament - anders als die Bundesregierung - Klage gegen diese Richtlinie eingereicht und den Prozeß gewonnen hat.
Frau Merkel, Ihnen muß ich sagen, ein „Ich bin entsetzt über die Situation" reicht nicht aus, wenn Sie nicht endlich in der Sache die Konsequenzen aus solchen Umweltkatastrophen ziehen. Schützen Sie endlich die Gewässer, statt die Anforderungen immer weiter zurückzuschrauben! Herr Kollege Hirche, Sie wissen doch genausogut wie ich, daß die Düngemittelverordnung, die Sie verabschiedet haben, viel zu kurz gesprungen ist, um einen wirksamen Schutz zu bieten.
Es wurde vorhin schon davon gesprochen, daß der Tourismus eine der Haupteinnahmequellen an den deutschen Küsten ist. Wenn Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, den Menschen dort ihre Arbeitsplätze und den Gastwirten und Hoteliers sowie dem Mittelstand die wirtschaftliche Basis erhalten wollen, dann müssen Sie, liebe Frau Merkel, und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, sich schon ein bißchen intensiver mit dem Phänomen der schwarzen Flecken im Wattenmeer auseinandersetzen.
Aber, Frau Kollegin Altmann, eines muß ich Ihnen auch sagen: Wenn Sie hier ein Horrorszenario aufführen, dann tun Sie dem Tourismus in Ihrem Ostfriesland keinen Gefallen. Das wird nämlich dazu führen, daß die Touristen in diesem Bereich ebenfalls wegbleiben.
Frau Kollegin Kastner, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich weiß. - Ein bißchen Betroffenheit und ein paar schöne Worte zum Gewässerschutz reichen da nicht aus. Jetzt muß gehandelt werden - und meines Erachtens dringend.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Andreas Krautscheid, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Volker Neumann , Rudolf Bindig, Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Gerd Poppe, Wolfgang Schmitt (Langenfeld) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Burkhard Hirsch, Uwe Lühr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Die Menschenrechtssituation in Tibet verbessern
- Drucksache 13/4445 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hartmut Koschyk, CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Neun Jahre sind vergangen, seitdem im Deutschen Bundestag zuletzt ein interfraktioneller Antrag von CDU/CSU, SPD, F.D.P. und den damaligen Grünen über Menschenrechtsverletzungen in Tibet eingebracht, debattiert und verabschiedet worden ist. Ein Vergleich des Forderungskataloges des seinerzeitigen Antrages von 1987 und des heute vorliegenden interfraktionellen Antrages von CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/ Die Grünen zeigt, daß sich die menschenrechtliche Situation in Tibet in diesen neun Jahren leider nicht verbessert, ja, in vielen Bereichen sogar verschlechtert hat.
Der Deutsche Bundestag, aber auch die Bundesregierung haben sich vielfach zum Anwalt des tibetischen Volkes, vor allem seiner Menschenrechte, der Erhaltung seiner Kultur und Religion gemacht. Das religiöse Oberhaupt der Tibeter, der Dalai-Lama, genießt in Deutschland großes Ansehen. Sein Ringen um den Erhalt der kulturellen und religiösen Identität seines Volkes findet gerade bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern viel Zustimmung.
Deshalb ist es sicher gut, daß der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend erneut zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in Tibet Stellung nimmt und dabei seinen Spielraum, der im Vergleich zu dem der Bundesregierung größer ist, voll nutzt. Die fraktionsübergreifende Befassung mit der Men-
Hartmut Koschyk
schenrechtslage in Tibet kann nicht positiv genug bewertet werden, weil die Botschaft an den Adressaten, die Volksrepublik China, dann um so überzeugender wirkt.
Das heißt aber auch, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß man bei so sensiblen Themen nicht auf eine innenpolitische Vorteilsnahme setzt.
Ich sage ganz offen: Ich hatte in der vergangenen Woche den Eindruck, daß manchem Mitglied dieses Hohen Hauses nicht so sehr an einem einvernehmlichen Tibet-Antrag des Deutschen Bundestages, sondern viel mehr an einer Erschütterung der Koalition und an einer Beschädigung des Bundesaußenministers gelegen war.
Das hat der Sache leider nicht gedient.
Ich kann für die Fraktion der CDU/CSU sagen: Der heute vorliegende interfraktionelle Antrag steht nach unserer Überzeugung nicht im Gegensatz zur ChinaPolitik der Bundesregierung, die von unserer Fraktion nachhaltig unterstützt wird.
Das innenpolitische Hickhack um diesen Tibet-Antrag in der vergangenen Woche widerstrebt im übrigen auch den Berichterstattern der diesen Antrag einbringenden Fraktionen,
die auch den Sprecherrat der interfraktionellen Arbeitsgruppe Tibet des Deutschen Bundestages bilden. Es zeichnet diese interfraktionelle Gruppe, die seit 1990 im Deutschen Bundestag arbeitet, aus, daß sie vielfach im stillen und geräuschlos versucht, für das deutsche Parlament einen Beitrag zur Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in Tibet zu leisten.
Niemand kann und will die Augen davor verschließen, daß dieser Antrag, mit dem wir uns heute befassen, die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Volksrepublik China außerordentlich berührt. Deshalb sage ich für meine Fraktion ganz deutlich: Dieser Antrag ist aus unserer Sicht ein Angebot an die chinesische Seite, mit dem Deutschen Bundestag, aber auch mit der Bundesregierung den Dialog über die Tibet-Problematik zu führen. Dieser Antrag stellt nicht die Ein-China-Politik der Bundesregierung in Frage, zu der sich unsere Fraktion ausdrücklich bekennt.
Auch die beabsichtigte Reise des Unterausschusses Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestag nach China und Tibet sollte einzig und allein dem Ziel dienen, sich vor Ort selbst ein Bild zu machen und mit der chinesischen Seite vor Ort den Dialog zu führen, um ihr die Gelegenheit zu geben, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jeder, der praktische Verbesserungen der menschenrechtlichen Lage in Tibet erreichen will, muß sich darüber im klaren sein, daß dies nur mit und nicht gegen die chinesische Seite geschehen kann.
Dies ist im übrigen auch die Auffassung des DalaiLama, der in einem Interview in der „Frankfurter Rundschau" vom 14. Juni - also kurz vor der TibetKonferenz in der vergangenen Woche - davon abgeraten hat, China politisch zu isolieren, um Zugeständnisse in der Frage der Menschenrechte zu erreichen.
China, so der Dalai-Lama, könne nur auf dem Weg des Dialogs dazu gebracht werden, sich bei den Menschenrechten und in der Tibet-Frage zu bewegen. Er fuhr fort: In einem „freundschaftlichen Klima" müsse China unmißverständlich deutlich gemacht werden, „was Recht und was Unrecht ist".
Genau diesem Ziel und dieser Intention dient der vorliegende Antrag, der die menschenrechtliche Lage in Tibet sowie die Bewahrung der tibetischen Kultur und Religion in den Mittelpunkt stellt. Er stellt die territoriale Integrität Chinas in keiner Weise in Frage und wirft auch nicht die Problematik des völkerrechtlichen Status von Tibet auf. Damit stimmt er auch wieder mit der Intention des Dalai-Lama überein, der gerade bei der Konferenz am vergangenen Wochenende in Bonn - wie übrigens auch bei der Bundestagsanhörung 1995 und in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg 1988 - deutlich gemacht hat, daß seine Hauptsorge der Erhaltung tibetischer Kultur und Religion gilt, daß er keine separatistischen Tendenzen verfolgt und fest auf einen Dialog und eine Kooperation mit China durch seine „Politik des mittleren Weges", wie er es nennt, setzt.
Deshalb bedauern wir die jüngsten Angriffe und Vorwürfe von chinesischer Seite gegenüber dem Dalai-Lama, die offenbar darauf abzielen, seine Stellung als religiöses Oberhaupt der Tibeter zu erschüttern. Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, daß sie mir durch Staatsminister Hoyer auf eine schriftliche Anfrage im Hinblick auf diese jüngsten Angriffe gegen den Dalai-Lama in der vergangenen Woche mitgeteilt hat, daß sie den chinesischen Vorwurf, der Dalai-Lama betreibe die Abspaltung Tibets und schüre eine Unabhängigkeitsbewegung in Tibet, für ungerechtfertigt hält.
Hartmut Koschyk
Staatsminister Hoyer erklärte in der Regierungsantwort, daß die Bundesregierung
die chinesische Regierung wiederholt dazu aufgefordert
hat,
den unterbrochenen Dialog mit dem Dalai-Lama wiederaufzunehmen. Dieser Dialog müßte insbesondere geführt werden über die Ausgestaltung einer Autonomie, die die Tibeter ihre Zugehörigkeit zum chinesischen Staatsverband nicht als Bedrohung ihrer ethnischen, kulturellen und religiösen Eigenständigkeit empfinden ließe.
Genau diese Politik der Bundesregierung findet durch den heute zu verabschiedenden Antrag die Unterstützung des Deutschen Bundestages.
Auch wir appellieren an die Regierung der Volksrepublik China, positiv auf die Bemühungen des DalaiLama um einen konstruktiven Dialog zu reagieren. China hatte ja auch seinerzeit auf die Rede des Dalai-Lama vor dem Europäischen Parlament 1988 und auf seine darin enthaltenen Vorschläge für die Zukunft Tibets mit Dialogbereitschaft reagiert. Für 1989 waren bereits Gespräche zwischen der tibetischen und der chinesischen Seite in Genf angesetzt, die dann jedoch an chinesischen Einwänden gegen die Zusammensetzung der tibetischen Delegation scheiterten. Ich möchte auch an die im Frühsommer 1992 begonnenen Gespräche erinnern, in deren Verlauf die chinesische Seite zehn Vorschläge über die Zukunft Tibets als Diskussionsgrundlage unterbreitet hat. Ich vermag nicht zu erkennen, daß der DalaiLama der chinesischen Seite einen Vorwand gegeben hat, jetzt nicht auf Dialog, sondern auf Konfrontation und Agitation zu setzen.
Um so wichtiger ist es, daß wir heute als Parlament in Gänze, aber auch in Übereinstimmung mit der Bundesregierung an die chinesische Seite appellieren, nicht länger einen Dialog über die Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in Tibet zu verweigern. Dies liegt auch im chinesischen Interesse, zumal die chinesische Seite damit rechnen muß, daß das politische Interesse an dieser Thematik, die weltweite Sympathie der Menschen gegenüber dem Ringen des tibetischen Volkes, seine kulturelle und religiöse Identität zu wahren, und damit auch der Druck auf die internationale Staatengemeinschaft, sich mit dieser Problematik zu befassen, eher zunehmen als abnehmen werden.
In diesem Sinne ist nach unserer Auffassung die bevorstehende Reise des Bundesaußenministers nach Peking von großer Bedeutung.
Wir erachten es für höchst bemerkenswert, daß die chinesische Seite trotz harscher Kritik an der Verabschiedung dieses Antrages im selben Atemzug von aktiven Besuchsvorbereitungen in Peking gesprochen und den Besuch des Außenministers unverändert begrüßt hat.
Die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls dankt dem Bundesaußenminister, daß er trotz des bevorstehenden EU-Gipfels in Florenz demonstrativ an dieser TibetDebatte des Deutschen Bundestages teilnimmt und damit seine Zustimmung zu diesem Antrag unterstreicht. Wir meinen: Mit einer großen, sachlichen Gemeinsamkeit von Parlament und Regierung in dieser Frage leisten wir für mehr Menschenrechte und für die Rettung und Bewahrung von Kultur und Religion in Tibet den besten Beitrag, den wir als deutsches Parlament dazu leisten können.
Das Wort hat der Kollege Volker Neumann, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich zu Beginn zu sagen: Solange wir können, sollten wir versuchen, in Menschenrechtsfragen eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Opposition und Regierung zu bewahren.
Unsere Stärke in diesem Bereich ist die gemeinsame Grundüberzeugung, daß die Menschenrechte, so wie sie in den Dokumenten der Vereinten Nationen niedergelegt worden sind, universell gelten. Das bedeutet: Die Einforderung der Menschenrechte ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates.
Auch wir Deutschen selbst verdanken Menschenrechte und Demokratie bei uns der Einmischung von außen. Klar und einfach hat das Heinrich Böll so ausgedrückt: „Menschenrechte sind Einmischung". Das bedeutet nicht, daß wir uns in der Frage nach dem besseren Weg bei der Durchsetzung der Menschenrechte nicht auseinandersetzen. Wenn es notwendig ist, werden und müssen wir die Bundesregierung auch kritisieren.
Leider ist im Vorfeld der Diskussion um den interfraktionellen Antrag zu der Menschenrechtssituation in Tibet ein diffuses Bild der Regierungspolitik entstanden; Konzeptionslosigkeit und Wankelmut zeichnen die China-Politik aus. Leider entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, die Menschenrechtspolitik gegenüber China werde Wirtschaftsinteressen ge-
Volker Neumann
opfert. Leider will es scheinen, daß innerparteiliche Rangeleien in der F.D.P.
oder Differenzen zwischen Bundeskanzler und Außenminister einem Drehbuch entstammen, das allen Menschen hilft, nur nicht denen, um die es geht: den Tibetern.
Für all diejenigen, denen das Schicksal Tibets am Herzen liegt - man darf die Zahl derer in Deutschland nicht unterschätzen -, kann die Konfusion auf seiten der Regierung nur deprimierend sein.
Trotz dieser wechselhaften Vorgeschichte des interfraktionellen Antrags müssen wir dringlich zu einer gemeinsamen Grundlage in der Menschenrechtspolitik zurückfinden. Diese kann allerdings nicht so aussehen: Augen zu und durch - und dann in die Parlamentsferien! Sie muß ernsthaft von der Regierung eingefordert werden. Wir müssen Wort für Wort ernst nehmen, was in dem Antrag steht, und dürfen keine halbherzigen Beschlüsse fassen.
Ich darf zu der Vorgeschichte des Antrags unmißverständlich feststellen, daß mittelbar nicht nur das Auswärtige Amt mit Ratschlägen an der Formulierung beteiligt war, sondern auch das Bundeskanzleramt. Ein Beauftragter des Bundeskanzlers hat sich, wenn man dem „Focus" glauben darf, stundenlang um den Antrag bemüht. Die Kollegen der CDU haben im Wissen um die Menschenrechtslage in Tibet Änderungswünschen widerstanden.
Wenn also die eine oder andere Formulierung erst heute kritisiert wird, so kann dies nur auf ein Versehen zurückzuführen sein - was verzeihbar wäre - oder auf äußere Einflüsse - was zu hinterfragen wäre. Damit meine ich, daß die chinesische Botschaft offenkundig in seltsamer Weise über jeden Schritt bei der Formulierung der Resolution informiert gewesen ist und wohl auch Gelegenheit zur Kommentierung hatte. Sollte dies zutreffen, dann hätte die Bundesregierung selbst eine skandalöse „Einmischung von außen" zugelassen.
Man kann und muß sich um gute Beziehungen zu China bemühen; aber man muß nicht alles tun, was China verlangt.
Es geht mir entschieden zu weit, wenn jetzt schon in Peking entschieden wird, ob und in welcher Fassung hier eine Tibet-Resolution vorgelegt und verabschiedet wird oder ob eine Tibet-Konferenz Zuschüsse der deutschen Regierung erhält. Niemand spricht der chinesischen Regierung das Recht ab, ihre Meinung zu sagen. Mit Drohungen aber darf und wird sie gegenüber einem demokratischen Parlament keinen Erfolg haben.
Auch die Absage der Reise von Mitgliedern des Unterausschusses Menschenrechte ist eindeutig durch diesen Antrag begründet. Die chinesische Botschaft hat die Erteilung der Visa von dieser Debatte abhängig gemacht. Wäre es nicht richtiger gewesen, die Abgeordneten vor Ort die Ergebnisse der Sachverständigenanhörung überprüfen zu lassen? So wird nun der Eindruck bestätigt, daß das, was die Sachverständigen gesagt haben, richtig ist und die Chinesen etwas zu verbergen hätten.
Es ist schon schlimm genug, daß die Bundesregierung den Eindruck nicht vermeiden konnte, sich mit ihrer Willfährigkeit gegenüber China zum verlängerten Arm der Regierenden dort zu machen. Das sind jene Machthaber, die Tibet militärisch besetzt halten, die für die Unterdrückung der Tibeter und die Zerstörung ihrer Kultur und ihrer Umwelt verantwortlich sind. Eine solche Regierung würde sich in den Dienst derjenigen stellen, die den sechsjährigen Pantschen-Lama gefangenhalten und für den Tod ungezählter Tibeter verantwortlich sind.
Der Ihnen vorliegende Antrag basiert auf den Erkenntnissen einer Sachverständigenanhörung im letzten Jahr. Sie führte uns drastisch vor Augen, wie schlimm die Menschenrechtslage und die ökologische Situation in Tibet sind. Vor allem wurde uns klar, wie sehr die tibetische Kultur von der Vernichtung bedroht ist und wie sehr die Zeit drängt, dem entgegenzuwirken.
Durch massenhafte Einwanderung werden Tibeter von den Chinesen in ihrer angestammten Heimat verdrängt. Heute wohnen schon mehr Chinesen in Tibet als Tibeter. Viele Tibeter sind nach den unmenschlichen Militäraktionen im Jahr 1950 und den massiven Menschenrechtsverletzungen bereits in andere Länder geflüchtet. Weitere flüchten täglich.
Die Unterdrückung der Kultur geschieht durch massive Gewaltanwendung, wie erst kürzlich wieder im Fernsehen zu sehen war. Als Mönche sich weigerten, die Bilder ihres religiösen Oberhauptes, des Dalai-Lama, abzuhängen, wurden sie von den Soldaten verprügelt. Die sonst atheistische, kommunistische Regierung in Peking mischt sich aus politischem Kalkül in rein religiöse Angelegenheiten ein. Sie maßt sich an, den Pantschen-Lama, den höchsten Würdenträger nach dem Dalai-Lama, auszuwählen. Dabei wendet sie angeblich sogar lamaistische Rituale an. Der kleine Junge, der vom Dalai-Lama als Inkarnation des verstorbenen Pantschen-Lama identifiziert wurde, ist kurzerhand entführt worden. Er wird versteckt. „Als hätte Castro den Papst bestimmt" , titelte die „Frankfurter Rundschau" sehr treffend.
Volker Neumann
In Tibet sind Religion und Kultur besonders eng miteinander verwoben. Indem die Chinesen die Religion unterdrücken, weil sie dort Widerstandspotential vermuten, unterdrücken sie auch die Kultur. Kultureller Völkermord ist dafür die richtige Bezeichnung.
Hier zerstört ein großes Volk mit 1,3 Milliarden Menschen ein kleines mit 5 Millionen Menschen, und die Welt schaut weitgehend tatenlos und - wie es scheint - hilflos zu.
Der Dalai-Lama bietet seit Jahren an, mit China zu verhandeln oder wenigstens einen offenen Dialog zu führen. China verweigert sich kompromißlos diesem Ansinnen, solange der Dalai-Lama nicht die gegenwärtige Lage in Tibet anerkennt. Dabei hat der Dalai-Lama eine Forderung nach Unabhängigkeit für Tibet nicht erhoben. Er will ohne Vorbedingungen Gespräche führen. - Dies ist nach unserer Ansicht eine gerechtfertigte Forderung. - Er würde ein Verbleiben Tibets im chinesischen Staatsverband selbstverständlich akzeptieren, wenn er damit mehr Rechte für das tibetische Volk und den Erhalt der tibetischen Kultur sichern könnte.
Natürlich gibt es Streit unter den Völkerrechtlern über den völkerrechtlichen Status Tibets. Das ist bei Juristen so Brauch. Ich als Jurist bin zu der Auffassung gekommen - wie der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages und anders als das Auswärtige Amt -, daß Tibet juristisch nie ein Teil Chinas war.
Die Formulierung im Antrag, daß „unter den Sachverständigen der völkerrechtliche Status Tibets streitig geblieben ist," entspricht also der juristischen Lage. Dennoch wollen wir, will die SPD an der EinChina-Politik festhalten. Sie geht davon aus, daß Tibet heute zum chinesischen Staatsverband gehört. Ich kann in dieser Frage im übrigen auf den DalaiLama und seine religiösen und politischen Mitstreiter verweisen, die nicht die Unabhängigkeit, sondern nur die kulturelle Autonomie gefordert und die Chinesen als „Brüder und Schwestern" bezeichnet haben. Die Aufregung um den Begriff „Exilregierung" ist daher nicht ganz verständlich.
Im übrigen wurde über den Antragsentwurf offensichtlich im Kanzleramt mit Vertretern der chinesischen Botschaft diskutiert, ohne daß diese Formulierung moniert worden ist. Sie entspricht im übrigen auch der Formulierung des Europäischen Parlaments, des Kongresses der USA und anderer Parlamente. Es ist also müßig, über etwas zu diskutieren und zum Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu machen, was selbst die Chinesen nicht beanstandet haben.
Ich möchte noch einige Anmerkungen zum Umgang mit den Chinesen machen. Ich möchte fragen, ob das nachgiebige Verhalten der Bundesregierung oder anderer europäischer Regierungen angesichts der - zumindest verbal - rücksichtslosen Bereitschaft der chinesischen Regierung, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, noch angemessen ist.
Die Chinesen haben im übrigen längst durchschaut, daß sich bei vielen hinter der Überreichung von Namenslisten von politischen Gefangenen oft nicht viel mehr als ein Ritual verbirgt. Sie nutzen ihre Position als umkämpfter Markt rücksichtslos aus: für die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für außenpolitische Interessen. Sie wissen, daß westliche Staaten und Unternehmen konkurrieren. Sie spielen gekonnt Staaten untereinander aus wie auch Unternehmer gegen ihre Regierung. Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf findet ohnehin statt. Aber müssen wir uns auch noch in einen Wettlauf der politischen Gefälligkeiten begeben?
Wenn man die Außenpolitik der Wirtschaft bedingungslos unterordnet, wird man erpreßbar. Oft habe ich den Eindruck, daß die Bundesregierung dieses nicht beachtet. Was bringt übrigens eine solche Politik? Bringt sie die erwünschten Wirtschaftserfolge? Sicher, die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands zu China sind ganz gut. Aber wären sie weniger gut, wenn man die wegen der Menschenrechtsfrage oder der Situation in Tibet bestehenden Konflikte mutiger ansprechen würde? Wäre eine klare und unmißverständliche Sprache in Fragen der Demokratie und der Menschenrechte abträglich?
Betrachten wir uns doch einmal die Großaufträge und Investitionen: Trotz des Besuches des Bundeskanzlers in einer chinesischen Kaserne im letzten November war der wirtschaftliche Erfolg der ChinaReise eher mäßig. Firmenabkommen im Werte von 2 Milliarden DM seien abgeschlossen worden, hieß es auf deutscher Seite. Auf der chinesischen Seite hieß es: 821 Millionen Dollar. Viele davon waren nur Absichtserklärungen, mehr nicht. Und wir wissen, daß Vertreter der deutschen Airbus-Industrie mit dem Kanzler in China waren. Der Vertrag über die Lieferung wurde aber in Paris unterzeichnet. Was hat also der Besuch beim Militär erbracht? Ist nicht der Demokrat Wei Jingsheng unmittelbar nach Abreise des Kanzlers wieder verhaftet und verurteilt worden? Für mich ist es fraglich, ob politisches Wohlverhalten die Wirtschaftsbeziehungen wirklich entscheidend fördert. Aus Wirtschaftskreisen jedenfalls hört man, was in China zählt: nämlich der Preis und die Ware. Politische Dreingaben nimmt China gerne mit, sie sind aber nicht Bedingung.
Vergleichen wir doch einmal international: Bei den begehrten Direktinvestitionen in China zum Beispiel liegt Deutschland in Europa nicht auf Platz eins, obwohl der Kanzler und die Bundesregierung China mit soviel Wohlwollen begegnen. England schloß 1993 Verträge über Direktinvestitionen mit einem doppelt so hohen Volumen wie die Bundesrepublik ab - und das trotz des damals schwelenden und auch heute noch nicht ausgestandenen Konfliktes mit Hongkong. Oder die USA: Sie haben offiziell die Handels- und Menschenrechtspolitik entkoppelt. Sie
Volker Neumann
sprechen eine deutliche Sprache in der Frage der Menschenrechte und hatten schwere Konflikte mit China. Ich erinnere nur an Taiwan oder an die Festnahme von Harry Wu, jenes Chinesen, der mit amerikanischem Paß die Reportagen über chinesische Zwangsarbeitslager geschrieben hat und in China festgenommen wurde. Oder ich nenne den großen Eklat, als die USA den taiwanesischen Präsidenten zu einem Empfang einluden oder als der Dalai-Lama bei Präsident Clinton war. Schwere Konflikte also, wegen deren die chinesische Seite lautstark protestierte, die aber offensichtlich die Wirtschaftsbeziehungen überhaupt nicht beeinträchtigten. Die amerikanischen Exporte steigerten sich von 1994 auf 1995 um 13 Prozent, die deutschen Exporte im gleichen Zeitraum um 3,7 Prozent. Das zeigt, daß man mit China durchaus politische Auseinandersetzungen haben und trotzdem gute Geschäfte machen kann.
China kann es sich im übrigen auch gar nicht leisten, Aufträge nach anderen als ökonomischen Gesichtspunkten zu vergeben. Es benötigt dringend Kapital und Know-how. Die Chinesen praktizieren nach meiner Meinung zunehmend eine Entkoppelung der Wirtschafts- und der Außenpolitik.
Ohne Rücksicht auf die guten Beziehungen und ohne Augenmaß werfen sie ausländische Journalisten aus dem Land. Sie schließen das Büro der Naumann-Stiftung, die immerhin Entwicklungshilfe leistet, und machen dennoch gute Geschäfte.
Ich würde mir wünschen, daß in Zukunft die deutsche Politik zu einer neuen Form des Umgangs mit dem kommunistischen Regime in Peking kommt. Es ist im übrigen zu überlegen, ob auch wir den Weg einer stärkeren Entkoppelung von Menschenrechtspolitik und Wirtschaft im Verhältnis zu China gehen können, die eine unbefangene, selbstbewußte und - wo nötig - auch kritische Politik bei im übrigen soliden wirtschaftlichen Kontakten ermöglicht.
Wir haben in unserem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, sich zu bemühen, daß sich die Europäische Union auf eine gemeinsame Menschenrechts- und Tibetpolitik gegenüber China einigt. Die Staaten Europas könnten so stärker auftreten und vermeiden, gegeneinander ausgespielt zu werden. Ein Ansatz war die erneute gemeinsame Einbringung der Resolution bei der Menschenrechtskommission in Genf. Das hat Wirkung gezeigt. Ich will auch ehrlich zugestehen, daß der Außenminister durch seine dortige Rede für den Einsatz für die Menschenrechte unsere Hochachtung verdient.
Dem Kanzler kann ich in dieser Frage nicht die gleiche Hochachtung entgegenbringen.
Wir sind dafür, daß der Außenminister seine geplante Reise nach China antritt,
um die Beziehungen zu China zu verbessern, aber auch, um unsere Haltung zu der Menschenrechtssituation in Tibet mitzuteilen. Er hat erklärt, daß er den Tibet-Antrag inhaltlich mitträgt. Ich möchte ihm noch eine Bitte auf die Reise mitgeben, nämlich in Peking das folgende ausführlich zu erläutern. Falls er von chinesischen Gesprächspartnern auf den Holocaust und auf die Nazi-Zeit angesprochen wird, sollte er antworten: Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt, bei der Verletzung von Menschenrechten nicht zu schweigen, sondern uns klar und unüberhörbar für ihre Verwirklichung einzusetzen. Wir wollen nicht, daß die Tibeter, die tibetische Kultur und ihre Religion von der Welt verschwinden. Wir wollen, daß das Vorbild einer gewaltfreien Politik, wie sie der Dalai-Lama vertritt, immer in unserer Welt erhalten bleibt.
Das Wort hat der Kollege Gerd Poppe, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie meine Vorredner begrüße auch ich die entschlossene Haltung des Deutschen Bundestages, den vorliegenden interfraktionellen Antrag heute, trotz des massiven Drucks der chinesischen Seite, mit den Stimmen aller Fraktionen und ohne Einschränkungen zu verabschieden.
Dieser Antrag ist das Resultat eines langwierigen Prozesses, der bereits im Jahr 1987 mit einer Anhörung der grünen Bundestagsfraktion begann. Diese erste Anhörung wurde von unserer verstorbenen Kollegin Petra Kelly verantwortet. Ihr Engagement für das tibetische Volk ist vielen von uns in allen Fraktionen dieses Hauses in guter Erinnerung und ist uns Verpflichtung und Ansporn zugleich.
Die seit Beginn der vergangenen Legislaturperiode bestehende interfraktionelle Arbeitsgruppe zu Tibet ist ein Ergebnis der sich seit Jahren entwickelnden kollegialen Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinaus, die ich ausdrücklich würdigen will. Zu dieser Gruppe gehören alle bisherigen Redner und auch Frau Schwaetzer von der F.D.P., die, so hoffe ich, sich in ihrem Beitrag unserer Bewertung des vorliegenden Antrags anschließen wird.
Der sichtbarste Ausdruck der bisherigen Arbeit dieser Gruppe war die gemeinsam mit dem Auswärtigen Ausschuß und dem Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe organisierte An-
Gerd Poppe
hörung, die im vorigen Jahr stattfand, und ist dieser gemeinsame Antrag.
Er ist nicht den Hirnen einiger böswilliger Agitatoren entsprungen, die sich mit separatistischen Vorstellungen in die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik China einmischen wollen. Der Antrag ist nicht mehr und nicht weniger als ein Ergebnis dieser Expertenanhörung, zu der neben renommierten internationalen Völkerrechtlern und Menschenrechtsexperten auch Vertreter der chinesischen Botschaft eingeladen waren. Sie zogen es allerdings vor, nicht teilzunehmen. Man verzichtete darauf, seine Sicht der Dinge einzubringen und sich mit den Argumenten der Sachverständigen auseinanderzusetzen.
In diesen Tagen nun bezichtigen chinesische Regierungsstellen und die chinesische Botschaft den Deutschen Bundestag in wütenden Reaktionen der Verleumdung Chinas und der Verletzung der Gefühle des chinesischen Volkes. Währenddessen gehen die chinesischen Sicherheitsorgane in Tibet mit beispielloser Härte gegen alles vor, was an das religiöse Oberhaupt der Tibeter, den Dalai-Lama, auch nur im entferntesten erinnert. Seit Anfang Mai wurden bereits alle Bilder des Dalai-Lama aus öffentlichen tibetischen Einrichtungen und Schulen entfernt. Seitdem häufen sich Berichte über Hausdurchsuchungen und damit verbundene Verhaftungen von tibetischen Menschen, die sich gegen die gewaltsame Verletzung ihrer religiösen Gefühle zu wehren wagen.
Mindestens zwei Mönche wurden getötet und mehr als 40 schwer verletzt, als am 6. Mai das Kloster Ganden bei Lhasa gestürmt wurde, um es von allen Hinweisen auf den Dalai-Lama zu säubern. In Lhasa selbst wurden in der Nacht des 14. Mai von japanischen Touristen Lastwagen beobachtet, mit denen die geschundenen und zerschlagenen Körper von etwa 80 Personen, davon etwa 30 Frauen, ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Ein großer Teil dieser Menschen sei als Mönche bzw. als Nonnen zu erkennen gewesen.
Nicht zuletzt bleibt auch das Schicksal des siebenjährigen Gedhun Choekyi Nyima, des 11. PantschenLama, und seiner Familie bis heute völlig ungeklärt, ebenso der Haftort von Abt Chadrel Rinpoche und weiteren Mönchen des Tashi-Lhunpo-Klosters, die den Dalai-Lama bei der Suche nach dem neuen Pantschen-Lama unterstützt hatten.
Die aktuellen chinesischen Attacken gegen den Dalai-Lama gipfeln - neben den abstrusen Vorwürfen, Feudalismus und Sklaverei wieder in Tibet einführen zu wollen - in der Behauptung, er stelle die Integrität des chinesischen Staatsverbandes in Frage und wolle Tibet von China abspalten.
Wer jemals mit dem Dalai-Lama gesprochen hat, weiß, daß dies falsch ist, daß er und mit ihm die tibetische Exilregierung keine Separatisten sind. Unermüdlich und mit nicht nachlassender Geduld wiederholen sie seit Jahren - auch während der Anhörung im letzten Jahr im Deutschen Bundestag -, daß ihre Bemühungen eben nicht der staatlichen Abtrennung Tibets von China gelten, sondern vielmehr der Rettung und Bewahrung ihrer Religion und ihrer einzigartigen Kultur, die - nicht zuletzt durch die massenhafte Ansiedlung von Chinesen in Tibet - in ihrer Substanz bedroht sind.
Die chinesische Regierung besteht auf der Anerkennung ihrer Souveränität über Tibet als Vorbedingung für jede Form von Dialog. Wie die Anhörung des Bundestages gezeigt hat, ist die völkerrechtliche Bewertung dieses Anspruchs durchaus umstritten. Trotzdem vertritt der Dalai-Lama nichts anderes als den Wunsch nach gleichberechtigten, offenen Gesprächen über die politische und kulturelle Zukunft Tibets ohne jede Vorbedingung.
Was ist an der angesichts ihrer aktuellen Bedrohung berechtigten Sorge des Dalai-Lama um sein Volk und seine Kultur separatistisch? Was ist so gefährlich daran, wenn sich das kleine tibetische Volk und seine legitimen Vertreter mit keinen anderen Waffen als ihrer eigenen Glaubwürdigkeit gegen den übermächtigen großen Bruder in Peking zu behaupten wagen?
Was soll so verwerflich daran sein, wenn nicht nur der Bundestag, sondern auch die Bundesregierung das Anliegen des tibetischen Volkes unterstützen, den Dialog mit der Pekinger Führung endlich zu beginnen? Es muß von seiten der Einbringer des interfraktionellen Antrags nicht besonders betont werden, daß die Formulierung und Behandlung offener Fragen nicht das Geringste mit der Unterstützung von Sezessionsbestrebungen zu tun hat.
Die Attacken der chinesischen Führung sind deshalb unberechtigt und in aller Entschiedenheit zurückzuweisen.
In der Öffentlichkeit ist mehrfach die Frage aufgeworfen worden, ob angesichts derartiger Angriffe gegenwärtig eine Reise des deutschen Außenministers nach Peking angeraten ist. Ich will diese Frage hier ausdrücklich nicht stellen, aber ich darf meiner Erwartung Ausdruck geben, Herr Kinkel, daß Sie, wenn die Reise zustande kommt, die aktuelle Belastung der deutsch-chinesischen Beziehungen in aller Deutlichkeit ansprechen und dabei auch die mit so großer Mehrheit zustande gekommene Position des Deutschen Bundestages mitvertreten.
In diesem Zusammenhang möchte ich öffentlich wiederholen, Herr Kinkel, was ich Ihnen bereits auf Ihren Brief geantwortet habe. Ich unterstelle Ihnen keineswegs einen Handel mit der chinesischen Regierung hinsichtlich Ihrer China-Reise, und ich bedaure, wenn ich mich vor einer Woche nicht präzise genug ausgedrückt habe.
Gerd Poppe
Es erschien mir aber notwendig, Sie auf den öffentlich entstandenen Eindruck eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Entzug der Mittel für die Tibet-Konferenz und der endgültigen chinesischen Bestätigung Ihres Reisetermins, die nach der Mittelstreichung erfolgte, aufmerksam zu machen, um ihn auch ausräumen zu können.
Daß Sie Ihre Position jetzt durch die Zustimmung zum vorliegenden Antrag zum Ausdruck bringen wollen, begrüße ich ausdrücklich. Eine Reise nach China muß gerade angesichts der jüngsten Entwicklungen dazu genutzt werden, die Meinungsverschiedenheiten offen auszusprechen.
Natürlich sind auch wir, Herr Außenminister, an guten Beziehungen zum bevölkerungsmäßig größten Land der Erde interessiert. Dennoch halten wir es für notwendig - wir gehen davon aus, daß Sie dem zustimmen -, auch in China die dortigen massiven Menschenrechtsverletzungen öffentlich und über konkrete Einzelfälle hinaus zu thematisieren.
Es gibt Situationen, in denen stille Diplomatie allein nicht mehr ausreicht. Dies ist nicht zuletzt eine Lehre aus der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, der Aufarbeitung zweier Diktaturen in Deutschland. Wir sollten daraus gemeinsam die Konsequenzen für den Umgang mit heutigen autoritären Regimes ziehen.
Es ist gerade im Interesse guter bilateraler Beziehungen nicht hinzunehmen, daß deutsche Einrichtungen, die sich für die rechtsstaatliche Entwicklung in China einsetzen und die die chinesische Machtpolitik kritisch hinterfragen, mit der Schließung ihrer Büros abgestraft werden. Im konkreten Fall geht es um die Ihrer eigenen Partei nahe Stiftung. Aber es berührt unseren demokratischen Konsens insgesamt und ist deshalb nicht nur die Sache der F.D.P.
Darüber hinaus sollten Sie, Herr Kinkel, während Ihrer Reise deutlich machen, daß die gegenseitigen Beziehungen auch dadurch belastet sind, daß Peking zwar den deutschen Außenminister zu empfangen bereit ist, die Bundestagsdelegation des Unterausschusses Menschenrechte, die vor allem auch nach Tibet reisen wollte, aber mit fadenscheiniger Begründung ausgeladen hat.
Die chinesische Regierung muß sich dessen bewußt sein, daß dauerhafte Beziehungen - und nicht zuletzt auch gute Wirtschaftsbeziehungen - die Entwicklung eines Rechtsstaates und das Vertrauen in sein Funktionieren erfordern. Wie weit Chinas Weg bis dahin noch ist, läßt sich unter anderem daran erkennen, daß die Bundesregierung aufgefordert wurde, den Bundestag zur Räson zu bringen. Es kann allerdings nicht besonders überraschen, daß der Führung der kommunistischen Partei in Peking das Wesen eines demokratischen Parlaments und seines Verhältnisses zur Regierung bis heute verborgen geblieben ist.
Für uns bedeutet der Unterschied zwischen Parlament und Regierung, auf den wir Wert legen, natürlich nicht, daß beide immer unterschiedlicher Meinung sein sollten. Wenn wir dem Antrag zu Tibet heute also mit großer Mehrheit zustimmen, verbinde ich damit die Hoffnung, daß dieses Ergebnis von der Bundesregierung mitgetragen und Auswirkungen auf ihre weitere Politik haben wird.
Das Wort hat der Kollege Graf Lambsdorff, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ist es nicht ein erfreuliches Zeichen, daß man im Deutschen Bundestag gemessen und dennoch klar reden kann? Das kommt nicht so häufig vor.
Die Tibet-Konferenz der Friedrich-Naumann-Stiftung hat stattgefunden. Über das weltweite Echo konnte sich jeder im Hause ein Bild machen. Zwei Punkte will ich festhalten:
Erstens. Der Dalai-Lama hat bei seinen Ansprachen im Thomas-Dehler-Haus der F.D.P. und im Wasserwerk des Deutschen Bundestages klar, unmißverständlich und überzeugend versichert, daß es ihm und seinen Mitstreitern um die Bewahrung des kulturellen Erbes der Tibeter geht, nicht um die staatliche Abtrennung von der Volksrepublik China.
Der Vorwurf der chinesischen Regierung, der Bundestag mit seiner interfraktionellen Entschließung und die Friedrich-Naumann-Stiftung mit der TibetKonferenz unterstützten separatistische Bestrebungen, ist blanke Propaganda. Es geht uns nicht um Staatsrecht. Es geht uns um Menschenrecht.
Zweitens. Der Dalai-Lama hat eindringlich gefordert, die Volksrepublik China möge endlich zum Dialog mit ihm bereit sein, wie es Deng Xiaoping 1979 vorgeschlagen hat. Reden muß man miteinander, nicht nur gegeneinander. Deshalb hat der DalaiLama sehr darum gebeten, Außenminister Kinkel möge die Einladung nach Peking wahrnehmen. Gestern war der Präsident des Exilparlaments, Professor Rinpoche, bei mir und hat mich gebeten, dies ausdrücklich auch dem Deutschen Bundestag zu sagen.
Die F.D.P. teilt diese Auffassung. Es war immer ein essentieller Teil liberaler Außenpolitik - ich erinnere an die Tage der Ostpolitik -, das Gespräch zu suchen. Wer der Kraft seiner Argumente nicht traut, sollte allerdings zu Hause bleiben. Er muß dann aber die Finger von der Außenpolitik lassen.
Wir trauen der Kraft unserer Argumente. Wir wollen gute Beziehungen zur Volksrepublik China.
Wir wußten und wissen, daß wir es in der Welt nicht nur mit Partnern zu tun haben, die unsere Vorstellungen von Demokratie und Freiheit teilen. Wir
Dr. Otto Graf Lambsdorff
scheuen uns keine Sekunde, auch wirtschaftliche und handelspolitische Aspekte zu unterstreichen. Es geht immer auch um Arbeitsplätze. Es geht vor allem aber auch um unsere Überzeugung, daß marktwirtschaftliche Entwicklungen längerfristig zu politischem Wandel führen. Wer das bestreitet, der sehe sich in Shanghai, Shenzen und Guandong um, der betrachte auch die zahlreichen deutsch-chinesischen Joint-ventures. Wirtschaftsbeziehungen sind im übrigen keine Einbahnstraße, sie sind eine „Zweibahnstraße" - beide Seiten sind interessiert.
Die Bundesregierung, der Bundesaußenminister müssen sich auf einem schmalen Grat bewegen. Das ist bei solchen Konstellationen die Pflicht, aber auch die Schwierigkeit jeder Bundesregierung. Das war früher so und ist heute so. Die Beziehungen sind zu pflegen, und gleichzeitig ist auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten.
Mit Recht hat Bundesaußenminister Kinkel gesagt:
Auf der Einhaltung von Menschenrechten zu bestehen stellt keine Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Landes dar.
Die F.D.P. teilt diese Auffassung.
Meine Damen und Herren, Menschenrechte gelten weltweit. Gefolterte und Gequälte leiden gleichermaßen, nicht unterschieden nach westlichem und konfuzianischem Kulturkreis.
Der Bundesaußenminister hat in vielen Fällen Menschen konkret geholfen. Das allein zählt, und dafür sollte ihm auch jeder hier dankbar sein. Herr Neumann hat mit Recht seine Rede in Genf erwähnt.
Das frei gewählte deutsche Parlament schweigt nicht zu andauernden Menschenrechtsverletzungen in Tibet. Es gibt sie leider zuhauf. Sie sind hier erwähnt worden; Herr Poppe und Herr Neumann haben sie aufgezählt. Jeder weiß das, mit Ausnahme offenbar des chinesischen Botschafters in Bonn. Dessen Umgangston mit dem Parlament seines Gastlandes ist unangemessen.
Wie würde wohl China reagieren, wenn sich der deutsche Botschafter in Peking öffentlich solcher Sprache bediente?
Die F.D.P. freut sich darüber, daß diese Debatte nicht durch taktische Spielereien zwischen Regierung und Opposition entwertet worden ist. Stehen wir zu dem, was wir interfraktionell mit diesem Antrag erreichen wollen: Zeugnis geben, daß gerade in unserem Lande, das in diesem Jahrhundert die scheußlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten hat, das Parlament nicht schweigt.
Die F.D.P. stimmt dem Antrag zu.
Das Wort hat der Kollege Steffen Tippach, PDS.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die PDS wird sich zum vorliegenden Antrag enthalten.
Ich möchte dies im folgenden begründen: Das tibetische Volk hat, wie jedes andere Volk auch, gemäß der UN-Charta und Art. 1 des Paktes über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte das Recht auf Selbstbestimmung. Diese völkerrechtliche Norm als Ausdruck eines emanzipatorischen Prozesses ist Grundlage unseres politischen Handelns. Dies beinhaltet auch das Recht nach Teil I Art. 1 des WSKPaktes, frei über den politischen Status und die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden.
Selbstbestimmung bedeutet für uns aber auch die Entscheidungsfreiheit des Volkes und nicht - wie im Falle Tibet - einer feudal-religiösen Kaste, die für gnadenlose Unterdrückung und Ausbeutung des tibetischen Volkes in früheren Jahren verantwortlich ist.
Was der Begriff „Selbstbestimmungsrecht" mit Sicherheit ebenso nicht beinhaltet, ist dessen Instrumentalisierung durch imperialistische Groß- und Mittelmächte, um eigene Interessen im Sinne von Macht, Einflußgebieten und Märkten durchzusetzen.
Genau das aber ist die Wirkung dieses Antrags.
- Ich finde, Sie sind hier nicht besonders souverän.
Gerade Tibet hat eine lange Tradition als Spielball anderer Mächte im Zuge antichinesischer Aggressionen der letzten beiden Jahrhunderte bis hin zur Organisation und Finanzierung der tibetischen Exilarmee durch die CIA bis zum Jahre 1972.
Wir teilen uneingeschränkt die Kritik des vorliegenden Antrags an massiven Menschenrechtsverletzungen. Es gibt keine Rechtfertigung für die Existenz politischer Gefangener, für Folter und Hinrichtungen. Die Rechtfertigung gibt es nicht in Tibet, nicht im Iran und auch nicht in den USA.
Steffen Tippach
Wir können den vorliegenden Antrag dennoch nicht unterstützen, nicht etwa, weil Sie uns vorher sowieso nicht gefragt haben, ob vielleicht auch wir etwas einzubringen hätten. Diesen üblen Stil sind wir gewohnt. Wir haben erhebliche Schwierigkeiten mit der Legitimation der Exilregierung und der Behandlung des völkerrechtlichen Status durch den Antrag, aber auch dafür gäbe es Lösungen. Hauptgrund unserer Enthaltung ist, daß dieser Antrag, sein Inhalt, seine Zielrichtung und die Art seiner Einbringung von einer satten Portion Heuchelei gezeichnet sind. Da wird zum Beispiel unter Punkt 4 formuliert:
in Anbetracht dessen, daß es Politik der Bundesrepublik Deutschland ist, die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung weltweit zu unterstützen . . .
Dieser Satz steht, durch eine breite Mehrheit dieses Hauses getragen, eben in einer Resolution zu Tibet. Er steht nicht in einer Resolution zu Tschetschenien oder zur Westsahara. Im Unterschied zu China führen die russische Regierung in Tschetschenien und die türkische Regierung in den kurdischen Gebieten einen Krieg gegen große Teile der Bevölkerung, was die Bundesregierung keineswegs davon abhält, feste und freundschaftliche Beziehungen zu den Initiatoren dieses Mordens zu unterhalten.
Herr Kollege Tippach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Özdemir?
Natürlich.
Herr Kollege Tippach, Sie haben uns gerade erzählt, daß der Dalai-Lama Ihres Erachtens nicht legitimiert sei und wir insofern in der Gefahr stehen würden, jemanden quasi zu unterstützen, der nicht unbedingt für die Interessen des tibetanischen Volkes spricht. Wir haben dies vor einigen Tagen als Kommentar von Frau Ditfurth in der „Tageszeitung" gelesen. Es ist interessant, daß die PDS diese Argumentation übernimmt.
Ich wollte Sie fragen: Wodurch ist beispielsweise Abdullah Öcalan legitimiert, der Vorsitzende der PKK, mit dem Sie aus Gründen, über die man sich streiten kann, gelegentlich gemeinsame Äußerungen abgeben? Wodurch ist er legitimiert, wodurch sind andere Führer von Befreiungsbewegungen legitimiert?
Zum einen kann ich mich nicht entsinnen, dem Dalai-Lama irgendwie die Berechtigung abgesprochen zu haben, mit der chinesischen Regierung Gespräche zu führen. Im Gegenteil, ich würde es begrüßen. Ich würde auch begrüßen, wenn Außenminister Kinkel auf seiner China-Reise mit vorträgt, daß zum einen das Angebot zu Gesprächen mit dem Dalai-Lama, das vorgestern durch den chinesischen Botschafter gemacht wurde, und andererseits die Bereitschaft des Dalai-Lama zu Gesprächen mit der chinesischen Regierung zu einer für beide Seiten tragbaren Gesprächsgrundlage führen können. Daß ich mit Herrn Öcalan angeblich Erklärungen veröffentlicht habe, muß wohl irgendwie falsch gehört worden sein. Sie müssen dies Herrn Lummer fragen, er wäre hierzu die richtige Adresse. Da sind Sie wohl schlecht informiert.
- Sie müssen mich noch einen Moment ertragen. Das kann für Sie hart sein.
Ich möchte fortfahren. - Stellen Sie sich diesen Satz zur Selbstbestimmung und zum Selbstbestimmungsrecht in einer Resolution zur kurdischen Frage in der Türkei vor! Das Geschrei in diesem Hause wäre kaum zu ertragen.
