Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich komme zunächst zu den Amtlichen Mitteilungen. Die Kollegin Ortrun Schätzle legt ihr Amt als Schriftführerin nieder. Ich möchte ihr herzlich für die Unterstützung danken. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Erika Reinhardt vor. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Abgeordnete Erika Reinhardt als Schriftführerin gewählt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ökologisch gestalten, soziale Gerechtigkeit wahren und kommende Generationen entlasten - Drucksache 13/4671 -
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck , Annelie Buntenbach, Andrea Fischer (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeitsrechtliche Reformen als Baustein zur Neugestaltung der Arbeit - Drucksache 13/4672 -
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer , Marieluise Beck (Bremen), Annelie Buntenbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zukunftsfähigkeit durch sozialstaatliche Innovationen gewinnen - Drucksache 13/4674 - (vom 22. 5. 1996)
4. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz über den Verkauf von Mauer- und Grenzgrundstücken an die früheren Eigentümer und zur Änderung anderer Vorschriften - Drucksachen 13/120, 13/3734, 13/3950, 13/4589 -
5. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Erstes SGB XI - Änderungsgesetz - 1. SGB XI-ÄndG) - Drucksachen 13/3696, 13/4091, 13/4521, 13/4688 -
6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe (Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz - AlhiRG) - Drucksachen 13/2898, 13/3109, 13/3479, 13/3725, 13/3951, 13/4591 -
7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksachen 13/2746, 13/3475, 13/3720, 13/3728, 13/3949, 13/3937, 13/4686 -
8. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts - Drucksachen 13/2440, 13/2764, 13/3904, 13/4211, 13/4239, 13/4687 -
9. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des AGB-Gesetzes - Drucksachen 13/2713, 13/4699 -
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Markenrechtsänderungsgesetzes 1996 - Drucksachen 13/3841, 13/4700
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub - Drucksachen 13/4514 Nr. 2.26, 13/4682 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer - Drucksachen 13/3668 Nr. 2.72, 13/4701 -
10. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Maßnahmen zum umfassenden Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern vor der Rinderseuche BSE und zur Stabilisierung des Rindfleischmarktes - Drucksache 13/4676 -
11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Dr. Manuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Hans Martin Bury, Gerd Andres, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Postfilialen - Drucksachen 13/2504, 13/4001, 13/4662 -
12. Erste Beratung des von dem Abgeordneten Gerald Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aussetzung der Diätenerhöhung für Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments - Drucksache 13/4667 -
13. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS: Die Situation von Lesben und Schwulen in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 13/1946, 13/4152 -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache 13/4065 -
15. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 2. Untersuchungsausschusses - Drucksache 13/4698 -
16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Marina Steindor, Kerstin Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das solidarische Gesundheitswesen für die Zukunft sichern - Drucksache 13/4675 -
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es erforderlich ist, abgewichen werden.
Außerdem mache ich auf eine geänderte Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 74. Sitzung des Deutschen Bundestages am 30. November 1995 an den Innenausschuß zur federführenden Beratung überwiesene nachfolgende Antrag soll nunmehr dem Haushaltsausschuß federführend überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Vollständige Übernahme der sogenannten Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen ostdeutscher Kommunen durch den Bund - Drucksache 13/2434 -
Überweisung:
Haushaltsausschuß Innenausschuß
Rechtsausschuß
Sind Sie ebenfalls mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3f sowie die Zusatzpunkte 1 bis 3 auf:
3. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung
- Drucksache 13/4610 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes
- Drucksache 13/4611 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines arbeitsrechtlichen Gesetzes zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 13/4612 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Bezügefortzahlung bei Krankheit
- Drucksache 13/4613 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von § 22 des Bundessozialhilfegesetzes
- Drucksache 13/4614 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
f) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS
Soziale Grundsicherung gegen Armut und Abhängigkeit, für mehr soziale Gerechtigkeit und ein selbstbestimmtes Leben
- Drucksache 13/3628 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ökologisch gestalten, soziale Gerechtigkeit wahren und kommende Generationen entlasten
- Drucksache 13/4671-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck , Annelie Buntenbach, Andrea Fischer (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitsrechtliche Reformen als Baustein zur Neugestaltung der Arbeit
- Drucksache 13/4672 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer , Marieluise Beck (Bremen), Annelie Buntenbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Zukunftsfähigkeit durch sozialstaatliche Innovationen gewinnen
- Drucksache 13/4674 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Kollege Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über vier Millionen Menschen in Deutschland suchen derzeit Arbeit. Ihnen wieder eine Chance zu eröffnen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten am Arbeitsplatz einzusetzen, ist die wichtigste innenpolitische Aufgabe.
Was diese Menschen empfinden, weiß ich aus meinem Wahlkreis. Wer dies in etwa nachlesen will, dem empfehle ich den Artikel aus der heutigen „Süddeutschen Zeitung" mit der Überschrift „Angst und Wut als dominierendes Lebensgefühl" . Ich kann nicht alles unterstreichen, was in diesem Artikel steht. In ihm wird die Situation in der Region Schweinfurt beschrieben, die nach wie vor leider die höchste Arbeitslosigkeit in Bayern hat. Uns geht es damm, wieder möglichst vielen Menschen in unserem Land Arbeit, Brot und - vor allen Dingen der jungen Generation - eine Zukunftsperspektive zu geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Konjunktur hat seit Herbst 1995 weltweit an Schwung verloren. Die Folgen spüren wir in Deutschland: ansteigende Arbeitslosigkeit, geringe Wachstumsaussichten, Steuermindereinnahmen in den Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen. Aber ich meine, es gibt keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Die Aussichten für eine konjunkturelle Erholung sind gut.
- Hören Sie doch bitte erst einmal zu! Sie haben heute noch viel Zeit, sich so zu geben, wie Sie sich normalerweise im Plenum geben.
Die Geldpolitik wurde in den letzten Monaten weltweit gelockert. Wir haben praktisch Geldwertstabilität; wir haben niedrige Zinsen.
Die Finanzpolitik in den USA, ebenso wie in Westeuropa, ist auf Konsolidierungskurs gerichtet. Die Nachwirkungen der Wechselkursturbulenzen sind kaum noch spürbar. Der Dollarkurs hat zugelegt und ist im Verhältnis zur D-Mark immerhin um 10 Prozent höher. Ich glaube, daß das unserem Export und der Konkurrenzfähigkeit auf den eigenen Märkten nutzen wird. Es besteht die berechtigte Aussicht, daß es in den Industrieländern im Laufe dieses Jahres zu einer Belebung von Nachfrage und damit Produktion kommen wird.
Allerdings hat die OSZE gestern festgestellt, daß das Wirtschaftswachstum in Deutschland weit unter dem Durchschnitt der übrigen Industrieländer liegt. Deshalb müssen wir jetzt die Voraussetzungen schaffen, damit Deutschland am weltweiten Konjunkturaufschwung teilnehmen kann.
Wir müssen vor allen Dingen dafür sorgen - dem dient unser Programm -, daß dieser Konjunkturaufschwung in neue, sichere Arbeitsplätze und in mehr Beschäftigung für die Menschen in Deutschland umgesetzt wird.
Wir wissen vor allen Dingen: Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze sind die allerbeste Sozialpolitik.
Gleichzeitig liegt darin auch der Schlüssel für die zukünftige Festigung unserer sozialen Sicherungssysteme. Das ist Soziale Marktwirtschaft im besten Sinne von Ludwig Erhard.
Für Bundesregierung und Koalition hat die Politik für Arbeitsplätze Vorrang.
Deswegen haben wir uns intensiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Die CSU-Landesgruppe hat damit Anfang dieses Jahres in Kreuth begonnen.
Dies mündete in ein 50-Punkte-Programm der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen, das bereits Ende Januar beschlossen worden ist und in dem die Grundzüge des jetzt zu beratenden Pakets dargelegt worden sind.
Michael Glos
Am 25. April haben die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung vorgelegt.
Dieses Programm ist ein geschlossenes Gesamtkonzept zur Schaffung von Arbeitsplätzen.
Wir bringen es heute zur Beratung in den Deutschen Bundestag ein.
Gestern hat die Bundesregierung den Entwurf des Jahressteuergesetzes 1997 beschlossen. Er wird am Freitag dem Bundesrat zugeleitet. Wir befinden uns also im Zeitplan. Ziel der Maßnahmen ist es, mehr Wachstumsdynamik zu ermöglichen, Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern und Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen, damit zusätzliche Arbeitsplätze entstehen können. Einzig und allein diesem Ziel dienen unsere Maßnahmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten mehr auf die Menschen im Lande hören.
Die Menschen in Deutschland spüren, daß wir in Wirtschaft und Gesellschaft durchgreifende Veränderungen brauchen, um wieder mehr Wachstumsdynamik zu ermöglichen.
Bei einer Meinungsumfrage des Mannheimer Instituts für praxisbezogene Sozialforschung wurde die Frage gestellt - das darf auch für Sie von Interesse sein -: Deutschland hat die höchsten Löhne, die kürzesten Arbeitszeiten und den längsten Urlaub -
glauben Sie, daß wir uns das auch in Zukunft leisten können, oder glauben Sie das nicht? 80 Prozent aller Befragten antworteten, daß wir uns das in Zukunft nicht mehr leisten können.
Soviel zum Bewußtsein in der Bevölkerung.
Den Konsolidierungsprozeß auf allen Ebenen fortzusetzen muß deshalb Vorrang haben. Dies gilt insbesondere für die öffentlichen Haushalte, wo ihn Finanzminister Theo Waigel mit dem Bundeshaushalt eingeleitet hat.
Die Steuermindereinnahmen bei Bund, Ländern und Gemeinden unterstreichen, daß es zu unserer Politik einer Stärkung der Wachstumskräfte keine Alternative gibt. Deswegen fordere ich auch die Länder und Gemeinden auf zu konsolidieren. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar - da liegt Ihre Verantwortung,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition -, warum die SPD-regierten Länder im Bundesrat wichtige Konsolidierungsgesetze blockieren,
zum Beispiel die Kürzung von Leistungen für Asylbewerber, die Sozialhilfereform, die Reform der Arbeitslosenhilfe usw. Warum zögern die Länder noch immer, den Vorschlag von Bundesminister Waigel zu einem nationalen Stabilitätspakt umzusetzen? Ich glaube, auch dabei wird es höchste Zeit.
Lassen Sie mich, ohne daß ich mich von der Politik her zu sehr einmischen will, etwas zur laufenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst sagen. Diese Tarifrunde ist von existentieller Bedeutung für die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Ohne Abschlüsse mit Vernunft im öffentlichen Dienst bedarf es Einschnitte größerer Art an anderer Stelle. Ich bin der Meinung: Wenn die öffentlichen Kassen leer sind, dann müssen diejenigen, die sichere Arbeitsplätze bei der öffentlichen Hand besitzen, ganz besonderes Verständnis dafür haben und sich über ihre Arbeitnehmerorganisationen entsprechend verhalten.
Für die aktuellen Warnstreiks habe ich deswegen persönlich wenig Verständnis.
Wer einen sicheren Arbeitsplatz besitzt, müßte wissen, daß er diesen Arbeitsplatz der Öffentlichkeit und der Allgemeinheit verdankt.
Streiks im öffentlichen Dienst wenden sich letztendlich gegen die Bevölkerung.
Der Standort Deutschland muß sich in einem immer härteren Wettbewerb behaupten. Die Weltwirtschaft unterliegt, ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht, rasanten Veränderungen. Die Industriegesellschaften wandeln sich zu Informations- und Dienstleistungsgesellschaften. Wir erleben eine Globalisierung mit neuen Märkten und neuen Wachstumszentren. Leider sind diese neuen Wachstumszentren, wenn ich einmal von der Situation in den neuen Bun-
Michael Glos
desländern absehe, wo wir immer noch mit das höchste Wachstum in Europa haben, außerhalb Europas.
- Das kann ich Ihnen schon sagen. Ich nehme einmal die Situation bei uns: Durch Verkrustung, durch Mangel an Mobilität und durch falsche Weichenstellungen,
vor allen Dingen in der Lohn- und Arbeitszeitpolitik, liegen wir bei den Produktionskosten vielfach um 20 Prozent über den wichtigen Konkurrenten auf den Weltmärkten.
Zu Ihrer Frage, Frau Kollegin Fuchs - Sie sind ja ausgewiesene Gewerkschafterin -, wer hier eigentlich regiert, möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen, daß die Bedingungen und der Preis für Arbeit
- lassen wir einmal die Lohnzusatzkosten weg -
in allererster Linie von den Tarifpartnern in freier Vereinbarung ausgehandelt werden, und dabei wollen wir trotz Ihres Geschreis von der linken Seite auch in Zukunft bleiben.
Nur Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften können, werden auch neue Arbeitsplätze schaffen. Deshalb muß es unser gemeinsames Ziel sein, Mut zu machen für Investitionen und für unternehmerisches Risiko.
Deswegen geht die Koalition einen klaren Weg: Wir wollen die Belastung der Wirtschaft abbauen. Wir wollen Steuern, Abgaben und Lohnkosten, soweit es in unserer Hand liegt, senken. Wir wollen überflüssige Regulierungen beseitigen, notwendige Investitionen sollen rascher möglich sein, und wir wollen vor allen Dingen, daß die Arbeitswelt wieder flexibler wird.
Der Vorsitzende der Arbeitgeberverbände, Herr Murmann, hat am Wochenende erklärt, daß bei Umsetzung aller Gesetzentwürfe der Koalition in den nächsten Jahren 500 000 neue Arbeitsplätze in Deutschland erwartet werden.
Auch wenn das eine Schätzung ist, betrachte ich es als ein Zeichen der Hoffnung und vor allen Dingen als ein Zeichen der Zuversicht, und ich halte es auch für ein gutes Beispiel, weil viele aus dem Unternehmerlager alles tun, um die Konjunktur herunterzureden, nur um im eigenen Betrieb bei der einen oder anderen Geschichte einen besseren Abschluß erreichen zu können. Das ist insgesamt ein grober Fehler.
Wir müssen vor allen Dingen auch den Mittelstand stärken;
denn die kleinen und mittleren Unternehmen sind die wichtigsten Arbeitgeber in unserem Lande. Wir müssen sie ermutigen, wieder mehr Menschen einzustellen und mehr Menschen zu beschäftigen. Deshalb wird der Schwellenwert des Kündigungsschutzgesetzes von derzeit fünf auf zehn Beschäftigte angehoben. Wir erwarten, daß davon in allererster Linie die Arbeitsuchenden profitieren werden.
- Der Zuruf von Frau Fuchs war: „Wieso eigentlich?" Ich muß ihn wiederholen, weil ihn nicht alle gehört haben. Die Antwort auf diese Frage lautet: weil es eine psychologische Einstellungsbarriere ist.
- Ich wiederhole auch das: Frau Fuchs wirft mir vor, wir wollen heuern und feuern. Das kommt ein bißchen frei übersetzt von dem amerikanischen „hire and fire".
Gerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen, bei den Mittelständlern, bei den Handwerkern gibt es ungeheuer viele persönliche Bindungen zwischen den Beschäftigten und den Unternehmungen. Gerade die kleinen Betriebe haben ihre Leute in Rezessionszeiten viel länger im Betrieb behalten, als das in Großunternehmen,
die gewerkschaftlich mitbestimmt sind - ich will das ganz klar sagen -, der Fall gewesen ist. Das sollten Sie nicht mit solchen Zwischenrufen diskriminieren, gnädige Frau.
Wenn wir die aktuelle Beschäftigungskrise beseitigen wollen, müssen wir vor allen Dingen die Ursachen sehr genau analysieren. Die Ursache besteht auch darin, daß deutsche Arbeitsplätze mit hohen Lohn- und Lohnzusatzkosten belastet sind. Wie stark sich übermäßige Lohnerhöhungen auswirken, zeigt der Vergleich mit Holland. Wir können unser Land von der Struktur her in vielen Bereichen mit diesem hochentwickelten Nachbarland vergleichen. Die wirtschaftliche Ausgangsposition war im letzten Jahr vergleichbar. In Holland gibt es mehr Beschäftigung als bei uns. Es stellt sich die Frage: Warum? Es gibt einen wesentlichen Unterschied: Anfang 1995 stie-
Michael Glos
gen dort die Löhne und Gehälter um 1 bis 2 Prozent, bei uns hingegen um 3 bis 4 Prozent.
Es hat zu lange gedauert, bis der Zusammenhang zwischen Lohn und Arbeitsplätzen auch von den deutschen Gewerkschaften anerkannt worden ist.
Inzwischen sind wir auch hier auf einem guten Weg, obwohl das noch nicht alle Funktionäre eingesehen haben. Ich glaube auch, daß die Basis viel weiter entwickelt ist als diejenigen, die hauptberuflich von den hohen Beiträgen der Basis leben müssen.
Wir haben in Deutschland - ich sage das noch einmal - die kürzeste Arbeitszeit, den längsten Urlaub und die höchsten Sozialbeiträge im Vergleich zu allen wichtigen Konkurrenzländern. Die Folge ist: Unternehmen in Deutschland, die wettbewerbsfähig bleiben wollen, sehen sich oft gezwungen, Beschäftigung abzubauen.
An dieser Stelle müssen wir ansetzen. Nur wenn Arbeit wieder bezahlbar ist, wird der Arbeitsplatzabbau gestoppt und werden wieder neue Arbeitsplätze in Deutschland entstehen.
Herr Kollege Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Nein. Wenn es ein ernstzunehmender Kollege gewesen wäre, hätte ich es mir überlegt.
Herr Büttner, Ihre Zwischenrufe und das, was Sie ansonsten schon im Bundestag aufgeführt haben, haben mich dazu veranlaßt. Ich sage das, damit das ganz klar ist.
Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein wesentlicher Bestandteil der stark gestiegenen Lohnzusatzkosten. Auch die Tarifpartner sehen hier Handlungsbedarf. Ich darf deswegen an die gemeinsame Erklärung von Gewerkschaften und Arbeitgebern beim Bundeskanzler vom 23. Januar 1996 erinnern und daraus zitieren.
- Hören Sie doch bitte zu! Der Bundeskanzler ist ernst zu nehmen, und die Tarifpartner sind ernst zu nehmen. Die Frage, ob Sie ernst zu nehmen sind, beantworten die Wählerinnen und Wähler.
Ich zitiere. Wenn Sie zuhören, können Sie das zumindest akustisch verstehen; ansonsten scheint es gewisse Blockaden zu geben. Ich versuche jetzt einmal, an Ihr akustisches Verständnis zu appellieren.
Herr Glos, darf ich Sie kurz unterbrechen! Trotz aller Zwischenrufe müssen wir uns zumindest noch hören können.
Sonst braucht Herr Glos nicht mehr zu reden.
„Geprüft werden sollen in gemeinsamen Gesprächen Möglichkeiten zur Verringerung von Fehlzeiten in Betrieben", so hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Leider haben die Tarifparteien zwischenzeitlich nicht gehandelt.
Sie sind zu keinem Ergebnis gekommen. Deswegen müssen wir von der Politik handeln, auch um der Verantwortung gerecht zu werden, die sie angemahnt haben.
Die deutsche Wirtschaft wird jährlich mit über 60 Milliarden DM aus Lohnfortzahlungen belastet. Aus diesem Grunde wollen wir eine Kostenreduzierung bei der Lohnfortzahlung durch Selbstbeteiligung, die auch durch Anrechnung von Urlaubstagen erbracht werden kann.
Wir wissen, daß ganz selbstverständlich für die Beamten gleichgewichtige Regelungen geschaffen werden müssen. Es darf hier keine Spaltung geben.
Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit darf sich niemand verweigern, auch nicht und gerade nicht die Vertreter der Arbeitnehmer. Wer heute öffentlich Konfrontation und Neid schürt, dient weder den Interessen der Arbeitsuchenden noch denen der Beschäftigten. Wer jetzt, da die notwendigen Schritte getan werden - ich zitiere den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes -, von „Bruch des sozialen Friedens von oben" spricht, der wird seiner Verantwortung nicht gerecht.
Wir haben heute den 47. Jahrestag der Verkündung unserer Verfassung. Streiks gegen die politische Verantwortung des Deutschen Bundestages sind nicht Aufgabe der deutschen Gewerkschaften. Dadurch würden die Grenzen der Tarifautonomie überschritten.
Deswegen - und dagegen sollten Sie sich wenden - dürfen wir es nicht hinnehmen, wenn Sprecher von Einzelgewerkschaften - beispielsweise der IG-Medien - nicht ausschließen, wie erklärt worden ist, daß
Michael Glos
es bei uns im Land einen Generalstreik gegen die Maßnahmen des freigewählten Parlaments geben wird.
Die aktuellen Kampagnen der Gewerkschaften nützen also weder dem Arbeitsuchenden noch denjenigen, die Arbeitsplätze schaffen können. Die Gewerkschaften täten sehr gut daran - ich hoffe, da siegt die Vernunft -, diesen Weg nach rückwärts wieder zu verlassen.
Beim Kanzlergespräch am 23. Januar hat die Bundesregierung dargelegt, was sie mit ihrem 50-
Punkte-Programm beabsichtigt. Dieses 50-PunkteProgramm war also bekannt. Sie hat ihre grundsätzlichen Überlegungen dafür dargelegt. Darauf hat auch unser Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble hingewiesen. Deswegen habe ich es eigentlich nicht verstanden, warum Herr Schulte in seiner Reaktion jetzt behauptet,
mit den Gewerkschaften sei über das Programm der Bundesregierung im Kanzleramt nicht gesprochen worden.
Da entsteht ein bißchen der bittere Eindruck, hier möchte jemand nachträglich nichts mehr von seiner Verantwortung wissen.
- Auf Ihren Zwischenruf „unverschämt! " möchte ich doch - -
- Da täuschen Sie sich. - Ich habe hier eine Agenturmeldung in der Hand, die besagt - es gab jedoch auch viele Zeugen dafür -, daß der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Dienstag in Ihrer Fraktion gewesen ist. In der Agenturmeldung heißt es: Schulte rief denn auch vor den versammelten SPD-Abgeordneten im Sitzungssaal der Fraktion zum Schulterschluß von Sozialdemokraten und Gewerkschaften gegen das Bonner Sparpaket auf.
- Ich will trotzdem zu Ende zitieren: Er setze bei der Mobilisierung für die Großkundgebung des DGB am 15. Juni in Bonn auf die organisatorische Kraft der SPD vor Ort.
Ich kann dem Deutschen Gewerkschaftsbund nur wünschen, daß diese Kraft größer ist als die Kraft, die sich hier im Bundestag immer darstellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte von einem so unguten Zusammenspiel überhaupt nichts. Die Politik hat ihre Verantwortung wahrzunehmen, und auch die Arbeitnehmerorganisationen haben ihre Verantwortung wahrzunehmen. Dann funktioniert unsere Demokratie. Ihr falscher Klüngel hat noch zu nichts geführt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben uns einen Umfang kollektiver sozialer Sicherheit zugelegt, der nicht nur an die Finanzierungsgrenze stößt, sondern dessen Legitimität man durchaus hinterfragen kann.
In der Tat, unser Sozialstaat überschreitet die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft, und wir müssen das wieder zueinanderbringen.
„Deutschlands System des sozialen Konsenses ist zum Hindernis für den Wandel geworden" , analysierte die „International Herald Tribune " vorgestern. Wir wollen den Konsens; aber der Konsens darf nicht zum faulen Kompromiß werden, mit dem wir unsere Zukunftsfähigkeit verspielen. Das ist die Maxime unseres Handelns.
Die Beiträge zur 'Sozialversicherung müssen bis zum Jahr 2000 auf unter 40 Prozent gesenkt werden. Deutschland steht damit nicht vor einem dramatischen Sozialabbau, wie Sie den Menschen glauben machen wollen. Am 1. Juli wird die zweite Stufe der Pflegeversicherung, die stationäre Pflege, in Kraft gesetzt. Dies erwähne ich, um zu zeigen, daß wir auch gestalten und neue Sozialleistungen in Kraft setzen.
