Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um den Zusatzpunkt 1 erweitert werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
- Drucksache 13/4840 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll abgewichen werden. Der Gesetzentwurf soll an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung - federführend - sowie an den Innenausschuß zur Mitberatung und an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall; dann ist so beschlossen.
- Wir wiederholen keine Diskussionen von gestern.
Darüber hinaus ist interfraktionell vorgesehen, eine vereinbarte Debatte zu den Ergebnissen der NATO-Frühjahrstagung in Berlin und zu den Perspektiven für eine gemeinsame Sicherheit in Europa durchzuführen. Für die Debatte, die im Anschluß an die Fragestunde stattfinden soll, sind 90 Minuten vereinbart worden. Sind Sie auch damit einverstanden? - Kein Widerspruch; dann verfahren wir so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung, Bericht zur Umsetzung des ,,Aktionsprogramms für Investitionen und Arbeitsplätze" sowie des „Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung", Einsetzung und Benennung der Mitglieder der Steuerreform- und der Rentenreformkommission.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat heute die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes beschlossen. Dies ist eine der großen Reformen, an deren Vorbereitung die Sozialpartner, die Selbstverwaltung und die Verbände in vielen Gesprächen beteiligt waren. Dieses Gesetz wird die Verantwortung der Unternehmer, der Tarifpartner und der Finanz-, Wirtschafts- und Regionalpolitik für den Arbeitsmarkt sowie die Notwendigkeit der Initiative und Verantwortung des einzelnen nicht ersetzen.
Das Gesetz hat erstens zum Ziel, die Erwerbschancen der Arbeitslosen zu verbessern, Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen, den Einstieg zu erleichtern und die Rückkehr für solche zu ermöglichen, die die Erwerbsarbeit unterbrochen haben - sei es aus Gründen der Kindererziehung, sei es der Pflege von Angehörigen wegen.
Es entwickelt zweitens unser Arbeitsförderungsrecht auf Grund der Tatsache weiter, daß sich die Arbeitswelt verändert hat, daß auf Grund der Flexibilisierung für Ansprüche andere Anknüpfungspunkte gefunden werden müssen.
Es soll drittens die Effizienz der Arbeitsverwaltung verbessern und viertens die Solidargemeinschaft vor Mißbrauch und Illegalität schützen sowie fünftens die Transparenz der Arbeitsförderung und damit ihre Lesbarkeit und Indienstnahme erhöhen. Es soll sechstens einen Beitrag zur Entlastung der Beitragszahler leisten.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Zum ersten Punkt, zur Erhöhung der Erwerbschancen: Vermittlung in Arbeit steht an erster Stelle; Arbeit ist besser als jede Sozialleistung. Die Unterstützung für die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt durch Lohnkostenzuschüsse, was im Laufe der Entwicklung und auf Grund vieler Novellen zu einem fast unübersichtlichen Feld herangewachsen ist, wird zu einem Eingliederungszuschuß zusammengefaßt.
Wir führen Trainingsmaßnahmen für die Arbeitslosen ein. Das wird insbesondere denen hellen, die Schwierigkeiten bei der Bewerbung haben. Das wird auch helfen, die Eignung festzustellen.
Wir wollen, daß die Sozialpläne stärker für eine aktive Arbeitsmarktpolitik genutzt werden und nicht nur passives Element sind.
Wir möchten auch die Möglichkeit unterstützen, sich selbständig zu machen, erstens der Arbeitslosen wegen - Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit durch Selbständigkeit -, zweitens, weil auf diese Weise neue Arbeitsplätze entstehen.
Die Rahmenfrist für die Rückkehr aus der Kindererziehung wird von drei auf sechs Jahre erhöht; das ist auch bedeutsam für den Arbeitslosengeldanspruch. Unterbrechungen wegen Kindererziehung und Pflege wirken sich nicht mehr negativ auf die Förderung aus.
Wir möchten uns ganz besonders auf diejenigen konzentrieren, die es schwer haben, aus eigener Kraft in das Berufsleben zurückzukehren, auf die Langzeitarbeitslosen. Die Betroffenheit durch die Arbeitslosigkeit ist höchst unterschiedlich: 62 Prozent der Arbeitslosen sind weniger als sechs Monate arbeitslos; das sind fast zwei Drittel. Das tatsächlich harte Arbeitslosenschicksal betrifft ein Drittel der Arbeitslosen; das sind die Langzeitarbeitslosen. Es geht darum, denen zu helfen.
Dies tun wir erstens mit unserem schon beschlossenen Programm zur Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit, zweitens mit einem neuen Instrument, dem Eingliederungsvertrag, an dem das Arbeitsamt mitwirkt. Im Rahmen dieses Eingliederungsvertrages, der bis zu sechs Monate gelten soll, übernimmt die Bundesanstalt das Risiko der Lohnfortzahlung. Die Praxis zeigt nämlich, daß das, ob objektiv oder auch nur subjektiv, ein Hemmnis dafür ist, Schwervermittelbare einzustellen.
Zum nächsten Punkt, den ich schon angesprochen habe, zur Erhöhung der Effizienz der Bundesanstalt: Ein Beitrag wird sein, daß wir stärker dezentralisieren, daß also die Aufgaben sowohl der Zentralstelle in Nürnberg wie auch der Landesarbeitsämter zurückgefahren werden und das Arbeitsamt vor Ort damit mehr Verantwortung bekommt. In einem eigenen Eingliederungshaushalt kann es selbst bestimmen, wieviel Geld es für ABM, Fortbildung und Umschulung einsetzen will. Das ist, denke ich, sinnvoll, weil die Bedingungen höchst unterschiedlich sind. Es wird einen Innovationstopf geben, über den die Arbeitsämter frei verfügen können. Ausgabenreste sollen in das Folgejahr übertragen werden können, um das bekannte Dezember-Fieber zu vermeiden.
Wir möchten allerdings, daß diese Kreativität, zu der wir einladen, durch eine Arbeitsmarktbilanz der einzelnen Arbeitsämter ausgewiesen wird, damit eine Vergleichbarkeit hergestellt werden kann und transparent wird, was sie mit den ihnen zugewiesenen Mitteln gemacht haben.
Die Flexibilität muß auch insofern unterstützt werden, als der Versicherungsschutz nicht mehr allein davon abhängig gemacht werden kann, ob jemand 18 Stunden in der Woche gearbeitet hat. Das würde den Teilzeitarbeitsverhältnissen den Schutz entziehen. Deshalb ist oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze sowohl Beitragspflicht wie auch Versicherungsschutz vorgesehen.
Zum Schutz der Solidarität: Die Zumutbarkeit, die zuvor im Anordnungsrecht enthalten war, ist nun im Gesetz verankert. Wir möchten, daß vom Berufsschutz Abstand genommen wird, weil er, wie ich glaube, nicht mehr in die Zeit paßt. Versichert ist das Einkommen, und das Einkommen eines Ungelernten kann höher sein als das eines Facharbeiters.
Herr Minister, denken Sie an die fünf Minuten?
Ich bin sofort fertig. Sie sehen aber, Frau Präsidentin, daß das Gesetz so umfassend ist, daß es schwer ist, alles innerhalb von fünf Minuten anzusprechen.
Ich will an dieser Stelle anfügen, daß das Gesetz auch den Sinn hat, Beitragszahler zu entlasten, und damit einen wichtigen Schritt dazu leisten soll, daß mehr Arbeitslose Chancen erhalten, wieder Arbeit zu finden.
Danke schön, Herr Minister.
Gibt es Fragen zu diesem Komplex? - Frau Ulla Schmidt.
Herr Minister, Sie haben davon geredet, daß Sie die Erwerbschancen verbessern und den Beitragszahler entlasten wollen. Sie hatten hierbei sehr schön von „dem Beitragszahler" gesprochen; denn im AFRG sind eine Menge von Entlastungen zu Lasten der Frauen und Mütter in unserer Gesellschaft vorgesehen.
Ich habe eine konkrete Frage. Nach den hier vorliegenden Unterlagen zum AFRG planen Sie, daß § 26 Abs. 2 dahin gehend geändert werden soll, daß Mutterschafts- und Erziehungszeiten zukünftig nicht mehr Zeiten gleichgestellt werden sollen, in denen eine beitragspflichtige Tätigkeit ausgeübt wird. Es stellt sich das Problem, daß Mütter, wenn sie erwerbslos werden, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben sollen. Das ist wahrscheinlich die Sparmaßnahme, die Sie planen. Ich möchte von Ihnen, der Sie ja in den letzten Wochen damit sehr intensiv beschäftigt waren, konkret wissen, inwieweit die Tatsache, daß Mutterschafts- und Erziehungszeiten
Ulla Schmidt
nicht mehr als Beitragszeiten angerechnet werden sollen, für Frauen rentenmindernd wirken wird und wie hoch der diesbezügliche Absenkungsbetrag dann sein wird. Oder ist er vielleicht in den 300 DM durchschnittlicher Rentenkürzung, von denen die Rede ist, schon enthalten?
Frau Abgeordnete, die Neuregelung verursacht insgesamt Mehrausgaben in Höhe von 400 Millionen DM. Wir erweitern erstens die Rahmenfrist für die Anwartschaft von drei auf sechs Jahre. Das ist, wie Sie leicht nachvollziehen können, eine Verdoppelung. Zweitens führt eine Unterbrechung wegen Kindererziehung oder Pflege nicht mehr zu einem Ausschluß von der Förderung. Ich denke beispielsweise an den Anspruch auf Bildungsmaßnahmen. Insgesamt wird für den Personenkreis, von dem Sie sprechen, eine stärkere Hilfe geleistet.
Ich füge hinzu, daß wir die Beträge für Kinderbetreuung, die im Härtefall gezahlt werden, von 120 DM auf 200 DM erhöhen. Ich wiederhole als Bilanz: Wir lassen gerade diesem Personenkreis insgesamt eine verstärkte Hilfe zukommen.
Zusatzfrage?
Ich möchte nachfragen, Frau Präsidentin, weil ich glaube, der Herr Minister hat auf meine Frage nicht geantwortet.
Ich möchte gern wissen, ob dadurch, daß Zeiten, in denen Mutterschafts- oder Erziehungsgeld bezogen wird, nicht mehr Zeiten gleichgestellt werden, in denen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen wird, nicht nur der Anspruch auf Arbeitslosengeld wegfällt, den Frauen bisher hatten - auf diesen Anspruch müßten Frauen ja vielleicht in Zukunft etwas schneller zurückgreifen, wenn Sie mit Ihrem Programm in bezug auf die Aufhebung des Kündigungsschutzes für kleinere Betriebe durchkommen sollten -, sondern ob dadurch auch eine Senkung der Rentenansprüche von Frauen bewirkt wird.
Ich habe ja über das Arbeitsförderungsgesetz gesprochen. Wie Sie wissen, haben wir - mit Ihrer Hilfe, im Konsens - im Rentenrecht Erziehungszeiten eingeführt, die ja nicht nur rentensteigernd wirken, sondern einen Rentenanspruch auch begründen können. Wir haben die Dauer der Erziehungszeiten von einem Jahr auf drei Jahre erhöht. Da vorher die Wartezeit für einen Rentenanspruch auf fünf Jahre gesenkt wurde, kann man also im Prinzip schon durch die Erziehung zweier Kinder einen Rentenanspruch erstens begründen und zweitens erhöhen.
Kann ich Sie so interpretieren - -
Nein, Sie haben jetzt keine Möglichkeit zu einer weiteren Nachfrage mehr.
- Nun haben Sie zwei Fragen gestellt; der Herr Minister hat jeweils darauf geantwortet.
Weitere Fragen? - Bitte schön.
Herr Minister, nach den mir vorliegenden Unterlagen ist ja in dem Gesetzentwurf vorgesehen, ein sogenanntes Teilzeitarbeitslosengeld einzuführen. Das soll so ablaufen, daß man, wenn man eine der Teilzeitbeschäftigungen verliert, Teilzeitarbeitslosengeld für sechs Monate gezahlt bekommt. Meine Frage lautet: Was passiert nach Ablauf der sechs Monate? Wird sich danach der Teilzeitarbeitslose oder die Teilzeitarbeitslose darauf einrichten müssen, vollzeitarbeitslos zu sein? Als Ergänzung dazu: Warum wird Teilzeitarbeitslosengeld nicht gewährt, wenn man von Vollzeitarbeit auf Teilzeitarbeit wechselt?
Frau Kollegin, das ist bereits Gegenstand unserer Reform gewesen: Wenn man von Vollzeit auf Teilzeit umsteigt, behält man den Anspruch auf ein Arbeitslosengeld, das an dem Entgelt für die Vollzeiterwerbstätigkeit festgemacht wird - allerdings für eine begrenzte Zeit, bis zu drei Jahren. Das ist unbestritten.
Wir wollten damit verhindern, daß jemand nur deshalb nicht von Vollzeit- auf Teilzeiterwerbstätigkeit umsteigt, weil er Angst hat, daß sein Anspruch an die Sozialversicherung um die Hälfte gemindert wird, wenn dieser Teilzeitarbeitsplatz wegfällt.
Generell gilt für Teilzeitarbeit - außerhalb dieser Umstiegsfrist - das, was Sie gesagt haben. Das ist gegenüber dem geltenden Recht allerdings ein Fortschritt; denn bisher war jemand, der weniger als 18 Stunden pro Woche arbeitete, überhaupt nicht versichert. Hintergrund dessen war die Einschätzung, daß der Vollzeitarbeitsplatz eigentlich der übliche ist.
Wenn jetzt der Teilzeitarbeitsplatz mit dem Vollzeitarbeitsplatz gleichzieht - auch in seiner rechtlichen Bedeutung -, dann muß er auch entsprechend versichert werden. Da auch der Vollzeitarbeitsplatz nicht einen unbegrenzten Anspruch auf Arbeitslosengeld auslöst, sondern dieser in der Regel auf ein Jahr begrenzt ist, muß das entsprechend auch für den Teilzeitarbeitsplatz gelten.
Zusatzfrage?
Ich habe eine Nachfrage, weil zumindest mir das noch nicht ganz klar ist. Jemand hat in der Regel nicht aus Jux und Tollerei zwei Teilzeitarbeitsplätze, sondern vielmehr deshalb, weil er von einem allein nicht leben kann.
Wenn eine Teilzeitarbeitsstelle verlorengeht, bekommt die- oder derjenige neben dem Einkommen aus der verbliebenen Teilzeitarbeitsstelle für sechs Monate Arbeitslosengeld aus der verlorengegangenen Teilzeitarbeitsstelle. Das läuft nach sechs Monaten aus. Dann hat er oder sie nur noch die eine Teilzeitarbeitsstelle, von der er oder sie möglicherweise nicht leben kann. Was macht dieser Mensch? Gibt er die zweite Teilzeitarbeitsstelle auf, um entsprechendes Arbeitslosengeld zu bekommen? Oder was passiert dann?
Er ist entsprechend seiner Beitragsleistung versichert. Bisher hatte derjenige, der eine von zwei versicherungspflichtigen Beschäftigungen verliert, überhaupt keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Er erhält jetzt zum erstenmal einen Anspruch.
Ich will darauf aufmerksam machen, daß in einer flexiblen Arbeitswelt die Wochenarbeitszeit nicht mehr ausschlaggebend ist. Wir müssen sehr viel stärker die Jahresarbeitszeit berücksichtigen. Bei flexiblen Arbeitszeiten kann man die Ansprüche nicht mehr an der Wochenarbeitszeit festmachen. Das System bleibt also erhalten.
Weitere Fragen?
- Hierzu nicht. Gibt es noch Fragen zu diesem Themenkomplex?
- Frau Knake-Werner, Sie hatten zwei Fragen. Sie dürfen im Augenblick also nicht mehr fragen. Zu einem neuen Themenkomplex dürfen Sie sich wieder melden.
Zu diesem Themenkomplex gibt es also keine Fragen mehr.
Gibt es zu den beiden anderen Themenkomplexen
- Umsetzung des Aktionsprogramms und Mitglieder der Kommissionen - noch Fragen? - Das ist offensichtlich nicht der Fall.
- Bitte schön, Herr Storm.
Herr Minister, können Sie uns etwas über die Zusammensetzung der Rentenreformkommission sagen?
Wir haben heute, wie angekündigt, eine Kommission zur Fortentwicklung der Rentenversicherung bestellt. Wir versprechen uns von dieser Kommission eine Versachlichung der Diskussion und wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung des Rentensystems.
Diese Kommission ist zusammengesetzt aus Wissenschaftlern mit hoher Autorität und von hohem Rang, aus Sachverständigen der Rentenversicherung und aus bewährten Praktikern. An dieser Rentenkommission werden teilnehmen: Herr Professor Schmähl, der Vorsitzende des Sozialbeirates; Herr Professor Peffekoven, bekannt als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium der Finanzen, vor allen Dingen aber auch als Mitglied des Sachverständigenrates; aus dem Bereich der Rentenversicherungsträger Herr Dr. Rische, der Präsident der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte; Herr Professor Ruland, Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger; ferner als Sachverständige aus dem Bereich der Versicherungs-, Wirtschafts- und Finanzwissenschaft: Frau Professor Allmendinger; Herr Roland Berger; Frau Professor Gisela Färber; Herr Professor Heubeck, der ja gerade auf dem Gebiet der betrieblichen Altersversicherung schon bisher wichtige Beiträge geleistet hat; Frau Professor Landenberger; Herr Professor Meinhard Miegel; Frau Professor Helga Pollak; Herr Professor Bert Rürup. Schließlich die Praktiker - Sachverständige mit einer großen Praxis -: Herr Cronenberg; Herr Matthöfer, der ehemalige Finanzminister; Herr Professor Reiter, der ehemalige Präsident des Bundessozialgerichts. Hinzu kommt ein Vertreter der Deutschen Bundesbank.
Ich glaube, diese Kommission kann sich mit hohem Sachverstand und großer Autorität dieser Frage zuwenden.
Zusatzfrage? - Bitte, Herr Storm.
Herr Minister, es gibt ja erhebliche Überschneidungen des Bereichs „langfristiger Reformbedarf der gesetzlichen Rentenversicherung" mit dem Bereich „Reformbedarf der Lohn- und Einkommensteuer" . Auch für diesen Bereich hat die Bundesregierung heute ja eine Kommission einsetzt. Ist denn sichergestellt, daß eine thematische Verzahnung beider Bereiche möglich ist? Dies wäre ja wichtig, da schon innerhalb eines halben Jahres in beiden Bereichen erste Ergebnisse vorgelegt werden sollen.
Herr Abgeordneter, es liegt in der Natur der Sache, daß beide Kommissionen nicht ein Inseldasein führen dürfen. Man muß über die Grenzen der jeweiligen Kommission hinaus denken und
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
muß miteinander denken. Insofern kommt es auf diese notwendige Verzahnung an.
Dazu Herr Abgeordneter Kauder.
Herr Minister, Sie haben gerade den Auftrag dieser Regierungskommission dargestellt. Das heißt also: Die jetzige Rentnergeneration ist von Reformüberlegungen, die in Ihrer Kommission angestellt werden, nicht betroffen?
Richtig. Unsere Rentenversicherung basiert auf Ansprüchen, die auch verfassungsrechtlich geschützt sind. Niemand denkt daran, verfassungsrechtlich geschützte Ansprüche zu beseitigen. Es geht um eine Weiter- und Fortentwicklung unseres aus meiner Sicht bewährten Rentensystems.
Zusatzfrage.
Herr Minister, werden Sie, wenn Sie an die Weiterentwicklung des Rentensystems denken, nur Diskussionen führen, mit denen man sich innerhalb des Systems bewegt, oder werden Sie auch alternative Systemmodelle, die in der letzten Zeit aus einer bestimmten Richtung in die Diskussion gebracht wurden, in Ihre Überlegungen einbeziehen und auswerten? Bis wann, denken Sie, werden die Ergebnisse vorliegen?
Herr Kollege, ich bin überhaupt für eine offene Diskussion. Eine tabuisierende Diskussion könnte der Sache nicht helfen.
Das wäre eine Form von Verdrängung. Ich selber glaube, daß die Argumente für unser bewährtes leistungsbezogenes Rentensystem so stark sind, daß wir keine Diskussion fürchten müssen.
Zum Zeitplan: Wir setzen uns selber unter Zeitdruck. Denn eine uferlose Diskussion setzt, so denke ich, nur die Verunsicherungskampagne, die leider eingesetzt hat, fort. Die muß beendet werden. Dazu sollen uns auch Wissenschaftler mit hohem Fachverstand helfen.
Bitte schön, Herr Sperling.
Herr Minister, wäre die Überzeugungskraft unseres „bewährten Rentensystems " nicht noch größer, wenn weniger versicherungsfremde Leistungen durch Sie eingeführt worden wären?
Herr Kollege, Sie scheinen nicht bemerkt zu haben, daß der Bundeszuschuß auf einem
höheren Niveau ist, als er je zuvor war. 19 Prozent unseres Bundeshaushalts sind Zuschüsse für die Rentenversicherung. Sie dürfen nämlich nicht nur den Bundeszuschuß zählen - den wir gemeinsam auf 20 Prozent der Ausgaben festgesetzt haben -, sondern müssen auch die Erstattungen einrechnen, die wir beispielsweise für Zusatz- und Sondersysteme leisten.
Der Frage der Fremdleistungen werden wir in allen Sozialversicherungssystemen nachgehen. Nur, es wird unterschätzt, was der Steuerzahler, was der Bund für die Rentenversicherung leistet: 76 Milliarden DM Bundeszuschuß in diesem Jahr!
Es wird Sie interessieren, wie groß der Bundeszuschuß vor 1982 war. Ich kann Ihnen die Frage gern beantworten: Es waren rund 14 Prozent des Bundeshaushalts. Sie sehen, wir sind uns unserer Verantwortung sehr bewußt.
Ihre Frage nach den Fremdleistungen ist eine generelle Frage. Was muß zukünftig von Beiträgen bezahlt werden? Was muß durch Steuern bezahlt werden? Diesen Fragen müssen wir uns generell stellen. Ich wollte jetzt die Proportionen der Verpflichtung, die der Bund für die Rentenversicherung - einschließlich Knappschaft - bereits übernommen hat, klarstellen. Wir haben den Bundeszuschuß nie gekürzt, wir haben ihn nie ausgesetzt. Dadurch unterscheiden wir uns von unseren Vorgängern.
Zusatzfrage, Herr Sperling.
Herr Minister, wenn Sie die Zahlungen, die durch die deutsche Einheit bedingt sind, großzügig unter den Begriff „versicherungsfremde Leistungen" einrechnen würden, wären Sie dann immer noch so stolz auf Ihre großzügigen Bundeszuschüsse?
Auch darüber kann man diskutieren. Überhaupt ist der Begriff der Fremdleistungen nicht dogmatisch festzusetzen. Gott sei Dank gibt es innerhalb der Rentenversicherung einen regionalen Ausgleich, und ihn gab es immer schon. Es gab ihn zwischen Nord und Süd und gibt ihn jetzt auch zwischen West und Ost.
Ich habe Ihnen bereits gesagt, es läßt sich durchaus kritisch hinterfragen, ob dieser Transfer schon unter den Begriff „Fremdleistungen" oder noch unter den Begriff „Solidarleistungen" fällt. Prinzipiell ist eine Sozialversicherung - ich hoffe, darin stimmen wir überein - keine Privatversicherung, und deshalb gibt es unter dem Dach der Solidarversicherung immer einen Solidarausgleich.
Ich warne vor dem inflationären Gebrauch des Wortes „Fremdleistungen" . Am Ende könnte eine Rentenversicherung stehen, die nichts anderes wäre als eine Privatversicherung. Es gibt und wird auch in Zukunft immer einen Solidarausgleich unter dem Dach der Rentenversicherung geben. Der Transfer
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
West-Ost hat im übrigen eine abnehmende und keine gleichbleibende Tendenz.
Was die Fremdleistung „Fremdrente" anbelangt, haben wir im Zusammenhang mit dem jetzt im Bundestag zu behandelnden Beschäftigungs- und Wachstumsgesetz auch eine Reduzierung dieser Ausgaben für den Beitragszahler vorgenommen. Sie sehen: Wir sind auf dem Weg, diese Frage Schritt für Schritt zu klären.
Danke. - Bitte, Frau Baumeister.
Herr Minister, werden bei der Betrachtung der Alterssicherungssysteme auch andere Alterssicherungssysteme in Ihren Überlegungen eine Rolle spielen? Ich denke im besonderen an die Beamtenversorgung.
Ich will klarstellen, daß man zwar das Rentensystem weiterentwickeln kann und muß, daß man das aber nicht ohne Blick auf benachbarte Alterssicherungssysteme tun kann. Man muß darauf achten, daß die alte Dreisäulentheorie, nämlich gesetzliche, betriebliche und private Alterssicherung einschließlich Eigentumsbildung, erhalten bleibt. Von diesen drei Säulen sind die zweite und die dritte schwächer geworden.
Es hat immer auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips dazu gehört, daß die gesetzliche Rentenversicherung nur eine Säule, die Grundsäule, darstellt. Ihr folgen die betriebliche und die private. Ich messe auch der Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand eine verstärkte Funktion zu. Je breiter das Eigentum gestreut ist, um so leichter können wir die kollektiven Systeme entlasten. Leider Gottes sind wir an diesem Ziel noch nicht angekommen.
Wir kommen zu den freien Fragen. Frau Altmann, bitte.
Ich habe eine Frage zum Bereich Umwelt/Verkehr/Wirtschaft. Wir haben seit einem Jahr die Sommersmogverordnung. Ich stelle das einfach nur formal fest, ohne diese zu bewerten. Meine Frage richtet sich auf den Erlaß einer Wintersmogverordnung. Wie ist der Stand der Dinge? Was sind die Hemmnisse, und wann gedenkt die Bundesregierung, die Wintersmogverordnung in Kraft treten zu lassen?
Wer antwortet? - Herr Staatssekretär Hirche.
Frau Kollegin, es gibt auf Bundesebene derzeit keine konkreten Vorbereitungen in diesem Zusammenhang. Wir werden uns die Daten selbstverständlich ansehen. Falls Handlungsbedarf eintreten sollte, wird rechtzeitig gehandelt. Ich denke, das ist
selbstverständlich. Die Erfahrungen, die mit der Sommersmogverordnung gemacht worden sind, legen es nahe, solche Fragen im übrigen auch mit den Ländern in einem frühzeitigen Stadium zu klären, damit nicht bei der praktischen Umsetzung das eine oder andere Problem auftaucht.
Zusatzfrage, bitte.
Sie sprachen gerade vom Handlungsbedarf. Darf ich daraus schließen, daß Sie in Zweifel ziehen, daß überhaupt eine Wintersmogverordnung erlassen wird, oder geht es nur um den Zeitpunkt?
Ich habe gesagt, Frau Kollegin, daß wir uns mit dieser Frage befassen werden, aber im augenblicklichen Zeitpunkt noch nicht in konkrete Überlegungen eingetreten sind.
Herr Dr. Kansy.
Ich habe eine Frage aus dem Geschäftsbereich des Ministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. - Ist denn, wie angekündigt, in der heutigen Kabinettsitzung die Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz betreffend Wohnungen behandelt oder beschlossen worden, und wenn ja, welche Schwerpunkte stehen dahinter?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Dr. Kansy, der vorgelegte Entwurf wurde heute vom Kabinett beschlossen. Er beinhaltet zwei Schwerpunkte zur Änderung des AltschuldenhilfeGesetzes: zum einen eine Abflachung der Erlösabführung an den Erblastentilgungsfonds beim Verkauf durch die Unternehmen - sie sollte bisher bis zum Jahr 2001 auf 90 Prozent steigen; sie wird jetzt, abgeflacht in drei Zweijahresschritten, um je 5 Prozent ansteigen. Das heißt, daß der Anstieg nur bis 55 Prozent im Jahr 2001 erfolgt -, zum anderen wurden die Privatisierungsmöglichkeiten erweitert, indem die Einbeziehung der Erbbaurechte als Anerkennung der Privatisierung realisiert wurde.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau des Bundestages hat noch einmal die Empfehlung gegeben, darüber nachzudenken, ob es nicht zweckmäßig wäre - wenn wir schon eine Novelle machen -, bei den Unternehmen, die unverschuldet in die Progression geraten sind, weil sie zwar zügig notariell Verträge abschließen, aber die Eintragung als Eigentümer so unendlich lange dau-
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
ert, den Notariatstermin als Stichtag zu machen. Hat das noch eine Rolle gespielt, oder ist das nicht aufgenommen worden?
Herr Dr. Kansy, mit der Abflachung der Abführungsstaffel wird dieses Thema wesentlich entschärft. Denn einer der Hauptgründe war die starke Progression in der Abführungsstaffel. Diese ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zugunsten der Unternehmen verändert worden, die damit auch mehr liquide Mittel für ihre Investitionen zur Verfügung haben.
Zum anderen würde im Zusammenhang mit dem Notariatstermin unvermeidbar die Frage der Rückwirkung aufkommen, die auch unter finanziellen Aspekten meines Erachtens sehr schwierig ist.
Danke. Ich sehe zur Zeit keine weiteren Fragen mehr.
Ich schließe damit die Befragung der Bundesregierung. Ich bedanke mich herzlich.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
- Drucksachen 13/4818, 13/4833 -
Wir beginnen mit den Dringlichen Fragen, Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.
Ich rufe Frage 1 der Abgeordneten Amke DietertScheuer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß am vergangenen Wochenende in Istanbul nach Presseberichten bis zu 1 500 Menschen festgenommen wurden, darunter Angehörige von hungerstreikenden Gefangenen und Mitglieder des Menschenrechtsvereins, die Telegramme an den türkischen Justizminister schicken wollten, Angehörige von „Verschwundenen", die ihre übliche samstägliche Mahnwache in Galatasaray abhalten wollten, sowie Gewerkschafter und ausländische Besucher des Habitat-NGO-Forums, die am Sonntag an einer nicht genehmigten Veranstaltung im Rahmen der Habitat-Aktivitäten teilnehmen wollten, und welche Informationen liegen der Bundesregierung über die Zahl der inzwischen wieder freigelassenen Festgenommenen und die Zahl der sich noch immer in Polizeihaft befindenden Festgenommenen vor sowie über die Vorwürfe, die gegen sie erhoben werden?
Bitte, Herr Staatsminister.
Frau Kollegin Dietert-Scheuer, der Bundesregierung ist bekannt, daß am vergangenen Wochenende in Istanbul eine Reihe von Demonstrationen stattgefunden haben, bei denen mehrere hundert Personen zeitweilig festgenommen wurden. Nach Angaben des türkischen Menschenrechtsvereins, die als zuverlässig angesehen werden, wurden ungefähr 900 Personen verhaftet. Bei Veranstaltungen im Rahmen der Habitat-Konferenz am Sonntag, dem 9. Juni 1996, ist es nach Erkenntnissen der Bundesregierung nicht zu Festnahmen gekommen.
Inzwischen sind nach Angaben des türkischen Menschenrechtsvereins bis auf 25 bis 30 Personen
alle Inhaftierten freigelassen worden. Unter welchen Vorwürfen diese Personen noch festgehalten werden, ist der Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht im einzelnen bekannt.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 2 auf:
Was wird die Bundesregierung unternehmen, um die Freilassung der Festgenommenen und insbesondere einen Schutz vor Folter für sie zu erwirken, und werden die Vorfälle von der deutschen Regierungsdelegation im Rahmen der offiziellen HabitatBeratungen zur Sprache gebracht?
Die Delegationen der EU-Mitgliedstaaten auf der Habitat-Konferenz haben die EU-Präsidentschaft beauftragt, die Vorfälle gegenüber der türkischen Regierung anzusprechen und eine mündliche Beschwerde vorzubringen. Die entsprechende Demarche hat am 11. Juni stattgefunden. Bundesminister Töpfer hat am 11. Juni im deutschen Generalkonsulat in Istanbul mit dem Vorsitzenden des Istanbuler Menschenrechtsvereins, Herrn Kanar, der ebenfalls am 7. Juni verhaftet worden war, im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Wochenende ein ausführliches Gespräch geführt.