Während Kanzler Kohl mit dem Mantel der Geschichte den Staub auf Appellplätzen der chinesischen Volksarmee aufwirbelt und bereits 1987 die tibetische Landschaft durchstreifte, während Kollege Glos am 5. Juni dieses Jahres aus China sozusagen live aus der Höhle des Löwen kabelt, Kinkel und das Auswärtige Amt stünden „in besonderer Verantwortung, sicherzustellen, daß die kluge und weitsichtige Chinapolitik des Kanzlers nicht durch unnötige Profilierung der Friedrich-Naumann-Stiftung gestört wird", während diese Politik die „Süddeutsche Zeitung" zu dem Kommentar veranlaßt: „Die Gier nach Chinas Markt hat die außenpolitischen Interessen Bonns längst zusammenschrumpfen lassen auf: Geschäft, Geschäft, Geschäft", lese ich von der Koalition mit eingebrachte Sätze wie:
im Hinblick darauf, daß es Politik der Bundesrepublik Deutschland sein muß, unrechtmäßige Anwendung von Gewalt sowie massive Menschenrechtsverletzungen nicht hinzunehmen, die Menschenrechtsverletzungen in Tibet aber weiter anhalten,
und frage mich dann, ob es sich hier um einen Fall von Bewußtseinsspaltung handelt oder gar um etwas Schlimmeres.
Differenzierungen sind kaum gefragt, so bei der Forderung nach angemessenen Bildungschancen für die tibetische Bevölkerung. Bei einem Anteil von 70 Prozent schulpflichtiger Kinder, die tatsächlich eine Schule besuchen, läßt sich zwar sagen, das ist zu wenig, immerhin ist es aber mehr als doppelt soviel wie 1965 beim Erbe der damaligen Administration.
Aber apropos Scheinheiligkeit. „Mahatma" Lambsdorff:
Daß in der China-Politik immer noch wirtschaftliche Interessen Vorrang vor humanitären hätten, prangerte Otto Graf Lambsdorff, Vorstandsvorsitzender der F.D.P.-nahen Friedrich-NaumannStiftung, an.
So die „Frankfurter Rundschau" am 17. Juni dieses Jahres.
Steffen Tippach
Ich sehe einmal davon ab, daß Sie letzte Woche in diesem Hause die Friedrich-Naumann-Stiftung ganz nebenbei zur NGO erklärt haben, was in etwa das gleiche ist, als wenn Helmut Kohl sein Kabinett als Nichtregierungsorganisation bezeichnen würde.
Sie, Kollege Lambsdorff, bestimmen seit vielen Jahren in zentralen Funktionen die Politik einer Partei mit, die das Auswärtige Amt und das Wirtschaftsministerium sozusagen im Dauerabo hält, und lassen jetzt den Obermenschenrechtler heraushängen. Um die Sache dann vollends ins Absurde zu ziehen, antworten Sie Inforadio am 13. Juni auf die Frage „Sie haben keine Kritik an der Tibet-Politik der Bundesregierung?" schlicht mit „Nein."
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie kaum verwundern
- natürlich -, wenn wir in diesem Theater nicht die Komparsen spielen werden. Daß Sie mich wohl verstehen: Natürlich sind wir für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China. Aber Außenpolitik kann und darf dem nicht alles unterordnen.
Für eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik können Sie jederzeit mit unserer Kooperation rechnen. Eine solche fängt aber in der Praxis an und nicht auf einem Stück Papier.
Danke.
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, daß sich die Diskussion um unsere Chinapolitik und um unser Eintreten für die Menschenrechte in Tibet inzwischen versachlicht hat. Ich will deutlich und klar sagen, daß ich für das Klima gestern im Auswärtigen Ausschuß dankbar bin. Das Klima und die sachliche Debatte haben sich wohltuend von manchen unsachlichen Tönen nach draußen unterschieden.
- Ich spreche schon laut und deutlich.
China ist ein Land mit einer bedeutenden Geschichte und Kultur, politisch und wirtschaftlich auf dem Sprung zur Weltmacht. Es hat große Bedeutung für die globale und regionale Stabilität. In diesem Land haben beachtliche innere Entwicklungen auf den Weg hin zur Marktwirtschaft und zur internationalen Öffnung stattgefunden. Der chinesischen Regierung ist es immerhin gelungen, die sozialen Lebensbedingungen für ihre 1,2 Milliarden Bürger nicht unerheblich zu verbessern, wahrlich keine geringe Leistung,
wenn man die Probleme bedenkt, die China im Laufe seiner Geschichte immer wieder hatte.
Wir unterhalten zu China gute politische, wirtschaftliche und auch kulturelle Beziehungen, und wir sind daran interessiert, daß das so bleibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, allerdings muß es möglich sein, auch schwierige Fragen - dazu gehören natürlich die Menschenrechte und Tibet - offen anzusprechen. Es kommt jedoch darauf an, wie das geschieht. Die Bundesregierung hat immer einen offenen Dialog geführt. Ich habe mich in all meinen Gesprächen generell für die Menschenrechte und insbesondere für die Schicksale vieler einzelner Menschen eingesetzt, übrigens nicht ohne Erfolg. Manche tönen; ich habe gehandelt.
Das gilt auch und gerade für Tibet und die Menschen dort. Ich erkläre ausdrücklich und nachdrücklich, daß uns, der Bundesregierung und mir, das Schicksal dieser Menschen alles andere als gleichgültig ist. Die Bundesregierung hat mit einer langfristig angelegten ausgewogenen Politik für unser Land wichtige Brücken zu China gebaut. Diese erfolgreichen Bemühungen dürfen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der Bundesregierung bleibt interessen- und wertorientiert, auch in unserem Verhältnis zu China und in der Tibet-Frage. Der fraktionsübergreifende Antrag, über den wir heute abstimmen, greift wesentliche Punkte auf, die die Haltung der Bundesregierung in der Tibet-Frage bestimmen.
Erstens. Wir unterstützen den Anspruch der Tibeter auf kulturelle und religiöse Autonomie. Die Tibeter haben ihr traditionelles, historisch belegbares Recht. Ich werde in Peking erneut an die chinesische Regierung appellieren, über die Frage der Autonomie nun wirklich in Gespräche einzutreten. Für die Tibeter darf die Zugehörigkeit zu China nicht den Verlust ihrer Kultur und ihrer Religion bedeuten.
Zweitens. Die Bundesregierung fordert von der chinesischen Regierung die Beachtung der Menschenrechte der Tibeter und ihrer religiösen Freiheiten. Im November 1993 fand auf meine Anregung
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
das erste deutsch-chinesische Juristensymposium über Menschenrechte statt. Inzwischen gibt es einen institutionalisierten europäisch-chinesischen Dialog über dieses Thema, und dabei wird Tibet nicht ausgespart.
Diese Fragen haben auch bei den Deutschlandbesuchen von Ministerpräsident Li Peng im Juli 1994 und von Staatspräsident Jiang Zemin im Juli 1995 eine Rolle gespielt. Sie sind zuletzt angesprochen worden beim Zusammentreffen des Bundeskanzlers und mir mit Ministerpräsident Li Peng in Bangkok.
Die stille Diplomatie kann und darf die öffentliche Kritik nicht ersetzen. Diese Diplomatie ist gleichwohl unverzichtbar, auch wenn Fortschritte oft nur mühsam erreichbar sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deklamationen allein reichen nicht, denn es geht um Menschen. Da wird eine etwas andere Politik in der Praxis notwendig sein und erwartet. Deshalb wird die Bundesregierung die Politik des Dialogs mit China fortsetzen.
Wir werden das nicht belehrend tun, sondern in deutlicher und klarer, aber in angemessener Form. Man muß auch die Probleme der anderen Seite sehen und sie in die eigenen Vorstellungen und in die eigene Politik einbeziehen.
Drittens. Die Bundesregierung betrachtet wie alle anderen Regierungen der Welt Tibet als Teil des chinesischen Staatsverbandes. Aus dieser klaren völkerrechtlichen Feststellung ergibt sich, daß die Bundesregierung eine sich selbst so bezeichnende Regierung Tibets im Exil nicht anerkennen wird. Dabei geht es nicht um Formalien, sondern dabei geht es um Völkerrecht.
Die chinesische Regierung hat sich immer zur Einheit des deutschen Volkes bekannt, und wir haben von Anfang an eine klare Ein-China-Politik betrieben. Die Bundesregierung ist darüber hinaus völkerrechtlich verpflichtet - das wäre jede Bundesregierung -, alles zu unterlassen, was als Unterstützung separatistischer Tätigkeit auf deutschem Boden ausgelegt werden kann.
Infolgedessen konnte eine Veranstaltung, die ausdrücklich als solche der tibetischen Exilregierung firmierte, nicht aus Mitteln der Bundesregierung gefördert werden. Wir können einfach nicht auf der einen Seite erklären, daß wir die tibetische Exilregierung nicht anerkennen, und sie trotzdem gleichzeitig finanziell unterstützen. Das geht einfach nicht.
- Herr Fischer, Sie sind am wenigsten geeignet, dazu etwas zu sagen. Sie sind derjenige, den ich mit dem Tönen gemeint habe.
Meine Damen und Herren, wer für die Menschen in Tibet etwas erreichen will, muß mit der chinesischen Regierung darüber sprechen. Das erfordert Stetigkeit, Berechenbarkeit, Geduld und - ich füge es nochmals hinzu - die richtige Tonlage. Nur so wird unsere China-Politik der Rolle und Bedeutung dieses Landes gerecht, und nur so können wir erfolgreich sein.
- Den Antrag unterstütze ich voll und ganz, auch in der Tonlage.
Ich werde Anfang Juli nach China reisen.
Die deutsch-chinesischen Beziehungen sind politisch und wirtschaftlich zu wichtig, als daß wir ein Abreißen unseres Gesprächsfadens zulassen dürften.
Im übrigen finde ich es wenig akzeptabel, wenn hier eine Art Arbeitsteilung vorgetäuscht wird: Die einen sind für die Menschenrechte zuständig, die anderen für die Politik und für die angeblich - ich sage es ausdrücklich in Anführungszeichen - schäbigen Wirtschaftsinteressen.
Die einen sind die Guten, und die anderen sind die Bösen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da machen es sich einige doch zu einfach. Da ist - ich sage es einmal ganz deutlich - sehr viel Heuchelei dabei.
Es geht doch nicht um die Frage, ob wir für oder gegen die Menschenrechte sind, sondern es geht darum, wie wir sie am besten schützen.
Herr Außenminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Dr. Klaus Kinkel, Bundesministerdes Auswärtigen: Nein, ich bitte um Verständnis. Ich möchte zum Ende kommen.
Ich muß als Außenminister die Interessen unseres Landes im Gesamtzusammenhang sehen. Selbstverständlich hatte und hat der Schutz der Menschenrechte eine ganz, ganz hohe Priorität in unserer Außenpolitik. Aber ich muß als Außenminister auch daran denken, daß jeder dritte Industriearbeitsplatz
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
in Deutschland vom Export abhängt und wir 4 Millionen Arbeitslose haben.
Dafür brauche ich mich nicht zu entschuldigen. Ich entschuldige mich dafür auch nicht, zumal die wirtschaftliche Zusammenarbeit eine der Voraussetzungen dafür ist, daß man unsere Stimme in Menschenrechtsfragen hört und auch ernst nimmt.
- Sie können dem anschließend widersprechen.
Diese Zusammenhänge werden in der Öffentlichkeit mehr und mehr verstanden. Wir werden weiterhin als Bundesregierung eine Politik für die Menschenrechte betreiben, bei der allerdings die Vernunft nicht auf der Strecke bleibt.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Freimut Duve.
Herr Außenminister, wir haben bei dieser Frage, die auch unsere Ethik betrifft, Wirtschaftspolitik auf der einen Seite und Wachsamkeit gegenüber Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite, nie mit Zahlen von Arbeitslosen gearbeitet. Die beiden gehören in dieser Form nicht zusammen.
Wenn wir sagen, wir können einen bestimmten Staat durch wirtschaftliche Androhung in der Menschenrechtsfrage nicht bewegen - das ist bei China der Fall -, dann müssen wir diese ethische Entkopplung der beiden Linien sehr präzise und sehr genau diskutieren. Es gibt Staaten, bei denen man durch wirtschaftlichen Druck Menschenrechtserfolge erzielen kann. Dann muß man sie nutzen und darf sich nicht - Beispiel: China - davon abhalten lassen. Das darf man nicht.
Aber man kann nicht einfach die Arbeitslosen als Begründung anführen. Sie haben es vielleicht nicht so gemeint. Aber es ist so angekommen. Ich wollte das klarstellen.
Der zweite Punkt. Herr Außenminister, wir waren ein Instrument der ideologischen Auseinandersetzung der Volksrepublik China in ihren Streitereien im Kalten Krieg. Deswegen nun immer wieder zu zitieren, wie toll China für die Einheit Deutschlands war, halte ich historisch für nicht so ganz richtig. Ich und andere haben damals jedenfalls nicht nur „China, China, China" gerufen.
Drittens. In Tibet hat es in den letzten zwei Jahren und in den letzten Monaten drastische Rückschritte in der Menschenrechtsfrage gegeben. Daran hat auch nicht das Abwandern einer Militäreinheit durch den Bundeskanzler irgend etwas gemindert. Nein, es ist in Tibet trotz unserer Beziehungen sehr viel schlimmer geworden. Darum glaube ich, daß wir eine gemeinsame europäische Linie in bezug auf Tibet brauchen. Sie haben das angedeutet, aber das muß dann zu sehr konkreten Formulierungen führen.
Liebe Kollegen, wir können uns - das ist auch vom Außenminister gesagt worden - China vielleicht wegwünschen. Doch die Realität von einer Milliarde Menschen und auch seine wirtschaftliche Bedeutung der Zukunft werden durch unser Wegwünschen nicht verschwinden. China mag sich unseren Blick auf Tibet vielleicht wegwünschen. Die Realität unseres Protestes wird deswegen nicht verstummen.
Dabei mag seine Exzellenz der chinesische Botschafter noch so sehr denken, daß es seine wichtigste Aufgabe sei, bei uns im Deutschen Bundestag als unbezahlter Redaktionsassistent an unseren Entschließungstexten mitzuwirken. Aber dann kommt er heute noch nicht einmal als Gast hierher. Sein Interesse an unserer Debatte hat ihn nicht dazu gebracht, daß er selber kommt oder einen Vertreter schickt. Er hat es leider nicht gemacht.
Wenn der Dalai-Lama nur ein Hundertstel der Dialogbereitschaft in Peking anträfe, die der chinesische Botschafter bei uns tagtäglich erfahren kann, dann könnte unsere Resolution noch wesentlich samtpfötiger sein, als sie es inzwischen geworden ist. Aber wir tragen sie gemeinsam.
Der Außenminister - Herr Kinkel, dabei bin ich mit Ihnen einer Meinung - darf nicht nur, sondern muß jetzt nach Peking reisen. Er muß diese Reise unternehmen, um die ihn der Dalai-Lama dringend bittet und um die ihn die anderen europäischen Kollegen dringend bitten sollten, damit er dort einhellige Grundpositionen der Europäer zum wiederholten Male sehr deutlich vortragen kann. China darf es nicht gelingen, die Wachsamkeit der Europäer für die gezielte Zerstörung der tibetischen Kultur zu beseitigen.
Das zeigt die heutige Debatte: China wird es nicht gelingen, unsere Augen gegenüber Tibet so zu verschließen, wie es seine eigenen Augen gegenüber den Rechten der Menschen verschließt.
Petra Kelly und viele andere Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, wir haben in den 80er Jahren immer wieder auf die Lage in Tibet hingewiesen. Ich erinnere an die große, damals von ihr angeregte Anhörung im April 1989, wenige Monate vor dem Mauerbruch.
Freimut Duve
Ich zitiere aus einem Brief des damaligen chinesischen Botschafters an Petra Kelly vom 3. April 1989:
Alle Tibet betreffenden Angelegenheiten sind innere Angelegenheiten. Keiner ausländischen Regierung, Organisation oder keinem Individuum steht das Recht zu, sich darin einzumischen.
Ähnlich hat sich der Pressesprecher des chinesischen Außenministeriums auch heute geäußert.
Da müssen wir einmal dem Mitglied des Sicherheitsrates China etwas sagen. Das stimmt völkerrechtlich nicht. Wer im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sitzt, sollte wissen, daß mit seinem Dortsein ein Teil der angenommenen Souveränitätsrechte in bezug auf Menschenrechte, auf Minderheitenschutz, auf das Behandeln der eigenen Bürger nicht mehr wie im 19. Jahrhundert gelten. Das gilt nicht mehr.
Auch die Souveränität Chinas hat ihre Grenzen. Es gibt eine Einmischungspflicht und ein Einmischungsrecht in Fragen des Behandelns von Menschen, auch wenn es die Bürger eines anderen Staates sind,
zumal wenn sich diese Bürger hilferufend an uns wenden.
Diese Definition der Souveränität des chinesischen Staates - ich wiederhole, Mitglied des Sicherheitsrates - ist grundfalsch, und wir dürfen diese Definition der Souveränität uns selbst nicht zubilligen, aber auch keinem anderen Staat, der glaubt, in den Vereinten Nationen aktiv mitwirken zu sollen, zumal keinem Staat, der bestimmte Menschenrechtskonventionen unterschrieben hat.
Wir haben immer wieder mit dem Dalai-Lama Meinungen ausgetauscht. Wer sich je mit Sprechern unterdrückter Gruppen oder Völker unterhalten hat, der wird durch den Dialog mit dem Dalai-Lama beeindruckt. Mir ist selten ein klügerer Realist begegnet als dieser geistige und kulturelle Sprecher seines Volkes.
Es geht ihm nicht um die Herstellung eines souveränen Staates, sondern es geht ihm um die Wiederherstellung einer souveränen Kultur. Es geht ihm nicht um die völlige politische Ablösung vom chinesischen Staatsgebilde, sondern es geht ihm um die völlige Ablösung der in seinem Land operierenden chinesischen Unterdrücker, und das ist etwas anderes. Es geht ihm nicht um die Rückkehr aller chinesischen Neusiedler, sondern es geht ihm um die Rückkehr zu einer Kultur des friedlichen Zusammenlebens, die die tibetischen Bürger nicht länger zu Entrechteten macht.
Der chinesische Kommunismus hat im Kalten Krieg weltweit Bewegungen gegen den Kolonialismus unterstützt, sich als Bollwerk gegen den Kolonialismus dargestellt, und jetzt praktizieren seine Beamten und eingeschleusten Siedler die exakte Kopie des Siedlungskolonialismus, den seine Staatsgründer früher so vehement bekämpft hatten.
Natürlich war Tibet keine Demokratie, und natürlich war die Lage der Menschen unter der Mönchsherrschaft keineswegs die ideale Inkarnation westlicher Menschenrechte, und natürlich hatten sich einige der Mönchsgruppen durch dieses Jahrhundert hindurch gegen jede Reform entschieden zur Wehr gesetzt.
Aber der 13. Dalai-Lama, der Vorgänger des jetzigen, hatte innere Reformen versucht und hatte die Todesstrafe abgeschafft. Er hatte sich in den 20er Jahren, 1921, darum bemüht, das Bildungsmonopol der Klöster zu brechen. Er errichtete damals eine Modellschule, die sich an westlichen Maßstäben orientierte, die sich den Naturwissenschaften und den europäischen Kulturen öffnete. Sie wurde damals unter dem Druck der konservativen Mönchseliten wieder geschlossen.
Auch der jetzige Dalai-Lama hat in der kurzen ihm damals verbliebenen Zeit versucht, sich vehement für die Wiederaufnahme der Reformen seines Vorgängers einzusetzen. Waren es in den 20er Jahren die Mönche, die die Reformen des Dalai-Lama bremsten, so wurde 1951 die chinesische Armee nach ihrem Einmarsch in Lhasa am 7. Oktober der Bremser. Sie trieb die Reformer außer Landes.
Der Kollege von der PDS ist jetzt nicht mehr da, aber wenn Sie ihm das ausrichten wollen: Der ungeheure Schwachsinn, den er hier eben erzählt hat, die totale Unkenntnis der chinesisch-tibetischen Geschichte des 20. Jahrhunderts spottet für einen jungen Abgeordneten des Deutschen Bundestages jeder Beschreibung,
weil er in einer Maßlosigkeit chinesische Presseagentur zitiert, chinesische historische Werke und Fußnoten zitiert, wie ich es in dieser präzisen kopiehaften Form lange nicht gehört habe. Es tut mir furchtbar leid, daß ausgerechnet ein netter junger Mann hier einen Blödsinn erzählt.
Da müssen Sie als Ältere ihn einfach mal an die Kandare nehmen und sagen: So einen Quatsch kannst Du nicht erzählen -
Freimut Duve
falls Sie meiner Meinung sind und sich historisch einmal kundig machen, daß es Quatsch war.
Ich will zum Schluß noch einen Gedanken sagen. Wir alle - Lambsdorff hat das erwähnt - sind natürlich ein bißchen irritiert, daß Perestroika in China ohne Glasnost, mit einem radikalen Bekämpfen der Glasnostlinie ökonomisch anscheinend relativ erfolgreich ist und daß umgekehrt eine Glasnostsituation in Moskau mit einer problematischen Perestroika nicht unbedingt parallele Erfolge hat. Wir müssen vielleicht offener über diese Fragen diskutieren.
Trotzdem muß man auch den Chinesen, die sich nicht an die Brust, aber sozusagen an die großen Wolkenkratzer in Shanghai und an die Neubauten klopfen und sagen: „Guckt mal, hier entsteht unser sinologisches New York!", entgegnen: „Leute, ihr fahrt an die Wand, wenn ihr auf die wichtigsten Korrektive verzichtet, ohne die es eine wirkliche Entwicklung auf Dauer nicht geben kann. "
Große wirtschaftliche Entscheidungen brauchen auch eine öffentliche Diskussion. Das kann nicht ein Funktionär, das können auch nicht zwei Funktionäre in der Zentrale oder in dieser riesigen Vorturnhalle, dem chinesischen Parlamentsgebäude, entscheiden, sondern sie brauchen eine öffentliche Debatte auch über den Weg, den China geht.
Große ökologische Beschädigungen zum Beispiel brauchen den korrigierenden parlamentarischen Disput. Man muß nicht denken, weil man das jetzt so nachahmt, kann man ohne Glasnost existieren und sagen: Guckt mal, wie toll wir das mit der chinesischen Kultur hinkriegen.
Nein, auch China braucht, wenn es ökonomisch diesen westlichen Weg gehen will, Elemente des Korrigierens, der Fähigkeit und der Kraft zu korrigieren, auch und vor allem in der Menschenrechtsfrage.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Abgeordnete Schwaetzer das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Der Kollege Tippach hat in seinem Beitrag gerade klargemacht, daß es richtig war, die PDS nicht einzuladen, mit uns gemeinsam diesen Antrag zu formulieren.
Der Kollege Poppe hat mich gefragt, ob ich nach wie vor zum Inhalt dieses Antrages stehe. Selbstverständlich, und die gesamte F.D.P.-Fraktion tut das auch. Es ist richtig und wichtig gewesen, daß wir diesen Antrag formuliert haben, denn damit werden wir nach der Abstimmung heute eine klare Grundlage auch für die Zukunftsorientierung dieses wichtigen Teiles der Menschenrechtspolitik und der ChinaPolitik des Bundestages und der Bundesregierung haben.
In dem innenpolitischen Streit, den es jetzt in der Tat gegeben hat, geht es nicht um den Inhalt der Entschließung, sondern es geht um ein Stück Vergangenheitsbewältigung, und es geht um Zukunftsorientierung, nämlich darum, ob wir die Erwartung haben, daß der Beschluß dann auch umgesetzt wird.
Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß ich der Bundesregierung in dieser Frage voll vertraue. Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß das Bundeskanzleramt in dieser Debatte auch vertreten gewesen wäre.
Der Herr Bundeskanzler ist da!
Sehr gut! Das begrüße ich natürlich ganz besonders.
Bedauerlicherweise hat er sich nicht vorher bei mir gemeldet. Das war auch nicht zu erwarten.
Meine Damen und Herren, Wirtschaftsinteressen zu vertreten ist nicht nur legitim, sondern ich betrachte das wirklich als Selbstverständlichkeit. Aber sich darauf einzulassen, einen Gegensatz zwischen der Vertretung klarer Menschenrechtspositionen und Wirtschaftsinteressen zu konstruieren, ist der absolute Irrweg.
Das ist eine Scheinalternative, die wir überwinden müssen; denn das Beispiel anderer Staaten zeigt: Beides kann angemessen und auch mit angemessenem Erfolg sowohl für die Betroffenen als auch für die Wirtschaft einer Industrienation vertreten werden.
Natürlich bedarf es der stillen Diplomatie. Aber manchmal beeindruckt eben Diktaturen nur ein offenes Wort. Ich denke, das zeigt die Reaktion auf die Rede von Außenminister Kinkel in Genf bei der Menschenrechtskonferenz, die ja von uns allen nachdrücklich begrüßt worden ist. Deswegen muß das auch in Peking so der Fall sein.
Wir müssen auch dem offiziellen China immer wieder sagen, daß es keine Einmischung in innere Angelegenheiten eines Staates ist, wenn Menschenrechte eingefordert werden, sondern daß dies eine Selbstverständlichkeit und ein Auftrag für alle Demokraten weltweit ist.
Dr. Irmgard Schwaetzer
Wir machen mit der Abstimmung heute klar, daß wir uns Pressionen nicht beugen. Es darf China nicht gelingen, Tibet von der Tagesordnung der Weltpolitik herunterzuholen.
Die Chinesen streben ganz eindeutig an, die Tibet-Frage auf ihre Weise zu erledigen, und sie fühlten sich von dem einen oder anderen vielleicht zu der Annahme ermutigt, daß das ohne größere Proteste über die Bühne gehen könnte.
Heute wird klargemacht, daß dies keinen Erfolg haben wird, und ich begrüße das nachdrücklich.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Krautscheid.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen des Hauses freue ich mich, daß wir nach Monaten intensiver und teilweise auch schwieriger Vorarbeiten heute endlich diese Debatte führen können und die Tibet-Resolution verabschieden werden. Nebenbei bemerkt: Diese heutige Debatte ist sicherlich in erster Linie wegen der Situation der Menschenrechte in Tibet wichtig. Aber gestatten Sie mir, nach den letzten Tagen auch zu sagen: Daß diese Debatte heute so stattfinden kann, ist auch ein gutes Zeichen des Selbstverständnisses und des Selbstbewußtseins unseres Parlamentes.
Es gab und gibt eine Reihe von Bedenken und Einwendungen gegen den Text dieser Resolution. Sie ist ein Kompromiß zwischen allen Fraktionen, deren Berichterstattern ich an dieser Stelle für die sehr kollegiale Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Textes danken möchte. Wie bei jedem Kompromiß bleibt auch hier für manche der Text hinter dem Wünschenswerten zurück, und andere mußten über das aus ihrer Sicht unbedingt Notwendige hinausgehen. Daß alle Fraktionen dieses Hauses heute hinter dieser Resolution stehen, verleiht ihr besonderes Gewicht und Tragfähigkeit; denn mit kleinkariertem oder gar parteipolitisch motiviertem innenpolitischen Streit erweisen wir unserem eigentlichen Anliegen einen Bärendienst.
Ein erster Einwand gegen diese heutige Debatte läßt sich vorab sehr schnell ausräumen. Weder die Tibet-Resolution noch die heutige Debatte selbst stellt eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas dar.
Spätestens seit dem Schlußdokument der großen UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien ist völkerrechtlich festgeschrieben, daß „die Förderung und die Wahrung der Menschenrechte ein legitimes Anliegen der internationalen Gemeinschaft ist". Dies ist natürlich im Einzelfall für jedes Land unangenehm, und es stellt auch einen allerdings völkerrechtlich legitimierten Eingriff in dessen Souveränität dar.
Diese Vereinbarung, wechselseitig die Kritik anderer Länder zu akzeptieren, ist von der Volksrepublik China 1993 unterschrieben worden, und daran muß sie sich halten.
Damit ist aber auch klar: Es ist nicht nur das Recht, sondern nach unserem Selbstverständnis sogar die Verpflichtung des Deutschen Bundestages wie der Bundesregierung, sich für die Wahrung der Menschenrechte in anderen Ländern einzusetzen. Dieses Recht läßt sich das Parlament von niemandem absprechen.
Ein weiterer Einwand ist von verschiedenen Seiten gegen die vermeintliche „völkerrechtliche Neubewertung" in einzelnen Passagen unserer Resolution vorgebracht worden. Um es ganz deutlich zu sagen: Der heutige Beschluß bezieht keine neue völkerrechtliche Position hinsichtlich des Status von Tibet. Wir verweisen lediglich auf die Tatsache, daß in der Bundestagsanhörung vom 19. Juni 1995 unter den eingeladenen Fachleuten die Frage der Zugehörigkeit Tibets zum chinesischen Staatsverband umstritten war. Die dort geäußerten unterschiedlichen Argumente machen wir uns aber nicht zu eigen. Insbesondere akzeptieren wir, daß die Bundesregierung hierzu im Einvernehmen mit allen anderen Staaten eine klare völkerrechtliche Position einnimmt.
Ich persönlich halte die Diskussion über diesen Aspekt ohnehin für reichlich fruchtlos. Man kann hiermit akademische Seminare oder nationalistische Eiferer tagelang beschäftigen, aber die tatsächliche Lage der Menschen in Tibet wird sich hierdurch nicht verbessern.
Und weil wir den Anspruch Pekings auf die Integrität seines Territoriums respektieren, halte ich es für um so wichtiger, daß der Dalai-Lama am letzten Wochenende erneut klargemacht hat, daß im Zentrum seiner Bemühungen nicht zuvorderst völkerrechtliche Fragen, sondern das Recht auf kulturelle und religiöse Selbstbestimmung steht. Auch zu dieser Textpassage in unserer Resolution gilt: Die Forderung nach politischer Selbstbestimmung beinhaltet nach einhelliger Auffassung aller Fachleute niemals das Recht auf Sezession, und deshalb war die Aufregung auch in dieser Hinsicht reichlich überflüssig.
Ein letzter Punkt der Kritik am Text der Resolution bezieht sich auf die Erwähnung der sogenannten.
Andreas Krautscheid
tibetischen Exilregierung. Am Rande sei bemerkt, daß diese Formulierung in der fünfmonatigen Vorbereitungsphase nie beanstandet und erst in der letzten Woche gerügt worden ist. Aber auch hierfür gilt: Es ging und es geht den Verfassern der Resolution einzig und allein darum, auszudrücken, daß wir von der chinesischen Regierung die Wiederaufnahme des Dialogs mit dem Dalai-Lama und seinen Mitarbeitern erwarten. Es handelt sich also um die Beschreibung eines Gesprächspartners, der sich selbst als „tibetische Exilregierung" bezeichnet, nicht um dessen völkerrechtliche Anerkennung.
Nach alledem kann nach meiner Auffassung festgestellt werden, daß der vorliegende Text keine neue völkerrechtliche Position bezieht, sondern sich in vollem Umfang auf der Grundlage der bisherigen Bundestagsbeschlüsse und der Position der Bundesregierung bewegt.
Meine Damen und Herren, man kann über die Lage der Menschen in Tibet nicht diskutieren, ohne unser Verhältnis zur Volksrepublik China anzusprechen. Es ist gut und wichtig, daß in der bisherigen Debatte die große politische Bedeutung des Landes gewürdigt worden ist. Es kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß die Bundesrepublik Deutschland größtes Interesse an einem guten Verhältnis zum drittgrößten und bevölkerungsreichsten Land der Erde hat, einem ständigen Mitglied im Sicherheitsrat, einer Nuklearmacht, die auch als Wirtschaftsfaktor stetig an Bedeutung gewinnt. China befindet sich in einer schwierigen Übergangssituation. Wir wissen, daß nur mit einem friedlichen und stabilen China die regionale Sicherheit in Asien gewährleistet werden kann.
Die besondere Schwierigkeit für uns besteht darin, in diesen Kontext unser Eintreten für Menschenrechte einzubetten. Es gehört zu den Aufgaben der Bundesregierung, aber auch zu denen des Parlamentes, ein offensichtlich bestehendes Mißverständnis auszuräumen. Für chinesische Gesprächspartner scheint unser Wunsch nach guten Beziehungen oft unvereinbar zu sein mit dem Ansprechen von Menschenrechtsverletzungen. Wir müssen hier unmißverständlich klarmachen, daß nach unserem Verständnis zu einem guten Verhältnis immer auch ein Dialog über Menschenrechte gehört.
Dabei akzeptieren wir, daß unsere Gesprächspartner mit Recht auf eine unterschiedliche Geschichte, andere Traditionen und einen eventuell noch bestehenden Entwicklungsrückstand verweisen. Jedes Land muß unter seinen spezifischen Umständen den Weg zur Demokratie finden. Aber dabei hat die Verwirklichung von individuellen Rechten, wie zum Beispiel der Meinungsfreiheit, demokratischer Mitbestimmung und kultureller Eigenständigkeit, gleichrangig betrieben zu werden.
In diesem Zusammenhang besteht aus meiner Sicht - Herr Duve hat das schon völlig richtig dargestellt - auch kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem Erstreben besserer wirtschaftlicher Kontakte und dem Eintreten für Menschenrechte. Man darf nur nicht das eine tun und das andere lassen. Beides gehört für uns zusammen.
Meine Damen und Herren, wir sollten von dieser Debatte auch nicht das Mißverständnis ausstrahlen lassen, das Thema Tibet sei, nachdem wir diese Resolution verabschiedet haben, quasi durch. Wir bringen hier nicht eine unangenehme Debatte möglichst schnell hinter uns, und das Thema Tibet wandert heute nicht bis auf weiteres in die Ablage. Wie lange und wie intensiv wir uns mit diesem Thema beschäftigen müssen, hierauf hat die chinesische Regierung selbst die größten Einflußmöglichkeiten.
Deshalb ist für uns eines klar: Solange die Meinungs- und Bewegungsfreiheit in Tibet eingeschränkt ist, solange die religiöse Betätigungsfreiheit massiv behindert wird - etwa durch das Verbot allein des Besitzes von Fotos des Dalai-Lama -, solange Klöster geschlossen oder sogar zerstört werden und solange den Tibetern gleiche Entwicklungs- und Ausbildungschancen verwehrt bleiben, so lange wird sich der Bundestag auch in Zukunft mit diesem Thema beschäftigen müssen.
Meine Damen und Herren, diese Resolution fordert die Bundesregierung auf, die dort angesprochenen Themen gegenüber der chinesischen Regierung zur Sprache zu bringen, den Dialog mit diesem Land zu fördern und auf allen politischen Ebenen zu verbreitern. Denn nicht durch Isolierung und Pression, sondern nur durch das gemeinsame Gespräch werden wir wirklich etwas zum Vorteil für die Menschen in Tibet ändern können.
Ich danke Ihnen.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Die Beziehungen zum größten Land der Erde, die Zusammenhänge zwischen Menschenrechten und Wirtschaftsbeziehungen sind eine sehr wichtige Sache. Wir haben heute nicht die Zeit, es zu vertiefen, aber nach wie vor bleibt richtig, daß zumindest langfristig die marktwirtschaftliche Öffnung eines Landes auch zu politischen Veränderungen führt.
Selten hat sich ein Kabinettsmitglied so persönlich und vehement wie Klaus Kinkel für individuelle
Dr. Helmut Haussmann
Schicksale engagiert. Er braucht hier wirklich keine Nachhilfestunde.
Es ist auch nicht von schlechterer moralischer Qualität, wenn sich der deutsche Außenminister um Arbeitsplätze in der deutschen Exportindustrie kümmert. Wer je die Gelegenheit hatte, mit sozialdemokratischen Ministerpräsidenten nach China oder in andere Länder zu reisen, der kann hier keinen Unterschied erkennen. Es verhält sich eher umgekehrt.
- Diese Zweiteilung, Herr Verheugen, die wir schon in der letzten China-Debatte hatten - die Guten treten für Menschenrechte, die Schlechten für wirtschaftliche Beziehungen ein -, wird diesem ernsten Problem nicht gerecht.
Heute geht es um eine Entscheidung, die Tibet betrifft. Ich kann für die F.D.P. feststellen: Seitdem sich der Deutsche Bundestag mit Tibet beschäftigt,
herrscht Einigkeit darüber, Herr Duve, daß Menschenrechtsverletzungen in Tibet durch die chinesische Regierung nicht hinnehmbar sind und daß aus der historischen Situation Tibets der klare Anspruch auf Autonomie erwächst. Tibet hat in seiner gesamten Geschichte eine eigene ethnische, kulturelle und religiöse Identität bewahrt. Daß es nicht um die staatliche Unabhängigkeit Tibets geht, hat der DalaiLama selbst mehrfach bekräftigt.
Unsere Forderungen an die Volksrepublik China sind klar: Sie muß die weltweit anerkannten Menschenrechte achten, die Menschenrechtsverletzungen gegen Tibeter beenden und mit dem Dalai-Lama in einen konstruktiven Dialog über mehr Rechte für das tibetische Volk eintreten.
Die F.D.P.-Fraktion begrüßt, daß der Bundesminister des Auswärtigen gegenüber der chinesischen Regierung die Achtung der Menschenrechte bei vielen Gelegenheiten angemahnt hat, zuletzt bei der Menschenrechtskommission in Genf. Dies ist ein sehr wirksames Mittel, wie die Freilassung und Ausreise zahlreicher Dissidenten aus China bewiesen hat.
Über die Aufgaben eines Außenministers darf es jedoch kein Mißverständnis geben. Ihm ist die Wahrung aller deutschen Interessen in der Außenpolitik anvertraut. Dies gilt genauso auch gegenüber China. Zu diesen Interessen zählen aber nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Interessen, wie auch der Anspruch, Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Interessen und Werte bilden keinen Gegensatz. Ihre Durchsetzung kann aber nur in direkter Begegnung und im Dialog erreicht werden. Deshalb ist die geplante Reise von Klaus Kinkel nach China so wichtig. Sie muß dazu genutzt werden, die unerträglichen Versuche der chinesischen Regierung in jüngster Zeit, auf die Durchführung von Veranstaltungen in Deutschland Einfluß zu nehmen, sowie die Schließung des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in Peking unmißverständlich zu verurteilen.
Über strittige Fragen muß auch und gerade mit China offen gesprochen werden. Hierzu gehört vor allem das Verständnis von Menschenrechten. Ihre Geltung ist aus liberaler Sicht universal. Dazu bekennen wir uns. Ein entscheidender Beitrag ist der vorliegende gemeinsame Antrag.
Die gesamte F.D.P.-Bundestagsfraktion, gerade auch der Außenminister, werden diesem Antrag zustimmen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nach den Bemerkungen, die der Bundesaußenminister und der Kollege Haussmann über den Zusammenhang von Außenwirtschaft und Menschenrechten gemacht haben, doch gerne noch etwas klarstellen.
Erstens. Niemand in diesem Haus hat jemals kritisiert, daß es einen intensiven politischen Dialog mit der Volksrepublik China gibt. Ganz im Gegenteil, dieser intensive Dialog ist notwendig. Ich bin auch sehr dankbar, daß der Bundesaußenminister das Wort Dialog heute ohne ein Beiwort verwendet hat.
Zweitens. Niemals hat jemand kritisiert, daß wir Handelsbeziehungen zur Volksrepublik China haben wollen. Ich gehe noch nicht einmal so weit wie Graf Lambsdorff, der sagt: Wir machen das, weil wir glauben, daß der Handel Wandel herbeiführt. - Das ist nicht überall der Fall.
Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das, wie es der Außenminister richtig dargestellt hat, so exportorientiert ist, bedarf für seinen Außenhandel keiner besonderen Rechtfertigung. Wir leben davon, daß wir mit anderen Ländern auf der Welt Handel treiben. Das ist vollkommen in Ordnung. Das hat niemals jemand kritisiert.
Das bedeutet aber doch nicht, daß wir im Umgang mit Staaten, mit denen wir reden und Handel treiben, nicht offen und ehrlich sagen können, was wir politisch von ihnen erwarten. Ich verstehe gar nicht, warum immer dieser Zusammenhang hergestellt wird.
Herr Kinkel, ich muß Ihnen sagen: Ihre Rede hat mich ein wenig bedenklich gestimmt. Sie haben so
Günter Verheugen
viele Formeln gebraucht, so viele Einschränkungen gemacht und so oft „zwar - aber" gesagt, daß ich mir nicht ganz sicher bin, ob Sie verstanden haben, was der Deutsche Bundestag mit dem, was er gleich beschließen wird, tatsächlich erreichen will.
Der Deutsche Bundestag will erreichen, daß der Volksrepublik China gegenüber unmißverständlich deutlich gemacht wird, daß wir nicht bereit sind, über das, was in Tibet geschieht, hinwegzusehen. Der Deutsche Bundestag erwartet von Ihnen nicht, daß Sie weitermachen wie bisher. Ich habe Ihre Rede so verstanden, daß Sie gesagt haben: Wir machen das ja; wir reden schon mit denen. In der Entschließung, die wir gleich verabschieden wollen, steht vielmehr, daß wir Sie bitten, sich verstärkt für die Einhaltung der Menschenrechte in Tibet einzusetzen. Die Betonung liegt für mich auf dem Wort „verstärkt". Wir erwarten, daß Sie mehr tun, als bisher geschehen ist.
Ich möchte Ihnen gerne drei ganz konkrete Bitten mit auf den Weg geben. Ich weiß, daß Ihr Gepäck für die Reise nach Peking ohnehin nicht leicht ist, und beneide Sie nicht darum, dies machen zu müssen. Sie haben den Job aber ganz offensichtlich gewollt. Das gehört dann wohl dazu.
Zum ersten. Es ist darauf hingewiesen worden, daß Kolleginnen und Kollegen aus dem Unterausschuß für Menschenrechte des Deutschen Bundestages, die sich an Ort und Stelle ein Bild machen wollten, die Einreise verweigert worden ist. Bitte, Herr Bundesaußenminister, machen Sie Ihren chinesischen Partnern ganz klar, daß das nicht nur eine Einreiseverweigerung gegenüber einer kleinen Gruppe, gar einer unbeachtlichen Minderheit des Deutschen Bundestages ist, sondern daß sich davon der gesamte Deutsche Bundestag betroffen fühlt
und daß wir wünschen, daß diese Reise stattfinden kann.
Zum zweiten. Graf Lambsdorff, verzeihen Sie mir: Ich will hier nicht der Interessenvertreter der Friedrich-Naumann-Stiftung sein,
der ich mich, wie Sie wissen, aus vielerlei Gründen eng verbunden fühle. Ich hätte aber eigentlich doch erwartet, daß Sie und der Kollege Haussmann etwas weiter gehen würden, als nur zu sagen: Man soll den Chinesen sagen, das gefällt uns nicht. Ich bin schon der Meinung, daß wir klar sagen sollten: Wir können es nicht hinnehmen, daß eine deutsche Stiftung ihr Büro schließen muß, weil sie eine Politik vertritt, die der Deutsche Bundestag für richtig hält. Fordern Sie die Chinesen auf, das Büro der Friedrich-NaumannStiftung in Peking wieder zu eröffnen!
Ich vermute, Sie haben es nur vergessen.
Zum dritten - das ist das Entscheidende, Herr Bundesaußenminister -: Die Volksrepublik China nimmt für sich eine Politik und Rechte in Anspruch, die sie anderen nicht zugesteht. Ich will an die Art und Weise erinnern - das ist schon mehrfach gesagt worden -, wie sich der chinesische Botschafter in die Entscheidungsprozesse des Bundestages eingemischt hat. Ich will auch an die Art und Weise erinnern, wie hochrangige chinesische Besucher in der Bundesrepublik Deutschland reagiert haben, als sie mit dem selbstverständlichen Recht der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes konfrontiert wurden, unter Inanspruchnahme des Demonstrationsrechts auch Gästen gegenüber ihre Meinung zu äußern.
Ich will auch an die Verhaltensweise der chinesischen Regierung gegenüber dem französischen Ministerpräsidenten im Zusammenhang mit einem Geschäft erinnern.
Machen Sie bitte den chinesischen Partnern unzweideutig klar, daß die Bundesrepublik Deutschland auch von dem großen China nicht erpreßbar ist, in keiner Weise erpreßbar.
Wir haben ganz gewiß unsere Gründe, manchmal nicht allzu lautstark aufzutreten. Ich bin immer dafür, nicht allzu laut zu sein. Aber wir haben auch Gründe, warum wir klar und deutlich sein müssen, wenn auf der Welt Dinge geschehen, die gerade uns als Deutsche besonders bewegen müssen. Aus unserer eigenen Erfahrung heraus kann es nicht angehen, daß wir in Menschenrechtsfragen mit unterschiedlichen Maßstäben messen, und es kann nicht angehen, daß wir kleinen und scheinbar unbedeutenden Ländern gegenüber die Muskeln zeigen und dem großen und starken China gegenüber eine Politik betreiben, die nur als Ermutigung zum Weitermachen aufgefaßt werden kann.
Das sind die Bitten, Herr Bundesaußenminister, die ich Ihnen in allem Ernst mit auf die Reise geben möchte.
Ich erteile dem Abgeordneten Otto Graf Lambsdorff das Wort zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Verheugen, ich bin überhaupt nicht erzürnt darüber. Im Gegenteil, ich bin erfreut darüber, daß Sie mir helfen, die Interessen der
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Naumann-Stiftung wahrzunehmen. Die politischen Stiftungen arbeiten alle gut zusammen. Wir alle sitzen heute um 20 Uhr mit den Haushältern zusammen und reden über den Haushalt des nächsten Jahres. - Frau Albowitz stöhnt schon. Ich verstehe das.
Wir haben alle miteinander kein Konkurrenzverhältnis. Das gilt für die Ebert-Stiftung, bei der ich dank Ihrer freundlichen Einladung häufig zu Gast sein kann und in der letzten Zeit wirklich zu Herzen gehende marktwirtschaftliche Vorträge gehört habe.
- Es waren Gordon Brown und Tony Blair. Sie können sich das vorstellen.
Herr Verheugen, ich habe zu diesen Dingen in den letzten Tagen häufig genug Stellung genommen. Ich wollte die wenigen Minuten Redezeit, die ich habe, nicht so sehr der Naumann-Stiftung, sondern der Bundestagsresolution und der Gesamtsituation widmen.
Ich halte die Reaktion der chinesischen Regierung in der Tat für völlig unangemessen, und zwar einmal deshalb, weil die Vorwürfe total ungerechtfertigt sind.
Herr Neumann, Sie haben das selber gesagt; vielen Dank. Es kann keine Rede davon sein, daß wir in irgendeiner Weise für separatistische Bestrebungen eintreten. Wir haben das nie getan. Wir haben nie die staatliche Integrität der Volksrepublik China in Frage gestellt, auch was Tibet anlangt nicht, sondern wir haben uns auf die Menschenrechte konzentriert.
Ich muß mich - erlauben Sie mir diese vielleicht etwas unpassende Bemerkung - inzwischen dagegen wehren, daß wir in den Verdacht geraten, eine buddhistische Stiftung geworden zu sein. Wir sind nach wie vor eine liberale Stiftung.
Zum zweiten ist die chinesische Reaktion unangemessen, weil die Naumann-Stiftung, die dort seit zehn Jahren arbeitet - und das betrifft auch die Leistung des Leiters der Vertretung -, „nach der Ford Foundation" - ich zitiere die „Neue Zürcher Zeitung" - „die angesehenste Einrichtung dieser Art in China" ist. 1 Million DM jährlich sind dort ausgegeben worden.
Ich verstehe nicht, warum sich die chinesische Regierung auf diese Weise selbst ins Knie schießt, indem sie dieser vernünftigen Arbeit ein Ende bereitet und durch die Schließung des Büros ihre Fortsetzung unmöglich macht.
Ich sehe davon ab, Ihnen in der Forderung zu folgen, den Bundesaußenminister mit der Bitte nach Peking reisen zu lassen, dort zu verlangen, daß das Büro morgen wieder eröffnet werden darf. Sie wissen, Gesichtsverlust und Gesichtswahrung spielen in diesem Teil der Welt eine große Rolle. Aber ich vertraue darauf, daß dann, wenn sich der Pulverdampf und die Schwaden dieser Diskussion etwas verzogen haben und man wieder etwas mehr zu beruhigter Einsicht kommt, auch die Naumann-Stiftung ihre Arbeit dort wiederaufnehmen kann.
Wir werden uns überlegen, ob wir sie irgendwo in dieser Region, möglichst nicht zu weit entfernt von Peking, wenigstens halbwegs fortsetzen können.
- Sie haben es gesagt. Aber wie lange geht es dann
dort?
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Schwarz-Schilling.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir haben heute eine Debatte über eines der schwierigsten Probleme, nämlich über das Problem der Menschenrechte im globalen Sinn, zu der wir uns alle beglückwünschen können - bis auf eine Ausnahme, die ich hier nicht weiter erwähnen möchte.
Diese Debatte zeigt, daß wir auch in der Lage sind, in unterschiedlichen Parteien die universellen Maßstäbe von Menschenrechten nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu artikulieren.
Dafür bin ich unendlich dankbar, weil wir so etwas nicht oft antreffen.
Ich möchte zum zweiten folgendes sagen: Ich glaube, wir sind uns alle darin einig, daß Menschenrechte keine Unparteilichkeit vertragen. Da muß man Partei nehmen, einfach aus dem Grunde, weil die Geschichte gezeigt hat: Dort, wo dies nicht geschieht, fällt man zurück in Zustände, die nichts mehr mit Menschenrechten zu tun haben. Das 20. Jahrhundert in Deutschland und in Europa ist in vielen Bereichen ein Beispiel, aus dem wir lernen müssen.