Die Familien - ein ganz wichtiger Schwerpunkt - erhalten seit dem letzten Jahr zusätzlich mehr als 7 Milliarden DM jährlich. Das Sozialbudget in Deutschland wird in diesem Jahr insgesamt rund 1 200 Milliarden DM betragen; im Jahre 1991 waren es 894 Milliarden DM.
Die strukturellen Kürzungen der Koalition betragen knapp 2 Prozent des deutschen Sozialbudgets; das entspricht nicht einmal der nominellen Steigerungsrate von 1995. Wer jetzt deswegen von einem sozialen Kahlschlag spricht, ist nicht nur unmäßig, sondern verkennt die Notwendigkeiten.
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Werfen Sie einmal einen Blick über den Zaun, in andere Länder, die nicht wie wir die nationale Herausforderung der Finanzierung der Wiedervereinigung vor sich haben!
Michael Glos
Sie werden feststellen, daß auch sie zum Handeln gezwungen sind.
Schauen Sie doch einmal in das Land, das Sie immer als ein Musterland dargestellt haben, nämlich nach Schweden, das in den letzten Jahrzehnten weitgehend von Sozialdemokraten und Sozialisten regiert worden ist! Dort will man das Staatsdefizit um rund 10 Prozent verringern. Geplant sind globale Ausgabenkürzungen, Kürzungen der Sozialleistungen, die Anhebung der Pensionsgrenze und Eingriffe bei der Familienförderung. Seit Beginn der 90er Jahre hat Schweden bei der Lohnfortzahlung einen Karenztag sowie Lohnkürzungen am zweiten und am dritten Krankheitstag eingeführt.
In Österreich hat die SPÖ mit der ÖVP eine zweijährige Nullrunde im öffentlichen Dienst, Einschnitte bei der Frühpensionierung und Einsparungen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie bei der Ausbildungsförderung vereinbart.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Paket für mehr Wachstum und Beschäftigung entspricht den politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen und auch unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die wir stärken müssen. Arbeitsplätze können nur in gesunden, investierenden Betrieben entstehen, die ihr Geld im nationalen und internationalen Wettbewerb selbst verdienen können. Arbeitsplätze entstehen nicht durch Sprüche im Deutschen Bundestag.
Deswegen müssen wir jetzt gemeinsam - diese Herausforderung richtet sich nicht nur an die die Regierung tragenden Parteien - unsere Pflicht tun und die Rahmenbedingungen schaffen, die für die Zukunft erforderlich sind. Wir müssen dabei vor allen Dingen an diejenigen denken, die keinen Arbeitsplatz besitzen. Wir müssen an die Jüngeren denken, die in den Arbeitsmarkt drängen.
Wir müssen eine Politik gestalten, die ihnen eine entsprechende Zukunft ermöglicht.
Ich sage es noch einmal: Eine Politik für Arbeit ist die allerbeste Sozialpolitik. Ich appelliere deswegen an alle politisch verantwortlichen Kräfte im Lande: Helfen Sie mit, daß dieses Paket rasch umgesetzt wird!
Danke schön.
Als nächster spricht der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute zur Beratung anstehenden Gesetzentwürfe der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. haben den Semantikfachleuten der Koalition besondere Fähigkeiten abverlangt. Es ist ja schon fast Tradition, daß die Titel von Gesetzentwürfen der Regierungsmehrheit nicht dazu dienen, deren Anliegen zu beschreiben, sondern sie zu vernebeln.
Dieses Mal hat man sich zu Sprachschöpfungen geradezu Orwellschen Ausmaßes entschlossen, zu Sprachschöpfungen, für die die Wertung „grobe Täuschung des Parlaments und der Öffentlichkeit" ein außerordentlich höfliches Urteil darstellt.
Da nennt die Koalition „Arbeitsrechtliches Beschäftigungsförderungsgesetz", was eigentlich „Gesetz zur Beseitigung des Kündigungsschutzes und zur Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall" heißen müßte.
Und „Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz" heißt, was eigentlich „Gesetz zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit und zum Ausverkauf der Vermögenswerte der Rentenversicherung" genannt werden müßte.
Wenn die inhaltlichen Lobpreisungen, mit denen die Koalition ihre eigene Gesetzesarbeit derzeit begleitet, stimmten, dann frage ich, warum sie sich nicht dazu bekennt, sondern statt dessen schon im Titel ihre wahren Absichten leugnet.
Meine Damen und Herren, es ist eine Frage der guten Sitten, die das ganze Haus beantworten muß, wie lange es sich eigentlich noch eine derartige Verhöhnung der parlamentarischen Arbeit bieten lassen will.
Bundesregierung, CDU/CSU und F.D.P. reden ständig von der Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren, die finanzielle Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme wiederherzustellen, die ökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland zu modernisieren oder unser Steuerrecht zu entrümpeln. Ich frage mich: Wer hat eigentlich die öffentlichen Haushalte so in Unordnung gebracht, daß heute konsolidiert werden muß?
Ich frage mich: Wer hat die finanzielle Leistungsfähigkeit unserer Sozialversicherung durch eine falsche Politik aufs Spiel gesetzt?
Wer, meine Damen und Herren, hat die ökonomischen Rahmenbedingungen so vernachlässigt, daß wir heute einen Modernisierungsstau beklagen?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107, Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9355
Rudolf Dreßler
Wer hat die Steuergesetze so gestaltet, daß sie heute entrümpelt werden müssen?
Wer regiert dieses Land eigentlich seit 14 Jahren?
Die Koalition tut heute so, als habe sie mit den vergangenen 14 Jahren nichts zu tun, als sei sie gleichsam außer Haus gewesen und müsse jetzt, in heimatliche Gefilde zurückgekehrt, erst einmal Ordnung schaffen.
Das, meine Damen und Herren, ist Täuschung. Die Wahrheit nämlich ist: Die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. hat unser Land in die Krise geführt, die sie heute bekämpfen zu müssen vorgibt.
Hier dienen sich Leute der Bevölkerung als Gärtner an, die in Wahrheit die Böcke sind.
Nun begleiten Unternehmerfunktionäre die eigentümlichen Versuche dieser Regierung, wieder halbwegs Ordnung zu schaffen, mit kaum verhüllter Anerkennung und möchten sich nach Kräften an der Problemlösung beteiligen. Sie vergessen dabei allerdings, was offenkundig ist: Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, löst keine Probleme; sie ist das Problem.
Damit das klar ist: Wir verweigern uns nicht unserer Verantwortung, die wir auch als Opposition haben, wenn es darum geht, unser Land wieder in Ordnung zu bringen. Aber wir werden entschiedenen Widerstand leisten, wenn die Sozialdemokratie auf kaltem Wege in eine Mitverantwortung für die -Folgen einer Politik gebracht werden soll, die sie immer bekämpft und die sie nie gewollt hat.
Zum erstenmal in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Wirtschaft haben wir eine Aufschwungphase erlebt, die mit ihrer einjährigen Dauer denkbar kurz war und sich von den bisherigen vier oder fünf Jahre anhaltenden Konjunkturaufschwüngen grundsätzlich unterschieden hat. Die sich abzeichnende Rezession beginnt auf einem extrem hohen Sockel der Massenarbeitslosigkeit, und sie beginnt mit weitgehend geplünderten Haushalts- und Sozialkassen bei gleichzeitig hoher Abgabenbelastung für Arbeitnehmer und Betriebe.
Die Möglichkeiten, einer weiteren Verschlechterung der Lage politisch entgegenzuwirken, sind somit eng begrenzt. Auch das ist eine Folge regierungsamtlicher Politik. Die Fachleute rechnen damit, daß die Wirtschaft im laufenden Jahr weitgehend stagniert oder nur noch geringfügig anwächst. Die Zahlen für das erste Quartal 1996 mit einer Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts um 0,5 Prozent belegen diese Tendenz. Die Wachstumsziffer für das gesamte Jahr 1996 werde allenfalls eine schwarze Null, sagen die meisten Vertreter der ökonomischen Zunft, werde also zwischen 0,1 und 0,5 Prozent liegen. „Schwarze Null", meine Damen und Herren, dieser Begriff paßt zu dieser Bundesregierung, die hat nämlich gleich mehrere davon.
Was diese Bundesregierung angesichts der akuten Krisensymptome in unserem Land heute als Sparprogramm vorlegt, heißt nur so. Es ist in Wahrheit ein Programm zur Einleitung einer deflationären Wirtschaftsentwicklung und zur Stabilisierung sozialer Einseitigkeit und Ungerechtigkeit. Das Gesetzeskonvolut, das wir beraten, löst keines der drängenden Probleme, wirtschaftspolitisch nicht, finanzpolitisch nicht und gesellschafts- und sozialpolitisch schon gar nicht. Im Gegenteil, es trägt dazu bei, daß sich die Probleme verschärfen. Wir werden im nächsten Jahr vor den gleichen, sich dann aber noch schärfer stellenden Fragen stehen.
Ökonomisch und finanzwirtschaftlich steht dieses Programm nicht in der Tradition von Ludwig Erhard, sondern in der von Heinrich Brüning.
Gesellschaftspolitisch will es trennen und spalten, statt zusammenzuführen und eine notwendige gemeinsame Kraftanstrengung auch wirklich möglich zu machen. Ich weiß nicht, ob sich die Damen und Herren aus der CDU je gefragt haben, was ein Jakob Kaiser oder ein Karl Arnold zu den gesellschaftspolitischen Auswirkungen eines solchen Gesetzesmachwerkes gesagt haben würden. Aber eines weiß ich: Was deren Epigonen, die Eppelmänner, die Vogts oder die Kellers dazu sagen, interessiert in CDU und CSU heute keinen Menschen mehr.
Diejenigen, die von sich behaupten, Arbeitnehmerinteressen in den Unionsparteien zu vertreten, sind eine vernachlässigbare Größe geworden. Sie dürfen bei der Vorlage solcher Gesetze kurz öffentlich erklären, warum sie gegen die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die Beseitigung des Kündigungsschutzes sind, um dann hinterher besser erläutern zu können, weshalb das alles eigentlich gar nicht so schlimm ist.
Nein, die Vertreter der Sozialausschüsse der Union im Parlament vertreten nicht die Arbeitnehmerinteressen, sie sichern vielmehr einseitigen Arbeitgeberinteressen, deren Wahrnehmung sich die Regierung Kohl offenkundig zu eigen gemacht hat, die parlamentarische Mehrheit.
Rudolf Dreßler
Ich wage die Prognose: Jeder einzelne von Ihnen wird der Aufhebung des Kündigungsschutzgesetzes und der Einschränkung der Lohnfortzahlung im entscheidenden Fall letztendlich zustimmen.
CDU/CSU und F.D.P. geben vor, sie wollten mit diesem Gesetz helfen, Arbeitsplätze zu schaffen. Ja, wer soll das denn eigentlich noch glauben? Bei Amtsantritt dieser Regierung fehlten 1,5 Millionen Arbeitsplätze. Heute, nach fast 14 Jahren politischer Tätigkeit der Herren Kohl und Blüm, fehlen über 7 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Diese Regierung, in deren Amtszeit sich das Defizit an Arbeitsplätzen fast verfünffacht hat, verspricht neue Arbeitsplätze, und zwar durch eine Fortführung und Intensivierung einer Politik, die das Defizit erst heraufbeschworen hat.
Dies offenbart eine geradezu abenteuerliche Form der politischen Ignoranz. Wie weit will diese Regierung es denn eigentlich noch treiben? Was muß denn eigentlich noch geschehen, damit sie sich endlich eingesteht, daß nicht ein überforderter Sozialstaat, der angeblich zu Faulenzertum und Drückebergerei erzieht, sondern sie selbst und ihre verhängnisvolle Politik es sind, die den Arbeitsmarkt an den Rand des Abgrundes geführt haben?
Was muß denn eigentlich noch geschehen, wie hoch müssen die Arbeitslosenzahlen noch steigen, bis diese Regierung endlich ihre Politik ändert, bis in diesem Land endlich wieder Wirtschaftspolitik betrieben wird, die ihren Namen verdient und die auf Orthodoxie und Dogmatismus verzichtet?
CDU/CSU und F.D.P. wollen Arbeitsplätze schaffen und verlängern die Lebensarbeitszeit generell auf das 65. Lebensjahr. Wie soll das denn zusammenpassen?
Arbeitszeitverlängerung schafft keine Arbeitsplätze, sie produziert neue Arbeitslose, gnädige Frau.
Sie zwingen ältere Arbeitsplatzbesitzer durch die Androhung von Rentenkürzungen um bis zu 18 Prozent, auf ihrem Arbeitsplatz zu verharren, anstatt in Rente zu gehen, und verhindern so, daß Jüngere in den Arbeitsmarkt nachrücken.
Das können Sie nun drehen und wenden, wie Sie
wollen. Das ist keine Arbeitsmarktpolitik; das ist
blanke Ideologie, und die ist Ihnen von der F.D.P. ja nicht fremd.
In dem Bestreben, die Rentenkassen zu entlasten, werden im gleichen Atemzug der Arbeitslosenversicherung die Kosten belastet und millionenfach junge Menschen der beruflichen Perspektive beraubt - ein konzeptionsloses, wirres Manöver, das ein Loch stopft, indem es ein anderes aufreißt, finanzwirtschaftlich ein Nullsummenspiel und gesellschaftspolitisch zerstörerisch, weil es jung und alt gegeneinander in Stellung bringt.
CDU/CSU und F.D.P. schaffen den Kündigungsschutz für Betriebe mit bis zu zehn Vollzeitkräften ab. Teilzeitkräfte werden dabei anteilsmäßig berücksichtigt, was ja nichts anderes heißt, als daß es etwa auch in Betrieben mit bis zu 20 Halbzeit- oder 33 Drittelzeitbeschäftigten zukünftig keinen Kündigungsschutz mehr geben wird.
Schätzungen der von diesen Maßnahmen betroffenen Arbeitnehmer schwanken zwischen acht und zwölf Millionen Menschen. Man stelle sich vor: Geschätzt bis zu zwölf Millionen Menschen sind zukünftig in Deutschland ohne Kündigungsschutz, ein Recht, das selbst in einem Sozialstaat auf Primitivniveau eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.
Herr Blüm sagt, das schaffe neue Arbeitsplätze. Ja, wie viele denn, Herr Blüm? Ich will von dieser Regierung wissen, mit wieviel neuen Arbeitsplätzen sie rechnet, wenn zukünftig Millionen von Menschen ohne Schutz vor Entlassung sein werden. Herr Blüm kann darauf natürlich keine Antwort geben, denn er weiß selbst, daß das alles Quark ist. Kein einziger neuer Arbeitsplatz wird dadurch geschaffen. Die Wahrheit ist doch: Wer es zukünftig erleichtert, daß Arbeitnehmer gefeuert werden können, schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern erleichtert die Beseitigung bestehender.
Nicht weniger, sondern mehr Arbeitslose werden die Konsequenz sein.
Die Bundesregierung will die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall um sage und schreibe 20 Prozent kürzen. Der kranke Arbeitnehmer bekommt zukünftig zum Beispiel statt 3 500 DM nur noch 2 800 DM im Monat. Darf ich den Finanzakrobaten Blüm fragen, ob er den Sozialakrobaten Blüm, also sich selbst, offiziell gefragt hat, wie groß die Einnahmelöcher sein werden, die er durch diese Beitragsausfälle in der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung heraufbeschwört?
Wieviel fehlt Herrn Seehofer in der Krankenversicherung, wieviel Herrn Waigel bei der Lohn- und
Rudolf Dreßler
Einkommensteuer? Kann dem Hause einmal einer aus dieser Chaostruppe den Sinn solchen finanzwirtschaftlichen Irrwitzes deutlich machen, meine Damen und Herren?
Vor allem aber: Wieviel neue Arbeitsplätze werden denn dadurch geschaffen? Zu hören war dazu bisher jedenfalls noch nichts. Meine Vermutung ist: Man wird dazu auch nichts hören.
In diesen Zusammenhang gehört auch eine Maßnahme, über die eigentlich erst morgen zu beraten sein wird. Herr Seehofer setzt nämlich noch eines darauf: Er kürzt auch noch das Krankengeld um 10 Prozent. Man stelle sich vor, Herr Blüm kürzt kranken Arbeitnehmern die Lohnfortzahlung um 20 Prozent, und wenn die ausgelaufen ist, kommt Herr Seehofer und kürzt auch noch um 10 Prozent! Wissen Sie eigentlich, welchen Personenkreis Sie damit treffen? Das sind Menschen, die länger als sechs Wochen krank sind, Schwerkranke mit Krebs, Herzinfarkten, schlimmen Infektionen. Neben all dem menschlichen Leid, das diese Menschen zu tragen haben, beeinträchtigen die Herren von der Bundesregierung deren und ihrer Familien ökonomische Basis nachhaltig und fügen noch neues Leid hinzu.
Ich frage die beiden Minister: Wie weit wollen Sie eigentlich noch gehen?
Wenn Sie sich angesichts derartiger Gesetze zu der Behauptung erdreisten, das sei notwendig, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes zu sichern, können Sie sich dann eigentlich noch schämen?
Angesichts der heftigen öffentlichen Reaktionen auf das sogenannte Sparpaket der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. werden nicht wenige Mitglieder dieses Hauses Gespräche mit den Arbeitnehmern führen. Ich will von einem der Gespräche berichten, die ich geführt habe. Auf die Frage, warum er sich an den Protestaktionen beteilige, sagte mir der Gesprächsteilnehmer: Ich tue das nicht nur, um gegen die empörende Ungerechtigkeit dieser Gesetze zu protestieren; ich tue das vor allem, um meinen Beitrag zu leisten, daß meine Kinder und Enkel mit ihren Rechten und ihrer Stellung als Arbeitnehmer nicht eines Tages da landen, wo mein Großvater vor vielen Jahren begonnen hat. Eine solche Entwicklung schon im Keime ersticken zu helfen, das ist für mich eine Frage der Ehre.
Nun mag das alles aus dem Lebensmilieu von CDU/CSU und F.D.P. verbannt worden sein. Jeder aber, der sich mit unserer Gesellschaft und ihrer Geschichte beschäftigt, weiß: Das Wort „Ehre" gehört nicht zu den gerade häufig gebrauchten Begriffen bei Arbeitnehmern. Sie gehen damit äußerst sparsam um. Die Regierung möge sich bitte klarwerden, auf
welche Basis die Auseinandersetzung um das Kürzungspaket gelangen wird, wenn sie nicht umkehrt.
Die Arbeitnehmerschaft versteht diese Auseinandersetzung als etwas Grundsätzliches. Sie wird einen Kampf führen, in dem sie ihren Anspruch auf ihren Platz in der Gesellschaft zu behaupten gedenkt, wenn man sie dazu zwingt. CDU/CSU und F.D.P. sollten sich darüber im klaren sein, wo die deutsche Sozialdemokratie in dieser Auseinandersetzung stehen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es werden nicht 20,4, es werden sogar 20,6 Prozent werden.
Die Realität, Herr Blüm, ist sogar schlimmer als das vermeintliche Horrorspektakel. Der Verantwortliche dafür sind Sie - damit das klar ist.
Herr Blüm, Sie haben die Öffentlichkeit getäuscht. Keine Ihrer Zahlen hatte Substanz oder stimmte. Das Defizit beträgt nicht 10 Milliarden DM - wie Sie hier vor diesem Hause behauptet haben -, sondern mittlerweile das Doppelte, also 20 Milliarden DM. Mit seiner Taktik des Vertuschens und Verdrängens spielt Herr Blüm den Systemgegnern unserer Rentenversicherung, die in seiner Partei sitzen, indirekt in die Hände.
Denn denen paßt die ganze Richtung nicht. Dabei ist das System von seiner Struktur her gesund. Die aktuellen Schwierigkeiten sind Ergebnis politischer Fehler dieser Regierung, die ihm aus Gründen der Opportunität Lasten auferlegte, die es nicht tragen kann.
Die im Kürzungspaket aufgeführten gesetzlichen Maßnahmen weisen aus, daß die Regierung nicht bereit ist, daraus Konsequenzen zu ziehen. Sie werden daher die aktuellen Probleme nicht lösen. Darüber hinaus brechen Sie mit den Vereinbarungen, die die Koalitionsfraktionen und die SPD anläßlich der Rentenreformgesetze miteinander getroffen haben. Die Regierung hat durch ihre Politik den Rentenkonsens aufgekündigt und die notwendige Vertrauensbasis untergraben.
Rudolf Dreßler
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stelle ich dazu fest: Wir nehmen das zur Kenntnis und erklären hiermit: Der Rentenkonsens ist beendet.
Auch das muß klar bleiben: Die SPD wird sich an der von der Regierung ins Leben gerufenen Rentenkommission nicht beteiligen. Die notwendige Bereinigung der aktuellen Finanzkrise der Rentenversicherung und eine spürbare kurz- und mittelfristige Beitragsentlastung sind auf dem Weg, den die Bundesregierung mit ihrem Kürzungspaket einschlägt, nicht möglich. Auch hier gilt: Kein Problem wird wirklich gelöst. Die vorgesehenen rentenversicherungsrechtlichen Maßnahmen passen allerdings nahtlos in die sozialpolitische Inkompetenz, die das gesamte Gesetzeskonvolut auszeichnet. Auch hier gilt das Motto: Wir schließen eine Lücke, indem wir eine andere aufreißen.
Meine Damen und Herren, wer die Altersgrenzen anhebt, wer die Rehabilitationsleistungen ohne Sinn und Verstand so zusammenstreicht, daß bei den Rehabilitationseinrichtungen rund 18 000 Arbeitsplätze überflüssig werden, wer an der arbeitsmarktbedingten Berufs- und Erwerbsunfähigkeit herumbastelt, erreicht nur eines: eine Verschiebung der Finanzlasten von der Renten- in die Arbeitslosenversicherung.
Wenn die Regierung so tut, mit den angestrebten Maßnahmen sei die Beitragssatzanhebung zum 1. Januar 1997 in erträglichem Rahmen zu halten, täuscht sie erneut die Öffentlichkeit. Die Wahrheit ist: Alle Maßnahmen wirken sich bestenfalls mittelfristig aus, können also den Beitragssatzanstieg nicht verhindern.
Was die vorgesehene Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 65 Jahre angeht, die schrittweise bereits 1997 für Frauen wirksam werden soll - was haben die Frauen Ihnen eigentlich getan, daß Sie sie jetzt plötzlich so abstrafen müssen? -
und 2001 für alle eingeführt werden soll, so leidet der Bundessozialminister offenkundig an Gedächtnisschwund. Wenn er so tut, als sei das gemeinsam von Koalition und SPD im Rentenreformgesetz vereinbart worden und als werde diese Vereinbarung im Sparpaket gleichsam nur vorgezogen, dann ist das eine reichlich freche Verbiegung von Tatsachen.
Die halbe Wahrheit, meine Damen und Herren, ist nämlich auch Unwahrheit. Vereinbart ist etwas anderes. Vereinbart ist, daß die Notwendigkeit der im Rentenreformgesetz enthaltenen schrittweisen Verlängerung der Lebensarbeitszeit von beiden Seiten gemeinsam im Lichte der Entwicklung am Arbeitsmarkt noch einmal überprüft werden soll, und zwar im Jahre 1997.
Warum verschweigen Sie das, Herr Blüm? Vereinbart wurde, daß wir gemeinsam eine eigenständige Verbesserung der Alterssicherung für Frauen ab diesem Jahr auf den Weg bringen, aber doch nicht, daß wir die Lebensarbeitszeit für Frauen ab nächstem Jahr auf 65 Jahre anheben.
Sie wissen genau wie wir, eine Prüfung der Verlängerung der Lebensarbeitszeit im Lichte des Arbeitsmarktes käme schon 1996 zu dem Ergebnis: arbeitsmarktpolitisch nicht angeraten. Vor diesem Hintergrund stelle ich fest: Herr Blüm tut heute genau das Gegenteil von dem, was 1989 vereinbart worden ist.