Zusatzfrage.
In meiner zweiten Frage habe ich auch angesprochen: Was wird getan, um für die Festgenommenen einen Schutz vor Folter zu erwirken? Darauf hätte ich gern eine Antwort.
Die Bundesregierung wird sich selbstverständlich weiterhin darum bemühen - auch im direkten Kontakt mit der türkischen Regierung -, festzustellen, unter welchen Vorwürfen die inhaftierten Personen festgenommen wurden. Des weiteren werden wir unterstreichen, daß wir der Überzeugung sind, daß Nichtregierungsorganisationen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Türkei leisten, daß wir uns weitere Schritte vorbehalten und daß wir in allererster Linie - neben der Frage der Freilassung - darauf drängen, daß sichergestellt wird, daß die Betroffenen keine Befürchtungen hinsichtlich Folter und ähnlicher Mißhandlung haben müssen.
Zweite Zusatzfrage.
Liegen bereits Informationen über die Behandlung der Festgenommenen von den Freigelassenen und aus dem Gespräch mit Herrn Kanar vor, und welcher Art sind diese Informationen?
Mir sind bisher einige Gerüchte, eher in Form von Befürchtungen, zu Ohren gekommen. Wir haben
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
sie noch nicht substantiieren können. Falls wir konkrete Informationen hierzu bekommen, bin ich gerne bereit, sie Ihnen unverzüglich zukommen zu lassen.
Vielen Dank.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Reinhold Robbe auf:
Inwieweit wurde bei der Entscheidung über die Reduzierungen bei den Bundeswehrdepots von der Bundesregierung berücksichtigt, daß der Wegfall dieser wertvollen Arbeitsplätze zum Teil außerordentliche Folgen für die betroffenen Regionen mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit nach sich ziehen wird?
Auf Grund des reduzierten Streitkräfteumfangs und der deutlich längeren militärisch nutzbaren Warnzeit müssen die dadurch entstandenen Überkapazitäten bei den ortsfesten logistischen Einrichtungen des Heeres abgebaut werden. Bei der Anpassung dieser Einrichtungen hat die Bundesregierung zunächst funktionale Gesichtspunkte, aber auch die Grundsätze der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit zugrunde gelegt.
Darüber hinaus sind strukturpolitische Überlegungen, Herr Kollege, bei den Entscheidungen der Bundesregierung ein gewichtiger Faktor; sie sind mit berücksichtigt worden. Dabei ist es gelungen, in strukturschwachen Gebieten Depotstandorte und damit wertvolle Arbeitsplätze zu erhalten, wenn auch mit veränderter Aufgabenstellung und in reduziertem Personalumfang. Darüber hinaus bietet der für die Realisierung der Maßnahmen vorgesehene Zeitraum von bis zu zehn Jahren die Möglichkeit, sozialverträgliche Lösungen für die betroffenen Mitarbeiter zu finden.
Ihre Zusatzfrage, Herr Kollege.
Sehr verehrte Frau Staatssekretärin, wie ist es zu erklären, daß beim niedersächsischen Bundeswehrdepotstandort in Weener insgesamt 330 Stellen abgebaut wurden und damit dieser Standort durch die Neuorganisation des Depotkonzeptes am schlimmsten betroffen ist?
Herr Kollege, ich habe volles Verständnis dafür, daß Sie sich für den Standort Weener einsetzen genauso wie der Kollege Seiters, die CDU-Fraktion, der Ministerpräsident und andere. Es ist auch sehr einsichtig, daß Sie sich für die wirtschaftlich schwache Region besonders verwenden.
Aber auch das Verteidigungsministerium hat sich sehr darum bemüht, einen vertretbaren Standpunkt zu finden. Es ist vor allem gelungen, den Depotstandort zu erhalten, wenn auch in veränderter Aufgabenstellung und in reduziertem Personalumfang. Besonders wichtig ist, daß wir die Ausbildungswerkstatt mit 108 Ausbildungsplätzen erhalten werden. Allerdings ist festzustellen, da wir nicht frei von den Gegebenheiten unserer modernen Bundeswehr agieren können: Der logistische Bedarf in diesem Raum fehlt, um den Depotstandort in größerem Umfang als jetzt geplant zu rechtfertigen.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Wurden bei der Entscheidung über den Stellenabbau, insbesondere auch in dem von mir genannten Standort Weener, die Zielvorgaben des Raumordnungsgesetzes berücksichtigt?
Wir haben alle für uns wichtigen Zielvorgaben berücksichtigt. Sie wissen, die Bundeswehr ist kleiner geworden. Wir brauchen weniger Depots; wir müssen sparen; wir haben jetzt wieder eine Kürzungsauflage von über 1 Milliarde DM; wir müssen rationalisieren. Wegen all dieser Gesichtspunkte und natürlich unter Einbeziehung der Lage vor Ort sind wir zu den jetzigen Regelungen gekommen.
Ich darf Sie vielleicht in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnern, daß wir den Standort Fürstenau erhalten haben. Dort haben wir wertvolle Arbeitsplätze in Westniedersachsen erhalten können. Wir sind bemüht, in der Region zu helfen. Aber wir müssen natürlich auch unsere Notwendigkeiten berücksichtigen.
Frau Kollegin Altmann, Sie hatten sich gemeldet.
Welche konkreten Maßnahmen oder Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, über die Hilfen hinaus, die Sie gerade angesprochen haben, anderen Standorten neben Weener, etwa Wilhelmshaven, Hilfen zu geben, um zum Beispiel im Bereich der Liegenschaften eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung gerade auch im Hinblick auf Ausbildungsplätze möglich zu machen?
Die Frage nach den Liegenschaften betrifft ein ganz anderes Thema. Wenn wir die dem Bundesverteidungsministerium überlassenen Liegenschaften aufgeben, fallen sie in das allgemeine Vermögen des Bundes. Dann ist der Finanzminister dafür zuständig. Der kann sich im Benehmen mit Stadt und Land für die richtigen Lösungen einsetzen.
Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger
Aber ich nehme an, daß Sie mit Ihrer Frage auch auf die soziale Abfederung derer, die ihren Arbeitsplatz verlieren, abgehoben haben. Der vorgesehene Zeitraum, in dem wir die Depots schließen, beträgt bis zu zehn Jahre. In diesen zehn Jahren hoffen wir, daß wir durch die zeitliche Staffelung eine möglichst sozialverträgliche Lösung für jeden einzelnen finden können, wobei uns die natürliche Personalfluktuation nutzen wird.
Herr Kubatschka.
Frau Staatssekretärin, Sie sprechen jetzt das zweite Mal von sozialverträglichen Lösungen. Wie genau definieren Sie diese?
Wir versuchen, wo immer es geht - wir haben es in der Vergangenheit ja schon bewiesen -, jedem einzelnen zu helfen, daß er entweder einen anderen Arbeitsplatz findet, auf Grund seines Alters durch natürliche Personalfluktuation ausscheiden kann oder ihm auf sonstige Weise auf Grund der geltenden Gesetze die beste Lösung ermöglicht wird. Wir haben in der Bundeswehrverwaltung schon sehr viele Arbeitsplätze abbauen müssen. Bisher ist es ohne größere Klagen immer gelungen.
Herr Kollege Palis.
Frau Staatssekretärin, wie stellt sich die Bundesregierung einen sozialverträglichen Personalabbau in dem Bereich, von dem mein Kollege Reinhold Robbe gesprochen hat, vor, wenn beispielsweise eine Dienststelle geschlossen wird und der Tarifvertrag für einen sozialverträglichen Personalabbau kaum greifen kann, weil im Umkreis von rund 500 Kilometern keine vergleichbaren Dienstposten vorhanden sind?
Herr Kollege, ich habe Ihnen schon gesagt, wir werden es versuchen. Andererseits müssen Sie natürlich auch verstehen, daß die Bundeswehr Standorte in größerem Umfang abbaut und die Depotstandorte nicht so belassen kann, wie sie früher waren, da wir die Personalstärke der Bundeswehr von 600 000 Mann zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung auf jetzt 340 000 Mann reduzieren müssen und die Ost-West-Konfrontation an der Grenze weggefallen ist. Wir müssen uns natürlich nach den neuen Gegebenheiten richten, so bitter es im Einzelfall ist. Aber ich habe Ihnen ja schon zugesichert: Wir werden versuchen, möglichst sozialverträgliche Lösungen zu finden.
Dann rufe ich die Frage 2 des Kollegen Robbe auf:
Wie wird von der Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung und des Lastenausgleichsprinzips die
Tatsache begründet, daß im Zusammenhang mit der Neuorganisation des Depotwesens das Land Niedersachsen gegenüber den anderen vergleichbaren Flächenländern benachteiligt wird und daß beispielsweise bei den Gerätehauptdepots die Bundesländer Baden-Württemberg, liessen und Rheinland-Pfalz ohne nennenswerte Kürzungen, das Land Niedersachsen jedoch mit einem hundertprozentigen Dienstpostenabbau hervorgehen soll?
Frau Staatssekretärin.
Die Bundesregierung hat bei der Anpassung der ortsfesten logistischen Einrichtungen des Heeres funktionale Gesichtspunkte, Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und strukturpolitische Überlegungen berücksichtigt. Allerdings sind dem Streben nach vollständiger Gleichbehandlung der Bundesländer dadurch Grenzen gesetzt, daß Depots nur dort aufgelöst werden können, wo sie zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation vorher auch eingerichtet wurden, und daß mit den verbleibenden Einrichtungen die Vorräte ausgewogen und bedarfsgerecht in der Fläche verteilt werden müssen.
Im übrigen wird die Organisation in den von Ihnen genannten vergleichbaren Flächenländern ebenfalls um einige hundert Dienstposten gestrafft.
Die Aussage, daß andere Bundesländer beispielsweise bei den Gerätehauptdepots ohne nennenswerte Kürzungen davonkommen, das Land Niedersachsen jedoch mit einem hundertprozentigen Dienstpostenabbau aus der Rationalisierung der Depotorganisation hervorgehen soll, ist unzutreffend. So werden in Baden-Württemberg drei, in Rheinland-Pfalz zwei und in Hessen ein Gerätehauptdepot aufgelöst. In Niedersachsen bleibt unter anderem das Gerätehauptdepot Hesedorf erhalten.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Ist die Bundesregierung bereit, Frau Staatssekretärin, im Falle von darstellbaren und verantwortbaren Lösungsmöglichkeiten über eine Korrektur des jetzt vorliegenden Konzeptes zumindest nachzudenken?
Der Bundesminister hat das Konzept gebilligt. Es ist auch im Parlament gebilligt worden. Es wird sicherlich über die eine oder andere Stelle zu reden sein; aber im großen und ganzen wird sich an dem Konzept nichts mehr ändern.
Ihre zweite Frage.
Wurden bei der Neuorganisation des Depotwesens alternative Lösungen insbesondere für die Standorte, die von der Schließung betroffen sind, mit berücksichtigt?
Natürlich hat man immer abgewogen, welche Standorte wir sinnvollerweise erhalten können. Dabei hatte man natürlich immer auch die strukturelle Lage in den jeweiligen Gebieten im Hinterkopf. Wir glauben, daß wir einen guten Mittelweg gefunden haben.
Zusatzfrage, Kollegin Altmann.
Ich frage jetzt einmal nach den Zukunftschancen; darum geht es mir: Gibt es konkrete Pläne, die jetzt wegfallenden Arbeitsplätze durch Kompensation im zivilen Bereich für zukünftige Generationen auszugleichen?
Vielleicht könnten Sie mir etwas konkreter sagen, welchen zivilen Bereich Sie meinen?
Es geht um Konversion. Ich frage, ob es Pläne gibt, den Arbeitsplatzwegfall in diesem Bereich zu kompensieren, und zwar nicht im Hinblick auf die jetzigen Arbeitnehmer, sondern im Hinblick auf zukünftige Generationen.
Konversion wird natürlich betrieben, aber hauptsächlich in der Wirtschaft. Die Bundeswehr hat ihre fest umschriebenen Aufgaben, und nach diesen Aufgaben muß sie handeln. Uns obliegt die Depotorganisation. Aber im privatwirtschaftlichen Bereich müssen wir auf die freie Wirtschaft verweisen.
Nein, bitte, Sie haben nur eine Zusatzfrage; es tut mir leid.
Herr Kollege Palis, Sie sind dran.
Frau Staatssekretärin, welche Rolle spielen betriebswirtschaftliche und ökologische Gesichtspunkte - damit meine ich verkehrsökonomische Gesichtspunkte - bei der Zentralisierung der Instandsetzungsdepots im Fernmeldebereich?
Ich weiß jetzt nicht, worauf Sie genau abheben. Aber betriebswirtschaftliche Gründe spielen eine große Rolle, natürlich auch Gründe des Umweltschutzes.
Ich habe Ihnen ja gesagt: Die Bundeswehr hat einen sehr starken Spardruck. Wir müssen zur Zeit alle Einrichtungen der Bundeswehr dahin gehend überprüfen, wo wir einsparen können, damit wir das Einsparpotential wieder sinnvoll investieren können.
Herr Kollege Lippelt, Ihre Zusatzfrage.
Im Anschluß an die Frage der Kollegin Altmann, da Niedersachsen insbesondere in Wilhelmshaven sehr umfangreiche Depots unterhalten hat: Bedeutet Ihre Antwort, daß sich die Bundeswehr, das Bundesverteidigungsministerium von jeglicher Verantwortung frei fühlt, sich an Konversionsplänen, die an solchen Standorten nötig sind, zu beteiligen?
Herr Abgeordneter Dr. Lippelt, Sie haben vorhin vielleicht nicht gehört, daß ich gesagt habe, daß wir sehr bemüht sind, für unsere Mitarbeiter, die dadurch den Arbeitsplatz verlieren könnten, sozialverträgliche Lösungen zu finden, daß wir versuchen, sie anderswo einzusetzen, oder aber diese Frage läßt sich auf dem Wege der natürlichen Fluktuation lösen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Frau Staatssekretärin, vielen Dank.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Die Fragen 3 und 4 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt zur Verfügung.
Die Fragen 5, 6, 7 und 8 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit komme ich zu der Frage 9 des Abgeordneten Schily:
Wird die Bundesregierung entsprechend ihrer Ankündigung am 7. Februar 1996 den überfälligen Versorgungsbericht spätestens bis Ende dieses Monats vorlegen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Schily, mit Rücksicht auf noch nicht vollständig abgeschlossene Untersuchungen kann heute noch kein genauer Termin für die Vorlage des Versorgungsberichts genannt werden. Der Versorgungsbericht zeigt erstmalig und umfassend die Entwicklung der Versorgungskosten im gesamten öffentlichen Dienst, also bei Bund, Ländern und Gemeinden. Ausschlaggebend für die Beurteilung sind nicht absolute Zahlen oder Steigerungsraten allein; nach unserer Auffassung entscheidend ist die Entwicklung der Versorgungsaufwendungen im Verhältnis zu gesamtwirtschaftlichen Vergleichsgrößen. Die Arbeit erweist
Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt
sich jedoch als außerordentlich schwierig, weil längerfristige volkswirtschaftliche Prognosen berücksichtigt werden müssen.
Herr Schily, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, zuzugestehen, daß sie mit ihrem Verhalten ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommt, oder ist die Bundesregierung der Auffassung, daß wir immer noch am Beginn der Legislaturperiode stehen?
Herr Kollege Schily, die Bundesregierung ist immer bestrebt, ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen; das wissen Sie. Wir haben bereits mehrfach zum Versorgungsbericht gesprochen. Ich persönlich, aber auch meine Kollegen konnten schon mehrfach darlegen, daß es uns im gegenwärtigen Stadium darum geht, nicht nur gesammelte Zahlen vorzulegen, sondern sie auch in Vergleich zu setzen zu volkswirtschaftlichen Entwicklungen, zur Entwicklung der Sicherungssysteme in anderen Bereichen, weil nur dann eine Gesamtdiskussion Sinn macht.
Ihre zweite Frage.
Herr Staatssekretär, im Februar dieses Jahres hatte ich der Bundesregierung ähnliche Fragen gestellt. Damals wurde in Aussicht gestellt, daß bis Mitte des Jahres - das ist wohl das Verständnis der Bundesregierung vom Beginn der Legislaturperiode - der Versorgungsbericht vorgelegt werde. Jetzt höre ich von Ihnen, Sie können auch diesen Termin nicht halten.
Ich frage Sie: Wann gedenkt denn die Bundesregierung diesen Versorgungsbericht vorzulegen?
Lieber Herr Kollege Schily, ich darf darauf hinweisen, daß der Zeitraum „Mitte des Jahres", von dem Sie gerade sprachen, erst kürzlich angebrochen ist, so daß wir uns nach diesen Aussagen noch sehr in dem Zeitraum bewegen, der angekündigt wurde.
Ich möchte gern wiederholen, was ich schon sagen konnte, nämlich daß wir nicht nur eine Sammlung von Zahlen in bezug auf Bund, Länder und Gemeinden vorlegen möchten, obwohl auch dies schon erstmalig ist, sondern daß wir diese Zahlen, um Ihnen und allen Kolleginnen und Kollegen eine gute Auswertung zu ermöglichen, in Vergleich setzen wollen mit anderen Sicherungssystemen, mit der gesamten volkswirtschaftlichen Entwicklung.
Ich gehe davon aus, daß das im Zeitraum „Mitte des Jahres" möglich sein wird. „Mitte des Jahres 1996" ist noch nicht abgelaufen.
Ich sehe dazu keine weiteren Fragen.
Dann rufe ich die Frage 10 des Abgeordneten Otto Schily auf:
Welche finanz- und haushaltspolitischen Konsequenzen werden sich voraussichtlich aus dem von der Bundesregierung vorzulegenden Versorgungsbericht ergeben?
Herr Staatssekretär.
Über Konsequenzen aus dem Versorgungsbericht, lieber Herr Kollege Schily, wird erst nach Vorlage des Versorgungsberichts und einer eingehenden Diskussion mit allen Beteiligten zu entscheiden sein. Das ist im Hinblick auf den großen Umfang des Projekts sicherlich verständlich.
Jedoch darf ich darauf hinweisen - und damit Ihre Gedanken schon zu einem Teil aufnehmen -, daß die Bundesregierung bereits im Entwurf des dienstrechtlichen Reformgesetzes einen wichtigen Punkt der Kostenentwicklung bei der Versorgung aufgegriffen hat, nämlich die Dauer des Bezugs von Versorgungsleistungen bei frühzeitigen Pensionierungen.
Die Bundesregierung hat in diesem genannten Gesetzentwurf folgende Sofortmaßnahmen vorgesehen: erstens die Heraufsetzung der Antragsaltersgrenze um ein Jahr und zweitens die Einführung spürbarer Versorgungsabschläge von bis zu 3,6 Prozent bereits ab 1998. Insofern sind - das möchte ich zu Ihrer Frage noch einmal feststellen - zwei Bereiche schon angegangen, die für das Versorgungssystem sicherlich sehr wichtig sind.
Ihre Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
Herr Staatssekretär, Sie wollen oder können uns im Moment über die Grundzüge dieses Versorgungsberichtes offenbar noch keine Auskunft geben. Trotzdem wissen wir alle, daß es im Moment schwierige finanz- und haushaltspolitische Fragen zu lösen gilt. Können Sie dem Haus vielleicht insofern eine Auskunft geben, als Sie die Frage beantworten, ob sich diese Schwierigkeiten mit der Vorlage des Versorgungsberichtes und der dann bekanntwerdenden Fakten ausweiten werden oder ob das ein Umstand ist, der keine so große Bedeutung hat?
Herr Kollege Schily, daß wir schwierige haushalts- und finanzpolitische Situationen bei Bund, Länder und Gemeinden haben, ist sicherlich Allgemeingut - sowohl in diesem Hause wie auch in den anderen zuständigen Parlamenten.
Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt
Zu Ihrer weiteren Frage, ob der Versorgungsbericht das Ganze noch verschlimmern oder ob die Situation gleichbleiben würde, vermag ich keine Auskunft zu geben, weil die Auswertung der Daten, bezogen auf die Entwicklung der Konjunktur, der gesamten Volkswirtschaft, noch nicht abgeschlossen ist. Ich bitte insofern um Verständnis. Wir wollen das jetzt intensiv weiter verfolgen, damit sich dann die Fragen, die Sie gerade angesprochen haben, detaillierter beantworten lassen.
Ihre zweite Frage.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß es mindestens einen Entwurf des Versorgungsberichtes in Ihrem Hause gibt, da Sie sagen, Sie wollen ihn bis Mitte des Jahres vorlegen. Deshalb frage ich Sie, ob Sie denn in etwa mit konkreten Zahlen beschreiben können, in welchen Größenordnungen sich das Ganze bewegt, was die haushalts- und finanzpolitische Situation, bezogen auf die Versorgungslasten, angeht.
Lieber Herr Kollege Schily, eine solche Darlegung wäre nach meiner Beurteilung nicht sehr hilfreich und auch lückenhaft, weil sie noch nicht genügend in Bezug gesetzt worden ist zu der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und zu Entwicklungen in anderen Versorgungsbereichen, ganz abgesehen davon, daß wir noch eine Menge aktueller politischer Initiativen und Aktivitäten berücksichtigen müssen. Um wirklich sachkundig diskutieren zu können, müssen die Ergebnisse erst ausgewertet werden.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Staatssekretär, bedeuten Ihre Ausführungen, daß in Ihrem Hause noch kein Entwurf und auch kein Nonpaper in dieser Angelegenheit vorliegt? Wie würden Sie das charakterisieren?
In unserem Hause liegen sehr viele Einzelergebnisse vor, die wir bei Bund, Ländern und Gemeinden gesammelt haben. Ich durfte schon darauf hinweisen, daß dieses Projekt erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik durchgeführt wird. Es gibt auch schon erste Zusammenfassungen. Nur, wir sind im Grunde noch bei der Auswertung im Hinblick auf die künftige gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Insofern befindet sich das Ganze noch im Entstehungsstadium.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereiches. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf.
Die Fragen 11, 12 und 13 werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nunmehr rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf.
Die Fragen 14 bis 21 werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe damit die Frage 22 des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher auf:
Trifft es zu, daß die Botschaft der ehemaligen DDR in Athen auf einem Grundstück des griechischen Unternehmers S. K. bzw. der Firma I. S. A. errichtet worden ist, und wie stellen sich die heutigen Besitz- und Mietverhältnisse für das Grundstück und das darauf errichtete ehemalige Botschaftsgebäude dar?
Herr Staatssekretär.
Bei der von Ihnen angesprochenen Liegenschaft, Herr Kollege Beucher, handelt es sich um die frühere Kanzlei der Botschaft der ehemaligen DDR in Athen. Nach den der Bundesregierung zur Verfügung stehenden Unterlagen der Bundesbaudirektion Berlin hat die ehemalige DDR im Jahr 1985 das Grundstück mit dem damals im Rohbau stehenden Kanzleigebäude von der Firma I.S.A. gekauft. Im Zuge der deutschen Einigung ist die Kanzlei, wie alle Liegenschaften der ehemaligen DDR im Ausland, Bundesvermögen geworden. Da kein Bedarf des Bundes bestand, wurde die Liegenschaft zwischenzeitlich an die Republik Ukraine veräußert.
Herr Kollege Beucher, bitte schön.
Herr Staatssekretär, hat es denn andere Formen von Geschäftsbeziehungen mit der erwähnten Firma Intracon oder dem Unternehmer Kokkalis und der Bundesregierung gegeben?
Herr Kollege Beucher, darüber liegen mir keine Unterlagen vor.
Sind Ihnen dann entsprechende Vorwürfe gegen die Firma Intracon und die Firma Hellas-Siemens bezüglich einer Bestechung bekannt?
Herr Kollege Beucher, ich vermute, Sie sprechen den Artikel der „Bild" vom Samstag letzter Woche an. Ich habe diesen Bericht zur Kenntnis genommen, aber mir liegen keine Unterlagen dazu vor.
Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, ich habe das vielleicht nicht richtig verstanden. 1985 hat die DDR diese Kanzlei von einer Firma gekauft, deren Name ich akustisch nicht ganz verstanden habe. Ich frage Sie: War Inhaber dieser Firma Sokrates Kokkalis?
Die Namen, die Sie erwähnen, sind bereits in der Fragestellung des Kollegen Beucher enthalten. Es handelt sich um die Firma I.S.A. und um den griechischen Unternehmer S. K. Das ist der Unternehmer, den Sie erwähnt haben.
Dann rufe ich die Frage 23 des Kollegen Beucher auf:
Wie wird das Botschaftsgebäude der ehemaligen DDR in Athen heute durch die Bundesregierung genutzt, und welche Planungen gibt es für eine künftige Verwertung bzw. Nutzung des Gebäudes?
Bitte schön.
Wie ich bereits auf die Vorfrage geantwortet habe, wurde die Liegenschaft 1996 verkauft, und zwar mit Vertrag vom 29. Februar, für 3,6 Millionen DM an die Regierung der Republik Ukraine. Die Ukraine wird die Liegenschaft zur Unterbringung ihrer Botschaft in Athen nutzen.
Ihre Zusatzfragen, bitte schön.
Danke sehr.
Dann Herr Kollege Neumann, Ihre Frage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob das auf dem Grundstück stehende Gebäude, bevor es von der DDR gekauft worden ist, mit Mitteln der DDR von der genannten Firma und Herrn Sokrates Kokkalis gebaut worden ist?
Zu den 1985 geschlossenen vertraglichen Vereinbarungen zwischen dem verkaufenden Unternehmen und der ehemaligen DDR liegen der Bundesregierung im Augenblick nur Teilerkenntnisse vor, so daß noch kein umfassender Überblick über den tatsächlichen Ablauf gegeben werden kann. Wir können Ihnen die Abläufe zu gegebener Zeit schriftlich darstellen.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereiches. Herr Staatssekretär Hauser, vielen Dank.
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Lammert zur Verfügung.
Die Fragen 24, 25, 26, 27, 28 und 29 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Staatssekretär, es bleibt für Sie keine Frage zur Beantwortung übrig. Ich bedanke mich trotzdem bei Ihnen.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Die Fragen 30, 31, 32 und 33 werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Die Frage 34 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Fragen 35 und 36 des Kollegen Kirschner auf, der allerdings nicht anwesend ist. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Nun rufe ich die Fragen 37 und 38 des Kollegen Dr. Werner Schuster auf. Dieser ist auch nicht da. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Frau Staatssekretärin, wir danken Ihnen dennoch.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr auf.
Die Frage 39 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Dann komme ich zu der Frage 40 der Abgeordneten Brunhilde Irber:
Hält die Bundesregierung eine Prüfung, die die Auswirkungen eines staustufengestützten Ausbaus der Donau zwischen Straubing und Vilshofen auf den Bereich unterhalb der Isarmündung, dem das Prädikat „von nationaler Bedeutung" zuerkannt wurde, nicht mit einbezieht, im Sinne der von der bayerischen Staatsregierung zugesagten vorurteilsfreien Prüfung für ausreichend, oder sieht sie noch weiteren Prüfungsbedarf?
Herr Staatssekretär Nitsch, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin! Die ergänzenden Untersuchungen für den Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen, die die Möglichkeiten und Grenzen flußbaulicher Maßnahmen im Unterschied zu Staustufen, die ökologischen Auswirkungen dieser Methode und den hieraus resultierenden Einfluß der Änderungen von Hochwasser und Grundwasser aufzeigen sollen, sind zunächst auf den Abschnitt zwischen Straubing und der Isarmündung begrenzt, weil nur in diesem Bereich - nach Meinung der Experten - die Voraussetzungen erfüllt werden, den Ausbauzielen mit flußbaulichen Maßnahmen nahe zu kommen. Wenn also flußbauliche Maßnahmen greifen, dann besonders in diesem Abschnitt.
Parl. Staatssekretär Johannes Nitsch
Die Auswertung dieser wasserbaulichen, ökologischen und ökonomischen Untersuchung wird zeigen, ob eine Ausweitung auch auf die untere Strecke zwischen Isarmündung und Vilshofen aussichtsreich ist. Wenn Potentiale für eine Optimierung der unteren Strecke erkennbar sind, werden sie, wie bereits gesagt, auch untersucht werden.
Frau Kollegin Irber, Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, was ist dann von der Aussage zu halten, daß die Entscheidung über den Ausbau der Donau noch in diesem Sommer fällt, daß mit einer Entscheidung also in der nächsten Zeit zu rechnen ist? Ihren Aussagen nach würde eine Untersuchung unterhalb der Isarmündung ja noch in Frage kommen, wenn sich deren Notwendigkeit aus den bisherigen Ergebnissen ergibt. Am letzten Montag wurde vom Deutschen Kanal- und Schiffahrtsverein aber die Aussage getroffen, daß die Entscheidung in den nächsten Wochen definitiv fällt. Was können Sie mir hierzu berichten?
Sehr geehrte Frau Irber, die Vorlage des Berichts für den ersten Teil wird leider nicht, wie ursprünglich angenommen, in diesen Wochen erfolgen, sondern sich bis August oder September hinauszögern. Demzufolge kann die Entscheidung noch nicht in den nächsten Wochen getroffen werden.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Unterrichten Sie den Deutschen Bundestag rechtzeitig darüber, wann eine Entscheidung getroffen werden soll?
Wenn Sie es wünschen, werden wir das tun.
Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, widersprechen Sie damit Ihrem Minister, der zugesagt hat, daß auch für den Bereich unterhalb der Isarmündung ergänzende gutachterliche Untersuchungen durchgeführt werden? Dies stand in der „Süddeutschen Zeitung" vom 10. Juli 1995.
Herr Abgeordneter Kubatschka, ich widerspreche keinen Äußerungen meines Ministers.
Ich glaube, ich habe in meiner Antwort zu der vorherigen Frage deutlich gemacht, daß wir zunächst die
Ergebnisse im oberen Bereich, wo die Voraussetzungen wesentlich günstiger sind, abwarten müssen, um dann die Aufgabenstellung für den unteren Bereich formulieren zu können. Es werden aber Untersuchungen durchgeführt.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kalb.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir erstens zu, daß es sehr vernünftig ist, zunächst seriös in dem Bereich Waltendorf zu untersuchen und eventuelle Erkenntnisse dann weiterzuverwenden? Würden Sie zweitens aber auch anerkennen, daß die betroffenen Kommunen - das sind insbesondere die Stadt Osterhofen, die Gemeinde Künzing und der Landkreis Deggendorf - ein großes Interesse daran haben, möglichst bald Klarheit über Art und Umfang des Donauausbaues zu erhalten, um ihrerseits ihre Bauleitplanungen und ähnliche kommunale Planungen weiterentwickeln zu können und einen Planungs- und damit auch einen Entwicklungsstillstand zu verhindern?
Herr Abgeordneter Kalb, zu Ihrer ersten Frage. Es ist seriös und vernünftig, im oberen Bereich zunächst die Qualität der Voraussetzungen zu untersuchen, auch deshalb, um Mittel zu sparen.
Zweitens. Es ist natürlich notwendig, daß wir die Untersuchungen sehr schnell, allerdings nicht Hals über Kopf, zu Ende bringen, da wir belastbare Ergebnisse brauchen. Mit dem Thema der Terminstellung haben wir uns Mitte des Jahres mehrfach auseinandergesetzt. Ich bin zu dem Schluß gekommen: Wenn wir wirklich belastbare Ergebnisse vorweisen wollen, müssen wir etwas Zeit zugeben. Ansonsten sind wir bestrebt, den von Ihnen genannten Gemeinden durch einen schnellen Abschluß des Verfahrens entgegenzukommen.