Die angebliche Einmischung, von der hier gesprochen wird, ist nichts anderes, als daß wir das, was wir als Errungenschaften der Menschheitsgeschichte Gott sei Dank hier und da feststellen können, erhalten wollen, wo es ist, und dort, wo noch der Kampf darum tobt, auf sehr zivile Weise einen gewissen Beitrag dazu leisten, daß diese Menschenrechte allgemeingültig werden.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute das Thema Tibet behandeln, ist natürlich die Frage zu stellen: Wer steht hier auf welchem Niveau? Lesen Sie einmal, was am 15. Juni von der „Tibet Daily" vom 9. Fünfzehnjahresplan der Regierung der Region Tibet in Peking über die Region Tibet für die
Dr. Christian Schwarz-Schilling
nächsten fünfzehn Jahre veröffentlicht worden ist. Ich zitiere:
Wir müssen die Kritik am Dalai-Lama ausweiten und vertiefen und ihn öffentlich bloßstellen und dabei seinen Mantel eines religiösen Führers herunterreißen. Wir müssen sicherstellen, daß die breiten Volksmassen deutlich verstehen, daß das, was er mit seiner sogenannten Unabhängigkeit/ Autonomie auf hoher Ebene anstrebt, in Wirklichkeit eine Opposition gegen die kommunistische Partei darstellt.
Meine Damen und Herren, da kommen wir auf des Pudels Kern. Hier sind noch Steinzeitkommunisten am Werk, wie sie im übrigen China in weiten Bereichen nicht mehr anzutreffen sind, die belehrend eine andere Kultur daran messen, um wieviel Prozent die Produktion der Landwirtschaft und der Industrie gesteigert wurde, und die überhaupt nicht ahnen, welche Höhe der Kultur es auf diesem „Dach der Welt" in Jahrhunderten gegeben hat und was vielleicht auch die Gebete tibetischer Mönche für das Schicksal dieser Welt bedeuten.
Wenn Sie den Dalai-Lama sehen und mit ihm sprechen, diese Bescheidenheit, diese Ausstrahlungskraft - nein, so sieht kein Mönch aus - wir haben in Europa manche Mönche gehabt, die haßerfüllt und fanatisch Politik betrieben haben -, so sieht kein Religionsführer aus, dem man „die Maske abreißen muß". Da müssen sich die Gesprächspartner fragen, wie sie sich nach solchen Propagandaparolen selbst einzuschätzen haben.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist diese Entschließung wirklich eine Antwort des ganzen Deutschen Bundestages, um die Dinge zurechtzurücken und Forderungen an diejenigen zu stellen, die meines Erachtens nicht an der Spitze der Menschheit, sondern weit unterhalb marschieren und die noch viel zu lernen haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu der Frage Wirtschaft ein Wort sagen. Ich gehöre unter keinen Umständen zu denjenigen, die eine einzige Position vertreten und die die Vertretung der anderen Positionen anderen überlassen. Ich befinde mich in mehreren Funktionen inhaltlich auf beiden Seiten. Insofern ist es dann sehr schwer, weil sich ja dieser Kampf in einem selber abspielt. Man kann nicht sagen: Menschenrechte überlasse ich den anderen. Oder umgekehrt: Wirtschaft ist nicht mein Bier; das überlasse ich denen.
Ich möchte Ihnen sagen: Von der Idee her sind der Kampf und das deutliche Eintreten für Menschenrechte ein Muß für jeden Demokraten. Aber wenn man sich politisch betätigt, muß man sich natürlich auch fragen: Mit welchen Mitteln erreiche ich was? In der Politik ist eine erfolglose Kampagne vollkommen sinnlos. Zu glauben, daß sich dieses Land mit über 1 Milliarde Menschen, mit seiner Wirtschaftsmacht und der Kraft seines Marktes in wirtschaftlicher Hinsicht von unseren Fragestellungen auch nur einen Millimeter abhängig machen ließe, das ist eine Selbstüberschätzung, von der wir schleunigst Abschied nehmen sollten.
Ich habe mich schon damals, obwohl ich mich vehement gegen das, was auf dem Tiananmen-Platz passiert ist, gewandt habe, gegen eine Selbstblokkade ausgesprochen. Sie hat dazu geführt, daß wir in jener Zeit ungefähr 50 Prozent unserer Telekommunikationsaufträge verloren haben und daß uns damit entsprechende langfristige Infrastrukturaufträge auf Jahrzehnte verlorengingen. Was hatte unser Verhalten für einen Sinn? Die Franzosen, die Amerikaner und die Japaner waren sofort da. Man muß schon wissen, was man tut.
Mir fällt in diesem Zusammenhang doch noch dieser eine Kollege, Herr Tippach, ein; Sie sind jetzt wieder hier. Vielleicht ist das der eigentliche Punkt, nämlich daß Sie die gleiche Position vertreten wie damals Honecker, der die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz ja wunderbar gefunden hat. Ich finde, Sie sollten einmal nachdenken; die PDS müßte sich angesichts dessen, was in der Zwischenzeit geschehen ist, auch ein bißchen fortentwickeln.
Wir wollen den Dialog. Ich muß sagen, Herr Verheugen, daß ich Ihre diesbezüglichen Ausführungen wirklich nicht verstanden habe. Ich weiß nicht, ob ich eine andere Rede des Außenministers gehört habe. Der Außenminister hat mit aller Deutlichkeit festgestellt, daß er hinter dieser Resolution steht und daß Menschenrechtsfragen voll mit in seine Verantwortung fallen. Ich habe in der Funktion, die ich früher innehatte, einiges von den Beziehungen zu Peking mitbekommen. Da kann ich nur sagen: Durch großen Krach kann man in diesem Land nicht sehr viel erreichen. Vielmehr muß man an den Erfolg für den einzelnen Menschen denken. Es kommt also nicht darauf an, daß wir hier hurra rufen, weil etwas besonders laut gesagt worden ist; vielmehr sollten wir dann hurra rufen, wenn das eine oder andere durch diese Gespräche bewegt worden ist.
Der Dialog bleibt weiter wichtig. Man kann also schon die Behauptung aufstellen: Wenn man meint, Wirtschaft und Menschenrechte separieren zu können - die chinesische Regierung behauptet ja laufend, daß das gar nichts miteinander zu tun hat -, dann muß man es auch praktizieren. Die chinesische Regierung kann das natürlich nicht in der Art praktizieren, daß sie in Wirtschaftsdingen weiter gesprächsbereit ist und die Gesprächspartner für Menschenrechtsfragen auslädt. Das ist nicht die Form des Dialogs, wie wir ihn uns vorstellen. Das muß aber auch mit aller Deutlichkeit gesagt werden.
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Herr Außenminister, Sie haben sicherlich in Ihrem Tornister viele Dinge und Wünsche. Aber eines wäre mir schon ganz lieb: Wenn Sie herausfinden könnten, welch vernünftiger Gesprächspartner auf hoher Ebene in Peking für einen Dialog über Menschenrechte für die Delegation des Deutschen Bundestages in absehbarer Zeit zur Verfügung stünde.
Das wäre sicherlich für uns eine Freude. Wir wollen also nicht mit dem dritten Vertreter des Referates für Westeuropa solche Lappalien austauschen, wie sie in dem Fünfzehnjahresplan stehen. Vielmehr sollten wir auch ein philosophisches Gespräch über die Universalität der Menschenrechte und über die chinesische Kultur suchen. Es hat schon im 8. Jahrhundert große Religionsverfolgungen gegeben. Auf lange Sicht hat sich das in China alles applaniert. Ich bin der Meinung, daß das auch in bezug auf Tibet einmal der Fall sein wird.
Bloß, wir müssen dafür sorgen, daß in der Zwischenzeit nicht eine Kultur versinkt, eine der großartigsten, exklusivsten, von allen anderen Kulturen unterschiedenen Ausprägungen des menschlichen Geistes. Würde sie in unserer Zeit versinken, wäre das eine Schande für unsere Generation.
Wir müssen dafür kämpfen, daß das nicht eintritt.
Im übrigen darf ich zum Schluß sagen, daß von chinesischer Seite kein Vertreter diese Debatte verfolgt, daß aber für die tibetische Seite Professor Samdhong Rinpoche, der Vorsitzende des Parlaments im Exil, auf der Besuchertribüne sitzt. Ich kann verstehen, daß ihn interessiert, was der Deutsche Bundestag zu sagen hat. Ich freue mich, daß er es hören konnte.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache und erteile zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Abgeordneten Ulla Jelpke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde mit einigen Abgeordneten meiner Gruppe für diesen Antrag stimmen,
weil auch ich der Meinung bin, daß es dringend der Verurteilung der chinesischen Regierung in Sachen Menschenrechtsverletzungen in Tibet bedarf. Die Repressionspolitik ist meines Erachtens in diesem Antrag richtig beschrieben. Ich habe zu einzelnen
Punkten Differenzen, die ich jedoch meiner Zustimmung unterordnen kann.
Ich möchte sehr scharf betonen, daß ich die Kritik meines Kollegen Tippach in weiten Teilen teile, wenn es darum geht, wie in diesem Hause mit Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern umgegangen wird. Sie sind oft von Doppelmoral und Heuchelei begleitet. Ich wünsche mir Einheitlichkeit bei der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen auch dann, wenn es beispielsweise um den schmutzigen Krieg in der Türkei gegen das kurdische Volk geht.
Ich denke, wenn Sie mit Ihrer Menschenrechtspolitik, auch anderen Ländern gegenüber, anders umgehen, dann kann man vielleicht auch solche Anträge ernst nehmen.
Danke.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und der F.D.P. zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in Tibet auf Drucksache 13/ 4445. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen fast des ganzen Hauses bei einigen Enthaltungen aus der Gruppe der PDS und einer Einhaltung aus der CDU/ CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Karl-Hermann Haack , Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Arbeitswelt und Behindertenpolitik - Drucksachen 13/1333, 13/2441 -
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4972 und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4991 vor. Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4963 wurde zurückgezogen.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Haack.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Arbeitswelt und zur Behindertenpolitik in der Bundesrepublik. Ich möchte meinen Redebeitrag an drei Punkten orientieren: erstens an der Verfassungsdebatte zum Verbot der Diskriminierung von Behinderten in unserer Republik, zweitens an der Koalitionsverein-
Karl Hermann Haack
barung von CDU/CSU und F.D.P. zur Schaffung des Sozialgesetzbuchs IX und drittens an unserer Anfrage. Dann möchte ich eine Bewertung der Sparbeschlüsse der Bundesregierung hinsichtlich dieser drei Punkte vornehmen.
1994 hat sich der Deutsche Bundestag im Rahmen der Verfassungsreform fraktionsübergreifend darauf verständigt, den Katalog der Diskriminierungsverbote um ein neues Grundrecht für Behinderte zu erweitern. Der Antrag der SPD auf Ergänzung des Grundgesetzes in dem damaligen Gremium lautete: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. " Das prinzipielle Anliegen, die Behinderten zu integrieren, fand den Konsens aller politischen Gruppierungen des Bundestages. Dies wurde noch einmal unterstrichen, als der Herr Bundeskanzler anläßlich des 12. Bundesverbandstages -des VdK in Deutschland im Mai 1994 klar Position bezog und seine eigene unentschlossene Fraktion von der Notwendigkeit dieser Integration überzeugte.
Der zentrale Punkt in der damaligen wie heutigen Auseinandersetzung ist der Appell, das zu realisieren, was notwendig ist. Es ging und geht um die reale Konsequenz einer solchen Grundgesetzänderung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Behinderten. Im damaligen Rechtsausschuß waren sich alle einig, das Benachteiligungsverbot als Wertentscheidung und deren Ausstrahlung auf die gesamte Rechtsordnung darzustellen. Leider steht bei der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition noch bis heute der Appellcharakter im Vordergrund.
Ich komme noch einmal zur Historie.
Erstens. Bereits 1993, also vor drei Jahren, hatte sich die Koalition darauf geeinigt, im Rahmen des Sozialgesetzbuchs IX die Rehabilitation und Eingliederung der Behinderten voranzubringen.
Zweitens. Die Fraktion der SPD hat zur Unterstützung dieser Absicht der Koalition die Große Anfrage gestellt, die wir heute debattieren.
Die Koalition hat dies in dem Abkommen 1994 nochmals niedergelegt. Sie wollte 1994, also vor zwei Jahren, die Realisierung einer Verbesserung der Situation der Behinderten in unserer Republik voranbringen. An diesem Koalitionsvorhaben orientiert sich auch die Antwort der Bundesregierung.
Seit dem Tage des Einbringens des Referentenentwurfs zum SGB IX ist seitens der Bundesregierung nichts geschehen, um die neue Formulierung des Art. 3 des Grundgesetzes voranzutreiben und damit den Erwartungen der Behindertenverbände zu genügen. Angesichts der Sparbeschlüsse der Bundesregierung möchte ich behaupten, daß es sich damals mehr um eine Ankündigungs- und Phrasenpolitik gehandelt hat und weniger um konkrete Schritte zur Verbesserung der Situation der Behinderten.
Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen darstellen. Ich beziehe mich dabei auf die Forderung der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte". Damals herrschte unter allen politischen Parteien Konsens, daß es in allen Trägerbereichen ein einheitliches Leistungsrecht geben müsse. Angesichts der finanziellen Gegebenheiten war dies aber nicht zu realisieren, und dazu ist es bis heute nicht gekommen. Es sollte zu gemeinsamen inhaltlichen Verbesserungen kommen. Dazu sagt die Regierung in ihrer Antwort: Das muß geprüft werden.
Ein zentraler Punkt in den Werkstätten und in der Wirtschaft an sich ist eine verbesserte Stellung der Schwerbehindertenvertrauensleute. Auch dazu sagt die Regierung, dies sei bis heute ungeklärt.
Die Meinungsbildung zu einem Verbandsklagerecht für repräsentative Behindertenverbände ist innerhalb der Bundesregierung umstritten.
All diese Forderungen und die zentrale Forderung der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte" sind bisher nicht erfüllt. Sie sind in weite Ferne gerückt.
Meine Damen und Herren, ich möchte es bei diesen Beispielen bewenden lassen. Damit dürfte der Darstellung der Untätigkeit und vielleicht auch Unfähigkeit der Bundesregierung, sich der Welt der Behinderten zu nähern, Genüge getan sein. Ein Prüfen, ein Erwägen, ein Abstimmen - wie in der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD seitens der Bundesregierung dargestellt - sind nicht Politik. Behinderte und deren Vertreter erwarten reale Maßnahmen. Zu allem Überfluß hat man dann noch intern die Verantwortung auf eine Arbeitsgruppe abgewälzt, die irgendwann einmal zu einem Ergebnis kommen soll.
Noch heute sind Behinderte trotz der Verfassungsergänzung vielerlei Diskriminierungen in unserer Gesellschaft ausgesetzt. Zahlreiche Debatten sind vor dem Hintergrund der Anfrage und deren Beantwortung durch die Bundesregierung in diesem Haus geführt worden. Doch entscheidende Verbesserungen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind nicht in Sicht.
Ich erinnere nur an die Auseinandersetzungen, die allein in der laufenden Legislaturperiode zu zentralen Gesetzen geführt wurden, zum Beispiel im Rahmen der Pflegeversicherung, bei der Sozialhilfereform und hinsichtlich des Status der Behinderten in Werkstätten oder bei der Verbesserung der Reisemöglichkeiten von Behinderten. Das sind vier Beispiele.
Die Behindertenverbände haben energisch auf den politischen Entscheidungsprozeß der Pflegeversicherung und der Reform der Sozialhilfe hingewirkt. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei den Behindertenverbänden für die rigide Interessenwahrnehmung ihrer Klientel bedanken.
Wie konkret und mit welcher Härte die Auseinandersetzungen geführt wurden, haben wir bei den Beratungen des Sozialhilfegesetzes sowie des PflegeVersicherungsgesetzes im Rahmen der Einbeziehung stationärer Versorgung für Behinderte erfahren. Wenn die Vertreter der Behindertenverbände, wie
Karl Hermann Haack
damals artikuliert, geglaubt haben, damit hätten sie die umgesetzten und geplanten Verschlechterungen für die konkrete Lebenssituation der Behinderten beendet, müssen sie sich jetzt arg getäuscht fühlen.
Mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Sparpaket führt der Weg rückwärts. Ich will das als „Fallbeilpolitik" bezeichnen. Ich stelle an einem Beispiel dar, wie in unserer Gesellschaft Behinderte und chronisch Kranke anläßlich der Spargesetze mit besonderer Härte getroffen werden, und zwar auf dem Arbeitsmarkt. Schon heute sind Behinderte auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Die Arbeitslosenzahlen lagen bei dieser Gruppe im Jahre 1991 bei 132 000, im Mai dieses Jahres sind 177 000 arbeitslos.
In dem von Ihnen - markanterweise „Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz" genannten - vorgelegten Kahlschlagwerk soll der Rechtsanspruch auf eine berufsfördernde Rehabilitation nach § 56 des Arbeitsförderungsgesetzes von einer Muß- in eine Kann-Leistung umgewandelt werden.
Ich habe durch ein Fax erfahren, daß Sie sich in Richtung der Herstellung des alten Rechtszustandes bewegen. Bei genauem Durchlesen stelle ich aber fest, daß das, was Ihr Bundesgesundheitsminister als Zielgenauigkeit bezeichnet, heißt, bezogen auf diesen Änderungsantrag: Es werden Behinderte nach dem Grad der Behinderung sortiert. Danach wird entschieden, ob sie einen Rechtsanspruch auf Wiedereingliederung und Berufsförderung haben oder nicht. Ich halte dieses für einen Skandal.
Ich kann hier erklären, daß wir als Sozialdemokraten mit den Behindertenverbänden versuchen werden, dies zu verhindern.
Hinsichtlich des Beitragsentlastungsgesetzes will ich Ihnen sagen, daß die Selbstbeteiligungsquoten, die Sie mit dem Argument des Mißbrauches legitimieren, auch für die Behinderten gelten. Ich zitiere Ihnen hierzu kurz die Stellungnahme von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte" zum Beitragsentlastungsgesetz vom 12. Juni 1996:
Kuren sind für chronisch kranke Menschen eine wichtige Rehabilitation ihrer Arbeitskraft. Chronisch Kranke mit dauernden oder wiederkehrenden Beschwerden sind auf kurze Kurintervalle und auf eine Kurdauer angewiesen, die eine wirkungsvolle und andauernde Besserung bringt. Das Heraufsetzen des Wiederholungszeitraums von drei auf vier Jahre
- auch für Behinderte im Arbeitsprozeß -
und die gleichzeitig um eine Woche gekürzte Aufenthaltsdauer
- für tätige Behinderte im Arbeitsprozeß -
würden ihre Belastbarkeit auch am Arbeitsplatz weiter einschränken.
Und: Kündigungen Vorschub leisten. Ich möchte dem nichts hinzufügen.
Ähnlich ist es mit § 20 des SGB V, mit der Möglichkeit, Selbsthilfegruppen im Behindertenbereich zu fördern. Inzwischen haben Sie sich in dieser Sache bewegt. Ihre Abgehobenheit und Schäbigkeit aber, zunächst einmal zu versuchen, Ihre Vorstellungen durchzusetzen, ist das Eklatante vor dem Hintergrund, das Sie Tiraden im Deutschen Bundestag abgelassen haben, als es darum ging, Art. 3 des Grundgesetzes um das Verbot der Diskriminierung von Behinderten zu erweitern. Das versuche ich darzustellen.
Sie haben das erst einmal versucht. Das heißt, wenn sich keiner gemeldet hätte, hätten Sie dies durchgesetzt.
An den Schwachen hätten Sie gespart. Das ist der Grund dafür, daß ich mich an diesem Rednerpult furchtbar erregen kann.
Was ist zu tun? In unserem Entschließungsantrag fordern wir die Bundesregierung auf, einiges zu tun. Wir fordern sie auf, mit uns zusammen ein einheitliches Rehabilitationsgesetzbuch mit folgenden Inhalten zu schaffen. Das Rehabilitationsgesetzbuch soll acht unterschiedliche Gesetze vereinheitlichen, die Behinderte betreffen. Weil es acht sind, müssen sich Behinderte zur Wahrnehmung ihrer Rechte permanent mit Landesbehörden, mit Kommunalbehörden, mit Bundesbehörden und anderen Behörden vor Sozialgerichten zanken. Sie haben in die Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben, daß Sie das ändern wollten. Sie kommen nicht dazu. Aber die 3,4 Milliarden DM Einsparungen bei Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, die Ihnen die Referenten des BMA ausgerechnet haben, realisieren Sie ohne Rücksichtnahme auf die Behinderten. Ich kann Ihnen hier sagen: Wir werden dem mit den Behindertenverbänden entgegenwirken.
Es geht auch um die Verbesserung des Rechts auf medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation. Es geht darum, gegenüber dem Bundessozialhilfegesetz ein eigenes Leistungsgesetz zu schaffen. Behinderte sind auf Grund der Tatsache, daß sie behindert sind, arm. Die Tatsache, daß sie behindert sind, führt sie in den Leistungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes. Wir fordern Sie auf, ein eigenes Leistungsgesetz zu schaffen, damit die Diskriminierung, im Leistungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes leben zu müssen, beendet wird.
Wir fordern Sie auf, ein Artikelgesetz quer über das Baugesetzbuch, das Personenbeförderungsgesetz, das Fernmeldegesetz, das Arbeitsrecht und an-
Karl Hermann Haack
dere Gesetze zu machen, um die Gleichstellung der Behinderten herbeizuführen.
Vor drei Jahren haben wir das Grundgesetz geändert. Drei Jahre später schlagen Sie den Behinderten ins Gesicht, indem Sie durch Spargesetze deren berufliche Rehabilitation zunächst einmal schwerwiegend zu deren Nachteil verändert haben. Als Sie dann Angst bekommen haben, haben Sie das Ganze unter dem schönen Namen „Zielgenauigkeit" partiell verbessert. Sie können sich darauf verlassen, daß wir versuchen werden, es grundsätzlich aufzuheben und den Status quo wieder herbeizuführen.
Wir wollen die Ausgleichsabgabe erhöhen. Wir wollen angesichts der wirtschaftlich schlechten Situation die Bedingungen in den Werkstätten verbessern. Wir wollen auch die Rechtsstellung der Schwerbehindertenvertrauensleute verbessern. Ebenso wollen wir in den neuen Ländern verhindern, was Sie mit dem Arbeitsförderungsgesetz in dem Artikelgesetz Ihrer Spargesetze machen wollen, nämlich die berufliche Rehabilitation zurückzunehmen. Es kann nicht sein, daß in den neuen Bundesländern Behinderte auf Grund der Tatsache, daß sie dort und nicht in den alten Bundesländern leben, besonders abgestraft werden. Es wird - dazu wird meine Kollegin Steen etwas sagen - ein Auge auch auf die Situation der behinderten Frauen in unserem Land zu richten sein.
Der Bundesgesundheitsminister führt seit Jahren eine Debatte über Subsidiarität und Solidarität. Wir haben den geänderten Grundgesetzartikel. Nach der Koalitionsvereinbarung wollten Sie ein Sozialgesetzbuch IX mit der Zielsetzung einer Verbesserung schaffen. Sie kündigen mit Ihren Spargesetzen Solidarität auf und sagen „Subsidiarität", das heißt, jeder ist seines Glückes Schmied. Ich, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann nach drei Jahren sagen: Sie betreiben eine schäbige Politik.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinz Schemken.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Haack, die substantielle Auskunft der Bundesregierung auf Ihre Anfrage hat im Grunde genommen eine Bewertung wie „Fallbeilpolitik" oder „schäbig" nicht verdient. Sie stellen Ihre eigene Leistung in den Schatten.
Mit dieser Anfrage haben wir die Möglichkeit, in der ganz wichtigen Sache der behinderten Menschen weiter voranzukommen. Es geht hier um Menschen. Es geht darum, Benachteiligungen abzubauen. Niemand hier stellt das in Zweifel, wir erst recht nicht.
Aber der letzte Bericht über die Lage der Behinderten macht deutlich - da beißt keine Maus den Faden ab; auch Sie sind auf den unterschiedlichsten Ebenen beteiligt -, daß gerade die Rehabilitation sich auf einem sehr hohen Niveau befindet. Das ist gut so, und das ist wichtig. Denn wir brauchen gerade den Einstieg in die Arbeitswelt. Sie ist eine große Chance für die Integration der Behinderten.
Dort findet Integration auf die nachdrücklichste und auf wesentliche Weise statt. Der Koordinierung kommt eine besondere Bedeutung zu. Wir wissen sehr wohl, daß es darum geht, daß insbesondere der Zugang zur Arbeitswelt, der Zugang zum Arbeitsplatz weiter verbessert wird, und daß Stillstand nicht eintreten darf.
Insofern ist es völlig falsch, wenn Sie, Herr Haack, behaupten, daß in den jungen Bundesländern die Behinderten in besonderer Weise betroffen wären.
Ich stelle fest: Gerade dort helfen wir den jungen Menschen mit Maßnahmen vor Ort, die ich im einzelnen beurteilen kann, durch die Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke und ermöglichen den Behinderten, den Rehabilitanden die Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt, anders, als das früher dort der Fall war. Das sage ich ausdrücklich. Das größte Vakuum, das in der ehemaligen DDR festzustellen war, war, daß für die Behinderten nicht das konzeptionelle Angebot vorlag, wie wir es hier dank aller, die daran mitgewirkt haben, anbieten können.
Die Eingliederung in die berufliche Welt ist ein großes Problem. Hier gibt es ein großes Vakuum auch im Hinblick auf die Gewinnung von Arbeitsplätzen. Insbesondere ist eine Aufklärung auch bei Arbeitgebern nötig. Wir müssen uns mehr einfallen lassen als Muß-Leistungen und Rechtsanspruch. Insofern ist der Einstieg in die Kann-Leistungen nicht ein Schlag in das Gesicht der Behinderten, sondern die Möglichkeit, vor Ort in den Arbeitsämtern flexibel - der Minister hat das heute morgen deutlich gemacht - zu reagieren und richtige Ansätze gerade im Hinblick auf den Runden Tisch mit Arbeitgebern, mit Handwerkern, mit Einzelhandelskaufleuten zu verwirklichen.
Ich nenne Ihnen ein ganz konkretes Beispiel in meiner Heimatstadt: das Projekt „Berufsbegleitender Dienst", das für den Kreis Mettmann und für die Städte Essen, Wuppertal, Solingen und Remscheid vorgehalten wird. Hier ist es das Ziel, geistig und körperbehinderte Menschen bei der Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu begleiten, ihnen zur Seite zu stehen sowie die Unternehmen und - jetzt kommt das Entscheidende - auch die beschäftigten Kolleginnen und Kollegen in dieser Aufgabe zu unterstützen. Das sind ganz konkrete Ansätze.
Heinz Schemken
Hier sind Eltern, Schulen, Arbeitsämter und die örtlichen Fürsorgestellen wie auch die Werkstätten für Behinderte beteiligt.
Entscheidend ist der Arbeitsplatz. Es ist ein Stück Würde für den Behinderten darin zu sehen, daß er sich mit einbringen kann, daß er auch gefordert wird. Aber er kann dieser Forderung nur nachkommen, wenn er eine berufliche Qualifikation erhält. Genau dort setzen wir an.
Wenn Sie das SGB IX ins Feld führen - auch ich beklage und sage ausdrücklich, daß auf dem Wege der großen Veränderungen in der Sozialgesetzgebung die Arbeit an der Fassung des Sozialgesetzbuches IX nicht so vorangetrieben werden konnte, wie wir uns gerne gewünscht hätten -, dann müssen wir sagen: Herr Haack, Sie wissen ganz genau, daß unter anderem das Pflegegesetz uns so sehr beschäftigt hat, daß wir nicht an zwei Dingen gleichzeitig arbeiten konnten, wenn etwas Ordentliches daraus werden sollte.
- Ja, Sie haben recht. Es ist so.
Es ist so: alles hintereinander. - Es ist sicherlich richtig, daß in der Bündelung der gesetzlichen Vorgaben und auch der Dienste für Behinderte endlich ein überschaubares Gesetzeswerk zustande kommt, damit man weiß, woran man sich halten kann.
Zu Ihren Ausführungen zur Frage der Rehabilitation im Arbeitsförderungsgesetz darf ich noch feststellen, daß wir uns während der Anhörung durchaus von Argumenten der Verbände haben überzeugen lassen und wir im AFG, auch in der Fortschreibung nach dem AFRG, im Herbst, wenn es beraten wird, diese Kann-Leistung so einschränken, daß Flexibilität möglich ist, aber daß den wirklich notwendigen Anliegen Rechnung getragen werden kann. Das werden wir tun. Wir sind dabei.
Das gleiche gilt für die Selbsthilfegruppen. Sie wissen sehr wohl, auch aus der Beratung Ihres Fachausschusses, daß wir hier eine Beschreibung vornehmen, die es den Kassen möglich macht, daß das Notwendige getan wird
und auch Selbsthilfegruppen, die ihren ehrenamtlichen Dienst tun, in Zukunft solche Angebote für Menschen in der Vorsorge, in der Nachsorge, in den vielfältigen Bereichen der Gesundheitsvorsorge vorhalten können.
Herr Kollege, Ihre angemeldete Redezeit ist vorbei.
Ein letzter Satz. Das ist eine hilfreiche Sache, weil sie auch ein Stück Subsidiarität ist, und ein Stück Subsidiarität bedeutet, daß man sich im Bereich der Vorsorge, auch der Gesundheitsvorsorge, selbst einbringt. Diesen Gesichtspunkt wollen wir einführen; das wissen Sie sehr wohl. § 20 wird eine ähnliche Beschreibung erhalten.
Schönen Dank!
Das Wort zur Kurzintervention erhält Herr Kollege Haack.
Herr Kollege Schemken, ich schätze Sie sehr
- ja, ich habe ihn lieb -, aber ich muß darauf hinweisen, daß die Koalitionsvereinbarung, ein SGB IX zu schaffen, nicht wegen Arbeitsüberlastung nicht zustande gekommen ist. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß, daß Sie sich in der Koalition nicht darüber im klaren waren und nicht einig werden konnten, ob es sich lediglich um eine formale Zusammenfassung aller Gesetze zu beispielsweise Behinderten handelt oder ob es zur Innovation und damit eventuell zu mehr Ausgaben führen würde.
Dieser Konflikt ist in Ihrer Koalition nicht gelöst worden. Deswegen gibt es in dieser Legislaturperiode kein Sozialgesetzbuch IX.
Deswegen meine Argumentationskette, die Sie verletzt hat: Wir haben einmal, 1994, Art. 3 des Grundgesetzes geändert. Sie treffen eine Koalitionsvereinbarung und erklären als Folge, das sei notwendig. Dann machen Sie dieses Sparpaket. Das wollte ich deutlich machen; das müssen Sie ertragen.
Zur Antwort Herr Kollege Schemken.
Herr Haack, Sie beschwören die Vergangenheit. Da brauchen wir nicht weit zurückzugehen. Sie wissen sehr wohl, daß gerade die Arbeit an und mit Behinderten auf allen politischen Ebenen einen langen Prozeß in Anspruch nahm. So sind Sozialdemokraten wie Liberale und auch Christdemokraten in gleichem Maße mit beteiligt an dem, was an Erkenntnissen gewonnen und was auch umgesetzt wurde.
Sie wissen sehr wohl, daß im inhaltlichen Bereich nicht nichts geschieht, daß alles weiter fortgeführt wird. Wenn Sie den großen Wurf der 70er Jahre nennen, dann frage ich Sie, warum Sie andererseits das SGB IX, das wir gerne hier in Szene setzen möchten, kritisieren. Wenn die Arbeit in anderen Bereichen augenblicklich notwendig ist, lassen Sie uns doch
Heinz Schemken
erst einmal das zu Ende führen, und dann kommen wir zum SGB IX.
Sie wissen sehr wohl, wie schwierig das Ganze ist und daß es hier ausdrücklich sehr unterschiedliche Meinungen der Behindertenverbände gibt. Nehmen Sie nur die Werkstätten mit der Frage der Entlohnung, mit der Frage der Mitwirkung und auch mit der Frage der Rechtsstellung. Alleine diese Problematik ist - Sie stellen das fest, wenn Sie sich mit Praktikern vor Ort in den Werkstätten unterhalten - letztendlich noch nicht so zu beantworten, wie es Praktiker hier und da sehen.
Ich muß auf den Begriff „Fallbeil" zurückkommen. Das hat mich ein wenig betroffen gemacht; das sage ich Ihnen ganz offen. Das ist nicht die Antwort auf das, was wir hier miteinander zu bewerkstelligen haben. Deshalb habe ich auch auf die eine oder andere Äußerung, die Sie hier getan haben, im Grunde genommen antworten wollen.
Die Anmahnung - das muß ich Ihnen offen sagen - ist sehr wahrscheinlich überflüssig, weil wir daran arbeiten. Das muß man dann ehrlich zugeben. Es kann nicht alles an einem Tag geschehen. Wir sind mit dem SGB IX beschäftigt, und die Arbeit mit den Behinderten läßt auf dem Wege dahin nicht nach.
Jetzt hat die Kollegin Andrea Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war gerade eine sehr typische Szene für das, worüber wir in der Behindertenpolitik reden. Alle sagen: Wir sind dafür. Wir wollen dabei mehr machen. Es ist wichtig. Es ist notwendig.
- Genau. - Denn dies ist sozusagen die Grundlage, auf der sich das Ganze bewegt. Die Fraktionen der Bundesregierung reagieren immer sehr allergisch, wenn man ihnen dann sagt: Aber eure Worte haltet ihr nicht.
Herr Kollege Schemken, Ihnen persönlich unterstellen wir alle in diesem Haus das Allerbeste in Sachen Behindertenpolitik. Aber das entläßt Sie nicht aus der Verantwortung für das, was im Moment im Sparpaket steht.
Das ist mir so gegangen, als ich die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage gelesen habe. Wenn man diese Antwort sowie andere Äußerungen der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen unbefangen zur Kenntnis nimmt, dann könnte man meinen: Hier ist es ihnen mit ihren Bemühungen wirklich ganz ernst. Sie wollen fördern, qualifizieren und die Rechtsstellung verbessern. Sie wollen immer nur das Allerbeste.
Aber wenn man sich das genau anschaut, ist die Bilanz einfach zutiefst enttäuschend, nicht nur gemessen an den hehren Worten, sondern vor allen Dingen aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen, die sich zunehmend Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt gegenübersehen. Die Bundesregierung betont immer wieder die Notwendigkeit einer besonderen Unterstützung von behinderten Menschen bei der Integration in das Arbeitsleben. Dabei lesen wir von unglaublich vielen Absichtserklärungen, die durchaus zeigen, daß die Regierung weiß, was zu tun wäre.
Aber warum sind das alles Absichtserklärungen? Warum finden sich in der Reform des Arbeitsförderungsgesetzes nicht die entsprechenden Maßnahmen? Wo bleibt die besondere Unterstützung für Selbsthilfe und Integrationsfirmen? Warum überarbeitet das Wirtschaftsministerium nicht das Instrumentarium der allgemeinen Wirtschaftsförderung, damit auch Firmen davon profitieren können? Statt dessen werden an etlichen Stellen die Mittel der Ausgleichsabgabe bei jeder Absichtserklärung erneut verteilt, als handele es sich hier um einen unerschöpflichen Topf. Gleichzeitig sagen Sie an anderer Stelle, dieser Topf dürfe unter keinen Umständen stärker gefüllt werden.
Nun hat das Argument eine gewisse Berechtigung, daß die bisherigen Erfahrungen mit der Ausgleichsabgabe nicht gerade dazu ermutigen, zu hoffen, daß dann mehr Behinderte Beschäftigung finden. Aber selbst wenn dem so wäre: Was wäre denn falsch daran, wenn man die Arbeitgeber im Rahmen einer Umlagefinanzierung stärker in die finanzielle Verantwortung nimmt, um die verstärkten Integrationsbemühungen für Behinderte daraus zu finanzieren? Wenn Sie ansonsten überall kürzen, dann, finde ich, dürfen Sie diesen Ausweg überhaupt nicht ausschließen und müssen ihn prüfen.
Mit guten Worten und Absichten ist den Behinderten nicht geholfen, sondern die Qualität der Integrationspolitik bemißt sich daran, ob diese Politik auch im notwendigen Umfang praktiziert wird. Damit bin ich bei einem der großen Skandale des Sparpakets: der Kürzung der Leistungen für die berufliche Rehabilitation. Dafür will ich die Bundesregierung als Kronzeugen bemühen.
Der Aufwand für eine stationäre medizinische Rehabilitationsleistung ist ... schon dann von ökonomischem Nutzen, wenn es durch die Maßnahme gelingt, die Eingliederung in das Erwerbsleben um drei bis vier Monate zu verlängern.
Dies ist ein wörtliches Zitat aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage.
Für Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation stellt auch die Bundesregierung fest, daß es dabei
Andrea Fischer
Wiedereingliederungsquoten von 84 Prozent gibt, die zu jahrelanger Beschäftigung führen. Die Arbeitsgemeinschaft der Berufsförderungswerke hat in ihrer Stellungnahme zur Anhörung in der vergangenen Woche darauf hingewiesen, daß sich eine Maßnahme der beruflichen Rehabilitation nach sieben Jahren durch die Sozialversicherungsbeiträge und Steuerzahlungen der Eingegliederten „amortisiert" hat. Mir selber widerstrebt es, davon zu reden, daß sich Maßnahmen rechnen; denn hinter einer solchen Ausdrucksweise treten die Menschen vollkommen zurück. Aber mir bleibt im Moment gar nichts anderes übrig; denn zur Zeit wird die berufliche Rehabilitation ausschließlich unter Kostenaspekten diskutiert.
Die Bundesregierung will in diesem Bereich 500 Millionen DM jährlich sparen. Ich finde, es wäre einmal eine interessante Rückwärtsrechnung dieses soeben positiv errechneten Saldos der beruflichen Rehabilitation wert, was eine solche Einschränkung der Rehabilitation volkswirtschaftlich an Gegenkosten produzieren würde: für Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten, für Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung, der Eingliederungshilfe usw.
Ich leugne gar nicht die schwierige Haushaltssituation.
Aber es will mir einfach nicht in den Kopf, warum Sie entgegen Ihren eigenen Einsichten, die ich gerade aus der Antwort auf die Große Anfrage zitiert habe, Leistungen kürzen, die anerkanntermaßen unglaublich großen Nutzen haben. Ich weiß nicht, was die Verzweiflung über die Haushaltslöcher mit Ihren Köpfen anstellt.
Sie waren von der Anhörung offensichtlich beeindruckt und werden uns Änderungsanträge zu diesem Vorhaben präsentieren. Diese werden zumindest verhindern, daß die von den Fachleuten geäußerte Befürchtung Realität wird, daß bei angespannter Haushaltslage nur noch die besonders kostengünstig einzugliedernden Menschen Rehabilitationsleistung „zugemessen bekommen".
So gesehen ist es ein Fortschritt, wenn der Rechtsanspruch auf Leistungen für Schwerbehinderte erhalten bleibt und bei den Ermessensleistungen der besondere Bedarf berücksichtigt werden soll. Bleibt es aber bei der Kürzung des gesamten Haushaltsansatzes, dann können Sie sich nur rühmen, eine bessere Verteilungsregel für einen geschrumpften Topf gefunden zu haben. Das ist kein Erfolg, den man feiern kann.
Sie entkommen damit nicht dem Vorwurf, daß Sie wider besseres Wissen Leistungen in einem Bereich kürzen, wo die Folgewirkungen für die betroffenen Menschen dramatisch sein werden und für die übrigen sozialen Sicherheitssysteme kostspielig werden. Deshalb: Nehmen Sie diese Kürzung aus dem Sparpaket heraus.
Ich will aber noch eine grundsätzliche Anmerkung zur Streichung des Rechtsanspruches machen. Herr Kollege Schemken, ich finde, Sie haben das eben schöngeredet. Die Politik der Bundesregierung ist in vielen sozialpolitischen Feldern mehr und mehr davon gekennzeichnet, daß sie Rechtsansprüche auf Leistungen entweder gar nicht erst einführt oder wieder abschafft.
Ich halte das für eine wirklich gefährliche Entwicklung, die weit über die materiellen Folgen, die damit verbunden sind, hinausgeht. Für mich geht es um eine grundsätzliche bürgerrechtliche Frage. Ein Sozialstaat und auch ein Rechtsstaat muß zwischen Institutionen und den Personen, die die Leistungen in Anspruch nehmen wollen, von gleich zu gleich verhandeln.
Wenn man die Menschen durch die ständigen Ermessensleistungen in die Position des Bittstellers versetzt, dann nimmt man Abschied von einem Konzept sozialer Bürgerrechte. Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr habe ich den Eindruck, daß das die eigentliche politische Kehrtwende in der Sozialpolitik ist, die man zur Zeit beobachten kann, ungeachtet der materiellen Kürzungen, die wir ansonsten noch zu gewärtigen haben.
Da ich schon einmal bei Rechtsfragen bin, möchte ich noch kurz darauf hinweisen: Angesichts dessen, wie die Bundesregierung in den letzten eineinhalb, zwei und drei Jahren Politik nicht für, sondern gegen Behinderte gemacht hat, angesichts der unendlich langen Geschichte des SGB IX und angesichts der unbefriedigenden Ergebnisse der Anhörung im BMA vor einigen Wochen zum SGB IX haben die Behindertenverbände alle Hoffnung fahrenlassen, daß mit einem SGB IX zur Zeit eine Verbesserung zu erreichen wäre.
Aus diesem Grund würde ich sagen: Lassen Sie uns nicht ein Beschäftigungsprogramm für Juristen machen, sondern die Energie und vor allen Dingen das Geld in die Förderung der beruflichen Integration von Behinderten stecken!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Lühr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn die Bundesrepublik international sicherlich zu den Staaten zählt, in denen die objektive Entwicklung der Integration behinderter Bürger und Mitbürger dem Anspruch am nächsten kommt, so muß doch auch bei uns, denke ich, noch wesentlich mehr getan werden, um den Behinderten das Miteinanderleben mit Nichtbehinderten in der Gesellschaft zu ermöglichen
Uwe Lühr
und zu erleichtern. Das genau konzediert auch die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion.
Das Grundgesetz schützt Behinderte ausdrücklich vor Diskriminierung. Diese Wertung des Grundgesetzes wirkt sich auf unsere gesamte Rechtsordnung aus, auch ohne Antidiskriminierungsgesetz. Die Gleichberechtigung für behinderte Mitbürger vollzieht sich nicht im Gesetz und in Gesetzen, sondern in der Praxis. Behinderte brauchen unser Mitdenken und unsere Hilfe, aber sie wollen und dürfen nicht in ein Korsett der öffentlichen Betreuung und Fürsorge eingezwängt werden.
Selbstbestimmung und Begleitung in rechtlich und materiell gesichertem Lebensraum, das sollte die Devise sein.
Die Politik hat die Pflicht, die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die öffentliche Verwaltung auf allen Ebenen, die freien Träger und schließlich wir alle haben für die konkrete Umsetzung zu sorgen. Das beginnt ganz lapidar bei der Planung der Ausstattung und dem Service unserer öffentlichen Verkehrsmittel. Das gilt für die Zugänglichkeit öffentlicher Straßen, Wege, Plätze, Gebäude und Geschäfts- oder Betriebsräume.
Dazu gehört, daß die öffentliche Hand als helfende Hand auch auf der Ebene der Länder und Kommunen bei der Beschäftigung von Behinderten endlich ihre Vorbildfunktion wahrnimmt.
Dazu gehört auch, daß die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern in Kindergärten und Schulen nicht die Ausnahme bleibt, sondern möglichst bald zum Regelfall wird.
Schließlich gehört dazu auch die Verbesserung der Rechtsstellung der Behinderten in den Werkstätten. Die Rechtsstellung der Behinderten in den Werkstätten sollte im Rahmen der BSHG-Reform gesetzlich näher geregelt werden. Es bleibt zu hoffen, daß sich im heute nachmittag begonnenen Vermittlungsverfahren die Vernunft durchsetzt und auch die SPD ihre Blockadepolitik aufgibt, nicht zuletzt auch im Interesse der Werkstätten und ihrer Mitarbeiter.
Die Werkstätten für Behinderte haben das ehedem geschützte Gehege für beschützende Werkstätten längst verlassen. Sie sind auch längst keine Manufakturen mehr nur für Terrakottavasen und Kerzenständer für den Weihnachtsbasar. Die heute mehr als 1 200 Werkstätten in der Bundesrepublik sind aktiver Teil des Wirtschaftslebens mit vielfältigen Produkten und Dienstleistungen und Umsätzen in Milliardenhöhe.
Mit neuer Technik und modernen Maschinenparks leisten Behinderte vielfach auch Arbeiten, die früher undenkbar waren. Zur Zeit beschäftigen diese Werkstätten für Behinderte mehr als 130 000 Menschen. 80 bis 85 Prozent von ihnen sind geistig behindert. Diese Einrichtungen wollen nicht nur als soziale Einrichtung betrachtet werden, sondern stellen auch ihre wirtschaftliche Leistungskraft in den Vordergrund.
Hatten die Werkstätten ursprünglich die Aufgabe, behinderte Menschen in das Arbeitsleben und damit zugleich in das Leben der Gemeinschaft einzugliedern, so geht das Angebot heute weit darüber hinaus. Heute findet sich zum Beispiel in der Selbstdarstellung der Werkstätten für Behinderte die Formulierung:
Wir bieten Dauerarbeitsplätze für jeden, der nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückkehren kann oder möchte.
Wir werden uns wohl an den Gedanken gewöhnen müssen, daß der ursprüngliche Auftrag der Werkstätten für Behinderte, für eine Arbeitsaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren und zu trainieren, auf absehbare Zeit mehr Wunsch als Wirklichkeit bleibt. Bei einer Arbeitslosenzahl um vier Millionen, bei mehr als einer Million Menschen, die sich in Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befinden, bei Tarifabschlüssen wie etwa dem letzten im öffentlichen Dienst, die Arbeitsplätze kosten, haben unsere Behinderten in den Werkstätten für Behinderte im Wettbewerb um Arbeitsplätze kaum eine realistische Chance.
Der Preis für Arbeit bestimmt die Menge der nachgefragten Arbeit. Das ist das Gesetz, das die Tarifpartner seit einigen Jahren schon ignorieren. Die Arbeitslosigkeit von Millionen ist der Beleg für fehlerhafte Tarifpolitik und einer vom Ansatz her falschen Koppelung der Finanzierung unserer Sozialsysteme an den Lohn.
Eine große Zahl von Arbeitslosen ist wenig qualifiziert, ihre Arbeitsplätze sind wegrationalisiert oder ins Ausland exportiert worden. Das ist aber genau der erste Arbeitsmarkt, für den unsere Werkstätten für Behinderte ihre behinderten Mitarbeiter eigentlich qualifizieren sollten.
Ich denke, wir müssen einsehen, daß die gute Absicht nicht weit trägt. Unsere Werkstätten bleiben auf absehbare Zeit leider mit mittelständischen Unternehmen konkurrierende Einrichtungen des zweiten Arbeitsmarktes, und sie müssen, wo notwendig, auch unbedingt Schonraum bleiben.
Ich möchte aber noch kurz auf einen anderen, weitaus größeren Personenkreis als den der in den Werkstätten Beschäftigten eingehen, nämlich auf die Behinderten, die in der „normalen" Wirtschaft, also auf dem ersten Arbeitsmarkt, tätig sind. Im letzten Jahr waren rund 900 000 Schwerbehinderte erwerbs-
Uwe Lühr
tätig. Bundesweit waren bei den Arbeitsämtern fast 180 000 Schwerbehinderte als arbeitslos registriert, das heißt Personen, die einen Grad der Behinderung von 50 Prozent und mehr haben oder ihm gleichgestellt sind. Zwei Drittel dieses Personenkreises sind älter als 50 Jahre. Nahezu die Hälfte ist bereits seit einem Jahr oder länger ohne Beschäftigung.
Wenn meine Informationen zutreffen, daß Behinderungen in hohem Maße auf arbeitsbedingte Ursachen und Krankheiten zurückzuführen sind, dann bedeutet das, daß die meisten Personen bereits zu dem Zeitpunkt einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wenn ihre Behinderung eintritt. Dieser Personenkreis bedarf natürlich keiner Eingliederung, sondern vielmehr einer verläßlichen Sicherung, die eine Ausgliederung verhindert. Hier müssen rechtzeitig Sicherungen greifen, die dem Behinderten in seinem Betrieb die weitere Beschäftigung ermöglichen.
Wir haben heute einen Entschließungsantrag vorliegen, der neben den oppositionellen Pflichtübungen auch jeweils einen teuren Wunschzettel enthält, der nicht in die Bemühungen um Senkung der Lohnnebenkosten und Entlastung der Wirtschaft für mehr Wachstum und Arbeitsplätze paßt. Die Opposition läßt sich natürlich nicht übertreffen in ihrer moralischen Entrüstung über die angestrebten Sparmaßnahmen der Bundesregierung.
Wer aber meint, SPD und Grüne genügten ihren höheren moralischen Ansprüchen und stellten das in den von ihnen regierten Ländern unter Beweis, der ist allerdings auf dem Holzweg.