Und zum letzten - damit auch das klar ist -: Zum rentenversicherungsrechtlichen Teil des sogenannten Kürzungsprogrammes wird es keine Zustimmung der SPD geben. Wir verlangen zur Vermeidung einer deutlichen Beitragssatzanhebung zum 1. Januar 1997 eine Erstattung der Aufwendungen für das Fremdrentengesetz durch den Bund, Erstattung der Aufwendungen für die Auffüllbeträge Ost durch den Bund in einem ersten gemeinsamen Schritt, Erstattung der Aufwendungen für das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz durch den Bund und endlich eine Debatte darüber, wie stark sich die Unternehmer an den beabsichtigten weiteren Vorruhestandsregelungen zu beteiligen haben.
Denn dies allein verhindert eine Beitragssatzanhebung, und man hätte die Chance, den Beitrag zum Stichtag 1. Januar 1997 stabil zu halten.
Das vorliegende Gesetzespaket wird in keinem seiner Einzelbestandteile die Zustimmung der SPD- Bundestagsfraktion finden können. Es ist wirtschaftspolitisch wirkungslos, finanzpolitisch schädlich, verteilungspolitisch einseitig und sozialpolitisch verhängnisvoll. Dieses Paket ist so konstruiert, daß es im nächsten Jahr die nächste Kürzungsrunde geradezu provoziert, ohne daß ein einziges Problem wirklich gelöst wäre.
An der mit diesem Gesetz in Bewegung gesetzten Spirale nach unten wird die SPD-Bundestagsfraktion nicht mitdrehen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt vieles, was wir der Regierung vorwerfen können, aber eines sicher nicht - wenn man sich das Sparpaket anschaut -, nämlich daß sie inkonsequent ist. Herr Glos hat das heute morgen auch noch einmal gezeigt. Was Sie uns heute vorgelegt haben, ist die konsequente Fortsetzung einer Politik, mit der Sie dieses Land seit 1983 immer weiter verändert haben. Es ist die Fortsetzung einer Politik der Umverteilung von unten nach oben, des Abbaus von Arbeitnehmerrechten - hier kann ich Ihnen, Herr Dreßler, nur zustimmen - und des Abbaus von sozialen Standards.
Das Ergebnis haben wir vor uns: Dieses Land steckt in einer Krise; es ist die schlimmste Beschäftigungskrise in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ist eine Krise der sozialen Sicherungssysteme. Die Antwort hierauf darf nicht Flickschusterei sein. Nein, ich glaube, Ihre Vorschläge müssen sich daran messen lassen, ob Sie eine Antwort auf die zentralen Probleme der Zukunft geben.
Meiner Meinung nach brauchen wir eine umfassende Modernisierung. Wir brauchen zukunftsfähige Arbeitsplätze, zum Beispiel durch den ökologischen Wandel; dies ist heute nicht angesprochen worden. Wir brauchen mehr Verteilungsgerechtigkeit und einen solidarischen Umbau des Sozialstaates, der auch künftigen Generationen Sicherheit gibt.
Die Regierung gibt auf diese zentralen Fragen immer dieselbe Antwort. Herr Glos, Sie haben noch heute in gleicher Weise geantwortet. Sie begünstigen Unternehmensgewinne. Sie entlasten die Unternehmen.
Seit 1982 haben Sie die Belastung der Unternehmensgewinne mit direkten Steuern insgesamt um die Hälfte gesenkt. Das Wirtschaftsministerium bilanzierte nach dem Standortsicherungsgesetz 1993 die niedrigsten Ertragsteuern, die es je in der Bundesrepublik gegeben hat. Bei den Arbeitnehmern hingegen stieg die Steuerbelastung des Einkommens im gleichen Zeitraum erheblich an.
Heute stehen wir vor den Folgen dieser Umverteilungspolitik. Sie haben auf diese Art und Weise Milliarden DM verschenkt und Arbeitslosigkeit geerntet. Wir haben heute die höchste Arbeitslosigkeit, die höchste Zahl von Sozialhilfeempfängern und zugleich Rekordgewinne zu verzeichnen.
Ihre Politik - auch das, was Sie heute vorgelegt haben - verschärft die Krise und macht die Ungerechtigkeiten immer größer. Diesen falschen Weg gehen Sie mit dem Sparpaket weiter. Was Sie heute an Stückwerk vorgelegt haben, ist durch die Zahlen der Steuerschätzung, über die wir letzte Woche diskutiert haben, schon überholt. Das nächste Sparpaket - auch hier kann ich Herrn Dreßler nur zustimmen - kommt bestimmt. Mit jedem Schritt in diese falsche Richtung verschlechtern Sie die Situation.
Was noch schlimmer ist: Ich glaube, Sie verspielen die Chancen zu einer wirklichen Modernisierung, die es auch in einer Krise gibt. Wir, meine Fraktion, meinen aber: Modernisieren heißt Umsteuern. Modernisierung verlangt neue Wege. Sie aber bleiben auf den alten Wegen.
Ihre Antwort auf die fehlenden 6 Millionen Arbeitsplätze ist der Abbau von Arbeitnehmerrechten. Glauben Sie denn im Ernst, daß neue Arbeit entsteht, wenn Sie den Kündigungsschutz aushebeln? Glauben Sie, daß es dann mehr Aufträge gibt, daß die Firmen mehr Umsatz machen und deswegen mehr Leute beschäftigen? Das ist doch völlig absurd.
Die Heraufsetzung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz von fünf auf zehn Beschäftigte setzt die Beschäftigten in 80 Prozent der Betriebe völlig der Willkür von Unternehmensentscheidungen aus.
- Ein Drittel der Arbeitnehmer.
Das betrifft nicht nur viele Verkäuferinnen im Handel;
es betrifft Schlosser, Kfz-Mechaniker, einen großen Teil der Schreiner. 8 Millionen Menschen, die heute im Handel relativ gesicherte Arbeitsplätze haben, wird diese Existenzsicherheit entzogen.
Dabei erscheint mir das so sinnlos. Es gibt eine Umfrage des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Danach sehen 84 Prozent aller befragten Handelsbetriebe in dem Schwellenwert von fünf Beschäftigten kein Beschäftigungshindernis. Da frage ich mich doch, was diese Maßnahme eigentlich soll.
Ich kann hier nur das „Handelsblatt" vom April dieses Jahres zitieren. Da wird nämlich klar gesagt, daß es heute schon genügend Möglichkeiten gibt. Über das Instrument befristeter Verträge zum Beispiel kann heute jeder Kleinbetrieb ohne rechtliches Risiko kurzfristig Beschäftigte einstellen. Ein Beschäftigungshindernis ist der Kündigungsschutz also schon heute nicht.
Ich glaube aber, daß es Ihnen gar nicht auf mehr Beschäftigung ankommt. Sie wollen die Krise benutzen, um Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechte auszuhebeln. Sie weichen den Kündigungsschutz noch weiter auf: Bei Kündigungen - bei der sozialen Auswahl - sollen nur noch die Grunddaten wie Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflicht zählen. Damit werden vor allem die Kündigungen von Frauen leichter. Sie können nämlich meist nur eine kürzere Beschäftigungszeit als Männer aufweisen. Die Pflege von Angehörigen, schwierige Familienverhältnisse - all das soll keine Rolle mehr spielen.
Herr Geißler und Herr Eppelmann, ich verstehe nicht, wie das zu Ihren Vorstellungen oder, vielleicht sollte ich besser sagen: wie das zu Ihren Reden über
Kerstin Müller
Gleichberechtigung und Familienförderung paßt. Ich verstehe es nicht; denn ich finde, es ist weder modern noch sozial. Es ist nicht einmal ökonomisch vernünftig.
Ähnlich ist es mit den Kürzungen bei der Lohnfortzahlung. Wenn man Ihnen zuhört, fragt man sich, warum die Arbeitnehmer überhaupt noch am Arbeitsplatz erscheinen, Herr Glos. Sie könnten doch einfach krankfeiern. Der Krankenstand - um noch einmal über Modernität zu reden - hat sehr viel mit der Arbeitsorganisation und der Identifikation mit der eigenen Arbeit zu tun.
In vielen Betrieben ist der Krankenstand zurückgegangen, aber nicht, weil man die Arbeitnehmer bestraft hat, sondern durch eine intelligente Arbeitsorganisation. Sie hingegen versuchen es wieder einmal mit gesellschaftlichem Rückwärtsgang. Die modernen Debatten gehen völlig an Ihnen vorbei.
Sie bestrafen die Beschäftigten, wenn sie krank werden. Je schwerer die Krankheit ist und je länger sie dauert, desto höher die Geldstrafe. Deshalb soll wohl auch das Krankengeld gleich mitgekürzt werden, und zwar, wenn man es einmal nachrechnet, um volle 12,5 Prozent. Damit machen Sie die Krankheit wieder zum wirtschaftlichen Existenzrisiko. Dabei geht es Ihnen offenbar noch nicht einmal um die Senkung des Krankenstandes; denn dann müßten Sie größeren Wert auf eine verbesserte Gesundheitsvorsorge legen. Aber die Gesundheitsvorsorge schaffen Sie im gleichen Atemzug mit Ihren Gesetzesvorhaben ab.
- Das können wir gerne noch diskutieren. Unserer Ansicht nach ist das so.
Was Sie betreiben, hat mit Konsolidierungspolitik nichts zu tun. Sie zerstören den sozialen Frieden. Sie suchen offensichtlich bewußt die direkte Konfrontation mit den Gewerkschaften; denn Ihre Vorschläge müssen eine Provokation für alle Tarifverhandlungen in allen Branchen sein. Ich kann nur begrüßen, daß die Gewerkschaften angefangen haben, sich diesem Vorhaben zu widersetzen. Meine Fraktion und ich unterstützen ausdrücklich die derzeitigen Warnstreiks.
Modernisierung verlangt Phantasie und Mut. Beides fehlt Ihnen. Wirkliche Modernisierung hat nämlich nichts mit sozialer Demontage zu tun. Wirkliche Modernisierung schafft neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze. Wir müssen deshalb mit dem ökologischen Umbau beginnen. Meine Fraktion hat in der letzten Woche bei Beratungen mit der Gewerkschaft Bauen - Agrar - Umwelt festgestellt, welche
Arbeitsmarktpotentiale sich allein in diesen Branchen durch den ökologisch-sozialen Umbau erschließen lassen.
Ein Schlüsselelement dabei ist die ökologische Steuerreform. Umweltverbrauch muß teurer werden. Dadurch, Herr Glos, können wir die Arbeit billiger machen. Damit können wir auch die Lohnnebenkosten senken, von denen Sie immer so schön reden. Aber an diese neuen Projekte, an den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, wollen Sie sich nicht machen.
Zum zweiten müssen wir die Arbeit umverteilen, und zwar gerade zugunsten der Frauen. Erforderlich ist eine Arbeitszeitverkürzung - dieses Wort fiel in Ihrer Rede überhaupt nicht - auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Das nämlich wird neue Arbeitsplätze schaffen.
Der Gesetzgeber kann die Tarifpartner auch beim Überstundenabbau unterstützen, zum Beispiel durch ein modernes Arbeitszeitrecht. Die zulässige Höchstarbeitszeit muß sich wenigstens an dem orientieren, was überall in Tarifverträgen erreicht ist. Gesetzlich erlaubt ist heute noch die 60-Stunden-Woche mit einer täglichen Arbeitszeit von zehn Stunden. Ich frage mich, warum wir das nicht angehen.
Wir brauchen eine Teilzeitoffensive. Teilzeitarbeit in allen Formen muß attraktiv gemacht werden. Ein Rechtsanspruch auf die Reduzierung der Arbeitszeit und die Möglichkeit der Einrichtung von Jahreskonten würden erhebliche Anreize zur Arbeitszeitverkürzung geben. Außerdem schlagen wir Ihnen vor, durch ein Bonus-Malus-System Teilzeitarbeit spürbar zu entlasten, regelmäßige Mehrarbeit hingegen zu verteuern. Das kann man heute im Wege der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung machen. Eine bessere Verteilung der Arbeit muß sich auch wirtschaftlich lohnen.
So sieht nach unserem Verständnis eine moderne Arbeitszeitpolitik aus: Politik für mehr Arbeitsplätze und nicht Politik gegen Arbeitslose.
Sie bleiben weiterhin auf alten Wegen, und zwar in jeder Hinsicht. Sie zeigen keinen Weg aus der Massenarbeitslosigkeit. Ich finde auch, Sie zeigen wenig Sinn für soziale Gerechtigkeit. Was für ein Sparpaket überraschend ist: Sie haben in diesem Jahr ein Haushaltsloch von 15 Milliarden DM und im nächsten Jahr eines von 30 Milliarden DM zu verantworten. Trotzdem befriedigen Sie erst einmal die alten Begehrlichkeiten Ihrer Klientel, nämlich zielgenau die der Spitzenverdiener.
Herr Waigel, ich möchte an einem Beispiel aufzeigen, daß dieses Sparpaket meiner Meinung nach knallharte Interessenpolitik ist. Nehmen wir einmal einen Geschäftsführer ohne Kinder mit einem Jahreseinkommen in Höhe von 250 000 DM. Was bedeutet für ihn das Sparpaket? - Seine Belastung sinkt durch den Abbau des Solidaritätszuschlages. Seine Bela-
Kerstin Müller
stung sinkt weiter durch die Subventionierung seiner Haushaltshilfe. Für seine Immobilienanlagen braucht er keine Vermögensteuer mehr zu bezahlen. Für seine Dienstreisen bekommt er höhere steuerfreie Spesensätze, und sein neues Auto kostet weniger Kfz-Steuer. Das Sparpaket der Koalition wird diesen Menschen locker um 20 000 DM im Jahr reicher machen. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um Investitionen, sondern hier geht es um schlichten Wohlstandsgewinn für Spitzenverdiener.
Ich meine, dieses Sparpaket ist in weiten Teilen schlicht und einfach ein Paket zur Umverteilung von unten nach oben. Was Sie oben mit vollen Händen austeilen, müssen Sie unten wieder einsparen. Sie sparen auf Kosten kranker Arbeitnehmer, auf Kosten der Familien und der Arbeitslosen, auf Kosten der sozial Schwachen und der jungen Generation. Ich glaube, das ist es, was die Menschen im Land an diesem Vorgang so empört: Allen ist klar, daß die Zeiten sich geändert haben, und die Bereitschaft, Veränderungen mitzutragen, ist groß; aber niemand sieht ein, daß Sie die Lasten so ungerecht verteilen.
Ich meine, in einer solchen Situation müssen auch die Wohlhabenden ihren Beitrag leisten. Deshalb wollen wir die Vermögensteuer beibehalten. Die Erbschaftsteuer soll - bei vernünftigen Freigrenzen - einfacher gestaltet werden. Aber sie muß endlich einen akzeptablen Beitrag zum Steueraufkommen leisten. Allein bei einer Angleichung der Erbschaftsteuer an normales westeuropäisches und amerikanisches Niveau wäre ein dreimal so hohes Aufkommen zu erzielen. Ich finde, es stünde gut an, uns erst einmal an dieses Niveau anzupassen.
Bei der Einkommensteuerreform wollen wir die nominalen Steuersätze für alle senken, unten wie oben, und die Steuerprivilegien radikal abschaffen. Wir sagen ganz offen: Das wird unter dem Strich den realen steuerlichen Beitrag der Spitzenverdiener nicht senken, sondern erhöhen. Aber das finde ich in solchen Zeiten gerecht.
Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen: Ich glaube, die eigentliche Zukunftsfähigkeit Ihrer Konzepte zeigt sich daran, was sie für die junge Generation bedeuten. Sie beklagen bei der Rentendebatte zu Recht, daß immer mehr Bezieher immer weniger Beitragszahlern gegenüberstehen. Aber dann müßte diese Gesellschaft doch besonders kinderfreundlich, besonders jugendfreundlich und besonders familienfreundlich gestaltet werden. Sie jedoch signalisieren mit Ihrem Sparpaket genau das Gegenteil.
In der Rede des Kanzlers anläßlich der Vorstellung des Sparpakets - ich habe es ziemlich genau nachgelesen - kam die Jugend exakt einmal vor, und zwar als Rentner im Jahr 2030.
Ich sage Ihnen aus der Sicht meiner Generation: Das zeigt, wieweit sich diese Regierung gerade von den jungen Menschen in unserer Gesellschaft entfernt hat.
Die meisten Menschen meiner Generation wollen jetzt eine Ausbildung beginnen. Sie wollen jetzt eine Familie gründen. Aber dafür brauchen sie heute einen Arbeitsplatz. Ausgerechnet in diesem zentralen Bereich der Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft, im Bereich der Familien und Frauen - dies haben Sie sich ins Programm geschrieben -, wollen Sie vor allem sparen, indem Sie den Zeitpunkt der Erhöhung des Kindergeldes verschieben.
Ich darf daran erinnern: Hier geht es um die Sicherung des Existenzminimums - immerhin eine Forderung des Verfassungsgerichts - und um das Signal, welchen Stellenwert Familien mit Kindern in dieser Gesellschaft haben.
Meine Damen und Herren, was Sie da vorhaben, ist ein Skandal. Wir fordern Sie nachdrücklich auf, an der Kindergelderhöhung festzuhalten. Finanzierungsvorschläge haben wir gemacht.
Hinzu kommt die Ausbildungssituation. Das Angebot an Ausbildungsplätzen ist weiter zurückgegangen. Allein im Osten finden zwei Drittel der Jugendlichen keine Lehrstelle. Ich frage mich: Wo bleibt da Ihre Ausbildungsplatzoffensive?
- Das ist aus dem Jugendbericht der Bundesregierung, Entschuldigung.
Gerade für junge Leute hat sich doch die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert. Über eine halbe Million junger Menschen unter 25 Jahren waren im Februar 1996 arbeitslos. Im Westen bedeutet das eine Steigerung um 12 Prozent und im Osten um 15 Prozent.
In dieser Situation wollen Sie das Rentenalter für Frauen heraufsetzen. Das ist doch völlig absurd.
Kerstin Müller
Allein bei dieser Maßnahme geht es um 200 000 Arbeitsplätze pro Jahr. Diese Arbeitsplätze müssen Sie erst einmal schaffen. Meiner Meinung nach wollen Sie unter dem Vorwand der Gleichberechtigung auf Kosten der Frauen und der jungen Generation sparen.
Meine Damen und Herren, Ihre hektischen Leistungskürzungen zeigen nicht nach vorn. Modernisierung, wie sie auch in der Krise möglich wäre, verlangt Lösungen, die für die nächsten Jahrzehnte tragen. Ein zentraler Punkt dabei ist: Wir können soziale Leistungen nicht mehr mit der Gießkanne ausschütten, wie Sie, Herr Blüm, das bei der Pflegeversicherung tun. Wer hohes Einkommen oder großes Vermögen hat, der braucht doch, bitte schön, keine Sozialleistungen. Wir wollen deshalb eine Umgestaltung, die den tatsächlichen Bedarf in den Mittelpunkt stellt.
Für die Alterssicherung brauchen wir einen völlig neuen Generationenvertrag, einen Generationenvertrag, der die ganze Gesellschaft einbezieht. Sie können doch nicht die Sicherheit der Renten herbeireden, ohne zugleich offenzulegen, wie es um die Beamtenpensionen steht. Hier liegt eine Zeitbombe für das nächste Jahrzehnt.
Wir meinen - wir werden einen entsprechenden Antrag einbringen -: Auch Beamte, Selbständige und wir als Abgeordnete müssen künftig einen Beitrag in die Rentenversicherung zahlen. Nur wenn alle die Lasten gleichermaßen tragen, schafft das dauerhafte Akzeptanz für die Sozialversicherungssysteme. Nur dann werden sie wirklich zukunftsfähig sein. Wir werden hier einen entsprechenden Antrag vorlegen, und die Fraktionen müssen ihre Haltung dazu offenlegen. Ich bin auf diese Debatte sehr gespannt.
Wir brauchen ebenso eine moderne Einwanderungspolitik; denn auch Einwanderer können dazu beitragen, die Renten der Zukunft zu sichern.
Aber nichts von alledem ist von Ihnen zu erwarten. Mit Ihrer Politik werden Sie die Krise nicht überwinden. Herr Dreßler hat es angesprochen: Der Widerstand in der Gesellschaft gegen diese Politik der Koalition wird immer stärker. Wenn es zu einem heißen Sommer kommt, dann hat das diese Koalition zu verantworten. Denn Sie haben mit Ihrer Konfrontationspolitik den sozialen Frieden in diesem Land aufgekündigt.
Herr Dreßler, Sie haben soeben gesagt: keine Konsenspolitik mehr. Sie wollen das Sparpaket verhindern. Ich sage jetzt mit Blick auf die Verantwortung, die die SPD in den Ländern trägt: Lassen Sie uns gemeinsam alle parlamentarischen Möglichkeiten nutzen, um dieses unsoziale und zukunftsfeindliche Programm der Bundesregierung zu verhindern. Unsere Unterstützung haben Sie.
Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Hermann Otto Sohns.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sie alle und die Bürger im Lande wissen, daß wir an einer sehr schwierigen Weggabelung stehen, daß die Politik geändert werden muß, daß unser Verhalten geändert werden muß und daß unsere Einstellung geändert werden muß, wenn wir mit den Herausforderungen, die sich uns stellen, fertig werden wollen.
Schuldzuweisungen sind ja schön und in diesem Hause üblich, helfen aber niemandem. Das ist auch der Grund, warum die Wähler so reagieren, wie sie reagieren: Sie wollen Antworten.
Herr Kollege Dreßler, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört.
Ein wie immer wortgewaltiger Rudolf Dreßler prügelt die eigene Fraktion in die Tabugrenzen der vergangenen Jahrzehnte zurück.
Mit Ihrer Argumentation verhindern Sie, daß sich die SPD den Herausforderungen der Zeit stellen kann.
Ich darf an das erinnern, was Klaus Dohnanyi vor kurzem in der „Welt am Sonntag" geschrieben hat: Die SPD steht auf einem Gleis, an dem in absehbarer Zeit kein Zug mehr halten wird.
Im übrigen sagt er, daß das, was die Bundesregierung vorschlägt und tut, der richtige Ansatz ist.
Meine Damen und Herren, von Herrn Dreßler kamen keine Alternativen, außer einer einzigen,
nämlich daß die Erstattung von Leistungen aus der Rentenversicherung aus dem Haushalt finanziert werden soll. Darüber kann man ja diskutieren, aber das hilft direkt überhaupt nicht, denn dann müßten
Dr. Hermann Otto Solms
die Steuern erhöht werden, um diese Ausgaben dort auszugleichen.
Jetzt hilft nur Sparen. Wir haben den Staat überfordert,
wir alle zusammen. Ich erinnere Sie, Herr Dreßler: Es gibt kein einziges Leistungsgesetz, das wir hier im Bundestag beschlossen haben, dem Sie nicht zugestimmt hätten und bei dem Sie nicht zusätzliche Forderungen erhoben hätten, kein einziges!
Im übrigen - und deswegen nützen die Schuldzuweisungen auch gar nichts - stehen Sie in vielen Ländern und darüber hinaus in sehr vielen Gemeinden in der Verantwortung. Die Probleme, die uns treffen, treffen nicht nur den Bund, sondern sie treffen Länder und Gemeinden, sie treffen den gesamten Staat. Wenn der gesamte Staat in Not ist, dann steht man zusammen und versucht, Lösungen zu finden,
und kündigt nicht die Zusammenarbeit insbesondere in dem Bereich auf, der die höchste Sensibilität erfordert, nämlich im Rentenbereich, in dem der Konsens immer getragen hat.
Ich halte es für eine sehr armselige Antwort, die Sie da gegeben haben.
Meine Damen und Herren, es hilft nichts: Wir brauchen eine marktwirtschaftliche Erneuerung, weil wir nicht auf einer Insel des Wohlstands in einer Welt leben können, die immer enger zusammenrückt; das weiß doch jeder.
Es gibt keine nationalen Märkte mehr. Finanzdienstleistungen können in Sekundenschnelle rund um die Uhr weltweit angeboten werden, Dienstleistungen von Ingenieuren können über die Telekommunikation in Blitzesschnelle abgefordert werden. Wir können uns nicht von den Entwicklungen in der Welt isolieren, und wir können auf Dauer auch kein höheres Wohlstandsniveau sichern, wenn wir nicht die Leistungskräfte in diesem Lande stärken und die Schranken, die wir selbst aufgebaut haben, reduzieren.
Das ist der Gesamtzusammenhang.