Ich rufe Frage 41 der Kollegin Irber auf:
Wurden für die Finanzierung des Films „Der sanfte Ausbau" der Rhein-Main-Donau AG, in dem flußbauliche Ausbaumethoden noch vor der Bekanntgabe der Ergebnisse einer von Bundesregierung und Staatsregierung zugesagten vorurteilsfreien Prüfung als nicht realisierbar diskreditiert werden, Mittel aus dem Bundeshaushalt aufgewendet und, wenn ja, in welcher Höhe?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Sehr geehrte Frau Kollegin, der zum Jahreswechsel 1994/95 fertiggestellte Film „Die sanfte Alternative" der Rhein-Main-Donau AG wurde im Rahmen der Diskussion um den Ihnen sicherlich bekannten Ausbauvorschlag von Professor Ogris gedreht und steht daher nicht im Zusammenhang mit den von Bund und Bayern im Juli 1995 beschlossenen ergänzenden Untersuchungen zu den Grenzen und Möglichkeiten flußbaulicher Maßnahmen.
Parl. Staatssekretär Johannes Nitsch
Aus dem Bundeshaushalt wurden zur Finanzierung dieses Films 80 000 DM bereitgestellt.
Ihre Zusatzfrage, Frau Kollegin, bitte.
Herr Staatssekretär, an wen wurde dieser Film ausgeliefert? Wo wird er gezeigt? Ist er für die Stellen, die diesen Film zeigen, kostenlos erhältlich? Was wollte man damit bezwecken? Meiner Auffassung nach - ich habe mir den Film sehr genau angesehen - widerspricht der Film ganz eindeutig dem, was Sie als vorurteilsfreie Prüfung weiterer ergänzender Maßnahmen darstellen.
Frau Kollegin, ich habe Zweifel, ob Ihre Zusatzfrage mit der Ausgangsfrage in Zusammenhang steht. Dort haben Sie nur nach den Mitteln gefragt.
Herr Staatssekretär, ich stelle anheim, ob Sie die Frage beantworten möchten? - Bitte schön.
Ich kann insoweit darauf antworten, als es Rhein-Main-Donau AG damals darauf angekommen ist, den sehr stark diskutierten Ogris-Vorschlag in einer verständlichen, bildlichen Form vorzustellen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Überprüfen Sie die Verwendung des Einsatzes von Mitteln aus dem Bundeshaushalt?
Es wäre nicht in diesem Umfang notwendig gewesen.
Herr Kollege Kubatschka, Sie haben eine Frage.
Herr Staatssekretär, da Sie für diesen Film 80 000 DM aufgewandt haben: Welche anderen PR-Maßnahmen wurden in der Vergangenheit teilweise auf Staatskosten finanziert? Ist das auch in Zukunft noch vorgesehen?
Für ein ähnliches Projekt würden wir diese Mittel nicht wieder aufwenden.
Die Kontrolle der PR-Maßnahmen ist durch unser Haus wesentlich verschärft worden. Für welche anderen PR-Maßnahmen Mittel aufgewandt worden sind, kann ich aus dem Stand heraus nicht sagen.
Können Sie mir die Frage schriftlich beantworten?
Moment. - Das wird zugesagt.
- Ja, ich habe schon gesagt, daß dies bestätigt wird. Die Frage wird schriftlich beantwortet werden.
Herr Kollege Kalb, die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie bestätigen, daß auch die Untersuchung - wenn man sie so nennen darf -, die Herr Professor Ogris durchgeführt hat, mit öffentlichen Mitteln finanziert wurde? Dieses Honorar hat ihn ganz offensichtlich in die Lage versetzt, die Dinge aus seiner Sicht relativ einseitig darzustellen.
Das war auch der tiefere Grund für die Herstellung des Films, um diese sehr heftig geführte Diskussion in vernünftige Bahnen zu lenken.
Wir kommen dann zur Frage 42 des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz:
Welche Bundesbehörden waren mit der Genehmigung des Massentransports von einigen hundert Tonnen Vinylchlorid, die zum Chemieunfall in Schönebeck führten, befaßt, und welche Bundesbehörden waren über die Genehmigung hinaus für die Ausführung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen verantwortlich?
Herr Abgeordneter Dr. Rochlitz, zu dem Chemieunfall in Schönebeck: Grundsätzlich dürfen gefährliche Güter nur dann mit Eisenbahnen befördert werden, wenn sie in der Anlage zur Ordnung für die internationale Eisenbahnbeförderung gefährlicher Güter - Abkürzung: RID - aufgeführt sind und wenn die dort vorgesehenen und ständig fortentwickelten Bedingungen eingehalten werden. Besonderer Genehmigung bedürfen nur Beförderungen, die in diesem Regelwerk nicht enthalten sind. Das Regelwerk, das, sofern die Transporte grenzüberschreitend sind, im RID und, sofern die Transporte innerstaatlich ablaufen, in der Gefahrgutverordnung Eisenbahn zusammengefaßt ist, legt alle Voraussetzungen und Bedingungen für den Stoff, die Verpackung, die Handhabung, die Technik des Fahrzeugs fest, um einen sicheren Transport zu gewährleisten.
Im vorliegenden Fall handelt es sich um den Stoff Vinylchlorid - UN-Nummer: 1086 -, der nach der Randnummer 201 Ziffer 3 c) RID/GGVE als verflüssigtes Gas zum Transport in Eisenbahnkesselwagen zugelassen ist, wenn die Tanks mit einem Mindestprüfdruck von 10 bar oder, sofern sie Wärmeisolierung haben, von 11 bar geprüft sind und nicht mehr
Parl. Staatssekretär Johannes Nitsch
als 0,81 Kilo je Liter Fassungsraum des Tanks eingefüllt wird.
Der fragliche Transport bedurfte keiner Einzelgenehmigung, da er nach den Bedingungen der genannten Regelwerke durchgeführt wurde.
Ihre Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Standard der einschlägigen Gesetze dahin gehend zu verbessern, daß die Transportbedingungen denen angepaßt werden, die für genehmigungsbedürftige, stationäre Anlagen gelten, wo ja bekanntlich die Störfallverordnung greift? Ihren Ausführungen muß ich entnehmen, daß in bezug auf die Gefahrguttransporte erheblicher Nachholbedarf besteht. Es kann doch nicht angehen, daß ein Massentransport von einigen hundert Tonnen Vinylchlorid gewissermaßen genauso behandelt wird wie der Transport in einem einzelnen Waggon, auf den sich ja diese Richtlinien, die international abgesegnet sind, beziehen. Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um eine Harmonisierung hinsichtlich des technischen Standards und des Sicherheitsstandards zu erreichen?
Das internationale Regelwerk für Gefahrguttransporte wird in regelmäßigen Abständen auf die neuesten Erkenntnisse hin überprüft und verändert. In diesem konkreten Fall muß der Abschlußbericht der Untersuchungskommission abgewartet werden, der Aufschluß darüber gibt, was die Ursachen für diesen Unfall waren und an welcher Stelle des Regelwerks eventuell Veränderungen notwendig sind. Wir werden - wir haben das bereits angemeldet - auf der nächsten Fachkonferenz RID dieses Thema vortragen.
Ihre nächste Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, was tut die Bundesregierung, um weitere Transporte von solch riesigen Mengen eines Giftgases zu unterbinden? Es ist ja doch wohl nach diesem Vorfall nicht hinzunehmen, daß weiter so verfahren wird, als ob nichts geschehen wäre. Ich denke, daß das Chemiewerk in Sachsen-Anhalt, das PVC herstellt, in Kürze seine eigene Anlage haben wird. Die Bundesregierung täte daher gut daran, die noch geplanten Transporte zu unterbinden, da die Produktion dort in Kürze aufgenommen werden kann. Was tut die Bundesregierung in dieser Hinsicht?
Herr Abgeordneter, ich hatte bereits betont, daß es sich hierbei um ein internationales Regelwerk handelt und die Bundesregierung nur in Abstimmung mit den Vertragspartnern handeln könnte. Wie gesagt, die Erkenntnisse für den wirklichen Unfallgrund liegen uns noch nicht vor, so daß wir im Moment kein Verbot aussprechen können.
Eine Zusatzfrage. Frau Kollegin Altmann, bitte schön.
Herr Staatssekretär, gibt es eine Vorabinformationspflicht für solche Transporte?
Frau Abgeordnete Altmann, es gibt die Vorschriften des internationalen Regelwerks und der bei uns in Deutschland zusätzlich geltenden Gefahrgutverordnung. Nach diesen Vorschriften werden für den speziellen Transport keine Sonderinformationen vorgenommen.
Die örtlichen Dienststellen sind mit allen Informationen für Maßnahmen ausgerüstet, die bei solchen Havariefällen zu ergreifen sind. Der Zug erhält die entsprechenden Informationen durch Tafeln. Der Lokführer hat die entsprechenden Papiere, so daß an der Stelle, an der etwas geschieht, gemäß den Vorschriften des Transportunfall-Informationssystems sofort gehandelt werden kann.
Frau Kollegin Lemke, Sie haben sich gemeldet. Bitte.
Mir ist insbesondere nach diesem Unfall nicht ganz klar, warum zwischen Straße und Schiene eine solche Ungleichbehandlung erfolgt. Können Sie Aussagen dazu machen, wie die Bundesregierung in Zukunft damit umzugehen gedenkt?
Beim Gefahrguttransport auf der Straße sind die Anforderungen wesentlich höher als bei dem auf der Schiene, obwohl auf der Schiene pro Einheit in der Regel mehr transportiert wird, was sich in Schönebeck als problematisch herausgestellt hat. Gedenkt die Bundesregierung, diese Vorschriften zu überarbeiten?
Sehr geehrte Frau Lemke, ich hatte darauf bereits geantwortet: daß wir den Unfallbericht abwarten müssen, in dem uns die tatsächlichen Ursachen für diesen Unfall aufgezeigt werden. Das bestimmt den Ablauf der Gegenmaßnahmen.
Aus diesem Bericht werden wir für die Fachtagung, die demnächst stattfindet, einen Vortrag erarbeiten und eventuell Vorschläge für eine Veränderung dieser internationalen Vorschrift oder der deutschen Gefahrgutverordnung vorlegen. Im Moment kann ich dazu keine konkreten Aussagen machen.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Schönberger.
Herr Staatssekretär, Sie haben auf die Frage von Kollegin Altmann geantwortet, es gebe keine Vorabinformationspflicht und die örtlichen Behörden seien mit allen Kenntnissen ausgestattet. Bei diesem Unfall hat es aber 40 Minuten gedauert, bis die örtlichen Einsatzkräfte wußten, um welchen Stoff es sich überhaupt handelt. Könnte Sie das nicht zu dem notwendigen Schritt verleiten, in diesem Bereich durch andere Vorschriften tätig zu werden und zum Beispiel eine Vorabinformationspflicht einzuführen, damit von vornherein klar ist, welcher hochgiftige Stoff transportiert wird, so daß es nicht 40 Minuten dauert, bis die Einsatzkräfte wissen, um welchen Stoff es sich handelt?
Wir müssen eher die in diesem konkreten Fall aufgetretenen Informationsdefizite bei den örtlichen Einsatzkräften untersuchen. Es muß geprüft werden, ob die Schulung der Einsatzkräfte auf dem letzten Stand war. Ich halte den Verwaltungsaufwand eines Informationssystems für alle Gefahrguttransporte für doch sehr hoch. Bevor eine solche Entscheidung getroffen wird, ist die Effizienz dieser Maßnahme noch einmal genau abzuschätzen.
Dann rufe ich die Frage 43 des Kollegen Dr. Rochlitz auf:
Wie wurde von den Bundesbehörden sichergestellt, daß die verwendeten Tankwagen den Anforderungen für einen brennbaren und eindeutig karzinogenen Stoff wie Vinylchlorid entsprachen, und ist der Bundesregierung bekannt, welches Herstellungsdatum die verwendeten Tankwagen besaßen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter Rochlitz, die Anforderungen, denen die Kesselwagen im einzelnen entsprechen müssen - auch hinsichtlich der Gase, die transportiert werden -, sind im Anhang XI des von mir bereits genannten Regelwerkes RID niedergelegt. Neben der konkreten technischen Beschreibung der Kesselwagen werden dort auch alle anderen Fragen der Baumusterzulassung und der erstmaligen und wiederkehrenden Prüfungen der Kesselwagen geregelt.
Der Einsteller eines Kesselwagens hat die Vorschriften über Bau, Ausrüstung, Kennzeichnung und Prüfungen genau zu beachten. Die Baumusterzulassung und -prüfung erfolgt durch die zuständige Behörde - in Deutschland ist es das Eisenbahnbundesamt -, während für die Abnahme und wiederkehrende Prüfungen der Kesselwagen behördlich anerkannte Sachverständige zuständig sind, wobei die Prüfung in der Regel in dem Staat erfolgt, in dem der Kesselwagen eingestellt ist.
Durch dieses Prüfungssystem in Verbindung mit Verpflichtungen für den Einsteller, den Befüller und das Bahnunternehmen wird sichergestellt, daß die Kesselwagen den Anforderungen entsprechen.
Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir dahin gehend einig, daß unter diesen Bedingungen ein eklatanter Gegensatz besteht zwischen der Behandlung genehmigungsbedürftiger Anlagen, in denen es um einige hundert Tonnen Vinylchlorid geht, und dieser Transportsysteme? Im ersten Fall ist das Gewerbeaufsichtsamt für Überprüfungen zuständig. Dort gilt kein internationales Regelwerk, sondern die nationale Störfallverordnung, und die ist nach Ihren Ausführungen deutlich günstiger einzuschätzen als dieses internationale Regelwerk. Sind Sie bereit, Initiativen zu ergreifen, um diesen technischen Standard auch für Transportbehältnisse herzustellen?
Ich kann im Moment nicht diesen gravierenden Unterschied feststellen, den Sie beschreiben. Aber ich habe bereits gesagt: Nach der Vorlage dieses Untersuchungsberichtes wird zu überprüfen sein, ob es auch in bezug auf die technischen Anforderungen an die Kesselwagen zusätzliche Pflichten geben wird. Ein entsprechender Bericht wird von uns auf der nächsten Fachkonferenz vorgetragen werden.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, im deutschen Umweltrecht gibt es ja das Vorsorgeprinzip. Ich weiß nicht, ob das auch für die Belange des Verkehrsministeriums eine Rolle spielt. Aber ich könnte mir vorstellen, daß dieses Prinzip auch dort verankert sein sollte. Diesem Vorsorgeprinzip folgend müßten Sie - unabhängig von dem Ergebnis der Untersuchung - eigentlich alles daransetzen, zu verhindern, daß solche Massentransporte eines Giftgases zustande kommen, ohne daß Sicherungsmaßnahmen getroffen werden, wie bei anderen Giftgastransporten in der Vergangenheit, als giftgasgefüllte militärische Sprengsätze transportiert worden sind. Was werden Sie, diesem Vorsorgeprinzip folgend, tun, um unabhängig vom Ausgang der Untersuchungen letztendlich dafür zu sorgen, daß diese Transporte unterbleiben?
Herr Abgeordneter, die deutsche Gefahrgutverordnung und das internationale Regelwerk sind insgesamt dem Vorsorgeprinzip verpflichtet. Insofern ist Ihre Forderung durch diese beiden Vorschriften bereits erfüllt.
Frau Kollegin Lemke.
Herr Staatssekretär, auch wenn die Unfallursachen letztendlich noch nicht geklärt werden konnten, sind ja
Steffi Lemke
inzwischen einige der Kesselwagen vom Unfallort verbracht worden. Nach ursprünglichen Informationen sollten fünf dieser Kesselwagen bereits nach Buna transportiert worden sein. Presseberichten zufolge ist am Montag mindestens einer dieser Waggons in Calbe gesichtet worden. Nach Aussagen der DB AG ist dieser Waggon zwar leer, und demzufolge ging keine Gefährdung der Bevölkerung von diesem Waggon aus.
Ich halte es aber für sehr problematisch, daß schon einige Tage nach diesem Unfall, nachdem die Untersuchungen noch nicht vollständig abgeschlossen sind, einer dieser Waggons völlig ungesichert in Calbe aufgetaucht ist.
Frau Kollegin, ich muß Sie unterbrechen. Ihre Zusatzfrage steht nicht in einem Zusammenhang zu der gestellten Frage. Die gestellte Frage lautete: Wie wurde von der Bundesregierung sichergestellt, daß die Tankwagen geeignet waren und welches Herstellungsdatum sie hatten?
Sie fragen nach dem Verbleib dieser Wagen. Das ist ein anderer Sachverhalt. Ich muß Sie bitten, sich an die Regeln der Fragestunde zu halten, zumal Sie noch zwei weitere Fragen stellen. Ich werde Ihre Frage nicht zulassen.
Frau Altmann, bitte.
Herr Staatssekretär, es geht um die Sicherheit der Kesselwagen, wir haben bereits im Verkehrsausschuß darüber debattiert. Dort wurde gesagt: Ein Kesselwagen wurde seines Fahrgestells beraubt, ein anderer ist explodiert. Andere Kesselwagen sind nicht explodiert, sind nicht einmal leckgeschlagen. Das läßt auf einen unterschiedlichen Standard schließen.
Meine Frage lautet: Welchen Sicherheitsstandard müssen Kesselwagen, die so hochexplosive Stoffe transportieren, erfüllen? Ich nenne den Vergleich zum Castorbehälter, bei dem präventiv bestimmte Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Halten Sie es weiterhin im Sinne von öffentlichen Interessen für verantwortbar, daß die DB AG selbst den Zeitraum festlegt, in dem sie ihre Kesselwagen bzw. ihre Wagen allgemein prüft? Es wurde nur gesagt, es muß in regelmäßigen Abständen ohne einen verbindlichen Zeitraum erfolgen. Wir wissen aber auch, daß die DB AG die Zeiträume der Überprüfung aus Kostengründen verlängert hat.
Ich möchte mit der letzten Teilfrage beginnen. Die DB AG legt natürlich nicht selbst fest, wann sie Fahrzeuge, mit denen sie Gefahrgüter transportiert, prüft. Der Turnus ist festgelegt und wird durch die technischen Prüforganisationen unabhängig von der DB AG wahrgenommen, wobei dem Eisenbahnbundesamt zusätzlich die Aufgabe zufällt, zu prüfen, ob die unabhängigen technischen Prüforganisationen den Fahrzeugpark hinsichtlich der besonderen Bedingungen für Druckbehälter geprüft haben.
Das ist ein System, das drei Seiten hat. Die DB AG kann von sich aus hinsichtlich des Rhythmus oder der Fristen nichts verändern.
Ich rufe die Frage 44 der Abgeordneten Steffi Lemke auf:
Warum wurde für eine derartige riskante Fracht wie die des Vinylchlorids, welches für den Chemieunfall in Schönebeck verantwortlich ist, überhaupt eine Transportgenehmigung erteilt, und ist der Bundesregierung bekannt, welchen Ausrüstungsstand die verwendeten Tankwagen besaßen?
Sehr geehrte Frau Lemke, für den Transport - ich habe das bereits mehrfach gesagt - waren keine besonderen Genehmigungen erforderlich, da dieser Transport dem internationalen Regelwerk entsprach. Über den Ausrüstungsstand der Kesselwagen sind mir noch keine Einzelheiten bekannt. Sie werden im Bericht im einzelnen enthalten sein.
Mit den jetzt noch laufenden Untersuchungen wird festgestellt, ob die Wagen für den Unfall ursächlich waren oder welche anderen Vorgänge zum Beispiel am Gleiskörper oder am Stromversorgungssystem diesen Unfall herbeigeführt haben. Dazu sind im Moment noch keine Aussagen vorhanden.
Ihre Zusatzfragen.
Bei Industrieanlagen müssen die Anwohner über die Gefährlichkeit solcher Anlagen informiert werden. Hält die Bundesregierung es nicht für notwendig, daß dies auch für Gefahrguttransportstrecken der DB AG erfolgt?
Ich hatte mehrfach darauf hingewiesen, daß es für diese Gefahrgüter Vorschriften im internationalen Regelwerk der RID und in der deutschen Gefahrgutverordnung gibt. Es wird in Auswertung dieses Unfalls zu entscheiden sein, ob die Vorschriften streng genug sind.
Zweite Zusatzfrage.
Die Betreiber von gefährlichen Industrieanlagen müssen auch betriebliche Alarm- und Gefahrabwehrpläne aufstellen und diese mit dem Katastrophenschutz abstimmen. Auch dies ist für die DB AG bisher nicht erforderlich gewesen. Ich denke, der Unfall hat gezeigt, daß dort konzeptionslos agiert worden ist. Hält die Bundesregierung es für notwendig, in diesen Bereichen in Zukunft weitergehende Regelungen zu treffen?
Ich hatte bereits ausgeführt, daß die zur Identifizierung des transportierten Gefahrguts erforderlichen Informationen am Fahrzeug vorhanden waren, der Lokführer weitere entsprechende Unterlagen bei sich führte und nach längstens zehn Minuten die entsprechende Einsatzstelle über das Gefahrgut informiert war.
Zusatzfrage der Kollegin Altmann.
Existieren Unterschiede, konkret auf den Gefahrstoff VC bezogen, zwischen den Gefahrgutverordnungen Straße und Eisenbahn und, wenn ja, welche und warum?
Ich muß auch hier sagen, der Sachzusammenhang zu Frage 44 ist nicht erkennbar. Herr Staatssekretär, ich stelle Ihnen anheim, trotzdem zu antworten.
Vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre Intervention. Ich möchte nicht antworten.
Ich rufe Frage 45 der Abgeordneten Steffi Lemke auf:
Wie wurde von den Bundesbehörden sichergestellt, daß längs der Transportroute eine Gefährdung der Bevölkerung auch bei einem Unfall auszuschließen ist, und wie wurde ferner sichergestellt, daß der gesamte Schienenweg der Transportroute den Sicherheitsanforderungen eines Giftgastransportes entspricht?
Sehr geehrte Frau Lemke, alle Vorschriften für den Transport gefährlicher Güter haben das Ziel, eine Gefährdung der Bevölkerung, der am Transport Beteiligten und der Umwelt auszuschließen. Diese weitgehend internationalisierten Vorschriften werden laufend fortentwickelt und den Erkenntnissen der Technik angepaßt. Dasselbe Ziel haben alle Vorschriften, die zur Gewährleistung der Geeignetheit des Schienenweges und der betrieblichen Sicherheit der Bahn bestehen. Der ganz konkrete Schienenweg, um den es sich handelt, wurde zuletzt vor sechs Monaten durch einen Meßwagen überprüft und für in Ordnung befunden.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Frage 45 bezieht sich auch auf die Gefährdung der Bevölkerung bei einem Unfall. Der Fall eines Unglücks ist nun bedauerlicherweise eingetreten. Ich möchte die Bundesregierung fragen, wie sie den Zustand bewertet, daß einer der Unglückswaggons ungesichert einige Tage nach dem Unfall in Calbe auftauchen konnte, nach Aussage der DB AG zwar geleert ist und deshalb keine Gefährdung der Bevölkerung darstellt, aber ursprünglich anderslautende Informationen über den Verbleib eines der Unfallwaggons in die Öffentlichkeit gegeben wurden. Dieser Zustand ist aus meiner Sicht sehr bedenklich.
Frau Kollegin, ich muß noch immer sagen: Ihre Frage bezieht sich darauf, wie längs der Transportroute eine Gefährdung der Bevölkerung auszuschließen ist und wie sichergestellt wurde, daß der gesamte Schienenweg der Transportroute den Sicherheitsanforderungen eines Giftgastransports entspricht. Das sind Ihre Fragen. Wenn Sie einen anderen Sachverhalt klären wollen, was Ihr gutes Recht ist, dann müssen Sie eine andere Frage einbringen. Ich versuche nun wirklich ein paarmal mit großer Geduld, Ihre Fragen zuzulassen, die nicht zu der gestellten Frage gehören. Aber Sie müssen sich entschließen, Zusatzfragen zu der Frage einzubringen, die Sie gestellt haben.
Herr Staatssekretär, wenn Sie die Frage trotzdem beantworten wollen, bitte schön.
Herr Präsident, in diesem Fall würde ich gern antworten, da es eine wichtige Information auch für die Öffentlichkeit ist.
Frau Abgeordnete Lemke, am Unfallort tagt täglich dreimal die entsprechende Katastrophenkommission. In dieser Kommission werden alle wichtigen Informationen und Vorgehensweisen abgestimmt. Mitglieder der Kommission sind das LKA SachsenAnhalt, die Staatsanwaltschaft, eine Feuerwehr und weitere Gremien, so daß an der Unfallstelle nichts passiert, dem die entsprechenden Dienststellen, die Interesse an der Aufklärung des Unfalls haben, nicht zugestimmt hätten.
Ihre zweite Zusatzfrage.
In seinem Beschluß vom 1. März dieses Jahres auf der Bundesratsdrucksache 907/95 fordert der Bundesrat die Zuständigkeit des Bundes für Brandschutz und technische Hilfeleistung im Bahnbereich ein. Wie positioniert sich die Bundesregierung zu diesem Bundesratsantrag im Zusammenhang mit dem Unfall Schönebeck?
Ich habe Ihre Frage jetzt nicht verstanden.
Es geht um einen Antrag, der im Bundesrat vom Land Hessen zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften eingebracht worden ist und verhandelt wird. In diesem Antrag wird die Zuständigkeit des Bundes für Brandschutz und technische Hilfeleistung im Bahnbereich im Falle von Unglücken eingefordert, das heißt einige der Dinge, die heute auch von uns eingefordert worden sind. Diese Bundesrats-
Steffi Lemke
drucksache ist seit längerer Zeit bekannt. Meine Frage lautet, wie sich die Bundesregierung zu diesen Forderungen positioniert.
Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, befindet sich ein Gesetz im Beratungsvorgang. Ich denke, wir werden abwarten müssen, wie die Beratungen abgeschlossen werden. Natürlich sind die Vorgänge in Schönebeck in den Beratungsvorgang mit einzubeziehen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Altmann.
Ich beziehe mich auf den ersten Teil der Frage, auf die Sicherstellung der Transportroute. Sind Sie der Meinung, daß die Sicherheitskräfte vor Ort, das heißt in diesem Falle die Feuerwehren an der Strecke, entsprechend der Gefährlichkeit der Transportgüter ausgerüstet sind und zum Beispiel über die Explosivität von VC informiert waren?
Ich kann über den Ausbildungsstand der örtlichen Kräfte - es ist Sache der Länder, das zu organisieren - im Moment nichts aussagen. Ich bin aber zuversichtlich, daß die entsprechenden Mittel und auch die im RID vorgesehenen Abläufe in den Schulungen gehandhabt werden.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Walter Hirche zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 46 des Kollegen Horst Kubatschka auf:
In welchem Umfang wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten Jahren von den Herstellern ozonschädliche Stoffe und Zubereitungen nach § 8 Abs. 2 der FCKW-Halon-Verbots-Verordnung zurückgenommen, und wie erklärt sich die Bundesregierung die Differenz zwischen bekannter Einsatzmenge, Ausnahmegenehmigungen und tatsächlich zurückgegebener Menge?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Herr Kollege Kubatschka, nach § 8 Abs. 2 der FCKW-Halon-Verbots-Verordnung sind die Vertreiber und nicht die Hersteller zur Rücknahme der in der Verordnung geregelten ozonschichtschädigenden Stoffe verpflichtet. Dabei können die Vertreiber die Rücknahme auch durch einen von ihnen beauftragten Dritten sicherstellen.
Zurückgewonnene FCKW können in Abhängigkeit vom Reinheitsgrad wiederaufgearbeitet werden.
Hierfür stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung. Da besonders bei der Rückgewinnung von FCKW aus Schaumstoffen zum Teil hohe Emissionen auftreten, ist die direkte Verbrennung von Schaumstoffen einschließlich Treibmitteln der zu bevorzugende Entsorgungsweg. Dies bedeutet, daß bei diesem Verfahren keine als Treibmittel in Schaumstoffen verwendete FCKW zurückgewonnen werden.
Aus Kälte- und Klimaanlagen zurückgewonnene FCKW werden nach Kenntnis der Bundesregierung einem Vor-Ort-Recycling durch die entsprechenden Fachbetriebe zugeführt. Das gereinigte Kältemittel wird in der Regel anschließend wieder in die gewartete Anlage eingefüllt bzw. bei der Wartung anderer Anlagen eingesetzt. Hinsichtlich des Kältemittels R 12 ist dies noch bis zum 30. Juni 1998 erlaubt. Nach diesem Termin unterliegt das aus Anlagen entfernte R 12 den Sonderabfallbestimmungen des Abfallgesetzes.
Entsorgte FCKW-Mengen werden derzeit statistisch noch nicht erfaßt. Ab Beginn des Jahres 1997 schreibt das novellierte Umweltstatistikgesetz eine Berichtspflicht vor. Abschätzungen sind auf Grund der vorgenannten unterschiedlichen Entsorgungsoder Recyclingwege bisher nicht möglich.
Von der Hoechst AG wurden im Jahre 1994 ca. 400 Tonnen FCKW zurückgenommen. Hiervon wurden ca. 100 Tonnen wiederaufgearbeitet und die übrige Menge in der Spaltanlage der Firma zerstört. Weitere Daten liegen der Bundesregierung nicht vor.
Eine Klärung dieser Frage könnte nur über die in der Zuständigkeit der Länder liegende Auswertung der Aufzeichnungen der Hersteller und Betreiber nach § 8 Abs. 4 der FCKW-Halon-Verbots-Verordnung erfolgen. Mögliche Differenzen zwischen Einsatzmengen und entsorgten Mengen ozonschichtschädigender Stoffe können aus den vorgenannten Gründen nicht quantifiziert werden.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, trotz Ihrer Ausführungen muß gesagt werden, daß es Zahlen gibt. Nach Schätzungen sind jedes Jahr etwa 2500 Tonnen teilhalogenierte oder vollhalogenierte FCKWs zu entsorgen. Wenn wie 1992 nur etwa 600 Tonnen zurückgenommen werden, liegt es dann nicht nahe, daß der Rest entweder ins Ausland exportiert oder durch ein ungeordnetes Ablassen ozonschädlich beseitigt worden ist?
Herr Abgeordneter, ich kann mich an solchen Spekulationen und Vermutungen nicht beteiligen.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Wie kann erklärt werden, daß eigentlich bis Ende 1993 alles Halon aus den Feuerlöschgeräten und -anlagen hätte entsorgt werden müssen, von den geschätzten 6 000 Tonnen Halon aber nach Berichten von 1994 nur etwa 1 000 Tonnen zurückgegeben wurden, so daß der Verbleib von etwa 4 500 Tonnen Halon ungeklärt ist, selbst wenn man berücksichtigt, daß für 500 Tonnen Ausnahmegenehmigungen vorgelegen haben?
Herr Abgeordneter, ich habe in meiner Antwort auf Ihre eingereichte Frage versucht deutlich zu machen, warum wir derzeit keine Einzelauskünfte im Zusammenhang mit hier möglicherweise fehlenden Mengen haben und bekommen können. Wir werden gerne noch einmal dieser Frage nachgehen. Aber auf Grund der Ausgangslage kann ich Ihnen heute keine andere Auskunft geben.
Ich rufe die Frage 47 des Kollegen Kubatschka auf:
Erwägt die Bundesregierung, bei einer möglichen zukünftigen Novellierung der FCKW-Halon-Verbots-Verordnung eine Pfandpflicht für ozonschädliche Produkte einzuführen, wie dies vom Rat von Sachverständigen für Umweltfragen schon 1990 vorgeschlagen worden ist, oder sollte die Rückgabemenge besser durch die Einführung einer Rückgabepflicht gesteigert werden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Herr Kollege Kubatschka, die Bundesregierung sieht in der nachträglichen Einführung einer Pfandpflicht keinen Beitrag zur Lösung der Problematik. Die Verwendung von FCKW und Halonen ist nur noch auf Grund von zum Teil auslaufenden Bestandsschutzregelungen oder befristeten Ausnahmeregelungen in Produkten erlaubt, die in der Regel bereits vor mehreren Jahren hergestellt wurden.