Nicht nur, daß die Länder die zugesagten Investitionen im Zusammenhang mit der stationären Pflege nicht leisten, sie scheuen sich genausowenig, das Pflegegeld auf das Blindengeld anzurechnen. Im Vermittlungsausschuß haben SPD und Grüne durchgesetzt, daß auch Einrichtungen ohne Pflegeschwerpunkt an den Geldleistungen der Pflegeversicherung beteiligt werden. Sie haben damit die Chance der Mehrheit genutzt, ihre Haushalte auf Kosten der Beitragszahler zusätzlich zu entlasten.
Die angeblich Begünstigten hat dabei aber niemand gefragt. Für sie ändert sich lediglich der Kostenträger. Im übrigen müßte klar sein, daß diese ursprünglich nicht vorgesehene Beteiligung ganz unsolidarisch die knappen Mittel für diejenigen kürzt, für die das Gesetz eigentlich gedacht war.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liest man die Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPDFraktion „Arbeitswelt und Behindertenpolitik", so sind wir, was Wunder, einmal mehr mit einer Erfolgsbilanz konfrontiert. Wenden wir uns also lieber den Tatsachen zu.
Besonders problematisch ist, daß die Bundesregierung keinerlei Handlungsbedarf bei der Minderung und Beseitigung diskriminierender Bestimmungen und Tatsachen und damit bei der tatsächlichen Umsetzung des neu im Grundgesetz verankerten Diskriminierungsverbots anerkennen will. Daraus ergibt sich, daß ein Gleichstellungs- oder Antidiskriminierungsgesetz für Menschen mit Behinderungen von ihr kategorisch abgelehnt wird.
Aber auch Korrekturen in Einzelgesetzen will sie nicht vornehmen. So prüft die Bundesregierung, „inwieweit das Benachteiligungsverbot im Rahmen der einfachen Gesetzgebung klarzustellen ist". Glaubt man den Aussagen im Dritten Bericht der Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation, so soll es im BMA bereits eine Liste über zu verändernde Gesetze und Verordnungen geben. Die Bundesregierung prüft also schon über zwei Jahre, ob sich aus der Grundgesetzergänzung Konsequenzen ergeben. Aber eine entsprechende Gesetzesinitiative gibt es nicht.
Von den zu prüfenden, möglicherweise positiven Ansätzen spüren die Menschen mit Behinderungen nichts. Das Gegenteil ist der Fall: Nur eine drohende Verfassungsklage bewegte die Bundesregierung zu dem Zugeständnis, behinderten Menschen in Einrichtungen eng begrenzte Leistungen der Pflegeversicherung zuzubilligen. Aktive behinderte Menschen, die sich bisher ihre Assistenz im Rahmen des Arbeitgebermodells selbst organisierten, werden generell auf das BSHG verwiesen und mit Leistungskürzungen bedroht. Auch die im Rahmen des Sparpakets beabsichtigte Umwandlung der Leistungen zur berufsfördernden Rehabilitation in eine Ermessensleistung konterkariert jegliche Anstrengung zur Beschäftigung behinderter Menschen.
Da liegt doch die Vermutung nahe, daß es Absicht der Bundesregierung ist, die Chancen behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt möglichst geringzuhalten. In diesem Umfeld sind die in diesem Hause beschlossenen Formulierungen des § 3 a BSHG nur die Vorbereitung für die Schaffung gesetzlicher Grundlagen einer ungehemmten Heimeinweisung behinderter und chronisch kranker Menschen.
Das Vorhaben, in einem SGB IX das Schwerbehinderten- und Rehabilitationsrecht zusammenzufassen, entpuppt sich immer mehr als Versuch, die Lebensbedingungen für behinderte Menschen weiter zu verschlechtern. Die PDS sieht sich in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einem so geplanten SGB IX durch die Behinderten- und Sozialverbände bestätigt. Sie können in dem vorgelegten Eckpunktepapier ebenfalls keine Basis für die Weiterentwicklung des Schwerbehindertenrechts erkennen.
Meine Damen und Herren, betrachtet man die Situation in den neuen Bundesländern, so waren sie das Experimentierfeld, um den mit ungeheurem pro-
Petra Bläss
pagandistischen Aufwand verbreiteten Grundsatz „Rehabilitation vor Rente" umzukehren. Waren im Oktober 1990 noch knapp 200 000 behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt, so reduzierte sich diese Zahl im Oktober 1994 - neuere Zahlen gibt es hier nicht - auf nur knapp 90 000. Mit anderen Worten: Wenn in Ostdeutschland gegenwärtig offiziell nur 23 000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet sind, dann haben von vier behinderten Menschen, die 1990 noch einer Erwerbsarbeit nachgingen, drei die Rente wählen müssen. Keine ostdeutsche Bevölkerungsgruppe wurde in einem derartigen Umfang vom Arbeitsmarkt vertrieben wie behinderte Menschen. Eine stetige und außerordentlich hohe Zahl schwerbehinderter Arbeitsloser ist Indiz für das Versagen der Politik.
Völlig unverständlich ist, daß die Bundesregierung in vielen Schriften alle Betriebe und Einrichtungen auffordert, zu prüfen, inwieweit sie vom Angebot der Werkstätten für Behinderte Gebrauch machen und so Schwerbehinderten Arbeit und Verdienst geben können, sie aber zugleich in der Antwort auf die Große Anfrage dokumentiert, daß die Zahl der Aufträge der Bundesbehörden an die Werkstätten für Behinderte ständig zurückgeht.
So ist es schlichtweg irreführend, wenn die Bundesregierung von Aufträgen in der Größenordnung von 40 Millionen DM spricht, zugleich aber die Tatsache, daß der Umfang der Aufträge durch sonstige Bundesdienststellen in der Zeit von 1992 bis 1994 von 18,8 Millionen DM auf 6,1 Millionen DM, das heißt also um mehr als zwei Drittel, zurückging, in einer Tabelle versteckt. Das sind Fakten, die die Untätigkeit und das Desinteresse der Bundesregierung bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen belegen. Ein weiterer Beleg sind für mich Ihre Schlußfolgerungen aus der besonderen Benachteiligung behinderter Frauen. Sie sehen keinerlei Anlaß, hier spezielle Förderprogramme aufzulegen.
Meine Damen und Herren, angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bleibt als Fazit: Behinderte Menschen werden durch die auf Sozialabbau, Deregulierung und Privatisierung setzende Politik der Bundesregierung systematisch vom Arbeitsmarkt vertrieben. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich mit den behinderten Menschen und mit den Behindertenverbänden eine auf die Bewahrung von Selbstbestimmung und Würde gerichtete Politik zu entwerfen und umzusetzen.
Da wir der Ansicht sind, daß die Entschließungsanträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in die richtige Richtung gehen, finden sie unsere Unterstützung.
Jetzt spricht der Kollege Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß der Bundestag heute über Arbeitswelt und Behindertenpolitik spricht, ist, Kollege Haack, angesichts des Arbeitspensums der Sozialpolitiker in diesen drei Sitzungswochen eine sehr beachtliche Leistung . Es verdient eine andere Wertung als die, die Sie vorgenommen haben. „Fallbeilpolitik", „Kahlschlagwerk", „Schäbigkeit" - das sind Vokabeln, die hier nicht hingehören. Wir sollten den Disput, den wir zur Zeit führen, nicht auf dem Rücken der Behinderten austragen.
Es gilt, in dieser Diskussion auch einen Blick auf die Anträge, die Sie vorgelegt haben, zu werfen. Ich habe mir vor allem einmal den Antrag der SPD-Fraktion vorgenommen. Man kann ihn in der Kürze der Zeit natürlich nicht ausführlich behandeln. Aber das eine oder andere muß gesagt werden.
Ich glaube, Herr Haack, Sie liegen mit dem Vorwurf Ihres Antrages, effektive Arbeitsmarktpolitik sei nicht mehr erkennbar, völlig daneben. Sie haben scheinbar gar nicht mitbekommen, was wir zur Zeit machen: Wir sind zur Zeit dabei, die Maßnahmen einzubringen, die zum Sparen notwendig sind. Wir wollen für die Betriebe Freiräume schaffen, damit wieder Arbeitsplätze entstehen. Das sind notwendige Voraussetzungen auch dafür, um die Chancen für Einstellungen von Behinderten zu verbessern. Das ist ein wichtiger Beitrag auf diesem Feld.
Sie sind sogar in diesem Antrag auf die Sparmaßnahmen eingegangen. Ich sage ehrlich: Es widerspricht aus meiner Sicht nicht dem Benachteiligungsverbot, wenn von der Zuzahlung bei Medikamenten auch Behinderte betroffen sind. Ich will nur darauf hinweisen, daß auch in diesem Bereich natürlich nach wie vor Härtefallregelungen gelten. Ungefähr 8,2 Millionen Menschen in unserem Land sind völlig von Zuzahlungen befreit. Für alle übrigen Versicherten, insbesondere auch chronisch Kranke, gelten - daran wird sich nichts ändern - die Sozial- und Überforderungsklauseln. Das heißt, nicht mehr als 2 Prozent des Einkommens müssen zugezahlt werden. Da wird also nichts Gravierendes geändert. Ich finde, wir sollten über diesen Bereich sachlich diskutieren.
Hinsichtlich der schon mehrfach angesprochenen Frage des Rechtsanspruchs auf Rehabilitation will ich darauf hinweisen, daß Sie alle, soweit Sie Sozialpolitiker sind, für die Ausschußsitzung am kommenden Montag die Änderungsanträge dazu vorliegen haben. Ich erinnere deshalb daran, daß wir einen Antrag zur Änderung der §§ 56 und 58 des Arbeitsförderungsgesetzes vorgelegt haben. Diese Änderungen stellen klar, daß der Rechtsanspruch auf berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation für anerkannte Schwerbehinderte und für Personen, die Leistungen zur Teilnahme an Maßnahmen im Eingangsverfahren oder im Arbeitstrainingsbereich anerkannter Werkstätten für Behinderte benötigen, bestehenbleibt. Wir haben aus der Anhörung also Konsequenzen gezogen.
Wir haben deutlich gemacht, daß Schwerstbehinderte vorrangig Zugang erhalten. Die Akzente sind so wie in der Anhörung deutlich geworden. Deswegen sollten wir dieses Gesetzesvorhaben auch gemeinsam tragen.
Wolfgang Meckelburg
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf zwei oder drei weitere Punkte eingehen: Durchgängig spielt die Frage der Ausgleichsabgabe eine Rolle. Sie ist in dem Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen, aber auch im Antrag der SPD ein vorrangiger Punkt. Diese Forderung ist altbekannt, aber dennoch bleibt die Handhabung ungelenk. Sobald Sozialdemokraten nicht weiterwissen, rufen sie nach dem Staatsdekret, so auch in dieser Debatte und in den Anträgen. Sie fordern für jene Betriebe eine spürbare Erhöhung der Ausgleichsabgabe, die ihrer Pflicht zur Beschäftigung von Schwerbehinderten nicht nachkommen. Das ist eine alte Forderung.
Ich will dazu ein paar Zahlen nennen, Herr Haack, damit wir wissen, worüber wir hier reden: Es gibt 180 000 arbeitslose Behinderte, die einen Arbeitsplatz suchen. Wir haben 400 000 Arbeitsplätze, für die die Ausgleichsabgabe gezahlt wird. In diesem Bereich muß man ernsthaft die Frage stellen, ob es, wenn es einmal auf Spitz und Knopf kommt, rechtmäßig durchzuhalten ist, daß es 180 000 Bewerber, aber 400 000 Arbeitsplätze gibt, für die bezahlt wird. An dieses Thema müssen wir vorsichtig herangehen. Ich finde, daß die 200 DM, die gezahlt werden - man kann darüber reden, ob hier eine Erhöhung entsprechend der Inflationsrate angebracht ist -, einen doppelten Anreiz haben: einmal Anreiz zur Beschäftigung zu schaffen, andererseits die gegenwärtig entstehenden Kosten abzudecken.
Abseits von diesen Zahlenspielereien - das soll deutlich gesagt werden - ist der Aspekt wirklich wichtig, daß wir voller Engagement versuchen, die Beschäftigung Schwerbehinderter nicht als Almosenakt der Arbeitgeber darzustellen,
sondern vielmehr als selbstverständlichen Auftrag, die Integration behinderter Menschen überall zu ermöglichen. Dabei müssen zweifelsohne die öffentlichen Arbeitgeber Vorbildfunktion haben. Seitens des Bundes ist dies seit 1994 - glücklicherweise mit steigender Tendenz - wieder der Fall. Länder und Kommunen müssen geschlossen folgen, damit die private Wirtschaft erkennt: Jeder arbeitslose Schwerbehinderte ist einer zuviel. Das muß Grundlage sein.
Wenn wir dauernd über die Frage der Ausgleichsabgabe reden, bringen wir hier einen Zungenschlag hinein, der an „Freikaufen" erinnert. Das darf nicht sein. Darüber muß Einigkeit bestehen.
Ein letzter Satz zur Einordnung in das SGB IX. Wir sollten dies ehrlich einordnen. Wenn man bei der Eingliederung in das SGB IX große Sprünge erwartet, Herr Haack - diese Erwartung sollten Sie meiner Meinung nach nicht schüren -, dann hat man nicht erkannt, daß wir hier alle über die Finanzen reden.
Wenn wir darüber reden, was der Bund und auch die Länder und Kommunen tun müssen, dann ist klar, daß das Geld im Moment nicht so üppig vorhanden ist, daß wir einen großen Sprung nach vorne tun könnten. Wir können sicherlich die Gesetze koordinieren. Wir müssen offen miteinander darüber sprechen, ob das den Aufwand in dieser Periode lohnt - das ist meine persönliche Meinung. Vorgesehen ist es; ich halte daran fest, aber wir müssen darauf achten, nicht zu große Erwartungen bei den Behinderten zu wecken, weil wir sonst mit einer Neuregelung in dieser Legislaturperiode Schiffbruch erleiden würden.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje-Marie Steen.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf den Bereich der weiblichen Arbeitnehmer richten. In der Bundesrepublik leben zirka 4 Millionen Frauen mit Behinderungen - also wahrlich keine Minderheit. Zugleich aber werden ihre spezifischen Probleme in der Öffentlichkeit immer noch viel zuwenig berücksichtigt. Frauen mit Behinderungen sind doppelt benachteiligt. Sie sind von der allgemeinen Benachteiligung der Frauen gegenüber Männern betroffen. Benachteiligt sind sie aber auch als Frauen mit Behinderung gegenüber Nichtbehinderten. Sie werden in erster Linie als Behinderte angesehen, die nebenbei weiblich sind. Auch die vorliegende Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion macht da keine Ausnahme. Sie erwähnt die Frauen als Arbeitnehmerinnen nur da, wo wir als Fraktion spezielle Auskünfte verlangen. Die Bundesregierung lehnt sogar Förderprogramme zur Beschäftigung behinderter Frauen ab, da sie - Zitat - keine Hinweise auf die Benachteiligung schwerbehinderter Frauen bei der beruflichen Eingliederung habe.
Ich kann allerdings nicht erkennen, wo die Bundesregierung diese Hinweise sammelt bzw. ob sie sich zur Klarstellung der eindeutig schlechteren Beschäftigungssituation von behinderten Frauen überhaupt um Daten bemüht. Es findet sich in der Großen Antwort in keiner Tabelle, ausgenommen bei der über die Eintritte in berufliche Bildungsmaßnahmen, eine geschlechtsspezifische Aufgliederung, nicht einmal bei der Einstellung Schwerbehinderter in Bundesbehörden. Ich fordere Sie also auf, in Zukunft eine entsprechende Unterscheidung vorzunehmen, da nur so eine konkrete Datenlage zu schaffen ist, die Auskunft über die Beschäftigungs- und auch Lebenssituation schwerbehinderter Frauen gibt.
Vielleicht ist es aber auch der Wille der Bundesregierung, die dramatische Situation der betroffenen Frauen nicht genau zu benennen, um nicht, wie in unserer Entschließung gefordert, in die Pflicht genommen zu werden, spezifische Förderprogramme zu initiieren.
Nach unserer Erkenntnis erleben sich Frauen mit Behinderungen im Rennen um einen Arbeitsplatz bei gleicher Qualifikation nur allzuoft als Viertplazierte. Platz 1 belegt der Mann, Platz 2 die Frau,
Antje-Marie Steen
Platz 3 der behinderte Mann und Platz 4 schließlich die behinderte Frau.
Nur ein Fünftel der behinderten Frauen - bei den behinderten Männern ist es immerhin die Hälfte - ist erwerbstätig. Bereits mit der Ausbildung beginnt die Benachteiligung dieser im beruflichen Bereich.
Der Frauenanteil in Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken liegt etwa bei einem Drittel. Ein gewichtiger Grund dafür ist, daß Reha-Maßnahmen, oft wohnortfern und mit internatsmäßiger Unterbringung, speziell für Frauen mit Kindern wegen der Kindererziehung nicht zu vereinbaren sind. Die Zahl der Abbrecherinnen ist mit zirka 25 Prozent auch deshalb so hoch, weil die Belastungen sehr intensiv sind. Wohnortnahe Ausbildungsangebote sind daher gerade für Frauen mit Behinderungen überaus wichtig. Hier gibt es einen erheblichen Nachholbedarf.
Zusätzlich kann sich die geplante Umwandlung des Rechtsanspruches auf Reha in eine Kann-Leistung insbesondere für Frauen mit Behinderungen als eine unüberwindbare Hürde erweisen. Sie sollte unter dem Aspekt der speziellen Erschwernis Behinderter, auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar zu sein, fallengelassen werden. Ich frage: Wo war eigentlich das Veto des Behindertenbeauftragten? Hat er die Interessenvertretung der Behinderten bei der Vorlage des Sparpaketes abgegeben, oder hat er sie an das Kabinett zurückgegeben?
Die Beschäftigungschancen für Behinderte sind wesentlich von der Mobilität der Betroffenen abhängig: von den Möglichkeiten, den Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu erreichen, oder von der Nutzung des eigenen Pkw. Verstärkt wird dieses Problem durch den sehr unzureichenden ÖPNV, der für Mobilitätseingeschränkte nicht zugänglich und nicht ausgebildet ist. Deshalb ist nachdrücklich auf den barrierefreien Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu drängen. Hier ist endlich eine einzelgesetzgeberische Maßnahme nötig.
Die Bundesregierung führt an einer Stelle aus:
Der technologische Fortschritt und die auf seiner Grundlage entwickelten Hilfsmittel eröffnen insbesondere Körper- und Sinnesbehinderten neue berufliche Chancen . . .
So die Erkenntnis der Bundesregierung.
Sie finden in unserem Antrag die Aufforderung, die Anerkennung und Förderung der Gebärdensprache sicherzustellen. Gerade im Zusammenhang mit dem eben gemachten Hinweis auf die Einlassung der Bundesregierung möchte ich darauf aufmerksam machen, daß das Europäische Parlament bereits 1988 einen Beschluß zur Anerkennung der Gebärdensprache gefaßt hat. Die Mitgliedstaaten sind ebenfalls zur Anerkennung aufgerufen worden. Ich frage, warum sich die Bundesregierung diesem Aufruf bis heute nicht angeschlossen hat.
Die über 80 000 gehörlosen Menschen in der Bundesrepublik haben ein Recht auf Information und auf den Zugang zu Kommunikationsmitteln. Die Gebärdensprache kann wesentlich dazu beitragen, daß Isolation und Ausgrenzung schwerbehinderter Menschen aufgehoben werden. Die Hauptfürsorgestellen sind inzwischen bereit, berufstätige Gehörlose durch flankierende Hilfen zu unterstützen.
Mit der Anerkennung und Förderung der Gebärdensprache könnten wesentlich mehr Betroffene in eine bessere Lage versetzt werden. Wir fordern Sie auf, diesen Antrag zu unterstützen.
Außerdem bitte ich an dieser Stelle noch einmal um Unterstützung dafür, daß Gebärdendolmetscher bei den Debatten des Deutschen Bundestages eingesetzt werden, wie es jetzt bereits durch einen - leider - privaten TV-Sender erfolgt. Es wäre eine Aufgabe für das Hohe Haus, diesem Wunsch vieler behinderter Menschen endlich nachzukommen.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz hat zur Art der Arbeitsplatzausgestaltung für Menschen mit Behinderungen in ihrer Broschüre „Arbeitsplätze für Behinderte und Leistungsgewandelte" viele detaillierte Vorschläge und Anregungen gemacht. Das belegt: Menschen mit Behinderungen sind voll leistungsfähig, wenn der Arbeitsplatz der Behinderung entspricht. Das gilt - ich möchte es noch einmal betonen - auch für Frauen mit Behinderungen. Solange wir Behinderung als abweichende Norm in körperlicher, geistiger, seelischer und sozialer Hinsicht deklarieren - das ist in der Antwort der Bundesregierung sehr deutlich der Fall -, so lange wird es eine Gleichstellung Behinderter und Nichtbehinderter nicht geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fordere Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen und damit ein Stück zum Barriereabbau beizutragen.
Ich erteile der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde sehr seltsam, wie hier heute argumentiert wird: Die SPD prangert auch in dieser Debatte, Herr Haack, öffentlich den Sozialabbau der Bundesregierung an. Aber in den von Ihnen regierten Bundesländern, also hinter Ihrer eigenen Tür, bauen Sie klammheimlich Lei-
Birgit Schnieber-Jastram
stungen für Behinderte ab. Das muß man einmal deutlich machen.
Im Sozialausschuß haben wir uns am Rande der Beratungen zur Pflegeversicherung und bei der Koordinierung der einschlägigen Paragraphen nicht selten über den § 3 a BSHG unterhalten, der Behinderten einen Vorrang in der ambulanten Hilfe einräumt. Ich bin ziemlich erstaunt, wenn ich jetzt höre, daß der Vermittlungsausschuß auf Antrag der SPD, Herr Haack, dieses Prinzip einschränkt. Um die Länderfinanzen zu schonen, können Behinderte jetzt unter bestimmten Umständen zwangsweise - dafür tragen Sie die Verantwortung - in stationäre Einrichtungen eingewiesen werden. Im SPD-regierten Hamburg hat gestern ein Behinderter bereits symbolisch im schwedischen Konsulat um Asyl nachgesucht, um auf seine Situation aufmerksam zu machen. Ähnliches ist in Bonn und in Berlin passiert; in Hessen stehen erste Zwangseinweisungen bevor.
Ich empfinde die Praxis der SPD, nach außen hin den Abbau des Sozialstaates zu polemisieren, aber in den eigenen Ländern knallharte Sparpolitik auf Kosten der Behinderten zu betreiben, als Heuchelei.
Sparen müssen die Länder ebenso wie der Bund. Dann aber sollte die SPD auch dazu stehen, wenn sie im sozialen Bereich Einsparungen vornimmt.
Die SPD greift in ihrem Entschließungsantrag ungerechtfertigterweise die Bundesregierung an, sie verursache die Verschlechterung der Lebenssituation Behinderter. Dabei ist der § 3 a BSHG nur ein Beispiel dafür, daß sich die SPD an die eigene Nase fassen muß. Diese Nase müßte im übrigen wie die Nase Pinocchios immer länger werden.
Man betrachte einmal die verfälschenden öffentlichen Darstellungen des Bonner Reformprogramms durch die SPD!
Die SPD weiß nämlich genauso gut wie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land, daß das Reformprogramm der Bundesregierung notwendig für die Erhaltung des Sozialstaates ist. In den von Ihnen regierten Bundesländern und Kommunen - wie etwa in Hamburg - streichen Sie die Leistung zusammen. Wenn der Bund - wohlgemerkt: aus Sparzwang, nicht aus Sparlust - Leistungen einschränken muß, dann wird gleich vom sozialen Kahlschlag gesprochen. Mit dieser Art der gespaltenen Wahrnehmung lösen Sie die Probleme, die anstehen, überhaupt nicht. Mit Ihrem Doppelspiel werden Sie auch die Bürger nicht lange täuschen können.
Ich möchte noch ein paar Worte zu der spezifischen Behindertenproblematik sagen. Letzten Sommer haben in meinem Wahlkreis die Hamburger
Elbe-Werkstätten in Hamburg-Bergedorf ein Organisationskonzept vorgelegt. Darin finden sich ganz entscheidende Punkte: individuelle Entwicklungs- und Leistungsmöglichkeiten, marktgerechte Grundsätze, Kostenbewußtsein und vieles anderes. Wenn ich mir anschaue, was die Bundesregierung im BSHG plant, dann stelle ich fest, daß das identische Punkte sind. Wir wollten eine Änderung der Werkstättenverordnung im Rahmen der Reform des Sozialhilferechtes - eine Reform, die von der SPD abgelehnt worden und jetzt wieder im Vermittlungsausschuß ist. Wir wollten die Erhöhung der Löhne in den Werkstätten. Sie, und niemand anderes, haben sie abgelehnt.
Machen Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube! Bevor Sie neue Entschließungsanträge zur Arbeitswelt und zur Behindertenpolitik vorlegen, sollten Sie zunächst im Vermittlungsausschuß die Sozialhilfereform passieren lassen, die vielen Behinderten mehr gibt, als sie jetzt haben.
Ich freue mich auf die Ausschußberatung zu dieser Sache.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Johannes Singhammer das Wort. - Frau Kollegin, es gibt keine Zwischenfrage mehr, wenn nichts mehr „dazwischen" ist, wenn die Rede zu Ende ist.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Richtig ist, daß der Umgang eines Staates, einer Gesellschaft mit Schwächeren gleichsam einen Lackmustest für die Humanität, für die Verfaßtheit eines Gemeinwesens darstellt.
Allerdings entspricht das Ergebnis des Lackmustests, das Sie ausstellen, nicht der Wirklichkeit. Lassen Sie mich dafür nur zwei Beispiele nennen.
Die Bundesregierung täte sich mit Recht schwer damit, Empfehlungen abzugeben, wenn sie beispielsweise nicht selbst eine Beschäftigungsquote von 6 Prozent Schwerbehinderter erreicht hätte. Der Bund hat als Arbeitgeber die Beschäftigungsquote von Schwerbehinderten mehr als erfüllt. 57 000 mit Schwerbehinderten besetzte Arbeitsplätze entsprechen einer Quote von 6,4 Prozent.
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, also das Ministerium als solches, der unmittelbare Bereich, in dem auch der Minister mit seinen Mitarbeitern arbeitet, hat die Konsequenzen aus unserer generellen Forderung gezogen und nimmt mit einer Quote von 10,2 Prozent eine Spitzenstellung ein.
Sie, Herr Haack, haben von einer „schäbigen Politik" gesprochen. Ich frage Sie: Sind diese 10,2 Prozent schäbig? Ich nenne sie nicht schäbig, sondern betrachte sie als ein Zeichen der Solidarität,
Johannes Singhammer
und ich danke dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung dafür, daß er dies erreicht hat.
Sorge bereiten muß - das sage ich auch - diese Beschäftigungsquote bei den privaten Arbeitgebern. Sie liegt deutlich unter 4 Prozent. Das ist zuwenig. Wir wollen, daß mehr Behinderte einen Arbeitsplatz finden und die Sicherheit erhalten, im Arbeitsleben gebraucht zu werden.
Was ist zu tun? Zuallererst, ob behindert oder ohne Handicap, mehr wirtschaftliches Wachstum schafft mehr Arbeitsplätze und belebt den Arbeitsmarkt. Deshalb gibt es zu unserem Programm „Mehr Wachstum und Beschäftigung" auch im Interesse der Behinderten keine Alternative.
Die Reform des Arbeitsförderungsrechts soll die Erwerbschancen von Arbeitslosen verbessern und Arbeitslosigkeit vermeiden helfen. Wir sind zuversichtlich, daß sich diese Erfolge auch für den Bereich der Behinderten einstellen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich gilt auch für andere öffentliche Arbeitgeber, die Mindestquote nicht nur zu erreichen, sondern sie zu überschreiten. Ich denke - und das sage ich hier auch -, daß hier auch bei dem einen oder anderen Bundesland noch ein gewisser Spielraum besteht.
Auch was die Zahl der Aufträge an Werkstätten für Behinderte betrifft, meine ich, daß noch Steigerungsmöglichkeiten gegeben sind. In den Jahren 1992 bis 1994 sind von Bundesdienststellen Aufträge im Werte von 40 Millionen DM an diese Werkstätten ergangen. Ich meine aber, daß nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Hier gilt es, Kreativität ohne Grenzen einzusetzen. Das gilt im übrigen auch für die privaten Unternehmer und die Vorstandsetagen großer privater Firmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben alldem, was den Staat mehr Geld, mehr Finanzen kostet und was sehr wichtig ist, ist auch ein Umdenken in den Köpfen entscheidend. Menschen mit einem Handicap können ein Gewinn für Unternehmen sein. Damit meine ich nicht die Förderung durch das Arbeitsamt, die auch dem Unternehmen zugute kommt. Ich meine die Ernsthaftigkeit, den Sachverstand, das Können, die Geduld, die Behinderte mit ihrer ganz besonderen Lebenserfahrung einbringen können. Wer trotz eines Handicaps mit Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit eine volle oder auch eine eingeschränkte Leistung bringt, ist kein Verlustbringer, sondern ein Gewinn, vor allem auch ein Gewinn an Menschlichkeit.
Die staatlichen Leistungen für Behinderte sind in den letzten Jahren spürbar verbessert worden. Ich möchte an dieser Stelle auch dem Beauftragten der
Bundesregierung, der sich ja immer eingesetzt hat und der auch zuletzt in der Debatte um das Arbeitsförderungsgesetz maßgeblich mitgewirkt hat, herzlich danken.
Alle staatliche Gesetzgebung und alles Mühen der Verwaltung schaffen nur die Rahmenbedingungen. Deshalb ist der Appell, den ich eben an die Unternehmen und an alle anderen, die Umgang mit behinderten Menschen haben, gerichtet habe, kein Ablenken von der politischen Verantwortlichkeit. Er ist aber aus der Erkenntnis heraus gemacht worden, daß der Staat nicht alles allein regeln kann.
Menschen mit Behinderung brauchen kein Mitleid, wohl aber Verständnis, Freundschaft, Zuwendung, Aufmunterung und Anerkennung. Das ist mehr, als jeder Paragraph zu leisten vermag.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Abgeordneten Andrea Fischer.
Frau Kollegin Schnieber-Jastram, Sie haben sich eben darüber geärgert, daß mit gespaltener Zunge geredet wird, daß nicht gesagt wird, wie die Praxis in den Ländern ist. Sie haben die Praxis in den Ländern und das, was dort stattfindet, gegeißelt. Ich teile Ihre Forderung, daß wir uns hier um intellektuelle Redlichkeit und Wahrhaftigkeit bemühen sollten. Ich kann bestenfalls anerkennen, daß Ihre Rede unter sportlichen Gesichtspunkten sehr gelungen war, nämlich dadurch, daß Sie die Verantwortung auf eine andere Ebene abgeschoben haben.
Ich möchte auf zwei Punkte hinweisen.
Die bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für die von Ihnen in dieser Schärfe kritisierte Praxis - Sie haben sogar von „Zwangseinweisungen" gesprochen -, die Sie bei den Ländern festgemacht haben, wird durch das Sozialhilfegesetz, wie Sie es planen, und durch die im Moment gültige Fassung des § 3 a BSHG, über den im Vermittlungsausschuß verhandelt wird, geschaffen. Das ist das Problem.
Ich will das an einem anderen Punkt, der Selbstbestimmung, noch einmal festmachen, weil Sie darauf sehr stark abgehoben haben. Wir haben uns wirklich den Mund fusselig geredet, um Ihnen zu erklären, daß man das Assistenzmodell in der Pflege im Rahmen des Pflege-Versicherungsgesetzes absichern kann, daß man den Mißbrauch, der von Ihnen befürchtet wird, verhindern kann. Wir konnten mit Hilfe der Pflegekassen nachweisen, daß das ganze in einem erträglichen Finanzierungsumfang geschehen
Andrea Fischer
kann. Keines dieser Argumente hat bei Ihnen etwas bewirkt. Auch die Regelungen in bezug auf die Pflegeversicherung sind in einem Bundesgesetz niedergelegt.
Deswegen möchte ich darauf hinweisen, daß diese Vorwürfe vielleicht diejenigen treffen, gegen die Sie sie gerichtet haben, aber daß sie Sie nicht von dem entlasten, was die Bundesregierung im Rahmen der Behindertenpolitik in den letzten Jahren gemacht hat und jetzt macht.
Frau Schnieber-Jastram, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu antworten.
Liebe Frau Fischer, vieles von dem, was Sie sagen, ist ja berechtigt. Nur, eines möchte ich hier klarstellen: Was ich mir und wir uns nicht gefallen lassen, ist, daß wir des Sozialabbaus bezichtigt werden, daß von uns gefordert wird, daß in § 3 a etwas geändert werden soll, und daß dann, nachdem wir Sozialpolitiker uns zusammensetzen und in § 3 a BSHG nach Vorlage aus dem Gesundheitsausschuß etwas geändert haben, die SPD-Bundesländer im Vermittlungsausschuß diese Änderung zurückgenommen sehen möchten und damit die Stellung der Behinderten verschlechtern. So können wir diese Diskussion ohne Zweifel nicht führen.
Ich schließe damit die Aussprache.Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf den Drucksachen 13/4972 und 13/4991 zur Federführung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Gesundheit-zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 i und Zusatzpunkt 5 auf:Wohnungspolitische Debatte7. a) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungWohngeld- und Mietenbericht - Drucksache 13/4254 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheitb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Unterrichtung durch die BundesregierungRaumordnungsbericht 1993- Drucksachen 12/6921, 13/1740 -Berichterstattung:Abgeordnete Walter Schöler Hans-Wilhelm Peschc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Unterrichtung durch die BundesregierungGroßsiedlungsbericht 1994- Drucksachen 12/8406, 13/1741 -Berichterstattung: Abgeordnete Iris GleickeAngelika Mertens Josef Hollerithd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
- zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Expertenkommission Wohnungspolitik- zu der Unterrichtung durch die BundesregierungStellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Expertenkommission Wohnungspolitik- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Expertenkommission Wohnungspolitik- Drucksachen 13/159, 13/1268, 13/1312, 13/4533 -Berichterstattung:Abgeordnete Herbert Frankenhauser Otto Reschkee) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Werner Dörflinger, Herbert Frankenhauser, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun , Dr. Klaus Röhl, Lisa Peters, Horst Friedrich und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes- Drucksache 13/4949 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Finanzausschuß
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10122 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Juni 1996
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirschf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAnhebung der Freibetragsregelungen nach dem Wohnungsbauförderungsgesetz 1994- Drucksache 13/3665 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugendg) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Walter Schöler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSteuerliche Förderung im Mietwohnungsbau zielgenau gestalten- Drucksache 13/3918 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschafth) Beratung des Antrags des Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDSUmfassende Reform der Wohnungsförderung und Erarbeitung eines Wohngesetzbuches- Drucksache 13/4725 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Rechtsausschuß FinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußi) Beratung des Antrags des Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDSBeendigung der Zwangsprivatisierung von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen in den ostdeutschen Bundesländern durch Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes- Drucksache 13/4837 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
RechtsausschußHaushaltsausschußZP5 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dietrich Austermann, Dr. Peter Ramsauer, Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Birgit Homburger, Jürgen Koppelin, Hildebrecht Braun , Dr. Klaus Röhl und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs- Drucksache 13/1733 –
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dietmar Schütz , Volker Jung (Düsseldorf), Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuches- Drucksache 13/1736 –
- Zweite und dritte Beratung des vorn Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs- Drucksache 13/2208 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
- Drucksache 13/4978 -Berichterstattung:Abgeordnete Peter Götz Walter SchölerZum Wohngeld- und Mietenbericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Zum Raumordnungsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, zum Großsiedlungsbericht ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Außerdem hat die Fraktion der SPD einen Entschließungsantrag zum Bericht der Expertenkommission Wohnungspolitik eingebracht.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dietmar Kansy.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat die SPD eine Pressemitteilung zu unserer heutigen Debatte herausgegeben, und ich hatte schon Zeichen und Wunder vermutet; denn die Überschrift heißt: Grundlegende Reform der Wohnungspolitik dringend notwendig. Dann machte ich den Fehler und las auch das Kleingedruckte. Dieses konterkariert die Überschrift.
Wir können doch nicht fachpolitische Themen losgekoppelt von der allgemeinen gesellschaftlichen Umbruchsituation behandeln, in der wir uns befinden und in der sich das ganze Land befindet. Was soll der Vorwurf, der Bauminister habe die schlimmste Krise der Bauwirtschaft seit 20 Jahren herbeigeredet?
- Richtig, Frau Kollegin! Das sagen Sie einmal Ihrer Fraktionsgeschäftsstelle.
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Zweitens hatte er natürlich den größten Bauboom in seiner Amtszeit. Das möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal sagen.
Wenn beispielsweise der sachsen-anhaltinische Wohnungsbauminister einer rot-grünen Landesregierung, die von der PDS geduldet wird, die Wohnungs- und Städtebaumittel um zwei Drittel kürzt oder wenn der entsprechende Senator in Berlin aus einer großen Koalition oder wenn andere Landesminister Ähnliches tun, dann kann man nicht sagen, das seien unfähige oder hartherzige Wohnungspolitiker. Die Leute stellen sich der Verantwortung unter veränderten Bedingungen. Das müssen wir auch im Bund in der Wohnungspolitik tun.
Die Koalitionsfraktionen haben deswegen bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode klargemacht, daß wir bei begrenzten öffentlichen Mitteln, hoher Steuerlast und einer gewaltigen Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden unsere Hauptaufgabe darin sehen sollten, diese begrenzten Mittel unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität und Solidarität zielgerichteter und treffsicherer einzusetzen und nicht so weiterzumachen, wie wir in guten Jahren Wohnungspolitik betreiben konnten.
Im Bereich der Eigentumsförderung ist das bereits erfolgreich geschehen. Die Kollegin Rönsch wird im Verlauf dieser Debatte noch darauf eingehen und erste Bilanz ziehen.
Im Bereich des sozialen Wohnungsbaus liegt die Aufgabe noch vor uns. Der Bundesbauminister hat - meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was soll der Vorwurf des Untätigseins? - bereits im Dezember letzten Jahres den Länderbauministern in der Arge-Konferenz die Eckpunkte seines Konzepts vorgelegt. Bisher ist dort nichts passiert. Ich appelliere dringend an die Länder, entweder endlich eigene Vorstellungen zu Papier zu bringen oder sich unbeschadet unterschiedlicher parteipolitischer Interessen mit uns auf einige wesentliche Eckwerte zu einigen, damit wir in der Reform des sozialen Wohnungsbaus weiterkommen.
Es hat keinen Sinn, weiter die Augen davor zu verschließen, daß Mietvorteile der rund 2,5 Millionen Sozialwohnungen, die wir noch haben, in erheblichem Umfang Menschen zugute kommen, die im Verwaltungsdeutsch Fehlbeleger genannt werden. Das sind mehr als 40 Prozent, und trotz heiliger Schwüre vieler Bundesländer zahlen nur 20 bis 30 Prozent aller Sozialmieter eine Fehlbelegungsabgabe und weitere eine zu geringe.
Jetzt muß das Wesentliche auf den Tisch. Die Ursache für die Mietverzerrung ist die starre Kostenmietenkalkulation, das sogenannte Erstarrungsprinzip. Das muß nicht nur unter dem Druck der leeren Kassen, sondern auch mit dem Anspruch auf soziale Treffsicherheit und letztendlich soziale Gerechtigkeit vom Tisch, sonst werden wir keine wesentliche Reform durchbekommen.
Dieses Prinzip nimmt übrigens auch den Investoren jeglichen Anreiz zum kostengünstigen Bauen, zur Kostensenkung. Das ist ein Thema, mit dem sich das Parlament in den letzten Monaten in den Fachausschüssen beschäftigt hat.
Eine flexible Ausrichtung der differenzierten Wohnbedürfnisse ist nach unserer Auffassung weder mit dem ersten Förderweg noch langfristig mit dem zweiten Förderweg zu erreichen. Wir schlagen Ihnen noch einmal vor, sich im Rahmen eines dritten Wohnungsbaugesetzes oder Wohnungsgesetzbuchs auf eine einkommensorientierte Förderung unter Wegfall der klassischen Fehlbelegungsabgabe zu konzentrieren.
Meine Damen und Herren, meine Fraktion ist offen. Wir bestehen auch nicht darauf, daß jeder Vorschlag des BMBau auf Punkt und Komma genau übernommen wird. Aber wir müssen jetzt mit Ihnen - Sie sind herzlich dazu eingeladen - und mit den Bundesländern einen praktikablen Weg finden, um wenigstens diese Eckwerte zu beschließen. Wir wollen in der Angelegenheit weiterkommen. Sonst landet irgendwann einmal ein eigener Gesetzentwurf im Vermittlungsausschuß. Was dann damit passiert, wissen wir in diesem Hause: Er landet jedenfalls nicht mehr bei Fachleuten.
Ein weiteres Reformvorhaben ist die Novelle zum Baugesetzbuch. Auch da beklagen Sie, es sei nichts passiert. Der Referentenentwurf ist bei den Ländern, ist bei den Verbänden. Als interessiertes MdB konnten auch Sie ihn bekommen. In kurzer Zeit ist Gewaltiges geleistet worden, um diesen Referentenentwurf auf den Tisch zu bringen.
In Teilbereichen haben wir noch Erörterungsbedarf, auch als CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Schwerpunkte der Novelle haben aber unsere Zustimmung: überhaupt erst mal wieder die Schaffung eines einheitlichen Baurechts, Integration der umweltrelevanten Regelungen, strukturelle Vereinfachung, Rücknahme des Staatseinflusses, Stärkung der kommunalen Planungshoheit, eine neue Baunutzungsverordnung, eine Novelle zum Raumordnungsgesetz. Diese und viele andere Punkte sind ein gewaltiger Schritt zur Straffung und Schlankmachung des Planungsrechts am Ende dieses Jahrhunderts und damit zur Zukunftsgestaltung.
- Da kommt ein Zuruf: „Das schafft keine neuen Wohnungen."
Wenn das Ihr Politikansatz ist, liebe Kollegen von der SPD, dann können wir so langsam wirklich einpakken. Es geht nicht darum, immer neue Milliarden auf den Tisch zu legen, die wir nicht haben. Vielmehr müssen wir auch im immateriellen Bereich neue
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Wege gehen, damit wir wieder eine Zukunft haben. Das gilt auch für den Wohnungsbau.
Deswegen steht trotz Ihrer Kritik auch das Mietrecht auf dem Prüfstand; denn es ist zwischenzeitlich nicht nur für die Mieter, sondern teilweise auch für die Kleinvermieter fast ein Dschungel mit Lotteriecharakter. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - das will ich an dieser Stelle sagen - ist damit nicht gemeint, die Balance zwischen den berechtigten Ansprüchen der Mieter und denen der Vermieter aufzugeben.
Der Wohngeld- und Mietenbericht, der uns vorliegt, zeigt, daß diese Balance existiert.
Eine wirklich unabhängige DIW-Untersuchung in Ihrem sozioökonomischen Panel, die zufällig gleichzeitig vorgelegt wurde, hat gezeigt: Die große Mehrheit der Mieter in Deutschland ist mit ihrer Wohnsituation zufrieden und hält die Miete für angemessen, weil sie dafür eine anständige Wohnung bekommt. Wo das nicht geschieht - das kann man sich in den neuen Bundesländern ansehen -, passiert das, was wir gerade mit Mühe aufholen.
25 Prozent Belastungsquote im Westen und 20 Prozent im Osten sind tragbar. Deswegen bedeutet Mietenreform für uns - ich wiederhole mich - Durchschaubarkeit, Einfachheit. Dabei gibt es durchaus Haushalte, die Schwierigkeiten haben.
Ich muß Ihnen natürlich auch folgendes sagen: Achten Sie nicht immer allein auf Bundesrecht! Wenn zum Beispiel die nordrhein-westfälische Landesregierung durch Anhebung der Zinsen für Wohnungsbaudarlehen Sozialmieten über den Stand der Vergleichsmieten hochtreibt, ist auch das Mietenpolitik, und zwar eine falsche.
Wenn die Kommunalabgaben unserer ruhmreichen Kommunalpolitiker aller Fraktionen in 1000 Gemeindeparlamenten fünfmal stärker steigen als die Nettokaltmiete, ist auch das Mietenpolitik - aus Sicht der Mieter.
Wer wie die SPD-Bundestagsfraktion und die A- Länder die betriebliche Vermögensteuer beibehalten und noch erhöhen will, muß wissen, daß er bei den Wohnungsunternehmen mit solcher Politik sowohl Investitionsverzicht als auch Mietenerhöhung betreibt. Dies alles gehört dazu, wenn wir uns demnächst über das Thema Mietrecht unterhalten.
Ich komme zum Wohngeld. Natürlich ist eine gemeinsame Antwort von Bund und Ländern überfällig, und zwar eine Antwort. Wahrscheinlich wird es an diesem Freitag, wenn die Arge Bau tagt, den x- ten Appell an Regierung und Bundestag geben, das Wohngeld zu erhöhen. Er kommt von den Herren Länderbauministern, die wohl wissen, daß sie, wenn sie nach Hause kommen, in den Landeskabinetten auf taube Ohren stoßen werden.
Bei den Länderfinanzministern, Frau Kollegin, stand das Wohngeld in den letzten Tagen sogar auf ihrer Sparliste, die durch die Presse gezirkelt ist. Das ist nämlich die Wirklichkeit in diesem Lande.
Heute hat der Finanzausschuß des Bundesrates getagt. Mir ist kein SPD-Antrag bekannt, eine allgemeine Erhöhung des Wohngeldes durchzuführen. Man hat über den thüringischen Minivorschlag diskutiert und eine Mehrheit gefunden. Wir brauchen also eine gemeinsame Strategie von Bund und Ländern, in der schwierigen Haushaltssituation der beiden eine vernünftige Wohngeldnovelle hinzubekommen.
- Herr Kollege Großmann, das ist einfach die Wahrheit. Die tut manchmal weh; das ist klar. Aber so ist sie.
Das Jahressteuergesetz 1997 und den Diskussionsbedarf seitens der Baupolitik kann ich aus Zeitgründen nicht ausführen.
Zum Altschuldenhilfe-Gesetz wird Kollege Rau gleich etwas sagen. Wir sind stolz darauf, daß wir jetzt eine zeitgerechte Novelle erreicht haben.
Das CO2-Programm - von der Union insbesondere unter der Federführung des Kollegen Meister erarbeitet - muß aus technischen Gründen heute von der Tagesordnung gestrichen werden. Wir werden es bei passender Gelegenheit wieder auf die Tagesordnung setzen.
Zum Abschluß ein Wort zur Bauwirtschaft. All dies, was wir jetzt zu bereden haben, weil wir mit den Gegebenheiten fertig werden müssen, trifft die Bauwirtschaft in einer schwierigen Situation. Ich kann jetzt darauf im Detail nicht eingehen. Ich möchte aber von dieser Stelle aus noch einmal an die Tarifpartner - insbesondere auch an die Arbeitgeberseite - appellieren, jetzt endlich das Wirksamwerden des Entsendegesetzes zu ermöglichen,
damit wir überhaupt eine Chance haben, auf die Dauer deutsche Bauunternehmer mit deutschen Arbeitnehmern in Deutschland noch zu halten.
Für uns, meine Damen und Herren, gilt: Wir müssen - stärker, als wir das bisher in der Vergangenheit gemacht haben - denjenigen in unserer Bevölkerung, die dies wirtschaftlich leisten können, in der Wohnungsbaupolitik und beim Thema Wohnen mehr Eigenverantwortung zuweisen, damit wir mit dem restlichen Geld denjenigen besser helfen können, die es allein nicht schaffen. Das sollte unsere Leitlinie sein.
Ich erteile der Abgeordneten Angelika Mertens das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politiker sind ja immer auf der
Angelika Mertens
Suche nach schönen Sprüchen. Solch ein Aphorismus stammt von einem serbischen Dichter mit einem unaussprechlichen Namen und lautet: „Keine Vergangenheit, die nicht einmal Zukunft gewesen wäre." Ich finde, er paßt nicht nur hervorragend zu unserer Arbeit im Bauausschuß, weil unsere Taten und auch Untaten ja fast immer sichtbar werden, zum Beispiel in Form von Häusern oder Windkrafträdern, aber auch in Form von Obdachlosigkeit und Segregation. Er paßt natürlich auch hervorragend zum Sparpaket und zu den Haushaltsberatungen.
Kaum eine Politikergeneration hat über mehr Zugang zu Informationen verfügt als unsere. Wir haben damit viele Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Veränderungen in unsere Konzepte aufzunehmen und vor allen Dingen aus der Vergangenheit zu lernen.
Was dann aber auf der rechten Seite dieses Hauses dabei herauskommt, ist die sture Verengung auf quantitative Fragen der Wohnraumversorgung und natürlich auch auf Finanzierungsfragen. Herr Kansy hat das eben noch einmal deutlich gemacht. Nicht, daß das keine wichtigen Fragen wären; sie sind für viele Menschen sogar existentiell.