Meine Damen und Herren, die Zeit der Gefälligkeitspolitik ist vorbei.
Das geht nicht mehr. Ich sage Ihnen ganz deutlich - wir sind mit daran schuld; ich befreie uns doch überhaupt nicht aus der Verantwortung -:
Wir alle haben jedem Wunsch nachgegeben und für alles staatliche Lösungen angeboten.
Das Ergebnis ist, daß der Staat überfordert worden ist.
Wer ist denn der Staat, meine lieben Kolleginnen und Kollegen?
Der Staat sind wir alle. Jede Forderung, die Sie erheben, müssen alle Bürger bezahlen. Jeder Pfennig Neuverschuldung muß von der nachfolgenden Generation mit Zins und Zinseszins über höhere Steuern zurückgezahlt werden.
Das Geld fällt doch nicht vom Himmel, und die anderen Länder werden uns die Kreditmittel auch nicht auf Dauer zur Verfügung stellen, wenn wir nicht unseren eigenen Beitrag dazu leisten.
Das heißt, wir dürfen den Staat, wir dürfen unsere Bürger nicht weiter überfordern, wenn wir die Leistungskräfte, die ja in den Bürgern stecken, nicht weiter dämpfen wollen.
Es gibt keinen abgeschotteten Markt. Wenn wir so wie bisher weitermachen, wie es insbesondere das Tarifkartell der Arbeitgeber- und Gewerkschaftsorganisationen in den letzten Jahrzehnten praktiziert hat, dann wird der Arbeitsmarkt seine Funktion zunehmend verlieren, dann werden die Arbeitnehmer in die Schwarzarbeit oder in die Arbeitslosigkeit gedrängt, und dann werden die Investoren ins Ausland abwandern. Genau das ist es, was eingetreten ist.
Wenn Sie das ändern wollen, dann müssen Sie Ansätze finden, die dazu führen, daß die Menschen wieder freiwillig in der Bundesrepublik investieren,
denn nur das schafft Arbeitsplätze - das werden Sie nicht bestreiten, Frau Fuchs; dazu sind Sie viel zu kenntnisreich -, und dann werden die Menschen auch eher bereit sein, zusätzliche Leistungen zu erbringen.
Schauen Sie sich doch gerade die Spitzenkräfte in der Wissenschaft an, auf die wir ja auch angewiesen sind. Wenn Sie an Spitzenuniversitäten in den Vereinigten Staaten gehen, dann finden Sie vielfach gerade dort die besten deutschen Nachwuchskräfte der Wissenschaft, weil sie da besser honoriert werden, weil sie da weniger Steuern und Abgaben zahlen
Dr. Hermann Otto Solms
müssen und ein besseres Umfeld für ihre Forschungstätigkeit vorfinden.
Das gleiche finden Sie beim Spitzensport. Es steht heute in jeder Zeitung, wo die Spitzensportler ihre Steueroasen gefunden haben.
Meine Damen und Herren, dieser Zusammenhang ist nicht aufzuheben. Wir müssen sparen, und wir müssen dort sparen, wo es am wenigsten weh tut. Wir kommen aber um eine konsequente Konsolidierung der Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden nicht herum.
Es ist von der jungen Generation gesprochen worden. Das Beste, was wir für die nachfolgende Generation tun können, ist, die Schulden, die wir bereits aufgebaut haben, abzubauen, denn sie muß sonst die Schuldenlast übernehmen.
Wenn wir so weitermachen, werden sie die Erbschaft ausschlagen und die Leistungen nicht mehr erbringen, weil die Belastungen zu stark geworden sind.
Meine Damen und Herren, natürlich müssen wir als Abgeordnete beim Sparen mit gutem Beispiel vorangehen. Deswegen hat die F.D.P.-Fraktion vorgeschlagen - ich hoffe, die großen Fraktionen werden zu einer solchen Lösung bereit sein -, die bereits beschlossene Diätenerhöhung um ein Jahr hinauszuschieben.
In einer Zeit, in der wir eine Nullrunde im öffentlichen Dienst fordern, und zwar zu Recht, in der wir die Aufschiebung der Anhebung der Sozialhilfe fordern, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Das gilt selbstverständlich auch für die Reduzierung bei der Lohnfortzahlung. Auch hier müssen die Abgeordneten einen eigenen Beitrag leisten. Deswegen schlagen wir vor, daß die Abzüge bei Krankheit an Präsenztagen in Höhe von 30 DM auf 90 DM angehoben werden.
Meine Damen und Herren, die Kürzung der Lohnfortzahlung ist notwendig. Als Grundprinzip muß gelten, daß man für Arbeit immer mehr Geld erhält als für Nichtarbeit, als für die Zeiten, in denen man von den Sozialsystemen unterstützt wird; denn sonst gibt es keinen Anreiz zur Arbeit. Es ist doch wirklich zumutbar, daß man für eine Woche Krankheit einen Urlaubstag opfert, in einer Zeit, in der man durchschnittlich 32 Urlaubstage im Jahr zur Verfügung hat.
Als die Lohnfortzahlung eingeführt wurde, war der Urlaubsanspruch etwa halb so groß: 14, 15 Tage. Wenn Sie sechs Wochen krank sind, sollen Sie sechs
Urlaubstage zur Verfügung stellen müssen. Dann haben Sie immer noch 26 Urlaubstage im Jahr.
- 32 minus 6 ist 26. Ich darf Ihnen hellen.
Das ist immer noch mehr als in den meisten Ländern der Welt.
Also, meine Damen und Herren, dies ist ein zumutbarer Beitrag zur Konsolidierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Wir tun dies nicht aus Spaß an der Freud, sondern wir tun das, um die sozialen Sicherungssysteme für die Zukunft tragfähig zu machen.
Meine Damen und Herren, es gibt doch keine sozialere Leistung,
als den Menschen dazu zu verhelfen, durch eigene Arbeit ihr Leben gestalten zu können. Es gibt doch keine sozialere Leistung, als die sozialen Sicherungssysteme auf ein für die Zukunft tragfähiges Niveau zu stellen. Wir wissen, daß das gegenwärtig nicht der Fall ist. Wir kommen um diese Erkenntnis nicht herum.
Deswegen gibt die Bundesregierung, gibt die Koalition mit diesem Paket die Antwort.
Diese Antwort ist die richtige Antwort, denn sie weist in die richtige Richtung: Zukunftsgestaltung durch eine Reform des Rentensystems; durch eine grundsätzliche Reform des Steuertarifs mit einer deutlichen Senkung der Belastung der Leistung und einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
- wir sind dabei -; durch eine Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme; durch den Abbau von nicht beitragsbezogenen Leistungen; durch die Konzentration auf das Notwendige, auf die Bedürftigen und nicht auf die, die clever sind; schließlich durch eine Konsolidierung der Haushalte, damit die öffentlichen Haushalte wieder weniger auf die Verschuldung angewiesen sind.
Wenn wir diesen Weg konsequent gehen, dann wird wieder Zuversicht eintreten, dann wird ein investitionsfreundliches Klima entstehen, dann werden Ausländer in der Bundesrepublik zunehmend investieren, dann werden Arbeitsplätze geschaffen. Das ist es, worauf es ankommt: Jede Maßnahme muß sich daran messen lassen, ob sie einen Beitrag für neue Arbeitsplätze leistet. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Die Koalitionsparteien sind dazu entschlossen. Wir sind weiterhin bereit, mit Ihnen darüber zu reden und um bessere Vorschläge zu ringen.
Dr. Hermann Otto Solms
Eines kann man aber wirklich verlangen: Jede Ablehnung einer Maßnahme, gerade bei den Einsparungen, muß von entsprechenden Vorschlägen Ihrer Seite begleitet werden; denn um die Sparpolitik kommen wir nicht herum.
In den Haushalten jener Länder, in denen Sie von der SPD die Verantwortung tragen - im Saarland, in Niedersachsen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen -, findet sich die schlechteste Finanzsituation überhaupt, viel schlechter als beim Bund.
Sie sind selbst darauf angewiesen, Ihre Haushalte sauber zu finanzieren und nicht immer wieder neue Schulden aufzunehmen.
Sie kommen nicht drum herum, mit uns gemeinsame Arbeit zu leisten.
Ich möchte Ihnen gern die Blamage vom letzten Jahr ersparen: Beim Jahressteuergesetz haben Sie großartige Ankündigungen in die Welt gesetzt; Ihre Ministerpräsidenten haben im Vermittlungsausschuß aber genau das Gegenteil gemacht. Ich warne Sie, nicht wieder in die gleiche Situation zu kommen.
Wir kommen an dieser gemeinsamen Aufgabe nicht vorbei. Wir sollen und müssen uns dieser Aufgabe stellen - auch wenn sie unbequem ist. Wir sind dazu bereit.
Danke.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat eine Fülle von Gesetzentwürfen vorgelegt, die eine ebenso große Anzahl sozialer Grausamkeiten enthalten. Um dennoch eine positive Absicht vorzutäuschen, verbindet die Bundesregierung diese Grausamkeiten mit Worten wie Einsparen, Wachstum und Beschäftigung. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um die dreisteste Umverteilung von unten nach oben, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat.
Herr Solms, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie erklären, daß die sozialste Leistung die Ermöglichung von Erwerbstätigkeit bei entsprechenden Löhnen ist. Aber erklären Sie mir doch mal - das haben Sie wieder unterlassen, trotz einer Redezit von 20 Minuten -: Wo und an welcher Stelle schaffen das Einfrieren von Kindergeld, das Einfrieren von Sozialhilfe, die Kürzung der Lohnfortzahlung, die Kürzung von Krankengeld, das Versteuern von Renten, das Heraufsetzen des Renteneintrittsalters, die Abschaffung von Kündigungsschutzrechten einen einzigen Arbeitsplatz? Das haben Sie noch niemandem in diesem Lande erklärt!
Es schafft auch keine Arbeitsplätze, sondern kostet sie sogar.
Zusätzlich erklären Sie auch noch: Die Zeit der Gefälligkeitspolitik ist vorbei. - Das sagt eine F.D.P., die ihre Klientel seit über 30 Jahren permanent bedient und da keine einzige Streichung zuläßt.
Das sagt eine F.D.P., die zu demselben Zeitpunkt, zu dem die Sozialhilfe eingefroren wird, fordert, die Vermögensteuer abzuschaffen. Sie machen doch Gefälligkeitspolitik für Ihre Klientel, und zwar die ganze Zeit!
- Das kann ich Ihnen genau erzählen. Das ist viel erforschter als das, was Sie gemacht haben. Der Adel ist hier doch nicht schlecht begünstigt, Herr Solms. Auf jeden Fall habe ich keine Sozialhilfe gekürzt.
Ich sage Ihnen folgendes: Sie erzeugen mit Ihren Maßnahmen sogar zusätzliche Arbeitslosigkeit, und zwar in beachtlichem Umfang. Ich will nur ein Beispiel nennen: Die Reduzierung der Lohnfortzahlung, die Sie vorschlagen, wird bei den Unternehmen 12 Milliarden DM einsparen. Diese 12 Milliarden DM fehlen dann aber auch an Kaufkraft und Binnennachfrage. Das kostet in etwa 60 000 Arbeitsplätze.
Ihre sogenannten Sparvorschläge zusammengenommen bewirken eine Reduzierung von Kaufkraft und Nachfrage, die in etwa 500 000 Arbeitsplätzen entspricht. Dabei ist die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters noch überhaupt nicht berücksichtigt.
In Wirklichkeit ist es ein Programm für höhere Massenarbeitslosigkeit. - Das ist einfach eine Tatsache; das können Sie auch gar nicht bestreiten. Von den Gewerkschaften ist schon ausgerechnet worden, welche Arbeitsplatzverluste im gesamten Kurbetrieb allein die Einschränkung der Kurleistungen zur Folge haben wird.
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas anderes. Sie stellen eine einfache These auf und sagen, die Kosten für Arbeit und Soziales sind zu hoch; wenn wir die reduzieren, gibt es mehr Gewinne. Wenn es mehr Gewinne gibt, wird mehr investiert. Wenn mehr investiert wird, entstehen mehr Arbeitsplätze. - Wenn
Dr. Gregor Gysi
diese einfache Logik stimmen würde, müßten wir geradezu einen Job-Boom haben.
Ich will Ihnen auch sagen, weshalb: Die Nettolöhne sind in den letzten 15 Jahren real um 1,4 Prozent gestiegen. In derselben Zeit sind die Gewinne der Unternehmen aber um 116 Prozent gestiegen. Danach müßte es geradezu einen sagenhaften Aufschwung bei den Arbeitsplätzen gegeben haben. Das Gegenteil ist der Fall. Und weshalb? - Unter anderem deshalb, weil Sie eine völlig falsche Steuerpolitik machen, weil die Spekulations- und Finanzgeschäfte im Vergleich zur Wirtschaftstätigkeit steuerlich immer noch wesentlich mehr begünstigt sind, so daß die Unternehmen ihre Gewinne zur Bank tragen und nicht investieren, schon gar nicht so, daß neue Arbeitsplätze entstehen.
Im übrigen: Wissen Sie, weshalb Unternehmen ins Ausland gehen? Nicht wegen der Steuern! Sie gehen dorthin, wo der Markt ist, dorthin, wo sie verkaufen können. Weil Sie seit mehr als 15 Jahren den Binnenmarkt vernachlässigen und die Nachfrage reduzieren, haben die Unternehmen gar keine andere Chance, als im Ausland zu verkaufen.
Das ist eine der ökonomischen Ursachen, mit denen wir es hier zu tun haben.
- Ich verstehe Ihre Erregung gar nicht. Ihre Klientelpolitik hat sich ja bewährt. Sie haben selber erklärt, daß Sie die Partei der Besserverdienenden sind. Das entspricht etwa 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung. - Darauf kann man sich natürlich reduzieren. Aber Sie werden begreifen, daß andere Parteien dieses Spiel nicht mitmachen. - In den neuen Bundesländern entspricht das etwa 1 Prozent der Bevölkerung, und das ist auch dort Ihre Klientel. Das macht den Unterschied aus zwischen Ihnen und uns.
- Das liegt einfach daran, daß wir eine so kluge Politik machen,
daß Besserverdienende gelegentlich die PDS wählen. Das finde ich völlig berechtigt. Es ist Besserverdienenden nicht verboten, die PDS zu wählen, es ist sogar sehr sinnvoll. Aber es setzt voraus, daß man gerade als Besserverdienender bereit ist, Solidarität mit den sozial Schwachen in dieser Gesellschaft zu üben. Solche Besserverdienenden gibt es ja auch, und an
die kann man sich mit seinen politischen Angeboten wenden.
Weil Sie immer bestreiten, daß Sie Klientelpolitik machen, will ich Ihnen ein ganz praktisches Beispiel bringen. Die Commerzbank - um es konkret zu machen - hat ihr Betriebsergebnis im vergangenen Jahr um 109 Prozent erhöht
und zugleich die Steuerleistung an die Bundesrepublik Deutschland um 67 Prozent reduziert. Größere Steuergeschenke können Sie doch gar nicht machen! Das Ergebnis sind nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze, weil die Gewinne eben nicht in die Produktion fließen, unter anderem auch deshalb nicht, weil diese Regierung - entgegen ihren Ankündigungen - zwar große Konzerne und Banken befördert, aber die Kleinunternehmen und den Mittelstand permanent benachteiligt. Die können sich all diese Steuertricks gar nicht leisten. Siemens und andere Konzerne können ihre Gewinne in den USA entstehen lassen und sie dort versteuern. Das kann ein Mittelständler nicht.
Im übrigen ist Ihr schlagendes Argument immer: Wenn man die Unternehmen zu hoch besteuert, dann geht das Kapital ins Ausland. Wenn Sie das wirklich bekämpfen wollen, dann regeln Sie doch, daß der Weggang des Kapitals, das Verbringen von Kapital ins Ausland unter bestimmten Voraussetzungen steuerpflichtig wird. Das wäre zum Beispiel eine Maßnahme zur Eindämmung solcher Verhaltensweisen. Aber genau das lehnen Sie ab. Ihre ganze Argumentation läuft darauf hinaus, daß Sie immer wieder erklären: Wenn wir das machen würden, wäre illegales Verhalten der Steuerpflichtigen die Folge. Mit dieser Begründung erlassen Sie ihnen das Steuerzahlen gleich. Denken Sie nur an Ihre ganze Argumentation zum Dienstmädchenprivileg.
Obwohl die Einnahmen der Banken und der großen Konzerne ständig gestiegen sind, sind ihre Steuerzahlungen an die Bundesrepublik immer geringer geworden, wie ich es in meinem Beispiel angeführt habe. Wann hat der Kanzler, wann hat der Bundesfinanzminister darauf je empört reagiert und gesagt, das lasse er sich nicht länger bieten? Aber von Sozialmißbrauch faselt er das ganze Jahr, weil irgendwo eine Sozialhilfeempfängerin 10 DM mehr bekommt, als ihr zusteht. Das ist die Art der Kämpfe, die Sie führen: immer gegen den gleichen und immer für den gleichen Personenkreis.
In der Zeit von 1983 bis 1989 hat zum Beispiel die Zahl derjenigen, die 250 000 DM oder mehr in dieser Gesellschaft verdienen, um 70 Prozent zugenommen. Sie können es nicht leugnen: So wie die Armut in dieser Gesellschaft zugenommen hat, so hat auch der
Dr. Gregor Gysi
Reichtum in dieser Gesellschaft zugenommen, und zwar in immer weniger Händen.
Inzwischen macht das Sparvermögen in der Bundesrepublik Deutschland 4 Billionen DM aus. Das sind 4000mal 1 Milliarde DM. Das ist eine unbeschreibliche hohe Summe, in immer weniger Händen konzentriert. Dort könnte man etwas verändern, wenn man das wollte.
Sie sagen: Die beabsichtigte Änderung beim Kündigungssschutz betrifft nur kleine Unternehmen und wenig Beschäftigte. - Herr Dreßler hat die Zahl von 8 bis 12 Millionen genannt. Ich habe noch eine andere Zahl: 80 Prozent der Unternehmen sind davon betroffen, wenn Sie den Kündigungsschutz so abschaffen, wie Sie das vorschlagen. Das entspricht 30 Prozent der Beschäftigten. Für ein Drittel der Beschäftigten heben Sie den Kündigungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland auf und gehen damit im sozialen Standard dieser Gesellschaft weit vor das Jahr 1949 zurück.
Das ist die Realität, mit der wir es hier zu tun haben.
Es gibt geeignete Maßnahmen, wenn man die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen will. Man muß über Arbeitszeitverkürzungen und über Überstundenabbau nachdenken. Man muß darüber nachdenken, wie man die Lohnnebenkosten anders verteilt, zum Beispiel könnte man die Zahlungen von Unternehmen in Versicherungssysteme in erster Linie vom Umsatz oder Gewinn und nicht von der Bruttolohnsumme und der Zahl der Beschäftigten abhängig machen, um sie nicht weiter für die Bereitstellung von Arbeit zu bestrafen.
Es gibt Möglichkeiten zum Einsparen. Sie wollen einsparen - ja, dann verzichten Sie doch zum Beispiel auf den Transrapid, verzichten Sie doch auf Prunkbauten für die Regierung im Rahmen des Umzugs nach Berlin
und auf viele andere Maßnahmen, für die es leider nie an Geld fehlt.
Nein, diese Bundesrepublik Deutschland hat nicht zuwenig Geld, sie verteilt es nur ungerecht und spart immer bei den Falschen. Wer hindert Sie daran, eine Abgabe für die Besserverdienenden in Höhe von 10 Prozent auf die Steuerschuld zu machen?
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist ein gutes Stück überschritten.
Wer hindert Sie daran, wenigstens den Teil der Vermögensteuer zu erheben, den das Bundesverfassungsgericht zugelassen hat? - Nein, das alles machen Sie nicht, weil Sie nur eine
bestimmte Klientel bedienen. Aber dann sagen Sie auch ehrlich, daß Sie Politik nur für die Besserverdienenden, die Vermögenden und die Reichen machen.
Bemänteln Sie Ihre Programme nicht mit den Stichworten „Abschaffung von Arbeitslosigkeit" und „Stärkung von Wachstum", obwohl Sie damit nichts im Sinn haben!
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hans Büttner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Debatten im Bundestag sollen - so haben es Demokraten immer verstanden - ein Austausch von Argumenten sein - wenn nötig, mit harten Bandagen, aber mit dem Ziel, miteinander ins Gespräch zu kommen. Daß sich Kollege Glos einer solchen Debatte hier entzieht, ist für mich durchaus verständlich; denn sein ideologisch geprägter, tumber Populismus steht in eklantantem Gegensatz zu seinen volkswirtschaftlichen Kompetenzen. Das hat er heute erneut unterstrichen.
Ich will das mit einigen Argumenten begründen: Wer hier davon redet, daß die Lohnkosten in Deutschland zu hoch sind, und gleichzeitig vernachlässigt, daß der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Bruttosozialprodukt in Deutschland - das ist die volkswirtschaftlich entscheidende Meßgröße - inzwischen wesentlicher geringer als in den USA, Frankreich, Großbritannien oder unseren übrigen Nachbarstaaten oder sogar in Japan ist, der zeigt, wie wenig er von solchen Zusammenhängen versteht.
Wer die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft beklagt und dabei ignoriert, daß die deutsche Volkswirtschaft im letzten Jahr mit einem Exportüberschuß von 96 Milliarden DM fast wieder eine Höhe wie Mitte der 80er Jahre erreicht hat, der zeigt, daß er volkswirtschaftliche Zusammenhänge nicht begriffen hat. Wer darüber hinaus kein Wort darüber verliert, welche Auswirkungen die Untätigkeit dieser Regierung - allerdings auch anderer - auf die Wechselkursrelationen hat, der zeigt auch, wie wenig er begriffen hat, wo volkswirtschaftliche und politische Ansätze notwendig sind.
Wer in der Frage der Arbeitszeit selbt die Erhebungen seiner eigenen Regierung nicht zur Kenntnis nimmt, daß nämlich die Arbeitszeitverkürzung in den letzten Jahren die Hauptursache dafür war, daß wir mehr Beschäftigungsverhältnisse haben als einige Jahre vorher - nachzulesen in der Antwort die-
Hans Büttner
ser Regierung auf eine Anfrage von uns -, der zeigt auch, daß er nicht einmal bereit ist, Sachverhalte überhaupt wahrzunehmen.
Und ein Letztes. Wer über die Fehltage in diesem Land diskutiert, ohne einen Blick in die Statistiken der Sozialversicherungsträger zu werfen, über hundert Jahre hinweg, und dabei einfach nicht zur Kenntnis nimmt, daß die bei den Krankenversicherungen gemessenen Fehltage seit nahezu hundert Jahren gleichgeblieben sind, wenn man statistisch saubere Vergleiche anstellt, der zeigt auch, daß er nicht begriffen hat, daß Politik in diesem Land volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen setzen muß und daß man dieses Land nicht betriebswirtschaftlich wie eine Industrie AG verwalten darf.
Herr Kollege Glos, wünschen zu replizieren?
- Meine verehrten Damen und Herren, es besteht in diesem Parlament ein Rederecht, aber kein Redezwang.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sozialdemokratische Partei hat im letzten Bundestagswahlkampf das Plakat geklebt: „Arbeit! Arbeit! Arbeit! " In der Tat ist dies das Hauptwort unserer Sozial- und Gesellschaftspolitik. Es ist die größte und schärfste existentielle Ungerechtigkeit, wenn Menschen arbeiten wollen, dies aber nicht dürfen, nicht können. Das ist die größte Ungerechtigkeit!
Deshalb gehen wir mit unserem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung der Frage nach: Was hilft es den Arbeitslosen, und wo schaffen wir Arbeitsplätze? Das ist die Hauptfrage. Keine noch so hohe Unterstützung, auch wenn wir sie verdreifachen, ist so gut wie selbstverdienter Lohn. Deshalb geht es nicht um Unterstützung, sondern es geht darum, daß die Menschen ihren Lohn selber verdienen können. Das ist die Hauptfrage der Gerechtigkeit.