Eine Pflicht zur Rückgabe der zu entsorgenden Stoffe ergibt sich mittelbar bereits aus den bestehenden Regelungen des § 8 Abs. 1 der FCKW-HalonVerbots-Verordnung. Danach ist es unter anderem verboten, bei Instandhaltungsarbeiten und bei der Außerbetriebnahme von Erzeugnissen, die Kälteoder Löschmittel enthalten, diese Stoffe in die Atmosphäre entweichen zu lassen. Das impliziert eine Rückgabe an den zur Rücknahme nach § 8 Abs. 2 der Verordnung verpflichteten Betreiber. Der Verstoß gegen diese Pflicht ist bußgeldbewehrt. Auch hier obliegt die Überwachung den Ländern.
Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, die FCKW-Halon-VerbotsVerordnung zu ändern.
Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hätte die Einführung einer Rückgabepflicht nicht gegenüber einer Pfandpflicht den Vorteil, daß damit auch die Rückführung eines großen Teils der Altstoffe veranlaßt werden könnte?
Herr Kollege, wir sehen diesen Vorteil nicht. Ich habe ja im Gesamtzusammenhang auf die befristeten Regelungen hingewiesen. Die Einbringung einer solchen Frage würde zu erheblichen Diskussionen und dann zu Regelungen führen, die der Praxis letzten Endes doch nicht gerecht werden.
Im übrigen weise ich noch einmal darauf hin, daß die Länder, die aus ihrer Sicht verständlicherweise immer sehr auf die Kompetenz beim Vollzug pochen, mit diesen Fragen hautnah befaßt sind. Wenn die Länder der Meinung sind, sie hätten in ihrem Bereich Regelungslücken, dann sind sie in der Lage, diese Regelungslücken zu schließen, der Bund ist dafür jedenfalls nicht verantwortlich.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 48 der Kollegin Gila Altmann auf:
Ist die Bundesregierung bereit, eine selbstverpflichtende Erklärung abzugeben, daß in das Zwischenlager Nord nur radioaktive Abfälle aus den stillgelegten Atomkraftwerken in Lubmin und Rheinsberg eingelagert werden, und wenn nein, warum nicht?
Bitte sehr.
Herr Präsident! Frau Kollegin Altmann, die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, Investitions-und Betriebskosten für das Zwischenlager Nord zu übernehmen und die Entsorgung der abgeschalteten Kernkraftwerke Lubmin/Greifswald und Rheinsberg zu gewährleisten. Die Kapazität des Zwischenlagers Nord ist demzufolge auf die bei der Stillegung dieser Kernkraftwerke anfallenden radioaktiven Reststoffe ausgelegt. Es besteht daher für die Bundesregierung oder einzelne Ressorts kein Anlaß, eine Selbstverpflichtung zum Ausschluß der Einlagerung überregionaler radioaktiver Abfälle einzugehen.
Ich weise außerdem auf die Antwort auf die schriftliche Frage des Kollegen Tilo Braune vom 22. März 1996 hin.
Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich dann die Widersprüche, die im Anhörungsverfahren aufgetaucht sind, nämlich daß es im Genehmigungsantrag tatsächlich nur um die Abfälle von Rheinsberg und Greifswald geht, während im Sicherheitsbericht auch auf andere Abfälle Bezug genommen wird?
Eine Anhörung dient ja auch dazu, auf Widersprüche hinzuweisen. Das muß dann bearbeitet werden. Mir sind solche Widersprüche, wie Sie sie darstellen, nicht bewußt. Von daher sehe ich auch keine Notwendigkeit, darauf hier im einzelnen einzugehen.
Zweite Frage.
Herr Staatssekretär, es ist schade, daß Sie nicht vor Ort gewesen sind.
Meine zweite Frage lautet: Welche Absicherung veranlaßt die Bundesregierung, um zu garantieren, daß nach einer Privatisierung der Investor ausschließlich Abfälle aus Greifswald und Rheinsberg einlagert?
Wenn ich das richtig sehe, Frau Kollegin, steht diese Frage im Zusammenhang mit der Frage 50 von Frau Schönberger. Wenn nicht, bitte ich Sie, die Frage zu wiederholen, damit mir der Unterschied deutlicher wird.
Es geht mir um die Verpflichtung nach einer Privatisierung. Das heißt: Durch welche Absicherung garantiert die Bundesregierung, daß dann wirklich nur Abfälle aus Greifswald und Rheinsberg eingelagert werden?
Die Überlegungen in diesem Zusammenhang sind überhaupt noch nicht abgeschlossen. Das wird ein Punkt sein, den wir im Zusammenhang mit diesem Thema zu klären haben. Ich werde Ihnen bei Verhandlungen, deren Ergebnisse noch ausstehen, dazu nichts vorab sagen können.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lippelt.
Herr Staatssekretär, wenn ich meine Kollegin Altmann recht verstanden habe, hat sie auf einen Widerspruch hingewiesen, der nicht im Erörterungstermin aufgetreten ist, sondern sich im Gegensatz zu Ihren Worten schon im Sicherheitsbericht befindet.
Ist es nicht Aufgabe der Vertreter Ihres Ministeriums, den Sicherheitsbericht früher zu lesen, solche Widersprüche zu entdecken und den zuständigen Herrn Staatssekretär davon zu unterrichten? Es ist doch, wenn ich das recht verstanden habe, kein Widerspruch, der erst im Erörterungsverfahren auftrat.
Herr Kollege Lippelt, Sie haben in präziser Weise beschrieben, was jeweils auch gemacht wird. Bei uns sind nur andere Konsequenzen gezogen worden, als Sie sie dargestellt haben. Von daher gibt es hier eine unterschiedliche Beurteilung in der Sache.
Frau Kollegin Schönberger.
Herr Staatssekretär, Sie haben zwar recht, als Sie sagten, man müsse in einer öffentlichen Erörterung im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens Widersprüche aufzeigen. Aber der Widerspruch, daß ein Genehmigungsantrag zu den abgebrannten Brennelementen aus Rheinsberg und Greifswald gestellt wird und daß auf der anderen Seite der Sicherheitsbericht auch die Einlagerung von Glaskokillen berücksichtigt, führt dazu, daß eines Tages der Betreiber der Anlage - ob jetzt die ZLN GmbH privatisiert ist oder nicht - die Möglichkeit hat, diese Widersprüche zu nutzen, und sagen kann: Diese Anlage ist auch für andere Stoffe ausgelegt.
Dazu kann es natürlich schon kommen - Sie wissen, wie die Verhältnisse im Zwischenlagerbereich bei hochradioaktiven Abfällen sind -, zumal uns bekannt ist - da sind Ihre Ausführungen nicht ganz richtig -, daß die Anlage im Zusammenhang mit den abgebrannten Brennelementen größer als nur für die Abfälle aus Greifswald und Rheinsberg dimensioniert ist. Dazu kann es schon kommen.
Die Frage ist schon: Was tut die Bundesregierung, um auszuschließen, daß in diesem Zwischenlager auch abgebrannte Brennelemente oder Glaskokillen aus anderen Reaktoren als Rheinsberg und Greifswald eingelagert werden?
Frau Kollegin, ich weise zunächst noch einmal darauf hin, daß die Kapazität des Zwischenlagers Nord auf die bei der Stillegung der beiden Kernkraftwerke anfallenden radioaktiven Reststoffe ausgelegt ist, nicht auf mehr, wie Sie jetzt unterstellt haben. Ich habe betont, daß ich das wiederholt habe. - Das ist Punkt eins.
Punkt zwei ist, daß die Bundesregierung die Verträge über die Privatisierung diskutiert und hier die Dinge noch lange nicht ausgehandelt sind. Wir werden in diesem Zusammenhang alle möglichen Aspekte zu berücksichtigen haben.
Ich gebe nur einen kleinen Hinweis: Wir rechnen damit, daß es nach dem Jahr 2000 mit Sicherheit eher eine größere Zwischenlagerkapazität zur Nutzung gibt, als das heute der Fall ist.
Frau Kollegin Lemke.
Nach Aussagen des Betreibers sind die Kapazitäten im Zwischenlager Nord aber höher als das, was bei der Demontage anfallen wird und zur Einlagerung vorgesehen ist, so daß sehr wohl die Befürchtung besteht, daß auch andere Abfälle eingelagert werden könnten. Es sind mehr Stellplätze vorhanden, als für die eigenen Abfälle benötigt werden.
Frau Kollegin, ich kann nur noch einmal sagen, was mir zu dieser Frage, zu der es ja eine Prüfung im Hause gegeben hat, die Fachbeamten hinsichtlich der Kapazität versichert haben. Ich habe das nicht vor Ort nachgeprüft und könnte das auch gar nicht. Ich muß mich schon auf die Experten verlassen.
Ich rufe die Frage 49 der Kollegin Altmann auf:
Warum wird am Zwischenlager Nord keine heiße Zelle errichtet, und wo werden die später eingelagerten Brennelemente dann neu verpackt, falls es zu größeren Undichtigkeiten der Lagerbehälter kommt?
Frau Kollegin Altmann, nach dem nunmehr vorgesehenen - und im übrigen für das Zwischenlager Gorleben bereits genehmigten - Reparaturkonzept ist eine heiße Zelle nicht mehr erforderlich. Das Reparaturkonzept für undichte Zwischenlagerbehälter sieht vor, bei einem Leck im Primärdeckelsystem einen zusätzlichen sogenannten Fügedeckel vor Ort auf den Zwischenlagerbehälter aufzuschweißen. Bei einer Undichtigkeit im Sekundärdeckelsystem wird der Sekundärdeckel ausgetauscht. Für diese Reparaturen wird keine heiße Zelle benötigt.
Ihre Zusatzfrage.
Was ist, wenn das, was Sie beschrieben haben, nicht ausreicht? Wie und von wem soll das dann ausgeführt werden?
Ich habe Ihnen die zwei möglichen Fälle beschrieben, die eintreten können, nämlich daß der innere Deckel oder der äußere Deckel undicht wird. Ich habe Ihnen für beide Fälle gesagt, was wir an Reparaturmaßnahmen vorsehen. Ich habe im übrigen darauf hingewiesen, daß genau diese Art der Reparatur im Zusammenhang mit dem Zwischenlager Gorleben als genehmigtes Reparaturkonzept vorhanden ist. Wir beabsichtigen, dies in Lubmin genauso zu machen. Deswegen brauchen wir keine heiße Zelle.
Zweite Zusatzfrage.
Warum gibt es dann in Gorleben eine heiße Zelle? Wie bewerten Sie den Umstand, daß sich gerade auf Grund der Temperaturentwicklung oft Versprödungserscheinungen zeigen, die vorher gar nicht so sichtbar sind? Woher nehmen Sie die Sicherheit, nur auf diese beiden Möglichkeiten zu verweisen?
Frau Abgeordnete, wir haben im Konzept für Gorleben eine Pilotkonditionierungsanlage vorgesehen. Das ist etwas anderes als eine heiße Zelle.
Frau Schönberger.
Herr Hirche, ich will jetzt keine Gorleben-Diskussion anfangen, sonst weist mich der Vizepräsident darauf hin, daß ich das nicht darf.
Ja, das ahnen Sie richtig.
Es ist ja ein Vergleich: Wie wird mit dem Zwischenlager Nord in Greifswald umgegangen und wie mit dem in Gorleben? Da möchte ich Sie doch noch einmal fragen: Habe ich Sie richtig verstanden, daß das, was in der Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben, wo die Genehmigung inzwischen eigentlich schon anders ist als im ursprünglichen Konzept und es genau darum geht, eine heiße Zelle, was auch in Stellungnahmen steht, wenn es um Gorleben geht, wenn es um die Frage geht, was dann passiert, immer gesagt wird, wir hätten dann die heiße Zelle - -
Frau Kollegin, ich muß Sie bitten, sich darauf zu beschränken, eine Zusatzfrage zu der eingebrachten Frage zu stellen, und nicht den Versuch zu unternehmen, nun zum zweitenmal eine Gorleben-Debatte zu beginnen.
Stellen Sie bitte eine Zusatzfrage; sonst muß ich Ihnen das Wort nehmen.
Die Zusatzfrage ist, warum das, was in Gorleben gemacht wird, in Greifswald nicht gemacht wird. Wo liegt da der Sicherheitsunterschied?
Frau Kollegin, ich habe in meiner ersten Antwort auf die Frage 49 der Kollegin Altmann aus-
Parl. Staatssekretär Walter Hirche
geführt, daß nach dem nunmehr vorgesehenen und für das Zwischenlager Gorleben bereits genehmigten Reparaturkonzept eine heiße Zelle nicht mehr erforderlich ist. Das heißt, ich habe für das Zwischenlager in Lubmin und für das Zwischenlager in Gorleben eine gemeinsame Aussage gemacht.
Damit rufe ich die Frage 50 der Abgeordneten Schönberger auf:
Wie weit ist der Stand der Privatisierung der Energiewerke Nord GmbH bzw. der Zwischenlager Nord GmbH, und welche Auswirkungen könnte eine erfolgreiche Privatisierung auf die Einlagerung von Atommüll auch aus anderen Atomkraftwerken als Lubmin oder Rheinsberg in das Zwischenlager Nord haben?
Herr Präsident! Frau Kollegin Schönberger, die Überlegungen, ob durch eine Beteiligung Dritter oder eine weitergehende Privatisierung der Energiewerke Nord GmbH bzw. der Zwischenlager Nord GmbH die Stillegung und Entsorgung der Kernkraftwerke kostengünstiger gestaltet werden kann, sind nicht abgeschlossen.
Die Bundesregierung läßt derzeit das Stillegungskonzept der Energiewerke Nord GmbH auf technische und wirtschaftliche Optimierungsmöglichkeiten überprüfen. Erst nach Vorliegen der Ergebnisse dieses Gutachtens wird zu entscheiden sein, ob und in welchem Umfang eine Beteiligung Dritter in Betracht kommt. Diese Überlegungen haben keinen Einfluß auf die Einlagerung von radioaktiven Abfällen aus anderen Kernkraftwerken.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie stimmen mir sicherlich zu, daß es einen Unterschied macht, ob eine Anlage privat betrieben wird oder aus Mitteln des Staates. Nun wissen wir, daß der Staat immer versucht, für seine Anlagen Refinanzierungen zu bekommen. Nichtsdestotrotz ist natürlich ein privater Betreiber in ganz anderer Art und Weise auf Gewinnmaximierung ausgelegt.
Ich möchte Ihre Antwort auf die vorherige Frage mit einbeziehen. Wenn es keine Selbstbindung der Bundesregierung gibt, wenn es die Widersprüche in den Unterlagen gibt, wieso kommen Sie dann zu der Aussage, daß ausgeschlossen ist, daß es irgendwelche Auswirkungen auf die Einlagerungen von Atommüll ins Zwischenlager Nord haben könnte?
Frau Kollegin, ich stimme Ihrer Eingangsthese nur sehr bedingt zu. Die Sicherheitsstandards, um die es geht, die gesetzlichen Auflagen sind völlig die gleichen, ob es sich um private oder staatliche Stellen handelt. Es kann da kein Unterschied gemacht werden.
Im übrigen ist es so, daß unser auf die Privatwirtschaft gerichtetes Gesellschaftssystem hinsichtlich
Sicherheitsvorkehrungen sehr viel bessere Ergebnisse hat als das rein auf Staatswirtschaft zielende System, das wir in der Vergangenheit in Mittel- und Osteuropa hatten. Ich sehe also auf Grund der Tatsache, daß etwas privat vorgenommen wird, in keiner Weise die Gefahr, daß die Sicherheitsbestimmungen laxer wären. Die Gesetze gelten für alle. In der Regel führt sogar das Mißtrauen Privaten gegenüber dazu, daß dort die Kontrollen intensiver stattfinden als im staatlichen Bereich selbst.
Wenn ich das festhalte, will ich trotzdem noch einmal sagen: Es ist nichts entschieden. Es wird geprüft. Es liegen noch nicht einmal die entsprechenden Gutachten vor. Deswegen werden wir die Fragen, die Sie gestellt haben, heute im Hinblick auf irgendeine hypothetische Situation nicht beantworten können, sondern erst dann, wenn die Fakten auf dem Tisch liegen.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, es gibt aber doch einen Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Betreiber. Wenn es der Bundesregierung darum geht - was sie in der Öffentlichkeit immer sagt; das ist damit politisch überprüfbar -, tatsächlich nur den Müll aus Greifswald und Rheinsberg in das Zwischenlager einzulagern, dann kann die der öffentlichen Hand unterstehende Gesellschaft darauf verzichten, freistehende Stellplätze zu verkaufen.
Ein privater Betreiber, der auf Widersprüche in den Genehmigungsunterlagen zurückgreifen kann, kann ein betriebswirtschaftliches Interesse haben - ich frage Sie, ob Sie darin nicht einen Unterschied sehen -, freistehende Stellplatzkapazitäten zu verkaufen. Das würde doch jeder private Unternehmer machen: Ich habe eine freie Kapazität, die kann ich anbieten am Markt, und unter Umständen gibt es Abfallanlieferer, die diese gerne haben möchten.
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich eine Frage stellen. Wir führen hier keine Debatte. Es ist mit Ihnen wirklich schwierig, das muß ich sagen. Stellen Sie Ihre Frage. Wir haben hier keine Aktuelle Stunde zu dem Thema.
Meine Frage lautet: Wieso sehen Sie darin keinen Unterschied?
Frau Kollegin, wenn ich Ihre Ausführungen von vorhin in die Frage einbeziehe, dann stelle ich zunächst einmal fest, daß Sie den Privaten mehr wirtschaftliche Vernunft beim Handeln unterstellen als dem Staat - eine interessante Bemerkung. Was Sie erfragen wollen, ist ein Teil dessen, was durch Gutachten und Entscheidungen noch geklärt werden muß. Deswegen werde ich - es tut mir leid - auch beim fünften Nachfragen heute nicht mehr sagen
Parl. Staatssekretär Walter Hirche
können. Das ist keine Unhöflichkeit, sondern die Dinge sind im einzelnen noch nicht geklärt und noch nicht im Entscheidungsprozeß abgewogen.
Zusatzfrage, Frau Altmann.
Zur Illustration möchte ich gerne als Vergleich die Diskussion um Schönebeck anführen. Im Verkehrsausschuß wurde uns zu dem Problem von Sicherheitsstandards und Geschäft gesagt, daß die Aufsichtsbehörde keinen Einfluß auf die unternehmerische Tätigkeit sondern lediglich auf den Sicherheitsstandard nimmt. Würde ähnliches, also daß die Bundesregierung als Aufsichtsbehörde nur den Sicherheitsstandard überprüft, nicht aber - weil es ein Eingriff in die unternehmerische Tätigkeit wäre -, woher der Atommüll letztendlich kommt, nicht auch für das Zwischenlager Nord gelten oder ist das eine andere Situation?
Frau Kollegin, wir haben für viele Bereiche unterschiedliche gesetzliche Regelungen. Wenn ich mich an das Schönebeck-Thema richtig erinnere, so kamen sogar aus Ihrer Fraktion mehrere Fragen dahin gehend, warum die Schiene anders behandelt wird als die Straße. Schon dabei stellt man also unterschiedliche Regelwerke und Auflagen fest. Es ist ganz selbstverständlich - wir diskutieren doch nicht umsonst über atomrechtliche Sicherheitsfragen ganz anders als über verschiedene andere Fragen -, daß es hier ein spezialisiertes, sehr der öffentlichen Kontrolle und Überprüfung unterliegendes Sonderregelwerk gibt.
Dann rufe ich die Frage 51 der Abgeordneten Schönberger auf:
Liegen dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit neuere Untersuchungen über geologische Störungen unterhalb des Ortes Lubmin vor?
Herr Präsident! Frau Kollegin Schönberger, neuere geologische Untersuchungen im Rahmen des Genehmigungsverfahrens für das Zwischenlager Nord haben kleinere, unbedeutende geologische Störungen unterhalb des Ortes Lubmin ergeben, die keinerlei Auswirkungen auf die Festlegung des Bemessungserdbebens haben. Die Prüfungen der Genehmigungsbehörde - BfS - in dem Verfahren nach § 6 des Atomgesetzes sind allerdings noch nicht abgeschlossen.
Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wo und vor allem wann - Sie sagten, es gibt neuere - wurden die Bohrungen
unterhalb des jetzt im Bau befindlichen Zwischenlagers vorgenommen?
Frau Kollegin, das kann ich Ihnen nicht aus dem Stegreif beantworten. Das müßte ich schriftlich nachreichen.
Keine weitere Zusatzfrage? - Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereiches. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen.
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Staatsminister Bernd Schmidbauer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 52 des Abgeordneten Dr. Peter Struck auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß im Bundeskanzleramt eine Koordinierungsgruppe eingerichtet worden ist, die sich mit der Rückführung von Vermögenswerten der ehemaligen DDR aus dem Ausland beschäftigt, und hat die Tätigkeit dieser Koordinierungsgruppe bereits zu Ergebnissen geführt?
Herr Kollege Dr. Struck, im Bundeskanzleramt finden in regelmäßigen Abständen Staatssekretärsbesprechungen zum Stand der Rückführung ehemaliger DDR-Gelder statt. An diesen Besprechungen nehmen Vertreter aller in ihren Zuständigkeiten berührten Behörden teil. Sie dienen dem Informationsaustausch und der Abstimmung des weiteren Vorgehens der beteiligten Stellen. Diese Besprechungen im Bundeskanzleramt haben an den Zuständigkeiten und an der Aufgabenverteilung innerhalb der Bundesregierung nichts geändert.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, könnten Sie mir näher erklären, ob in diesen Besprechungen eine besondere Arbeitsgruppe auf Beamtenebene eingerichtet worden ist, die beispielsweise unter Beteiligung der Berliner Justizbehörden, insbesondere der Berliner Staatsanwaltschaft, prüft, welche Vermögenswerte zu erlangen sind, und können Sie mir weiter sagen, ob es in dieser Runde einen speziell beauftragten Beamten oder Mitarbeiter gibt, der sich nur um möglicherweise im Ausland befindliches ehemaliges DDR-Vermögen kümmert?
Ich kann Ihnen bestätigen, daß es Untergruppen gibt, die in ihren Zuständigkeiten schon lange Zeit arbeiten, und daß die Arbeit der Untergruppen mit dem Ziel intensiviert wurde, DDR-Vermögen auch im Ausland aufzuspüren, zurückzuführen und sicherzustellen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, könnten Sie mir die Frage beantworten, ob die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe oder der Beamtenbesprechungen auch anderen Institutionen zugänglich gemacht werden, die nicht Mitglieder der Bundesregierung oder von Landesregierungen sind, beispielsweise parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, unter anderem auch dem des Bundestages?
Herr Kollege Dr. Struck, ich kann Ihnen versichern, daß ich, wenn die Notwendigkeit besteht, anderen diese Information zu geben, die zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen, dafür sorgen will und möchte, daß die Information dort hinfließt, wo dies ebenfalls untersucht wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Beucher.
Herr Staatsminister, können Sie uns sagen, seit wann diese Arbeitsgruppe eingerichtet ist?
Meines Wissens hat im Februar dieses Jahres die Intensivierung dieser Koordination stattgefunden. Ich will mich nicht festlegen; aber dies war etwa in diesem Zeitraum. Darüber hinaus gab es immer Besprechungen im Rahmen dieses Sachkomplexes. Die Intensivierung aber hat Anfang dieses Jahres stattgefunden.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Neumann.
Welche Gründe hatte es, daß im Februar 1996 eine Intensivierung stattgefunden hat?
Eigentlich gibt es keinen direkten Anlaß. Angesichts dessen, daß Verjährung stattfinden kann, daß bestimmte Dinge durch übliches Vorgehen nicht aufzuklären waren, haben wir uns aber entschlossen, hier noch einmal den ganzen Sachverstand zu bündeln, um zu sehen, welche Einzelmaßnahmen ab diesem Zeitpunkt vorzunehmen sind, um sicherzustellen, daß wir an die verschwundenen Vermögen der ehemaligen DDR kommen können. Dies war in vielen Fällen, wie Sie selbst wissen, nicht sehr einfach und ist auch in Zukunft nicht sehr einfach.
Dann rufe ich die Frage 53 des Abgeordneten Struck auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die im Bundeskanzleramt eingerichtete Koordinierungsgruppe auch prüft, inwieweit die ehemalige DDR an den in Athen ansässigen Firmen Integra und Intracom beteiligt gewesen ist, und welche Maßnahmen wurden bisher
zur Sicherstellung der entsprechenden Vermögenswerte eingeleitet?
Herr Kollege Struck, die regelmäßig stattfindenden Staatssekretärsbesprechungen dienen dem Informationsaustausch und der Unterrichtung der - wie ich gesagt habe - beteiligten Stellen. Die für die Ermittlung zuständigen Stellen gehen allen Hinweisen und Ansätzen nach, die zur Auffindung bzw. Sicherstellung ehemaligen DDR-Vermögens führen können. Dies gilt auch für den von Ihnen angeführten Fall.
Herr Kollege Struck.
Herr Staatsminister, diese Antwort ist mir - mit Verlaub gesagt - etwas zu unkonkret. Ich frage deshalb noch einmal nach: Gibt es Erkenntnisse der Bundesregierung oder anderer Stellen, die den Bericht der „Berliner Zeitung" bestätigen können, daß die hier genannten Firmen auch mit ehemaligem DDR-Vermögen arbeiten?
Herr Kollege Struck, im Hinblick auf die laufenden Verfahren kann ich meines Erachtens hier öffentlich keine näheren Angaben machen. Ich sagte Ihnen vorhin in meiner Antwort auf Ihre Frage Nr. 53, daß dies auch für den von Ihnen angeführten Fall gilt, daß wir diesem Hinweis nachgehen, daß eine Bündelung allen Sachverstandes der damit befaßten Behörden vorgenommen wird und daß ich davon ausgehe, daß in diesem Fall sehr konkret diesen Dingen nachgegangen wird.
Eine zweite Zusatzfrage.
In dem Bewußtsein, daß es sich um einen sensiblen Vorgang handelt, frage ich sehr vorsichtig: Herr Staatsminister, sind Sie denn der Auffassung, daß es, wenn sich dieser Verdacht bestätigen sollte - was man im Augenblick wohl noch nicht sagen kann -, die Möglichkeit gibt, ehemalige Vermögenswerte der DDR in das Bundesvermögen zurückzuführen?
Herr Kollege Struck, ich bin sehr vorsichtig und will für den Fall, daß sich herausstellt, daß diese Verschiebung stattgefunden hat, sagen, daß ich es nicht als leicht empfinde, daß wir hier zu konkreten Ergebnissen kommen. Um aber unter Umständen sicherzustellen, daß wir konkrete Ergebnisse haben, laufen in all diesen Fällen entsprechende Ermittlungen der zuständigen Behörden.
Zusatzfrage des Kollegen Beucher.
Herr Staatsminister, können Sie mir erklären, inwieweit Gefahr für die Ermittlungen in der Bundesrepublik Deutschland besteht, wenn der gesamte Vorgang tagtäglich in griechischen Zeitungen steht, in griechischen Fernsehsendungen erörtert wird und uns natürlich über Übersetzungen dann auch zugänglich gemacht wird?
Herr Kollege Beucher, ich will in diesem Zusammenhang einmal darauf hinweisen, daß die in der „Berliner Zeitung" vom 4. Juni 1996 getroffenen Aussagen - auch von Ihnen -, daß die Arbeit blokkiert würde, nicht zutreffen. Ich will in diesem Zusammenhang weiterhin sagen, daß die dort gemachten Äußerungen, die Ihnen unterstellt werden, so nicht zutreffen. Ich will zudem, weil ich das im Hinblick auf die Arbeit im Untersuchungsausschuß für nützlich halte, erklären, daß es die angesprochenen Gespräche nicht gegeben hat.
Ich empfehle, beim Protokoll nachzufragen, wer an den entsprechenden Beisetzungsfeierlichkeiten teilgenommen hat. Das war nicht der Ministerpräsident, von dem hier die Rede war. Gehen Sie davon aus, daß diese Äußerungen falsch sind.
Herr Kollege Neumann, haben Sie noch eine Frage zu diesem Komplex? - Bitte schön.
Ich möchte zunächst zugestehen, daß es richtig ist, daß man keine Ermittlungen gefährden soll, wenn diese zur Rückführung von Vermögenswerten führen können, die letztlich uns allen zugute kommt.
Meine Frage: Sind von der Bundesregierung oder nachgeordneten Behörden Dokumente, von denen wir heute in griechischen Tageszeitungen lesen, offiziell an griechische Behörden weitergegeben worden?
Das kann ich nicht beantworten, Herr Kollege. Ich kann mir das zwar im Anschluß an die Fragestunde ansehen und dann Ihre Frage beantworten, gehe aber davon aus, daß die nachgeordneten Behörden des Bundes Kenntnisse über die Artikel in griechischen Zeitungen haben. Ich gehe weiter davon aus, daß diese Kenntnisse unter Umständen nicht mit denen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland identisch sind.
Sie können aber darin sicher sein, daß wir uns bemühen, letztendlich das zu tun, was gerechtfertigt ist, nämlich diese Vermögenswerte, sollten sie verschoben worden sein, sicherzustellen. Ich glaube, daß wir hier gemeinsam an einer Sache arbeiten.
Ich rufe die Frage 54 der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga auf:
Wurden im Bundeskanzleramt oder in nachgeordneten Behörden der Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt nach dem
3. Oktober 1990 mit griechischen Regierungs- oder Behördenvertretern Gespräche über die Besitzverhältnisse der in Athen ansässigen Firmen Integra und Intracom geführt, und haben sich aus diesen Gesprächen Erkenntnisse ergeben, daß es sich hierbei um Firmen handeln könnte, die im Auftrag oder mit Kapital der ehemaligen DDR gegründet worden sind?
Bitte schön.
Frau Kollegin Lucyga, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich über Regierungskontakte im Zusammenhang mit der Rückführung ehemaligen DDR-Vermögens wegen des grundsätzlich vertraulichen Charakters keine Auskunft geben kann.
Wie ich aber schon im Zusammenhang mit Frage 53 erläutert habe, gehen die zuständigen Stellen seit der deutschen Vereinigung laufend allen Hinweisen nach, die die Rückführung verschobener DDR-Gelder betreffen, und tauschen ihre Erkenntnisse untereinander aus - dies übrigens mit einem Erfolg in ansehnlicher Größe. Diese Erkenntnisse werden gegebenenfalls den Strafverfolgungsbehörden zugeleitet bzw. dienen als Grundlage für die Sicherstellung verschobener Vermögenswerte. Über den Inhalt dieser Erkenntnisse möchte ich nichts mitteilen, um laufende Verfahren nicht zu gefährden.
Vorhin habe ich in bezug auf eine Zusatzfrage des Kollegen Julius Beucher bereits die „Berliner Zeitung" angesprochen und darauf hingewiesen, daß die dort abgedruckte Darstellung falsch ist.
Zusatzfrage.
Ich habe natürlich Verständnis dafür, daß einige der Nachfragen vertrauliche Dinge berühren. Dennoch wüßte ich gern: Gibt es im Falle der beiden genannten Firmen eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und griechischen Ermittlungsbehörden?
Sie können davon ausgehen, daß wir alle Chancen der Zusammenarbeit mit anderen Behörden der Partner, insbesondere innerhalb der EU, nutzen - so auch in diesem Zusammenhang -, wenn sich herausstellt, daß es belastbare Erkenntnisse gibt. Dies ist auch in anderen Fällen so, die Sie in diesem Zusammenhang kennen.