Anstatt in finanziell und gesellschaftlich schwierigen Zeiten so fehlerfreundlich und rückholbar wie möglich zu entscheiden, macht die Koalition vorzugsweise beide Augen zu. Will sie nicht sehen, was die Deregulierungs- und Liberalisierungspolitik auf dem Wohnungsmarkt angerichtet hat, und welche sozialen und kulturellen Kosten das verursacht hat? Von wem wird das bezahlt? Es wird von denen bezahlt, die die Ellenbogen nicht angespitzt haben. Womit wird es bezahlt? Mit reduzierten und gescheiterten Lebensentwürfen.
Sie reden von mehr Eigenverantwortlichkeit, verengen aber gleichzeitig die Spielräume: Die einen gewinnen, und die anderen verlieren. Nun sollen die Verlierer, die das System nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollen, es doch richtig zu spüren bekommen.
Die Diskussion um den sozialen Wohnungsbau macht das sehr deutlich. Gleichsam als Gnade soll er denen gewährt werden, die sich aus eigener Kraft nicht mehr versorgen können. Ich frage mich: Was ist das für eine Politik? Sie haben Deregulierung zugelassen, ja, massiv gefördert. Sie müssen doch festgestellt haben: Marktwirtschaft in der Wohnungsversorgung hat nicht zu niedrigen Mieten und nicht zu einer gerechten Verteilung des Wohnraums geführt. Sie hat vielmehr aufgeteilt in Gute und Zahlungskräftige für die besseren Gebiete und die privaten Vermieter sowie in Schlechte und Arme für die schlechten Gebiete und die öffentlichen Vermieter.
Markt hat viele Eigenschaften. Rücksichtnahme und Moral gehören nicht dazu.
Die Koalition hat es in 14 Jahren sogar geschafft, gleichzeitig zu schlafen und zu sündigen. Während jeder mittelmäßige Statistiker ziemlich genau sagen konnte, wann die geburtenstarken Jahrgänge Wohnraum nachfragen werden, für wie viele Aussiedler Wohnraum bereitgestellt werden muß und wie hoch die Scheidungsraten sind, träumte die Koalition vom Markt, der schon alles regeln wird.
Sie hat den Markt mit der Abschaffung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes sogar noch erweitert. Letztlich ist sogar das gemeinnützig gebundene Vermögen zur Ware degradiert worden. Eine Wohnung ist aber kein Profitcenter. Der Markt ist nur daran interessiert, möglichst schnell und möglichst viel Rendite zu machen. Wohnungspolitiker müssen daran interessiert sein, möglichst vielen Menschen möglichst guten und möglichst preiswerten Wohnraum zugänglich zu machen.
Nach Meinung der Expertenkommission Wohnungspolitik haben wir heute noch viel zuwenig Markt. Niemand bezweifelt wohl die jeweilige Fachlichkeit der Experten. Aber manchmal können die Köche noch so gut, die Zutaten noch so frisch sein, wenn man ein Soufflé bestellt, bedarf es nicht nur des Könnens, es bedarf geradezu der Kunst. Nur wenn alles stimmt, geht das Ding auch auf. Da darf man vor dem Ofen dann nur auf Zehenspitzen stehen, man darf die Ofentür nicht vor der Zeit aufmachen. Die Opfer mißratener Soufflés behaupten gar, man dürfe noch nicht einmal scharf hinsehen.
Was 1994 vorgelegt wurde, ist der gescheiterte Versuch eines Soufflés. Man hätte übrigens auch etwas Einfacheres bestellen können. Man kann sich jetzt darüber unterhalten, ob man mit den Zutaten noch etwas anfangen kann oder ob der Orkus für Expertengutachten der richtige Aufbewahrungsort ist; so einsam ist es da übrigens nicht.
Da dem Bauminister der Ruf der Genußfähigkeit und der Genußbereitschaft vorauseilt, ist die Vorstellung, er deklariere das zusammengefallene Werk kurzerhand zur Suppe um und lasse sie von 50 Millionen Mietern auslöffeln, fast unvorstellbar. Ich befürchte aber, unsere ursprüngliche Annahme, eine sogenannte Amerikanisierung des Wohnungsmarktes und des Lebens allgemein kann selbst diese Bundesregierung nicht zulassen, bröckelt allmählich dahin.
Der Bundesbauminister bastelt zur Zeit an der Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus und an einem neuen Mietrecht. Damit nimmt er zwei Forderungen der Expertenkommission auf, die sich nach Meinung der SPD nicht nur fatal auf die Mieter und Sozialmieter - übrigens auch die künftigen -, sondern auch massiv auf die Länder auswirken werden. Herr Töpfer, wir erwarten von Ihnen heute eine Stellungnahme, wieviel Bedeutung das Expertengutachten für Ihre zukünftige Politik haben wird.
Angelika Mertens
Sie können dabei den üblichen Schmus, das seien alles nur Diskussionsvorschläge und man wolle das Ganze im Konsens mit den Parlamentariern und dem Bundesrat klären, weglassen. Wir wollen wissen, was Sie wollen, meinetwegen auch, was die Bundesregierung will, falls es da einen Unterschied geben sollte. Was die Länder wollen, ist auch Ihnen mittlerweile klargeworden. Das ist das eine.
Das andere - da komme ich auf das zurück, was Herr Braun gestern so deutlich und wohlformuliert gesagt hat -: Wir erwarten, daß vom Steuerzahler bezahlte Gutachten, die Ihre und unsere Entscheidungsfindung erleichtern sollen, uns nicht sozusagen im Nachklapp und zweiter Klasse zugänglich gemacht werden. Ganz schlecht ist es, wenn man das Ganze erst aus der Presse erfahren kann.
Ich habe neulich einen Brief einer sogenannten Fehlbelegerin erhalten. Sie konnte meine Kritik an den Vorschlägen zur Vergleichsmiete im sozialen Wohnungsbau überhaupt nicht verstehen, wo doch Herr Töpfer endlich die Fehlbelegungsabgabe abschaffen wolle. Überhaupt wolle sie aus ihrer Wohnung auf keinen Fall hinaus, und die Mieten könnten ruhig steigen, schließlich stehe einem Wohngeld zu. Da sind wir dann bei dem Thema, das alle Mieter auf alle Fälle brennend interessiert.
Der Wohngeld- und Mietenbericht liegt vor. Er dokumentiert sehr eindrucksvoll, was in den letzten Jahren gelaufen ist. Der Presse kann man entnehmen, daß es mit dem Wohngeld alles nicht mehr so toll ist. Auch kann man der Presse entnehmen, daß sich namhafte Koalitionspolitiker überlegen, ob eine Verringerung der Mieterrechte und eine Reduzierung des Kündigungsschutzes nicht wichtig wären; sogar der sogenannte Wucherparagraph sei so schlimm doch nicht.
Ich sage Ihnen, die ganz große Nummer scheint wirklich das Wohngeld zu werden. Wir wissen alle, daß die Mieten in den Jahren seit 1990 um 30 Prozent gestiegen sind. Das Wohngeld ist gleichgeblieben. Immer mehr Menschen erreichen die Kappungsgrenze. Wir haben das alles in dem Bericht gelesen. Jetzt scheint diese Wohngeldnovelle zur Disposition zu stehen. Ich finde, das ist ein unglaublicher Vorgang.
Weil die Presse zwar immer gut unterrichtet ist, aber nicht immer richtig zitiert, habe ich einmal in den Bundestagsprotokollen nachgeguckt. Töpfer sagt am 18. Mai 1995: Wohngeld 1996. Töpfer sagt am 5. September 1995: Wohngeld 1996. Ich zitiere aus dem Bundestagsprotokoll vom 9. November 1995:
Ich kann zum Wohngeld genau das wiederholen, was wir gesagt haben. Wir werden das Gesetz so novellieren, daß es noch im Jahr 1996 wirksam wird. Das haben wir an dieser Stelle fünfmal gesagt. Wenn Sie es zum sechstenmal hören wollen, habe ich das damit jetzt gesagt.
Ich sage Ihnen, Herr Töpfer: Wir würden das gerne
auch noch zum siebtenmal hören, und wir wollen es
heute hören. Sie haben vielleicht nachher noch Zeit, um dazu etwas zu sagen.
Wenn es stimmt, daß diese Wohngeldnovelle zur Disposition steht, dann kann man eigentlich nur einen Schluß ziehen: Der Bauminister ist als Wohngeldtiger gestartet und als Bettvorleger des Finanzministers gelandet.
Wir in Hamburg sagen zu solchen Leuten, die vorzugsweise schöne Reden halten, aber nicht zu Potte kommen: Tetsche mit de Utsichten. Ich denke, das trifft sehr genau zu. Man kann auf platt manchmal sehr freundlich sagen, was man von jemandem hält. Überzeugen Sie uns heute von dem Gegenteil! Wir würden uns alle sehr freuen.
Verstecken Sie sich bitte mit Ihrer Antwort nicht hinter den Länderministern. Wer dauernd seine Verabredungen nicht einhält, wird schwerlich den Eindruck erwecken können, er sei an einer gemeinsamen Sache interessiert. Sie haben diese Verabredung nicht eingehalten.
Ich erteile der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, daß es Zeit ist, ein bißchen ehrlich und nicht nur schönfärberisch über die Situation zu sprechen. Insofern unterstütze ich die Forderung der SPD nach Reformen, auch wenn ich nicht unbedingt in allen Punkten der gleichen Meinung bin.
Ich denke, wir müssen uns als erstes eingestehen, daß wir neben wachsendem Wohnungsreichtum und wachsendem Wohnflächenverbrauch unvermittelt wachsende Wohnungsnot und Obdachlosigkeit haben, und das trotz jahrelanger, intensiver, umfassender öffentlicher Förderung, nach der wir uns noch vielfach sehnen werden.
- Das ist dann mehr Ihr Problem als meines.
Wir müssen als zweites zugeben, daß die fortdauernde Arbeitslosigkeit und der Abbau sozialer Netze die Probleme enorm verschärfen werden. Die Wohnungsnot und die soziale Destabilisierung ganzer Stadtteile wird uns in Kürze sehr viel mehr beschäftigen, als wir es heute wahrhaben wollen. Ich bitte Sie, diesen Satz wirklich sehr ernst zu nehmen.
Der erste zentrale Punkt ist - da sind wir uns einig -, daß wir immer weniger öffentliche Mittel haben, um
Franziska Eichstädt-Bohlig
dies zu kompensieren. In den kommenden Wochen wird Herr Minister Töpfer einen Haushalt auf den Tisch legen, der fast ein Nicht-Haushalt sein wird.
Die Wohngelderhöhung wird, den Versprechungen zum Trotz, nicht kommen. Das ist schon mehrfach angesprochen worden. Die Städtebauförderung können wir überhaupt nur noch mit geputzter Brille suchen. Wir finden sie nur noch als symbolische Größe. Auch die Wohnungsbauförderung macht mir zunehmend Sorge. Ich glaube, wir werden uns wundern, wie klein die Zahl ist, die wir im Etat 25 finden werden.
Das einzige, was gerettet worden ist, ist die Eigenheimzulage. Aber die existentiellen Pflichtaufgaben stehen alle auf der Abschußliste.
Wenn das so ist, müssen wir doch ernsthaft darüber nachdenken, wie wir mit den Instrumenten umgehen, die keine oder wenig öffentliche Gelder kosten. Insofern ist für mich die erste Frage: Wie gehen wir mit unserem Mietrecht um? Ich sage ganz deutlich: In diesen Zeiten brauchen wir ein Mietrecht, das die Abhängigkeit vom Wohngeld nicht ständig erhöht. Das aktuelle Mietrecht ist vom Gesetzgeber verordnetes Recht der permanenten Mietsteigerung.
Das können wir uns in Zukunft bei Einkommenszuwächsen wie im öffentlichen Dienst mit einer Erhöhung zwischen 0 und 1,3 Prozent wirklich nicht mehr leisten.
Wir alle kennen die Zahlen: Die allgemeine Preissteigerung von 1991 bis 1995 hat im Westen 12,5 Prozent betragen, die Mietsteigerung allein 21,3 Prozent. Für den Osten wage ich die Zahlen gar nicht zu sagen - wir wissen, daß das besondere Ursachen hat -: allgemeine Preissteigerung 33,3 Prozent, Mietsteigerung 426 Prozent.
Wir haben eine Explosion der Mietnebenkosten, fast die zweite Miete.
Leider bringt der Wohngeld- und Mietenbericht nicht sehr vernünftige und differenzierte Aussagen über die Relation von Miete zum Einkommen, aber dem von Herrn Kansy zitierten DIW-Panel entnehmen wir folgende Daten: Für Haushalte mit Nettoeinkommen bis zu 1 000 DM beträgt in Westdeutschland inzwischen die Bruttokaltmietenbelastung 47,5 Prozent und im Osten 33,8 Prozent. Für Haushalte mit einem Nettoeinkommen zwischen 1 000 und 2 000 DM sind es im Westen 33 Prozent Belastung und im Osten 23 Prozent. Ich denke, da ist die Schallgrenze mehr als erreicht.
Für uns heißt die Schlußfolgerung daraus: Es darf kein automatisches Mietrecht mehr geben, das 20 bis 30 Prozent Mieterhöhung in drei Jahren zum selbstverständlichen Recht macht und damit permanent Mietsteigerungen weit über die Lebenshaltungskostensteigerung und schon gar über die Einkommenssteigerung hinaus ermöglicht.
Die Neuvermietungsformel darf nicht weiter so sein, daß die Wohnungssuchenden zu Trüffelschweinen der Mietsteigerung werden. Das muß wirklich dringend geändert werden. Das Bestandsmietrecht und das Neuvermietungsrecht müssen gleichgestellt werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braun?
Ja, von Herrn Braun gerne.
Liebe Frau Eichstädt-Bohlig, verstehe ich Ihre Äußerung richtig, daß Sie die Kappungsgrenze mit den 20 respektive 30 Prozent nach dem Miethöhegesetz streichen wollen?
Sie verstehen mich richtig, daß wir die für zu hoch halten. Ich habe nicht von einer Streichung gesprochen, also Mietstopp. Davon ist bei mir nicht die Rede. Aber bei diesen Lebenshaltungskosten und bei diesen Einkommenssteigerungen, die auch in den nächsten Jahren realisiert werden, wo der Gesetzgeber von den Tarifpartnern äußerste Zurückhaltung erwartet, können wir doch nicht ein Mietrecht zulassen, das 20 bis 30 Prozent in drei Jahren zum Normalfall macht.
Gestatten Sie noch eine Frage?
Ja.
Bitte sehr.
Frau Eichstädt-Bohlig, sehe ich es richtig, daß Sie nur die gegenwärtig gesetzlich festgelegte Grenze für zu hoch halten, oder wollten Sie ausdrücken, daß jegliche Kappungsgrenze zugleich eine Korridorwirkung, eine Zielwirkung hat, die bei der Bevölkerung den Eindruck erweckt, als sei das, was gesetzlich als Obergrenze zulässig sei, im Grunde auch das Richtige?
Ich sage es ganz deutlich: Mein Korridor läge bei 5 Prozent im Jahr. Das ist immer noch über den Lebenshaltungskosten und immer noch über
Franziska Eichstädt-Bohlig
den Einkommenszuwächsen. Ist Ihnen das als Antwort deutlich genug?
Noch eine sehr wichtige Forderung zum Mietrecht ist: Wir brauchen ein Mietspiegelgesetz, das auf den Bestandsmieten aufbaut und das die extremen Verzerrungen zwischen den Altbaumieten und den Neubaumieten nivelliert. Auch hierin liegt ein ganz zentrales Problem der ständigen Mietsteigerungen.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der mir genauso wichtig ist: die Novelle zum Zweiten Wohnungsbaugesetz. Herr Töpfer bemüht sich momentan, die schrumpfenden Sozialwohnungsbestände zu einem Instrument für mehr Mieten zu machen. Daran ist sicher einiges richtig, weil die Fehlbelegung wirklich ein Problem ist. Aber wir müssen eindeutig sehen, daß die Zahl der Sozialwohnungen schrumpft. Wenn die Empirica-Studie recht hat - das wissen alle nicht so genau -, dann haben wir heute 2,5 Millionen Sozialwohnungen, aber schon im Jahr 2005 nur noch 1 Million Sozialwohnungen. Wir bauen also auf einem Bestand auf, der gar nicht weiter wächst.
Gleichzeitig bietet Herr Waigel zunehmend Wohnungen der öffentlichen Hand zum Verkauf an. Er hat schon die Gesellschafterrechte an den bundeseigenen Wohnungen wie sauer Bier auf den Markt getragen. Als neuestes sollen über 100 000 Wohnungen der BfA vermarktet werden. Das heißt: Das Wichtigste, was wir haben, die öffentlichen Bestände, die in den letzten Jahrzehnten mit viel Subventionen, mit vielen Steuergeldern gebaut wurden, werden auf den Markt geworfen, während wir gleichzeitig dringend Wohnungen suchen, die wir zur Beseitigung der Wohnungsnot brauchen, die in Zukunft wachsen wird.
Insofern halten wir nach wie vor die Aufhebung der Gemeinnützigkeit für einen Kardinalfehler. Unsere wichtigste Forderung mit Blick auf die Novellierung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes ist: Sicherung der öffentlichen Bestände auf den Ebenen Kommunen, Länder, Bund einschließlich der öffentlichen Betriebe und öffentlichen Rechtsträger, die dazugehören.
Dabei sind zwei zentrale Punkte zu beachten: Das eine ist die Vermögensbindung dieser Bestände. Es kann nicht sein, daß ständig vermarktet wird, wenn uns das Geld für den Neubau fehlt. Das zweite ist: Sozialbindung für diese Bestände. Es kann nicht sein, daß beliebig belegt wird, weil es für die Wohnungsbaugesellschaften bequemer ist, wenn wir dringend die Wohnungen für die unteren Schichten, für die echt bedürftigen Gruppen brauchen.
In dem Moment, wo wir mit den Beständen wirklich achtsam und sorgfältig umgehen, können wir über die Neubauförderung und über ihre Reduktion auf die wirklich bedürftigen Schichten reden; aber nicht umgekehrt: Abbau der Neubauförderung tendenziell gegen Null und gleichzeitig Verscherbeln der öffentlichen Wohnungen. So darf es nicht weitergehen.
Ich darf noch einen Satz zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes sagen. Wir sind froh, daß wir endlich so weit sind, daß die Erlösabführung auf etwas realistische Füße gestellt wird. Ich möchte dafür ein artiges Dankeschön sagen. Aber auf der einen Seite - Herr Großmann hat es eben mit einem Zwischenruf gesagt - war es mehr als überfällig. Wir haben dafür endlos lange diskutieren müssen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Auf der anderen Seite muß ich deutlich sagen: Die Aktivierung der Wohnungswirtschaft Ost für genossenschaftliche Konzepte wäre wirklich ein wichtiger zweiter Schritt neben dem zaghaften Bremsen der Erlösabführung gewesen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Hildebrecht Braun.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bundestagsabgeordnete leiden bekanntlich unter Zeitnot. Dennoch wünschte ich, daß alle Abgeordneten wenigstens die ersten beiden Seiten des Wohngeld- und Mietenberichts 1994/95 lesen würden. Sie müßten dann nämlich erkennen, daß die Wohnungspolitik der Regierungskoalition in den letzten sechs Jahren ungewöhnlich erfolgreich war. Zirka 2,5 Millionen neuer Wohnungen in der ersten Hälfte der 90er Jahre führten dazu, daß die Anspannung auf allen Wohnungsmärkten erheblich zurückgegangen ist.
Auf Grund des großen neuen Angebots fiel die Steigerungsrate beim Mietenindex von 1993 mit 5,9 Prozent über 1994 mit 4,6 Prozent auf 3,9 Prozent im Jahre 1995. Soweit der Anstieg um 2,2 Prozentpunkte noch immer über der allgemeinen Inflationsrate von 1,7 Prozent liegt, ist dies die Folge der Mietzusatzkosten, insbesondere auf die kommunalen Gebühren zurückzuführen. Sie stiegen 1995 gegenüber 1993 beim Abwasser im Schnitt um 21 Prozent, bei der Müllabfuhr um 25 Prozent. Dafür ist aber nicht der Bund zuständig, sondern die Kommunen. Diese Gebühren erhöhen auch nicht etwa die Einnahmen des Vermieters. Sie belasten aber die Mieter sehr.
Besonders wichtig ist, daß die Marktentspannung dazu geführt hat, daß die Erst- und Wiedervertragsmieten Anfang 1996 um etwa fünf Prozent unter dem
Hildebrecht Braun
Vorjahresniveau lagen. Die Entwicklung der Neu- und Wiedervertragsmieten wird auch zu einer Verlangsamung der Entwicklung der Bestandsmieten führen. Das sind Signale, die ein einmütiges Lob der Oppositionsparteien für die Wohnungspolitik verdient hätten. Gerade auch der Mieterbund sollte die parteipolitische Schere im Kopf überwinden und anerkennen, daß die Politik, die er leider heftig bekämpft hat, ein Segen für seine Mitglieder war.
Eine Politik, die für ein ausreichendes Angebot an bezahlbarem Wohnraum mit guter Qualität führt, dient dem sozialen Frieden mehr als ein Dutzend Großdemonstrationen.
Das vorhandene Angebot, durch Modernisierung zu erhalten und durch Neubau zu mehren, ist das Ziel unserer Wohnungspolitik.
Damit die hierfür nötigen Investitionen, die zu über 90 Prozent von Privaten erbracht werden müssen, auch erfolgen, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Wir brauchen Neubau, weil die Nachfrage nach Wohnraum noch weiter ansteigen wird. Die Steigerungsraten dürften allerdings etwas zurückgehen, da die demographische Entwicklung, die durch den Pillenknick gekennzeichnet ist, in naher Zukunft voll auf die Zahl der Erstnachfrager nach Wohnraum durchschlagen wird.
Hinzu kommt, daß die finanziellen Spielräume weiter Kreise der Bevölkerung durch den notwendigen Umbau des Sozialstaats geringer werden und die gesicherte Aussicht auf immer steigende Löhne in allen Bereichen einer vorsichtigeren Betrachtung gewichen ist. Die Entscheidung, eine größere Wohnung zu kaufen oder zu mieten, fällt daher vielen schwerer als früher.
Dennoch bleibt der seit Jahrzehnten anhaltende Trend zu immer mehr Wohnraum pro Person in reduzierter Weise erhalten. Wir brauchen deshalb auch in Zukunft Neubau, wenn auch nicht in bisherigem Umfang, sondern wohl bundesweit im Schnitt mit 470 000 Wohnungen statt der gegenwärtig gebauten 600 000 pro Jahr.
Ausschläge nach oben oder unten führen zu Verwerfungen bei den Mieten und zu erheblichen Belastungen der Bauwirtschaft. Verstetigung der Nachfrage und somit eine kalkulierbare Auslastung der Betriebe sind notwendig.
Wie bringen wir aber private Investoren dazu, ausreichend im Wohnungsbau zu finanzieren? Das wird in Zukunft schwieriger werden.
Erstens. Die Reduzierung der Abschreibung beim Mietwohnungsbau gemäß § 7 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes, die wohlgemerkt die SPD im Vermittlungsausschuß erzwungen hat, nimmt dem Wohnungsbau mit seiner traditionell geringen Rendite einen wichtigen Anreiz.
Zweitens. Die schon in vielen Städten bekannten Leerstände von Wohnungen motivieren natürlich auch nicht.
Drittens. Zögerliche Baugenehmigungsbehörden, die sich gelegentlich gar als Bauverhinderungsbehörden verstehen, verteuern das Bauen beträchtlich und machen es oft zu einer verdrießlichen Angelegenheit.
Viertens. Das Auslaufen der Sonderabschreibung Ost beim Neubau wird zu einem rapiden Rückgang des Neubaus in den neuen Bundesländern führen.
Fünftens. Auch sinkende Mieten gab es in früheren Jahren nie. Sie freuen die Mieter; sie irritieren aber Bauwillige.
Sechstens. Insbesondere die Angst vor den bevorstehenden Änderungen der Erbschaftsteuer wird das traditionelle Vertrauen in die Anlageform Wohnungsbau in bisher noch nicht quantifizierbarer Weise beschädigen.
Bisher war klar, daß man Immobilieneigentum wegen der außerordentlich günstigen Einheitswertbesteuerung ganz oder fast steuerfrei vererben konnte. Diese Gewißheit wird in Zukunft nur noch für das selbstgenutzte Wohneigentum gelten. Die Vererbung von Mietwohnungen wird in Zukunft teurer. Es wird unsere Aufgabe sein, die Erbschaftsteuer so zu gestalten, daß wir keinen Einbruch beim Wohnungsbau bekommen.
Ich möchte aber auch auf eine Reihe von Rahmenbedingungen zu sprechen kommen, die für den Wohnungsbau sehr günstig sind. Erstens. Die niedrigen Zinsen verbilligen das Bauen beträchtlich,
Zweitens. Die Preise am Bau steigen nur geringfügig.
Drittens. Grundstücke sind eher billiger zu haben, verglichen mit den Werten von vor zwei oder drei Jahren.
Allerdings ist wegen des in Europa einmalig hohen Preisniveaus - allerdings auch des Qualitätsniveaus - des deutschen Wohnungsbaus ohnehin eine Initiative zur Senkung der Kosten angesagt, da wir sonst im europäischen Markt mit Hollandhäusern und ähnlichem überrollt werden. Die Bundesminister haben hier bereits qualifizierte Vorschläge unterbreitet; es gilt sie umzusetzen.
Wenn wir aber bei den Kosten sind, dann müssen wir auch über den ersten Förderweg im sozialen Wohnungsbau sprechen. Dort werden die Kosten schlicht ersetzt, wie immer sie entstehen. Das ist natürlich eine Methode, mit der man die Kosten und damit die Preise in die Höhe treiben kann.
Das muß nachhaltig geändert werden. Dies ist einer
der Gründe, warum wir den ersten Förderweg für
Hildebrecht Braun
überholt halten und auf diesem Weg nicht fortschreiten wollen.
Sehr vorsichtig müssen wir generell mit Vorschlägen sein, die das Bauen verteuern, zum Beispiel mit der in Aussicht genommenen zweiten Stufe der Wärmeschutzverordnung. Es wird sehr genau zu prüfen sein, ob eine weitere Reduzierung der Grenzwerte trotz der damit verbundenen Verteuerung wirklich sinnvoll ist. Ebenso wird die Frage der gesundheitlichen Verträglichkeit von nahezu luftdichten Wohnungen untersucht werden müssen. Nicht anders verhält es sich mit der Frage, ob die Energiebilanz wirklich besser wird, wenn total abgeschottete Wohnungen nur durch wiederholtes Öffnen der Fenster bewohnbar bleiben, denn wie wir alle wissen, führt gerade dies zu einem Entweichen warmer Luft von innen und zum Eindringen kalter Luft von außen.
Ein großes Problem ist die Wohngeldproblematik auf dem Hintergrund des Zwangs zur Sparsamkeit. Weder der Bund noch die noch mehr betroffenen Länder - wohlgemerkt, auch die von der SPD regierten - wissen, wie sie eine Wohngeldanpassung an die gestiegenen Mieten finanzieren sollen. Dennoch muß eine Strukturveränderung des Wohngelds erreicht werden. Es kann nicht sein, daß ein Mieter bei einer Quadratmetermiete von 10,50 DM beispielsweise in München dieselbe Förderung erhält wie ein Mieter, der bei gleichem Einkommen 18,50 DM für den Quadratmeter bezahlen muß. Für diejenigen, die keine Alternative dazu haben, eine weit über den Mietobergrenzen des Wohngeldrechtes liegende Miete zu zahlen, muß natürlich mehr gezahlt werden als für diejenigen, die weniger belastet sind.
Die jetzigen Mietobergrenzen bei den einzelnen Wohngeldstufen verstoßen eklatant gegen das grundlegende Gebot der Gerechtigkeit staatlicher Normen. Hier ist eine Strukturveränderung erforderlich.
- Ich bedanke mich ausdrücklich für die Zustimmung, die ich in diesem Punkt auch von der SPD erhalte. Hier können wir offensichtlich gemeinsam vorgehen.
Wir stehen aber zum Wohngeldsystem; denn das Wohngeld ist sozial treffsicher und unterstützt im Gegensatz zum ersten Förderweg des sozialen Wohnungsbaus diejenigen, die Hilfe brauchen, und nicht die Ersteller von Wohnraum.
Ich will noch einige Worte zum sozialen Wohnungsbau sagen. Von Jahr zu Jahr wächst die Zahl derer, die erkennen, daß der soziale Wohnungsbau mit seinem ersten Förderweg ausgedient hat. Breite
Schichten der Bevölkerung mit staatlich hoch subventionierten Wohnungen versorgen zu wollen, wie dies bisher den einschlägigen Gesetzen zu entnehmen ist, überfordert den Staat und unterfordert die Masse der Bürgerinnen und Bürger. Eigenverantwortung ist auch im Wohnungsbereich angesagt.
Dies gilt gerade bei der persönlichen Versorgung mit Wohnraum.
Natürlich wird es auch in Zukunft viele Menschen geben, denen der Staat oder die Gemeinde über die Gewährung von Wohngeld hinaus beistehen muß. Hier verweise ich auf das liberale Konzept „Soziales Wohnen" , das für jedermann verständlich darlegt, wie mit geringsten öffentlichen Mitteln schnell und flexibel, zielgenau und eben sehr preiswert diesem Personenkreis geholfen werden kann, ohne daß die bekannten fatalen Fehlentwicklungen eintreten würden wie Fehlbelegung.
42 Prozent der Sozialwohnungen sollen nach der Empirica-Studie von Fehlbelegern bewohnt werden.
Ich halte das für einen Skandal allererster Ordnung. Den gilt es ganz schlicht zu beseitigen.
Aber auch die Bildung von sozialen Ghettos, die unglaubliche Ungerechtigkeit bei den Mieten der Sozialwohnungen untereinander und speziell bei der immer gleichen Fehlbelegungsabgabe, die nicht darauf abstellt, welche Miete zunächst gezahlt wird, oder auch bei der Vergabe von Sozialwohnungen - all das muß beseitigt werden. Hier ist eine Radikalkur erforderlich.
Ein Lichtblick im Baugeschehen ist der Trend zum Wohneigentum. Der rapide Anstieg der Zahl der Bausparverträge signalisiert eine ungebrochene Attraktivität des Wohneigentums. Dieser Trend wird von der F.D.P. unterstützt, wo immer es nur geht. Wir gehen davon aus, daß die neue Wohneigentumsförderung, die wir ja übrigens gemeinsam verabschiedet haben, Schwellenhaushalte, die sich bisher Wohneigentum nicht leisten konnten, besser erreicht als bisher.
Das von uns initiierte Programm der staatlichen Bürgschaft zur Wohneigentumsförderung in den neuen Bundesländern ist eben angelaufen. Die Mieterprivatisierung nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz wird erleichtert werden.
Wir sind davon überzeugt, daß der Zug zum Wohneigentum auch in den neuen Bundesländern an Fahrt gewinnen wird.
Das Mietrecht will ich jetzt nicht streifen, weil ich sonst Zeitprobleme bekomme. Darüber werden wir sicherlich nach den Sommerferien intensiv zu sprechen haben.
Hildebrecht Braun
Ich möchte aber klarstellen: Mietpreisregulierungen wirken preistreibend. Das werden zwar die Ewiggestrigen nie verstehen, für die das Wort „Marktwirtschaft" ein fremder oder gar feindlich besetzter Begriff bleibt. Sie werden sich gegen die Einsicht wehren, daß die Mietpreisanstiege vor der Einführung der Kappungsgrenze 1982 niedriger waren als danach. Sie werden auch nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß viele tausend Mieter in den neuen Bundesländern durch das Mietenüberleitungsgesetz eine extrem ungerechte, da zu hohe Miete bezahlen.
Wenn der Markt den Mietpreis reguliert, werden in weiten Bereichen die Preise angesichts der Leerstände fallen. Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sollten den Bürgerinnen und Bürgern im Osten nicht die Segnungen des Marktes vorenthalten. Sie sollten dafür sorgen, daß diese Überregulierung fällt und damit auch die Mietpreise fallen.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick.
- Herr Warnick, ich weiß nicht, warum der Beginn Ihrer Rede mit diesem Zuruf begleitet wird.
Aber bitte, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte lieber nicht auf das eingehen, was Herr Braun gerade gesagt hat. Das würde ich in sieben Minuten nicht schaffen; das geht nicht.
Wie wenig Herrn Töpfers Versprechungen und Ankündigungen wert sind, macht allein schon die heutige Tagesordnung deutlich. Es ist wie in einer Gemischtwarenhandlung: Rund ein Dutzend wichtiger Themen aus dem Bereich der Mieten-, Wohnungs- und Baupolitik sowie zur Raumordnung sollen in 90 Minuten abgehandelt - besser sollte ich vielleicht sagen: durchgehechelt - werden. Dabei geht es hier ja nur um so lapidare Themen wie das Menschenrecht auf Wohnung und eine zukunftsträchtige Entwicklung der Städte und Gemeinden.
- Ich weiß nicht, Herr Kansy, warum Sie sich darüber aufregen. Sie haben sich im Ausschuß auch darüber aufgeregt, daß der Stellenwert der Wohnungspolitik in Plenardebatten zu gering sei.
- Na, er hat doch den notwendigen Einfluß, denke ich, um der Wohnungspolitik hier einen höheren Stellenwert zu verschaffen.
Wie gering der Stellenwert der Wohnungspolitik hier im Deutschen Bundestag ist, zeigt sich an dem krassen Gegensatz zu dem Stellenwert, den Wohnungspolitik draußen - „in diesem unserem Lande", wie unser Bundeskanzler immer so sagt - hat. Mit dieser Tagesordnung zeigt die Koalition, daß sie nicht an ernsthaften Debatten und Veränderungen interessiert ist, sondern sich nur unangenehmer Pflichten entledigen will.
Tatsache ist, daß die hier vorliegenden Berichte zur Raumordnung, zu Großsiedlungen, zur Entwicklung von Mieten und Wohngeld sowie der Bericht der 6 Millionen DM schweren Expertenkommission zahlreiche, aufschlußreiche Fakten und Analysen enthalten. Tatsache ist aber auch, daß diese Koalition und ihre Regierung unwillig und/oder unfähig sind, daraus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Da mir, wie gesagt, nur sieben Minuten zur Verfügung stehen und ich wenigstens in zwei Themen konkreter einsteigen möchte, will ich dies an zwei Punkten deutlich machen: erstens am Altschuldenhilfe-Gesetz und der damit verbundenen Politik der Zwangsprivatisierung und zweitens an der Wohnungsförderung.
Zum Altschuldenhilfe-Gesetz: Nimmt man die Ergebnisse ernst und die ideologische Brille ab, dann wird deutlich, daß die Politik der Zwangsprivatisierung eindeutig gescheitert ist. Nur rund 116 000 der nach AHG zu privatisierenden zirka 359 000 Wohnungen wurden trotz großen Aufwandes an Personal, Werbung und finanzieller Förderung bis 1995 verkauft, davon lediglich gut 34 000 an die Mieterinnen und Mieter bzw. Genossenschafter. Der überwiegende Teil der Wohnungen ist in den Besitz westdeutscher Immobiliengesellschaften, Banken und Kapitalanleger übergegangen.
Die Annahme, daß der beabsichtigte Verkauf von Wohnungen an die Mieter in Zukunft in Schwung kommen kann, ist eine Töpfersche Illusion. Weder die Empfehlungen des Lenkungsausschusses zu „mieternahen Privatisierungen", vor allem mittels „Zwischenerwerber", noch eine Begrenzung der Erlösabführung auf 45 Prozent lösen die Probleme wirklich. Da machen Sie sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, aber auch von SPD und Bündnisgrünen, etwas vor. Ich weiß nicht, warum Sie jetzt über diese 45 Prozent so froh sind, da Sie doch in der letzten Debatte zum Altschuldenhilfe-Gesetz selber zugegeben haben, daß eigentlich eine Streichung das Richtige wäre.
- Doch, von Frau Mertens wurde das schon begrüßt.
Klaus-Jürgen Warnick
Aus unserer Sicht gibt es nur eine vernünftige Lösung: die ersatzlose Streichung des § 5 aus dem Altschuldenhilfe-Gesetz.
Dies ist sofort realisierbar und gefährdet nicht die Gesamtstruktur des Gesetzes. Dabei ist zu beachten, daß die Wohnungsprivatisierung Wohnungsunternehmen, Kommunen, Länder und den Bund personell und finanziell belastet statt entlastet. Der Verzicht auf die Privatisierungsauflage würde sogar einen positiven Saldo für die öffentlichen Kassen bringen. Wenn das kein Argument für Ihren Minister Waigel ist, dann sicher nur, weil ihm das Wohlergehen der Privatbanken wichtiger ist als die Situation in den öffentlichen Kassen.
Im Interesse der Mieterinnen und Mieter, der Genossenschafter, der Wohnungsunternehmen und der Kommunen in Ostdeutschland fordere ich Sie auf, die Zwangsprivatisierung von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen mit einer wirklichen Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu beenden.
Zur Wohnungsförderung: 14 Jahre Kohlscher Mißwirtschaft und Reformunwilligkeit in der Wohnungspolitik haben Wohnkostenbelastung, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit auf der einen Seite, Erträge auf dem Immobiliensektor und Wohnflächenkonsum auf der anderen Seite vervielfacht. Die knappen Kassen vorschiebend, hat die Bundesregierung angekündigt, die Mietpreisbindungen bei den noch vorhandenen 2,4 Millionen Sozialwohnungen aufheben zu wollen.
Skandalös ist, daß noch immer kein Regierungsentwurf zur überfälligen Wohngeldgesetznovellierung vorliegt. Um so mehr bedauere ich, daß die SPD die Vorschläge der PDS zur vorgezogenen Anpassung des Wohngeldes für Westdeutschland ab 1. Januar 1996 mit der Begründung abgelehnt hat, daß ja in Kürze ein Gesetzentwurf von Töpfer vorgelegt werde. Das war, denke ich, zu viel des guten Vertrauens, zumal dieser Antrag im Prinzip von Ihnen selbst schon einmal gestellt worden ist.
Dieser unscharfen und unsozialen Regierungspolitik setzt die PDS-Bundestagsgruppe nun ihren Antrag „Umfassende Reform der Wohnungsförderung und Erarbeitung eines Wohngesetzbuches" entgegen. Dabei haben wir sowohl die Erfahrungen der Wohnungswirtschaft aus der Zeit der Weimarer Republik und der DDR als auch der Bundesrepublik beachtet, ebenso zahlreiche Vorschläge von Mieterorganisationen und Wohnungsverbänden, von Experten verschiedener politischer Couleur und der Wissenschaft.
Mit dem Wohngesetzbuch soll die im Grundgesetz verankerte Sozialpflichtigkeit als soziales Grundrecht auf menschenwürdige und bezahlbare Wohnungen für alle umgesetzt werden. Die Hauptelemente bilden: erstens die Umstellung der Wohnungsbauförderung von der indirekten Steuervergünstigung auf die direkte Bezuschussung; zweitens die Neueinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit; drittens eine konsequente Ausgestaltung des Wohngeldes; viertens die Fortführung des sozialen Wohnungsbaus mit kommunalen Belegungsrechten, um Wohnungszugangsprobleme auch zukünftig lösen zu können; fünftens die Herstellung von Mietgerechtigkeit auf der Grundlage einer primär vom Wohnwert abhängigen Richtwertmiete sowie eine gesellschaftlich kontrollierte Entwicklung der Mieten mittels eines neuen Miethöhe- und Mietspiegelgesetzes und sechstens die Erweiterung der Rechte und Pflichten der Kommunen und die Bestimmung der Verantwortung von Bund und Ländern.
Dabei werden die wirtschaftlichen Interessen der Wohnungsunternehmen an Bau, Erhaltung und Nutzung von Wohngebäuden berücksichtigt, Renditemaximierung und Spekulation aber unterbunden. Alle Eigentumsformen sollen bei der Förderung gleichgestellt werden. Im Kern geht es darum, die Kapitaldominanz entscheidend zurückzudrängen, das Genossenschaftswesen und gemeinnützige Unternehmen neben selbstgenutztem Wohneigentum bevorzugt zu fördern sowie ökologisches und barrierefreies Bauen durchzusetzen.
Das Wohngesetzbuch soll alle bisherigen Gesetze und Verordnungen der Wohnungsbauförderung, zum sozialen Wohnungsbau, zur Mietpreisbildung und zum Wohngeld neu zusammenfassen.
Abschließend nur soviel: Der Absicht bzw. der Politik der Bundesregierung, sich weiter ihrer sozialen Verantwortung bei der Wohnungsversorgung der Bevölkerung zu entziehen, wird die Partei des Demokratischen Sozialismus auch weiterhin energischen Widerstand entgegensetzen.
Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich dem Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Klaus Töpfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein so breit angelegtes Spektrum bei diesem Tagesordnungspunkt bietet die gute Chance, einmal darauf hinzuweisen, was in den letzten anderthalb Jahren, in denen ich die politische Verantwortung für dieses Ressort trage, gemacht worden ist, was jetzt ansteht und was in Zukunft wohnungspolitisch zu leisten sein wird.
Ich freue mich natürlich, Herr Kollege Warnick, daß Sie der Meinung sind, ich könne auch noch die Tagesordnung dieses Hohen Hauses mit beeinflussen. Ich habe davor viel zuviel Respekt. Aber auch Sie werden sicherlich irgendwann einsehen, daß die dafür erforderlichen Entscheidungsstrukturen bereits vorhanden sind.
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
Ich weise mit großem Nachdruck auf das hin, was erreicht wurde, weil die Arbeit nicht nur vom zuständigen Minister, sondern auch von diesem Hohen Hause gemacht worden ist. Wir haben das Mietenüberleitungsgesetz verabschiedet. Trotz aller Unkenrufe ist das Mietenüberleitungsgesetz in der Praxis akzeptiert worden. Es hat eben nicht zu sozialem Unfrieden geführt, sondern war ein wichtiger Schritt hin zu einer sozialen Wohnungsmarktwirtschaft auch in den neuen Bundesländern.
Wir haben es alle gemeinsam für richtig gehalten - und dies in einem Artikelgesetz verbunden -, eine Neufassung des Wohngeldsondergesetzes für die neuen Bundesländer zu erarbeiten. Auch das ist in dieser Zeit geleistet worden.
In dieser vergleichsweise kurzen Zeit haben wir außerdem eine grundsätzliche Reform des selbstgenutzten Wohneigentums durchgeführt: unter Einbindung einer Ökokomponente, unter Einbeziehung der Genossenschaften, mit einer entsprechenden Förderung der Zielgruppe Schwellenhaushalt. Diese Elemente wirken daraufhin, daß wir eine höhere Wohneigentumsquote bekommen. Das alles ist nicht nur angekündigt, sondern durchgeführt worden.
Wir haben in einer Zeit, in der es wirklich nicht ganz einfach ist, zusätzliche Förderungsinstrumente zu schaffen, eine nachhaltige Förderung des Bausparens durchgesetzt. Gehen Sie doch bitte einmal zu den Bausparkassen! Dann werden Sie sehen, wie das wirkt. Wir haben allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres eine Zunahme von bis zu 40 Prozent bei den Verträgen und von über 24 Milliarden DM beim Bausparvolumen bei den Landesbausparkassen zu verzeichnen. Das hat unmittelbare Wirkungen auch und gerade auf Investitionen auf dem Bausektor. Das haben wir doch zusammen gemacht!
Es ist nicht bei Ankündigungen geblieben, sondern es ist umgesetzt worden.
Wir haben einen Entwurf zu einer ganz wichtigen und - wie ich meine - auch sehr schwierigen Gesetzesmaterie vorgelegt, nämlich die Novelle zum Baugesetzbuch. Ich bin dem Kollegen Dietmar Kansy sehr dankbar dafür, daß er darauf hingewiesen hat, wie schwierig es ist, jetzt das zu integrieren, was wir als Antwort auf den deutschen Einigungsprozeß durchgeführt haben. Ich freue mich auf die weitere Diskussion über diese wichtige Gesetzesmaterie in diesem Hohen Hause. Ich bin mir natürlich darüber im klaren, daß vieles davon abhängt, inwieweit es uns gelingt, ein Übermaß an Genehmigungen abzubauen, ohne daß wir in Konflikte mit ökologischen Zielsetzungen kommen. Das ist eine wichtige Sache, die auf dem Tisch liegt; das können wir behandeln.
Wir machen es wieder in einem Artikelgesetz, weil ich glaube, daß die bauplanungsrelevanten Fragen zusammengehören. Dazu gehören die Baunutzungsverordnung und die Novelle zum Raumordnungsgesetz. Wir haben also den gesamten Kanon des Planungsrechts berücksichtigt und dazu einen Entwurf auf den Tisch gelegt. Lassen Sie uns intensiv daran arbeiten! Es gibt daran weiß Gott noch genug zu verbessern.
Frau Mertens, ich verstehe nicht, daß Sie zu mir sagen, ich solle mich nicht hinter die Länder zurückziehen. Die Länder sagen mir dauernd: Geh doch nicht mit deinen Überlegungen raus, sondern sprich sie erst mit uns ab!
- Ich komme sofort darauf zurück. - Sehen Sie, ich kann doch nur Fehler machen, wenn ich die Länder nicht vorher frage, was sie auf diesem oder jenem Gebiet machen; denn wir sind doch eindeutig darauf angewiesen, daß sie in dieselbe Richtung gehen. Wir wollen die Gesetze mit den Ländern durchsetzen. Schließlich haben wir ja auch noch einen Bundesrat, den wir in die gesamte Diskussion einzuschalten haben. Was haben Sie denn dagegen einzuwenden? Ich verstecke mich doch nicht dahinter. Würde ich mich nicht mit den Ländern absprechen, dann würden Sie hier sagen: Kennt der denn nicht die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat? Kann er sich nicht ein bißchen darum kümmern, daß die Argumente dort ebenfalls aufgenommen werden?
Wir haben - ich nehme gerne das auf, was der Kollege Braun gesagt hat - das alles machen können, weil in den Jahren davor in der Bundesrepublik Deutschland eine hervorragende und sehr erfolgreiche Wohnungsbaupolitik gemacht worden ist.
Ich nehme nochmals die Gelegenheit wahr, zu sagen, daß das, was meine Vorgängerin im Amt gemacht hat, eine prima Antwort auf die Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands gewesen ist. Wir haben mehr als 2 Millionen Menschen aus den neuen Bundesländern in die alten Bundesländer umziehen sehen, und es ist nicht zu einer Katastrophe auf dem Wohnungsmarkt gekommen, weil gut darauf geantwortet worden ist.
Lieber Herr Kollege Großmann, Sie schreiben vorne in Ihrem Antrag, daß die Bruttokaltmiete um 3,9 Prozent gestiegen sei und daß dieser Prozentsatz über der allgemeinen Inflationsrate von 1,7 Prozent - bei 1,7 Prozent kann man ja nun wirklich nicht von Inflation sprechen - liege. Zwei Seiten weiter schreiben Sie, daß dabei in besonderer Weise die kommunalen Gebühren eine Rolle spielen. - Es wäre doch eigentlich ganz sinnvoll, wenn man das schon vorne mit hineinschreiben würde. Ich sage das auch deswegen, damit wir die richtigen Handlungsanweisungen
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
bekommen. Es darf doch nicht übersehen werden, daß die Signale für mehr Investitionen in den Mietwohnungsbau angesichts der gegenwärtigen Mietpreisentwicklungen, die für die Vermieter eben nicht über der Inflationsrate liegen, vergleichsweise gering sind; das ist doch die Konsequenz daraus. Würden diese 3,9 Prozent wirklich den Vermietern zugute kommen, dann hätte ich bei den niedrigen Zinsen, die wir haben, und bei den geringen Preissteigerungsraten im Baubereich gar keine Sorge, daß in dem Bereich mehr investiert würde. Deswegen müssen wir das wirklich miteinander verbinden.
- Diesen Zuruf habe ich fast erwartet. Natürlich bin ich in dieser Bundesrepublik Deutschland siebeneinhalb Jahre lang Umweltminister gewesen. Ich bitte Sie dann aber ganz herzlich, sich bei der nächsten Diskussion über Umweltpolitik in diesem Hause einmal das anzuhören, was die Vertreter Ihrer Fraktion dazu sagen.
Sie sprechen davon - ich begrüße das -, daß wir ökologisch ehrliche Preise brauchen und daß wir durch solche Preisentwicklungen Signale dafür geben, daß man mit Wasser - und damit auch mit Abwasser - sparsamer umgehen muß. Dies alles ist gesagt worden. Wir müssen die Dinge schon ein bißchen zusammenpacken; denn wenn wir das nicht tun, dann - ich sage dies noch einmal - kriegen wir die falschen Handlungsanweisungen, und damit werden wir uns alle keinen Gefallen tun. Wir wollen die Probleme lösen. Wir wollen nicht jemanden suchen, dem wir sie in die Schuhe schieben können; denn das kann doch nicht richtig sein.
Deswegen werden wir auch an das Wohngesetzbuch heranzugehen haben. Der soziale Wohnungsbau muß überprüft werden; das ist doch keine Privatidee des Bauministers. Bevor wir das Gutachten von „Empirica" bekommen haben, hat der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung, in dem wirklich alle Gruppen, von den Hypothekenbanken bis hin zum Deutschen Mieterbund, integriert sind, seine Studie vorgestellt. Er kommt zu vergleichbaren Ergebnissen.