Herr Scharping, Sie selber sagen im „Handelsblatt" vom 13. Mai 1996: Die Kosten der Arbeit sind eindeutig zu hoch. - So, Herr Scharping, und jetzt sagen Sie uns mal, wo Sie die Kosten der Arbeit senken wollen, und zwar, wenn es geht, ganz konkret - nicht nur durch Verschiebung.
- Auf das Thema Fremdleistungen komme ich gleich noch; das ist auch aus meiner Sicht eine wirklich berechtigte Prüfungsfrage an uns. Aber wo werden in Ihrem Vorschlag Kosten gespart? Die Sparvorschläge der SPD sind das bestgehütete Geheimnis dieses Parlaments.
Das haben Sie heute morgen an Herrn Dreßler studieren können. Er hat gesagt: Im nächsten Jahr stehen wir wieder hier, und dann wird es noch schlimmer sein. - Und weil es nach seinen Aussagen noch schlimmer sein wird, deshalb wollen Sie weniger sparen. Das ist das Ergebnis.
Ich bin immer gespannt auf Ihre konkreten Vorschläge. Das frage ich auch in der Öffentlichkeit. Es ist die Kardinalfrage, wie wir Beitragslasten ganz konkret mindern, aber nicht allein dadurch, daß wir die Fremdleistungen aus der Sozialversicherung herausnehmen. - Sie suchen nach dem Wundermittel „Sparen ohne Einschränkungen". Herr Scharping, Sie sind der Böttcher der Sozialpolitik: Aus Nichts machen Sie Gold. Nur heiße Luft, nur heiße Luft! Ganz konkret erwarte ich heute von Ihnen Vorschläge, wo Sie Beitragslasten senken.
- Auf das Thema Fremdleistungen komme ich noch, Herr Dreßler.
Immer wenn ich morgens Radio höre, bin ich ganz gespannt auf die neuesten Meldungen. In der WDR- Sendung „Morgenecho" am 22. Mai wird mein hochgeschätzter Kollege Dreßler mit der Frage konfrontiert: Wo wollen Sie denn sparen, Sozialkosten senken? - Und dann kommt: Ich halte es für grotesk, in einer solchen Situation einen Transrapid mit über 10 Milliarden DM Steuergeldern zu finanzieren! - Herr Dreßler, erklären Sie mir mal, wieso die Kosten in der Rentenversicherung sinken, wenn der Transrapid nicht gebaut wird?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Ja, bitte. - Aber wenn Sie sich gedulden können, würde ich das zweite Zitat auch noch bringen.
Herr Minister, Sie haben einen Wunsch geäußert; ich will ihn Ihnen sofort erfüllen.
Ja, bitte.
Stimmen Sie mir zu, daß der Bundesfinanzminister die - nach seiner eigenen Aussage - im Augenblick offensichtlich nicht vorhandenen Gelder für staatliche Hoheitsaufgaben, die in der
Rudolf Dreßler
Rentenversicherung bezahlt werden, unter anderem dadurch gewinnen könnte, daß zum Beispiel der Bau des Transrapids nicht erfolgt?
Das war wieder ein Musterbeispiel: Die Sparvorschläge der SPD beschränken sich darauf, Finanzen von einem Konto auf das andere zu verschieben.
Ich sage ausdrücklich: Auch diese Diskussion - wer bezahlt was? - muß man führen. Ich halte diese Frage für wichtig; nur löst man damit nicht das Problem. Ob man einen Rucksack auf dem Buckel trägt oder ihn auf die Brust hängt - es ist immer das gleiche Gewicht.
Es geht also um die Frage, wo das Gesamtvolumen verringert werden kann - immer unter Würdigung von Gerechtigkeitsgesichtspunkten, unter dem Gesichtspunkt der Frage, wie wir eine Entlastung bei den Arbeitskosten erreichen können. Ich komme gleich auf die Frage der Fremdleistungen in der Sozialversicherung zurück.
Zu welchen Einschränkungen des klassischen Sozialsystems sind Sie bereit? Ihr Geheimnis heißt: Einschränkungen, die man nicht spürt. - Das gibt es nicht. Sie brauchen den Mut, zu sagen, wo ganz konkret Beitragslasten abgebaut werden können. Dann diskutieren wir auch über das Thema Fremdleistungen.
Ich war aber mit dem Zitat noch nicht fertig. Herr Kollege Dreßler fuhr in dem Interview fort: Ich halte es für grotesk, über 100 Milliarden DM in der langfristigen Entwicklung anzusetzen zur Finanzierung eines Jägers 90. - Das ist Dreßlers zweiter Vorschlag zur Entlastung der Rentenkassen. Für was Sie die Kosten des Jäger 90 schon alles gebraucht haben! Das ist die sozialpolitische Allzweckwaffe der SPD.
Wenn mein Religionslehrer im Unterricht nicht mehr weiterkam, hat er gesagt: „Gottes Wege sind unerforschlich. " Wenn die SPD nicht mehr weiterkommt, sagt sie: „Jäger 90" .
Deshalb noch einmal ganz konkret - damit Sie mir nicht ins Wort fallen: zu den Fremdleistungen komme ich gleich -:
Wo können in der Krankenversicherung Beitragslasten zurückgenommen werden, wo in der Rentenversicherung, wo in der Arbeitslosenversicherung? Wir
brauchen ganz konkrete Vorschläge, nicht nur heiße Luft.
Natürlich halte ich das Thema Fremdleistungen für berechtigt: Welche Leistungen müssen im Sozialstaat an den Arbeitsplatz gebunden werden? - Diese Frage ist berechtigt, genauso wie der Gerechtigkeitsaspekt: Sollen allgemeine Leistungen nur von Beitragszahlern oder von allen finanziert werden? Nur, die Beantwortung dieser Fragen entbindet uns nicht von der Beantwortung der Frage: Wie führen wir das zu hohe Gesamtvolumen zurück? Dazu gehört Mut.
Wir dürfen nicht bei Beschreibungen stehenbleiben. Wir brauchen keine Besprechungen, sondern handfeste Vorschläge, auch wenn sie unpopulär sind.
Unsere Diskussion kommt mir so vor, als wenn einer, der nach dem Weg gefragt wird, sagt: „Weiß ich nicht, aber Hauptsache, wir haben darüber gesprochen!" - Man muß Antwort geben auf ganz konkrete Vorschläge. Die müssen diskutiert werden.
Ich hoffe, auch die Bevölkerung merkt: Wir kommen in dieser Situation nur mit dem Mut zu konkreten Vorschlägen vorwärts, nicht mit Allgemeinplätzen. Die Zeit der Allgemeinplätze ist vorbei.
Wir müssen Leistungen zurücknehmen; das geht nicht ohne Schmerzen.
- In Ihren Reden habe ich nie etwas anderes gehört. Aber lassen wir das!
Auch ich will einmal die Sprache bemühen - Herr Dreßler hat sie ja heute morgen kritisiert -: Halten Sie, Herr Kollege Dreßler, das Wort „Kahlschlag" angesichts unserer Sparmaßnahmen für berechtigt?
- Dann bitte ich zu bedenken: Jede dritte Mark unseres Sozialproduktes geben wir für Soziales aus. Die Soziallastquote sinkt auf Grund unserer Sparvorschläge um 0,4 Prozent, von 33,4 auf 33,0 Prozent. Weiterhin wird jede dritte Mark für den Sozialstaat ausgegeben - einmalig in Europa!
Wir senken die Soziallastquote um 0,4 Prozent mit, wie ich zugebe, schmerzlichen Maßnahmen. Aber wer dazu „Kahlschlag" sagt, verkennt die Proportionen, um die es in dieser Welt geht.
Nur, damit jeder weiß, worum es geht: 11,2 Milliarden
DM von 411 Milliarden DM Ausgaben sparen wir in
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
der Rentenversicherung, 6,5 Milliarden DM von 100 Milliarden DM Ausgaben bei der Bundesanstalt für Arbeit. Das ist schmerzhaft; aber wo ist da Kahlschlag? Wer Ihnen das glaubt, könnte ja auf die Idee kommen, wir würden den Sozialstaat beseitigen. Um 0,4 Prozent sinkt die Soziallastquote. Lassen Sie doch die Kirche im Dorf und machen Sie die Leute nicht mit solchen Parolen verrückt!
Jetzt gehen wir einmal die einzelnen Maßnahmen durch:
Die Rehabilitation ist ganz wichtig. Natürlich gilt auch weiterhin der Grundsatz „Rehabilitation vor Rente". Aber will jemand sagen, er habe 1993 nicht gegolten? Wir werden 1997 mit den Ausgaben im Grunde auf das Niveau von 1993 zurückgehen. Ist hier jemand im Parlament, der behauptet, 1993 sei ein rehabilitationsfreies Jahr gewesen? Wir gehen auf ein Niveau zurück, das dem von vor vier Jahren entspricht.
In dem Zusammenhang sagen Sie, es würden Arbeitsplätze gefährdet. Meine Damen und Herren, wenn Kosten keine Rolle spielen, dann bringen Sie in dieser Logik doch alle Arbeitslosen in Kurbetrieben unter. Dann sind sie weg.
- Nein, ich prangere nur Ihr kindliches Denken an. Es spielt doch auch eine Rolle, daß die Rehabilitation von den Arbeitnehmern bezahlt werden muß, und Sie können die Kuh nicht schlachten, die Sie melken wollen. So dumm ist kein Bauer, so dumm sind nur noch die Sozialdemokraten.
Jetzt zu dem Thema Lohnfortzahlung: Ich gestehe, daß mir dieser Vorschlag nicht leichtfällt; das gestehe ich hier an diesem Pult ausdrücklich.
- Hören Sie doch ruhig zu! - Aber nicht der Sache wegen, sondern weil in die Lohnfortzahlung ein Teil der Geschichte auch der Arbeiterbewegung eingeflossen ist. Bei dem damaligen Streik ging es gar nicht um das eigentliche Thema Lohnfortzahlung. Da ging es vielmehr darum, daß die Arbeiter den Angestellten gleichgestellt werden.
Das kann ich sehr gut verstehen: Es verletzte die Ehre der Arbeiter, daß sie als Arbeitnehmer zweiter Klasse behandelt wurden. Da war ein verletztes Ehrgefühl im Spiel. Aber, meine Damen und Herren, wo in der Welt gibt es noch bei Nichtarbeit ebenso 100 Prozent Lohn wie bei Arbeit? Es kann doch nicht der Sinn von Sozialleistungen sein, daß man bei Nichtarbeit dasselbe Geld wie bei Arbeit bekommt. Das ist gegen jede Logik des Sozialstaates.
Wenn dafür als Ausgleich noch Urlaubstage genommen werden können, dann müssen Sie mit dem Wort „Kahlschlag" vorsichtig sein.
Vom gesunden Menschenverstand her geht es um folgendes: ' Wenn du arbeitest, mußt du immer ein bißchen mehr haben, als würdest du nicht arbeiten, weil sonst die Versuchung groß ist, durch Nichtarbeit dasselbe Einkommen wie durch Arbeit zu erzielen. Das kann auch nicht im Sinne der Arbeitnehmer sein.
- Mit Faulenzern hat das nichts zu tun. Das hat etwas mit der Logik von Lohnabstandsgeboten zu tun. Die Sozialleistung muß immer etwas niedriger sein als der Lohn, der auf Arbeit beruht, sonst verliert der Sozialstaat seine Akzeptanz.
Jetzt komme ich noch zum Thema Rente; wir wollen nichts auslassen. Der Kollege Dreßler hat einen Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 20,4 Prozent beklagt und der Regierung diese 20,4 oder 20,6 Prozent vorgeworfen. Aber er hat keinen einzigen Vorschlag gemacht, um diese Beitragshöhe zu verhindern. Er wirft uns die 20,4 Prozent vor, bekämpft aber alle Maßnahmen, mit denen wir unter 20 Prozent kommen können. Welche Logik, welches Denkschema, uns eine Gefahr vorzuwerfen und gleichzeitig alles zu tun, damit die Gefahr auch Wirklichkeit wird! Das ist gegen jede seriöse Politik. Wenn 20,4 oder 20,6 Prozent eine Bedrohung sind, lieber Kollege Dreßler, dann müssen Sie Vorschläge machen, wie wir noch weiter herunter kommen.
Ich nehme jeden Vorschlag an. Aber ohne Vorschläge werden Sie nicht unter 20,6 Prozent kommen.
Jetzt zu den Rentnern: Einen Restbestand von Eitelkeit habe ich auch. Das, was Sie in Ihrer Rentenpolitik gemacht haben, habe ich nie gemacht und werde ich auch nie machen. Ich werde nie dazu meine Hand geben, eine Rentenanpassung ausfallen zu lassen; das aber haben Sie gemacht. Dreimal haben Sie sie willkürlich festgesetzt, siebenmal haben Sie den Bundeszuschuß manipuliert.
Unsere Rentenpolitik, das gebe ich zu, ist nicht populistisch. Wir haben die Rentenerhöhung nicht ausfallen lassen. - Je mehr Sie dazwischenrufen, um so mehr halte ich Ihnen Ihre ganzen Sünden vor.
Sie haben die Rentenerhöhung vom süddeutschen Wetteramt abrufen lassen. Das hat mit seriöser Rentenanpassung überhaupt nichts zu tun. Von solchen
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Stümpern lasse ich mir nicht vorwerfen, wir seien unseriös.
Heute wird Tacheles geredet. Räumen wir das Holz einmal weg!
Jetzt zu den einzelnen Maßnahmen. Zunächst zum Bundeszuschuß - ein bestgehütetes Geheimnis: 76 Milliarden DM zahlt der Bund an Bundeszuschuß. Die Erstattung beläuft sich auf 9 Milliarden DM. - Das sind 19 Prozent des Bundeshaushalts. Damit setzen wir fast jede fünfte Mark des Bundeshaushalts für die Rentenversicherung ein. Deshalb, meine Damen und Herren, erwecken Sie hier nicht den Eindruck, der Bund würde die Rentenversicherung im Stich lassen. So viel Bundeszuschuß, nicht nur in der absoluten Höhe, sondern auch prozentual, ist noch nie gezahlt worden. Ich sage noch einmal: Wir müssen der Frage der Fremdleistungen nachgehen - ich weiche dieser Diskussion nicht aus -, aber alles, was Sie als „versicherungsfremde Leistungen" bezeichnen, haben Sie mitbeschlossen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonntag-Wolgast?
Immer.
Herr Minister, seit einer Viertelstunde präsentieren Sie uns hier eine rosige Zahl nach der anderen in Form einer Milchmädchenrechnung.
Wagen Sie auch, einer Frau, die durch die Erhöhung des Rentenalters um ihre Lebensplanung betrogen wird, diese Rechnung so aufzumachen, wie Sie es seit einer Viertelstunde tun?
Sie müssen mich mißverstanden haben. Ich habe die ganze Zeit überhaupt nicht über rosige Zahlen gesprochen. Ich habe - genau umgekehrt - darüber gesprochen, daß die Zahlen so sind, daß wir sparen müssen.
Sie verwechseln meine Äußerungen mit der Darstellung Ihrer Seite. Ich habe nicht davon gesprochen, daß wir nicht handeln müssen. Sie haben doch, um diese schlimmen Zahlen zu verhindern, bis zu dieser Stunde - außer Verschiebungen von Kosten von einem auf den anderen - keinen konkreten unpopulären Vorschlag gemacht. Ich sage Ihnen: Ohne unpopuläre Vorschläge, ohne Mut werden wir nicht weiterkommen. Man darf sein Fähnchen nicht nur
nach dem Winde hängen, ob das nun eine rote Fahne oder eine andere ist.
Zu den Frauen: Wir haben die Altersgrenze für Männer, für Arbeitslose von 60 erhöht - ich hoffe, mit Ihrer Zustimmung, jedenfalls mit Zustimmung der Sozialpartner. Die Altersgrenze für Arbeitslose heben wir von 60 auf 63 an. Jetzt frage ich Sie: Wenn wir die Altersgrenze für Frauen bei 60 lassen würden, würde sich der gesamte Entlassungsdruck auf diejenigen richten, die bisher noch mit 60 in Rente gehen können. Was haben Sie, um die Frage von Herrn Dreßler zurückzugeben, dagegen, daß die Altersgrenze von Frauen und Männern die gleiche ist? Sie selber haben im Rentenkonsens - unter welchen Bedingungen auch immer - den Grundsatz, Frauen und Männer haben die gleiche Altersgrenze, 1989 mitbeschlossen. So gedächtnisschwach sind wir nicht. Was wir anders machen, ist nicht ein prinzipieller Unterschied, sondern ein temporärer Unterschied. Wir beginnen mit der Anhebung früher und bieten dazu eine Reihe von Maßnahmen an, die in der Tat den Übergang von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand für Männer und Frauen sanfter, menschlicher gestalten, als das heute ist.
- Sie nehmen nicht zur Kenntnis, daß die IG Chemie weit fortschrittlicher ist als Sie. Sie hat nämlich dazu, wogegen Sie anschreien, schon einen Tarifvertrag abgeschlossen. Sie sind wirklich weit hinter der Gewerkschaftsbewegung zurück.
Intelligente Lösungen werden nur kommen, wenn Schlupflöcher zugemacht werden. So war es beim Schlechtwettergeld.
- Doch! Das Schlechtwettergeld, so wie es durch den Tarifvertrag jetzt geregelt ist, ist besser geregelt, als das vorher der Fall war. Es orientiert sich jetzt an Jahresarbeitszeiten. So wird es auch hier sein. Laßt die SPD in ihren alten Festungen bleiben! Die moderne Gewerkschaftsbewegung - sie ist nicht überall modern - wird an dieser veralteten Truppe vorbeiziehen, und Sie werden Last haben, die Gewerkschaften einzuholen.
Bitte, Frau Mascher!
- Wenn die Wahrheit Karneval ist, dann ist das Karneval, jawohl!
Herr Arbeitsminister, hat Ihnen Ihr Parlamentarischer Staatssekretär, der genau wie ich gestern an der Anhörung zu Ihrem Gesetzentwurf zur Altersteilzeit und zum gleitenden Übergang teilgenommen hat, nicht mitgeteilt, daß unter anderem der Zentralverband des Deutschen Handwerks entschieden verneint hat, daß die Altersteil-
Ulrike Mascher
zeit überhaupt wirksam werden kann, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen, hat er Ihnen nicht berichtet, daß der Bundesverband der deutschen Arbeitgeber erhebliche Probleme hat, weil die Rahmenbedingungen zu eng sind, daß die Gewerkschaften gesagt haben, so, wie das Gesetz ausgestaltet sei, werde es eben nicht den von Ihnen als Silberstreif am Horizont beschworenen schönen gleitenden Übergang in die Pension geben? Ist Ihnen das nicht berichtet worden?
Frau Mascher, darf ich Ihnen mit einer Gegenfrage antworten?
- Doch!
Hat Ihnen Ihr verehrter Kollege Rappe nicht mitgeteilt, daß die IG Chemie bereits einen Tarifvertrag hat, der das herstellt? Hat Ihnen Ihr IG-Metall-Kollege nicht berichtet, daß es im Stahlbereich auch bereits Altersteilzeit gibt? Bedenkenträger wird es immer geben. Das weiß ich. Der Fortschritt muß sich gegen manche Widerstände nicht nur auf einer Seite durchsetzen.
Sagen Sie mir doch einmal, wie wir das schaffen! Die Lebenszeiten wachsen - ich sage: Gott sei Dank; wir alle wünschen uns das ja -, und zwar bei Männern und Frauen, bei Frauen sogar stärker als bei Männern, was ich ihnen gönne. Wenn die Lebenszeiten wachsen, dann können wir darauf nicht mit früherem Renteneintritt antworten. Wären die Rentenlaufzeiten noch so lang wie 1960, dann hätten wir jetzt einen Beitragssatz von 12 Prozent, meine Damen und Herren. Sie sehen, welcher Schub aus den Rentenlaufzeiten resultiert.
Nur darüber zu klagen, die Demographie auf Akademietagungen vor- und rückwärts zu besprechen, das nützt gar nichts. Handeln müssen wir. Wir können bei verlängerter Lebenserwartung - erfreulich und erwünscht - nicht zusehen, wie die Renteneintrittsalter immer weiter sinken. Wir verbinden das auch mit einem Angebot, selbst zu entscheiden, wann man ausscheidet, sich freilich dann dieses frühere Ausscheiden nicht von denen bezahlen zu lassen, die länger arbeiten.
Deshalb ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß es hier zu Abschlägen kommt, die man durch freiwillige oder tarifvertraglich vereinbarte Beiträge ausgleichen kann.
Dann zu den beitragsfreien Zeiten: Wenn wir das System stimmiger machen wollen, wenn wir soziale Lasten von den Arbeitsplätzen wegnehmen wollen, dann muß die Beitragsbezogenheit gestärkt werden. Wenn früher 13 beitragsfreie Jahre in der Rentenversicherung bezahlt wurden, dann frage ich: Von wem wurden sie denn bezahlt? Sie wurden von denjenigen bezahlt, die mit 15 in die Lehre kamen und mit 65 ausgeschieden sind. Sie sind von denjenigen bezahlt worden, die 45 oder 50 Jahre Beiträge zugunsten derjenigen gezahlt haben, die auf Grund von
Universitätsausbildung erst mit 30 Jahren Beiträge gezahlt haben.
Warum soll der Maurer für den Universitätsabsolventen bezahlen? Das sehe ich überhaupt nicht ein. Hier muß Beitragsbezogenheit hergestellt werden.
Es wäre noch viel zu sagen, aber lassen Sie mich nur das eine noch abschließend sagen: Seien Sie vorsichtig! Kritisieren, diskutieren, mein Gott, das gehört zu unserem parlamentarischen Leben, aber nicht, die großen Keulen, wie „Kahlschlag" oder, Herr Gysi, „Grausamkeit" zu verwenden und dann die DDR zu erwähnen! Die größte sozialpolitische Grausamkeit der letzten 40 Jahre war die DDR. Sind Sie vorsichtig mit dem Wort „Grausamkeit".
„Kahlschlag", „Kapitalismus pur" , solche Hämmer, solche Totschlagworte lösen kein einziges Problem, das differenziert behandelt werden muß. Wir müssen sparen; es führt kein Weg daran vorbei. Wir müssen auch die richtige Zuordnung - Fremdleistung, Beitragsleistung - klären. Das entzieht uns überhaupt nicht der Notwendigkeit einzusehen, daß das Gepäck zu schwer ist, daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen sind. Wir sparen doch nicht für irgendwelche Ölscheichs. Wir sparen für Millionen von Arbeitnehmern, Handwerkern und Betrieben.
Es ist wichtig, daß diese von Kosten entlastet werden, damit neue Arbeitsplätze entstehen.
Bevor Sie noch einmal „Kahlschlag" sagen, wende ich mich an alle:
In dieser Zeit, in der wir 11 Milliarden DM gegen großen Widerstand bei Ihnen in der Rentenversicherung, 6,5 Milliarden DM im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit sparen, genau in dieser Zeit verabschieden wir eine Pflegeversicherung. Deshalb seid vorsichtig zu behaupten, die Sozialpolitik hätte nichts anderes im Kopf als einzusammeln. Nein, Umbau heißt, dort, wo neue Fragen entstanden sind, neue Antworten zu geben und dafür alte Besitzstände in Frage zu stellen. Dazu gehört mehr als nur heiße Luft. Dazu gehört mehr, als nur zu reden. Dazu gehört Mut, der Ihnen offenbar fehlt.
Das Wort hat der Kollege Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute auf den Tag genau, vor 47 Jahren, wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Es bestimmt in seinem Art. 1, daß die Würde des Menschen unantastbar ist. Es bestimmt in seinem Art. 20, daß die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist.
Damit hat dieses Grundgesetz einen Wertekonsens beschrieben. Dieser Wertekonsens ist in den letzten Jahren immer stärker beschädigt worden. Mit dem, was Sie uns vorlegen, wird er noch stärker beschädigt, an manchen Stellen aufgekündigt.