Noch eine Zusatzfrage.
Eine weitere Frage: Seit wann sind der Bundesregierung die Aktivitäten und die über die DAB abgewickelten finanziellen Transaktionen der Intracom bekannt?
Zweitens: Darf ich Ihre vorherige Antwort so werten, daß die Ermittlungsbehörden erst dann zusammenarbeiten werden, wenn sich belastbare Erkenntnisse ergeben?
Von letzterem können Sie nicht ausgehen. Ich unterstelle, daß die Zusammenarbeit ständig stattfindet, auch in diesem Zusammenhang.
Zu Ihrer ersten Frage, zu welchem Zeitpunkt welche Behörden Kenntnisse hatten, kann ich, ohne daß ich bei all diesen Behörden recherchieren lasse, verantwortlich nichts aussagen. Deshalb will ich darauf nicht antworten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Beucher.
Wir haben im Untersuchungsausschuß bisher dieser Tatsache Rechnung getragen und auf Akten verzichtet, um Ermittlungen nicht zu gefährden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie kann es sein, daß heute, sechs Jahre nach der Wiedervereinigung, für im Zusammenhang mit der Vereinigung begangene Straftaten noch immer Verdunklungsgefahr bestehen kann?
Ihre Kenntnisse, die Sie im Untersuchungsausschuß gewonnen haben, und meine Kenntnisse werden den gleichen Inhalt haben, nämlich daß hier mit hoher krimineller Energie gearbeitet wurde und nicht mit den üblichen Mitteln, die wir bislang kannten. Es ist deshalb meines Erachtens äußerst schwierig, hinter all diese Manipulationen zu schauen und dann zu entsprechenden Ergebnissen zu kommen.
Ich habe Ihnen aber eingangs gesagt, daß wir kein Interesse daran haben, die Arbeit zu behindern, im Gegenteil. Wir sind daran interessiert, die Arbeit zu befördern, und werden alles tun, damit wir die entsprechenden Ergebnisse erzielen. Ich kenne diese im Zusammenhang mit Vermögenswerten ablaufenden Dinge auch aus anderen Ländern und sehe, wie schwierig es ist, das so sorgfältig zu recherchieren, daß man hinterher bei den entsprechenden Verfahren zivilrechtlicher oder strafrechtlicher Natur Erfolg hat.
Im übrigen hatten wir bereits Erfolg, und es sind Gelder sichergestellt worden. Das nur am Rande; das wissen auch Sie.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereiches des Bundeskanzleramtes.
Wir kommen nun zu Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung der Fragen steht Staatsminister Dr. Hoyer zur Verfügung. Die Fragen 55, 56 und 57 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
- Bitte schön?
Ich rufe die Frage 58 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard auf:
Welchen aktuellen Kenntnisstand besitzt die Bundesregierung in bezug auf das Schicksal der in Kaschmir festgehaltenen Geiseln, und welche Maßnahmen plant die Bundesregierung in der Frage der in Kaschmir festgehaltenen Geiseln?
Herr Präsident! Frau Kollegin Leonhard, die Bundesregierung kennt selbstverständlich die Meldungen - sie ist sehr darüber besorgt -, denen zufolge die in Kaschmir entführten Geiseln möglicherweise nicht mehr am Leben sind. Wir gehen selbstverständlich diesen Informationen nach und versuchen, Klarheit zu schaffen.
Diese Meldungen gehen im wesentlichen auf die Aussagen eines mutmaßlichen militanten Oppositionellen zurück, der seit Ende April in Händen der indischen Behörden ist. Kern seiner Aussagen ist die Behauptung, die Geiseln seien seit Mitte Dezember nicht mehr am Leben. Darüber hinaus gab er Hinweise, wo die angeblich Ermordeten vergraben sein sollen. Die indische Regierung hat sich daraufhin zu einer großangelegten Suchaktion in dem von diesem Zeugen bezeichneten Gebiet entschlossen. Sie begann am 3. Juni; sie dauert zur Stunde noch an. Die betroffenen Regierungen, auch wir, unterstützen die Suche personell und materiell. Ich möchte bei dieser Gelegenheit den beteiligten Beamten der Landespolizei Nordrhein-Westfalen und des Bundeskriminalamtes danken.
Alle diese Bemühungen sind bislang ergebnislos geblieben. Daneben gibt es immer wieder auf verschiedenen Kanälen Hinweise, die versichern, die Geiseln lebten doch. Wir versuchen weiterhin zusammen mit den USA, Großbritannien und Norwegen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Geiseln unversehrt freizubekommen. Andererseits gehen wir aber auch den Hinweisen auf den angeblichen Tod der Geiseln nach. Dabei werden alle Möglichkeiten offizieller Kontakte, vor allem zu Regierungen und Organisationen der islamischen Welt, genutzt. Gleichzeitig versuchen wir, wie schon bisher, durch vertrauliche Kanäle Einfluß auf die Geiselnehmer auszuüben.
Mit der leidgeprüften Familie, die nun schon über 11 Monate diese furchtbare Last tragen muß, halten wir engen Kontakt.
Frau Kollegin Leonhard, haben Sie Zusatzfragen?
Herr Staatsminister, da ich aus bilateralen Gesprächen erfahren habe, daß wir uns im Moment in einer hochsensiblen Phase befinden, verzichte ich auf weitere Zusatzfragen.
Vielen Dank.
Ich bedanke mich für das Verständnis.
Ich rufe die Frage 59 der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer auf:
Was hat die Bundesregierung getan, um die Forderung des Deutschen Bundestages nach durchgreifender Verbesserung der Menschenrechtssituation angesichts anhaltender Massaker und sogar Morden an freigewählten Abgeordneten in Burundi umzusetzen?
Frau Kollegin Schwaetzer, die Verbesserung der Menschenrechtslage ist direkt abhängig von dem Erfolg der auf den verschiedensten Ebenen laufenden Vermittlungsbemühungen im Burundi-Konflikt. Die Bundesregierung bemüht sich daher gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Union, durch Hilfestellung für den EU-Beauftragten für die Region der Großen Seen, Aldo Ajello, sowie durch Unterstützung der Vermittlungsbemühungen des tansanischen Ex-Präsidenten Nyerere um eine Deeskalation des Konflikts in Burundi, der von gegenseitigen Vernichtungsängsten der Konfliktparteien geprägt ist. Bei bilateralen Gesprächen mit burundischen Politikern fordert die Bundesregierung von der dortigen Regierung Disziplinierung und ausgewogenere Zusammensetzung der Tutsi-dominierten burundischen Sicherheitskräfte, denen ein bedeutender Teil der Menschenrechtsverletzungen in Burundi zuzurechnen ist. Gleichzeitig mahnt die Bundesregierung immer wieder die Einhaltung der Menschenrechte an, wobei sie dies auch als grundlegendes Erfordernis für die weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit hervorhebt.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Schwaetzer?
Herr Staatsminister, wir wissen sicherlich das Engagement des Auswärtigen Amtes in dieser Frage zu würdigen. Ich möchte Ihnen aber auch noch eine Frage zu den konkreten Auswirkungen und zu den Möglichkeiten, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, für ein wenig Entspannung zu sorgen, stellen. Wie beurteilen Sie Meldungen, daß vor allen Dingen HutuStudierende an Universitäten, die dort keine Chancen mehr auf einen Abschluß ihrer Studien haben und sich darum bemühen, ihre Studien in der Bundesrepublik Deutschland abzuschließen, keine Einreisegenehmigung bekommen, obwohl damit für sie die einzige Möglichkeit, einen neuen Kern einer zukünftigen Führungselite aufzubauen, zerstört wird?
Frau Kollegin Schwaetzer, es tut mir leid, ich muß auch bei dieser Frage bezweifeln, ob der Sachzusammenhang gegeben ist.
Herr Präsident, ich habe nach der Menschenrechtssituation gefragt.
Frau Kollegin, Sie haben danach gefragt, was die Bundesregierung tut, um Morde in Burundi zu verhindern. Ich bitte Sie, sich bei Zusatzfragen an dieses Thema zu halten.
Herr Staatsminister, wenn Sie antworten wollen.
Frau Kollegin, ich würde es bedauern, wenn ich das, was Sie ausgeführt haben, bestätigen müßte. Ich bin gern bereit, der Sache nachzugehen, war mit dieser konkreten Frage aber noch nie befaßt.
Eine zweite Zusatzfrage?
Nein.
Frau Kollegin Eid, bitte schön.
Herr Staatsminister, Sie sagten, Sie stellen Forderungen an das Militär in Burundi. Sie mahnen zur Einhaltung der Menschenrechte. Ein Land wie Burundi kann Forderungen und Mahnungen in der derzeitigen Situation so nicht nachkommen. Die Frage ist: Was tut die Bundesregierung, um die burundische Regierung in die Lage zu versetzen, ihre Forderungen umzusetzen?
Frau Kollegin, Sie haben natürlich vollkommen recht, daß es hierbei um einen sehr viel größeren Zusammenhang geht. Es ist nur die Frage, wie man auf die Situation des Militärs in Burundi Einfluß nehmen, wie ein regionaler Ansatz in dem Gebiet der Großen Seen zustande kommen, wie er umgesetzt werden kann und welche Chance man hat, zu dem Aufbau entsprechender Strukturen in Burundi beizutragen.
Ich sehe da einen Zusammenhang mit der Zusatzfrage, die Frau Kollegin Schwaetzer eben gestellt hat. Das hat durchaus großes Gewicht in einem Land, das durch eine weit fortgeschrittene ethnische Polarisierung, durch eine im Grunde handlungsunfähige burundische Regierung und eine sehr eigenmächtig handelnde Tutsi-dominierte Armee gekennzeichnet ist.
All das und die aktuellen Ereignisse wie die Ermordung der drei schweizerischen IKRK-Mitarbeiter beschreiben die außerordentlich prekäre Situation in Burundi. Deswegen ist mit Einzelaktionen sicherlich nichts zu erreichen. Es ist erforderlich, einen regionalen Ansatz zu wählen. Deshalb unterstützen wir klar die Vermittlungsbemühungen von Präsident Nyerere sowie die Aktionen der Vereinten Nationen, der Organisation für Afrikanische Einheit und der Europäischen Union.
Ichrufe Frage 60 der Abgeordneten Dr. Schwaetzer auf:
Warum hat die Bundesregierung zugelassen, daß statt der ursprünglich zugesagten und von der EU zu finanzierenden 36 Menschenrechtsbeobachter für die Mission des Hochkommissars der Vereinten Nationen für die Menschenrechte in Burundi lediglich fünf entsandt worden sind, und hält die Bundesregierung dies für ausreichend?
Frau Kollegin Schwaetzer, die Bundesregierung hat im Rahmen der EU für die Finanzierung von 35 UN-Menschenrechtsbeobachtern in Burundi plädiert. Die burundische Regierung hat der Entsendung dieser 35 Beobachter nicht zugestimmt und nur fünf akzeptiert. Gegenwärtig befinden sich vier in Bujumbura. Gegen den Willen der burundischen Regierung wird es kaum möglich sein, dort weitere Menschenrechtsbeobachter zu stationieren, wenngleich wir das weiter versuchen werden.
Neben den Menschenrechtsbeobachtern der EU sind auch 67 Beobachter der OAE vor Ort, die schon seit längerer Zeit eine aufopferungsvolle, nützliche Tätigkeit entfalten. Wir unterstützen seitens der Bundesregierung diese OAE-Aktion ebenso wie die weitere Entsendung der Menschenrechtsbeobachter des Hochkommissars.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund dessen, was Sie gerade ausgeführt haben, die Aussage des persönlichen Beauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Burundi, den wir in der vergangenen Woche in Bujumbura treffen konnten, daß für die Stationierung weiterer Menschenrechtsbeobachter in Burundi keinesfalls neue Verhandlungen mit der Regierung in Bujumbura notwendig seien, sondern daß das bisher geschlossene Rahmenabkommen für die Mission des Hochkommissars der Vereinten Nationen für die Menschenrechte in Burundi ausreiche, dort auch ein wesentlich größeres Kontingent zu stationieren?
Diese Information, die Sie in Bujumbura erhalten haben, kontrastiert zu dem, was wir direkt gehört haben. Ich bin gerne bereit, dieser Frage auch im Rahmen der Vereinten Nationen erneut nachzugehen und festzustellen, ob der gegebene Rahmen tatsächlich reicht oder ob das Problem darin liegt, daß die Regierung von Burundi die Ausschöpfung, des gegebenen Rahmens durch eine schlichte Einreiseverweigerung verhindert. Diese Rechtsfrage muß noch geklärt werden.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Gesetzt den Fall, daß die Bundesregierung zu der gleichen Einschätzung kommt wie die, die uns vergangene Woche vorgetragen worden ist und die wir nach Studium des Dokumentes, das die Vereinten Nationen herausgegeben haben, teilen: Würde die Bundesregierung dann mit Nachdruck dafür sorgen, daß nicht nur die bisher schon zugesagten 35 Beobachter entsandt werden, sondern darüber hinaus der Forderung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für die Menschenrechte stattgegeben wird, insgesamt 102 Beobachter nach Burundi zu entsenden - eine Zahl, die allen Beteiligten als Minimumvoraussetzung dafür erscheint, in dem Lande überhaupt in etwa wirken zu können?
Frau Kollegin, Sie kennen das sehr starke Engagement von Bundesaußenminister Kinkel für die Region, für die beiden Länder, und seine Bemühungen, dort in der Situation der Menschenrechte konkrete Fortschritte zu erzielen. Deshalb: Klare Unterstützung sowohl des Hochkommissars als auch der entsprechenden Aktivitäten der Europäischen Union! Unter der Voraussetzung, daß die Annahmen, die wir beide jetzt einmal unterstellt haben, zutreffen, werden wir uns in dieser Richtung bemühen - ohne daß ich mich festlegen kann auf eine bestimmte Anzahl von Beobachtern. Aber eine Steigerung dessen, was bisher möglich gewesen ist, ist auf jeden Fall erforderlich.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, in Burundi wurden uns als Minimum 240 Menschenrechtsbeobachter genannt, nämlich pro Gemeinde zwei. Nun sagten Sie zwar eben, Sie möchten sich hier nicht über Zahlen auslassen. Aber wenn die Fragen zum Rechtsrahmen, die Frau Schwaetzer angesprochen hat, positiv beantwortet werden, würden Sie dann bereit sein, über 240 Menschenrechtsbeobachter nachzudenken und ferner darüber, wie die Sicherheit dieser 240 Menschenrechtsbeobachter gewährleistet werden kann? Denn alleine die Tatsache, in die Gemeinden jeweils zwei Ausländer hinzustellen, genügt ja nicht. Trotzdem halten wir es für wichtig, daß diese 240 Menschenrechtsbeobachter' nach Burundi entsandt werden.
Sehr verehrte Frau Kollegin, Sie haben ja nun selber den Finger in die Wunde gelegt: Mit der schlichten Entscheidung über eine Entsendung von Menschenrechtsbeobachtern ist es nicht getan. Wir haben an dem Fall der Ermordung der Schweizer IKRK-Mitarbeiter gesehen, welchen extremen Risiken diese Personen ausgesetzt sind, selbst bei grundsätzlicher Zustimmung der burundischen Regierung zu deren Arbeit. Deshalb muß man das schon im Zusammenhang sehen.
Ich persönlich verfüge über keine präzise Analyse, auf die ich die Zahl 240 stützen könnte. Dazu müßte ich selber noch im Bereich der Bundesregierung die notwendigen Informationen einholen.
Eine weitere Zusatzfrage hat der Kollege Lippelt.
Herr Staatsminister, glauben Sie, daß das, was Sie eben in Ihrer Antwort gesagt haben, mit Blick auf die Aussage der Hochkommissarin Ogata letzte Woche in Genf - auf die Frage, ob sich der Völkermord in Burundi noch aufhalten lasse -, daß angesichts der wöchentlichen Mordrate von etwa 1 000 Personen und der hohen Flüchtlingsrate alles schon zu spät sei, der Dringlichkeit der Situation entspricht?
Diese Frage ist berechtigt, Kollege Lippelt. Aber wir stellen hier Fragen, die über die bisher diskutierten Optionen weit hinaus gehen. Ich muß feststellen, daß ich den Eintritt in eine militärische Dimension der Konfliktlösung, -verhütung, -entschärfung für ziemlich unrealistisch halte und von daher nicht davon ausgehe, daß wir auf diesem Wege kurzfristig - Sie haben die kurze Frist angesprochen - Fortschritt erzielen können. Ich glaube, in der Region muß weiter der Weg über die Verhandlungslösung gesucht werden.
Damit sind wir am Ende der Zeit, die für die Fragestunde vorgesehen ist. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatsminister, und schließe diesen Tagesordnungspunkt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Vereinbarte Debatte
Ergebnisse der NATO-Frühjahrstagung in Berlin und die Perspektiven für gemeinsame Sicherheit in Europa
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Außenminister Dr. Klaus Kinkel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tagung des NATO-Rates und des NATO-Kooperationsrates in Berlin war für uns Deutsche, war aber auch für das Bündnis ein ganz wichtiges Ereignis. Wenn man sich erinnert, wie die Welt ausgesehen hat - das geteilte Berlin, das geteilte Deutschland, das über Jahrzehnte von der NATO gesichert wurde -, dann hatte es wirklich symbolische Bedeutung, daß Berlin jetzt Tagungsort für die NATO und den NATO-Kooperationsrat war.
Das geteilte Berlin war über vier Jahrzehnte hinweg das Symbol der Teilung Deutschlands, aber es
war auch Symbol für den Freiheitswillen der westlichen Völkerfamilie. Unsere Bündnispartner haben sich auch in den schwersten Stunden der Ost-WestKonfrontation hinter die Freiheit und die Sicherheit Berlins und Deutschlands gestellt. Ohne ihren Schutz, ohne ihre Bündnistreue hätte es für uns keine Wiedervereinigung in Freiheit gegeben. Das werden wir Deutschen nicht vergessen.
Das Bündnis genießt heute über Europa und Amerika hinaus ein außerordentlich hohes Ansehen. Das Bewußtsein von der Notwendigkeit der NATO ist stärker denn je. Auch wenn manche nicht gern daran erinnert werden: Das war nicht immer so. Anfang der 90er Jahre gab es nicht wenige Stimmen, auch hierzulande, die glaubten, das Bündnis habe sich überlebt. Heute ist allen klar: Die NATO ist kein Auslaufmodell, sie ist notwendiger denn je.
Unsere mittel- und osteuropäischen Partner und Freunde klopfen nach den Umbrüchen an die Tür der Europäischen Union, vor allem an die Tür der NATO. Sie wollen ihr Sicherheitsbedürfnis in der NATO befriedigt sehen. Ohne das Eingreifen der NATO hätte es in Bosnien keine Chance gegeben, das Friedensabkommen von Dayton umzusetzen. Ohne die NATO würde es dort keinen Frieden geben. Das heißt, wir brauchen die NATO auch in Zukunft.
Die Dankbarkeit und Erleichterung der leidgeprüften bosnischen Bevölkerung über das Eintreffen der IFOR-Truppen sagt weit mehr als alle Kommuniqués, auch mehr als die, die in Berlin so erfolgreich zustande gekommen sind.
Die Tagung von NATO und NATO-Kooperationsrat war auch inhaltlich ein Erfolg. Das Bündnis hat in Berlin ein neues Kapitel aufgeschlagen, ein Kapitel mit der Überschrift „Erneuerung, Öffnung, Partnerschaft für Europa" . Das war das Signal von Berlin, das Signal der neuen NATO, die damit die Konsequenzen aus einer nach dem Fall des Eisernen Vorhangs grundlegend veränderten Weltlage gezogen hat.
Ich möchte vier Punkte herausgreifen: erstens die innere Erneuerung des Bündnisses nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung. Die Strukturen müssen sich natürlich verändern, die Organisation muß sich verändern. Die Strukturen müssen flexibler werden, sie müssen angepaßt werden.
Die kollektive Verteidigung bleibt Kernauftrag der NATO. Aber das Bündnis hat auch neue Aufgaben bei Krisenbewältigungen und Friedenssicherung zu übernehmen. Die IFOR-Truppen im früheren Jugoslawien stehen für diese neue und zunehmend wichtig werdende Rolle der NATO.
Die Ad-hoc-Vorkehrungen, die bisher in solchen Zusammenhängen getroffen worden sind, reichen in Zukunft nicht mehr aus. Flexiblere Strukturen müssen dafür sorgen, daß die NATO auch die andersgearteten neuen Herausforderungen für den Frieden in Europa bewältigen kann. Sie muß schneller als bisher reagieren können, wenn es gilt, Streithähne aus-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
einanderzuhalten, Menschen in Lebensnot zu schützen, Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen oder, was jetzt im früheren Jugoslawien ganz wichtig ist, im Zusammenwirken mit der OSZE - davon werde ich noch sprechen - freie Wahlen zu ermöglichen, indem Bewegungsfreiheit sichergestellt wird. Das Konzept der alliierten Streitkräftekommandos ist dafür ein großer Schritt nach vorn.
Zweitens - das war wahrscheinlich das herausragendste Ergebnis der Tagung in Berlin -: Die Rolle Europas im Bündnis wird gestärkt, erhält eine völlig neue Dimension. In Berlin wurden für die praktische Verwirklichung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb der neuen NATO- Strukturen sehr konkrete Eckdaten festgelegt. Das ist von ganz zentraler Bedeutung nicht nur für die Handlungsfähigkeit des Bündnisses, sondern eben auch für das transatlantische Verhältnis. Europa und Amerika brauchen sich eben auch in Zukunft gegenseitig. Deshalb müssen die USA auch eine europäische Macht bleiben. Das wünschen wir uns nicht nur aus Interesse, sondern auch aus Freundschaft und Verbundenheit mit dem amerikanischen Volk.
Aber die Amerikaner haben uns in der Vergangenheit immer wieder gesagt: Dann müßt ihr euch um eure europäischen Sicherheitsstrukturen selber mehr kümmern. Es liegt weder im amerikanischen noch im europäischen Interesse, daß wir jedesmal unsere amerikanischen Freunde zu Hilfe rufen müssen, wenn es irgendwo brennt.
Europa muß innerhalb der gemeinsamen Bündnisstruktur zur Übernahme größerer Eigenverantwortung bereit und in der Lage sein. Das wollten im übrigen - ich sage es noch einmal - unsere amerikanischen Freunde immer schon. Es wird eben in Zukunft - das war der Kerngedanke der Stärkung der europäischen Dimension innerhalb der NATO - Krisensituationen geben, an deren militärischer Bewältigung sich die USA nicht beteiligen wollen. In solchen Fällen muß die WEU eigene militärische Operationen durchführen und sich dabei auf Ressourcen der NATO abstützen können. Das ist vereinbart worden. Das ist das Neue. Es ist unser neues Konzept abtrennbarer, aber nicht getrennter militärischer Optionen der europäischen Bündnispartner.
Ein weiterer Punkt war in Berlin ganz wichtig: Frankreichs Entscheidung, sich auch an der Arbeit der Verteidigungsminister voll zu beteiligen, das heißt in die militärischen Strukturen der NATO zurückzukehren, ist ein ganz, ganz großer Gewinn.
Am 13. Juni dieses Jahres wird zum ersten Mal nach 30 Jahren der NATO-Rat auf der Ebene der Verteidigungsminister gemeinsam mit dem französischen Verteidigungsminister zusammentreten. Die Bundesregierung begrüßt - sogar nachdrücklich -, daß Präsident Chirac die volle Beteiligung Frankreichs an den NATO-Strukturen in Aussicht gestellt hat. Diese Entscheidung ist nicht nur für das Bündnis, sondern
auch für die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität ganz, ganz wichtig.
Drittens. Das Bündnis hat in Berlin seinen Kurs der Öffnung bekräftigt. Konkrete Entscheidungen über die Aufnahme neuer Mitglieder standen nicht an. Es ist selbstverständlich, daß wir im Augenblick auf die Vorwahlsituation in Rußland und auf die Vorwahlsituation in Amerika Rücksicht nehmen. Da waren sich alle Partner einig. Beim nächsten NATO-Rat in Brüssel im Dezember wird das Bündnis über das weitere Vorgehen in dieser Frage befinden.
Die mittel- und osteuropäischen Staaten wollen heim nach Europa, das heißt unwiderruflich dem einen und freien Europa angehören. Das sehen sie nur durch den Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO gewährleistet. Das Recht auf freie Bündniswahl ist nun einmal in der Charta von Paris verbrieft. Es wird auch von Rußland, jedenfalls grundsätzlich, nicht bestritten. Wir haben in Berlin nochmals ausdrücklich und sehr deutlich unser Angebot einer Partnerschaft mit Rußland und auch der Ukraine bekräftigt.
Nach dem von mir initiierten 16-plus-1-Treffen mit dem neuen Außenminister Primakow in Berlin läßt sich sagen: Beide Seiten, die Mitglieder der Allianz und Rußland, sind zu Dialog und Zusammenarbeit bereit. Wir haben den Russen bisher vorgeworfen, daß sie nach dem Beitritt zur Partnerschaft für den Frieden nicht bereit waren, in den von uns angebotenen Dialog einzutreten. Berlin hat den Wandel gebracht.
Primakow hat nicht nur in den Gremien NATO und NATO-Kooperationsrat, sondern auch in einem dreistündigen Gespräch, das er am Abend mit mir geführt hat, deutlich und klar auf ausdrückliche Frage noch einmal erklärt: Ja, wir wollen jetzt mit der NATO in diesen Dialog eintreten. Er sollte nach meiner Vorstellung in ein Sonderverhältnis NATO zu Rußland, zu einer Art Charta führen.
Wir sollten, wenn wir über die Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Länder reden und fortschreitend verhandeln, diesen Dialog so führen, daß möglichst parallel eine solche Sondercharta zustande kommen könnte. Es besteht nach Berlin die Hoffnung, daß in Moskau verstanden wird: Die Öffnung der NATO ist nicht gegen die russischen Interessen gerichtet. Es ist zwei Wochen vor den entscheidenden Präsidentschaftswahlen in Rußland gelungen, die Diskussion über die Kardinalfrage der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur zu versachlichen. Ich habe nach Berlin gesagt: Das Verhältnis zu entkrampfen ist ein großer Fortschritt und ein ganz, ganz wichtiges Ergebnis des Berliner Treffens.
Ich bin nach den Gesprächen in Berlin sicher, daß wir nach den Wahlen in Rußland in eine neue Gesprächsphase eintreten können. Was wir schon im Augenblick bei IFOR erfolgreich praktizieren, näm-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
lieh als Partner Seite an Seite für Europas Frieden und Sicherheit zu sorgen, wollen wir auch auf höherer Ebene erreichen: eine echte Sicherheitspartnerschaft mit Rußland, Einbeziehung Rußlands in die europäische Sicherheitsarchitektur. Das ist übrigens eine Partnerschaft, die der historischen Rolle Rußlands in Europa gerecht werden muß.
Es muß klar sein: Es gibt in Europa Sicherheit letztlich nur mit Rußland, nicht ohne und schon gar nicht gegen dieses große Land. Umgekehrt kann Rußland Sicherheit, Stabilität und Wohlstand nur mit und nicht gegen Europa finden. Rußland darf nicht ausgegrenzt, sondern es muß einbezogen werden. Das gleiche gilt für die Ukraine. Auch sie hat ihren unverrückbaren Platz in Europa.
Viertens. Wir haben in Berlin eine Bestandsaufnahme zur Halbzeit des IFOR-Engagements in Bosnien vorgenommen. Dort wirken 60 000 NATO-Soldaten mit 1 500 russischen Soldaten und Soldaten aus zwölf Mitgliedstaaten des NATO-Kooperationsrates zusammen. Ich lasse einmal die Soldaten aus den islamischen Ländern beiseite, obwohl sie eine wichtige Aufgabe haben. Aber der interessantere Komplex ist, daß diejenigen, die sich noch vor kurzem als Feinde in NATO und Warschauer Pakt gegenüberstanden, jetzt zusammen Frieden in Europa, im früheren Jugoslawien, sichern. Ich glaube, man kann nirgendwo deutlicher zeigen, wie sich die Welt in den letzten Jahren im wahrsten Sinne des Wortes verwandelt hat.
Heute zeigt das gemeinsame Friedensengagement, daß das Bündniskonzept der Partnerschaft für den Frieden und die Zusammenarbeit im Nordatlantischen Kooperationsrat keine bloßen Formeln sind. Mit ihrer Hilfe hat die NATO praktisch in allen Staaten Europas ein dichtes Netz der Zusammenarbeit geknüpft. Wir haben in Berlin zusammen mit Außenministern von insgesamt 28 Partnerstaaten beraten, wie wir unsere Streitkräfte in Zukunft noch effektiver auf gemeinsame Friedenseinsätze vorbereiten können.
Das Arbeitsprogramm der Partnerschaft für den Frieden, das mächtig angelaufen ist, umfaßt inzwischen für die nächsten zwei Jahre 700 gemeinsame Vorhaben. Die hieraus gewonnenen Erfahrungen und das dadurch geschaffene Vertrauen stellen genau das dar, was wir im neuen, ungeteilten Europa erreichen wollen und erreichen müssen: Sicherheit miteinander und nicht gegeneinander.
Das Halbzeitergebnis der größten militärischen Operation der NATO seit ihrer Gründung kann sich sehen lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird nicht mehr geschossen, die Truppenentflechtung ist abgeschlossen. Diese Grundvoraussetzungen für den Beginn der Flüchtlingsrückkehr sind für uns von zentraler Bedeutung. Noch haben wir 320 000 Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien in der Bundesrepublik. Noch haben wir 120 000 Asylbewerber aus dem Kosovo bei einer Anerkennungsquote von 2,6 Prozent im Augenblick. Es wird vergessen und immer wieder übersehen, daß monatlich in die Bundesrepublik weitere 2 400 bis 2 800 Kosovo-Albaner kommen. Mal zwölf macht das weitere 24 000 bis 25 000. Deshalb muß das Rückführungsabkommen, das ich mit Milošević ausgehandelt habe, funktionieren, weil wir tatsächlich nicht in der Lage sind, dies alles zu schultern.
Der Frieden hat eine Chance bekommen, an die vor einem Jahr noch niemand geglaubt hat - allerdings nur eine Chance. Ein dauerhafter Friede hängt letztlich vom Willen der Betroffenen ab. Aus Feinden müssen wieder Nachbarn werden.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Die bosnischen Konfliktparteien tragen die Hauptverantwortung für die Umsetzung des Dayton-Abkommens und damit für den Frieden in ihrem Land. Es stört mich zunehmend, daß von den Konfliktparteien in der Umsetzung des Daytoner Abkommens immer stärker der Eindruck erweckt wird, als würden sie uns zuliebe das tun, als würden sie der Weltgemeinschaft zuliebe in vielen Fragen Entgegenkommen zeigen, als würden sie bestimmte Dinge nur erfüllen, weil wir das verlangen.
Es fehlt der „push", es fehlt die Bereitschaft - ich muß das leider deutlich und klar sagen - zu multiethnischem Zusammenleben. Der Wille zum Zusammenleben fehlt bei allen drei Konfliktparteien. Ich kann nur sagen: Wir müssen darauf hinweisen und darauf drängen, damit sich das ändert; denn auch 60 000 oder mehr Soldaten können nicht auf Dauer Frieden schaffen oder garantieren, wenn diejenigen, um die es hauptsächlich geht, von sich aus dies nicht wollen und auch nicht zur Mitarbeit bereit sind.
Deshalb sage ich mit Nachdruck, daß es falsch wäre, bereits jetzt über IFOR hinaus Gedanken anzustellen. Wir dürfen den Druck nicht aus dem Kessel lassen. Die zivile Implementierung muß stattfinden.