Ich hatte die Freude, vor wenigen Tagen beim 50jährigen Jubiläum des Deutschen Verbandes sprechen zu dürfen. Ihr Freund Karl Ravens ist der Präsident dieses Verbandes. Ich hatte nicht den Eindruck, daß er mir in ganz besonderer Weise vorwerfen wollte, das Nachdenken über diese Frage sei ein Ansatz, den sozialen Frieden in Deutschland zu gefährden. Eher hatte ich den umgekehrten Eindruck: Wenn wir jetzt nicht über den sozialen Wohnungsbau wirklich ernsthaft nachdenken und ihn nicht wieder auf die Füße stellen, dann werden wir ganz sicher den sozialen Frieden in Deutschland erheblich gefährden.
Deswegen frage ich zurück: Kann das denn so falsch sein? Vom gesamten sozialen Wohnungsbau sind gegenwärtig bereits 75 Prozent in der vereinbarten Förderung und nicht mehr im ersten Förderweg. Wenn ich ein bißchen überzeichne - ich rechne Hamburg mit ein -, ist der erste Förderweg eigentlich eine nordrhein-westfälische Spezialität.
Dann aber kann es doch nicht ganz falsch sein, wenn wir jetzt darauf drängen: Überprüfen wir doch, ob eine vereinbarte oder einkommensorientierte Förderung im sozialen Wohnungsbau, die uns hinterher die Schwierigkeiten der Fehlbelegung erspart, nicht doch zielgerichteter ist, als von vornherein zu sagen: Es muß alles so bleiben, wie es ist. Nur darum geht es doch.
Wenn jemand bessere Ideen hat: Herzlich willkommen!
Ich habe ein Eckpunktepapier vorgelegt, über das wir kontrovers mit den Ländern diskutiert haben. Leider Gottes kommen die Länder immer auf die „gute" Idee, eine Sitzung der Arge Bau in einer Sitzungswoche des Deutschen Bundestages anzuberaumen. Gegenwärtig ist Frau Staatssekretärin Thoben in Potsdam. Dort diskutieren wir ebenfalls über diesen Tagesordnungspunkt - ich bin ziemlich sicher: wiederum kontrovers. Wir sind aber doch ein Stückchen weitergekommen.
In der Frage der Neuinvestitionen sind wir vergleichsweise weit gekommen. Wir werden uns hinsichtlich der Bestände darüber zu unterhalten haben, ob wir den Ländern weiterhin sagen werden: „Entwickelt eure Fehlbelegungsabgabe; ansonsten warten wir, bis wir aus den Dingen herauswachsen" oder ob wir das mit Blick auf mehr soziale Gerechtigkeit nicht doch ein Stückchen unterstützen sollten. Ich fordere deshalb dazu auf, dies nicht von vornherein abzulehnen. Wir sollten vielmehr fragen: Läßt sich das nicht gemeinsam machen?
Ich komme zum Wohngeld, meine Damen und Herren. Natürlich ist das zu einer extrem schwierigen Sache geworden.
- Das kann ich Ihnen sagen. Wir, Bund und Länder zusammen, zahlen gegenwärtig etwa 6 Milliarden DM Wohngeld. Wenn ich den Antrag der SPD richtig verstanden habe, sagen Sie: Wir brauchen eine Erhöhung des Wohngelds um etwa 30 Prozent. Wenn Sie 30 Prozent von 6 Milliarden DM berechnen, kommen Sie auf eine Größenordnung von etwa 1,8 bis 2 Milliarden DM.
- Das habe ich nicht vorgeschlagen. Ich habe vielmehr gesagt: Wenn wir in Ost und West das Leistungsniveau von 1990 erreichten, würde es so viel kosten. Das ist völlig richtig.
- Ich will das doch nur ansprechen.
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
Nun bin ich heute zufälligerweise - der Kollege Kansy hat das schon angesprochen - im Finanzausschuß des Bundesrates gewesen. Ich habe die Kollegen Finanzminister der Bundesländer gefragt, was sie davon halten. Da gab es nicht einen, der gesagt hat, das sei auch seine Meinung.
- Das tue ich doch auch! Leute, es hat doch keinen Wert, daß wir uns permanent solche Dinge um die Ohren schlagen.
- Es ist doch wirklich faszinierend, zu sehen: Die neuen Bundesländer sind der Meinung, daß hier gehandelt werden muß, und bringen im Bundesrat einen entsprechenden Antrag ein. Die alten Bundesländer haben diesen Antrag nicht eingebracht.
- Sehen Sie, prima! Wenn Sie das so sehen, dann wollen wir uns ernsthaft darüber unterhalten, was machbar ist.
Wenn wir Ihren Antrag genau lesen, bekommen wir schon wieder einen Hinweis darauf, worüber wir nachdenken müssen. Sie sagen, im Bereich des pauschalierten Wohngeldes müsse etwas gemacht werden. Ich möchte aber wirklich einmal wissen, warum in dem Antrag steht, wir sollten beim pauschalierten Wohngeld die Einkommensbezüge nach unten durchrechnen, weil die Finanzierung dann billiger würde, dürften das Eingesparte aber nicht beim tabellarischen Wohngeld drauflegen. Warum denn eigentlich nicht?
Ich halte es für nachvollziehbar, eine solche Änderung ein Stück weiter zu durchdenken. Daß sie eine Querverbindung zum Sozialhilferecht hat, ist jedem klar. Was ich in der Sache will, ist eine Reform des Wohngeldes. Das muß mit Blick darauf gemacht werden, daß die Zahlung von Wohngeld einen gezielten sozialen Ansatz hat und daß es die wirklich Bedürftigen erreichen soll.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Eichstädt-Bohlig?
Ja, selbstverständlich.
Herr Minister, wie wollen Sie der Bevölkerung und vor allem den Schichten, die auf das Wohngeld angewiesen sind, eigentlich vermitteln, daß Sie zwar in der Lage sind, ein Eigenheimzulagengesetz zu verabschieden, das auf Bundesebene etwa 7,2 Milliarden DM kostet, daß Sie aber nicht das Wohngeld erhöhen können, in das Sie momentan etwa 3 Milliarden DM hineinstecken?
Ich hoffe sehr, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, daß wir zum Beispiel durch die Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums eine Entlastung der Wohnungssituation erreichen, so daß wir sozial schwache Mieter in die entsprechenden Wohnungen bekommen und die Anhebung des Wohngeldes nicht notwendig wird. Ich weiß nicht, warum das ein Widerspruch sein soll. Wenn man die Mittel des sozialen Wohnungsbaus zu den genannten Ausgaben dazu rechnet, dann sind die Größenordnungen gar nicht mehr so unterschiedlich. Aber das will ich gar nicht.
Mein zentrales Ziel muß doch sein, die Wohnungen in das Angebot hineinzubekommen, die von denen frei gemacht werden, die durch die Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums in die Lage gekommen sind, ihr eigenes Haus zu bauen, und damit nicht mehr im Mietwohnungsmarkt als Nachfrager auftreten. Das ist doch das sehr viel Sinnvollere.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Großmann?
Aber gerne.
Herr Minister, sind Sie bereit, zuzugestehen, daß unser Antrag nicht so interpretiert werden kann, wie Sie das gerade gemacht haben? Wir haben darauf hingewiesen, daß eine Wohngeldnovelle nicht daraus bestehen kann, einen bestimmten Betrag beim pauschalierten Wohngeld zu sparen und diesen beim tabellarischen Wohngeld draufzusetzen. Das könnten die Städte und Gemeinden auf Grund der damit verbundenen erhöhten Sozialhilfezahlungen gar nicht leisten. Sind Sie des weiteren bereit, zuzugestehen, daß wir mehrfach den Finanzierungsvorschlag gemacht haben, mit dem Unsinn aufzuhören, im frei finanzierten Mietwohnungsbau Subventionen für leerstehende Luxusbauten zu zahlen?
Das zweite habe ich in der Tat zur Kenntnis genommen. Sie haben völlig recht. Sie haben schon in Ihrem vor einigen Wochen gestellten Antrag darauf hingewiesen, man solle den § 7 Abs. 5 von einer bestimmten Höhe der Baukosten an nicht mehr gelten lassen. Ich bin der Überzeugung, daß Sie das, wenn Sie das in die Diskussion über die Situation des Baumarktes und vor allen Dingen in die Diskussion über die Verwaltungsvereinfachung einbringen, noch einmal zu überdenken haben. Das möchte ich dazu sagen.
Natürlich habe ich auch zur Kenntnis genommen, daß Sie uns gesagt haben, wir könnten nicht nur eine Umschichtung durchführen, weil wir dann die Querverbindung zur Sozialhilfe bekämen. Auch das ist völlig richtig. Ich frage aber zurück: Wie bekommen
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
wir denn die Automatik der Anstiege, die gerade im Bereich des pauschalierten Wohngelds dynamisch ist, in den Griff? Wir bekommen sie doch nur in den Griff, wenn wir fragen: Können wir nicht das, was wir im tabellarischen Bereich gemacht haben, im pauschalierten Bereich weiterführen? So habe ich Ihren Antrag gelesen, und es kann auch nicht anders sein. Wir werden in diesem Bereich weniger Geld einsetzen; wenn wir es statt dessen für eine Gesamtreform des Wohngeldes verwenden können, sind wir ein gutes Stück vorangekommen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin EichstädtBohlig?
Ja.
Sie haben mir eben geantwortet, daß durch die Eigenheimzulage und durch den entsprechenden Eigenheimbau Wohnungen für die bedürftigen Schichten frei werden. Ist Ihnen bekannt, daß erstens gerade im Bereich der preiswerten Wohnungen die Mietpreissteigerungen überproportional hoch sind, weil dort die Schichten wohnen, die darauf angewiesen sind, daß das zweitens dazu führt, daß die preiswerten Wohnungen sozusagen nach oben anziehen - unter anderem durch Eigentumsumwandlung und Modernisierung -, und daß drittens gleichzeitig die öffentlichen Hände - allen voran und mit Ihrer Zustimmung unser Finanzminister Waigel - im Moment dabei sind, sehr viele preiswerte und sozial gebundene Wohnungen zu verkaufen und damit ihrerseits dazu beizutragen,
daß die preiswerten Wohnungen eher vom Markt verschwinden, als daß sie für die entsprechenden Gruppen bereitstehen?
Frau Kollegin, das ist wirklich ein Mißbrauch des Rechts, eine Zwischenfrage zu stellen. Sie sollen eine Frage stellen.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, wenn Sie sich etwas über die Konditionen des Verkaufs von bundeseigenen Wohnungen, also von Deutschbau und Frankfurter Siedlungsgesellschaft, informieren, dann werden Sie feststellen, daß wir gerade bei diesem Verkauf die Bindungswirkung beibehalten haben. Das heißt, diese Wohnungen sind auf jeden Fall während der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit noch weiter gebunden. An dieser Stelle und an vielen anderen haben wir mit größtem Nachdruck dargestellt, daß dieser Verkauf nicht die Wirkungen hat, die Sie hier beschwören.
Ich sage das deswegen mit Nachdruck, weil ich von vielen verunsicherten Mietern gerade darauf angeschrieben worden bin, weil sie den Eindruck haben, als würden sie durch den Verkauf praktisch aus ihren bisherigen Bindungsmöglichkeiten herausfallen. Das ist aber nicht der Fall. Wenn Sie sich das noch einmal ansehen, werden auch Sie zu dieser Feststellung kommen.
Ich komme zum Wohngeld zurück. Ich halte es nach wie vor für unumgänglich notwendig, daß wir jetzt eine Novelle zum Wohngeldgesetz machen. Ich kann in der gegenwärtigen Situation allerdings nicht sagen, daß wir Ihre 30-Prozent-Forderung von 1,8 Milliarden DM durch Bund und Länder finanzieren werden, sondern wir müssen sehen, wie wir die vorhandenen Ungerechtigkeiten beim Wohngeld beseitigen können, so daß wieder etwas mehr soziale Symmetrie hineinkommt.
Ich bin ganz sicher, Herr Kollege Großmann, daß wir, wenn wir so vorgehen, auch die Zustimmung von vielen Ländern bekommen werden, die heute eher darüber nachdenken, ob man das Wohngeld absenken sollte, statt es ansteigen zu lassen. Dies ist eine realistische Verfahrensweise, und ich hoffe, daß Sie daran mitwirken werden, so etwas zu machen. Ich bedanke mich jetzt schon dafür, daß auch die Koalitionsfraktionen genau in diese Richtung mitdenken, um auf diesem Gebiet weiter voranzukommen.
Also, meine Damen und Herren, wir haben auf allen Gebieten nicht angekündigt, sondern wir haben die Dinge vorangebracht.
Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Wenn wir die vor uns liegende Zeit genauso nutzen, um das Zweite Wohnungsbaugesetz weiterzuentwickeln, wenn wir sie nutzen, um das Wohngeldrecht wirklich zu reformieren, so daß es den Ansprüchen gerecht wird, die wir auch in Zeiten leerer Kassen damit verbinden, wenn wir die Notwendigkeit erkennen, gerade in Sachen Erbschaftsteuer nichts zu tun, was den Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum behindern könnte, dann werden wir auf diesem schwierigen Gebiet sicherlich weiterhin erfolgreich vorankommen.
Ich habe jedenfalls allen Grund, mich dafür zu bedanken, daß wir in den letzten anderthalb Jahren mit guter Unterstützung dieses Hohen Hauses vieles leisten konnten, was für eine gute Wohnungsversorgung in Deutschland von großer Bedeutung ist.
Recht herzlichen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Norbert Formanski das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte unseren Antrag „Anhebung der Freibetragsregelungen nach dem Wohnungsbauförderungsgesetz 1994" vorstellen und begründen.
Norbert Formanski
Der Herr Minister wies zu Recht darauf hin, daß das Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 mit Zustimmung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion beschlossen wurde. Damals haben wir nach Jahren der Untätigkeit erreichen können, daß die Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau der aktuellen Einkommensentwicklung angepaßt wurden.
Dies hatte den positiven Effekt, daß Arbeitnehmerhaushalte gezielt entlastet wurden und der Trend zu einseitigen Mieterstrukturen im sozialen Wohnungsbau zumindest abgebremst werden konnte.
Negativ festzuhalten ist allerdings, daß trotz Anhebung der Einkommensgrenzen auf Grund der Neugestaltung der Freibetragsregelungen behinderte Menschen, die nicht häuslich pflegebedürftig im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes sind, erheblich schlechtergestellt wurden. Das führt für diesen Personenkreis zu individuellen Härten bei der Erhebung der Fehlbelegungsabgabe und bei der Zugangsberechtigung zum sozialen Wohnungsbau. Zusätzlich sind negative Effekte beim Neu- und Ausbau behindertengerechter Wohnungen zu verzeichnen.
Ziel und Zweck der staatlichen Wohnungsbauförderung ist es aber, die Wohnungsversorgung vorrangig für diejenigen Menschen sicherzustellen, die auf dem sogenannten freien Wohnungsmarkt nur geringe Chancen haben, eine angemessene Wohnung zu finden. Zu diesem Personenkreis gehören aber nicht nur die häuslich Pflegebedürftigen, sondern auch die große Zahl der mobilitätsbehinderten Menschen, die auf eine barrierefreie und behindertengerechte Wohnung angewiesen sind und die sehr wohl in der Lage sind, wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ein eigenverantwortliches Leben in der eigenen Wohnung ohne oder nur mit geringer fremder Hilfe zu führen. Die Zahl mobilitätsbehinderter Menschen liegt nach Angaben des Reichsbundes bei zirka 5 Millionen, darunter zirka 3,8 Millionen erheblich Gehbehinderte und 500 000 außergewöhnlich Gehbehinderte mit besonderem Wohnraumbedarf in bezug auf barrierefreie Zugänglichkeit und Nutzung der Wohnung. Nach Schätzung des Reichsbundes sind mit der aktuell geltenden Regelung etwa 75 Prozent aller Schwerbeschädigten von der Gewährung von Freibeträgen ausgeschlossen worden.
Die soziale Härte des damaligen Beschlusses wurde erst in den letzten Monaten drastisch deutlich, da die Einkommensüberprüfung zur Festlegung der Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau in einem mehrjährigen Turnus erfolgt und die betroffenen behinderten Menschen zum Teil jetzt erst merken, daß ihre Freibeträge reduziert wurden bzw. ganz weggefallen sind. Vielen Menschen tut jede Mark weniger im Portemonnaie weh, auch wenn es die Regierungskoalition manchmal nicht glauben will. Es kommt verschärfend hinzu, daß natürlich die behinderungsbedingten Mehraufwendungen größer geworden sind und Behinderte und chronisch Kranke durch das Gesundheits-Reformgesetz und das Gesundheitsstrukturgesetz zusätzlich finanziell belastet wurden.
Unser Antrag sieht deshalb vor, daß Behinderte mit einem Grad der Behinderung von mindestens 80 Prozent, die nicht häuslich pflegebedürftig sind, einen Freibetrag von 4 200 DM und Behinderte mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent und unter 80 Prozent, die nicht häuslich pflegebedürftig sind, einen Freibetrag von 2 000 DM in Anspruch nehmen können. Die Freibeträge für häuslich pflegebedürftige Menschen bleiben in der jetzigen Höhe.
Sachlich nicht gerechtfertigt ist auch die Tatsache, daß Alleinerziehende lediglich für Kinder unter 12 Jahren einen Freibetrag von 1 800 DM geltend machen können, sofern sie wegen Erwerbstätigkeit oder Ausbildung längerfristig vom Haushalt abwesend sind. Der Freibetrag hat nach dem Willen des Gesetzgebers das Ziel, Alleinerziehenden finanziellen Spielraum bei der Beaufsichtigung ihrer Kinder einzuräumen. Nach der derzeitigen Rechtslage fällt dieser Freibetrag aber gerade dann weg, wenn eine häusliche Beaufsichtigung auf Grund der kritischen Jahre in der Entwicklung besonders wichtig wäre. Es ist daher sachlich und pädagogisch gerechtfertigt, daß der Freibetrag bis zu einer Altersgrenze von 14 Jahren gewährt wird.
Mit diesen Freibetragsregelungen können wir den Betroffenen zumindest eine geringe finanzielle Entlastung einräumen.
Das erklärte Ziel des Wohnungsbauförderungsgesetzes, einen Schritt zur Harmonisierung des Einkommensbegriffs und der Einkommensermittlung im gesamten Bereich des Wohnungswesens zu leisten, steht nicht im Widerspruch zum vorliegenden Antrag. Es ist vielmehr erforderlich, daß sich die seit Jahren überfällige Novelle zum Wohngeldgesetz und die beabsichtigte Neugestaltung der Wohnungsbauförderung im Rahmen eines dritten Wohnungsbauförderungsgesetzes bei den Freibetragsregelungen am vorliegenden Antrag orientiert.
Die Zustimmung sollte Ihnen, meine Damen und Herren, um so leichter fallen, da außer geringfügigen Mindereinnahmen aus der Fehlbelegungsabgabe der Länder keine Kosten auf die öffentlichen Haushalte zukommen.
Der CO2-Antrag, Herr Kansy, liegt uns bis heute noch nicht vor; wir sind aber gespannt auf ihn, und wir werden uns, sobald er vorliegt, natürlich dazu äußern.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Helmut Wilhelm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt kommt ein kleiner Sprung zu den erneuerbaren Energien. Was lange währt, wird endlich gut -
Helmut Wilhelm
das kann aber nicht so ganz die endlose Geschichte der gesetzlichen Neuregelung der Privilegierung der Windenergie vergessen lassen. Immerhin war diese Privilegierung schon einmal bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juni 1994 gängige Rechtspraxis.
Um diese frühere Rechtspraxis nunmehr im Baugesetzbuch festzuschreiben, hat dieses Parlament ein ganzes Jahr gebraucht.
- Richtig. Die Verzögerungen brachten nicht etwa die bösen Umweltschützer, die nach gepflegtem Feindbild den Fortschritt im Standort Deutschland immer wieder behindern.
: Natürlich war es der BUND!)
- Nein, Herr Kansy. Die Verzögerung brachten einige von denen, die ansonsten nicht müde werden, den Standort Deutschland durch Rückschnitt von Umweltstandards, durch Abbau der Prüfbefugnisse der Verwaltung und durch Reduzierung des gerichtlichen Rechtsschutzes gesundbeten zu wollen.
Völlig ignoriert wurde dabei anscheinend, daß ein mittelständischer Industriezweig mit immerhin 10 000 Beschäftigten in arge Existenznot - mit Konkurs und Entlassungen - geriet und fast vor dem Aus stand. Doch damit möchte ich die Vergangenheit auch schon ruhen lassen.
Nach langem Ringen ist es endlich gelungen, ein Gesetz gemeinsam zu erarbeiten, das zu guter Letzt und fast schon unerwartet von allen in diesem Haus vertretenen Fraktionen getragen wird und das die Interessen einer umweit- und ressourcenschonenden Energieversorgung, des Umweltschutzes an einer Minderung der CO2-Emissionen, des Naturschutzes an einer wirksamen Planungskontrolle zur Vermeidung von Wildwuchs bei der Anlagenerrichtung durch Ausweisung von Vorrang- und Tabuflächen, der Gemeinden an der Erhaltung ihrer Planungshoheit und letztendlich der Förderung eines zukunftsträchtigen Industriezweigs und damit der Erhaltung, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen berücksichtigt.
Mit Aufnahme der Windenergie in den Privilegierungstatbestand wird zum Ausdruck gebracht, daß diese ein wichtiger Bestandteil der Energieversorgung sein muß. Nur durch die konsequente Nutzung regenerativer Energiequellen, von denen die Windenergie nur ein Teil ist, und der Möglichkeiten der Energieeinsparung ist ein Beitrag zum Schutz der Erdatmosphäre und des Klimas zu leisten. Auf diesem Weg werden wir fortschreiten müssen.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Walter Schöler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem ich gerade den Bauminister mit seiner Einlassung zum Bundesrat gehört habe, stellt sich mir die Frage, warum man den Bundesfinanzminister nicht gefragt hat, ob man überhaupt noch einen Bundesbauminister braucht. Das war die Konsequenz dieses Vortrags.
In meinem Beitrag will ich jetzt das breitgefächerte Thema, das uns heute gestellt wird, ansprechen. Der Kollege Warnick hat es einen Gemischtwarenkatalog genannt. Ich möchte in diesem engen Zeitrahmen drei Punkte ansprechen. Der erste ist die steuerliche Förderung im frei finanzierten Mietwohnungsbau.
Um sofort klarzustellen: Für uns Sozialdemokraten ist der frei finanzierte Mietwohnungsbau unverzichtbarer Bestandteil der Wohnungsbauförderung ebenso wie auch der soziale Wohnungsbau und die Förderung des Wohneigentums. Zur Schaffung eines ausreichenden Angebots an Wohnungen ist die Bereitstellung privaten Kapitals unerläßlich. Das setzt selbstverständlich voraus, daß die steuerlichen Rahmenbedingungen zu akzeptablen Renditen ermöglicht werden. Auch das halten wir für erforderlich.
Diese Rahmenbedingungen dürfen aber nicht zur Verschwendung finanzieller Ressourcen führen. Wir haben Ihnen im Februar unseren Antrag vorgelegt, die steuerliche Förderung im Mietwohnungsbau zielgenau zu gestalten. Die derzeitige steuerliche Förderung ist wenig treffsicher und geht an den Notwendigkeiten des Wohnungsmarktes und am Ziel der Konzentration und Effizienz vorbei.
Der im Vermittlungsausschuß beim Jahressteuergesetz erzielte Kompromiß darf die Wohnungspolitiker nicht zufriedenstellen. Da gebe ich Herrn Braun durchaus recht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun, Augsburg?
Aber natürlich.
Herr Schöler, netterweise billigen Sie dem Wohnungsbau im Moment angemessene Renditen zu. Was verstehen Sie unter angemessenen Renditen?
Herr Braun, ich werde in meinem Vortrag auf Ihre Frage zurückkommen. Ich erspare Ihnen jetzt, länger stehenbleiben zu müssen. Ich werde mir entsprechend Redezeit nehmen; das ist schon klar.
Walter Schöler
- Nein, ich will das gleich in meine Rede einbauen, weil ich das so für sinnvoll halte.
Es sollte schon einen Unterschied machen, ob ein Investor anderthalb Millionen DM für ein Penthouse als Steuerabschreibepalast aufwendet oder ob er mit der gleichen Summe im frei finanzierten Mietwohnungsbau sechs Mietwohnungen errichtet. Das jetzige Steuersystem fördert den Bau luxuriöser Wohnungen. Kostensenkende Anreize, geschweige denn Vorgaben, wie sie im sozialen Wohnungsbau und bei der Wohneigentumsförderung vorhanden sind, fehlen hierbei völlig.
Die Formel „hohe Kosten gleich große Steuervorteile" darf nicht weiter gelten.
Stagnation oder Senkungen bei Mieten betreffen leider nur Höchstmieten in Ballungsräumen und von Luxuswohnungen. Was wir brauchen, sind bezahlbare Mieten, auch im frei finanzierten Wohnungsbau. Diese bezahlbaren Mieten sind noch immer Mangelware.
Herr Braun, um auf Ihre Frage einzugehen: Sie können heute steuerliche Abschreibungen geltend machen; Sie können Eigenkapital investieren; Sie können ausrechnen, wo Sie Ihr Eigenkapital besser investieren - auf dem Kapital - oder auf dem Baumarkt. Sie müssen das Objekt, das Sie zur Verfügung stellen, ebenso wie die Erhaltung Ihres Kapitalwertes immer langfristig im Auge behalten.
Diese Rechnungen sind anders aufzumachen. Man darf nicht sagen: Wir investieren einfach im Ausland, bringen unser Geld weg, womöglich noch an der Steuer vorbei. Ich bin der Meinung: Wir können auf Grund der unterschiedlichen Landschaften Deutschlands nicht von bestimmten Mietbeträgen reden, sondern müssen sie gemäß den Landschaften festlegen. Ich komme gleich darauf zurück.
Wir wollen keinen Bestand an leeren Wohnungen. Investoren haben Mietpreisvorstellungen, die bis an die Grenze des Mietwuchers gehen, der im wesentlichen von der Rechtsprechung bestimmt wird, sind aber dennoch nicht zur Senkung der Mietpreise, die sie sich vorgestellt haben, bereit und machen neben den steuerlichen Forderungen auch noch Verlustabschreibungen aus der Vermietung geltend. Ich habe Ihnen in einer anderen Debatte mehrfach Beispiele von großen deutschen Investoren genannt, die das praktizieren.
Wir fordern die Bundesregierung auf umzusteuern. Die steuerliche Abschreibung muß so gestaltet werden, daß die Förderung kostensenkende und kostenbegrenzende Wirkungen erzielt. Die Einführung von Förderobergrenzen ist hierfür sehr dienlich. Gleiches sollte auch für den Instandhaltungsaufwand im Wohnungsbestand gelten. Hierzu schlagen wir die Kappung des steuerlich geltend zu machenden Instandsetzungsaufwandes je Quadratmeter Wohnfläche vor.
Die im Jahressteuergesetz 1996 beschlossene Verschlechterung der degressiven AfA sollte korrigiert werden. Auch Sie in der CDU haben erkannt, daß bei den Reisekosten eine steuerliche Korrektur vorzunehmen ist. Lassen Sie uns die gemeinsam angehen.
Im übrigen sollte der Wohnungsbauminister damit aufhören, die Zahl der erteilten Baugenehmigungen in den letzten Jahren als den Durchbruch bei der Bauland- und Wohnungsversorgung zu verkünden. Längst pfeifen die Spatzen von den Dächern, Herr Dr. Kansy: Es gibt keinen Bauboom mehr. Bei den Baugenehmigungsbehörden kann schon Kurzarbeit gemacht werden, und die Bauindustrie beklagt hohe Einbrüche bei den Aufträgen im Wohnungsbau - bis zu 25 Prozent. Lesen Sie die Statistiken nach.
Es muß noch über Jahre hinweg heißen - da sollten wir uns einig sein -: „volle Kraft voraus" zur Lösung der Wohnungsprobleme; nicht Fehlleitungen öffentlicher Subventionen und erst recht nicht „Sparen am falschen Ende".
Ich will noch auf einen Punkt zur Wohneigentumsförderung hinweisen. In den letzten Monaten habe ich erlebt, daß die Grundstückspolitik der Kommunen in weiten Teilen unseres Landes aus dem Ruder läuft. Ich habe zwar Verständnis für Gemeinden, die defizitäre Haushalte haben - wir wissen, daß der Bund in den letzten Jahren munter zu Lasten der Gemeindekassen verlagert hat -, aber der Anstieg der Baulandpreise um 100 DM - bei einer durchschnittlichen Baustellengröße von 300 Quadratmetern sind das 30 000 DM oder 200 DM Monatsbelastung - schluckt das weg, was wir an Eigenheimförderung zusätzlich beschlossen, was wir verbessert haben. Bauwillige sind nicht in der Lage, diese Mehrkosten in kürzester Zeit wieder anzusparen oder am Gebäude einzusparen.
Baukosten stehen, Frau Rönsch, in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu den Grundstückskosten, die in Deutschland teilweise höher liegen als die Baukosten selber. Ich kann die Gemeinden deshalb nur auffordern, eine soziale Bodenvorratspolitik zu betreiben.
Ich müßte noch ein bißchen Zeit haben, um auf den Raumordnungsbericht 1993 eingehen zu können, der heute auch auf der Tagesordnung steht. Es hat auf den Tag genau ein Jahr gedauert - Herr Kollege Wilhelm, das ist ähnlich wie mit der Windkraft -, daß dieser Bericht des Ausschusses auf die Tagesordnung kam. Am 20. Juni 1995 war unsere Beschlußempfehlung. Auch Herr Dr. Kansy hat sich gestern im Bauausschuß zu der unzumutbar kurzen Debattenzeit geäußert. Ich kann nur feststellen: Wie in die-
Walter Schöler
sem Parlament mit diesem wichtigen Thema umgegangen wird, ist unzumutbar.
Der Bericht zeigt ebenso wie der politische Orientierungs- und Handlungsrahmen der Ministerkonferenz für Raumordnung auf, daß nach wie vor besonders in den neuen Ländern erheblicher Handlungsbedarf besteht. Es gibt noch ein starkes Ungleichgewicht in den Regionen.
Ich will deshalb nur einen Punkt ansprechen, den auch die vorliegende „Raumordnungsprognose 2010" beinhaltet, nämlich die Bevölkerungsentwicklung. Im nächsten Jahrzehnt wird die Bevölkerung des Bundesgebietes voraussichtlich noch um 5 Millionen Einwohner anwachsen - überwiegend wegen der Zuwanderung aus dem Ausland. Die Regierung sieht bei dieser Entwicklung untätig zu. Die Koalition kann sich nicht einigen. Ich frage mich allein vor dem Hintergrund der Entwicklung im Wohnungsbau, regionaler Siedlungsstrukturen und der Ankündigung zur Steigerung der Wohneigentumsquote, wie wir diese Probleme lösen wollen, wenn hier Untätigkeit besteht. Ich gehe gar nicht auf andere Fragen ein, wie zum Beispiel auf die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Wirtschaftspolitik, sozialpolitische Bereiche und die Infrastruktur der Gemeinden.
Ich wünsche mir für die Zukunft - da sollten wir uns vielleicht einmal einig sein -, daß die mitberatenden Ausschüsse diesen Bericht intensiver beraten. Kenntnisnahme allein ist zu wenig.
Ein letztes Wort zur Novellierung des § 35 Baugesetzbuch - zur Privilegierung der Windkraft -, weil ich als Berichterstatter hier tätig bin. Ich kann mich den Worten des Kollegen Wilhelm nur anschließen, daß wir endlich Klarheit und Planungssicherheit schaffen, daß wir dafür sorgen, Windkraft wieder in der Weise voranzubringen, daß die Privilegierung im Gesetz festgelegt wird - unter Wahrung der kommunalen Planungshoheit. Das hielten wir für ganz wichtig.
Dies ist uns gemeinsam gelungen, auch wenn ich anmerken muß: Wir hätten das schon im Dezember letzten Jahres erledigen können. Ich bedaure sehr, daß es so lange gedauert hat.
Wir schaffen jetzt im übrigen eine Übergangsregelung, die auch den Gemeinden und dem Bundesrat entgegenkommt. Der § 35 des Baugesetzbuches wird dabei die Schutzfunktionen für den Außenbereich weiterhin behalten. Auch das ist ein sehr wichtiger Punkt.
Als Berichterstatter darf ich Sie dann noch bitten, hinsichtlich der Beschlußempfehlung auf Seite 3 der Drucksache 13/4978 eine Berichtigung zu akzeptieren. Hier muß es nämlich im Hinblick auf die Einfügung eines § 245b in das Baugesetzbuch heißen: „Der Bundestag hat" - und jetzt ist einzufügen: „mit
Zustimmung des Bundesrates" - „das folgende Gesetz beschlossen". Tun wir es jetzt!
Ich danke Ihnen sehr.
Ich erteile der Abgeordneten Hannelore Rönsch das Wort. Es tut mir leid, daß Sie über Gebühr haben warten müssen. Sie haben aber nun das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich möchte mich erst einmal bei den Kollegen der Opposition dafür bedanken, daß Sie Verständnis dafür haben, daß unser Bauminister mitten aus der Plenardebatte zu einer anderen Veranstaltung muß. Herzlichen Dank dafür.
Kein Verständnis habe ich allerdings dafür, daß die Präsidentin des Deutschen Mieterbundes dieser Debatte heute abend nicht beiwohnt.
Ich erinnere mich noch an die Wohnungsbaudebatte im November 1995. Dort wurde gerade von der Präsidentin schwarzgemalt. Ich habe immer ein gewisses Verständnis dafür, daß man sich selbst Klienten zuführen will und deshalb natürlich gerade die Mieterpolitik recht negativ anmahnt. Heute morgen hatten wir ein Fax vom Deutschen Mieterbund auf dem Tisch, wir mögen zu den Fragen der Wohnungspolitik Stellung nehmen. Man hätte sich das Fax sparen können, wenn die Präsidentin heute abend anwesend gewesen wäre.
Frau Kollegin Rönsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Großmann?
Selbstverständlich.
Bitte sehr.
Sind Sie bereit, mir zuzugestehen, Frau Kollegin Rönsch, daß es völlig unfair ist, wenn wir zur Abwesenheit des Bauministers Töpfer nichts sagen und damit einverstanden sind, daß er fahren kann, und wenn aus den gleichen Gründen, die Herr Töpfer hat, daß nämlich die Debatte, die zunächst für 16 Uhr heute nachmittag anberaumt war, um 19.10 Uhr begonnen hat, andere Abgeordnete, zum Beispiel auch Frau Fuchs, nicht anwesend sein können und Sie sie hier vorführen wollen?
Lieber Herr Kollege Großmann, der Herr Bundesbauminister hat sich bei Ihnen und bei uns entschuldigt.
Hannelore Rönsch
Mir fehlt noch die Entschuldigung der Präsidentin des Deutschen Mieterbundes, die als Abgeordnete, wenn es um die Wohnungspolitik geht, hier sonst immer das große Wort führt.
Ich gestehe Ihnen zu, daß, eingedenk der Debatte des letzten Novembers, die Aussagen von Ihnen wesentlich moderater geworden sind, denn Sie haben eigentlich kaum noch etwas zu beklagen.
Herr Kollege Schöler, Sie haben gerufen, ich möge zur Sache kommen. Ich lade Sie herzlich ein, die vom Kollegen Hildebrecht Braun gestellte Frage nach der Rendite, die Sie im Laufe Ihrer Rede noch beantworten wollten, vielleicht in einer persönlichen Stellungnahme doch noch zu beantworten. Ich habe sehr aufmerksam zugehört, ich habe eine Antwort nicht gehört.
Es kam im Redekonzept offensichtlich nicht vor. Kommen wir zur Sache, und klären Sie das bitte nachher.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist heute, Frau Eichstädt-Bohlig, auch von Ihnen, wieder von der wachsenden Wohnungsnot geredet worden. - Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, ich spreche gerade mit Ihnen; ich sehe Sie nur in der Diskussion. - Kollege Braun hat schon einige Zahlen genannt: 2,7 Millionen Fertigstellungen von 1990 bis jetzt und weitere 635 000 Anträge. Das spricht für sich.
Es irritiert auch, wenn zum Beispiel im Koalitionsvertrag von Schleswig-Holstein, der wohl zwischen Rot und Grün ausgehandelt worden ist, steht, daß von wachsender Wohnungsnot keine Rede mehr sein kann. Da würde ich doch empfehlen, daß auch die Grünen ihre Sprache untereinander einmal koordinieren. Ich meine schon, daß man mit dem ganz besonderen Gut Wohnung, mit dem Grundbedürfnis auf Wohnen und den Ängsten der Mieter keinen Unfug treiben und die Verängstigung nicht permanent weitertreiben darf.
Wir haben uns für diese Legislaturperiode wichtige Ziele gesetzt, Herr Kollege Großmann, und haben einige dieser Ziele schon erreicht. Gerade mit der familienfreundlichen Wohneigentumsförderung kommen wir den jungen Familien entgegen.
Ich würde mich freuen, wenn Sie die Möglichkeit wahrnehmen würden, auch die eine oder andere Zahl nach draußen zu geben. Wir haben eine entspannte Lage auf dem Wohnungsmarkt. In meiner Heimatstadt Wiesbaden sind die Mieten im Durchschnitt um 8 DM pro Quadratmeter gefallen. Man spricht in den bundesdeutschen Großstädten schon
längst von einem Mietermarkt. Genau das war unser Ziel, und dieses Ziel haben wir erreicht.
Wir haben, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, aus Ihrem unmittelbaren Berliner Umfeld Pressemeldungen, daß von 1 048 Wohnungen 40 Prozent leer stehen. Angesichts dieser Zahlen frage ich mich, wieso Sie dazu kommen, hier von einer wachsenden Wohnungsnot zu sprechen.
- Aber selbstverständlich.
- Herr Präsident, es sind drei Fragen.
Frau Abgeordnete Rönsch, ich nehme an, daß Sie die Fragen zulassen wollen, und gebe zu einer kurzen Frage zunächst Frau Eichstädt-Bohlig das Wort. Ich weise darauf hin, daß es in der Geschäftsordnung heißt, daß die Fragen kurz und präzise sein müssen. Frau EichstädtBohlig, bitte schön.
Frau Kollegin Rönsch, ist Ihnen erstens bekannt, daß Wohnungsnot speziell ein Problem der Großstädte und der Ballungsräume ist und insofern Schleswig-Holstein eine vielleicht etwas entspanntere Region ist?
Ist Ihnen zweitens bekannt, daß die Mietsenkungen, die in der letzten Zeit tatsächlich stattgefunden haben, sich überwiegend auf das obere Preissegment beziehen, das heißt aus dem Bereich zwischen 20 und 22 DM herunter auf 15 DM,
vielleicht auch einmal auf 13 oder 12 DM, aber gerade nicht in dem Bereich, -
Frau EichstädtBohlig, bitte halten Sie sich an die Geschäftsordnung!
- in dem Wohnungen dringend gebraucht werden?
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, das Problem ist bekannt. Ich habe mich ausdrücklich auf Großstädte bezogen
Hannelore Rönsch
und habe deshalb das Beispiel Berlin-Weißensee genommen. Ich nenne Ihnen noch einmal die Zahlen. In Berlin-Weißensee - das ist Großstadt - sind 1 048 Wohnungen, davon 40 Prozent Leerstände. Ich habe nicht von Schleswig-Holstein und von ländlichen Regionen gesprochen, sondern von der Großstadt Berlin.
Die zweite Frage kommt von dem Kollegen Formanski. Bitte sehr.
Frau Rönsch, Sie sagten gerade, daß die Mieten um 8 DM pro Quadratmeter gefallen seien. Würden Sie bitte den Betrag nennen, von dem aus sie um 8 DM gefallen sind?
Ich hatte meine Stadt Wiesbaden als Grundlage genommen. Die Stadt Wiesbaden liegt im oberen Preissegment. Die Mieten sind von 25 auf 18 bzw. 17 DM gefallen.
- Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber das zeigt doch, daß im breiten Mietspektrum Bewegung ist.
Ich würde Ihnen allen, die im November letzten Jahres geredet haben, empfehlen: Lesen Sie doch einmal Ihre Redebeiträge nach!
Ich hätte schon erwartet, daß der eine oder andere sich heute abend ein wenig korrigierte.
Die dritte Frage kommt von dem Kollegen Gilges.
Klar doch.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Statistik der Länder und des Bundes ausweist, daß wir noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik eine so hohe Obdachlosigkeit gehabt haben wie in diesem und in den vergangenen Jahren? Haben Sie das alles verdrängt, oder haben Sie dazu keinen Bezug? Es kann ja sein, daß es in Wiesbaden und Berlin-Weißensee Probleme in der Wohnungsvermietung gibt. Dafür gibt es auch Ursachen. Aber in der gesamten Bundesrepublik haben wir noch nie eine so hohe Obdachlosigkeit gehabt. Sie brauchen nur einmal an den Bonner Bahnhof zu sehen, -
Herr Kollege Gilges, Sie müssen keine Ausführungen machen. Ich habe das Problem verstanden.
- wie viele Leute da im Freien schlafen, oder in den Bahnhöfen in Berlin, -
Herr Gilges!
- wie viele keine Unterkunft haben, -
Herr Präsident!
- wie viele unter den Brükken leben müssen, Frau Kollegin.
Herr Gilges, ich rufe - -
- Herr Gilges, Sie haben nicht das Wort.
Lieber Herr Kollege Gilges, ich weiß nicht, woher Sie die Ungezogenheit für diese Unterstellung nehmen. Sie haben sich mit diesem Problem offensichtlich überhaupt noch nicht vertraut gemacht.
Denn wenn Sie sich einmal damit befaßt hätten, mit Obdachlosen geredet hätten, dann hätten Sie sich auch mit den Ursachen der Obdachlosigkeit,
die nicht im Fehlen des Daches über dem Kopf liegen, sondern aus tiefen persönlichen Schicksalen herrühren, vertraut machen müssen. Es ist eine sozialpolitische Frage - -
Einen Augenblick!
Selbstverständlich kann Arbeitslosigkeit Ursache sein.
Einen Augenblick, Frau Kollegin Rönsch! - Herr Kollege Gilges, ich habe Sie eben schon ermahnt. Wenn Sie sich nicht an die Geschäftsordnung halten, rufe ich Sie
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
zur Ordnung. Sie haben nicht das Wort; ich bitte Sie, sich an die Geschäftsordnung zu halten.
Frau Kollegin Rönsch, bitte.
Herr Kollege Gilges, ich würde mir wünschen, daß Sie sich mit weniger Emotionen, aber dafür mit mehr Ernst und Tiefsinn dieses Problems annehmen würden. Denn das Schicksal dieser Menschen kann aus Arbeitslosigkeit, aus Ehescheidung, aus Krankheit, zum Beispiel auch aus Alkoholproblemen resultieren. Aber es ist nicht eine Frage des Daches über dem Kopf.
Deshalb muß man dieses Problem der Obdachlosigkeit anders angehen.
Frau Kollegin Rönsch, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Frau Abgeordnete Hendricks, bitte schön.
Frau Kollegin Rönsch, darf ich auf das Beispiel der Mietpreissenkung in Ihrer Stadt Wiesbaden, wie Sie zu sagen belieben, -
Ich komme dorther.
- von 25 DM pro Quadratmeter auf etwa 17 DM pro Quadratmeter zurückkommen? Darf ich Sie dann zunächst darauf aufmerksam machen, daß dies natürlich keinesfalls eine durchschnittliche Mietpreissenkung in verschiedenen Preissegmenten ist, sondern allenfalls in diesem Beispiel stimmen kann?
Darf ich Sie darüber hinaus fragen, wie zum Beispiel eine vollzeitberufstätige Einzelhandelskauffrau mit einem Nettoeinkommen, das kaum über 1 800 DM liegt, eine Wohnung, die vorher vielleicht - -
Eine Sekunde, Frau Hendricks. Sie wollten eine Frage stellen.
Ich habe die ganze Zeit „Darf ich Sie fragen ...?", „Darf ich Sie darauf aufmerksam machen ...?" formuliert, Herr Präsident.
Nach § 27 der Geschäftsordnung müssen die Zwischenfragen kurz und präzise sein. Stellen Sie Ihre Frage, sonst entziehe ich Ihnen das Wort.
Können Sie mir sagen, wie eine Einzelhandelskauffrau mit einem Nettoeinkommen von etwa 1 700 bis 1 800 DM eine 50-
Quadratmeter-Wohnung, die nach Ihrem Beispiel vorher 1 250 DM gekostet hat und jetzt 850 DM kostet, bezahlen soll?
Liebe Frau Kollegin, ich hätte mir gewünscht, Sie hätten vielleicht aus Ihrer Stadt Beispiele mitgebracht oder sich beim Mieterschutzverein oder bei „Haus und Grund" erkundigt, wie die Preisentwicklungen sind. Dann hätten wir ein breiteres Spektrum gehabt. Ich habe meine Heimatstadt als Grundlage genommen, und ich kann Ihnen sagen, daß auf dem Mietermarkt Bewegung ist. Wenn ich weiter ausführen darf, werde ich das auch noch an einzelnen Beispielen sehr deutlich machen.
Offensichtlich wollen Sie weiterhin ignorieren, daß auch 1996 die höchste Anzahl von fertiggestellten Wohnungen im sozialen Wohnungsbau zu verzeichnen ist und daß wir eine breite Bewegung hin zum Mietermarkt haben. Ich habe vorhin ausgeführt, daß rot-grüne Koalitionsvereinbarungen dies schon bestätigen. Das paßt bei Ihren Diskussionen nicht so ganz ins Bild.
Ich werde auch an anderen Stellen noch zeigen, daß Sie manche Entwicklungen, die Ihnen bekannt sind, verschweigen. Dabei sollten Sie Fortschritte, wie zum Beispiel bei der Bausparförderung veröffentlichen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Braun hat schon auf die Entwicklung im Wohnungsmarkt hingewiesen. Ich meine, daß wir mit unserem Eigenheimzulagengesetz einen weiteren, sehr wesentlichen Schritt gerade für junge Familien getan haben. Das Eigenheimzulagengesetz ermöglicht es gerade jungen Familien mit Einkommen zwischen 50 000 und 70 000 DM, wesentlich schneller an Eigentum zu kommen.
Wenn man sich die Bundesrepublik Deutschland im internationalen oder europäischen Vergleich betrachtet, muß es schon erstaunen, daß junge Menschen bei uns erst im Durchschnittsalter von 38 Jahren Eigentum erwerben wollen.
Hannelore Rönsch
Wir liegen hier im europäischen Vergleich ganz weit unten. Deshalb ist diese Eigenheimförderung und diese Familienförderung so zwingend wichtig, damit auch junge Familien mit Kindern die Möglichkeit haben, Eigentum zu erwerben.
Wir haben gerade bei den Einkommen um 50 000 DM im Vergleich zum alten § 10e eine Steigerung von 9 500 DM im Jahr.
- Herr Kollege Großmann, auch das können Sie nicht leugnen. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie gerade bei der Eigenheimförderung mitgearbeitet und mitbestimmt haben.
Wenn zum Beispiel in Selbsthilfe ein Eigenheim erbaut wird, ist es nun für eine junge Familie möglich, die Baukosten um die Hälfte zu senken.
Wir sollten auch eine weitere Erfolgsmeldung nicht verschweigen: In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sind bei den 13 Landesbausparkassen über 700 000 neue Bausparverträge abgeschlossen worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle bekommen solche Erfolgsmeldungen doch auch auf den Tisch. Da frage ich mich, warum man in einer Presseerklärung von Ihnen nicht auch einmal die Meldung findet, daß zum Beispiel bei 13 Landesbausparkassen im ersten Halbjahr 1996 700 000 neue Verträge abgeschlossen worden sind.
In diesem Papier steht ein schöner Satz:
In den ersten fünf Monaten dieses Jahres hatte die Sparkassenorganisation der 13 LBS mit über 700 000 neu abgeschlossenen Bauverträgen ein Plus von 48,1 Prozent zu verzeichnen und erreichte eine Bausparsumme von 23 Milliarden DM.
Ich denke, daß wir den jungen Familien auch hier ein Riesenstück entgegengekommen sind und damit auf dem richtigen Weg sind.
Wir haben heute verschiedentlich auch das Wohngeld angesprochen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben permanent beklagt, daß nichts passiert sei. Ich wundere mich, daß es dann das Land Sachsen ist, das im Finanzausschuß des Bundesrates den Antrag stellen muß, das Sonderwohngeld Ost um ein Jahr zu verlängern.
- Das ist vollkommen egal. Es ist ein CDU-geführtes
Land aus den neuen Bundesländern. Wo sind denn
Ihre Länder geblieben? Sie klagen hier an, und die
CDU stellt den Antrag. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie Ihre Bundesländer entsprechend auf den Weg gebracht hätten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch einen weiteren Punkt erwähnen. Ich denke, gerade für junge Bauwillige ist es ausgesprochen wichtig, daß die vom Bundesbauminister initiierte Kostensenkungsinitiative endlich umgesetzt wird. Ich bin neugierig, was die Untersuchungen von Pilotprojekten aussagen werden. Wir haben bereits die ersten Meldungen, daß bei Einsparungen von 100 000 bis 150 000 DM zum Beispiel jede dritte Familie, die in einer Mietwohnung wohnt, zum Eigentumserwerb bereit wäre. Diese Kostensenkungsinitiative muß von uns weiter vorangetrieben werden.