Dieser Wertekonsens hat im Vorspruch zur Hamburger Verfassung einen schönen Ausdruck gefunden. Diese wurde im Jahre 1952 verabschiedet. In ihrer Präambel heißt es:
Jedermann hat die sittliche Pflicht, für das Wohl des Ganzen zu wirken. Die Allgemeinheit hilft in Fällen der Not den wirtschaftlich Schwachen und ist bestrebt, den Aufstieg der Tüchtigen zu fördern. Die Arbeitskraft steht unter dem Schutze des Staates.
Dieser Konsens, der in dieser schönen Formulierung enthalten ist, wird von der Bundesregierung und den sie tragenden Kräften nicht mehr ernst genommen - zum Schaden der Allgemeinheit, zum Schaden der Zukunft unseres Landes, insbesondere zum Schaden der Kinder, der Arbeitslosen, der Schwächeren, der Familien und vieler anderer.
Diese Bundesregierung ist unfähig, zu fragen, was John F. Kennedy gefragt hat: Die Eliten unseres Landes - so sagte John F. Kennedy - müssen sich fragen lassen, was sie selbst zur Besserung der Lage tun können, anstatt nur danach zu trachten, was sie anderen zumuten können.
Sie sind aus Feigheit und mangelnder Konsequenz zukunftsfeindlich.
Sie sind unglaubwürdig, und Sie haben die Menschen in Deutschland belogen, was das Zeug hält.
Verehrter Herr Kollege Blüm, persönlich mag ich Sie ja. Vieles von dem, was Sie politisch wollen, könnte ich sogar mittragen. Daß Sie hier Dinge vertreten müssen, hinter denen Sie nicht mit Ihrem Herzen stehen, ist offenkundig. Das merkt man an Ihrem
Verhalten und an dem, was Sie früher gesagt haben. Ich zitiere Norbert Blüm vom 26. Oktober 1995:
Der Rentenversicherung steht keine Veränderung ins Haus.
Norbert Blüm am 23. Dezember 1995:
Unser Sozialstaat ist konkurrenzlos ... Die Sicherungssysteme sind weltweit konkurrenzlos:
Die Renten in Deutschland bleiben auch künftig sicher. Ich werde sie bewachen wie die Wach- und Schließgesellschaft.
Jede private „Wachklitsche" ist bei ihren Bewachungsaufgaben konsequenter und besser als diese Bundesregierung.
Das wird auch keinen Deut dadurch besser, daß Sie hier nach der Methode verfahren: Ihr habt mich beim Lügen erwischt, ihr unverschämten Lümmel.
Genauso argumentieren Sie.
Sie haben den Menschen bis unmittelbar vor den Landtagswahlen am 24. März dieses Jahres schlicht die Unwahrheit gesagt. Sie wußten, daß Sie die Unwahrheit sagen.
Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat im März 1996 an Rentnerinnen und Rentner geschrieben:
... in jüngster Zeit ist in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt worden, die Renten seien unsicher geworden. Viele ältere Mitbürger haben mir geschrieben, daß sie sich Sorgen machen. Deshalb wende ich mich heute mit diesem Brief persönlich an Sie.
Sie können sich darauf verlassen: Ihre Rente ist und bleibt sicher. Am Generationenvertrag wird nicht gerüttelt.
Den Frauen, die ihre Lebensplanung entsprechend ausgerichtet haben, die in den Zeiten des Wiederaufbaus der Bundesrepublik Deutschland mit schlecht bezahlten und schlecht abgesicherten Arbeitsverhältnissen zufrieden sein mußten, die Kinder großgezogen haben und jetzt in Deutschland im Durchschnitt unter 1 000 DM Rente im Monat haben, sagen Sie implizit: Sie sollen die Last der unerträglichen
Rudolf Scharping
Unfähigkeit der Regierung tragen. Das werden wir nicht mitmachen.
Sie reden viel über den Wirtschaftsstandort; wir reden über den Lebensstandort und darüber, wie es mit dem Vertrauen und der Glaubwürdigkeit der Politik, also dem Grundkapital der Demokratie, aussieht. Wer am 9. November 1989 den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland sagt, er habe ein Jahrhundertwerk verabschiedet, wer wie der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland einen solchen Brief an die Rentnerinnen und Rentner schreibt, wer wie der Bundesarbeitsminister in Dutzenden von öffentlichen Erklärungen den Eindruck erweckt, an der Rente werde nichts geändert, und dann solche Vorschläge macht, der begeht nicht nur einen Akt bitterer sozialer Ungerechtigkeit, sondern zerstört das Grundkapital der Demokratie, nämlich Vertrauen und Glaubwürdigkeit.
Ich sage das mit großem Ernst, weil es ja, wie die Beispiele zeigen, durchaus andere Möglichkeiten gäbe. Vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung eine Anfrage mit Hinweisen auf die geringfügige Beschäftigung beantwortet. Diesen Zahlen ist zu entnehmen, daß schon 1991 in der Bundesrepublik Deutschland rund 4 Millionen Menschen außerhalb der Sozialversicherung beschäftigt wurden - es sind seither viel, viel mehr geworden -; diesen Zahlen ist zu entnehmen, daß insbesondere Frauen davon betroffen sind; diesen Zahlen ist zu entnehmen, daß neben den wirtschaftlichen Folgen - unfairer Wettbewerb, Zerstörung selbständiger Existenzen, Zerstörung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen - der Rentenversicherung 10 Milliarden DM entzogen wurden.
Herr Bundesarbeitsminister, es gibt einen einfachen Weg. Da Sie nach Vorschlägen fragen und Ihre offenkundige Perspektiv- und Ideenlosigkeit damit dokumentieren, will ich Ihnen ein bißchen helfen. Was Sie in der Rentenversicherung zu Lasten der Frauen, zu Lasten der Lebensschicksale, zu Lasten des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit sparen wollen, könnten Sie ausweislich Ihrer eigenen Zahlen dadurch hereinholen, daß Sie endlich dieses Übel der versicherungsfreien Tätigkeit gerade von Frauen beenden.
Aber Sie haben ja nicht nur das Vertrauen der Rentnerinnen und Rentner beschädigt, Sie haben ja zugleich auch das Vertrauen der Gewerkschaften, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschädigt. Sie haben den Eindruck erweckt, Sie wollten ein Bündnis für Arbeit schaffen. Herausgekommen ist ein Bündnis gegen die Arbeit, gegen die soziale Gerechtigkeit. Sie nennen das ein Sparpaket. Ich will gerne konzedieren: Sie sparen. Sie sparen an wirtschaftlicher Vernunft, Sie sparen an sozialer Gerechtigkeit, Sie sparen an Glaubwürdigkeit, Sie sparen an der Zukunft unseres Landes. Das betrifft auch die Arbeitnehmer. In dieser Beziehung ist das ein Kürzungspaket.
Ich will das an einem zweiten Beispiel deutlich machen. Sie haben den Eindruck erweckt, Sie wollten gemeinsam mit den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften über die Zukunft der Arbeit reden. Tatsächlich haben Sie deren Bereitschaft mißbraucht, gemeinsam etwas Vernünftiges zu machen.
Auch das will ich mit einem Zitat belegen. Am 17. April 1996 hat der Vorsitzende der Sozialausschüsse, Eppelmann, der sich vermutlich hier nicht äußern wird
- nun gut; dafür mag es Gründe geben -, in einem Gespräch mit der NRZ auf die Frage, ob denn die Einschränkung der Lohnfortzahlung mit der CDA machbar sei, gesagt:
Nur im Einvernehmen mit den Tarifpartnern. Absolute Priorität hat das Bündnis für Arbeit.
NRZ: Selbst die Erhöhung des Kindergeldes wird schon in Frage gestellt ... Eppelmann: Ein Aussetzen ist mit uns nicht zu machen. Sparen ist keine Spezialdisziplin der kleinen Leute. Jetzt müssen wir an den Steuer- und Subventionsmißbrauch.
NRZ: Die Sozialausschüsse ... Was können Sie ... noch gestalten .. .
Eppelmann: Eingriffe in die Tarifautonomie oder auch das Einfrieren der Renten sind weltfremd und schaden der Union als soziale Volkspartei.
Was überfällig ist, sind wirksame Maßnahmen gegen den Mißbrauch mit den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Allein hierdurch gehen der Sozialversicherung jährlich über 11 Milliarden Mark verloren.
Meine Damen und Herren von der CDU, eines ist bei Ihnen deutlich geworden: Sie geben den Charakter der CDU als sozialer Volkspartei auf.
Sie unterwerfen sich der Erpressung durch die F.D.P.
Neben dem Vertrauensschaden, der dadurch entsteht - wie Sie den Charakter Ihrer Partei verändern, könnte uns zunächst einmal egal sein -, führen Sie zudem systematisch Leute hinters Licht.
Wir werden im Verlaufe der Erörterung dieses Pakets merken, ob die heutigen Äußerungen der Präsidentin des Deutschen Bundestages, ob frühere Äuße-
Rudolf Scharping
rungen des Kollegen Keller und ob die Äußerungen des Kollegen Eppelmann oder auch anderer irgend etwas wert sind. Was Sie hier machen, ist nichts anderes als die Beschädigung des sozialen Konsenses.
Was viel schlimmer ist: Sie reden den Leuten ein, sie müßten weltwirtschaftlichen Zwängen folgen.
Ich sage Ihnen: Politik besteht nicht darin, angebliche Zwänge in das gesellschaftliche und soziale Gefüge unseres Landes zu übernehmen, sondern darin, nach Gestaltungsmöglichkeiten zu suchen, die den Zusammenhalt von Menschen stärken und die Gerechtigkeit aufrechterhalten.
Damit bin ich bei einem dritten Stichwort. Nicht nur, daß Sie die Rentnerinnen und Rentner belogen und betrogen haben, nicht nur, daß Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim Kündigungsschutz, bei der Lohnfortzahlung oder anderem herannehmen wollen. Sie sind auch unfähig, für eine sozial geradlinige, in den Rahmenbedingungen verläßliche Politik zu sorgen.
Wer in der Lage ist, sich selbst das Etikett des Christlichen und des Sozialen zu attestieren, der sollte
auch in der Lage sein, nach einem fairen Lastenausgleich zu suchen, bevor er über 9 Millionen Familien und über 20 Millionen Kinder durch das Einfrieren des Kindergeldes belastet. Es ist eine Unanständigkeit, daß die Familien bestraft werden und für die Vermögensbesitzer Sekt ausgeschenkt wird.
Da Sie davon reden, die Bundesrepublik Deutschland müsse weltwirtschaftlichen, globalen Zwängen folgen, möchte ich wieder jemanden aus Ihren eigenen Reihen zitieren; er ist sogar Mitglied der Regierung. Vielleicht beginnen Sie dann einmal ernst zu nehmen, was Mitglieder Ihrer eigenen Regierung sagen.
1994
- so sagt der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, Horst Günther -
exportierten nur die USA mit 512 Milliarden Dollar mehr als Deutschland ... Auf dem dritten Platz folgte Japan .. .
Dann:
Deutsche Direktinvestitionen sind ein Reflex des Außenhandelsüberschusses und damit ein Zeichen wirtschaftlicher Stärke.
Dabei geht es um die Sicherung von Exportmärkten. Der Lohnkostenfaktor ist untergeordnet, denn 90 Prozent der deutschen Direktinvestitionen gehen in die westlichen Industriestaaten .. .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie belügen die Leute über die Wirklichkeit und versuchen, den Charakter unseres Landes zu verändern.
Herr Günther sagt:
Die Lohnstückkostenentwicklung in nationaler Währung
- nur um diese kann es gehen -
verlief in Deutschland günstiger als in den wichtigsten Konkurrenzländern. Deutschland hat sich von der Lohnkostenseite her ständig Wettbewerbsvorteile erarbeitet. Diese wurden durch Aufwertungen der D-Mark jedoch wieder „eingeebnet" .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie belügen die Leute über die Realität. Sie täuschen über das hinweg, was Sie wirklich erreichen wollen. Es ist Ihre Finanzpolitik, die die wirtschaftliche Kraft der Bundesrepublik Deutschland beschädigt hat, nicht etwa die sozialen Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darüber hinaus ist ein beträchtlicher Teil der Finanztransfers im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung über die Sozialversicherungssysteme organisiert. Wie aus dem Sozialbericht 1993 der Bundesregierung hervorgeht, waren dies allein im Bereich der Arbeitslosen- und Rentenversicherung im Zeitraum von 1991 bis 1993 rd. 118 Milliarden Mark, was etwa drei Prozentpunkten des Sozialversicherungsbeitrags entsprach.
Es ist nicht so, daß die Menschen in Deutschland zuviel Lohn beziehen. Es ist aber eindeutig so, daß Sie mit Ihrer verhängnisvollen Politik die Kosten der Arbeitsplätze so hoch getrieben haben, daß Sie das jetzt als Entschuldigung und als Vorwand mißbrauchen wollen, um arbeitsrechtliche Sicherheit zu zerstören. Das ist der falsche Weg. Sorgen Sie endlich
Rudolf Scharping
dafür, daß alle gemeinsam die großen Zukunftsaufgaben finanzieren.
Ich kann nicht viel mehr sagen, sonst wird es eine allzu heftige Vorlesung, und dem Mann wird zuviel Ehre getan. Herr Günther sagt auch, daß Deutschland bei den indirekten Steuern mit 13,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes deutlich hinter Dänemark mit 18,3 Prozent, Großbritannien mit 16,1 Prozent, Österreich mit 16 Prozent und Frankreich mit 15,1 Prozent liegt. Die direkten Steuern betragen in Deutschland 11,9 Prozent, Dänemark 27,4 Prozent - Sie wollen doch immer über weltwirtschaftliche und globale Zusammenhänge reden -, Schweden 22 Prozent, Belgien 18 Prozent, Großbritannien 13 Prozent und Österreich 13 Prozent.
Das bedeutet folgendes: Sie haben mittlerweile eines fertiggebracht: Wir haben die niedrigste Steuerbelastung im Bereich der direkten Steuern, namentlich für Unternehmen. Wir haben die höchste Belastung der Arbeitsplätze. Wer diesen verhängnisvollen Weg nicht endlich verläßt, der kann keine Arbeitsplätze und vernünftigen Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze in Deutschland erreichen. Das ist völlig ausgeschlossen. Anstatt den Menschen immer ihre Leistung zu kürzen und ihre Sicherheit zu verteuern, sollten Sie endlich hingehen und einen klaren Weg verfolgen. Das tun Sie nicht, wie ich durch diese Beispiele deutlich machen wollte.
Ich sage Ihnen, welche politischen Folgen das hat. Wir sind der Auffassung: Sorgen Sie endlich dafür, daß die Arbeit und die Arbeitsplätze von Kosten entlastet werden. Sorgen Sie dafür, daß die versicherungsfremden Leistungen aus der Renten- und Arbeitslosenversicherung herauskommen. Sorgen Sie dafür, daß der gemeinsame Aufbau in Deutschland von allen gemeinsam bezahlt wird. Sorgen Sie dafür, daß es einen fairen Lastenausgleich gibt, damit sich die Schaffung von Arbeitsplätzen und der Einsatz von Arbeitskraft wieder stärker lohnen als die bloße Finanzanlage in Deutschland; denn das ruiniert uns.
Sorgen Sie dafür, daß nicht eine Politik gemacht wird, die immer stärker die Spirale nach unten in Gang setzt, was Ihnen mittlerweile alle Wirtschaftsforschungsinstitute, der Sachverständigenrat, die Gewerkschaften, die Arbeitgeber und viele andere bestätigen. Ihr Weg ist sozialpolitisch völlig unverantwortlich, und wirtschaftlich führt er in die Irre, wie die Politik der letzten 13 Jahre bewiesen hat.
Wie kommt eigentlich eine Regierung, die zu verantworten hat, daß wir die höchste Steuerbelastung haben, die zu verantworten hat, daß wir die höchste Arbeitslosigkeit haben, die zu verantworten hat, daß wir die höchste Zahl von Armen in Deutschland haben, kombiniert mit einem enormen Wachstum des privaten Reichtums, zu der unverschämten Chuzpe, dem deutschen Volk zu sagen, die Fortsetzung und Verschärfung ihres Kurses würde an den Ergebnissen etwas ändern? Es wird die Ergebnisse nur verschärfen, wie die letzten 13 Jahre bewiesen haben.
Was bedeutet das politisch? - Der katholische Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, spricht von einer strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien. Der Deutsche Caritasverband bezeichnet Ihre Pläne - das ist eine sehr höfliche Formulierung - als unausgewogen. Der Reichsbund der Kriegs- und Wehrdienstopfer beklagt die finanzielle Strangulierung von Rentnern und Arbeitnehmern; dies tut auch das Diakonische Werk. So könnte ich Ihnen Stimme um Stimme zitieren.
Machen Sie sich bitte über eines keine Illusionen: Sie haben den Bogen überspannt.
Sie haben ein Paket auf den Tisch gelegt, das wirtschaftlich nichts außer Risiken bedeutet und das den sozialen Konsens in Deutschland weiter stark beschädigt. Sie haben keine vernünftige Konzeption.
- Verehrter Herr Kollege, ich werde nachher Ihre Adresse aus dem Bundestagshandbuch heraussuchen und Ihnen dann das Alternativprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands schikken.
Dann können Sie es lesen, und dann können wir uns gelegentlich einmal darüber unterhalten; denn wir können doch eine Debatte nicht so führen, daß Sie jetzt von mir noch Belehrungen über etwas erwarten, was Sie doch sowieso nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Ich habe Sie im Deutschen Bundestag mehrfach aufgefordert, Überstunden in bezahlte Arbeitsplätze zu verwandeln, und Ihnen vorgerechnet, daß dies 400 000 Arbeitsplätze ergibt.
Verwandeln Sie wenigstens die Hälfte der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, der versicherungsfreien Arbeit in bezahlte Teilzeitarbeit. Das ergibt zweimillionenmal Sicherheit für Frauen.
Sorgen Sie dafür, daß dadurch Beiträge für die Rentenversicherung bezahlt werden. Machen Sie einen fairen Lastenausgleich, und sorgen Sie dafür, daß nicht nur die kleinen Leute, nicht nur die normalen Verdienste, nicht nur die Leistungsträger in dieser Gesellschaft, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Facharbeiter und Ingenieure, Handwerker und viele
Rudolf Scharping
andere, belastet werden, sondern daß es wieder einen Konsens im Sinne dessen gibt, was vor 47 Jahren verabschiedet worden ist. Im Verhältnis zu Ihrer Politik waren doch Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und auch der frühere amerikanische Präsident Roosevelt, die den Lastenausgleich und die Soziale Marktwirtschaft miteinander verbunden haben, regelrechte Sozialrevolutionäre.
Sie haben noch etwas verstanden, während Sie in einer plebejischen Dummheit gefangen sind.
Wenn Sie sich anschauen, was beispielsweise Herr Monti - das ist ein konservativer Kommissar in der Europäischen Union - gesagt hat, was beispielsweise die Politik von Adenauer und Erhard gewesen ist, was Roosevelt im New Deal gemacht hat, und sich Ihre Politik anschauen, dann werden Sie die klaffende Differenz feststellen.
Es hat in diesem Haus allein im Januar und Februar dieses Jahres eine Serie von Vorschlägen und das Angebot zur Kooperation gegeben. Es hat in der deutschen Öffentlichkeit, bei den Wohlfahrtsverbänden, bei den Familienverbänden und bei den deutschen Gewerkschaften Angebote zur Kooperation gegeben.
Es hat diese Angebote auf der Grundlage einer einfachen Einsicht gegeben: Dieses Land braucht die Bewahrung seines sozialen Konsenses. Es braucht die Entfaltung seiner wirtschaftlichen Stärke. Sie haben die Zeit bis zum 24. März genutzt, um herumzutricksen, mit der Bereitschaft zur Verantwortung taktisch zu spielen und dann das zu tun, was Sie unter dem Druck der F.D.P. glaubten tun zu müssen.
- Herr Kollege Schäuble, das hat nichts mit Wiederholung zu tun. Bei Ihnen kann man es allerdings zehn-, zwanzig-, fünfzig- oder hundertmal wiederholen, aber es kommt bei Ihnen nicht an. Das ist, wie man bei uns in Rheinland-Pfalz sagt, dem Ochs' ins Horn gepetzt; es kommt nichts an.
Nachdem Sie das alles gemacht und jedes Angebot zur Kooperation ausgeschlagen haben, ist jetzt die Zeit für das gekommen, was die Demokratie auszeichnet, nämlich Wettbewerb und Streit über ein Konzept, das Sie vorgelegt haben, und über ein Alternativkonzept, das die SPD vorgelegt hat.
- Die Tatsache, daß Sie so laut schreien, beweist doch nur, daß Sie nie hineingeschaut haben. Das ist doch alles.
Die Grundzüge unseres Konzeptes sind klar und zukunftsträchtig. Die Grundzüge Ihres Konzeptes sind zukunftsfeindlich und beschädigen den sozialen Konsens. Ich will Ihnen eines sagen: Wir werden - Sie werden das erleben - mit großer Entschlossenheit, mit großer Klarheit
und übrigens auch mit einem erheblichen Maß an Zuversicht jetzt darangehen, das zu verhindern, was Sie vorschlagen und was zu Lasten der Rentnerinnen und Rentner, zu Lasten der Familien und Kinder, zu Lasten der sozialen Sicherheit und zu Lasten des Arbeitsmarktes geht. Das werden wir mit großer Zuversicht und großer Entschlossenheit tun.
Sie werden sehen: Die nächsten Monate werden spannend. Was Sie nach der Verabschiedung Ihres sogenannten Pakets tun werden, habe ich in den Zeitungen gelesen: Die Sektkorken knallten auf den Wahlsieg 1998. Wir werden uns im Herbst gemeinsam anschauen, ob Sektkorken knallen werden. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie davon reden, wir säßen in einem Boot. Aber hören Sie endlich damit auf, auf dem Sonnendeck für ganz wenige den Champagner auszuschenken und die übrigen zum Schuften in den Maschinenraum zu schicken. Diese Politik machen wir nicht mehr mit.
Mir liegt die Meldung zu einer Kurzintervention der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann vor. Ich erteile ihr das Wort.
- Entschuldigung! Das ist mir dann falsch gemeldet worden.
Diese Verwechslung halte ich aus, Herr Präsident.
Herr Bundesminister Blüm hat darauf hingewiesen, daß ich nicht das Recht hätte und daß es unverfroren sei, von sozialen Grausamkeiten im Zusammenhang mit diesen Gesetzen zu sprechen, wenn man daran denke, daß die Geschichte der DDR eine Geschichte sozialer Grausamkeiten gewesen sei.
Dazu würde ich gerne einige wenige Bemerkungen machen.
Meine erste Bemerkung: Herr Bundesminister, damit beleidigen Sie natürlich Millionen Menschen in
Dr. Gregor Gysi
dem, was sie in der früheren DDR geleistet haben, auch in sozialer Hinsicht.
Es gab selbstverständlich Defizite. Aber es gab soziale Chancengleichheit beim Zugang zu Kultur, Kindertagesstätten, Ferienlagern und anderen Einrichtungen, wovon die Bundesrepublik Deutschland heute noch weit entfernt ist und durch Ihre Politik sich immer weiter entfernt.
Meine zweite Bemerkung: Selbst wenn es so gewesen wäre, wenn man die Geschichte der DDR als Geschichte sozialer Grausamkeiten bezeichnen könnte, gäbe es überhaupt keine Rechtfertigung, heute in der Bundesrepublik Deutschland eine Politik sozialer Grausamkeiten zu betreiben.
Meine dritte Bemerkung: Wenn Sie zum Ausdruck bringen, daß ich nicht das Recht hätte, so etwas zu sagen, dann drücken Sie damit im Grunde genommen aus, daß Sie die Einheit nicht wollen.
- Ja sicher! - Dahinter steckt nämlich folgende Anschauung: Die Ostdeutschen durften zwar beitreten, aber sie haben sich nicht in die inneren Angelegenheiten dieser Bundesrepublik Deutschland einzumischen. Genau das wird nicht funktionieren.
Wer die Einheit will, muß sich mit der PDS und auch mit mir abfinden. Billiger ist die Einheit nicht zu haben. Ich mußte mich an Ihren Kanzler gewöhnen, und jetzt müssen Sie sich auch an mich gewöhnen.
- Danke, Joschka.