Wir können im übrigen auf das, was unsere deutschen Soldaten - immerhin 4 000 an der Zahl - dort leisten, stolz sein. Ich möchte bei dieser Gelegenheit unseren deutschen Soldaten für ihren Einsatz sehr sehr herzlich danken.
Auch die zivile Implementierung wird nur dann funktionieren, wenn wir vorher mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zusammenarbeiten. Cassese war bei mir, er vermißt die notwendige Zusammenarbeit mit anderen Ländern. Wir tun es mit Nachdruck. Es kann und darf nicht sein, daß all das Schreckliche, das an Verwüstung, Töten, Morden, ethnischer Säuberung geschehen ist, jetzt unter den Teppich gekehrt wird. Das kann und darf nicht richtig sein, weil Versöhnung letztlich nur über Gerechtigkeit erreicht werden kann. Deshalb ist es auch so
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
wichtig, daß insbesondere die Herren Mladić und Karadzić verschwinden. Sie müssen weg von der politischen Szene und müssen dem Tribunal ausgeliefert werden. Dort gehören sie hin.
Meine Damen und Herren, das Berliner Treffen des NATO-Rates -
- ja, ich habe ihm das nachdrücklich und unmißverständlich gesagt - war eine wichtige Etappe. Die Erneuerung und der Brückenschlag des Bündnisses stehen nicht allein, sie sind Teil eines historischen Prozesses, an dem auch die anderen europäisch-atlantischen Organisationen mitwirken. Die Europäische Union muß sich natürlich in der Regierungskonferenz so reformieren, daß sie die bevorstehenden Erweiterungen verkraftet. Das betrifft die Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Natürlich steht auch die OSZE vor ganz wichtigen Weichenstellungen. Sie braucht für die größte Aufgabe, die sie je zu bewältigen hatte, nämlich die Vorbereitung und die Durchführung der Wahlen, Unterstützung. Auf dem Gipfel in Lissabon muß es dazu kommen. Die OSZE ist im übrigen eine einzigartige gesamteuropäische Klammer und muß zu einer effektiven Regionalorganisation im Sinne von Kapitel VIII der UNO-Charta fortentwickelt werden.
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Meine Damen und Herren, in Berlin haben wir den Grundstein dafür gelegt, daß das Bündnis den Herausforderungen einer veränderten Weltlage mit flexiblerer Struktur, neuer Aufgabenverteilung und gesamteuropäischer Verantwortung gerecht werden kann. Berlin war bei der NATO-Tagung und der Kooperationstagung ein großer Erfolg. Wir waren als Bundesregierung von Anfang an ein wichtiger Motor dieser Entwicklung. Ich glaube, daß für unsere Rolle sehr entscheidend die Festigung und Berechenbarkeit unseres Kurses gegenüber allen Beteiligten, vor allem gegenüber allen unseren östlichen Nachbarn, einschließlich Rußland, war und ist. Wir haben nie mit zwei Zungen gesprochen.
Auf Verläßlichkeit, Vertrauen und Berechenbarkeit wird es bei diesem Prozeß auch weiterhin ankommen. Es ist kein Zweifel: Der Weg des Bündnisses hin zu seiner neuen Rolle im ungeteilten Europa wird noch schwierig sein. Aber Berlin hat uns wirklich entscheidend vorangebracht. Das gibt Zuversicht.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Karsten Voigt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner
Mauer bedurfte die NATO einer grundlegenden politischen und militärischen Reform. Es ist zu begrüßen und auch von einem hohen symbolischen Stellenwert - da gebe ich Ihnen durchaus recht, Herr Bundesaußenminister -, daß diese Reform in Berlin weitergekommen ist. Berlin war ein Meilenstein auf dem Weg zu einer neuen NATO.
Aber damit die NATO den neuen Gegebenheiten einer Ordnung nach dem Kalten Krieg gerecht wird, muß sie weiter reformiert werden. Die NATO muß zu einem Stabilitätsanker einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung werden. Dazu sind, wie gesagt, weitere Reformen erforderlich.
Besonders muß man darauf achten, daß in den nächsten Monaten bei den Reformen der Kommandostrukturen innerhalb der NATO und bei der Ausfüllung dessen, was in Berlin besprochen worden ist, der europäische Pfeiler tatsächlich realisiert wird, daß die Franzosen tatsächlich auf die NATO zugeführt werden. Bei diesem Zuführen darf die NATO nicht ihre innere Bindungskraft dadurch verlieren, daß es zu einer Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik und der militärischen Strukturen kommt.
Wir wissen, daß manche Franzosen in dieser Frage Neigungen haben, sozusagen die NATO in Richtung auf eine Struktur zu reformieren, die dieser Renationalisierung Vorschub leisten würden. Wir sind weder an einer solchen Renationalisierung noch an einem Verdrängen der Amerikaner aus Europa interessiert.
Damit die NATO zu einem Stabilitätsanker in einer europäischen außen- und sicherheitspolitischen Friedensordnung werden kann, muß sie nicht nur durch innere Reformen, sondern auch durch eine zügige Osterweiterung der NATO ergänzt werden. - Darauf komme ich gleich noch einmal zu sprechen. - Die KSZE, jetzt: OSZE, muß gestärkt werden.
Was man nie vergessen darf: Trotz der abrüstungspolitischen Vereinbarungen der letzten Jahre im Zuge der NATO-Osterweiterung müssen die Obergrenzen bei der Rüstung weiter abgesenkt werden. Die NATO-Osterweiterung darf nicht zu einer neuen Aufrüstungsrunde führen, sondern muß zu einer neuen Abrüstungsrunde genutzt werden.
Die in Berlin vereinbarten flexibleren Strukturen sind eine Selbstverständlichkeit; denn vorher war alles auf einen Ost-West-Konflikt hin fixiert. Es ist auch klar, daß sie leichter und beweglicher sein müssen, damit sie Krisen und Konflikten, die denkbar, aber hoffentlich nicht wahrscheinlich sind, besser Rechnung tragen können.
Es ist wichtig, daß die NATO einen europäischen Pfeiler mit flexiblen Kommandostrukturen erhalten hat. Es ist jetzt Ihre Aufgabe, Herr Bundesaußenminister, dazu beizutragen, daß nicht nur die Westeuropäische Union und die NATO, sondern auch die Europäische Union und die Westeuropäische Union näher zusammengeführt werden - ohne daß eine
Karsten D. Voigt
Verschmelzung auf absehbare Zeit realistisch erscheint.
Ich meine, das Beispiel Bosnien zeigt wirklich, wie man sich in Zukunft Aktionen der NATO außerhalb des klassischen Bündnisauftrages vorstellen kann. Da liegt ein klares UNO-Mandat vor. Da sind nicht nur NATO-Truppen engagiert; die Russen sind voll mit beteiligt. Sie haben dem Mandat in den Vereinten Nationen auch zugestimmt.
Es gibt eine skandinavische Einheit. Daran sind nicht nur die Dänen als NATO-Land beteiligt, sondern auch die Schweden als bündnisfreies oder neutrales Land. Diese wiederum sind mit den Polen verbunden, was man ironisch den „Nordpol" nennt.
Das heißt, es kommt hier zu einem Zusammenwirken von NATO-Staaten, bündnisfreien Staaten und Staaten, die zukünftig der NATO beitreten wollen. Dies ist ein gutes Zeichen für ein Zusammenwirken mit der NATO, wenn es um Aufgaben über den klassischen Verteidigungsauftrag hinaus geht.
Ich glaube, daß die flexiblen Kommandostrukturen nicht nur, wie gesagt, eine Funktion in bezug auf einen europäischen Pfeiler haben. Wenn Rußland in Zukunft die Chance ergreift, kann es faktisch in eine Art assoziiertes Verhältnis zur NATO kommen. Es wird, wenn es will, bei allen entscheidenden Fragen über alle Vorgänge innerhalb der NATO umfassend informiert werden, und es wird bei allen Fragen der europäischen Sicherheit, die über den klassischen Verteidigungsauftrag der NATO hinausgehen, konsultiert werden. Das muß auch so sein. Leider hat Rußland auf solche Vorschläge noch nicht geantwortet. Ich hoffe, daß sich das nach den Wahlen ändert. Also, Rußland kann und sollte im Zuge dieser NATO- Reform faktisch zu einem ständigen Sicherheitspartner der NATO werden.
Gleichzeitig können Staaten mit dieser flexiblen Kommandostruktur auf ihre zukünftige Mitgliedschaft vorbereitet werden, und Staaten, die der NATO nicht angehören oder noch nicht angehören, können sozusagen stärker in die Zusammenarbeit eingebunden werden, so daß sie nicht im Zuge der NATO-Osterweiterung abgetrennt und isoliert werden, sondern ebenso wie Rußland enger mit der NATO und den westeuropäischen Sicherheitsstrukturen verbunden werden. Das ist sehr wichtig; denn ich denke, daß bei der NATO-Osterweiterung viel schwieriger als die Frage nach der russischen Haltung die Frage zu lösen sein wird, wie man für die Staaten, die bei der ersten Runde der NATO-Erweiterung nicht dabeisein werden, aber dabeisein möchten, ein, wie ich bewußt sage, nicht militärisches, sondern ökonomisches und politisches Sicherheitspaket schnürt. Das wird für die baltischen Staaten besonders wichtig sein, die nach meiner Einschätzung bei der ersten Runde der NATO-Erweiterung voraussichtlich nicht dabeisein werden.
Ich glaube, daß die Osterweiterung zügig erfolgen sollte. Das heißt, daß im Dezember auf der NATO- Ratstagung endlich Entscheidungen fallen, die Anfang des nächsten Jahres in Beschlüsse umgesetzt werden, mit wem Verhandlungen über eine NATO- Erweiterung aufgenommen werden sollen, und daß schnell und konkret verhandelt wird, damit hier bald Klarheit geschaffen wird.
Diese Klarheit ist, wie ich meine, für ein besseres Verhältnis zu Rußland erforderlich. Man kann eigentlich nicht erwarten, daß die Russen über bestimmte Bedingungen im Zusammenhang mit der NATO-Osterweiterung verhandeln, solange sie den Eindruck haben, diese findet nicht statt oder wird vertagt. Klarheit in dieser Frage ist die beste Voraussetzung für konstruktive Verhandlungen mit Rußland. Das Auftreten von Herrn Primakow bestätigt mich in dieser Einsicht. Herr Primakow ist ein Realist. Wenn er weiß, die NATO-Erweiterung findet statt, dann wird er versuchen, sie in dem Sinne zu beeinflussen, wie sie nach seiner Einschätzung russischen Interessen entspricht.
Im übrigen ist die NATO-Erweiterung nicht nur nicht gegen Rußland gerichtet, sondern faktisch eine Voraussetzung dafür, daß wir enger mit Rußland kooperieren können. Wenn Deutschland sagen würde, wir wollen mit Rußland eng kooperieren, aber weil wir mit Rußland eng kooperieren wollen, sind wir gegen den Beitritt Polens, würde die ganze Region östlich von uns nervös - und schließlich auch unsere Nachbarn im Westen, weil das an alte historische Beispiele erinnern würde.
Wenn aber die NATO-Erweiterung stattfindet, können wir noch enger mit Rußland kooperieren: wir als Deutsche, die NATO insgesamt und auch die Amerikaner. Die Polen, die Tschechen, die Ungarn und die anderen, die dabeisein werden, gewinnen dann genügend Selbstvertrauen, um selber mit Rußland enger kooperieren zu können.
Das heißt, nicht nur die Kooperation, die die NATO Rußland anbietet, ist eine Chance für Rußland, sondern die NATO-Erweiterung selber ist in gewisser Weise dadurch, daß sie bei unseren östlichen Nachbarn Vertrauen und Sicherheit schafft, eine Voraussetzung für eine engere Zusammenarbeit mit Rußland.
Die Osterweiterung der NATO ist damit ein Beitrag zur Überwindung der Spaltung Europas, indem man einerseits die westlichen Institutionen EU und NATO für östliche Mitglieder öffnet und andererseits zugleich die Zusammenarbeit mit Rußland intensiviert. Deshalb sollten wir auch nicht vom Zeitplan abweichen.
Ich persönlich war skeptisch gegenüber der Position, daß man vor den russischen Wahlen nicht sagt, was man nach den russischen Wahlen sowieso sagen wird, nämlich daß man die NATO erweitern will. In dieser Frage sollte man Klarheit schaffen. Ich hoffe, daß das in der zweiten Hälfte des Jahres dann auch geschieht.
Karsten D. Voigt
Ich komme zum Schluß noch auf Bosnien zu sprechen. Die Situation in Bosnien ist jetzt ein Zeichen des Erfolges der NATO im Zusammenwirken mit anderen Staaten Ostmitteleuropas, mit Rußland und der islamischen Welt, gegründet auf ein Mandat der Vereinten Nationen.
Die Situation in Bosnien ist allerdings auch ein Zeichen für das Scheitern der westlichen Institutionen, der westlichen Staaten in der Phase, als man Schlimmeres noch hätte verhindern können. Deshalb besteht die Aufgabe nicht nur darin, jetzt den Erfolg der NATO in Bosnien zu loben, sondern auch darin, selbstkritisch zu analysieren, wie man in Zukunft durch die Stärkung präventiver Maßnahmen entsprechende Konflikte besser verhindern kann.
Bei allem Lob für die NATO: Diese Prävention ist immer noch wichtiger als das, was später unter sehr großem militärischen Kraftaufwand und hohem finanziellen Aufwand geleistet wird.
Sie haben gesagt, man solle nicht über ein „Post- IFOR" reden, unter anderem wegen der amerikanischen Wahlen. Das kann man so sehen; der eine oder andere sagt, das würde nur Unruhe schaffen. Ich bin da anderer Meinung. Denn jeder weiß, daß nach dem Dezember dieses Jahres noch nicht alle Truppen abgezogen sein werden. Wenn nicht alle Truppen abgezogen sein werden, bedeutet das, daß es einer neuen Bundestagsentscheidung bedarf. Das wissen Sie, das wissen wir, das weiß der Volker Rühe. Politik besteht darin, daß das, was jeder weiß, durch Politiker im Parlament ausgesprochen werden soll, sonst schafft man Unklarheit und Unsicherheit.
Deshalb bin ich der Meinung, daß wir heute bereits sagen sollten: Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, in der zweiten Hälfte dieses Jahres kommt eine neue Parlamentsentscheidung auf euch zu, in der entschieden wird, daß die Bundeswehr weiter für eine begrenzte Frist in Bosnien sein wird. - Dann kommt die viel schwierigere Frage, in welchem Kontext sie dort sein wird, ob im Rahmen des bisherigen Mandats, ob auf der Grundlage eines neuen Mandats, ob die Amerikaner dasein werden und in welchem Umfang sie dasein werden.
Aber Sie wissen doch so gut wie ich, daß dann die Alliierten - wenn es sich nicht nur um ein Auslaufmodell handelt, sondern wenn es um eine Verlängerung von ein oder zwei Jahren geht - auf uns zukommen und sagen werden: Die Deutschen sollen in Zukunft - wir haben gute Erfahrungen mit ihnen gesammelt - mit den gleichen Rechten und Pflichten teilnehmen wie alle anderen Staaten auch.
Die Redezeit!
Da das jeder weiß und jeder das hinter vorgehaltener Hand diskutiert, gehöre ich zu denjenigen, die sagen: Herr Bundesaußenminister, ich möchte, daß das Parlament nicht erst darüber redet, wenn das alles entschieden
ist, sondern daß wir in diesem Punkt vorher vor dem deutschen Volk und der deutschen Öffentlichkeit als Parlamentarier offen diskutieren, Rechenschaft ablegen und unsere Position begründen, also nicht erst dann, wenn es der Regierung in ihren Kram innerhalb der NATO paßt.
Herr Kollege Karl Lamers, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als wir nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes alle einmütig gesagt haben: „Die NATO ist die einzige intakte Sicherheitsstruktur in Europa, und wir müssen sie für die Ungewißheiten der Zukunft erhalten", haben viele das als Gesundbeterei bezeichnet.
Es wäre Gesundbeterei geworden, wenn wir nicht das getan hätten, was jetzt in Berlin einen so klaren Ausdruck gefunden hat, nämlich die NATO weiterzuentwickeln, sie zu reformieren. Die NATO wäre keine Zukunftsinstitution geblieben, wenn wir nicht endlich damit begonnen hätten, den europäischen Pfeiler in der Allianz, von dem wir seit Kennedys Zeiten reden, zu bauen. In Berlin ist dazu der Grundstein gelegt worden.
Die Bildung der berühmten europäischen Verteidigungsidentität war nur möglich durch die Rückkehr Frankreichs in die NATO. Daß es keine halbe ist, das hat Frankreich jetzt klar und deutlich gesagt. Diese Rückkehr Frankreichs in die NATO wäre nicht möglich gewesen ohne Deutschland, ohne das ständige Werben Deutschlands und ohne die Politik der Bundesregierung, die sich nie in die Scheinalternative „Frankreich oder Europa oder Amerika " hat drängen lassen.
Frankreich hat erkannt, daß die Entwicklung der europäischen Verteidigungsidentität innerhalb der NATO nicht nur billiger und einfacher ist, ja angesichts der Kosten die einzige Möglichkeit ist, sondern daß Europa auch in Zukunft ein Bündnis mit Amerika braucht.
Ich glaube, daß deswegen der Tag von Berlin, der die Rückkehr Frankreichs so deutlich gemacht hat, von einer gewissen historischen Bedeutung ist. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich noch einmal sage: Ohne die Politik der Bundesregierung seit eh und je wäre es dazu nicht gekommen. Deswegen ein Glückwunsch an die Bundesregierung!
Natürlich handelt es sich - darauf hat Herr Kollege Voigt hingewiesen - bei dem Berliner Beschluß um einen Grundsatzbeschluß. Er muß konkretisiert werden in den militärischen Strukturen. Das wird ent-
Karl Lamers
scheidend sein für die Frage, wieviel Eigenständigkeit Amerika den Europäern zu überlassen bereit ist.
Es geht nicht um eine Renationalisierung, Kollege Voigt. Es geht höchstens um eine Europäisierung und darum, wie diese denn aussehen soll. Man muß klar sagen: Das erfordert von Amerika eine große Umstellung. Denn in der bisherigen NATO galt letztlich das Wort Amerikas als das entscheidende. Das konnte auch nach Lage der Dinge überhaupt nicht anders sein.
Wenn Amerika seine Einstellung hier zu ändern begonnen hat, dann setzt das Vertrauen voraus. Dazu wiederum ist, glaube ich, unsere deutsche Haltung, Herr Minister, von entscheidender Bedeutung. Deswegen müssen wir hierzu eine klare Position einnehmen. Wir können unseren amerikanischen Freunden allerdings sagen: „Sie können sich erlauben, großzügig zu sein, erstens weil Sie selber stark und selbstbewußt sind und zweitens weil es eine von den Europäern geführte Operation ohne Ihre Zustimmung im NATO-Rat nicht geben wird - so ist das Verfahren vereinbart -; Sie können großzügig sein, wenn es sich um die Sichtbarkeit der europäischen Strukturen, des europäischen Pfeilers in der Allianz, handelt." Eine solche dauerhafte klare Sichtbarkeit ist aus politischen Gründen notwendig.
Die Europäer werden übrigens bei der Umgestaltung der Kommandostruktur ihre Bereitschaft unter Beweis stellen müssen, liebgewordene Besitzstände zu opfern. Das alles wird nicht so ganz leicht sein.
Mein dritter Gedanke. Vor allen Dingen werden alle diese Beschlüsse, all die Instrumente, die wir uns zu schaffen jetzt begonnen haben, nicht fruchten, nichts helfen, wenn nicht die Europäer ihre Fähigkeit zur Führung unter Beweis stellen, das heißt, wenn sie ihre Entscheidungsverfahren nicht ändern. Alle militärischen und anderen Instrumente, die wir entwickeln, nützen nichts, wenn nicht jemand sie in die Hand nimmt, das heißt, wenn die Europäer sich nicht in die Lage versetzen, wirklich mit einer Stimme zu reden und einen gemeinsamen Willen zu entwickeln.
Sie wissen, die Briten sagen immer: Nicht die institutionelle Reform der EU ist das Entscheidende, sondern der gemeinsame Wille. Aber die Frage ist doch: Wie kommt ein gemeinsamer Wille zustande? Auch wir haben ihn nicht a priori. Vielmehr stellen wir ihn her, indem wir miteinander debattieren und diskutieren, miteinander ringen und dann abstimmen. Anders kann das auch in der Europäischen Union auf Dauer nicht sein. Ich glaube also, die Verbindung zu der intergouvernementalen Konferenz ist von wirklich entscheidender Bedeutung.
Mein vierter Gedanke. Die nächste große Herausforderung für die Allianz ist ihre Öffnung nach Osten. Darin stimmen wir alle überein. Ich glaube, daß auch dafür die Herausbildung europäischer Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen mit der
Perspektive eines Bündnisses zwischen Amerika und Europa als handlungsfähiger Einheit, die Entwicklung der europäischen Verteidigungsidentität, möglicherweise von entscheidender Bedeutung ist. Denn das notwendige Einvernehmen mit Rußland, das auch vom Kollegen Voigt zu Recht herausgestellt worden ist, muß ohne jeden Zweifel sehr bald in konkretere Vorschläge münden, als sie bislang auf dem Tisch liegen.
Dazu muß man sich zunächst einmal fragen: Was ist eigentlich das Problem, das Rußland mit der NATO hat? Das Problem, das Rußland mit der NATO hat, lautet nicht: Niederlande, Deutschland, Frankreich, Spanien. Das Problem, das Rußland mit der NATO hat, lautet vielmehr: Amerika in der NATO. Die Vorstellung, amerikanische Truppen am Bug statt wie noch vor fünf Jahren an der Elbe zu haben, ist für die Russen - ich sage: verständlicherweise - schwer erträglich. Das würde die Niederlage im Kalten Krieg sinnfällig und augenfällig machen.
Darauf zielt auch der Vorschlag Primakows, den er in Berlin gemacht hat. Ich finde, das ist das zweite wirklich herausragende Ergebnis dieser Konferenz. Herr Minister, Sie haben es herausgestellt: Die Bereitschaft zum Dialog mit der NATO gibt es in Rußland offensichtlich. Wir müssen diese Bereitschaft nutzen. Nutzen können wir sie nur, wenn wir konkrete Vorschläge machen.
Aber wenn keine integrierten alliierten Streitkräftestrukturen in den Beitrittsländern stehen sollen, dann droht eine gewisse Gefahr, daß die Mitgliedschaft dieser Länder eine zweitrangige ist.
Das kann nicht unser Ziel sein; das kann nicht unser Interesse sein.
Deswegen glaube ich, daß wir dafür sorgen müssen, daß europäische Streitkräfte etwa nach dem Muster des Eurokorps in den Beitrittsländern stationiert werden können und daß auch die Verbindung so ist, wie sie im Fall der Eurokorps gegeben ist. Im übrigen kann die Europäische Union schon aus grundsätzlichen Überlegungen nicht darauf verzichten, solche integrierten Streitkräfte auch mit ihren neuen Mitgliedern zu entwickeln und überall dort zu stationieren, wo die Mitgliedsländer damit einverstanden sind.
Herr Kollege Lamers, Kollege Voigt will Ihnen offenbar eine Zwischenfrage stellen. - Bitte.
Ich möchte eine Zwischenfrage stellen, damit ich Ihnen die Möglichkeit gebe, Ihre Begrifflichkeit etwas zu präzisieren. Wenn Sie sagen, es sollten keine Infrastrukturen dort aufgestellt werden - -
Das habe ich nicht gesagt.
Deshalb frage ich: Herr Kollege Lamers, stimmen Sie mit mir überein, daß man sehr genau unterscheiden muß, daß man in den neuen Mitgliedstaaten keine Atomwaffen stationiert, in Friedenszeiten keine Truppenverbände und keine schweren Infrastrukturgegenstände an der russischen Grenze aufstellt, daß diese neuen Staaten aber an der Infrastruktur der NATO und den integrierten Strukturen der NATO voll teilhaben müssen? Da muß man sehr genau unterscheiden, weil das der russische Außenminister Primakow offensichtlich nicht so getan hat.
Einverstanden!
Mein letzter Gedanke ist der folgende: Das Grundinteresse Amerikas an Europa ist, Europa - die Gegenküste - nicht unter die Kontrolle einer den USA feindlich gesonnenen Macht fallen zu lassen. Deswegen haben die USA zweimal Krieg gegen Deutschland geführt - siegreich -, und sie haben den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion erfolgreich durchgestanden. Dieses Grundinteresse ist jetzt und auf absehbare Zeit nicht gefährdet - gottlob nicht.
Deswegen werden nicht europäische, sondern globale Zwecke der NATO auf längere Sicht über die Zukunft der Allianz entscheiden. Das ist meine tiefe Überzeugung. Sie wissen, daß ich sie zum Beispiel mit dem amerikanischen Senator Lugar und mit vielen einflußreichen Persönlichkeiten in den USA teile. Die USA sehen zu Recht - gottlob - die Hauptsicherheitsprobleme nicht in Europa, sondern anderswo.
Dem Gedanken einer globalen Aufgabenstellung der Allianz müssen sich die Europäer öffnen, nicht oder nicht nur um Amerika an Europa interessiert bleiben zu lassen, sondern weil sich die Europäer im traditionellen wie im neueren Sicherheitsverständnis denselben globalen Herausforderungen wie Amerika gegenübersehen. Das wird die größte Herausforderung für die Reformen der Allianz sein.
Auf der NATO-Frühjahrstagung in Berlin haben wir nicht nur für die Entwicklung der europäischen Verteidigungsidentität, sondern auch für ein besseres und engeres Verständnis zwischen Amerika und Europa ein gutes Fundament gelegt. Meine tiefe Überzeugung ist: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts braucht Europa nicht weniger, sondern mehr Kooperation mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ludger Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man über neue Sicherheitsmodelle für Europa diskutiert, muß man sich zunächst die Frage stellen, welchen
Charakter die Revolutionen und Wenden der Jahre 1989 und 1990 hatten. Bedeutet diese Revolution in erster Linie das Ende der Blockkonfrontation und damit die Chance, gemeinsame Sicherheit für alle diejenigen zu schaffen, die bis dahin Gegner waren, oder bedeutet dieses Datum in erster Linie den Sieg des Westens, so daß dieser jetzt schalten und walten kann, wie er will?
Zu Beginn gab es Tendenzen, die es möglich erscheinen ließen, daß die bisherige Blockkonfrontation wirklich überwunden würde und auch die Institutionen der ehemaligen Lager verschwinden würden. Leider hat sich mittlerweile die andere Tendenz durchgesetzt. Es waren führende westliche Staaten, die sich gegen die Initiativen zum Beispiel Polens im Jahre 1990, die OSZE zu stärken und zu einer Organisation der kollektiven Sicherheit auszubauen, ausgesprochen haben, um die NATO als westliches Bündnis zu erhalten.
Wenn heute unsere osteuropäischen Nachbarn, so Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, Wert darauf legen, in die NATO aufgenommen zu werden, ist dies aus ihrer Position absolut legitim und verständlich;
denn andere Zugänge sind ihnen nicht ermöglicht worden. Dennoch muß man die Frage stellen, ob die Wege, die vorgeschlagen werden, objektiv zu mehr Sicherheit führen oder aber Probleme bergen, die man zumindest offen debattieren muß.
Es ist absolut legitim, daß Länder wie Polen, die jahrelang, jahrhundertelang unter politischer Teilung gelitten haben, an der Deutschland immer beteiligt war, die von Deutschland kriegerisch überfallen worden sind und später in den östlichen Militärblock zwangseingemeindet worden sind, heute wünschen, dort integriert zu werden, wo sie sich kulturell, ökonomisch und gesellschaftlich am besten aufgehoben fühlen, nämlich im Westen. Deshalb ist ihr Wunsch, in den Westen integriert zu werden, mit allen Mitteln zu unterstützen.
Man muß jedoch kritisch debattieren dürfen, ob die Ebene, auf der die Integration angestrebt wird, die richtige ist oder ob es dazu nicht Alternativen gibt. Den Polen selbst kann man keine guten Ratschläge geben; sie vertreten ihre Interessen. Wir aber müssen darüber diskutieren, ob es nicht viel sinnvoller ist, offensiv und schnell eine Aufnahme Polens und der anderen NATO-Aspiranten in die Europäische Union anzustreben.
Denn ist nicht die Europäische Union letztlich das
bessere Sicherheitssystem, ein System, mit dem Sicherheit durch ökonomische, politische und gesell-
Ludger Volmer
schaftliche Verflechtung geboten wird? Wäre es nicht besser, dem Gesamtgebilde - Westeuropa, Mitteleuropa, Osteuropa plus Nordamerika - ein System kollektiver Sicherheit zu geben, das zum Beispiel an die OSZE angebunden sein könnte? Das geht natürlich nur dann, wenn auch Westeuropa die eigenen Sicherheitsinteressen delegiert und zunehmend mehr Funktionen, die die NATO heute noch hat, an die OSZE übergibt. - Ich denke, man sollte solche Modelle diskutieren.
Eines zumindest muß klar sein: Der Beitritt Polens in die Europäische Union darf nicht am Agrarmarkt oder an den Stahlquoten scheitern.
Die Osterweiterung der NATO beinhaltet objektiv Gefahren, von denen Sie glauben, daß sie beherrschbar sind. Wenn einzelne Staaten in die NATO aufgenommen werden, so wird sich das Bedrohungsgefühl bei den nicht aufgenommenen Staaten eher noch verstärken.
Rußland fühlt sich brüskiert,
obwohl Primakow heute gute Miene zum bösen Spiel macht.
Die Gefahr, daß es zu einer neuen Blockbildung im Osten kommt, ist überhaupt nicht auszuschließen. Was heute dagegen steht, ist die finanzielle Schwäche Rußlands. Ansonsten bestünde der Wille, so zu antworten.
Deshalb frage ich auch: Wer übernimmt eigentlich die Kosten der Osterweiterung der NATO, die den beitrittswilligen Staaten immense volkswirtschaftliche Anstrengungen abverlangen? Wir können uns vorstellen, zu welchen internen Problemen - hier denke ich zum Beispiel an die sozialen Probleme - dies führen würde.
- Nein. Ich habe gesagt: Sie vertreten ihre Interessen. Wir können ebenfalls Interessen vertreten.
Wenn die Sicherheitsinteressen Osteuropas vertreten werden sollen, muß mit der Osterweiterung beim Baltikum begonnen werden. Das ist der Raum, der am ehesten Gefahr läuft, von russischer Seite bedroht zu werden, auch wenn die Anzeichen dafür im Moment nicht sehr deutlich sind.
Heute wird beschwichtigt. Sie sagen: Wir wollen Sicherheit mit Rußland, nicht gegen Rußland. Ist dieser Prozeß aber eigentlich real? Dazu möchte ich die konservative „FAZ" vom 17. Mai zitieren. Dort steht:
Daß Rußland jede Erweiterung nach Osten als eine Art Einkreisung ablehnt, ist bekannt. Es ist nicht verwunderlich, wenn die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten keinen Hehl daraus machen, daß sie in die Nato wollen, um Sicherheit vor Rußland zu finden, nicht um Sicherheit mit Rußland zu suchen. Mit dem Ziel gesamteuropäischer Stabilitäts- und Sicherheitsstrukturen hat diese Haltung wenig zu tun.
Soweit die „FAZ" .