Auch die Initiative „Das junge Haus" trägt dazu bei, daß Familien mit mittleren und unteren Einkommen die Möglichkeit erhalten, Eigentum zu erwerben. Ich will auch noch einmal an die Kommunen appellieren, Bauland zur Verfügung zu stellen. Denn man kann nur dann günstig bauen, wenn entsprechende Grundstücke vorhanden sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen in dieser Legislaturperiode auch an die Fehlbelegungsabgabe herangehen. Das ist heute immer wieder von Ihnen beklagt worden.
Ich appelliere an die Fehlbeleger: Es ist ein soziales Unrecht, wenn man eine Wohnung fehlbelegt, also ein zu hohes Einkommen hat. Man hat dann doch die Möglichkeit, sich auf dem freien Wohnungsmarkt mit einer Wohnung zu versorgen. Die fehlbelegte Sozialwohnung könnte dann an die wirklich bedürftigen Sozialmieter gegeben werden.
Wenn jeder sein soziales Gewissen schärfen und entsprechend handeln würde, müßte der Gesetzgeber nicht eingreifen. Denn jeder Fehlbeleger weiß, daß er Unrecht am Sozialstaat und an den jungen Familien begeht.
Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch etwas Versöhnliches. Ich bin ausgesprochen dankbar, daß gestern im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die Privilegierung der Windenergie einvernehmlich abgeschlossen werden konnte.
Ich gestehe Ihnen durchaus ein, daß wir von der CDU/CSU-Fraktion über ein Jahr ringen mußten.
- Sie haben eben nicht zugehört. Ich gestehe Ihnen zu: Wir von der CDU/CSU-Fraktion mußten ein Jahr ringen. Und ich sage Ihnen, dieses Ringen hat uns gutgetan; denn diejenigen, die die planungsrechtliche Erleichterung vornehmen wollten, befanden sich
Hannelore Rönsch
mit den Umwelt- und Naturschützern in einem ernsten Konflikt.
Wir wollten, daß die Kommune ihre Planungshoheit erhält bzw. daß diese ein Stück ausgebaut wird, damit wir naturschützerischen und touristischen Argumenten weiterhin entsprechen können.
Allerdings wollten wir auch eine Privilegierung einer Energie, die zukunftsweisend ist.
Frau Kollegin Rönsch, achten Sie bitte auf die Zeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Diskussion im Wohnungsbau so sachlich und einvernehmlich verläuft, wie es heute teilweise der Fall war - Sie haben vom November letzten Jahres dazugelernt -, dann ist mir um die Wohnungspolitik nicht bange.
Das Wort hat der Kollege Albrecht Papenroth, SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst ein Wort an Frau Kollegin Rönsch. Damit Sie die Vertretung des DMB nicht allein an der Anwesenheit der Präsidentin festmachen: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß mindestens drei Vertreter des DMB in diesem Raume anwesend sind.
Meine Damen und Herren, seit ich im Bundestag bin, stelle ich mir immer wieder die Frage, weshalb Alltagsfragen so oft durch die Koalitionsmehrheit halbherzig, ja wirklichkeitsfremd und an den Realitäten vorbei entschieden werden. Ein Musterbeispiel dafür ist die in vielen Punkten umstrittene und fragwürdige Altschuldenproblematik. Sie belastet insbesondere die ostdeutschen Wohnungsunternehmen und sollte durch die Umsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes aus der Welt geschaffen werden.
Das ursprüngliche Ziel des Altschuldenhilfe-Gesetzes bestand darin, vorrangig den Mieterinnen und Mietern der neuen Bundesländer die Möglichkeit zu geben, ihre oftmals langjährig gemieteten Wohnungen zu kaufen. Um die Kaufbereitschaft dieser Bürger zu testen und die geeignetsten Angebots- und Verkaufsmethoden ausfindig zu machen, wurden zu Beginn einige Modellstädte dafür ausgewählt.
Ich bin Mieterbundvorsitzender in meinem Wahlkreis und habe auf Wunsch eines ehemaligen Abgeordneten Ihrer Koalition, der mit einem Modellvorhaben beauftragt war, diesen Privatisierungstest aktiv begleitet. Was kam nun dabei heraus?
Neben den unterschiedlichsten subjektiven Gründen konzentrierten sich die Schwerpunkte für die fehlende Kaufbereitschaft auf die unzureichend zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel und die geringe Attraktivität der Mehrzahl der angebotenen Wohnungen. Aber auch fehlende grundbuchrechtliche Eigentumszuordnungen spielten eine wesentliche Rolle.
In unserem Bericht haben wir damals darauf hingewiesen, daß diese Erkenntnisse, die übrigens auch in anderen Modellstädten gewonnen wurden, entsprechend zu berücksichtigen sind und mit geeigneten Maßnahmen gegengesteuert werden muß. Nichts geschah.
Das Altschuldenhilfe-Gesetz war nach unserer Ansicht in der ursprünglichen Fassung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Daß sich dies auch in der Praxis bewahrheitet hat, zeigt sich daran, daß nach Angaben der Kreditanstalt für Wiederaufbau bislang bei zirka 360 000 gestellten Anträgen auf Teilentlastung nur etwa 65 000 Wohnungen privatisiert worden sind und von diesen nur ein ganz geringer Teil an die in ihnen wohnenden Mieter. Daran hat selbst die Unterstützung durch das Erwerberzuschußprogramm nichts Wesentliches geändert. An diesem Ergebnis ist auch für die Koalition unschwer zu erkennen, daß das Altschuldenhilfe-Gesetz tatsächlich gescheitert ist.
Welche Schlußfolgerungen haben Sie als Mehrheitskoalition nun aus dieser Misere gezogen?
Es gab bisher keinen Hinweis darauf, daß der beabsichtigte Verkauf vorrangig an die Mieter in Zukunft einen merklichen Aufschwung erfahren wird. Der Verkauf dümpelte weiter vor sich hin und beschränkte sich auf den ständig abnehmenden Bestand der Ein- und Zweifamilienhäuser, teilweise auch auf kleinere Mehrfamilienhäuser in bevorzugten Wohnlagen.
Anstatt den Kaufanreiz bei den Erwerbern durch zusätzliche - damit meine ich ausreichend wirksame - Vergünstigungen zu stimulieren, wurde weiterhin Druck auf die Veräußerer ausgeübt.
Sie müssen zugeben, meine Damen und Herren der Koalition, dieses Verfahren ist schon von der kaufmännischen Herangehensweise absurd und kontraproduktiv.
Oder haben Sie schon einmal erlebt, daß ein Verkäufer, ohne auf das Kaufverhalten seiner Käufer einzugehen, mehr Waren an den Mann bringt, wenn er von steigenden Erlösabführungen bedroht ist?
Gegen die progressive Erlösabführung haben sich nicht nur wir als Opposition, sondern haben sich auch Fachgremien, die durch den direkten Kontakt mit den Eigentümern und den potentiellen Erwerbern Sachverstand einbringen, wie zum Beispiel der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft und der Deutsche Mieterbund, ausgesprochen.
Albrecht Papenroth
Immer wieder haben wir in den letzten drei Jahren mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die progressive Erlösabführung in eine Sackgasse führt und in eine lineare umgewandelt werden muß. Nur so kann das genannte ursprüngliche Anliegen, privates Wohneigentum zu schaffen, befördert und dadurch verhindert werden, daß sich die Wohnungsunternehmen zu anderen Privatisierungsformen gezwungen sehen.
Die Bundesregierung hat mit der progressiven Erlösabführung bisher erreicht, daß durch den Privatisierungsdruck viele Unternehmen der Wohnungswirtschaft nur ihre Filetstücke losgeworden und auf den problematischen Plattenbauten sitzengeblieben sind, deren Privatisierung schwer oder gar aussichtslos ist. Die stärkere Hinwendung zu mieternahen Privatisierungsmodellen sollte als Ausweg zur Erfüllung der Veräußerungsverpflichtung aus dem Altschuldenhilfe-Gesetz beitragen.
Meine Damen und Herren, wie sich doch so ein Schwerpunkt wandeln kann: von der ursprünglichen Zielsetzung der Schaffung privaten Wohneigentums hin zu einer Erfüllung der Veräußerungsverpflichtung. Das ist doch eine für die Koalition bezeichnende Auffassungsakrobatik.
Die Bundesregierung hat inzwischen über den Lenkungsausschuß auf das Scheitern ihres Privatisierungskonzepts reagiert. Sie hat sich durch eine Konkretisierung der Anerkennung von Zwischenerwerbermodellen endgültig von dem - für alle sichtbar - nunmehr als scheinheilig erkannten Zielen der Mieterprivatisierung verabschiedet. Zwischenerwerber erhalten damit die Möglichkeit, ihre Verpflichtung zur Veräußerung an die Mieter auf 40 Prozent des übernommenen Wohnungsbestandes zu beschränken.
Gleichzeitig weist die Kreditanstalt für Wiederaufbau darauf hin, daß Zwischenerwerber, die ihren Verpflichtungen zur Mieterprivatisierung nicht nachkommen, keine Sanktionen zu befürchten haben. Weshalb diese bis jetzt einseitige Regelung nicht auch für die Wohnungsunternehmen gelten kann, wird wohl schwerlich von der Koalition zu begründen sein.
Mehr als drei Jahre hat es nun gedauert, bis die Vertreter der Koalition aus ihrer Lethargie erwacht sind. Aber weit gefehlt, wenn man nun annehmen könnte, daß sie den Fehler der progressiven Abführung eingesehen hätten. Es scheint schon Altersstarrsinn zu sein, daß sie nur eine Abflachung der Abführungskurve zustande brachten und sich vor einer linearen Abführung fürchten wie der Gehörnte vor dem Weihwasser. Es könnte ja sein, daß sie ansonsten einen Fehler zugeben würden.
Die Erlösabführung soll nun weiterhin progressiv bleiben, aber bis zum Jahre 2001 in drei Schritten auf 55 Prozent begrenzt werden. Die Grundtendenz besteht weiterhin und wird auch durch die fragwürdige
Erklärung eines angeblich notwendigen Anreizes zur Veräußerung nicht glaubhafter. Leider wurde die bereits erwähnte Bevorteilung der Zwischenerwerber im Änderungsantrag nicht aufgehoben.
Daß Wohnungsgenossenschaften, sobald die Bereitschaft ihrer Mitglieder zum Eigentumserwerb erschöpft ist, gezwungen werden sollen, an Dritte zu veräußern, bedarf auch noch einer Veränderung.
Genossenschafter zu überzeugen, daß sie sich ohne Not und Nutzen zu einer Ausgründung mit höherer Belastung bekennen sollen, gehört schon in den Bereich der Schildbürger. Während hier noch die Eigentumsfrage gleichbleibt, geht es bei der dann in Frage kommenden Veräußerung an Dritte um eine für die betroffenen Genossenschafter fragwürdige Zwangsenteignung. Und das, meine Damen und Herren der Koalition, werden Sie im Ernst nicht wollen. Welche Auswirkungen künftig von der möglichen Bestellung von Erbbaurechten nach dem Wohnungseigentumsgesetz zu erwarten sind, wird die Umsetzung dieses Beschlusses letztlich zeigen.
Insgesamt kommt diese halbherzige Novellierung viel zu spät und wäre bei weniger Lobbyismus von Anfang an gar nicht erforderlich gewesen.
Dennoch ist die vorgeschlagene Regelung zugegebenermaßen eine kleine Verbesserung und hilft der Wohnungswirtschaft weiter.
Wenn nunmehr die Sprecher der CDU/CSU erklären, mit dieser Reform erhalte die Wohnungsprivatisierung eine faire Chance, muß ich schon staunen. Das heißt doch letztlich nichts anderes, als daß diese faire Chance entgegen allen bisherigen Beteuerungen der Bundesregierung bis jetzt nicht bestanden hat.
Um auf die Frage am Anfang meiner Rede zurückzukommen, zum Schluß noch ein kleiner Hinweis an die Vertreter der Opposition: Beherzigen Sie die Weisheit des großen Reformators, von dem Sie einen Namensvetter in Ihrer Fraktion haben. Meine Damen und Herren, schauen Sie öfter mal den Betroffenen aufs Maul und entscheiden Sie künftig mehr mit dem Kopf und etwas weniger mit dem Bauch.
Das Wort hat der Kollege Rolf Rau, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Christdemokraten arbeiten mit Herz und Kopf; das sollte man hier einmal deutlich sagen.
Vor 14 Tagen stellte auf einer Veranstaltung im neuen Messe-Center in Leipzig, an der ich teilneh-
Rolf Rau
men konnte, ein Vertreter einer bekannten Bank, die im Umgang mit dem Wohnungsbestand der Plattenbauten noch gar keine Erfahrung in den neuen Länder gesammelt hat, auf ein Gutachten sich stützend, gleich einmal fest, man müsse 30 Prozent dieser Häuser abreißen. Hier stellt sich schon eher die Frage, ob sich hinter dieser Aussage reine Naivität oder bestimmte Absichten verbergen.
Wie bekannt, haben die Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften mit rund 29 Milliarden DM aus dem Altschuldenhilfe-Gesetz ihre Unternehmen entlastet.
Ich möchte daran erinnern, daß der Chef des GdW, der bei uns im Ausschuß war, sogar das Wort „Segen" in den Mund genommen hat, als er davon sprach, daß diese Möglichkeit den Gesellschaften und Genossenschaften an die Hand gegeben wurde. Erst dadurch bestand die Chance, die Wohnungswirtschaft in den Unternehmen auf gesunde Füße zu stellen.
Ich möchte dabei auch noch einmal daran erinnern - das klang bereits in einem Beitrag hier an -, daß es mit Modellversuchen immer so eine Sache ist. Ich kann andere Beispiele nennen. Wir haben auch genügend Modellversuche, in denen bis zu 85 Prozent der Bürger die Wohnung gekauft haben. Also ist da genau das Gegenteil dessen passiert, was hier eben vorgehalten wurde.
Unter Einbeziehung der zahlreichen Wohnungsneubauten im mehrgeschossigen Wohnungsbau, aber auch im Reihen-, Doppel- und Einfamilienhausbereich wird deutlich, daß der Wohnungsmarkt in Ostdeutschland in Bewegung geraten ist. Die Tatsache, daß in einzelnen Wohnbereichen nach kürzester Zeit Leerstände entstanden sind, wirkt mietpreisreduzierend, zeigt aber auch Probleme der Umsiedlung, also der Wohnungsmarktveränderung, auf. Auch stimmen oft Preis und Qualität nicht überein.
Im Rahmen der Wohnungsprivatisierung sind in den einzelnen Ländern unterschiedliche Ergebnisse erzielt worden. Jeder muß wissen: Ohne die Privatisierung und ohne Veräußerung wäre eine Modernisierung und Sanierung in den neuen Ländern kaum möglich gewesen.
Erst durch die Sonderabschreibung, die ohne Zweifel ein wichtiger Faktor ist, und durch das MW-Programm, gepaart mit den Länderprogrammen, ist es möglich, den Nachholbedarf in der Sanierung der Altbestände, der allein im Bauschadensbericht mit rund 130 Milliarden DM angegeben wird, in den nächsten Jahren abzuarbeiten.
Auf Grund der Mietendeckelung - wie Sie wissen, liegt die Kappungsgrenze für die Modernisierung bei 3 DM pro Quadratmeter - sind hier wirtschaftliche Entwicklungen ja nicht unmittelbar möglich gewesen. Insofern müssen wir alles tun, um die erhebliche Konjunkturabflachung des Baugewerbes und dort besonders auch des mittelständischen Handwerks nicht zuzulassen.
Ich bin froh, daß wir mit der Korrektur des Altschuldenhilfe-Gesetzes erfolgreich voranschreiten. Die Abflachung der Abführungsquote in den Erblastentilgungsfonds von 60 auf 45 Prozent setzt Liquiditätsmittel frei und sichert für die nächsten zwei Jahre und darüber hinaus, daß bei den Arbeiten für die Mieterprivatisierung, aber auch bei der Arbeit mit Zwischenerwerbern und Genossenschaften Kontinuität beibehalten wird. Durch diesen Entwurf werden die Unternehmen geschützt, bei denen es zum Beispiel durch die nicht vorhandene Zuordnung von Grund und Boden zu Verzögerungen kam. Durch die Nichtberücksichtigung der SPD-Forderung nach einer 40prozentigen linearen Abführung verhindern wir gleichzeitig, daß fleißige Privatisierer bestraft werden.
Ich denke, daß wir mit der Lösung - ich könnte mir auch eine zweistufige Erhöhung vorstellen - und der Möglichkeit der Anwendung des Erbbaurechtes eine gute Ausgewogenheit geschaffen haben. Angereichert durch die hohe Eigentumsförderung, die seit Anfang des Jahres auf dem Weg ist, ergibt das Potentiale im Wohneigentumsbereich aus dem Bestand.
Sorge macht mir dabei - ich möchte das kurz ansprechen - die Städtebauförderung. Es gehört dazu, daß wir, wenn wir in den Bereich der kompletten Plattenbausiedlung hineingehen, auch in der Lage sein müssen, einmal ein Objekt zu entkernen und damit Infrastruktur zu gestalten sowie angenehme Wohn- und Lebensbedingungen zu schaffen, damit auch die Fragen des sozialen Zusammenlebens begleitet werden.
Ich möchte auch noch einmal hervorheben, daß wir im Zusammenhang mit dem Wohngeld auf bestimmte Schwierigkeiten gestoßen sind, und ich möchte hier deutlich unterstreichen, daß die Einführung eines verbesserten Wohngeldes für Gesamtdeutschland im Anschluß an die Wohngeldregelung in den neuen Bundesländern erfolgen muß und gegebenenfalls in zwei Stufen ab dem 1. Januar 1997 eingeführt werden sollte. Wenn es nicht anders geht, sollte über die Verlängerung des Wohngeld-Änderungsgesetzes oder über § 42 des Wohngeldgesetzes eine Lösung gefunden werden.
Abschließend sage ich, daß ich froh bin, daß wir als Parlament in der Lage sind, so, wie wir Prozesse auf den Weg gebracht haben, sie zu begleiten und, wenn wir Erkenntnisse gesammelt haben, die an unseren Vorstellungen vorbeigelaufen sind, auch die Kraft haben, Veränderungen vorzunehmen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig.
Frau Rönsch ist kurz hinausgegangen. Trotzdem möchte ich mich an sie wenden.
Franziska Eichstädt-Bohlig
Ich habe mir inzwischen die schleswig-holsteinische rot-grüne Koalitionsvereinbarung besorgt, um korrekt zitieren zu können. Dort steht - ich möchte das vorlesen -:
Die bisherige Leistungsbilanz im Wohnungsbau kann sich sehen lassen. Auch wenn sich Anzeichen der Entspannung auf dem Wohnungsmarkt abzeichnen, muß die Förderung des Wohnungsbaus auf hohem Niveau fortgesetzt werden, um den Bedarf zu decken.
Das ist, so denke ich, doch etwas anderes als das, was Sie vorhin gesagt haben, Frau Kollegin Rönsch.
Frau Kollegin Rönsch.
Liebe Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, nichts anderes habe ich gesagt.
Selbstverständlich muß die Förderung des sozialen Wohnungsbaus fortgeführt werden, damit Investoren weiterhin Anreiz haben zu investieren.
Es werden in Zukunft noch mehr Ein- und Zweipersonenhaushalte auf dem Wohnungsmarkt nachfragen. Es wird also eine Verstetigung der Nachfrage geben, nur nicht mehr auf dem hohen Niveau der vergangenen Jahre mit mehr als 600 000 Wohnungen. Es wird ausreichen, wenn es 470 000 Wohnungen sind.
Ich habe nichts anderes gesagt, als daß sich der Wohnungsmarkt beruhigt hat. Genau das steht in der Koalitionsvereinbarung.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu den Überweisungen, zunächst zu denen der Tagesordnungspunkte 7 a, e, f, h und i. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4254, 13/4949, 13/3665, 13/4725 und 13/4837 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Gesetzentwurf der Koalition zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes auf Drucksache 13/4949 soll jedoch nicht dem Finanzausschuß, sondern dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Der Antrag der SPD zur Anhebung der Freibetragsregelungen auf Drucksache 13/3665 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4968 soll an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden wie der Wohngeld- und Mietenbericht. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 g, Überweisung des Antrages der Fraktion der SPD zur steuerlichen Förderung im Mietwohnungsbau. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag auf Drucksache 13/3918 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, daß die Federführung beim Finanzausschuß liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 b: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zum Raumordnungsbericht 1993; das sind die Drucksachen 12/6921 und 13/1740. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4964. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 7 c, Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zum Großsiedlungsbericht 1994; das sind die Drucksachen 12/8406 und 13/1741. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4965 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4973. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 7 d: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu dem Bericht der Expertenkommission Wohnungspolitik auf Drucksache 13/ 4533 Nr. I. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/1312 abzulehnen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt unter Nr. II seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/4533 zu dem Bericht der Expertenkommission Wohnungspolitik sowie zur Stellungnahme der Bundesregierung dazu die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4971. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Zusatzpunkt 5, Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., der Fraktion der SPD und dem Bundesrat eingebrachten Gesetzentwürfe zur Änderung des Baugesetzbuchs. Das sind die Drucksachen 13/1733, 13/1736 und 13/2208. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt auf Drucksache 13/4978, die Gesetzentwürfe zusammengefaßt in der Ausschußfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur stärkeren Berücksichtigung der Schadstoffemissionen bei der Besteuerung von Personenkraftwagen
- Drucksache 13/4918 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Hauser.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Herr Kollege Hauser, warten Sie noch einen Augenblick! Wir wollen den Freunden Gelegenheit geben, sich zurückzuziehen. Ich bitte allerdings darum, daß dies beschleunigt geschieht, so daß wir weiter verhandeln können. Ich müßte die Sitzung sonst für ein paar Minuten unterbrechen.
Ich bitte vor allem deshalb um Ruhe, weil der Herr Staatssekretär, wenn ich es richtig sehe, heute Geburtstag hat; da hat er Anspruch darauf, daß wir ihm zuhören.
Das ist das mindeste. - Herr Kollege Hauser, bitte.
Ich bedanke mich für die Glückwünsche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Kraftfahrzeugsteuerreform geht die Bundesregierung einen weiteren pragmatischen und zielorientierten Schritt zur stärkeren Einbeziehung ökologischer Aspekte in das Steuerrecht.
Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Emissionen, die vom Straßenverkehr ausgehen, zu vermindern. Eine in diesem Rahmen wichtige Maßnahme ist es, die Kraftfahrzeugsteuer für die nach neuestem technischen Stand emissionsarmen und verbrauchsgünstigen Pkws zu senken. Die bisherigen steuerrechtlichen Maßnahmen zur Förderung schadstoffarmer Pkws werden fortgeführt und um die Förderung verbrauchsgünstiger Pkws, sogenannter Dreiliterautos, ergänzt.
Die Steuerbelastung für die Pkws, die bei Ozonalarm fahren dürfen - das sind jetzt 57 Prozent des Fahrzeugbestandes -, bleibt unverändert. Pkws mit einem höheren Schadstoffausstoß sollen allerdings stärker belastet werden. So entsteht ein Anreiz, Altfahrzeuge mit einem schadstoffreduzierenden Abgassystem nachzurüsten oder auf schadstoffärmere Fahrzeuge umzusteigen.
Diese Neuregelung nützt nicht nur der Umwelt. Die verstärkte Nachfrage nach umweltfreundlichen Kraftfahrzeugen ermöglicht Autoherstellern und Herstellern von Abgasnachrüstsystemen einen weiteren Innovationsschub und dient damit der Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
Umwelttechnologie ist ein wichtiger und rasch wachsender Zukunftsmarkt, der für die exportorientierte deutsche Wirtschaft immer bedeutsamer wird. Deutschland ist bereits bei vielen Produkten der Umwelttechnologie Weltmarktführer. Diese Position wird gestärkt und kann ausgebaut werden. Dies trägt zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland bei.
Mit dem Entwurf eines Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetzes setzt die Bundesregierung ihre bereits vor über einem Jahrzehnt begonnene wirkungsvolle Politik
der zielorientierten Ausgestaltung des Steuerrechts unter Umweltgesichtspunkten fort.
Wichtige Beispiele hierfür sind unter anderem die steuerliche Begünstigung umweltverträglicherer Kraftstoffe und Kraftfahrzeuge oder die Förderung der Kraft-Wärme-Koppelung. Zuletzt wurden im Rahmen der Neuregelung des Wohneigentumsförderungsgesetzes besondere Ökozulagen für energiesparendes Bauen eingeführt.
Mit dieser Politik wird eine umweltorientierte Lenkung im Steuersystem erreicht, ohne durch Radikalkuren Arbeitsplätze aufs Spiel zu setzen und ohne den primären Zweck der Steuern, nämlich die allgemeine Finanzierung der Staatsausgaben, in Frage zu stellen.
Der Bundesverfassungsrichter Professor Kirchhof und viele Experten, beispielsweise der Sachverständigenrat, warnen zu Recht vor einer Überfrachtung des Steuersystems mit Lenkungssteuern. Vergessen wir nicht: Die zentrale Herausforderung für Politik und Gesellschaft in den nächsten Jahren ist die Sicherung und Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze.
Die Produktions-, Investitions- und Beschäftigungsbedingungen am Standort Deutschland müssen verbessert werden, um im verstärkten globalen Wettbewerb bestehen zu können. Deshalb - das sei an dieser Stelle gesagt - muß die dritte Stufe der Unternehmenssteuerreform schnellstens verwirklicht werden.
Hier muß jeder Farbe bekennen. Dazu fordere ich insbesondere die SPD auf.
Ein investitions- und wachstumsfreundliches Steuerrecht, das Modernisierungsinvestitionen, die in aller Regel auch ökologische Vorteile bringen, erleichtert, dient ebenso dem Umweltschutz wie der Schaffung der dringend benötigten Arbeitsplätze.
Das Rezept der Opposition, die alle ökologischen Fragen mit einem Einstieg in eine ökologische Steuerreform im nationalen Alleingang lösen will, lehnen wir ab. Wer das versucht, geht wegen der mit einer solchen Reform verbundenen Haushalts- und Arbeitsplatzrisiken einen gefährlichen Weg.
Die ökologische Steuerreform wäre zudem mit der großen Gefahr eines Anstiegs der Steuerquote und vor allem der Staatsquote verbunden,
die wir verringern wollen. Die Ergebnisse einer IWF- Studie zeigen auch für Deutschland deutlich den negativen Zusammenhang zwischen der Größe des öffentlichen Sektors und dem Wirtschaftswachstum.
Der immer wieder vorhergesagte beschäftigungsfördernde Effekt einer ökologischen Steuerreform ist höchst unsicher. Das hat vor wenigen Tagen das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen bestätigt. Nach einer vom nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister in Auftrag gegebenen Studie würden bei einer progressiven Energieabgabe allein in den alten Bundesländern über 400 000 Arbeitsplätze verloren gehen.
Zu hoffen, mit der Verteuerung des Faktors Energie würden sich über den Marktmechanismus quasi automatisch und simultan neue Arbeitsplätze schaffen lassen, ist nach Auffassung des RWI nicht nur naiv, sondern wirtschaftspolitisch unverantwortlich.
Ökosteuer-Modellen, die eine Besteuerung der Energie nur beim Endverbraucher vorsehen - so wie es seit kurzem von der SPD zu hören ist - hat das RWI ebenfalls eine Absage erteilt, da sie ökologisch nichts bringen.
Auch die Bundesregierung will eine spürbare Senkung der Lohnzusatzkosten. Eine dauerhafte Senkung kann aber nur durch Konsolidierungsanstrengungen in den Sozialversicherungssystemen selbst erreicht werden. Eine steuerfinanzierte Reduzierung der Arbeitskosten ist nicht der richtige Weg, schon gar nicht durch neue Ökosteuern.
Umweltsteuern haben - wie auch vom Sachverständigenrat in seinem letzten Jahresgutachten festgestellt - sachlogisch aber auch gar nichts mit der notwendigen Senkung von Lohnzusatzkosten zu tun. Was hat übrigens der Rentner davon, daß seine Energierechnung steigt, er aber von den Entlastungen nicht profitiert?
Auf EU-Ebene setzt sich die Bundesregierung weiterhin für eine Harmonisierung der Energiebesteuerung unter CO2- und Energiegesichtspunkten ein. Obwohl Deutschland den im Jahre 1992 vorgelegten Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission für eine EU-weite CO2-/Energiesteuer von Anfang
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
an engagiert unterstützt hat, konnte bisher kein Konsens erreicht werden.
Vor diesem Hintergrund wurde die Kommission im März 1996 vom Rat für Wirtschafts- und Finanzfragen aufgefordert, so rasch wie möglich neue Richtlinienvorschläge zu unterbreiten. Grundsätzlich unterstützt die Bundesregierung den von der Kommission angekündigten Ansatz, die harmonisierte Mineralölsteuer unter CO2-/Energiegesichtspunkten ökologisch sinnvoll und wettbewerbsneutral auch auf andere Energieträger zu übertragen. Dabei sollten zusätzlich die Steuersätze für Mineralöle, insbesondere für Kraftstoffe, stärker harmonisiert werden.
Meine Damen und Herren, Umweltschutz und die Bewahrung der Schöpfung sind hohe Güter und wichtige politische Aufgaben.
Wer aber glaubt, ein schonender Umgang mit unseren Ressourcen und ein besserer Umweltschutz sei über Ökosteuern und rigides Ordnungsrecht auf Kosten von Wachstum und Arbeitsplätzen zu erreichen, der irrt.
Herr Kollege Hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ganseforth?
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Meine Frage bezieht sich auf eine etwas zurückliegende Aussage von Ihnen. Sie sprachen die Rentner an, die durch die Ökosteuer, die wir vorschlagen, belastet werden. Wie sieht das denn bei der CO2-/Energiesteuer aus, die Sie auf EU-Ebene propagieren? Geht die am Rentner vorbei?
Im Vordergrund, Frau Kollegin Ganseforth, steht dabei eine wettbewerbsneutrale Steuer. Das Problem, das wir mit einem Alleingang auslösen würden, besteht darin, daß wir der Industrie eine zusätzliche Belastung auferlegen würden. Wenn eine gleichmäßige Belastung erfolgt, wird der Wettbewerb nicht verzerrt. Deswegen wollen wir einen Alleingang vermeiden und das nur auf EU- Ebene regeln.
Herr Kollege Hauser, gestatten Sie der Kollegin Ganseforth eine weitere Zwischenfrage?
Nein, ich bin fast am Ende meiner Rede.
Also nicht mehr.
Auf Kosten von Wachstumund Arbeitsplätzen Ökosteuern einzuführen halten wir für den falschen Weg. Das eine geht ohne das andere nicht. Zielgerichtete und pragmatische Umweltpolitik und Wachstumspolitik sind zwei Seiten einer Medaille.
Das Wort hat der Kollege Detlev von Larcher, SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zum Geburtstag.
Ich möchte Ihnen auch ein Geschenk machen, und zwar möchte ich Ihnen unseren Antrag zur ökologischen Steuerreform schenken, aber nur dann, wenn Sie versprechen, ihn wirklich zu lesen, damit Sie nicht wieder behaupten, die Steuer- und Abgabenquote würde bei Erfüllung unseres Antrages erhöht werden.
Dann bin ich sogar bereit, ein rotes Schleifchen herumzubinden.
Völlig außerhalb des heutigen Zusammenhangs haben Sie gesagt, wir müßten Farbe bekennen. Da kann ich nur sagen: Rot steht uns gut, sehr gut sogar!
Sie, Herr Staatssekretär, haben von einem pragmatischen Schritt gesprochen, den Sie mit der Vorlage des Gesetzentwurfs zu machen gedächten. Sie hätten besser von einem Schrittchen sprechen sollen; denn dann hätte ich Ihnen voll zustimmen können. Wir finden nämlich, daß Ihr Antrag umweltpolitisch, verkehrspolitisch und finanzpolitisch unzureichend ist.
Zu diesem Ergebnis sind übrigens auch die Sachverständigen bei der Anhörung des Finanzausschusses in der letzten Woche gekommen. Eine ökologisch motivierte Reform der Kraftfahrzeugsteuer bleibt Stückwerk, solange sie nicht eingebettet wird in ein Gesamtprojekt ökologische Steuerreform.
Dazu gehört auch die schrittweise Erhöhung der Mineralölsteuer.
Tatsächlich ist dieser Gesetzentwurf nichts weiter als ein Feigenblatt - ein Feigenblatt, mit dem Sie Ihre jahrelange Blockade einer wirklichen ökologischen Steuerreform verschleiern wollen.
Vor den großen ökologischen Zukunftsfragen kapituliert diese Koalition nämlich. Wer sieht, wie wirkungsvoll beispielsweise die Selbstverpflichtungen
Detlev von Larcher
der Wirtschaft zur Schaffung von Ausbildungsplätzen sind - nämlich gar nicht -, der kann doch nicht ernsthaft glauben, daß das CO2-Problem mit einer Selbstverpflichtung der Industrie gelöst werden könnte. Niemand glaubt das, nicht einmal Sie selbst!
Und weil Sie wissen, daß das niemand glaubt, legen Sie uns jetzt dieses Reförmchen vor, um hinterher sagen zu können: Seht her, wir tun doch etwas für den Umweltschutz! - Aber dieses Manöver ist zu durchsichtig, als daß es gelingen könnte.
Die Schadstoff- und CO2-Emissionen sind doch bei weitem nicht das einzige ökologische Problem des Straßenverkehrs. Dazu gehören genauso die Zerschneidung der Landschaft und der Städte durch immer neue Straßen und viele andere Dinge mehr. Und dazu gehört auch, daß diejenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht über ein Auto verfügen, in dieser automobilen Gesellschaft von Mobilität ausgegrenzt werden.
Nicht zuletzt hier liegt doch auch ein Grund dafür, daß noch so viele „alte Stinker" unterwegs sind. Das sind doch die Autos derjenigen, die sich eigentlich kein Auto leisten können, die es sich aber auch nicht leisten können, keines zu haben. Deshalb glaube ich nicht, daß die empfindlichen Steuererhöhungen für Altfahrzeuge zu einer wesentlichen Beschleunigung der Bestandserneuerung führen werden.
Es ist überhaupt nicht ausreichend, an Einzelproblemen herumzukurieren. Das ist auch im Expertengespräch am 12. Juni sehr deutlich geworden. Notwendig ist eine grundsätzliche Umorientierung in der Verkehrspolitik, die zu einer Stärkung der öffentlichen Verkehrsmittel führt.
Doch zu einer solchen Umorientierung sind Sie nicht fähig. Denn die Merkmale Ihrer Politik sind doch Orientierungsschwäche, Konzeptionsmangel und Kleinmut, wie Ihnen Herr Süskind heute mit Recht bescheinigt.
Aber auch im Detail ist der Gesetzentwurf fragwürdig. Ich will vier Punkte nennen.
Erstens. Es ist ökologisch wie finanzpolitisch wenig sinnvoll, die Kraftfahrzeugsteuer für Fahrzeuge zu senken, die der Norm Euro 2 entsprechen. Dieser Standard muß von allen ab dem 1. Januar 1997 neuzugelassenen Wagen sowieso verbindlich eingehalten werden. Der reduzierte Steuersatz wird damit in erster Linie Mitnahmeeffekte auslösen, die in keinem vertretbaren Verhältnis zur dadurch ausgelösten Modernisierung des Fahrzeugbestandes stehen.
Andererseits werden dadurch die ohnehin nicht sehr großzügigen Steuervorteile zusätzlich begrenzt, die sich beim Kauf eines Euro-3-Fahrzeugs beziehungsweise eines steuerlich gleichgestellten Dreiliterautos erzielen lassen. Diese Dreiliterautos werden - wie allgemein kleinere Pkws mit Otto-Motor - in der vorgesehenen Restlaufzeit der Kraftfahrzeugsteuer den maximalen Steuervorteil von 1 000 DM bei weitem nicht ausschöpfen können.
Der finanzielle Anreiz zum Kauf solcher Fahrzeuge bleibt deshalb gering, möglicherweise zu gering im Vergleich zu den Mehrkosten solcher Autos.
Ich wäre froh, wenn Sie mich mit Ihrem Gespräch nicht stören würden. - Der möglichst schnellen Verbreitung dieser besonders wenig umweltschädigenden Fahrzeuge steht Ihr Gesetzentwurf also eher im Wege, als daß er sie fördert.
Sie, meine Damen und Herren Koalitionäre, müssen sich deshalb fragen lassen: Wollen Sie den Absatz besonders schadstoffarmer Autos fördern, oder geht es Ihnen vielleicht mehr um den Absatz von Neuwagen allgemein? Als Niedersachse weiß ich eine gute Automobilkonjuktur natürlich zu schätzen. Aber wenn es darum geht, den ökologisch fortgeschrittensten Stand der Technik durchzusetzen,
muß sich das entsprechend in den Steuersätzen niederschlagen.
Zum zweiten: Laut Begründung des Gesetzentwurfs sind die Veränderungen bis zum Jahr 2000 nahezu aufkommensneutral. Ich würde gern davon ausgehen, daß dem seriöse Berechnungen zugrunde liegen.
In der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses war allerdings nur von Annahmen und Schätzungen die Rede. Was aber ist mit den Jahren 2001 und 2002 oder auch, da man Ankündigungen dieser Bundesregierung über Steueränderungen nie trauen darf,
in den Jahren darüber hinaus?
Wenn wir den Trend fortschreiben, ergeben sich im nächsten Jahrtausend Einnahmeausfälle von rund 3 Milliarden DM jährlich,
die nicht durch vorübergehende Mehreinnahmen in den nächsten Jahren gedeckt sind.
Da sind wir schon wieder bei einem der beliebtesten Spielchen dieser Bundesregierung: Steueraus-
Detlev von Larcher
fälle zu Lasten der Bundesländer - ganz so, wie Sie es ja auch bei der Vermögensteuer vorhaben.
Damit ist schon jetzt absehbar, daß die Steuersätze spätestens ab dem Jahr 2001 erhöht werden müssen, um die Finanzkraft der Länder zu erhalten.
Wenn Ihnen die Tränen kommen, kann ich das in diesem Fall gut verstehen, da Sie wohl an Ihre Politik denken.
- Ihr, die ihr zwischenruft, habt keine Ahnung!
Es ist deshalb auch unredlich, daß Sie sich mit der Tarifsenkung für Euro-2-Fahrzeuge als Steuersenkungskoalition zu profilieren versuchen. Denn diese Steuersenkung funktioniert nur so lange, wie es eine nennenswerte Zahl von Altfahrzeugen mit erhöhtem Steuersatz gibt.
Zum dritten: Es ist etwas merkwürdig, daß Fahrzeuge, die noch vor wenigen Jahren als „bedingt schadstoffarm" steuerlich gefördert wurden, zukünftig dem höchsten Steuersatz unterliegen sollen. Die Gleichbehandlung dieser Fahrzeuge mit solchen ohne jegliche Abgasreduktion ist unter Emissionsaspekten nicht gerechtfertigt.
Noch wichtiger erscheint mir jedoch folgendes: Wenn sich herumspricht, daß Steuervorteile auf diese Weise schon nach ein paar Jahren durch spezielle Steuererhöhungen wieder „einkassiert" werden, dann dürfte die Bereitschaft erheblich nachlassen, die Kaufentscheidung von steuerlichen, hier also ökologischen, Aspekten beeinflussen zu lassen.
Sie ruinieren damit das Instrument, das Sie nutzen wollen. Hier müssen Sie Ihren Entwurf ändern.
Schließlich viertens: Das grundsätzliche Festhalten an der Steuerbemessungsgrundlage Hubraum erscheint zwar aus verwaltungstechnischer Sicht wünschenswert, insbesondere vor dem Hintergrund der Absicht, die Kraftfahrzeugsteuer ab dem 1. Januar 2003 auf die Mineralölsteuer umzulegen. Damit wird aber die Chance vertan, weitere ökologische Kriterien wie beispielsweise den Kraftstoffverbrauch schon jetzt steuerlich zu berücksichtigen. Eine ausschließliche Orientierung auf sogenannte Dreiliterautos ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt reine Symbolpolitik.
Eine dynamische Entwicklung hin zu kraftstoffsparenden Technologien kann nur angestoßen werden, wenn jede Verbrauchsreduzierung belohnt wird.
Ich fasse zusammen: Der vorliegende Entwurf steht in der unseligen Tradition dieser Bundesregierung, umweltpolitisches Handeln durch Symbole zu ersetzen.
Er läßt wesentliche ökologische Lenkungspotentiale ungenutzt; er ist finanzpolitisch über das Jahr 2000 hinaus nicht tragbar, und er wird, da er ausschließlich eine einzelne Steuer mit Öko-Fassade vorsieht, nur einen kleinen, wenn auch nicht unwichtigen Ausschnitt der Umweltproblematik des Straßenverkehrs berühren.
Wir werden den Gesetzentwurf in den Ausschüssen intensiv beraten.
Das wird Ihnen, Herr Staatssekretär, und Ihnen von den Koalitionsfraktionen die Gelegenheit geben, die von mir genannten Punkte aufzugreifen und entsprechend zu korrigieren, so daß wir vielleicht doch noch zu einer einvernehmlichen Lösung kommen könnten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
- Herr Kollege von Larcher, wir sind da allzumal Sünder; ich betone: alle.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herrn Hauser habe ich bereits gratuliert, ich werde ihm aber nicht unseren Ökosteuerentwurf schenken. Ich hoffe, er hat ihn schon gelesen.
Sie haben das Thema Ökosteuer angesprochen, deshalb will ich eine Bemerkung machen: Wir werden selbstverständlich an unseren Vorstellungen von einer Ökosteuer festhalten. Wir sind allerdings - das muß man ganz ehrlich und offen sagen - derzeit mit verschiedenen Unternehmen darüber im Gespräch, inwieweit wir spezifische Ausnahmeregelungen, und zwar branchen- und produktspezifisch, brauchen.
- Selbstverständlich. Wir reden schon lange mit der Wirtschaft. Ich habe immer gesagt: Wir entwickeln unsere Vorstellungen nicht im luftleeren Raum, sondern wir entwickeln unsere Vorstellungen zusammen mit den Kräften in der Gesellschaft, das sind die Sozialverbände, aber genauso auch die Wirtschaftsunternehmen.
- So viel Lob bin ich gar nicht gewohnt.
Nun zur Kfz-Steuer: Wir haben heute das seltsame Phänomen, daß unter anderen der ADAC und auch
Christine Scheel
BMW unserer Forderung nach Umlegung der KfzSteuer auf die Mineralölsteuer zustimmen und damit auch den Entwurf der Bundesregierung kritisieren.
- Wenn Sie sagen: Da waren wir vorher dran, dann kommt mir das zupaß. Dann sage ich Ihnen: Ich verstehe nicht, daß die neue Steuersenkungs- und Steuervereinfachungs-Yuppie-Partei die Abschaffung der Kfz-Steuer forciert und dann mit der Koalition zusammen eine neue Besteuerung einführt, die noch komplizierter ist, anstatt Vereinfachungen vorzunehmen. Es ist mir ein Rätsel, daß Sie das als Steuervereinfachung und Steuersenkung insgesamt verkaufen.
Spätestens seit der öffentlichen Anhörung in der vergangenen Woche dürfte uns allen klargeworden sein, daß die Vorschläge der Bundesregierung so, wie sie in dem Entwurf niedergelegt sind, nicht haltbar sind. Wir wehren uns dagegen, daß dieser Gesetzentwurf als „Ersatz für eine ökologische Steuerreform" - so wird er bezeichnet - vorgelegt werden soll.
Es gibt einen Kommentar der Bundesregierung zu einer ganz aktuellen EU-Vorlage, die sich auf CO2Emissionen bezieht. Sie nennt sich „eine Strategie der Gemeinschaft zur Minderung der CO2-Emissionen von Pkw und zur Senkung des durchschnittlichen Kraftstoffverbrauchs". Dazu sagt die Bundesregierung, und das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen:
Die Kraftfahrzeugsteuer eignet sich kaum zur Regelung der CO2-Emissionen.
Das steht eindeutig im Widerspruch zur Argumentation, die im neuen Kfz-Steuergesetz nachzulesen ist und die mit der Staffelung der Steuersätze nach CO2-Emissionen eine ökologische Lenkungswirkung verspricht.
- Danke, Herr von Larcher.
Wir kritisieren an diesem Gesetzentwurf erstens das sogenannte Verfallsdatum zum 1. Januar 2003. Danach soll genau das gemacht werden, was Bündnis 90/Die Grünen heute schon vorschlagen.
- Ja, das ist so. In der Zeit sind 1 500 Finanzbeamte gebunden, die könnten etwas Sinnvolleres betreiben, als irgendwelche neuen Sachen auszurechnen.
Zweitens zielt der Gesetzentwurf, wie erklärt wird, auf Aufkommensneutralität ab. Das heißt, mehr als 11 Millionen Besitzer oder Besitzerinnen älterer Pkws finanzieren die Steuerersparnis von Neuwagenbesitzern, die sich beispielsweise Autos mit einem 15-Liter-Verbrauch leisten können.
Wir sagen: Hier ist der Lenkungseffekt verfehlt. Wenn wir das Dreiliterauto forcieren und uns einen Kaufanreiz nur über eine Erhöhung der Mineralölsteuer vorstellen können, dann, so muß ich sagen, käme der Anreiz, den Sie versprochen haben, doch wesentlich eher durch eine Erhöhung der Mineralölsteuer zustande als durch die falsche Lenkung, die Sie wieder einmal vornehmen.
Drittens. Die ökologische Lenkungswirkung muß stark angezweifelt werden, da die Kfz-Steuer einen Fixkostencharakter hat und die Steuersätze gering sind. Bekannterweise verursachen Pkws die Probleme während ihres Betriebes und nicht, wenn sie in der Garage stehen.
Auch die tatsächliche Schadstoffemission der Altfahrzeuge ist im Grunde nicht zu ermitteln. Das ist ein Problem. Das wurde uns letzte Woche von den Experten gesagt. Mir war das bis dahin noch gar nicht so extrem deutlich. Ein Zitat aus dem Kraftfahrbundesamt:
Für bereits im Verkehr befindliche Fahrzeuge gehe ich davon aus, daß bisher für die Serienproduktion ein entsprechender CO2-Ausstoß nicht nachgewiesen werden kann.
Ich frage Sie: Wie wollen Sie bei 40 Millionen Pkws
den CO2-Ausstoß überhaupt ermitteln, den Sie für
die Festlegung der Bemessungsgrundlage brauchen?
Es gibt auch deswegen Schwierigkeiten, weil mehr als 20 Prozent der Altfahrzeuge technisch nicht nachgerüstet werden können und wir bis heute noch überhaupt keine Regelungen zur Verwertung und Entsorgung von Altfahrzeugen haben. Ein erster Schritt wäre, eine entsprechende Verordnung auf den Weg zu bringen. Dann könnte man den zweiten Schritt tun. Aber Sie tun den ersten Schritt praktisch vor dem zweiten. Das kann in der Praxis, meine ich, nicht funktionieren.
Viertens. Man darf nicht vergessen, daß Deutschland auf Grund der Öffnung des osteuropäischen Raumes zunehmend Transitland wird und daß ausländische Straßennutzer an den Folgekosten des Verkehrs nicht beteiligt werden. Auch das wäre ein Argument für die sofortige Umlegung der Kfz- auf die Mineralölsteuer; denn dann wäre diese Beteiligung - zumindest beim Durchfahren mit Auftanken, was irgendwann erforderlich wäre - gewährleistet.
Wir wollen eine verursacherbezogene Steuer. Das kann nur mit einer Erhöhung der Mineralölsteuer funktionieren. Auch wollen wir Druck ausüben, damit die Infrastruktur im ÖPNV verbessert wird. Wir wollen die Automobilindustrie unterstützen. Wir haben schon vor Jahren einen Hilferuf von BMW aus Bayern bekommen. BMW hat das Dreiliterauto produziert und würde es gern serienweise auf den Markt bringen. Das gilt mittlerweile auch für andere Automobilhersteller. Ich möchte hier keine Schleichwerbung betreiben. Ich komme aus Bayern, und mir
Christine Scheel
ist gerade eingefallen, daß wir solche Gespräche mit BMW schon vor Jahren. geführt haben.
Das Problem ist die fehlende Nachfrage nach diesen Dreiliterautos. Sie kann nur über eine Erhöhung der Mineralölsteuer geschaffen werden: Die Leute, die relativ viel fahren wollen oder müssen, müssen auch mehr für das Benzin zahlen. Sie steigen dann eher auf das Dreiliterauto um als bei einer emissionsabhängigen Kfz-Steuer. Bei dieser würden sie sich heute vielleicht noch einmal ein Zehn- oder Fünfzehnliterauto kaufen. Das wollen wir aus ökologischen Gründen vermeiden.