Meine letzte Bemerkung: Herr Solms, Sie haben mich vorhin gefragt, was ich vor 30 Jahren gemacht habe. Ich wollte keine falsche Auskunft geben und mußte erst nachdenken. Im Mai 1966 habe ich mich auf die mündlichen Prüfungen zum Abitur und auf meine Prüfung als Facharbeiter für Rinderzucht vorbereitet. Ich hoffe, das findet auch Ihre Zustimmung oder zumindest Ihre Akzeptanz.
Danke.
Herr Minister Blüm, wünschen Sie zu replizieren?
Erstens. Herr Abgeordneter Gysi, ich werde Ihnen nie das Recht bestreiten, hier zu sprechen. Nur, ich halte es für eine Diskrepanz, Kürzungen von Sozialhilfe zu beklagen, da die gekürzte
Sozialhilfe noch weitaus höher ist, als es der sozialen Sicherheit in der alten DDR jemals entsprach,
und die Kürzungen bei den Renten zu beklagen, da sie doppelt so hoch sind wie zu DDR-Zeiten.
Zweitens. Mein Hauptargument ist, daß soziale Sicherheit nicht ohne Freiheit zu haben ist, sonst wäre das größte Sicherungsangebot in Bautzen zu finden gewesen. Von dieser Sicherheit halten wir in der Tat in unserer gemeinsamen Bundesrepublik nichts, überhaupt nichts.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Heiner Geißler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir könnten die anstehenden Probleme besser miteinander erörtern und damit auch weiterkommen, wenn wir vielleicht die Argumente, die in der parlamentarischen Auseinandersetzung zu demselben Thema das letztemal ins Feld geführt worden sind, berücksichtigen.
Herr Scharping, bevor ich zu den Gesetzentwürfen, die wir einbringen, etwas sagen werde, will ich Ihnen antworten: Sie reden von „gelogen" und „betrogen" . Wenn hier jemand die Unwahrheit sagt - Entschuldigung -, dann ist es Ihr Parteivorsitzender, indem er die Behauptung aufstellt, daß die wesentlichen Inhalte dieses Beschäftigungsprogramms nicht vor den Landtagswahlen bekanntgegeben worden sind.
Die Inhalte, wie Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz, sind in dem 50-Punkte-Programm enthalten, welches vor den letzten Landtagswahlen bekanntgegeben worden ist. Ich kann an Sie jetzt nur dieselbe Aufforderung richten, die das letztemal Wolfgang Schäuble an Oskar Lafontaine gerichtet hat: Nehmen Sie diese Unwahrheiten bitte zurück!
Was mich bei Ihren Reden - auch bei Ihren Reden, Herr Scharping und Herr Dreßler - wirklich stutzig macht und was ich auch überhaupt nicht verstehen kann, ist, warum Sie diese Auseinandersetzung mit einer fast agitatorischen Argumentation führen. Wir können doch miteinander über einzelne Punkte reden. Sie haben heute morgen die Ausführungen von Frau Süssmuth zur Frage der Verlängerung der Lebensarbeitszeit gehört. Über diese Frage wird bei uns diskutiert.
Unsere Fraktion ist doch nicht dazu da, um jeden einzelnen Vorschlag hundertprozentig bis zum letzten Komma zu übernehmen, sondern wir werden
Dr. Heiner Geißler
selbstverständlich über einzelne Fragen - der Punkt, den Sie hier angesprochen haben, ist ein zentraler Punkt - reden. Nur, alles, was wir an Änderungen im Gesetzgebungsverfahren miteinander bereden, steht unter der Bedingung, daß wir dann einen Ausgleich bringen müssen,
daß wir sagen müssen, was an Stelle einer solchen Maßnahme gemacht werden muß. Das ist genau das, was mir bei Ihren Ausführungen - das muß ich leider Gottes auch sagen; ich habe das Programm, daß das Parteipräsidium der SPD beschlossen hat, dabei; ich habe es auch gelesen - bis auf den heutigen Tag nicht klargeworden ist; denn alle Vorschläge, die Sie machen, beziehen sich entweder auf Umschichtungen im Gesamtfinanzierungssystem, oder Sie schlagen Steuererhöhungen vor, oder Sie machen völlig untaugliche Vorschläge, wie zum Beispiel bei der Vermögensteuer.
Hier kann ich Ihnen die neueste Verlautbarung des Präsidenten der Raiffeisenbanken und der Volksbanken sagen. Wenn Sie realisieren wollen, daß Sie durch die Vermögensabgabe 35 Milliarden DM oder 34 Milliarden DM erzielen, dann bedeutet dies, daß Sie an das Sparvermögen der kleinen Sparer heran müssen, denn sonst bekommen Sie die Summe gar nicht.
Das müssen Sie den Leuten einmal klarmachen. Da hilft kein Lachen. Bei einer Freigrenze von 900 000 DM und einer Vermögensteuer von einem Prozent kommen wir gerade auf 3,5 bis 4 Milliarden DM. Und dann wollen Sie bei denselben Einkommensgrenzen - das haben Sie gesagt - das Zehnfache der Summe erreichen. Derjenige, der Ihnen das aufgeschrieben hat, hat wahrscheinlich eine integrierte Gesamtschule in Bremen besucht und kann die Grundrechenarten nicht beherrschen.
Herr Kollege Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Bitte schön. Vizepräsident Hans Klein: Bitte.
Ich nehme Bremen wieder zurück und beziehe mich auf eine andere Schule zu früheren Zeiten.
Herr Dr. Geißler, es wurden vom Bundesarbeitsminister zu Recht die Höhe der versicherungsfremden Leistungen, die Belastungen durch Versicherungsbeiträge und damit die Lohnkosten angesprochen. Ich weiß dies auch von Ihnen. Wie paßt es, daß wir gleichzeitig über eine Absenkung des Solidaritätszuschlages in zwei Stufen, in 1997 und 1998, diskutieren und nicht über eine Verrechnung bei den versicherungsfremden Leistungen und damit über eine Entlastung bei den Lohnkosten diskutieren, wenn es diese Spielräume gäbe?
Zu dem, was ich von der Sache halte, paßt es natürlich nicht so gut. Da haben Sie Recht. Aber die SPD hat in ihrem Programm die totale Abschaffung des Solidaritätszuschlages verlangt. Insofern, Herr Fischer, müssen Sie die Hauptauseinandersetzung zu diesem Thema mit Ihrem zukünftigen Koalitionspartner führen, wenn Sie das hinkriegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Scharping hat am Anfang etwas gesagt, auf das ich eingehen möchte. Sie haben das Grundgesetz, die Menschenwürde und die Sozialstaatsklausel zitiert. Sie haben die Behauptung aufgestellt, diese Grundlagen unserer Verfassung seien immer stärker beschädigt worden.
Ich will Ihnen dazu folgendes sagen. Ich beziehe mich jetzt nur auf die Sozialgesetze: Mitbestimmung, Betriebsverfassung, Familienleistungsausgleich, Kriegsopferversorgung, die große Rentenreform, Bundessozialhilfegesetz, Lastenausgleich für über 12 Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge, Arbeitsförderungsgesetz, in den 80er Jahren Erziehungsurlaub, Erziehungsgeld, Kündigungsschutz von drei Jahren für berufstätige Frauen, die ein Kind bekommen, Anerkennung von Erziehungsjahren, bis zum Schluß Pflegeversicherung mit einem Gesamtvolumen von über 1 Billion DM - Norbert Blüm hat diese Zahlen genannt. An der Substanz aller Sozialgesetze, die Deutschland zum modernsten Industrie- und Sozialstaat gemacht haben, wird das, was wir hier machen, überhaupt nichts ändern. Weisen Sie das einmal nach.
Was Sie hier machen, ist etwas ganz anderes. Sie versuchen mit Ihrer Argumentation, bei den Leuten den Eindruck zu erwecken, als ob das, was wir hier machen, ein Anschlag auf den Sozialstaat sei.
Dabei handelt es sich um gar nichts anderes als um den notwendigen Versuch, dem Sie sich allerdings verweigern, diesen Sozialstaat so zu reformieren, daß wir auch in der Zukunft eine sozial gerechte Gesellschaft haben und vor allem neue Arbeitsplätze schaffen können.
Wir sparen doch nicht um des Sparens willen. Das wäre wirklich Unsinn. Man kann niemandem Vernunft mit dem Finanzknüppel beibringen. Wir haben in Deutschland 4 Millionen Arbeitslose. Alles, was wir hier machen, dient dem einen Ziel - man kann darüber debattieren, ob es ausreichend ist, ob Sie
Dr. Heiner Geißler
bessere Vorschläge haben -, in den kommenden Jahren mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Das ist der zentrale Punkt.
Herr Scharping, man kann das alles natürlich so darstellen. Ich hätte mir aber gewünscht, daß wir uns einmal darüber unterhalten, in welcher Situation wir uns eigentlich befinden. Wir sind die Zeitzeugen des wahrscheinlich größten Umbruchs, den die Menschheit in den letzten Jahrhunderten erlebt hat: Im politischen Bereich gab es vor sechs Jahren eine Revolution - es war keine Wende; ich halte „Wende" nicht für einen geeigneten Ausdruck für das, was da passiert ist -, in deren Folge die Grenzen gefallen sind und fast 2 Millionen deutsche Spätaussiedler nach Deutschland gekommen sind.
Deutschland - ein Volk in der Mitte Europas: Kein Land hat mehr Nachbarn als wir. Wir haben die Flüchtlingsströme aufnehmen müssen. Wir haben - das ist die Wahrheit; das wird dauernd unterschlagen - heute 2,6 Millionen Menschen mehr in Arbeit als 1983, Frau Müller. Trotzdem haben wir 4 Millionen Arbeitslose. Das hängt damit zusammen, daß wir in dieser Umbruchsituation fast 2 Millionen Spätaussiedler, Hunderttausende von Flüchtlingen bei uns aufgenommen und ihnen einen Arbeitsplatz gegeben haben.
Wenn Sie so reden, sollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen: Wir haben eine historische Aufgabe zu erfüllen gehabt,
die natürlich auch unseren Sozialstaat tangiert hat.
Sie geben keine Antwort auf die Herausforderungen: die Einführung des Computers, die Datenautobahn, das Internet, die unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt zumindest genauso radikal verändert haben wie vor 200 Jahren die Elektrizität, die Dampfmaschine und der mechanische Webstuhl.
So hat sich die Welt verändert. Das ist die dritte industrielle Revolution, die natürlich dazu geführt hat,
Frau Fuchs, daß durch die Rationalisierung Arbeitsplätze in den klassischen Produktionsbereichen weggefallen sind.
Jetzt geht es doch darum, daß wir nicht bei zusätzlichen Innovationen - bei der Umwelttechnologie haben wir das gut geschafft - in den Bereichen der Informationstechnologie, der Gen- und Biotechnologie durch unsinnige Genehmigungsverfahren die Innovationszyklen, die sich halbiert haben, noch weiter verlängern und dadurch unsere Konkurrenzfähigkeit beschneiden. Es geht auch darum, daß wir die Währungsdisparitäten abbauen
und selbstverständlich auch - das ist unser Thema; davon handeln die Gesetze, die wir heute einbringen - die Kosten für unsere Betriebe wettbewerbsfähig gestalten. Es nützt uns doch überhaupt nichts, über diese Problematik hinwegzugehen.
Ich wehre mich immer wieder dagegen, daß wir uns nur auf die Arbeitskosten konzentrieren. Das ist ein Fehler. Das Problem, das wir haben, hängt mit diesem Umbruch zusammen.
Das ist ein zentraler Vorgang.
Wenn wir im Deutschen Bundestag angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen über diese Probleme reden, können wir doch nicht über die grundlegenden Probleme, mit denen wir uns beschäftigen müssen, die ich gerade ganz kurz dargestellt habe - den politischen Umbruch, den ökonomischen Umbruch mit seinen Auswirkungen auf den Sozialstaat -, hinweggehen.
Ihre Kritik nützt uns außerdem doch überhaupt nichts, solange Sie unsere Vorschläge abblocken, wie gestern wieder im Vermittlungsausschuß, und mit eigenen Vorschlägen nicht überzeugend herüberkommen.
Das bringt uns auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht weiter.
Frau Müller, nun muß ich mich dem zuwenden, was Sie gesagt haben, was seit 1983 alles passiert ist; das war ja geradezu ein Horrorszenario. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe schon die 2,6 Millionen Menschen genannt, die zusätzlich Arbeit haben gegenüber damals. Unser Sozialversicherungssystem ist nach wie vor das beste aller Industriestaaten der Welt. Wir haben das beste Gesundheitssystem. Ich habe vom Erziehungsgeld geredet. Wir haben ein wachsendes Bruttosozialprodukt. Und - jetzt würde ich gern einen unparlamentarischen Ausdruck verwenden wollen, ich verkneife mir das aber - wir haben die Aufgaben, die durch den sozialistischen Unfug und den sozialistischen Bankrott im anderen Teil Deutschlands entstanden sind, im Rahmen der deutschen Einheit aufarbeiten müssen, haben in den vergangenen vier bis fünf Jahren 700 Milliarden DM für den Aufbau Ost geleistet und haben das alles bei Preisstabilität und einer knallharten Währung erreicht.
Da glauben Sie, Sie könnten mit solchen Tönen unsere konkrete Situation beschreiben! Wir können Gott eigentlich nur danken, daß im Jahre 1990, als wir herausgefordert waren, nicht diejenigen an der Macht waren, die uns neun Jahre vorher, im Jahre 1982 - da bin ich als Mitglied des Bundeskabinetts Zeuge gewesen -, eine Inflationsrate von sechs Prozent und eine Nettokreditaufnahme von fast
Dr. Heiner Geißler
60 Milliarden DM ohne deutsche Einheit überlassen haben, was wir nachher wieder aufräumen mußten.
- Ich kenne das. Aber an der Geschichte waren im wesentlichen Sie verantwortlich. Die F.D.P. hat Ihre Koalition genau deswegen verlassen, weil Sie sich damals so verhalten haben, wie Sie es heute wieder tun.
Ich will mich, weil dies eine Rolle gespielt hat, nun aber einem grundsätzlichen Punkt zuwenden. Wir können die Frage vielleicht miteinander erörtern. Sie haben die Sozialausschüsse angesprochen, und Frau Müller hat mich angesprochen. Die Frage der Gerechtigkeit ist eine Frage, die einen umtreibt.
- Warum lachen Sie da? Entschuldigen Sie, Frau Fuchs, vielleicht kann man die Sache einmal etwas grundsätzlicher erörtern. Durch die gesamte Sozialgeschichte und Sozialphilosophie zieht sich die Frage: Was ist Gerechtigkeit? In einer solchen Situation wie jetzt muß man diese Frage einmal erörtern. Es gibt die Gemeinwohlgerechtigkeit - bei Thomas von Aquin hieß es justitia legalis -, und es gibt die austeilende und die ausgleichende Gerechtigkeit. Alle drei Gerechtigkeitsperspektiven stehen immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander.
- Sie haben das noch gar nicht durchdiskutiert, Herr Fischer; das werden Sie vielleicht auch noch einmal schaffen. Wir haben bei uns in der CDU anläßlich des Grundsatzprogramms eine Diskussion über die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität gehabt. Wer hat Vorrang? Einige haben gemeint, die Freiheit habe Vorrang. Wir sind zu der Auffassung gekommen: Alle Grundwerte sind gleichwertig. Aber es gibt Zeiten, in denen der eine Grundwert mehr gefährdet ist und der andere weniger. Dann muß man sich dem Grundwert, der mehr gefährdet ist, zuwenden.
Hier haben wir es innerhalb unserer Gerechtigkeitsdiskussion mit einem ähnlichen Problem zu tun. Gerechtigkeit und Solidarität können heute angesichts von vier Millionen Arbeitslosen nicht in erster Linie denen gelten, die durchaus zu Recht und für mich auch verständlich gern ein höheres Einkommen hätten oder die beklagen, daß ihre Einkommenszuwächse nicht mehr so hoch sind, wie sie das vielleicht erwartet haben, sondern die Solidarität - jetzt eben im Sinne von Gemeinwohlgerechtigkeit - muß heute zunächst einmal denen dienen und zugute kommen, die der Hilfe vordringlich bedürfen. Das waren am vorletzten Freitag die Pflegebedürftigen und sind heute die Arbeitslosen. Darum geht es.
Sie haben mich gefragt: Wo sind die Sozialausschüsse und Heiner Geißler? Was sagen Sie dazu? - Ich stimme diesen Vorschlägen doch nicht deswegen zu, weil mir diese Dinge Spaß machen, sondern ich habe in meinem Leben als Sozialminister die Erkenntnis gewonnen, daß sich in Zeiten knapper Kassen die soziale Gerechtigkeit bewähren muß.
Solange ich viel Geld habe, kann ich soziale Leistungen begründen. Aber wenn die Kassen knapp sind, muß ich zu einer Güterabwägung kommen. Das ist der Punkt.
Lieber Joschka Fischer, in der letzten Debatte haben Sie in Richtung SPD den Zuruf gemacht: Sie müssen aufpassen! Eine neue Qualität des Sozialabbaus steht bevor. - Am vorletzten Freitag haben wir die Pflegeversicherung verabschiedet. Herr Fischer, nach dem, was ich gerade dargelegt habe - nach wie vor über 1 Billion DM Sozialleistungen -, kann ich das als nichts anderes bezeichnen als die Ausgeburt der Gedankenwelt hochpolitisierter Randzirkel in unserer Gesellschaft, die aber keine Ahnung von dem haben, was heute in Deutschland sozialstaatlich vorhanden ist.
Es geht um mehr Beschäftigung.
Herr Kollege Geißler, der Kollege Schmidt würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Geißler, ist Ihnen eigentlich bewußt, daß das, was Sie uns vorzutragen versuchen, wahrscheinlich nur noch Nebelkerzen im Lichte der Tatsache sind, daß zum Beispiel Ihr Kollege Fell unter dem Druck der Verhältnisse, den Sie mit diesem Konzentrierungsprogramm auf Kürzungen erzeugen, als Vorsitzender des Katholischen Familienverbandes zurückgetreten ist? Was sagen Sie dazu?
Dazu kann ich gar nichts sagen. Das ist die Sache von Herrn Fell. Ich sage: Er hätte wegen unserer Beschlüsse von diesem Vorsitz nicht zurücktreten müssen. Das möchte ich klar sagen.
Um die Geschichte gleich abzuhaken: Ich bin lange genug Familienpolitiker gewesen. Die 20 DM Kindergelderhöhung gehören in das Kapitel, das ich Ihnen vorwerfe. Sie tun so, als würden wir das tun, was Sie im Jahre 1980 gemacht haben. Da ist es nämlich passiert. Sie tun so, als würden wir das Kinder-
Dr. Heiner Geißler
geld kürzen, Frau Fuchs. Das haben Sie gemacht. Sie haben das Kindergeld im Jahre 1980 gekürzt.
Sie haben die Altersgrenze beim Kindergeld für Kinder von Arbeitslosen gesenkt. Sie haben all solche Sachen durchgeführt. Das kommt bei uns gar nicht vor, sondern wir haben in diesem Jahr eine neue Kindergeldleistung beschlossen - Sie waren dabei -: 200 DM für das erste Kind, 200 DM für das zweite Kind, 300 DM für das dritte Kind, 350 DM für das vierte und jedes weitere Kind.
Wir haben beschlossen, das Kindergeld im nächsten Jahr um 20 DM zu erhöhen. Es handelt sich nicht um eine Kürzung, sondern wir sagen: Wir schieben die Anhebung um 20 DM um ein Jahr hinaus. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das für gerechtfertigt halte.
Ich halte es deswegen für gerechtfertigt, weil wir in Deutschland Preisstabilität haben und keine Inflation von 7 Prozent.
1982 hatten wir eine Inflation, eine Lebenshaltungskostensteigerung von 7 Prozent für die einfache Lebenshaltung eines Kindes. So war das 1982, im letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung.
Wir haben Preisstabilität. Wenn ich Preisstabilität habe, kann ich es sozialpolitisch verantworten, eine Anhebung um 20 DM um ein Jahr zu verschieben, wenn Gemeinwohl, Gerechtigkeit und übergeordnete Interessen das erforderlich machen.
Die Kollegin MatthäusMaier würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. - Bitte.
Herr Kollege Geißler, Sie haben die Verschiebung der Erhöhung des Kindergeldes wegen der Geldschwierigkeiten vehement verteidigt. Ich darf Sie fragen:
Wie können Sie es eigentlich mit der sozialen Gerechtigkeit vereinbaren, daß Sie ab 1997 die von uns gemeinsam vereinbarte Kindergelderhöhung um 20 DM ab dem ersten Kind verschieben - 3,8 Milliarden DM Kosten -, gleichzeitig aber 9 Milliarden DM zur Verfügung haben, um die Vermögensteuer komplett abzuschaffen?
Wie können Sie das verfassungsrechtlich begründen, nachdem wir doch gemeinsam der Ansicht sind, das Kindergeld ist nicht eine Art Gnade des Staates, sondern die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung des Existenzminimums der Kinder?
Wie können Sie es schließlich ökonomisch, also wirtschaftspolitisch begründen - es soll ja angeblich um Arbeitsplätze gehen -, daß Sie einer Familie mit zwei Kindern im nächsten Jahr durch die Verschiebung des Kindergeldes 480 DM vorenthalten - diese Familien könnten noch sehr viel ausgeben -, damit die Binnennachfrage um 3,8 Milliarden DM schädigen, gleichzeitig aber zumindest bei der privaten Vermögensteuer keinen einzigen Arbeitsplatz dadurch schaffen, daß Sie diese abschaffen.
Frau MatthäusMaier, nun machen Sie es doch nicht so dramatisch. Die Sache mit der Gegenrechnung der Vermögensteuer ist hier nun schon siebenmal - ich habe es vorhin auch gesagt - erörtert und erläutert worden, und mir fehlt die Zeit, um es noch einmal zu sagen. 4 Milliarden DM betriebliche Vermögensteuer - das ist die Hälfte der 8 Milliarden DM - müssen wir streichen wegen des Bundesverfassungsgerichts. Für die restlichen 4 Milliarden hat man einen Erhebungsauf wand von 2 Milliarden DM. Sie sind doch angeblich oder wirklich finanzpolitische Sprecherin Ihrer Fraktion. Alle Finanzminister aller Länder, auch die SPD- Leute, sagen, es gibt einen Erhebungsaufwand von 2 Milliarden DM. Da ist es Unsinn, wegen 4 Milliarden DM einen Erhebungsaufwand von 2 Milliarden DM in Kauf zu nehmen. Deswegen sagen wir: Wir fassen die Vermögen mit der Erbschaft zusammen und unterwerfen sie der Erbschaftsteuer. Das ist unser Vorschlag. Sagen Sie doch bitte die Wahrheit, wenn Sie solche Fragen stellen.
Herr Kollege, jetzt möchte gern noch die Kollegin von Renesse eine Frage stellen.
Ich muß jetzt erst einmal weitermachen.
- Zu Ihnen komme ich noch, wenn ich die Zeit habe. Sie können sich darauf verlassen, aber am besten lassen Sie das mal bleiben.
Jetzt will ich noch etwas zu dem Sinn unserer Vorschläge sagen. Alles was wir tun, Präzisierung des Kündigungsschutzgesetzes - -
- Frau Fuchs, sparen Sie doch mal! Herr Präsident, sie sitzt am falschen Platz. Man müßte sie weiter nach hinten setzen. Die Akustik ist ganz schlecht, wenn Sie dauernd so dazwischenschreien.
Dr. Heiner Geißler
Vielleicht hören Sie doch mal zu, was ich jetzt sagen will: Die Präzisierung des Kündigungsschutzgesetzes, die Anhebung der Schwellenwerte, die befristeten Arbeitsverhältnisse - - Vorhin hat Herr Scharping davon geredet, Überstunden abzubauen. Daß wir nun die befristeten Arbeitsverhältnisse erleichtern, auf zwei Jahre, und innerhalb der zwei Jahre dreimal erneuern wollen, hat doch den Sinn - im übrigen auch für mittlere und größere Betriebe -, daß diese Betriebe in der Zukunft, ohne daß sie lange Prozesse fürchten müssen, Leute einstellen können und dafür Überstunden abbauen. Das ist ein Beispiel dafür, warum wir so etwas machen. Das hat doch seinen Sinn.