Auf diese Weise kommen wir zu den Widersprüchen in der deutschen Außenpolitik. Hier wird die Osterweiterung in der Regel öffentlich mit dem Wunsch Polens begründet; denn dies ist ein wirksames Argument. Doch Verteidigungsminister Rühe formuliert woanders ganz andere Interessen. So hat er bei einer seiner letzten Reden in Washington formuliert - ich zitiere -:
Die Öffnung des Bündnisses nach Osten entspricht dem vitalen Interesse Deutschlands. Man muß kein strategisches Genie sein, um dies zu verstehen; es reicht ein Blick auf die Landkarte. Auf Dauer ist es nicht haltbar, wenn Deutschlands Ostgrenze die Grenze zwischen Stabilität und Instabilität in Europa ist. Deutschlands Ostgrenze kann nicht die Ostgrenze von Europäischer Union und NATO bleiben. Entweder wir exportieren Stabilität, oder die Instabilität kommt zu uns.
Nun wird Instabilität an die polnische Ostgrenze exportiert. Nun sollen die Polen in die Situation geraten, in der Deutschland jahrelang war. Dies sieht übrigens auch die internationale Presse ähnlich. Ich zitiere aus der „International Herald Tribune" vom 2. Mai - grob übersetzt -: Deutschland hat einfach keine Lust mehr, länger die Ostflanke der NATO zu markieren. Deshalb war es Deutschland, das die Osterweiterung der NATO gepuscht hat. - So kommentiert es die internationale Presse. Es geht das vitale Interesse Deutschlands vor; die Sicherheitsinteressen Europas werden eigentlich nur marginal abgehandelt.
Nun wissen wir, daß es auch in den USA eine sehr intensive Debatte darüber gegeben hat. Wir haben damals den Plan „Partnerschaft für den Frieden" begrüßt, weil wir wußten, daß dies ein offener Prozeß sein sollte. Nun ist in den Vereinigten Staaten im wesentlichen aus innenpolitischen Gründen ein anderer Kurs eingeschlagen worden. Wer sich das Wahlkampfgetümmel anschaut, der merkt ebenfalls, daß das Thema der NATO-Osterweiterung eine Rolle spielt. Dole fordert jetzt sogar die Aufnahme Polens noch in diesem Jahr, nur weil er auf die Stimmen der polnischstämmigen Wähler in den entscheidenden Wahlbezirken der Industriegebiete spekuliert.
Dies alles soll angeblich nicht gegen Rußland gerichtet sein. Aber die Frage, ob denn genügend getan wird, um die russischen Ängste zu kompensieren, und ob der Konnex zu Rußland hergestellt wird, mit dem man - ich behaupte - Schadensbegrenzung betreibt, nachdem man die falsche Richtungsent-
Ludger Volmer
Scheidung getroffen hat, wird auch von anderen skeptisch beurteilt. So sagt zum Beispiel Ex-General Schmückle im jüngsten „Spiegel", was die Kompromißfähigkeit der NATO angeht:
Zu schwerfällig, zuwenig auf Kompromisse angelegt ist das Bündnis.
Was die Kooperation mit Rußland angeht, kommt er zu dem Ergebnis:
Dies war politischer Kautschuk vom Besten.
Man kann sich dieser Auffassung eigentlich nur anschließen. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen hat sich deshalb gegen die NATO-Osterweiterung ausgesprochen,
- die Partei ebenso wie die führenden Friedensforschungsinstitute der Bundesrepublik, die heute in ihrem Jahresgutachten dazu schreiben - ich zitiere aus einer entsprechenden ddp-Meldung -:
Das Gutachten wende sich ... gegen eine NatoOsterweiterung. Das wäre die falsche Antwort auf die künftigen Herausforderungen europäischer Sicherheit. Ein Militärbündnis sei ein „obsoletes Mittel der Sicherheitspolitik", jedenfalls im Vergleich zu Organisationen kollektiver Sicherheit wie UNO und OSZE.
Gleichzeitig wird prognostiziert, daß diese Osterweiterung faktisch das Gegenmodell zum Ausbau der kollektiven Sicherheit, wie er bei OSZE oder UNO angebunden sein kann, sein wird und daß damit die Funktionsfähigkeit dieser Organisationen eingeschränkt wird.
Deshalb muß man zum Schluß folgende Frage stellen: Welchen Charakter wird diese NATO, die jetzt ausgedehnt werden soll, noch haben? Unter Verweis wiederum auf die „FAZ" kann ich sagen: Die Verteidigung der NATO-Staaten gegen jedweden Angriff ist historisch überholt. Ich zitiere wörtlich aus der „FAZ":
Dieser Auftrag hat mit dem Ende des Ost-WestKonflikts an Bedeutung verloren; andere Aufgaben ... erfordern Interventionsbereitschaft und Flexibilität.
Dies ist eines der Hauptergebnisse der NATO-Tagung von Berlin. Die NATO ist heute faktisch kein Verteidigungsbündnis alten Stils mehr; sie ist auch kein Bündnis kollektiver Sicherheit, weil dies ehemalige Gegnerstaaten unter einem Dach zusammenfassen müßte. Es handelt sich im wesentlichen um ein Bündnis, das sich, was die räumliche Ausdehnung seiner Aktivitäten und die Aufgaben angeht, keine Selbstbeschränkung auferlegt. Die Struktur der NATO ist immer noch so, daß auf den Ersteinsatz von Atomwaffen nicht verzichtet wird, und sie ist ein Militärbündnis, das immer noch die Verwendung von Landminen plant. Dies ist das Bündnis, das Sie bejubeln und dessen Ostausdehnung Sie nun beklatschen. Darüber gibt es heftige Debatten, auch in unserer Fraktion, weil wir alle an einer Außenpolitik interessiert sind, die zum einen das transatlantische Verhältnis vertieft.
Die Redezeit!
Wir wollen keine Abkoppelung Europas, keinen EuroGaullismus. Wir wollen auch keinen Nationalismus. Wir wollen das transatlantische Verhältnis vertiefen. Wir wollen die Integration unserer östlichen Nachbarn in den westlichen Kulturbereich. Wir wollen den Brückenschlag zu Rußland. Viele von uns sind der Auffassung, daß die Osterweiterung der NATO dem eher entgegensteht.
Gemeinsam plädieren wir dafür, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit so zu kräftigen, daß Militärapparate -
Ihre Redezeit!
- wegen einer funktionierenden präventiven Politik überflüssig werden.
Kollege Uli Irmer, Sie haben das Wort.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesaußenminister Klaus Kinkel, Karsten Voigt und Karl Lamers haben hier mit den richtigen Worten und Argumenten die Ergebnisse der Berliner NATO-Konferenzen gewürdigt. Ich will das nicht wiederholen.
Ich möchte von dieser Stelle aus im Namen der freien demokratischen Bundestagsfraktion dem Außenminister, der Bundesregierung insgesamt herzlichen Dank sagen
- ich komme gleich auf Herrn Rühe -, daß sie seit dem Umbruch in Europa, in der Welt mit großer Kohärenz die richtigen politischen Linien verfolgt haben - auch in der Bündnispolitik.
Ludger Volmer kann einem eigentlich nur leid tun, wenn er sich hier hinstellt und noch nach Jahren einen Popanz bekämpft, den sich er und seine Kollegen vor Jahren aufgebaut haben. Sagen Sie doch gleich, Herr Volmer, was noch immer in Ihrem Parteiprogramm steht: daß Sie wollen, daß die Bundesrepublik aus der NATO austritt, daß die NATO aufgelöst wird. Sagen Sie es doch ehrlich und bauen Sie nicht dieses Gespenst von einer gräßlichen Organisation auf, die da gar nichts mehr zu suchen habe.
Ulrich Irmer
Ich sage Ihnen zweierlei: Erstens. Wenn ein deutscher Verteidigungsminister in Washington sagt, er vertrete deutsche Interessen, dann hat er recht. Er würde pflichtwidrig handeln, wenn er deutsche Interessen nicht verträte. Dank an Volker Rühe.
- Herr Verheugen, mich hat ein bißchen auf die Palme gebracht, was Herr Volmer vorhin gesagt hat.
Herr Verheugen hat die Rolle des Moderators übernommen.
Zweitens. Es ist doch wohl richtig, wenn gesagt wird: Es liegt nicht nur im Interesse Polens, Ungarns und der anderen Staaten, sondern auch in unserem Interesse, wenn in den Ländern Stabilität entsteht.
Das liegt letzten Endes auch im russischen Interesse. Denn was haben die Russen davon, wenn westlich ihrer Grenzen Unstabilität einkehren sollte? Es handelt sich wirklich um ein gesamteuropäisches Interesse. Wir liegen der geographischen Region am nächsten, die noch immer nicht endgültig stabilisiert ist. Wir wissen, daß die demokratischen Reformen, die Wirtschaftsreformen, die Gesellschaftsreformen dort zwar eingeleitet und auf gutem Wege sind. Aber wer wäre denn so vermessen, zu sagen, diese Länder seien schon so endgültig stabilisiert, daß wir uns darauf verlassen können, dies helfe auch in 20 Jahren noch? Deshalb ist es unser Interesse, auch durch wirtschaftliche Kooperation mitzuwirken.
Ich gebe Ihnen recht, Herr Volmer: Auch ich halte die EU-Öffnung - ich rede nie von Erweiterung; ich rede immer von Öffnung - für umfassender und daher für noch wichtiger als die NATO-Öffnung. Ich halte beides aber für ziemlich untrennbar. Auch die NATO ist keine reine Militärorganisation. Die NATO hat in gleicher Weise eine zivile Aufgabe. Die NATO ist gerade nach den Berliner Beschlüssen mit zuständig für Krisenvorbeugung, Krisenverhütung und letzten Endes für Krisenbewältigung.
Auch die OSZE wollen wir stärken. Sie ist zur NATO aber keine Alternative. Denn wer will militärische Risiken für die Zukunft ausschließen? In Berlin ist mit Recht betont worden: Die NATO ist nach wie vor in erster Linie Verteidigungsbündnis. Ich möchte es nicht verantworten, die Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit ein für allemal beiseite zu fegen und zu sagen „Das brauchen wir nicht mehr" , weil ich nämlich nicht so klug und weise bin, vorhersagen zu können, was sich in 5, 10 oder 20 Jahren an Risiken vielleicht entwickelt. Das heißt überhaupt nicht, irgendeine Gefahr herauf zubeschwören, die sich heute in der Tat nicht abzeichnet. Das heißt aber, in vorausschauender, verantwortungsvoller Politik auch für Gefahrensituationen, die sich entwickeln könnten, bereit zu sein. Deshalb brauchen wir die NATO. In diesem neuen Gewande
nach Berlin ist die NATO eine höchst moderne, höchst menschliche und höchst vernünftige Einrichtung.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Heinrich Graf von Einsiedel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Schachspieler unter Ihnen werden mir recht geben: Nach einem schlechten Zug in einer Partie gibt es keine guten Züge mehr. In der Politik ist das genauso: „Berührt - geführt! " Ein einmal ausgeführter Zug ist nicht mehr ungeschehen zu machen.
Aber Gott sei Dank, wir haben den Zug noch nicht gemacht. Wir haben unsere Dame, die NATO, noch nicht auf die osteuropäischen Felder gesetzt. Wir haben sie bloß in der Hand und fuchteln damit herum. Noch brauchen wir den Zug nicht auszuführen.
Ich gebe Ihnen unumwunden zu, daß sich die PDS als konsequent pazifistische Partei in dieser Frage in einem gewissen Zielkonflikt befindet. Die uns nahestehenden Postkommunisten in den meisten Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes wollen in die NATO,
und Sie möchten sie mit offenen Armen aufnehmen. Sie bezeichnen uns, die PDS, als Kommunisten oder Postkommunisten und verweigern uns deshalb die Gleichberechtigung in diesem Bundestag, obwohl wir eine eindeutig nichtkommunistische, demokratische Partei sind.
Die postkommunistischen Regierungen in Polen und Ungarn dagegen wollen Sie als gleichberechtigte Partner in die NATO aufnehmen.
Na, immerhin, nehmen wir das als ein Zeichen, daß Sie dabei sind, gewisse Vorurteile abzubauen. Das läßt hoffen.
Dennoch geben wir unseren Freunden in Polen und Ungarn und auch den nicht postkommunistischen Regierungen in den anderen Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes zu bedenken, was der Beitritt zur NATO für sie bedeuten würde. Eine Studie des Haushaltsbüros des US-Kongresses hat eine Abschätzung der finanziellen Folgekosten der Osterweiterung in den nächsten Jahren vorgenommen und veranschlagt die Gesamtkosten allein für die derzeit aussichtsreichsten Beitrittskandidaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei auf mindestens 50 Milliarden Dollar, wobei man ohne weiteres davon ausgehen kann, daß diese Schätzung ein
Heinrich Graf von Einsiedel
absolutes Minimum sein dürfte. Wie diese Länder das unter ihren gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verkraften wollen, ist mir schleierhaft.
Wichtiger aber noch als dieser bisher ungeklärte finanzielle Aspekt der NATO-Osterweiterung ist die Tatsache, daß so, wie sie geplant ist, in Osteuropa Staaten verschiedener Rangordnung geschaffen werden, nämlich diejenigen, die demnächst aufgenommen werden sollen, und diejenigen, die draußen vor der Tür auf der Wartebank Platz nehmen müssen.
Das ist eine höchst gefährliche Unterscheidung. Denn die Sicherheitsbedürfnisse all derer, die ebenfalls Rußlands wegen besorgt sind, von der NATO aber zunächst nicht als Mitglieder akzeptiert werden sollen, bleiben unerfüllt. Diesen Ländern wird nach dieser Logik ein Schutz vorenthalten, den sie angeblich brauchen. Wie sich das mit der Schaffung einer verbesserten Sicherheitsarchitektur für den gesamteuropäischen Raum vereinbaren läßt, dafür haben Sie keine vernünftige Erklärung bereit.
Wir geben unseren Freunden - und den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes überhaupt - zu bedenken, ob nicht ein mit Rußland zu schließender gesamteuropäischer Sicherheitspakt, der die Unantastbarkeit der Grenzen aller Nachfolgestaaten des Warschauer Paktes gleichberechtigt garantiert, sie militärpolitisch neutralisiert und allen Partnern dieses Paktes Schutz gegen einen potentiellen Aggressor bietet, eine weit weniger konfliktträchtige und weit kostengünstigere Alternative wäre als die Ausdehnung der NATO -
eine Alternative, die die angedeuteten Konflikte vermeidet und den Export von Stabilität nicht auf eine Minderheit dieser Staaten beschränkt.
So, wie Sie jetzt vorgehen wollen, wird niemand die Russen davon überzeugen können, daß die NATO nicht ein Militärbündnis gegenüber Rußland ist. Was das in der gegenwärtigen, äußerst labilen Lage in Rußland für Folgen haben kann - gleichgültig, wie der nächste Präsident auch heißen wird -, darüber kann man natürlich nur spekulieren. Aber bitte denken Sie an das Ende der Weimarer Republik, als das Gefühl, durch militärisch weit überlegene Nachbarn eingekreist zu sein, in verhängnisvoller Weise von nationalistischer Demagogie ausgeschlachtet worden ist. Wer den Wahlkampf in Rußland aufmerksam verfolgt, kann nicht umhin, festzustellen, daß diese Gefahr auch in Rußland höchst akut ist.
Sie können die Dinge drehen und wenden, wie Sie wollen: Natürlich ist die NATO eine Wertegemeinschaft, natürlich ist sie ein politisches Bündnis. Aber im wesentlichen ist und bleibt sie auch nach Berlin in erster Linie ein Militärbündnis.
Von Gewicht ist der militärische Apparat, die Verfügung über die Streitkräfte - nichts weiter.
Die NATO ist und bleibt ein von den USA dominiertes Bündnis. Die Regelungen über die Alliierten Streitkräftekommandos - Combined Joint Task Forces - sprechen in dieser Hinsicht Bände. Die Welt wird nicht sicherer und besser, wenn sich innerhalb der NATO ein neues westeuropäisches Militärbündnis herausbildet, selbst wenn man unterstellt, daß dadurch Eifersüchteleien und Konflikte über Zielsetzung und Führungsrolle zwischen Amerika, Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik oberflächlich eingeebnet werden.
In der Öffentlichkeit und in der Presse läßt es sich mit Händen greifen, daß sich die Dissonanzen dieser Art eher verschärfen werden. Die PDS kann daher entgegen den offiziellen Verlautbarungen aus Brüssel und Bonn in den Beschlüssen von Berlin keinerlei hoffnungsvolle Signale für die Zukunft erkennen.
Im Gegenteil: Es sind die falschen Signale gesetzt. In Berlin hat die NATO ihren Charakter als reines Verteidigungsbündnis aufgegeben. Mit der Bildung der Combined Joint Task Forces und der Stärkung der WEU als europäischem Pfeiler der Allianz wird die neue NATO in ein weltweit aktionsfähiges Interventionsbündnis verwandelt. Politisch verhängnisvoll ist die mit diesem Schritt einhergehende Militarisierung der Europäischen Union.
Wer heute in einer völlig veränderten Welt Sicherheit in erster Linie immer noch mit militärischer Stärke gleichsetzt und eine neue europäische Rüstungs- und Umrüstungsphase einleitet, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Was diese Welt mit Blick auf die nächsten Jahrzehnte statt dessen braucht, ist eine Lösung der sich dramatisch verschärfenden sozialen Konflikte. Ohne die Lösung dieser Probleme - daran wird auch die F.D.P. nicht vorbeikommen, auch nicht mit Steuererleichterungen, die sie nicht finanzieren kann - wird es keine Sicherheit geben, wie auch immer die NATO in Zukunft aussehen wird.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Otto Hauser.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe nicht, warum gerade Sie, ein Vertreter der PDS, sich auch heute noch anheischig machen, die Länder Osteuropas fremdbestimmen zu wollen. Überlassen Sie doch ihnen die Entscheidung, wie und wann und zu welchen Konditionen sie Mitglieder der NATO werden wollen! Sie haben die Men-
Otto Hauser
schen dort lange genug fremdbestimmt, Gott sei Dank haben Sie hier künftig nicht das Sagen.
Eines, lieber Herr Kollege Volmer, wundert mich schon: Für wen haben Sie eigentlich gesprochen, für die Fraktion oder für die Partei? Sie haben ganz bewußt - Herr Fischer, Sie sollten gut zuhören -
gesagt: „Für meine Partei sage ich" .
Da wir jetzt von einer reformierten NATO reden und sich die Grünen in ihrer Philosophie, wie Sie, Herr Fischer, runderneuert haben
- das meinte ich auch -, ist es vielleicht angemessen, klar zu sagen, was Sie eigentlich denken. Bei der Rede des Kollegen Volmer - mit Verlaub: Sie zeigte die Denkweise eines Ewiggestrigen - fiel mir auf, daß Sie die Philosophie des Westwalls propagieren. - So habe ich mir das vorgestellt, als Sie gesprochen haben. - Die Philosophie des Westwalls will abschotten und andere nicht hineinlassen. Deswegen sage ich Ihnen: Wir gehören nicht zu denen, die als Oberlehrer und Besserwisser meinen, den anderen sagen zu können, was sie wollen sollen. Berlin hat im Hinblick darauf, den Osteuropäern die Hand zu reichen, unseren russischen Freunden klar zu sagen, was wir wollen, und zugleich eine klarere europäische Priorität zu setzen, deutlich gemacht, Herr Außenminister, daß die Europäer nicht nur die Schlagworte einer neuen europäischen Sicherheitsidentität für sich in Anspruch nehmen, sondern daß sie die auch tatsächlich inhaltlich ausfüllen.
Für uns bleibt - das ist eine ganz wichtige Betonung der Unionsfraktionen - die nordatlantische Wertegemeinschaft weiterhin der Dreh- und Angelpunkt unserer sicherheitspolitischen Grundüberzeugung. Andererseits ist die Rückkehr Frankreichs in die integrierte Bündnisstruktur der NATO ebenso ein großes Ereignis. Längst ist auch klar, daß Europa in dieser neuen Epoche der Weltgeschichte mehr Verantwortung für Sicherheit und Frieden übernehmen muß als bisher. Die Umsetzung des Friedensvertrages von Dayton wird vielleicht später einmal diesen Wandel exemplarisch darstellen.
Zunächst erreichte die IFOR unter amerikanischer Führung die weitgehende Einhaltung der Friedensvertragsregelungen. Wenn nun Ende des Jahres die Truppen abziehen sollen, muß Europa sagen, wie die Konsolidierung dieses Friedensvertrages zu gewährleisten ist und wie der Ausbruch neuer Kämpfe verhindert werden kann.
Wie immer eine solche friedenstiftende Stuktur aussehen wird: Die Europäer müssen dafür Verantwortung tragen. Genau dies meinte der französische Staatspräsident Chirac, als er für die künftige Sicherheitsarchitektur in Europa drei Säulen forderte: eine erneuerte NATO, eine starke EU und eine europäische Sicherheitsorganisation, die auch Staaten außerhalb der NATO, wie Rußland, einen Platz einräumt. Diese drei Voraussetzungen für die Rückkehr Frankreichs in die militärische Bündnisstruktur können auch wir ohne Bedenken akzeptieren, denn diese drei Säulen liegen auch im Interesse Deutschlands.
In den letzten Jahren konnte man oft die Meinung hören, die Deutschen sollten sich um die neuen Partner in Osteuropa kümmern. Manche sehen darin eine Chance, manche ein Risiko, daß Deutschland sein altes Sonderverhältnis zu Rußland reaktivieren könnte. Nachdem nun mit unserer maßgeblichen Mitwirkung auch das Nordatlantische Bündnis darauf eingeschworen ist, einen Mittelweg zu gehen, Rußland und die Staaten Osteuropas zu integrieren, die Verbindungen zu Amerika nicht zu lockern, und nun die volle Integration Frankreichs in die Bündnisstruktur erfolgt ist, sage ich mit Fug und Recht: Das ist der Beginn einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur, auf der wir aufbauen können.
Ich bedanke mich.
Frau Kollegin Uta Zapf, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde die Entwicklung dieser Debatte hochinteressant, weil wir einen Punkt, der auf der NATO-Frühjahrstagung gar nicht schwerpunktmäßig behandelt wurde, hier schwerpunktmäßig behandeln. Dabei gibt es eine ganze Menge anderer Punkte, die auch eine Rolle spielen. Aber auch ich will den Punkt der NATO-Osterweiterung mit ansprechen.
Was ist bei dem Treffen des Nordatlantikrates auf der Ebene der Außenminister verabredet worden? Es ist die berühmte europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität der NATO beschlossen worden. Was bedeutet das? Ich zitiere einige Stimmen hierzu: US-Außenminister Christopher sagt, den europäischen Alliierten erlaubt dies, mehr Verantwortung zu übernehmen. Eine französische Stimme, Herr de Charette, sagt, die europäische Identität kann sich entfalten. - Dies sind, wenn man es genau analysiert, sehr unterschiedliche Aussagen.
Ich glaube, daß wir noch weit davon entfernt sind, an Hand der Beschlüsse des Nordatlantikrates schon jetzt von einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität reden zu können. Es gibt in diesem Bereich eine ganze Reihe von ungeklärten Fragen, übrigens auch bei den Europäern selber. Es wird spannend sein, zu beobachten, wie die Vorstellung einer Sicherheitsidentität in der Praxis umgesetzt
Uta Zapf
werden wird. Dies gilt einmal für das Verhältnis zur WEU. Da ist im Detail einiges an praktischen Verfahrensweisen verabredet worden. Ungeklärt ist aber, wieweit die WEU als unabhängige Organisation agieren kann. Ich lese dieses Dokument so, daß die WEU zwar die Truppen oder das Material assigniert bekommen kann, zum Beispiel in dem Fall, daß Aktionen geplant werden, an denen die USA nicht teilnehmen wollen, daß dies aber nur nach Absegnung durch die NATO überhaupt stattfinden kann. Ich glaube, es ist in der Tat noch ein weiter Weg bis zu dem, was wir uns in bezug auf Maastricht II und spätere Zeitabschnitte der europäischen Einigung hätten vorstellen können. Es ist noch eine ganze Menge an Nachdenken über die Zukunft der europäischen Sicherheit vonnöten.
Die Instrumente sind geschaffen. Durch die Combined Joint Task Forces, das heißt durch das Vorhaben der Veränderung der Kommandostrukturen, will man sich auf die veränderte strategische Lage einstellen und eine höhere Flexibilität und Mobilität zur Übernahme neuer Aufgaben entwickeln.
Damit komme ich zu den neuen Aufgaben. Im Unterschied zu unserem Herrn Außenminister glaube ich nicht, daß dieses Dokument ausweist, daß der Kernauftrag weiterhin die Verteidigung ist. Die neuen Aufgaben stehen weitgehend vielmehr im Mittelpunkt der sogenannten neuen NATO. Was sind diese neuen Aufgaben? Das sind Aufgaben, die sich von IFOR als Modell ableiten lassen, das heißt Aktionen zusammen mit Nicht-NATO-Partnern und Aktionen, die nicht Artikel-5-Operationen sind: friedenserhaltende und friedenserzwingende.
Meine Damen und Herren, es wird nirgends definiert, auf welcher Grundlage solche Aktionen unternommen werden sollen: ob im UNO-Auftrag, im OSZE-Auftrag oder ob man sich selber damit beauftragen will und wer das Mandat erteilt. Diese Dinge sind politisch von höchster Wichtigkeit. Die SPD ist sich einig darüber, daß eine solche Auftragserteilung für friedenserhaltende Missionen nicht in Eigenmächtigkeit geschehen kann, sondern von einer solchen Organisation kollektiver Sicherheit abgeleitet werden muß.
Für mich ergeben sich noch weitere Fragen. Wenn man davon spricht, daß das Ganze im Rahmen einer Sicherheitsarchitektur Europas stattfindet, dann frage ich mich: Welche Krisenherde sollten im Mittelpunkt der zukünftigen Aktionen stehen? Sollen das osteuropäische Krisenherde sein: Moldawien, Ukraine, Kaukasus? - Was hat das denn für politische Folgen, wenn man solche Vorhaben hat, auch angesichts der Diskussion, die wir zum Beispiel vorhin geführt haben? - Sollen es die Mittelmeerländer sein? Soll es der sogenannte Krisenbogen sein, wo man mit den Mitteln der NATO militärisch eingreift?
Es sind zwar ein flexibler Rahmen, eine Organisation und die Vorgabe für Militärstrukturen geschaffen, aber politische Definitionen und Analysen fehlen. Dies ist das Wichtigste, was zu leisten ist. Denn sonst wird dies eine Interventionstruppe, die zwar flexibel handhabbar ist, aber politisch möglicherweise nicht mehr einzufangen ist.
In der Frage der NATO-Erweiterung muß man ein bißchen mehr Vorsicht walten lassen, als einige Kolleginnen und Kollegen von der CDU hier formuliert haben. Denn wir müssen - das wird in diesem Moment ganz deutlich - sagen: Es gibt zu der Frage der NATO-Erweiterung in allen Fraktionen noch unterschiedliche Auffassungen. Wir sind gut beraten, wenn wir mit diesen Problemen anständig umgehen, weil es Probleme sind, die nicht leichtfertig gelöst werden können. Denn alles, was wir entscheiden, hat erhebliche Folgen.
Natürlich sehen wir alle, daß die osteuropäischen Länder ein Sicherheitsbedürfnis, und zwar ein gerechtfertigtes Sicherheitsbedürfnis, formuliert haben. Aber wenn wir die gesamteuropäischen Folgen betrachten, dann kann es nicht angehen, daß wir sagen: Das ist jetzt gebongt, und es ist uns relativ egal, was die Russen tun. - Es gab eine Phase, in der das ziemlich genau der Tenor zumindest bei Teilen der CDU war.
Was die Frage der Beitrittswilligen betrifft: In dem Dokument sind insgesamt 15 aufgeführt. Wer soll denn beitreten? In welcher Reihenfolge sollen sie beitreten? Wenn sie „päckchenweise" beitreten, wer sind die ersten, wer sind die zweiten? Wissen die zweiten, daß sie nach den ersten auch tatsächlich hineinkommen, oder wie sieht das aus?
Unser Ansatz, indem wir sagen: „Es ist wichtig, eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen" , ist nicht die NATO-Erweiterung, sondern die Nutzung aller Kooperationsmodelle, die es überhaupt gibt. Es gibt genug Institutionen. Es gibt sie bei der NATO, nämlich den NATO-Kooperationsrat, der einen sicherheitspolitischen Dialog führen soll. Es gibt ferner die Partnership for Peace, die Vertrauensbildung und Transparenz - ebenso übrigens wie der NATO-Kooperationsrat - schafft - aber das durch ganz konkrete Zusammenarbeit bei Manövern, die einen Beitrag zur demokratischen Kontrolle militärischer Strukturen leisten kann. Damit ist sie imstande, im sicherheitspolitischen Sinne einen hohen Beitrag zu leisten, eher als eine Diskussion über Erweiterung, die wieder Projektionsängste auslöst und damit im sicherheitspolitischen Sinne kontraproduktiv sein kann.
Ich möchte noch einmal, wie es eben der Kollege Volmer getan hat, auf folgendes hinweisen: Wir haben eine Organisation, die im gesamteuropäischen Rahmen für Konfliktbewältigung, -verhütung und -management verantwortlich ist. Wir müßten eigentlich nur bereit sein, die längst geschaffene Struktur der OSZE nun endlich einmal mit Leben zu erfüllen und zuzulassen, daß die OSZE tatsächlich die Aufgaben leistet, die wir ihr zugedacht haben und die vertraglich in Dokumenten niedergelegt sind.
Das bedeutet meines Erachtens, daß wir die OSZE nicht mit so lächerlich wenig Geld und Personal ausstatten können. Im übrigen beträgt der Etat der OSZE, wenn ich das richtig im Kopf habe, insgesamt
Uta Zapf
32 Millionen Dollar. Allein die kleine Planungszelle der WEU verschlingt jährlich 50 Millionen DM - ich hoffe, ich habe jetzt DM- und Dollarzahlen richtig im Kopf. Hier besteht also schon ein krasses Mißverhältnis zwischen dem bisherigen Phantom WEU und der OSZE. Für die wirklich mit konkreten Aufgaben im politischen Geschehen beauftragte OSZE, die ja schon in Missionen ihren Mann und ihre Frau gestanden und Leistungen vorzuweisen hat, gilt, daß über ihre Erfolgsstories in der Öffentlichkeit leider nie so diskutiert wird, wie es sich eigentlich gehörte. Aber wenn kein Blut fließt, ist es für die Öffentlichkeit nun einmal nicht so attraktiv.
Ich glaube, hier liegt eine der großen Zukunftsaufgaben, und die sollten wir nutzen. Im Zusammenhang mit der auch in diesem Dokument unterstützten Zukunftsarchitektur für das 21. Jahrhundert müssen wir nämlich diese Strukturen ausbauen und stärken und dürfen nicht alleine auf die militärischen Strukturen setzen. Diese bergen zusätzlich die Gefahr in sich, in der Tat Ausgrenzungen und Grauzonen zu schaffen, die dann ihrerseits wieder zu einer Bedrohung für die europäische Sicherheit werden können.
Lassen Sie mich ganz zum Schluß stichwortartig noch einen letzten Punkt aufgreifen, der mir als abrüstungspolitischer Sprecherin besonders am Herzen liegt. Dieses Dokument ging auch auf die Wichtigkeit der abrüstungspolitischen Vorhaben ein.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist aber bereits abgelaufen.
Gut, ich schließe mit diesem Satz. - Diese abrüstungspolitischen Vorhaben voranzutreiben und so auszuführen, wie sie dort niedergelegt sind, und weiter darüber nachzudenken, wie man mit präventiven Schritten mögliche Bedrohungen, die gesehen werden, abbaut, statt militärisch darauf zu reagieren, halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben. Wenn die NATO das in der Tat tun würde, dann wäre sie eine ziemlich neue NATO.
Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Langsam dreht sich die Diskussion nun etwas im Kreise.
- Dazu haben Sie beigetragen, weil Sie deutlich gemacht haben, daß die SPD offensichtlich unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema hat.