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Kfz-Steueränderungsgesetz paßt im Hinblick auf das, was die Koalition bereits in der letzten Periode auf den Weg gebracht hat, nahtlos in eine Gesetzgebungsreihe: Erhöhung des Plafonds für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs, steuerliche Gleichstellung dessen, was mit dem öffentlichen Nahverkehr im Gegensatz zum Pkw noch benachteiligt war. Ich erinnere an die Gesetzgebung zum Job-Ticket.
Ich erinnere auch an die derzeit mit der Bahnreform zusammengefaßten Beschlüsse zur Regionalisierung, an die Aufstockung der Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr. In Deutschland stand noch nie so viel Geld für den Nahverkehr zur Verfügung wie derzeit.
Jeder, der etwas anderes behauptet, sollte die Zahlen nachlesen.
Jetzt kommt ein Kfz-Steueränderungsgesetz, das eigentlich drei Teile ersetzen muß.
Erstens. Es betrifft den Teil der Fahrzeuge - das sind ungefähr 10 Prozent des Bestandes -, die für schätzungsweise zwei Drittel der gesamten Emissionen verantwortlich sind: Das sind die Altfahrzeuge.
Ein zweiter Schritt ist: Es belohnt die Verwendungen von Dieselkraftstoff. Bereits bei der Produktion hat Dieselkraftstoff eine deutlich bessere CO2-Bilanz als Ottokraftstoff. Das kann man in allen entsprechenden Statistiken nachlesen.
Drittens. Es setzt richtigerweise zunächst da an, daß man schadstofffreundlichere Fahrzeuge produziert. Kollegin Scheel, das ist in Klassen eingeteilt. So kompliziert ist das Ganze gar nicht: Wir haben Euro 3 und Euro 2 in der gleichen Klasse. Wir haben Euro 1. Außerdem gibt es die Strafsteuern: 20 DM mehr pro derzeit vorhandenem individuellem Steuersatz, abhängig vom Zulassungsdatum. Das kann jeder nachlesen.
Dann gibt es auch noch die Steuerbefreiungstatbestände, und zwar den Anreiz einer Steuerersparnis von maximal 1 000 DM und/oder einer Steuerbefreiung im Zeitraum bis zum 31. Dezember 2002. Bei einem durchschnittlichen Auto mit 1,8 Liter, das derzeit zugelassen wird, trifft das hervorragend zusammen. Wer einen größeren Motor hat, bekommt diese 1 000 DM; wer einen kleineren hat, nimmt den vollen Zeitraum der Steuerbefreiung in Anspruch.
Am Ende dieses Zeitraumes steht - über das wird hier gar nicht geredet - die Umlegung der KfzSteuer auf die Mineralölsteuer zum 1. Januar 2003.
- Ich würde empfehlen, das Programm der Koalition für mehr Wachstum und Beschäftigung nachzulesen.
Dort steht es dezidiert.
Nicht umsonst steht in der Begründung zu diesem Gesetz, daß rechtzeitig vor Auslaufen dieses Gesetzes die entsprechenden Bedingungen zu vereinbaren sind. Das steht dort nicht einfach aus Gnade und Barmherzigkeit, sondern deshalb, weil man dafür Grundlagen geschaffen hat. Ich gehe natürlich davon aus, daß diese Koalition zu dem Zeitpunkt in der Lage ist, das auch umzusetzen. Bei der Qualität der Gesetzgebung habe ich da keine Bedenken.
Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?
Bitte sehr. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Herr Kollege Friedrich, Sie erwähnten gerade die Steuerklassen. Wären Sie bereit, darüber nachzudenken, ob die Begünstigung der Euro-2-Fahrzeuge nicht doch im wesentlichen zu Mitnahmeeffekten führen dürfte, anstatt positive Effekte zu erzielen?
Lieber Herr Kollege Larcher, wir haben schon darüber nachgedacht. Wir stellen den Pkw mit der Euro-2-Norm steuertechnisch in die gleiche Systematik wie den Lkw mit der Euro-2-
Norm. Auch da haben wir bereits, obwohl steuertechnisch vorgeschrieben, die entsprechenden Belohnungen gegeben. Das muß man im Gleichklang sehen. Ich kann nämlich für einen Pkw nicht flächendeckend eine andere Gesetzgebung machen als für einen Lkw. Das war dazu die Grundlage.
Liebe Kollegin Scheel, das ist im übrigen auch der Grund, warum die Umlegung nicht jetzt sofort erfolgt. Wir haben nämlich das Problem, daß wir auch noch ein deutsches Verkehrsgewerbe haben, das vor dem Hintergrund einer Diesel- und Kfz-Steuer sowie Straßenbenutzungsgebühren international einer be-
Horst Friedrich
stimmten Konkurrenz ausgesetzt ist. Deswegen kann ich nicht die Augen davor verschließen und sagen, weil es so schön klingt: Wir legen die Kfz-Steuer einfach um. Auch ich würde mir das eher wünschen. Ich muß aber im Endeffekt sehen, was innerhalb Europas machbar ist, und muß dann die Beschlüsse fassen. Deswegen ist der Zeitpunkt 1. Januar 2003 der sinnvollere und richtigere.
Im Unterschied zu Ihnen fordern wir dies nicht nur, sondern wir setzen es auch in Gesetzgebung um. Entscheidend ist nicht das, was gefordert wird, sondern das, was im Gesetzblatt steht.
Herr Kollege, gestatten Sie auch der Kollegin Scheel eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön, wenn es denn sein muß.
Es muß nicht sein; Sie entscheiden das. Bitte, Frau Scheel.
Ab und zu haben Sie doch einmal einen F.D.P.-Parteitag, wie man in der Zeitung nachlesen kann.
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, haben Sie, ich glaube, schon auf dem vorletzten Parteitag beschlossen, daß die Kfz-Steuer sofort auf die Mineralölsteuer umgelegt werden soll. Stimmen Sie mir zu, daß es Presseerklärungen von Mitgliedern Ihrer Fraktion gibt, in denen genau das gleiche steht? Wie können Sie das jetzt mit Ihrem Verhalten und dieser Zeitschiene vereinbaren?
Frau Kollegin Scheel, den Sinn Ihrer Frage verstehe ich nicht ganz. Denn die eine Seite ist es, ein Parteiprogramm zu formulieren und Beschlüsse zu fassen, und die andere Seite ist es, dafür in der Koalition Mehrheiten zu bekommen und sie umzusetzen.
- Der Wunsch der F.D.P. war es, dies sofort umzusetzen. Das hindert doch nicht daran, die Realität zu akzeptieren und das zu berücksichtigen, was im Moment nicht möglich ist.
- Liebe Elke, zum 1. Januar 2003 ist das Vorhaben definiert. Was soll das Ganze also? Wir haben es erreicht. Ende der Diskussion!
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Scheel?
Wenn es der Erhellung dient, bitte.
Bitte.
Gilt das dann auch für Ihre anderen steuerpolitischen Vorschläge?
Liebe Frau Scheel, ich weiß nicht, was Sie damit erreichen wollen. Sie werden mich nicht aus der Reserve locken.
Betrachten Sie doch einmal die Bewältigung Ihrer Probleme und die Umsetzung Ihrer Programme, die Sie so blumenreich fordern. Vergleichen Sie das dann einmal mit dem, was die F.D.P. fordert und tatsächlich umsetzt. Es liegen Welten dazwischen.
Ich bleibe dabei: Die Neuregelung, die vorgelegt wird - sie wird durch einen bereits jetzt vorliegenden Entwurf einer Verordnung des Verkehrsministeriums zur Nachrüstung unterstützt und begleitet -, ist ein in sich schlüssiges Vorhaben. Sie greift zunächst da an, wo es notwendig ist, nämlich beim Altfahrzeugbestand. Sie ist in den ersten vier Jahren relativ aufkommensneutral. Ich gestehe Ihnen dabei gern, Herr von Larcher, mathematische Kenntnisse über das hinaus zu, was das Finanzministerium an Daten vorlegt. Aber ich glaube, auch Sie können nicht mit letzter Sicherheit sagen, wie im Jahr 2001 die Zusammensetzung des Kfz-Bestandes in Deutschland tatsächlich ist. Nur wenn Sie die jetzt prognostizieren können, können Sie sagen, wie sich die Steuerentwicklung darstellt. Über die anderen zwei Jahre muß geredet werden.
Selbstverständlich - das ist ganz klar und schlüssig - muß, weil die Kfz-Steuer den Ländern zusteht, den Ländern ein entsprechender Ausgleich geboten werden. Das ist vollkommen unstrittig. Wir brauchen zur Zustimmung auch die Länder. Wenn ich an bestimmte Forderungen der Länder Bayern und BadenWürttemberg im Hinblick auf eine Steuerentlastung der Pkw mit Dieselantrieb denke - auch das kostet Geld -, wenn ich bestimmte andere Forderungen auch von den Ländern im Hinblick auf ökologische Anreize im Kfz-Steuerbereich höre, dann frage ich Sie: Was machen Sie denn dann, wenn Sie den Fahrzeugpark umgestellt haben, die neueste Technik umgesetzt haben und das Steueraufkommen sinkt? Fangen Sie dann an, die Kfz-Steuersätze für die Fahrzeuge, bei denen Sie sie vorher reduziert haben, damit die moderne Technik gekauft wird, wieder zu er-
Horst Friedrich
höhen, oder beginnen Sie dann mit anderen Überlegungen?
Genau deswegen haben wir vorgeschlagen, die Umlegung im Anschluß an diesen Zeitraum zu beginnen und es auf diesem Wege auszugleichen. Ganz zu schweigen ist aber davon, daß die Länder von einer dann erfolgenden Erhöhung der Mineralölsteuer dadurch profitieren, daß sie höhere Umsatzsteueranteile kassieren, denn die Mineralölsteuerumsätze sind umsatzsteuerpflichtig, und die Länder haben ihren Anteil am Aufkommen der Umsatzsteuer gegenüber dem Bund um die Hälfte aufgestockt.
All das muß man zusammenzählen, sehr vernünftig und sachlich untereinander diskutieren. Dann wird ein Strich gemacht und gesehen, was auszugleichen ist, und das werden wir in aller Regel auch tun.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Im Zusammenhang mit der Besteuerung des öffentlichen Personennahverkehrs und auch der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Lkw-Gewerbes ist diese Kfz-Besteuerung der richtige Ansatz. Deswegen werden wir sie in den Ausschüssen sehr zügig beraten. Ich gehe davon aus, die Koalition wird für ihre Vorschläge auch die entsprechenden Mehrheiten finden.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes, Herr Hauser, auch von mir herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ansonsten muß ich das, was Sie hier vertreten haben, kritisieren.
In der Einleitung des Entwurfs des Kraftfahrzeugänderungsgesetzes 1997 konstatiert die Bundesregierung richtig: Vom Straßenverkehr gehen noch immer in deutlichem Umfang umweltschädigende Emissionen aus. Die logische Konsequenz dieser Feststellung wäre nun, ein Gesamtkonzept ökologischer Verkehrsplanung, dessen Ziel die Verkehrsvermeidung und Verkehrsverlagerung ist, vorzulegen. Genau deshalb, Herr Friedrich, nützen alle die Maßnahmen, die Sie jetzt aufgezählt haben, und die die Regierung eigentlich schon hätte ergreifen müssen, nichts, weil sie genau diese Richtung nicht einschlagen und dies nicht unterstützen.
Die Regierung denkt eben weder logisch noch konsequent ökologisch. Ihr Gesetzentwurf könnte nicht einmal als ein erster Schritt innerhalb eines notwendigen umfassenden Konzeptes verstanden werden, mit dem tatsächlich eine ökologische Steuerung erreicht werden könnte. Ihr Entwurf beschränkt sich als erstes auf den motorisierten Individualverkehr. Mit Steuerbefreiungen für Pkw, deren Schadstoffgrenzwerte der Euro-2-Norm entsprechen, werden Sie keine ökologischen Steuerungseffekte erreichen; das ist Fakt.
Sie verkomplizieren mit Ihrer Vorstellung von zwölf Steuerklassen die Gesetzgebung weiter, machen sie entgegen Ihrer Äußerung, alles solle, gerade im Steuerrecht, einfacher und transparent werden, für den Laien schier undurchschaubar, und Sie bauen unnötige bürokratische Hürden auf. Das ist für ein Gesetz, das in sechs Jahren ohnehin wieder abgeschafft werden soll, schon ein erstaunlicher Aufwand. Zudem ist die für das Jahr 2003 geplante Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer ökologisch äußerst kompliziert. Eine Einteilung nach Schadstoffklassen entsprechend dem Emissionsausstoß hat sich dann erledigt.
Durch die im Entwurf vorgesehenen Steuerbefreiungen für Pkw, die der Euronorm entsprechen, und für die sogenannten Dreiliterautos erreichen Sie keine Verkehrsvermeidung und damit keine Senkung von umweltschädigenden Emissionen.
Vielmehr - ich denke, es ist wichtig, das zu betonen - bürden Sie dem Verbraucher gleich in mehrfacher Hinsicht Lasten auf. Der Neukauf von Pkw wird forciert; die Autoindustrie stößt sich gesund. Einkommensschwache Haushalte werden sich ein neues Auto nicht leisten können. Sie müssen dann entweder ihre gebrauchten Autos umbauen - auch das bringt der Autoindustrie im weitesten Sinne etwas;
denn ein Umbau kostet, wenn er möglich ist, nach den derzeitigen Preisen auf alle Fälle ungefähr 1 200 DM - oder sie müssen, wenn sie sich das momentan nicht leisten können - das Geld muß man im Moment haben; es genügt nicht, mit einer Steuerersparnis für später zu rechnen -, die höheren Steuern zahlen.
Damit werden Niedrigverdienende auf Grund fehlender Alternativen wieder erheblich diskriminiert - ein Fakt, der unter dieser Regierung nicht neu ist.
- Nein, das stimmt.
Dazu kommt, daß die Regierung es versäumt hat, den Verbleib ausgewechselter Fahrzeuge zu regeln. Die Entsorgung von Altautos in den zu erwartenden und von Ihnen erhofften Dimensionen ist durch die Autoschrottverordnung in keiner Weise gedeckt. Das hat der Vertreter der Autoindustrie in der Anhörung bestätigt.
Versäumt haben Sie es auch, Fragen des ruhenden Verkehrs zu berücksichtigen;
Dr. Barbara Höll
denn auch ein Auto, das der vielgerühmten Euronorm entspricht, verursacht, ohne einen einzigen Meter gefahren zu sein, Emissionen, sowohl bei seiner Herstellung als auch bei seiner späteren Entsorgung. Zudem beansprucht die Herstellung jedes Autos wertvolle Ressourcen, auch Landschaftsressourcen; denn ein Auto, das nicht fährt, braucht schließlich Fläche zum Parken.
Die Probleme des ruhenden Verkehrs, die ich eben versucht habe aufzuzählen, erhöhen Sie sogar noch durch Ihren Vorschlag der Einführung von Saisonkennzeichen. Denn nach dem Willen der Bundesregierung sollen Pkw und Anhänger, die nur einen bestimmten Zeitraum im Jahr gebraucht werden, auch nur für diesen bestimmten Zeitraum versteuert werden. Das heißt: Ich kann mir vielleicht ein Cabriolet leisten und fahre damit von vornherein nur im Juni, Juli und August; dann könnte ich ein Saisonkennzeichen beantragen und zahle dann entsprechend weniger Steuern.
Das fördert auf alle Fälle den Kauf von mehreren Autos. Ein Beispiel dafür gibt es schon - Sie sollten sich vielleicht weltweit informieren -: In MexikoStadt wurde durch die Einführung einer ähnlichen Regelung, die im ersten Moment vielleicht nicht schlecht aussieht, erreicht, daß noch mehr Fahrzeuge gehalten werden.
Insgesamt muß man sagen, daß Sie mit Ihren Vorschlägen nicht dazu beitragen werden, daß die Ozonwerte im Sommer abnehmen. Wir werden weiter damit leben müssen. Es werden vielleicht Autos fahren, die weniger Schadstoffe ausstoßen, aber dafür viel mehr Autos.
Ein zusätzliches Problem, auf das bereits Herr von Larcher hinwies, ist mit Ihrer Vorstellung, die KfzSteuer in sechs Jahren abzuschaffen, verbunden: der Steuerausfall bei den Ländern. Ich muß sagen: Nach dem, was wir hier in den letzten Jahren erlebt haben, würde ich mich auf irgendwelche Versprechungen von seiten der Regierung, daß man das natürlich berücksichtigen werde, nicht verlassen wollen.
Zudem muß man sagen, daß es wirklich unverständlich ist, warum Sie eine Vielzahl von Vorschlägen, die schon auf dem Tisch liegen und die tatsächlich in Richtung Verkehrsvermeidung und Verkehrsverlagerung wirken würden, nicht aufgreifen.
Ich möchte nur einen nennen: die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale. Das wäre tatsächlich ein Weg, den Fußgänger und die Fußgängerin, den Radfahrer und die Radfahrerin und diejenigen, die mit der Bahn zur Arbeit fahren, steuerlich genauso zu stellen wie die Autofahrerin und den Autofahrer.
Bevor Sie nicht auch in dieser Richtung einmal etwas getan haben, bevor Sie nicht die Steuerfreiheit von Anhängern einer Vielzahl landwirtschaftlicher Betriebe tatsächlich aufgehoben haben, haben Sie noch nicht nachgewiesen, daß es Ihnen mit dem ökologischen Umbau tatsächlich ernst ist. Sie haben mit Ihrem Vorschlag nur einen Beitrag zu einer weiteren Stärkung der Autoindustrie geleistet. In diesem Sinne denken Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und von der Koalition, konsequent: Sie denken für die Autolobby. Das ist eine ganz klare Sache. Wir würden uns wünschen, daß Sie die Energie, die Sie dafür einsetzen, für ein Umsteuern in dieser Gesellschaft einsetzen würden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Kollege Professor Schulhoff, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einstellung zum Auto hat während der letzten Jahre in weiten Teilen der Bevölkerung eine Veränderung erfahren. Bedingt durch ein gestiegenes Umweltbewußtsein setzt man sich mit den ökonomischen und ökologischen Kosten der individuellen Mobilität stärker als früher auseinander, und das ist auch gut so. Schließlich ist der Schadstoffausstoß der Autos in Deutschland ein bedeutender Mitverursacher der Umweltbelastungen. Herr von Larcher, das ist ein Punkt, bei dem wir wahrscheinlich einer Meinung sind, den wir also alle beklagen.
Das Auto ist aus unserem Leben jedoch nicht wegzudenken. Ich weise in diesem Zusammenhang nur auf die volkswirtschaftliche Bedeutung der Automobilindustrie hin. Schließlich ist Deutschland innerhalb der Europäischen Union mit einem Anteil von über 30 Prozent nach wie vor der größte Autoproduzent. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt in unserem Land vom Auto ab. Die Innovationskraft und das ökonomische Gewicht machen die Automobilindustrie zweifellos zu einer Schlüsselbranche. Ich hoffe nur, daß es auch in Zukunft so bleibt.
Hierbei denke ich nicht nur an die Globalisierung der Märkte und die Möglichkeit der Produktionsauslagerungen, sondern auch an den politischen Druck gegen das Automobil an sich, wie wir ihn heute wieder gesehen haben.
Nur eine Politik, die einen Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie findet, erreicht beide Ziele: Schutz der Umwelt und Sicherung des Wirtschaftsstandorte Deutschland und damit Sicherung der Ar-
Wolfgang Schulhoff
beitsplätze und vielleicht die Möglichkeit, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Hinzu kommt, daß das Auto heute noch unverzichtbares Mobilitätsinstrument ist. Ob wir es wollen oder nicht, eine flexible und moderne Industriegesellschaft ist ohne ein Auto einfach nicht vorstellbar. Gesetzliche Maßnahmen müssen diese Bedeutung des Automobils in der Gesellschaft berücksichtigen und dürfen keine gesellschaftlichen Gruppen hinsichtlich Eigentum und Nutzung von Pkws ausschließen.
Aus Sozialverträglichkeitsgründen ist ebenso zu bedenken, daß negative Auswirkungen auf die Anforderungen zum Beispiel älterer oder behinderter Menschen zu vermeiden sind. Wir bewegen uns in dieser Frage also zwischen Skylla und Charybdis. Auf der einen Seite haben wir die umweltschädigenden Auswirkungen zu beachten und auf der anderen Seite den Mobilitätsfaktor des Autos.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Seine Ambivalenz spiegelt sich in der Einstellung der meisten Bürger und Autofahrer wider. Ihre große Mehrheit kann sich die Industriegesellschaft und die eigene Lebenssituation ohne Auto nicht vorstellen. Sie möchte es aber gleichzeitig ein bißchen abschaffen, am besten bei den anderen.
Nirgends wird so viel geheuchelt wie in dieser Frage. So recht nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Das eigene Auto wird nicht gesehen, nur das Auto des anderen.
Zweifellos wird es künftig verstärkt auf eine intelligente Nutzung des Autos ankommen. Dazu zählt auch die Verknüpfung des Individualverkehrs mit den anderen Verkehrsträgern. Eine bessere Integration der einzelnen Verkehrsmittel beinhaltet das wohl größte umweltpolitische Potential. Jeder Verkehrsträger muß dabei solche Bedingungen vorfinden, daß seine spezifischen Vorzüge ausgespielt werden können, ohne die Interessen des anderen und des Ganzen zu verletzen.
Herr von Larcher mit einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Schulhoff, darf ich davon ausgehen, daß Sie erwartet haben, daß wir heute alle über das Auto herfallen? Tatsächlich haben wir es nicht getan.
Dann müssen Sie sich demnächst klarer ausdrücken. Ich bin froh, das zu hören, und nehme das, lieber Herr von Larcher, auch gerne hier zur Kenntnis. Aber dann dürfen Sie nicht eine Apokalypse über die jetzige Situation aufzeichnen, wie Sie es eben getan haben.
- Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört.
Wir werden noch viele Möglichkeiten haben, uns in einzelnen Punkten anzunähern. Der erste Ansatz ist gestern auf Grund unseres Vorsitzenden und seines hervorragenden Beispiels, das er hier geben wollte, nämlich einmal etwas gemeinsam in einer wichtigen Sache zu machen, offenkundig geworden. Ich bin jedenfalls bereit, über viele Punkte mit mir reden zu lassen.
Dennoch bleibt es zweifellos Aufgabe der Politik, eine Emissionsreduzierung herbeizuführen. Hierbei sind wir schon seit 1983 ein gutes Stück vorangekommen. Sie werden doch bei aller Gegensätzlichkeit, die hier im Raume herrscht, zugeben müssen, daß die Luftqualität in unserem Lande besser geworden ist. Die erfolgreiche und sachgerechte Umweltpolitik dieser Bundesregierung hat Früchte getragen. Man kann das doch messen.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Steuerbefreiung für Kat-Autos. Nur so haben wir diese einzige bisher bekannte, wirkungsvolle Technik zur Reduzierung von Kraftfahrzeugemissionen überhaupt verbreiten können. Ein weiteres Beispiel ist die Förderung der Einführung umweltverträglicher Kraftstoffe.
Mit dem vorliegenden Gesetz setzen wir diesen Weg konsequent fort. Grundsätzlich stehen uns natürlich mehrere Maßnahmen zur Verfügung. Vor allem die Steuerpolitik und das Ordnungsrecht spielen in der Umweltpolitik eine wichtige Rolle. Doch ist das Umweltrecht schon heute an einem Punkt angelangt, an dem es durch seine Komplexität und Strenge zu einem Standortnachteil für Deutschland werden kann. Gerade deshalb müssen wir die Umweltgesetzgebung praxisorientierter gestalten und von bürokratischen Hemmnissen befreien.
Deshalb möchten wir vermehrt durch marktwirtschaftliche Anreize zu einem umweltverträglichen Verhalten motivieren. Es muß sich einfach finanziell auszahlen, natürliche Ressourcen als knappes Gut stärker zu schonen.
- Natürlich. Es gibt viele Punkte, wo wir einer Meinung sind.
Eine ökonomisch vertretbare Anlastung der externen Kosten ist für uns genauso selbstverständlich und wahrscheinlich wie für Sie. Nur in der Methode unterscheiden wir uns.
Zweitens. Die Finanzierungsfunktion des Steuersystems muß insgesamt erhalten bleiben. Umweltsteuern sollen Verhaltensweisen beeinflussen. Also sollen sie einen prohibitiven Effekt erzielen, so daß das Steueraufkommen à la langue sinken muß.
Drittens. Der Wirtschaftsstandort Deutschland darf nicht gefährdet werden.
Viertens. Eine weitere Steigerung der Abgabenquote muß auf jeden Fall vermieden werden.
Fünftens. Eine unangemessene Komplizierung des Steuerrechts darf es nicht geben.
Sechstens. Schließlich dürfen die Verteilungswirkungen von ökologisch orientierten Steuerveränderungen keine sozialen Ungerechtigkeiten schaffen.
In diesen Kontext passen auch die Bestimmungen der geplanten Kraftfahrzeugsteuerreform. Denn die Kraftfahrzeugsteuer eignet sich grundsätzlich als wirkungsvolles umweltpolitisches Lenkungsinstrument. Wir wollen die Bemessungsgrundlage der Kraftfahrzeugsteuer für Pkw zur Verbesserung dieses Lenkungseffektes stärker emissionsabhängig ausrichten. Es wird eine deutliche Spreizung der Steuer eingeführt, die sich an der ab dem 1. Januar 1997 auf alle neu zugelassenen Fahrzeuge anzuwendenden Euro-2-Schadstoffnorm orientiert.
Ab dem 1. Januar sollen folgende Regelungen gelten - ich darf sie wiederholen, damit Sie sehen, wie praktikabel das Ganze überhaupt ist -: Für Pkw, die die Euro-2-Grenzwerte einhalten, beträgt der Steuersatz je angefangene 100 Kubikzentimeter Hubraum 10 DM. Für Dieselfahrzeuge ist ein Steuersatz von 27 DM zu entrichten.
Pkw, die die Euro-3-Norm schon heute erfüllen, erhalten eine befristete Steuerbefreiung bis zum 31. Dezember 2002, aber höchstens 1 000 DM. Danach zahlen sie 10 DM Steuern für Benzin- und 27 DM für Diesel-Kraftfahrzeuge. Herr von Larcher, Sie haben hier den Mitnahmeeffekt angesprochen. Ich gebe zu: Er kann da sein. Aber der ökologische
Effekt ist mir wichtiger als der Mitnahmeeffekt im Einzelfall.
Für Pkw, die die Euro-2-Norm nicht erfüllen, aber bei Ozon-Alarm keinem Verkehrsverbot unterliegen, bleibt es bei den bisherigen Steuersätzen. Für alle anderen Pkw steigt die Steuerbelastung pro 100 Kubikzentimeter einheitlich um 20 DM. Erfreulich in diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit, Pkw mit geregeltem Kat nachzurüsten, und das lohnt sich natürlich auch durch die Steuerbefreiung.
Lassen Sich mich nochmals kurz auf den Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingehen, Frau Scheel, die Kraftfahrzeugsteuer umgehend auf die Mineralösteuer umzulegen. Dies klingt auf den ersten Blick sympathisch. Die F.D.P. hat ja auch jahrelang mit diesem Gedanken geliebäugelt.
Unser Weg, den wir jetzt gemeinsam gehen, ist jedoch der bessere. Wir wollen mit unserem Vorschlag die Bemessungsgrundlage der Kraftfahrzeugsteuer für Pkw zur Verbesserung des angestrebten Lenkungseffektes stärker emissionsabhängig ausrichten. Dies hat entscheidende Vorteile: Bei der Orientierung an den Emissionen haben wir die Möglichkeit, unmittelbar auf die Menge der ausgestoßenen Stickoxide und des Kohlendioxids lenkend Einfluß zu nehmen.
Eine höhere Mineralölsteuer hätte nur eindeutige Auswirkungen auf die Höhe der Kohlendioxidemissionen. Schadstoffemissionen stehen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Kraftstoffverbrauch; lediglich die CO2-Emissionen sind dazu direkt proportional. Daher greift unser Vorschlag zunächst breiter, und das ist ganz wichtig.
Der Druck auf die Automobilindustrie, neue, emissionsärmere Kraftfahrzeuge zu entwickeln, steigt. Außerdem wird der Vorschlag dafür sorgen, daß alte und die Atmosphäre stark verschmutzende Kraftfahrzeuge die Last der Steuer am stärksten zu spüren bekommen und schnell vom Markt verschwinden oder, wie ich eben sagte, nachgerüstet werden.
Dieser Lenkungseffekt wird bei einer leicht nachvollziehbaren und fühlbaren Differenzierung der Kraftfahrzeugsteuer nach Emissionskriterien schneller eintreten als mit der erhöhten Mineralölsteuer, denn die Preiselastizität der Kraftstoffnachfrage ist bekanntermaßen sehr gering.
Wir wollen durch unser Vorhaben schneller als durch eine Verschärfung der Grenzwerte realisieren, eine schadstoffärmere Pkw-Flotte im Markt zu haben. Die Kraftfahrzeugsteuer soll mit Hilfe einer schadstofforientierten Klassifizierung deutlich gespreizt werden; ich wiederhole mich. Damit findet bereits jetzt ein Vorgriff auf die angestrebte Schadstoffnorm auf europäischer Ebene bei der Kraftfahrzeugsteuer statt. Deutschland übernimmt damit wie schon in der Vergangenheit in Europa wieder eine Vorreiterrolle.
Wolfgang Schulhoff
Erst wenn die „Stinker" von der Straße sind, könnte in einem zweiten Schritt zur weiteren CO2- Reduzierung eine Umlegung der gesamten Kraftfahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer erfolgen. Herr Friedrich, Sie haben eben darauf hingewiesen, und das steht ja auch im Gesetz. Natürlich wissen wir, daß die Kilometerleistung eine wichtige Determinante des tatsächlichen CO2-Ausstoßes ist. Darin sind wir uns auch einig; wir haben das ja gestern auch schon thematisiert.
Hierbei ist natürlich zu berücksichtigen, daß die schweren Lkw eine EU-rechtliche Sonderregelung haben. Hier brauchen wir also immer noch eine Möglichkeit, um zu differenzieren, aber ich bin der Meinung, das könnten wir auch europäisch in den Griff bekommen.
Daher begrüße ich den Vorschlag der Bundesregierung, rechtzeitig vor dem Ablauf der befristeten Steuerbefreiung am 31. Dezember 2002 einen Beschluß über die Umlegung der Kraftfahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer zu fassen.
Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition: Wir unterscheiden uns nur in der Zeitschiene.
Mit dieser zeitlichen Staffelung in dem von uns vorgeschlagenen Sinne tragen wir dem Umweltgedanken am besten Rechnung und schaffen für die Steuerzahler eine langfristige Planungssicherheit bei der Anschaffung ihrer Lkw.
Lassen Sie mich zum Abschluß nochmals darauf hinweisen: Trotz dieser unbestreitbaren Fortschritte für die Umwelt wird es das Automobil - jedenfalls das Automobil mit Verbrennungsmotor - ohne Schadstoffbelastung in absehbarer Zeit nicht geben. Wollen wir die Vorteile der „Auto-Mobilität" nutzen, müssen wir auch die damit verbundenen Belastungen akzeptieren, die immer noch in Restwerten vorhanden sein werden. Das bleibt eine Gratwanderung. Das neue Gesetz hilft hier aber, diese Wanderung sicher zu bestehen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Kollegin Heide Mattischeck, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte dem Kollegen Hauser sehr herzlich zum Geburtstag gratulieren, gerade als Wahlkreisnachbarin.
Ich hoffe, daß er noch Gelegenheit haben wird, den Geburtstag ein bißchen zu feiern. Ich habe den Eindruck, einige Kollegen seiner Fraktion hatten schon Gelegenheit, so etwas Ähnliches wie Geburtstagskuchen zu essen; es war ein heftiges Kauen zu bemerken. Vielleicht kriegen wir nachher auch noch etwas davon ab.
Herr Friedrich, eines zu Ihnen. Sie haben vorhin richtigerweise gesagt, daß es noch nie so viele Mittel für den öffentlichen Nahverkehr gegeben hätte wie jetzt. Aber Sie sollten dann vielleicht ehrlicherweise dazusagen, wem Sie das zu verdanken haben, nämlich den Beratungen im Bundesrat zum Steueränderungsgesetz 1993.
Sie und die Regierung hätten das doch wohl nicht geschafft und nicht gemacht. Das muß man jetzt hier ehrlicherweise einmal sagen.
Herr Kollege Schulhoff, mich hat es jetzt doch ein bißchen gewundert, daß Sie eine Attacke gegen irgendeinen ominösen Feind geritten haben. Sie haben das Auto glühend verteidigt, obwohl kein Mensch hier gegen das Auto als solches etwas gesagt hat. Sogar die Kollegin Scheel von den Grünen hat uns dargestellt, daß auch die Grünen inzwischen von BMW flehentlich um Unterstützung gebeten werden. Insofern habe ich das nicht verstanden.
Besonders bemerkenswert finde ich, daß in dem Koalitionsentwurf die Euro-3-Norm schon manifestiert ist, obwohl diese Euro-3-Norm überhaupt noch nicht genau festliegt. Das ist also eine Spekulation für die Zukunft. Aber vielleicht können Sie ja hellsehen, und uns ist da etwas entgangen.
Interessant ist, daß der Kollege Hauser - lassen Sie mich den Satz zu Ende sagen, dann können Sie gerne dazwischenfragen - und auch die anderen Rednerinnen und Redner der Koalitionsfraktionen mehr - so war mein Eindruck - über die Ökosteuerkonzepte der Grünen und auch der SPD geredet haben. Das muß wohl daran liegen, daß es zu Ihrem eigenen Konzept, das zum Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz vorliegt, nicht soviel zu sagen gibt. Ich denke mir, das muß wohl der Grund dafür sein.
Auch wenn Sie viel über unser Ökosteuerkonzept geredet haben, habe ich doch den Eindruck, daß Sie es entweder nicht zu Ende gelesen oder nicht verstanden haben; das kann ich nicht beurteilen. Denn die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen, sind völlig falsch. Aber wir können das gern noch einmal nachholen.
Herr Kollege Friedrich, bitte.
Frau Kollegin Mattischek, sind Sie denn bereit zuzugeben, daß diese Koalition bereits bei den Lkw einmal eine Euronorm, die noch nicht in dieser Form definiert war, als Steueranreiz genommen hat, nämlich die Euronorm 2, mit dem Effekt, daß dann tatsächlich innerhalb eines halben Jahres Aggregate dieser Norm zur Verfügung stan-
Horst Friedrich
den und deswegen spürbar auch im Lkw-Bereich bereits Entlastung eingetreten ist, so daß die Euro-3-
Definition beim Pkw überhaupt keine Sonderheit und schon gar keine Besonderheit ist?
Herr Kollege Friedrich, warten wir dies ab. Ich hätte es trotzdem für sinnvoller gehalten, klare und feste Definitionen in diesem Gesetzentwurf zu haben und nicht das Prinzip Hoffnung hineinzuschreiben.
Man muß doch sagen, daß das Ziel der Bundesregierung - ich finde, das müssen wir hier immer wieder deutlich machen -, die CO2-Abgasmengen bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent zu senken, in immer weitere Ferne rückt, auch wenn der Kollege vorher gesagt hat, daß die Luft bei uns immer besser wird. Es ist doch ein offenes Geheimnis, daß die Bundesregierung dieses Ziel nicht erreichen wird, auch nicht mit diesem Gesetzentwurf.
Ursache dafür ist die ständig wachsende Straßenverkehrslawine mit ihren auch ständig steigenden CO2-Emissionen. Das Sündenregister der Regierung, die dagegen nichts tut, ist relativ lang. Es werden immer mehr Güter auf der Straße statt auf der Schiene transportiert, und die Pkw-Flotte ist durch ständig steigende Gewichte, nämlich immer größere und immer schwerere Autos, und steigende Geschwindigkeiten gekennzeichnet.
In der Summe heißt doch das, was die Bundesregierung macht: immer mehr Fahrkilometer und ein weiter steigender Kraftstoffverbrauch im Straßenverkehr.
Die Verkehrsprobleme wirken sich bei jedem einzelnen Menschen aus: Lärm, Abgase, Sommersmog, verstopfte Innenstädte und Stadtzufahrten und auch verstopfte Autobahnkreuze. Kein Bürger und keine Bürgerin, die sich bei uns nicht über Verkehrsbelästigungen aktiver oder passiver Art beschwert.
Nun kommt als Lösungsvorschlag der Bundesregierung dieser Gesetzentwurf. Sein Hauptziel ist - so sagen Sie -, eine „maßvolle umweltorientierte Lenkung zu erreichen". Diese Lenkung wird sehr maßvoll sein; das sehen wir auch so. Wie soll es denn zu einer wirksameren umweltorientierten Lenkung kommen, wenn alle anderen verkehrspolitischen Parameter auf weiteres Wachstum des Straßenverkehrs eingestellt sind,
namentlich die Investitionspolitik mit ihren Kürzungen beim Schienenbau?
Gemessen an den Notwendigkeiten einer umweltorientierten Verkehrspolitik ist der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung der Kfz-Steuer völlig unzureichend.
Er ist im besten Fall ein ganz kleines, ein wirklich winziges Reförmchen. Während sich die Bundesregierung immer weiter von dem Ziel der CO2-Senkung um 25 Prozent bis zum Jahre 2005 verabschiedet, will sich die Regierung ein weiteres Feigenblatt umhängen, um ihre ökologische Blöße notdürftig zu bedecken.
Praktischerweise wird dieses Feigenblatt künftig auch noch von den Ländern finanziert. So kann man ja nur die Hoffnung haben, daß der vorgesehene Zeitpunkt diese Regierung nicht mehr betrifft, sondern daß wir das dann anders machen können.
Natürlich ist es notwendig, die kraftfahrzeugsteuerlichen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Reduzierung der verkehrsbedingten Emissionen von Pkw zu schaffen. Die SPD befürwortet deswegen eine stärkere steuerliche Spreizung zugunsten von verbrauchs- und emissionsärmeren Pkw. Dieses Prinzip liegt dem Gesetzentwurf zugrunde, und das ist so auch vernünftig.
Die Umgestaltung der Kfz-Steuer für Pkw muß sich an folgenden Kriterien orientieren: Schaffung von deutlichen Anreizen für schadstoffärmere Fahrzeuge, umweltgerechte Belastung von Fahrzeugen, insbesondere von Altfahrzeugen, die nicht der Euro2-Norm entsprechen, Transparenz und Überschaubarkeit für die Bürgerinnen und Bürger und auch Steuervereinfachung - dieser Entwurf trägt nicht dazu bei, etwas zu entbürokratisieren, ganz im Gegenteil -
und eine aufkommensneutrale Auswirkung auf die Länder. All diesen Kriterien genügt der Gesetzentwurf in keiner Weise.
Es ist völlig unverständlich, daß die Bundesregierung mit ihrem Minireförmchen zwar künftig eine stärkere Differenzierung der Steuersätze nach Schadstoffemissionen vorschlägt, was wir durchaus als positiv bewerten, jedoch auf dem Wege zu einer ordentlichen Reform stehenbleibt. Dazu haben wir heute schon einiges gehört. Nur ein Reförmchen ist dieser Entwurf auch deshalb, weil die hubraumbezogene Besteuerung beibehalten wird, obwohl sie für Schadstoffbelastungen und Kraftstoffverbrauch nur bedingt aussagefähig ist. Das Fahrzeuggewicht zum Beispiel ist aussagefähiger, wie ein Vertreter des Umweltbundesamtes bei der Anhörung neulich aufzeigte. Führt doch die Abnahme des Fahrzeuggewichtes je 100 Kilogramm zu einer Verbrauchsabsenkung um 0,6 Liter Kraftstoff. Aber vielleicht wäre das ja zu wirkungsvoll gewesen.
Heide Mattischeck
Die Bundesregierung hat eine ganz große Chance vertan, mehr und Entscheidendes zur generellen Kraftstoffverbrauchsabsenkung zu tun. Es reicht nicht aus, irgendwelche Steuergeschenke für die Anschaffung von Kleinstwagen auszuschütten. Dadurch wird nur Zweitwagenförderung betrieben.
Mit den überproportionalen Steuersenkungen für Diesel-Pkw bei Erfüllung der Euro-2-Norm will die Bundesregierung dem Gesetzentwurf sozusagen ein Kuckucksei beilegen. Aus umweltfachlichen Gründen ist die Steuersenkung für Diesel-Pkw nicht gerechtfertigt. Die Euro-2-Grenzwerte, die ab 1. Januar 1997 für alle Neuzulassungen obligatorisch einzuhalten sind, sind für Diesel schwächer als für Pkw mit Ottomotoren. Der Summengrenzwert für Kohlenwasserstoff und Stickoxid liegt für Ottomotoren bei 0,5 Gramm pro Kilometer. Dieselmotoren bekommen einen Schmutzrabatt; ihr Grenzmaß liegt bei 0,7 Gramm pro Kilometer. Hinzu kommen bei DieselPkw die Partikelemissionen, die als karzinogen und mutagen eingeschätzt werden. Langfristig müssen für alle Antriebskonzepte wieder gleiche Emissionsgrenzwerte gelten, wie es auch in der Vergangenheit immer selbstverständlich war.
Während bisher immer Konsens darüber bestand, daß vergleichbare Benzin- und Diesel-Pkw bei gleicher Jahresfahrleistung eine in etwa gleiche Jahressteuerbelastung als Summe von Kfz-Steuern und Mineralölsteuer haben, soll jetzt davon abgewichen werden. Künftig soll bei gleicher Jahresfahrleistung der Diesel-Pkw steuerlich bessergestellt werden als der Benziner, wenn die Euro-2-Grenzwerte erfüllt sind.
Das ist nicht überzeugend. Nach Auffassung der Automobilindustrie selber steckt auch im Ottomotor das entsprechende Potential zur Kraftstoffeinsparung.
Es ist unverständlich, warum das nun verschüttet werden soll.
Nachgerade zum Lachen ist die angekündigte Abschaffung der Kfz-Steuer zum Jahre 2003. Ich verweise auf meine Ausführungen zur Regierungszeit vorhin. - Das ist wohl ein Zugeständnis an die F.D.P., die diese Forderung zum Kardinalproblem der Steuervereinfachung gemacht hat. Da könnte ich mir anderes vorstellen.
Zur Sache muß, ganz im Ernst, noch gesagt werden - ich verhehle das nicht -, daß auch für die SPD die Abschaffung der Kfz-Steuer und ihre Umlegung auf die Mineralölsteuer einen gewissen Charme hat.
Schließlich ist ja richtig, daß fahrende Fahrzeuge erheblich größere Probleme bereiten als stehende. Trotzdem - auch das ist vorhin von meinem Kollegen schon ausgeführt worden - erzeugen auch stehende Fahrzeuge bereits eine Reihe von Umweltbelastungen.
Die Bundesregierung weiß natürlich auch, daß europapolitisch die Voraussetzungen für die Abschaffung der Kfz-Steuer nicht gegeben sind. Sie würde sich die Zähne daran ausbeißen. Mehr kann ich aus Zeitgründen dazu nicht sagen.
Also noch einmal, zum Schluß: Ein Modell für eine emissions- und verbrauchsabhängige Kfz-Steuer sollte sich auf einige wenige Kriterien beschränken und möglichst durchschaubar für die Bürgerinnen und Bürger sein. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine vertane Chance. Ein konsequenter und mutiger Entwurf hätte ein Einstieg in eine ökologisch orientierte Besteuerung von Kraftfahrzeugen überhaupt sein müssen. Wer aber eine wirkliche Reduzierung der CO2-Emissionen und der Schadstoffe im Abgas erzielen will, muß auch beide Komponenten als Bemessungsgrundlage heranziehen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Finanz- und Verkehrspolitikerinnen und -politiker der SPD-Fraktion werden den Gesetzentwurf sorgfältig beraten. Wir werden entsprechend unserer Kritik Änderungsvorschläge machen, damit aus Ihrem Reförmchen vielleicht noch etwas Vernünftiges wird.
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/4918 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis c sowie Zusatzpunkt 6 auf:
9. Innovationsdebatte
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Josef Hollerith, Christian Lenzer, Kurt J. Rossmanith, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann, Horst Friedrich, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Stärkung und Förderung innovativer kleiner und mittlerer Unternehmen
- Drucksachen 13/3542, 13/4673 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Kubatschka, Dr. Peter Glotz, Volker Jung , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Energieforschung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Simone Probst, Elisabeth Altmann , Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energie für die Zukunft
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Lenzer, Hans-Otto Schmiedeberg, Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann, Dr. Karlheinz Guttmacher und der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Forschung zur Sicherung der Energieversorgung und für ein besseres Klima
- Drucksachen 13/1424, 13/1935, 13/3610, 13/4210 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Otto Schmiedeberg Horst Kubatschka
Simone Probst
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
Wolfgang Bierstedt
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Lenzer, Thomas Rachel, Dr. Martin Mayer , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr.-Ing. KarlHans Laermann, Dr. Karlheinz Guttmacher, Horst Friedrich und der Fraktion der F.D.P.
Rolle Deutschlands in der internationalen Raumfahrt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Lothar Fischer , Dr. Peter Glotz, Tilo Braune, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zur Zukunft der deutschen und europäischen Raumfahrt
- Drucksachen 13/3497, 13/3974, 13/4609 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Rachel Lothar Fischer Simone Probst
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Wolfgang Bierstedt
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Tilo Braune, Dr. Edelbert Richter, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neue Akzente bei der Förderung der Industrieforschung in den neuen Ländern
- Drucksache 13/4967 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
In der Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt möchten folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu Protokoll geben: für die CDU/CSU Rachel, Hollerith, Schmiedeberg, für die SPD Hoffmann, Fischer, Kubatschka, Richter, für Bündnis 90/ Die Grünen Probst, Wolf, für die F.D.P. Laermann, für die PDS Bierstedt und für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Yzer *). Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. - Dann ist die Aussprache geschlossen.
Darf ich die Kollegen, die sich im Mittelgang aufhalten, bitten, Platz zu nehmen! Sonst habe ich keinen Überblick bei der Abstimmung. - Herr Kollege Mahlo, Sie machen es uns leichter, wenn Sie sich zu Ihrer Fraktion setzen. Sonst zähle ich Sie zu den Grünen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das recht ist.
Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 9 a: Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4961. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 9 b: Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Energieforschung, Drucksache 13/4210. Der Ausschuß empfiehlt unter a, den Antrag auf Drucksache 13/1424 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Energie für die Zukunft auf Drucksache 13/4210. Der Ausschuß empfiehlt unter b, den Antrag auf Drucksache 13/1935 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und gegen einige Stimmen der SPD sowie bei einigen Stimmenthaltungen der SPD angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. betreffend Forschung zur Sicherung der Energieversorgung und für ein besseres Klima, Drucksache 13/4210. Der Ausschuß empfiehlt unter c, den Antrag auf Drucksache 13/3610
*) Die Redetexte werden als Anlage 2 in einem Nachtrag zu diesem Bericht abgedruckt.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Rolle Deutschlands in der internationalen Raumfahrt, Drucksache 13/4609. Der Ausschuß empfiehlt unter a, den Antrag auf Drucksache 13/3497 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Zukunft der deutschen und europäischen Raumfahrt, Drucksache 13/4609. Der Ausschuß empfiehlt unter b, den Antrag auf Drucksache 13/3974 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen von SPD bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Zusatzpunkt 6: Der Antrag der Fraktion der SPD zu neuen Akzenten bei der Förderung der Industrieforschung in den neuen Ländern auf Drucksache 13/ 4967 soll an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Christel Deichmann, Gabriele Fograscher weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen
- Drucksache 13/3336 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
In dieser Debatte, die ich hiermit eröffne, möchten folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu Protokoll geben: für die CDU/CSU Kors, für die SPD Lörcher, für Bündnis 90/Die Grünen Özdemir, für die F.D.P. Stadler, für die PDS Jelpke und für die Bundesregierung Parlamentarischer Staatssekretär Waffenschmidt *). Ich gehe davon aus, daß das Haus einverstanden ist. - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Debatte.
*) Die Redetexte werden als Anlage 3 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3336 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts
- Drucksache 13/4899 - Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Grießhaber, Marieluise Beck , Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzliche Neuregelung des Kindschaftsrechts
- Drucksache 13/3341 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
In dieser Debatte, die ich hiermit eröffne, möchten folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu Protokoll geben: für die CDU/CSU Falk, Pofalla, Götzer, für die SPD von Renesse, für Bündnis 90/Die Grünen Grießhaber, für die PDS Lüth und für die Bundesregierung Bundesministerin Nolte und Bundesminister Schmidt-Jortzig.*) Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Debatte geschlossen.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4899 und 13/3341 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte
- Drucksache 13/4947 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
In dieser Debatte, die ich hiermit eröffne, möchten folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Beiträge zu Protokoll geben: für die CDU/CSU Susset, für die SPD Mascher, für Bündnis 90/Die Grünen Höfken, für die F.D.P. Heinrich, für die PDS Maleuda und für
*) Die Redetexte werden als Anlage 4 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Kraus.*) Ist das Haus einverstanden? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Debatte.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/4947 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
*) Die Redetexte werden als Anlage 5 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt.
Wir sind damit leider schon am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 21. Juni 1996, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.