- Ja, der Herr Fischer erzählt in den USA etwas anderes als der Ludger Volmer hier.
- Herr Fischer, wenn Sie sich die Rede des Präsidenten der Nordatlantischen Versammlung vor dem Warschauer Sejm, die Sie sicher nicht gelesen haben, vor Augen führen, dann werden Sie feststellen, daß zwischen dem, was Frau Zapf gerade gesagt hat, und seiner Meinung doch einige Akzentunterschiede bestehen. Den wesentlichen Akzentunterschied würde ich am Thema OSZE und NATO festmachen. Ich weiß nicht, ob das auch ein Volmer-Fischer-Unterschied ist oder ob Fischer und Volmer hier einer Meinung sind.
Die NATO kann durch die OSZE nicht ersetzt werden. In einer europäischen Sicherheitsstruktur der Zukunft werden sich die NATO mit dem europäischen Pfeiler und die OSZE ergänzen.
Aber die Frage der Möglichkeiten von Sanktionen und der Durchsetzung von politischen Notwendigkeiten in der Krisenbeherrschung haben wir alle in diesem Haus in den letzten Jahren hinreichend diskutiert, und zwar an dem Fallbeispiel Jugoslawien/ Bosnien.
Fragen wir uns doch einmal, was wäre, wenn die OSZE alleine dagestanden wäre und das Problem hätte lösen sollen. Wir alle kennen die Antwort. In der Realität ist es doch die Schnelle Eingreiftruppe, die von Jacques Chirac initiiert worden war, und die Initiative der Amerikaner und damit der NATO gewesen. Auch IFOR - der Außenminister hat sehr nachdrücklich darauf hingewiesen - würde ohne ein NATO-Engagement in dieser Form überhaupt nicht implementiert werden können. Nicht nur im militärischen - Sie haben zu Recht darauf hingewiesen -, sondern auch im zivilen Bereich ist es ganz entscheidend, daß die NATO beteiligt ist.
Es geht also nur um die Frage, welche NATO wir in Zukunft haben. Auch dazu ist sehr viel gesagt worden, das ich nicht wiederholen will.
Es gibt durchaus auch Punkte, Frau Zapf, bei denen ich mit Ihnen übereinstimme. Nur, ich meine, wir müssen aufpassen, daß wir uns nicht in einer europäischen Diskussion im Kreise drehen. Durch das französische Verhalten haben wir klar und deutlich gesehen: NATO und WEU müssen sich ergänzen und schließen sich auch nicht aus. Aber der europäische Pfeiler und das amerikanische Widerlager ergänzen sich gegenseitig in einer Weise, über die wir in Europa so nicht diskutieren.
Es gibt interessante Stimmen aus Washington, die sich in der letzten Zeit mit der Frage beschäftigen: Gibt es denn einen europäischen Isolationismus? Diese Frage ist für uns völlig ungewohnt. Wir neigen ja dazu, die Sorge auszudrücken, daß es einen amen-
Christian Schmidt
kanischen Isolationismus gibt, weil wir die Amerikaner hier doch brauchen.
Diejenigen, die das schreiben - Larrabee, Blackwill, Asmus -, fragen: Ist das Verhalten, eurozentrisch regionale Lösungen selbst finden zu wollen und alles andere auf den großen Bündnispartner abzuladen, nicht eine Form von Isolationismus? Das muß uns natürlich zu denken geben.
- Als Sie vor zwei Wochen in Washington waren, haben Sie da auch so gelacht? Ich weiß nicht, ob Sie damit die amerikanischen Vorstellungen von Verpflichtung und Verantwortung getroffen haben.
Jawohl, wir müssen darüber reden, ob wir das Wort von George Bush von den „partners in leadership" nicht auf die neustrukturierte NATO auch bei den Dingen, die sich nicht allein in europäischen regionalen Bereichen bewegen, ausdehnen müssen.
Damit wird nicht dem Interventionismus das Wort geredet. Vielmehr geht es um die Frage, wo im Rahmen des internationalen Rechts - dazu gehört in allererster Linie die Charta der Vereinten Nationen - Organisationen zur Verfügung stehen, die als richtig und notwendig erkannte Konfliktbewältigung vornehmen. Dabei hoffe ich immer, daß es zu 99 Prozent zivile und präventive Konfliktbewältigungen sind. Aber es können, Frau Zapf, auch Konfliktbewältigungen sein, die militärische Komponenten erfordern.
Herr Schmidt, die Redezeit!
Die Zwischenfrage, die sich bei Herrn Fischer anbahnt, gestatte ich gerne.
Entschuldigung, ich hatte Sie nicht auf die Zwischenfrage hingewiesen, sondern auf die Tatsache, daß Ihre Redezeit bereits überschritten ist.
Aber bitte, Herr Kollege Fischer.
Herr Kollege Schmidt, wären Sie nach dem, was Sie hier gesagt haben, so gütig und würden etwas konkreter sagen, wie sich diese „partnership in leadership" zwischen der neuen NATO und den USA als globale Angelegenheit im Verhältnis zu
der Rolle definiert, die die UN in Ihrem Kopfe zukünftig haben soll?
Da ich ein gütiger Mensch bin, kann ich versuchen, Ihnen das in wenigen Worten zu skizzieren. Wir können das anschließend gern noch vertiefen.
Sehen Sie, Herr Fischer, die Frage ist: Werden sich Konflikte nur in Europa entwickeln, oder wird es auch woanders Notwendigkeiten geben, tätig zu werden? Wird dann ein Verteidigungsbündnis wie die NATO als Krisenreaktionskraft gefordert sein? Kann sie außerhalb ihres Bündnisbereichs tätig werden?
Damit kommen wir automatisch zu der Frage: Wer gibt dazu die Erlaubnis? Das können zum einen die Betroffenen sein. Diese Frage muß natürlich geregelt werden. Ich verweise auf Dayton. In Dayton konnten die Dinge erst dann ihren Gang gehen, nachdem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das DaytonAgreement beschlossen hatte.
Wir werden über regionale Unterorganisationen der Vereinten Nationen reden und auch fragen müssen, in welchem Umfang die NATO solche Funktionen selbst übernehmen kann. Das heißt nicht - damit will ich Sie beruhigen -, daß ich die Prinzipien des Völkerrechts außer Kraft setzen möchte, allerdings unter Einbeziehung von Art. 51 der VN-Charta; das sei hinzugefügt.
Zu weiteren vertiefenden Gesprächen bin ich gerne bereit.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manfred Opel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, Herr Minister, daß Sie Berlin als Geburtshelfer für eine neue NATO begreifen. Nur, damit haben Sie sich Aufgaben geschaffen, die ungeheuer schwierig sind. Sicherlich hat Berlin einen starken symbolischen Wert. Wenn Sie einerseits sagen, Europa und Amerika bräuchten einander, wenn andererseits der französische Staatspräsident in einem Rundfunkinterview am 8. Juni 1996 sagte - ich zitiere -: „Die Europäer werden in Kürze unter Verantwortung der WEU die Möglichkeiten der Allianz nutzen können, um Operationen durchzuführen, in die die USA nicht direkt involviert sind." Dann stellt die Bewältigung dieser beiden Positionen, wie ich glaube, einen massiven Spagat dar, den Sie in der Praxis durchzuführen haben.
Beschlüsse und Worte allein sind ja noch keine Lösung. Ob die Beschlüsse von Berlin Bestand haben, wird sich an ganz konkreten Problemen erweisen müssen. Diese Probleme sind sicherlich vielfältig. Natürlich begrüßt jedermann, wie der Kollege La-
Manfred Opel
mers das getan hat, die Rückkehr der Franzosen in die militärische Integration der Atlantischen Allianz. Aber der französische Verteidigungsminister Millon hat im jüngsten NATO-Brief vom Mai 1996 ausdrücklich betont, daß Frankreich dies nur soweit tun wird, als seine Souveränität nicht beeinträchtigt ist.
Das ist ein schwieriger Punkt; Karsten Voigt hat darauf hingewiesen. Dies bedeutet möglicherweise im konkreten Fall sogar während eines Einsatzes ein Veto, das seitens einer einzigen Nation möglich ist. Eine solche NATO oder ein solcher europäischer Pfeiler der NATO wäre kein Fortschritt, Herr Minister.
Ich verweise auch darauf, daß uns das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung auferlegt hat, die Bundeswehr als Parlamentsheer zu begreifen. Dies bedeutet konkret, daß wir, wenn wir in der NATO oder in einem europäischen Pfeiler integrierte Strukturen schaffen, als Parlament gebunden sind. Wir können nicht vorher plötzlich aus integrierten Strukturen ausscheiden; und während eines Einsatzes schon gar nicht.
Auch hier mahne ich an, Herr Außenminister, daß wir, wie es uns das Verfassungsgericht aufgetragen hat, endlich dazu beitragen, daß definiert wird, wie Form und Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung bei Entscheidungen über den Einsatz dieses Parlamentsheeres Bundeswehr ausgestaltet werden.
Diese Arbeit hat das Haus bisher nicht geleistet. Das müssen wir unbedingt tun. Wenn wir dieses nicht leisten, können wir unseren Soldaten eigentlich nicht mehr gegenübertreten; denn die haben einen Anspruch darauf, Herr Minister, zu erfahren, unter welchen Umständen und nach welchen Regeln das Parlament in Zukunft entscheidet.
Weiterhin möchte ich ein Wort zu der Frage des Tribunals in Den Haag sagen, weil Sie, Herr Minister, das in einem Nebensatz angesprochen haben. Ich hatte den Vorzug, bei der Eröffnung dabeisein zu dürfen. Wir haben mit den Ermittlern, die vor Ort in Jugoslawien tätig sind, gesprochen. Diese Ermittler haben ein Riesenproblem, nämlich Menschen, die Zeugen schwerster Verbrechen waren, für Aussagen in Den Haag zu gewinnen.
Vielleicht - ich möchte die Anregung ganz bewußt nur sehr vorsichtig machen - gibt es Möglichkeiten der europäischen Nationen, solchen Menschen, die zu Recht zu Hause Gefahr für Leib und Leben fürchten müssen, wenn sie als Zeugen in Den Haag auftreten und gleichzeitig im ehemaligen Jugoslawien wohnen bleiben, damit zu helfen, daß man ihnen temporär oder ganz Hilfe zusagt.
Ich höre gerade, daß der Außenminister sagt, das sei bereits zugesagt. Ich hoffe, daß sich dieses weiterentwickelt. Es wäre ein Beitrag zur Menschlichkeit. Wir würden das sehr unterstützen.
Weiter haben wir bei uns das Problem, daß immer wieder ein Gegensatz zwischen NATO und UNO
hergestellt wird. Das ist heute verschiedentlich, auch vom Kollegen Volmer, angesprochen worden. Ich möchte darauf verweisen, daß das Bundesverfassungsgericht - ob man es nun liebt oder nicht; ich bin da eher sehr zurückhaltend - die NATO als kollektives Sicherheitssystem definiert hat und seine Entscheidung darauf gegründet hat.
Ich möchte nur darauf verweisen, daß die UNO in Jugoslawien ohne Rückgriff auf die NATO das nicht hätte leisten können, was wir in diesem Hause mehrheitlich durch unser Votum unterstützt haben. Bei Ihnen in der Fraktion war das ja auch ein riesiges Problem.
Die Probleme im Zusammenhang mit den Beschlüssen von Berlin werden uns faktisch auch in einem ganz anderen Punkt einholen. Es wurde vom Kollegen Lamers gesagt, das Problem Rußlands sei Amerika. Ich glaube nicht, daß Amerika das Problem Rußlands ist, sondern Rußland ist das Problem Rußlands.
Es ist die Psychologie, die das echte Problem für die Öffnung der NATO bedeutet. Ich bin sehr dankbar, daß der Kollege Irmer dieses Wort so gebraucht hat, wie es in der Übersetzung des Kommuniqués heißt: Öffnung heißt Einladung, Erweiterung, heißt möglicherweise Konfrontation. Das dürfen wir nicht wollen. Aber wenn Sie mit allen politischen, ökonomischen, technologischen und militärischen Strukturen zu Friedenslösungen mit der neuen NATO beitragen wollen - wobei, wie die Kollegin Zapf gesagt hat, Abrüstung, Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung Zusammenarbeit und Partnerschaft vorne anstehen müssen -, dann ist es erforderlich, daß wir die notwendigen Mittel dazu bereitstellen.
Hier kann es nicht sein, daß sowohl der Bundeskanzler als auch der Verteidigungsminister von diesem Platz aus den Soldaten permanent versprechen: Der Verteidigungshaushalt ist sicher, ihr bekommt finanzielle Unterstützung, wir werden die Investitionsquote auf 30 Prozent erhöhen. Kaum aber geht das leiseste Windchen durch diese Republik, wird der Verteidigungshaushalt um über 1,8 Milliarden DM in diesem Jahr gekürzt. Das sind fast 20 Prozent der Investitionsquote. Das geht nicht.
- Ich bedanke mich sehr, daß Sie dem zustimmen. - Das ist schlicht und einfach etwas, was Soldaten nicht ertragen können. Das bedeutet eine Reduzierung der Sicherheit dieser Republik.
Wenn man der NATO gegenüber schon etwas zusagt, wenn man eine NATO-Planung ernst nimmt, wenn man die Zusagen gegenüber der UN ernst nimmt - auch angesichts der schwierigen finanziellen Probleme, die aber vorhersehbar waren -, dann
Manfred Opel
muß man wenigstens die Gesamtplanung im Griff behalten. Man kann dann nicht ideologisch sagen, die eine oder andere Zahl - sei es eine finanzielle Zahl oder eine Stärkezahl - stehe fest, und am nächsten Tag revidiert man das.
Ich habe unterdessen Kenntnis davon, daß die Bundesregierung sogar plant, den Plafond des Verteidigungshaushaltes auf Dauer, zumindest im mittelfristigen Zeitraum, deutlich zu senken, nämlich um etwa den Betrag, um den wir heute, im Jahr 1996, kürzen.
Wenn wir dies tun, dann können wir die neue NATO sofort an der Garderobe abgeben, weil sie dann nämlich ihren wichtigsten Aufgaben nicht mehr gerecht wird. Denn in der alten Planung 1997, die bis zum Jahre 2002 reicht - das ist das geltende Planungsdokument des Verteidigungsministers - wird festgelegt, daß die Krisenreaktionskräfte frühestens im Jahre 2009 voll einsatzbereit sind, was die Ausrüstung angeht.
Wenn wir heute den Plafond des Verteidigungshaushaltes weiter reduzieren, dann werden diese Krisenreaktionskräfte, die ja der Kern der zukünftigen Kooperation und des europäischen Pfeilers sind - wir sind die Nation in Europa, die den Hauptbeitrag leisten muß -, nicht aufgebaut werden können. Es gibt heute keine einzige Einheit, keinen einzigen Verband, der mit der Bezeichnung „Krisenreaktionskräfte" versehen werden kann, weil noch keine verbundene Lösung vorhanden ist.
Deswegen müssen wir die Kooperation mit Frankreich auf allen Gebieten, einschließlich des Bereichs von Ausbildung und Ausrüstung, und die Ausrüstung unserer Krisenreaktionskräfte mit absoluter Priorität nach vorne treiben. Ich ermutige die Koalition, nicht an dem, was sie gestern und vorgestern gesagt hat, festzuhalten. Denn wenn wir eine neue NATO ankündigen, dann brauchen wir, Herr Minister, auch eine neue Bundeswehr. Dann brauchen wir ein neues Konzept. Dieses neue Konzept ist so zu gestalten, daß wir die notwendigen Korrekturen vornehmen, daß wir innerhalb der NATO unsere Aufgaben erfüllen können, daß wir diese Aufgaben aber auch mit Priorität mit den Krisenreaktionskräften durchführen können. Wenn wir solches nicht tun, dann haben wir nur Worte gesagt, diese aber nicht mit Inhalten gefüllt. Das bedeutet letztlich, daß wir die Unwahrheit gesagt haben. Dies sollten wir uns gegenseitig nicht vorwerfen können.
Die NATO-Tagung hat ein deutliches Signal gesetzt; ohne Zweifel. Die Zukunftssicherung ist ausschließlich über eine eigene Strukturreform auch der Bundeswehr zusammen mit den anderen im Bündnis möglich, und zwar auf breiter Front.
Notwendig ist erstens die Schaffung neuer belastbarer NATO-Strukturen. Herr Minister, in schönen Zeiten, in denen die Sonne scheint, kann jeder die NATO gestalten. Ob die neue NATO hält, erweist sich erst in schwieriger Zeit. Heute wurde darüber diskutiert, daß die schwierige Zeit - das hat Karsten Voigt deutlich gesagt - nach dem 20. Dezember 1996 anbricht. Hierüber sollten wir uns heute Gedanken machen.
Notwendig ist zweitens die Anpassung der nationalen Streitkräftestrukturen. Es kann nicht sein, daß unterschiedliche Strukturen zu einem einheitlichen Streitkräftesystem in Europa führen. Hier liegt die Hauptaufgabe der Administration. Kommen Sie endlich zu Potte und machen Sie das! Laufen Sie nicht Ihren eigenen Ideologien nach!
Notwendig ist drittens ein erfolgreicher Abschluß des IFOR-Unternehmens.
Herr Kollege, ich hoffe, die Punktation geht nicht sehr viel weiter. Denn Ihre Redezeit ist beendet.
Herr Präsident, ich habe das gerade mit einiger Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen.
Ich glaube, wir und die neue NATO würden scheitern, die Bundeswehr könnte nicht bestehen, wenn wir uns sagen müßten: Das Morden in Jugoslawien geht weiter. Das ist der Prüfstein für die neue NATO.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Friedbert Pflüger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst eine Vorbemerkung zum Kollegen Opel. Ich habe Ihre Sorgen um den Verteidigungsplafond sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen. Man gewinnt etwas den Eindruck, als ob es der SPD in nächster Zeit hauptsächlich darum ginge, daß dieser Plafond nicht nur gehalten, sondern sogar erhöht wird, um den neuen Aufgaben gerecht zu werden. Ich finde diese Sorgen sehr berechtigt, bitte Sie jedoch nur, dafür auch bei der Kollegin Matthäus-Maier und der Fraktion der SPD im ganzen zu werben. Denn hier hat man seit Monaten, seit Jahren den Eindruck, als würde der Verteidigungshaushalt als Steinbruch für alle möglichen anderen Aufgaben des Bundeshaushalts angesehen werden.
Herr Kollege Pflüger, diese Äußerung hat gleich zwei Kollegen veranlaßt, eine Frage stellen zu wollen. Kollege Opel war der erste und dann Kollege Kolbow. Sind Sie bereit, beide zu beantworten?
Bitte schön.
Bitte, Herr Kollege Opel.
Herr Kollege Dr. Pflüger, sind Sie bereit, sich zu erinnern, daß es keine einzige Forderung gab aus der SPD, den Verteidigungshaushalt um mehr als 1 Milliarde DM zu kürzen?
- Herr Kollege Hauser, ich stelle gerade eine Frage, bin aber sehr dankbar, daß Sie diese Zwischenbemerkung machen. Wir haben, weil einzelne Vorhaben unsinnig waren, immer systembezogen auf Kürzungen gedrängt; denn wir sind es dem Steuerzahler schuldig, darauf zu achten, daß mit dem Geld sorgfältig umgegangen wird. Leider hat sich immer bewiesen, daß wir recht hatten. Die Vorhaben, die Sie geplant haben, zum Beispiel das Projekt Lapas für 2,6 Milliarden DM, waren vollkommen unsinnig.
Herr Kollege Pflüger, sind Sie bereit einzuräumen, daß es von seiten der SPD keine einzige Forderung gab, in diesem Jahr über 1 Milliarde DM hinauszugehen? Bestätigen Sie, daß Sie selbst nur für das Jahr 1996 zunächst 700 Millionen DM für den Alpha und später 1,125 Milliarden DM als globale Minderausgabe eingeplant haben, obwohl es Zusagen des Ministers und des Bundeskanzlers gab, daß eine Kürzung nicht stattfinden werde? Im Gegenteil, es wurde immer gesagt: Die Bundeswehr bekommt das, was sie braucht.
Herr Kollege Opel, das, was Sie gesagt haben, ist, bezogen auf dieses Jahr, völlig richtig. Ich kann mich aber an viele Debatten in den letzten fünf Jahren erinnern. Wenn ich die Summen der vorgeschlagenen Kürzungen, die dem Verteidigungshaushalt von Ihrer Fraktion untergejubelt worden sind, addiere, komme ich auf eine ganz andere Summe.
Ich freue mich, wenn Sie sich deutlich dazu bekennen, daß wir die Bundeswehr finanzieren müssen und auch in Zukunft eine starke Bundeswehr brauchen, die ihre Rolle innerhalb der NATO spielen muß. Ich fasse jetzt Ihr Bekenntnis als ein Bekenntnis der sozialdemokratischen Fraktion auf. Nehmen Sie es uns aber nicht übel, wenn wir sagen: Überzeugen Sie doch bitte Ihre Kollegen außerhalb des Verteidigungsausschusses von der Notwendigkeit einer starken Verteidigung auch in der Zukunft.
Herr Kollege Kolbow.
Herr Kollege Pflüger, Ihre Antwort auf die Frage meines Kollegen Opel läßt mich fragen: Stimmen Sie mir zu, daß die Kürzungsvorschläge für den Verteidigungsetat von Herrn Bundesfinanzminister Waigel die Streichungsvorschläge
meiner Fraktion aus der Vergangenheit, die Sie kritisieren, inzwischen übertreffen?
Herr Kollege Kolbow, alle Ressorts haben sich an der wichtigen Aufgabe der Konsolidierung des Haushaltes zu beteiligen. Das ist dringend notwendig.
Ich nehme Ihr Plädoyer als einen Beweis dafür, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion jetzt, im Gegensatz zu früheren Zeiten, offenbar vorhat, mit uns gemeinsam dafür zu kämpfen, daß populistischen Forderungen nach immer weiterer Senkung dieses Haushaltes von beiden Seiten dieses Hauses entschieden entgegengewirkt wird. Wir sind uns einig. Deshalb sollten wir in diesem Sinne weiter zusammenarbeiten.
- Ich höre es gern; mir fehlt aber der Glaube. Wir werden sehen, Herr Kollege Kolbow, wie sich dies in Zukunft entwickelt.
Ich möchte zwei Anmerkungen zur Debatte machen und auf die Kontroversen eingehen, die sich hier angedeutet haben. Es geht mir erstens um die Osterweiterung und zweitens um das Thema „europäischer Pfeiler" .
Herr Kollege Volmer, ich habe mich gefreut zu hören, daß auch Sie für eine transatlantische Zusammenarbeit, sogar für Ihre Vertiefung sind. Auch habe ich Ihr deutliches Plädoyer für die Europäische Union gehört, was mich ebenfalls gefreut hat. Ich verstehe aber nicht ganz, warum Sie die NATO außen vor halten. Wenn Sie wirklich ein Interesse an der Integration der östlichen Staaten haben und zumindest rhetorisch anerkennen, daß diese ein Sicherheitsbedürfnis haben, warum spielen Sie sich dann eigentlich als eine Art Oberlehrer auf? Warum nehmen Sie es nicht ernst, wenn Polen, Tschechen, Ungarn und andere sagen: Wir fühlen uns nur in der Nordatlantischen Allianz wirklich sicher; wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, wir wissen nicht, wie sich Rußland entwickelt?
- Natürlich muß man darüber debattieren; das tun wir jetzt.
Vor allen Dingen die Polen sagen: Wir haben eine historische Erfahrung gemacht. Unser Land ist in den letzten 250 Jahren immer wieder von Russen, von Deutschen und von Österreichern geteilt und besetzt worden. Wir sind immer Spielball der Mächte um uns herum gewesen. Jetzt, so sagen sie, wollen wir aus dieser geopolitischen Mittellage heraus. Wir wollen in das westliche Bündnis integriert werden.
Dr. Friedbert Pflüger
Dazu gehört für sie in erster Linie die NATO. Wenn Sie es mit Ihrer Sympathie für die mittel- und osteuropäischen Länder ernst meinen, dann sollten Sie diese Bestrebungen positiver beurteilen, als Sie das bisher getan haben.
Da Sie, Herr Kollege Volmer, das nicht tun, habe ich immer noch den Verdacht, daß Ihre Opposition gegen die Osterweiterung in Wahrheit deshalb erfolgt, weil Sie mit der NATO so ganz immer noch nichts anfangen können. Das bestätigt auch ein Interview des Kollegen Trittin. Er hat im „Neuen Deutschland" am 1. Juni gesagt, die NATO sei heute faktisch funktionslos, wir brauchten eine Auflösung der NATO-Strukturen. Versuchen Sie das dann doch nicht zu verschleiern, indem Sie sagen: Die NATO- Öffnung bringt neue Probleme in Europa. Sagen Sie vielmehr doch schlicht und einfach, daß Sie gegen die NATO sind! Damit stehen Sie aber im Gegensatz zu allen anderen Parteien in diesem Haus außer der PDS und - wenn ich das richtig sehe - zu einem großen Teil Ihrer eigenen Fraktion.
Als zweites möchte ich den Gedanken vom zweiten Pfeiler ansprechen, den der Kollege Opel hier schon thematisiert hat. Auch ich finde, daß von einem zweiten Pfeiler noch nicht gesprochen werden kann. Die Vision Kennedys von einer wirklichen strategischen Partnerschaft, die vor 35 Jahren geboren wurde, ist mit diesen Berliner Beschlüssen noch nicht realisiert worden. Denn vor jeder WEU-Aktion muß in der Tat der NATO-Rat entscheiden. Da können Sie sagen: Wir müssen in der Zukunft noch mehr tun. Aber Sie werden doch nicht bestreiten, daß das, was wir in Berlin erlebt haben, ein sehr wesentlicher Schritt in diese Richtung ist. Bevor wir als Europäer mehr machen können, bevor wir die Strukturen der NATO verändern können, müssen wir uns in bezug darauf einigen, was wir in der Sache wollen. Wir dürfen uns dann eben solche Sachen wie in Jugoslawien nicht mehr erlauben. Dann dürfen wir es nicht - wie jetzt bei Imia in der Ägais geschehen - den Amerikanern überlassen, eine Krise zu lösen.
Ich glaube, daß wir in der Tat einen richtigen Schritt getan haben, der jetzt dadurch ergänzt werden muß, daß wir auf der Regierungskonferenz in Turin eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen und daß die Europäer aus den Chancen, die sie jetzt durch diese Berliner Beschlüsse bekommen haben, wirklich etwas Vernünftiges machen. Die Europäer müssen den Maßstäben, die sie selbst für sich einfordern, nämlich einmal ein wirklicher strategischer Partner der USA zu sein, der auch die Fähigkeit hat, Konflikte und Krisen zu handhaben, gerecht werden. Dann können wir weitere Schritte in diese Richtung unternehmen.
Solange das aber nicht der Fall ist und wir das als Europäer nicht vermögen, ist meine Fraktion jedenfalls sehr froh, daß wir diese ganz enge Bindung an
Amerika haben, daß es hier eine amerikanische Präsenz gibt, daß die NATO weiterhin hier ist.
Wenn ich mir die Ergebnisse der Berliner Konferenz anschaue, freue ich mich über kaum etwas anderes mehr als über die Äußerungen von Außenminister de Charette, -
Die Redezeit!
- der gegenüber der Zeitung „Le Figaro" gesagt hat, daß die Berliner Beschlüsse einerseits zeigen, daß es europäische Einsätze geben kann, daß andererseits aber dafür Sorge getragen wird, daß das Bündnis die Kontrolle nicht ganz verliert. SACEUR, also der Oberbefehlshaber - so sagt Herr de Charette -, „verkörpert die Dauer und Festigkeit der transatlantischen Bindung, die wir beleben wollen. Niemand bestreitet, daß SACEUR amerikanisch bleiben soll und eine wichtige Aufgabe im erneuerten Bündnis zu erfüllen hat."
Solche Töne haben wir früher aus Frankreich nicht gehört. Das ist ein wesentlicher Erfolg im übrigen auch der Politik der Bundesregierung und der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.
Es gibt zwei Möglichkeiten, am Schluß die Redezeit auszudehnen. Die erste ist, eine Punktation zu bringen, und die zweite ist, ein längeres Zitat anzuführen.
Herr Kollege Francke, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir fällt die außerordentlich dankbare Aufgabe zu, am Schluß dieser Debatte noch einmal ein paar Punkte zusammenzufassen. Ich will das tun, indem ich auf vier Punkte aufmerksam mache.
Erstens. Die Frühjahrstagung war in mehrfacher Hinsicht ein Erfolg. Ihn sollten wir nicht zerreden. Sie war insbesondere deswegen erfolgreich, weil sie nachdrücklich den Willen und die Fähigkeit der Allianz zum Ausdruck gebracht hat, auf neue Herausforderungen in angemessener und kurzer Frist zu reagieren. Durch die Verabschiedung eines flexiblen Einsatzkonzepts sichert die Allianz nunmehr ihre Handlungsfähigkeit als kollektives Verteidigungsbündnis erneut, aber in einer geänderten Sicherheitslage. Das bedeutet Stabilität und Sicherheit für ganz Europa. Das muß unser vordergründiges Interesse sein.
Die vier wichtigen Ergebnisse der NATO-Tagung, die alle die Ziele bestehender deutscher Politik spiegeln, sind:
Erstens die Aufwertung der WEU angesichts des Beschlusses, daß sie mit Hilfe von NATO-Logistik und -Material Einsätze selbständig durchführen
Klaus Francke
kann. Damit gewinnt die europäische Verteidigungsidentität an Gestalt.
Zweitens. Der Weg der Franzosen zurück in die neugestaltete Allianz ist wohl endgültig vollzogen worden. Deutschland als der engste Partner Frankreichs kann diesen Schritt nur begrüßen. Er macht eines sehr deutlich, nämlich die Einsicht Frankreichs, daß die europäische Verteidigung auch in Zukunft eng mit der NATO verbunden sein wird und nicht neben ihr existieren kann.
Drittens. Die transatlantische Zusammenarbeit wird durch die Beschlüsse von Berlin gestärkt. Das entspricht sowohl dem europäischen Interesse wie auch dem Interesse der Vereinigten Staaten, insbesondere aber unserem Interesse, die Vereinigten Staaten dadurch in Europa zu verankern.
Viertens. Das Treffen der Sechszehn plus Eins am Rande der Frühjahrstagung hat deutlich gemacht, daß die Politik der Allianz, Rußland die Hand zum Dialog hinzustrecken, aber gleichzeitig in ihrer Politik der Öffnung nach Osten unbedingt fortzufahren, Früchte getragen hat. Die Signale von Außenminister Primakow einer russischen Dialogbereitschaft zeigen meines Erachtens Rußlands Einsicht, daß die Entscheidung zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Allianz unwiederbringlich gefallen ist. Wir sollten sie zügig umsetzen. Die NATO sollte diese russische Einsicht dadurch stärken, daß sie weiterhin intensiv
auf eine stabile und dauerhafte Sicherheitspartnerschaft mit Rußland hinarbeitet.
Die Beschlüsse müssen umgesetzt werden. Sie bedürfen auch der Flankierung in anderen Feldern.
Angesichts der Tatsache, daß sich militärische und zivile Fragen der Sicherheit zunehmend weniger voneinander trennen lassen, wie die Implementierung des Dayton-Abkommens zeigt, halte ich es für dringend notwendig, auch zu einer institutionellen Zusammenarbeit zwischen NATO und Europäischer Union zu kommen. Damit könnte eine Bündelung der Ressourcen erreicht werden, die beiden Organisationen zugute kommt.
Die Berliner Tagung war ein Erfolg. Ich meine, wir sollten der Bundesregierung an dieser Stelle für ihre erfolgreiche Verhandlungsführung danken.
Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 13. Juni 1996, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.