Auch bei den Einsparungen bei der Rentenversicherung und den Krankenversicherungen muß ich den Norbert Blüm jetzt noch einmal in Schutz nehmen. Es ist wirklich unglaublich, was Sie da sagen. Natürlich werden Strukturänderungen vorgenommen. Dazu gehört auch die Anhebung der Altersgrenze - das ist wahr -, die Reduzierung bei der Anrechnung von Ausbildungszeiten und bei beitragsfreien Zeiten. Aber es ändert sich nichts an dem, was wir alle miteinander gesagt haben, was der Bundeskanzler gesagt hat, was von Norbert Blüm gesagt wird: Die Anpassung der Renten wird nicht verschoben, weder in diesem noch im nächsten Jahr, wie Sie es im übrigen in den 70er Jahren gemacht haben.
Wir tun es nicht. Deswegen ist dieser Vorwurf Norbert Blüm gegenüber einfach ungerecht. Das ist nun schon so oft gesagt worden, daß Sie das in dieser Form hier nicht wiederholen sollten.
Nun, warum machen wir das? Das Ganze dient nur dem Zweck, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und nun will ich Ihnen einfach einmal folgendes sagen: Wenn bei 4 Millionen Arbeitslosen der Zentralverband des Deutschen Handwerks sagt, daß sich viele Betriebe scheuen, diese Beschäftigungsschwelle zu überschreiten, weil sie sich im Kündigungsfall erschwerten Kündigungsgründen und einer Rechtsprechung ausgesetzt sehen, die eine Kündigung praktisch unmöglich macht - - Ich habe neulich mit Gewerbetreibenden gesprochen. Die Abfindungsproblematik - die steht nämlich am Ende der ganzen Kündigungsprozesse - führt in der Tat dazu - ich kann es auch nicht ändern -, daß die Leute, obwohl sie vielleicht jemanden einstellen könnten, dennoch niemanden einstellen.
Die Analyse des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks kommt zu dem Ergebnis: Wenn Ihr das macht, dann werden ungefähr 40 Prozent der Handwerksbetriebe - bei 1 Million Betrieben wären das 400 000 - neue Leute einstellen. Herr Murmann erklärte in der letzten Ausgabe der „Welt am Sonntag" , er rechne im nächsten Jahr mit 500 000 neuen Stellen durch das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung. Das wurde ja jeweils nicht in arcanis, im Geheimen, gesagt, sondern öffentlich. Darüber hinaus machen wir das mit den Familienarbeitsverhältnissen. Bernhard Jagoda sagt, damit könnten 300 000 bis 400 000 Arbeitsplätze zusätzlich ermöglicht werden.
Angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen kann man doch nur zu dem Schluß kommen: Jetzt machen wir es halt! Jetzt müssen wir es einfach einmal tun!
Dann müssen wir von den Arbeitgebern aber auch erwarten - wir müssen es erwarten, dürfen nicht nur die Bitte aussprechen -, daß sie die Konsequenzen einhalten, die sie für den Fall zugesagt haben, daß wir diese gesetzgeberischen Maßnahmen ergreifen. Sie müssen Ihre Zusagen realisieren, sie müssen Leute einstellen. Das bezieht sich im wesentlichen auf die kleinen und mittleren Betriebe.
An die Adresse der Arbeitgeber: Wir sollten neben der Tatsache, daß wir Standortnachteile haben, auch die Standortvorteile nicht verschweigen. General Motors hat als Begründung für die Milliardeninvestitionen bei Opel vor zwei Monaten angeführt: stabile politische Verhältnisse - da haben sie, das ist wahr, nicht die in Nordrhein-Westfalen gemeint,
sondern die Bonner Ebene -, qualifizierte Produkte, hochqualifizierte und motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich füge hinzu: eine korruptionsfreie Verwaltung, eine gute Infrastruktur.
Wir können von den Arbeitgebern verlangen und erwarten, daß sie die Konsequenzen ziehen und tatsächlich Einstellungen vornehmen. Dann hat es sich doch gelohnt, einschließlich der 20prozentigen Beteiligung des Arbeitnehmers an der Lohnfortzahlung. Aber auch sie darf man natürlich nicht zu einem Symbol erheben dergestalt, daß an dieser Sache alles scheitern kann.
Herr Kollege Geißler, der Kollege von Larcher würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Zustimmung? - Bitte.
Herr Kollege Geißler, kann ich das, was Sie gerade ausgeführt haben, so verstehen, wie es ein Vertreter der Sozialausschüsse im Fernsehen gesagt hat: „Wir machen jetzt alles, was die Arbeitgeber von uns verlangen, und dann wollen wir einmal sehen, ob sie ihre Versprechen einhalten" ?
Was werden Sie machen, wenn diese Versprechen nicht eingehalten werden? Ich erinnere Sie daran, daß Sie auf die Forderung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, von den Arbeitgebern Einstellungen zu erwarten, wenn man Angebote macht, gesagt haben: Die können das gar nicht zusagen. - Worauf gründet sich dann Ihre Zuversicht?
Herr Kollege, Sie können keine Arbeitsplätze schaffen, ich auch nicht - wir alle miteinander nicht. Aber wir müssen es denjenigen, die Arbeitsplätze schaffen - das sind nun einmal die Unternehmer -, erleichtern, daß sie neue Leute einstellen. Das ist der Sinn der Sache.
Dr. Heiner Geißler
Wir brauchen eine Bewußtseinsänderung - das gilt auch für Sie; sonst könnte man angesichts des Ernstes der Situation und der Tatsache, daß wir uns in einer Umbruchsituation befinden, solche Reden nicht halten -,
wir brauchen eine neue Gesinnung und eine neue Moral, damit wir mit den Herausforderungen fertigwerden.
Krankfeiern, Gewinne machen und gleichzeitig nicht investieren, Steuern hinterziehen - das ist die falsche Gesinnung. Wenn wir alle anständig wären, gerecht denken würden und die Prioritäten richtig setzen könnten, auch im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit, dann hätten wir ein blühendes Gemeinwesen.
Mir liegen zwei Begehren auf Kurzintervention von Dr. Karl Fell und von Margot von Renesse vor. - Herr Kollege Fell, Sie waren der erste, der sich gemeldet hat. Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt hat eben in seiner Zwischenfrage an Herrn Geißler unterstellt, ich hätte meinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten des Familienbundes der Deutschen Katholiken wegen Drucks aus der Fraktion oder Regierung oder wegen der entsprechenden Einzelentscheidungen erklärt. Ich stelle fest:
Erstens. Niemand hat mich aufgefordert zurückzutreten oder hat deswegen Druck auf mich ausgeübt.
Zweitens. Ich habe diesen Rücktritt erklärt, weil ich Loyalitätskonflikte kommen sehe, die darin bestehen, daß das Amt des Präsidenten eines großen Sozialverbandes auf der einen Seite und das Abstimmungsverhalten hier im Deutschen Bundestag zu Mißdeutungen Anlaß geben könnten, indem beispielsweise eine Zustimmung zu einem Gesamtpaket, in dem auch die Verschiebungen der Kindergelderhöhungen enthalten wären, als Verrat an den Positionen des Verbandes ausgelegt wird.
Daraufhin habe ich erklärt, daß ich von diesem Amt zurücktrete, weil der Verband volle Handlungsfreiheit haben und behalten muß. Er muß seine Positionen darstellen können. Ich will als Abgeordneter meine Handlungsfreiheit haben und will nicht durch falsche Bindungen, durch falsche Rückbezüge in meiner Entscheidungsfreiheit behindert sein.
Damit Sie mich richtig verstehen: Wenn über die Verschiebung der Kindergelderhöhung isoliert abgestimmt wird, werde ich sie ablehnen. An dieser meiner Position in der Sache ändert sich durch den Rücktritt vom Amt des Präsidenten des Familienbundes der Deutschen Katholiken überhaupt nichts.
Herr Kollege Schmidt wünscht zu replizieren.
Herr Dr. Fell, zunächst stelle ich fest, daß meine Frage nicht implizierte, daß Sie Druck aus der CDU/CSU-Fraktion in Richtung auf diesen Rücktritt haben erleiden müssen. Das ist völlig klar. Ich halte Sie auch für einen sehr honorigen Menschen.
Aber ich sage sehr deutlich: Das, was Sie eben erklärt haben, begründet meine Frage von vorhin noch einmal mit aller Deutlichkeit und mit Nachdruck.
Eine weitere Kurzintervention der Kollegin von Renesse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich bin Mitglied des Präsidiums eines Familienverbandes, und zwar des Evangelischen Familienverbandes. Ich bin es nach wie vor.
Aber in diesem Fall nehme ich Ihre Zeit in Anspruch, weil meine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Geißler nicht zugelassen wurde und ein Bestandteil der Frage von Frau Matthäus-Maier nicht beantwortet worden ist. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verantwortbarkeit der Maßnahme, die Sie vorhaben, die die Regierung jedenfalls vorgeschlagen hat, die Erhöhung des Kindergeldes zu verschieben, halte ich nach wie vor für sehr wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, daß es sich bei dem Kindergeld nicht um eine Subvention, Förderung oder gar Wohltat für Familien handelt, sondern um die Rückgabe verfassungswidrig hoher Steuern an Familien mit Kindern.
Hier gibt es keine Begründung aus der Finanznot des Staates heraus, die zutreffend wäre und vor dem Verfassungsgericht halten könnte; denn seit den 50er Jahren, Herr Kollege Geißler, gibt es einen wunderbaren Satz des Verfassungsgerichts bei allen einschlägigen Entscheidungen, unabhängig von Zeit und Situation. Dieser Satz ist in seiner Banalität schlagend: Die Finanznot des Staates rechtfertigt keine verfassungswidrige Belastung.
Herr Kollege Dr. Geißler zur Beantwortung.
Ich spreche jetzt nur zur Frage der Verfassungswidrigkeit. Die Verfassungswidrigkeit hängt davon ab, ob durch die Freibeträge bzw. dort, wo die Menschen nach unserem Modell das Kindergeld statt den Kinderfreibetrag in Anspruch nehmen, durch das Kindergeld das Existenzminimum abgedeckt ist oder nicht. Der Kinderfreibetrag deckt heute eine Summe von, ich glaube, 6 240 DM ab. Dieser Kinderfreibetrag ist verfassungsrechtlich einwandfrei. Das können Sie bestreiten, da gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Verfassungsministerien der Bundesregierung, im übrigen in überwiegender Anzahl auch die Länder sind der Auffassung, daß die 6 240 DM Kinderfreibetrag das Existenzminimum für Kinder abdecken.
Jetzt können Sie nur die Frage stellen: Würde sich das möglicherweise am 1. Januar 1997 ändern? Da ist man aus den Gründen, die ich vorhin genannt habe - weil wir nämlich Preisstabilität haben -, ganz überwiegend der Auffassung, daß eine Anhebung des Existenzminimums nicht notwendig ist. Selbst wenn wir das Kindergeld 1997 um die 20 DM erhöht hätten, wäre das Existenzminimum höchstwahrscheinlich - ich sage einmal „höchstwahrscheinlich"; ich bin nicht der Finanzminister und auch nicht dafür zuständig - nicht angehoben worden, weil wir Preisstabilität haben. Das ist im übrigen auch der Grund, warum die Regelsätze in der Sozialhilfe im nächsten Jahr nicht angehoben werden müssen.
Infolgedessen, verehrte Frau Kollegin, geht der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit völlig daneben.
Frau Kollegin Marieluise Beck, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wahr, dieses Land steckt in einer tiefen Krise, und diese Krise ist nicht über Nacht gekommen. Schon lange zeichnet sich ab, daß die Zahl der Erwerbslosen mit erschreckender Stetigkeit zunimmt. Die Stetigkeit, mit der sie trotz konjunktureller Aufs und Abs zunimmt, ist das Problem. Schon lange können wir beobachten, daß sich der Aufbau der fünf neuen Länder viel schwieriger gestaltet, als sich wohl alle in diesem Haus vorgestellt haben. Schon lange kämpfen die öffentlichen Haushalte gegen einen wachsenden Schuldenberg. Insbesondere die Kommunen und Länder haben das bei dem Versuch, ihren täglichen Aufgaben in der Politik nachzukommen, früher gespürt als wir im Bund.
Ebensowenig ist neu, daß die Erwerbslosigkeit nicht die Folge einer vorübergehenden konjunkturellen Schwäche ist, sondern daß sie strukturelle Ursachen hat. Ich verstehe nicht, Herr Glos, daß Sie sich heute morgen wieder darauf zurückgezogen haben, daß jetzt ein konjunktureller Lichtstreif am Horizont zu sehen wäre. Es geht um strukturelle Ursachen,
von denen ein Teil der Kollege Geißler eben benannt hat.
Wer wollte denn bestreiten, daß die Globalisierung der Märkte zu rasanten Umwälzungen in den nationalen Ökonomien führt und daß durch die Globalisierung die Möglichkeiten nationaler Politik teilweise sogar eingeschränkt werden? Wer wollte denn bestreiten, daß der Fall der Mauer, das Ende des damit verbundenen Protektionismus und der Staatswirtschaften im Osten den Arbeitsmarkt weltweit verändern? Wer wollte denn bestreiten, daß diese veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen das deutsche Wohlstandsmodell und damit auch den Sozialstaat, wie er in den vergangenen 40 Jahren hier gewachsen ist, radikal in Frage stellen?
Derartige tiefgreifende Veränderungen sind eine große Herausforderung für eine Gesellschaft. Wir stehen wirklich vor der Frage - sie ist viel zu lange aufgeschoben worden -, auf welche Basis die Zukunft dieses Landes gegründet werden soll.
Ich behaupte, meine Damen und Herren, daß das von Ihnen heute eingebrachte Paket für Wachstum und Beschäftigung die Größenordnung der notwendigen Veränderungen nicht einfängt.
Dieses Paket geht einerseits zu weit - ich werde darauf gleich noch kommen - und greift gleichzeitig zu kurz.
Den ideologischen Hintergrund für Ihre gesetzlichen Vorschläge bereiten Sie schon seit geraumer Zeit vor. Ich erinnere an die Auseinandersetzung mit dem Kollegen Louven, der schon vor einem Jahr die Notwendigkeit einer radikalen Deregulierung der bundesrepublikanischen Arbeit gefordert hat. Auch Graf Lambsdorff, der ja immer noch sehr viel deutlicher und schonungsloser ist, sagt seit langem in dankenswerter Offenheit, wo nach seiner Meinung die Antwort auf die deutsche Krise zu finden ist: Verlängerung der Arbeitszeit, Abbau von Schutzrechten, Öffnung der Niedriglohnbereiche, Abbau von sozialen Leistungen. Ganz deutlich und klar hat Herr Lambsdorff das Programm umschrieben. Im Hintergrund steht tatsächlich die Auseinandersetzung, in welche Richtung sich die Gestaltung der nationalen, der bundesdeutschen Ökonomie bewegen soll.
Natürlich sind Sie umgetrieben von dem Beispiel Amerika, dem amerikanischen Weg und dem amerikanischen Jobwunder, auch wenn Sie das nach wie vor weit von sich weisen;
denn Sie, zumindest einige von Ihnen, wissen, daß der soziale Preis für dieses Jobwunder extrem hoch ist.
Die heute vorgelegten Gesetzentwürfe sind von einer Amerikanisierung der Verhältnisse noch entfernt;
Marieluise Beck
aber ich sage Ihnen: Es geht um die Richtung. Herr Sohns hat deutlich gesagt: Wir stehen an einem Scheideweg.
Es geht also darum, auf die Krise der Erwerbswirtschaft Antworten zu finden, die einerseits die notwendigen Veränderungen herbeiführen und trotzdem den sozialen Konsens und die Gerechtigkeit nicht in Frage stellen.
Die Gewerkschaften haben mit ihrem Angebot zu einem Bündnis für Arbeit genau diesen Weg mit der Bundesregierung und den Unternehmen gehen wollen. Es war ein Risiko für die Gewerkschaften, diesen Weg einzuschlagen.
Frau Kollegin, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. - Es gibt zwei Formen von Unruhe: Die eine entzündet sich an Inhalt und Form einer Rede, und die andere nimmt auf Redner oder Rednerin keine Rücksicht. Die zweite finde ich eigentlich die schlechtere, und die bitte ich zu beenden. - Bitte fahren Sie fort.
Die Hauptbotschaft des Bündnisses war das Angebot zu teilen: Arbeit und Einkommen zu teilen, sozialen Ausgleich herzustellen, der Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, neue Wege in der Gestaltung der Industriegesellschaft zu gehen. Das war das Angebot, und Sie haben dieses Angebot mutwillig ausgeschlagen.
Man muß davon ausgehen, daß Sie sich politisch entschieden haben, daß Sie den Weg gemeinsam mit den Gewerkschaften gar nicht gehen wollten, sondern daß Sie darauf setzen, Ihre Politik gegen die Gewerkschaften und damit gegen einen wesentlichen Teil der Bevölkerung zu machen.
Die heute zur Debatte stehenden Einzelgesetze entfalten ihre Sprengkraft erst in ihrer synergetischen Wirkung. Synergie bedeutet: Wen treffen Einzelentscheidungen immer wieder an der gleichen Stelle? Wenn Herr Sohns sagt, es gehe um das Ende der Gefälligkeitsdemokratie, dann greife ich mir einen Personenkreis heraus, der mit unterschiedlichen Gesetzen immer wieder neu getroffen wird: Das sind die Behinderten. Mit der Sozialhilfereform haben Sie den Vorrang ambulanter Hilfen unter einen Kostenvorbehalt gestellt. Das bedeutet das Ende des Rechts auf Selbstbestimmung von Behinderten, ob sie im Heim oder zu Hause betreut werden.
Bei der Pflegeversicherung - das ist jetzt durch den Vermittlungsausschuß abgewendet worden - wollten Sie die Behinderten, die in Heimen leben, von den Leistungen ausschließen, also wieder gegen den gleichen Personenkreis.
Ein drittes Beispiel: Mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz wird das Ziel auf gegeben, Behinderte gezielt durch Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie verändern eine Muß-Leistung in eine KannLeistung.
Das sind synergetische Wirkungen, Herr Geißler. Hier wird nicht Gefälligkeitsdemokratie gemacht, hier wird nicht Leistungsträgern Belohnung zugesprochen, sondern die, die in ihrer Möglichkeit, Leistung zu erbringen, eingeschränkt sind, aber teilhaben wollen, werden getroffen. Deswegen ist die Empörung in der Bevölkerung auch so groß, und sie ist zu Recht so groß.
Wir alle kennen das Einmaleins des Sozialstaats. Seine Basis ist im wesentlichen eine ausgeglichene Arbeitsgesellschaft. Wir alle kennen aber auch die Tatsache, daß durch den Einsatz neuer Technologien und durch neue Produktionsorganisationen das Erwerbsvolumen eher abnimmt. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, daß selbst normale Wachstumsraten nicht den Verlust von Arbeitsplätzen ausgleichen können, den diese technische Beschleunigung mit sich bringt. Auf diese Frage müssen Sie eine Antwort geben. Es ist eine große und schwierige Aufgabe, die Erwerbs- und Arbeitsgesellschaft unter diesen Umständen so umzubauen, daß alle trotzdem die Chancen auf Teilhabe, eigenes Erwerbseinkommen und Absicherung haben.
Dazu braucht es Flexibilisierung. Das wissen wir inzwischen alle. Sie müssen dann aber gleichzeitig Rahmenbedingungen schaffen, die die flexibilisierten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht schutzlos machen. Das bedeutet eine moderne Arbeitsgesetzgebung; das bedeutet Reregulierung, statt Deregulierung.
Das hat auch für das soziale Sicherungssystem Konsequenzen, das sich diesen veränderten Bedingungen stellen muß. Diese Veränderung muß die Tatsache aufgreifen, daß Erwerbsbiographien nicht mehr die Geschlossenheit der Jahrhundertwende haben. Die Frauen wissen das schon lange. Das erfordert auch ein verändertes Steuersystem, das auch der mit der Verteilung von Erwerbsarbeit verbundenen Einkommensumverteilung Rechnung trägt und zum Beispiel die Transfers, die die Familien brauchen, nicht kappt.
Hier gibt es wirklich Ansatzpunkte für Reformen, die so weit greifen, wie die ökonomischen Veränderungen es erfordern. Statt dessen gehen Sie den hilflosen Weg, Stückchen für Stückchen Rechte abzubauen. Sie erzeugen damit eine gesellschaftliche Situation, in der die Besitzstandswahrung, das Festhalten am Alten, immer stärker vorangetrieben wird, weil Sie eines nicht deutlich machen: Wir wissen, daß
Marieluise Beck
es Veränderungen geben muß. Die müssen aber unter den Vorzeichen der gleichen Verteilung, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität stattfinden.
Im Augenblick schaffen Sie eine Situation, in der jeder für seine Interessen kämpft. Das Drama ist, daß Sie die Chance nicht aufgegriffen haben, die das „Bündnis für Arbeit" beinhaltet hat, die Chance, die Veränderungen, die diese Gesellschaft unabweisbar hinnehmen muß, gemeinsam mit den tragenden Kreisen der Bevölkerung anzugehen auf dem Weg in eine wirklich moderne, aber gleichzeitig auch solidarische Gesellschaft.
Herr Kollege Dr. Guido Westerwelle, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir heute im Deutschen Bundestag erleben, ist meiner Einschätzung nach genau das Spiegelbild der gesellschaftlichen Diskussion. Es gibt eben in dieser Modernisierungsdebatte solche, die Strukturen verändern wollen, und solche, die Strukturen wirklich kräftig verteidigen. Es geht hier eben nicht nur um einzelne Maßnahmen steuerpolitischer,
,) arbeitsmarktpolitischer, finanzpolitischer oder sozialpolitischer Art, sondern im Kern um die Frage, ob wir eine wirtschaftliche und auch eine mentale Standortfähigkeit in Deutschland erhalten. Das ist die eigentliche Frage, über die wir heute debattieren.
Deswegen möchte ich Bundespräsident Roman Herzog zitieren, der im Frühjahr bei der HannoverMesse gesagt hat:
Wir brauchen in Deutschland ... mehr „mentale Standortfähigkeit". Wir müssen uns fragen, ob die zweifellos vorhandene Bereitschaft zum Wandel - zum Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft, Staat und Technik - heute bereits ausreicht. Oder verbaut uns eine noch größere Beharrung auf Hergebrachtem und dem Liebgewonnenen die Wege in die Zukunft?
Wenn man heute die Redner von der SPD und auch von den Grünen aufmerksam verfolgt hat, wird man finden, daß Sie alle eigentlich den gleichen Tenor hatten: Es muß etwas geschehen, aber passieren darf nichts.
Das ist die Politik, die Sie machen.
Herr Scharping hat hier ja eine ganze Anzahl von Zitaten vorgetragen. Daß Sie in der Sozialdemokratie allerdings Schwierigkeiten haben, das macht ja der Beitrag von Klaus von Dohnanyi in der „Welt am
Sonntag" vom 28. April dieses Jahres bemerkenswert deutlich. Da heißt es:
Nein, das Problem der SPD ist nicht ihre Führung, sondern letztlich ihre Tradition ... Die SPD hat noch immer eine Mitgliedschaft, eine historische Herkunft, einen „Stall", der emotional mehr als ein gutes Jahrhundert hinter der heutigen Zeit „fühlt" ... Die SPD trägt ihr 19. Jahrhundert schwermütig auch in das 21 ste ...
Bemerkenswert ist auch der folgende Satz von Herrn von Dohnanyi, die SPD müßte
erkennen, sie müßte sich eingestehen und innerparteilich umsetzen, daß ihre heutige Einstellung zur Gesellschaft veraltet ist und daß die von der CDU/CSU-FDP-Koalition für Deutschland formulierte Standortpolitik heute eine richtigere Richtung steuert als die Parteitagsbeschlüsse der SPD.
Bravo, Herr von Dohnanyi!
Wenn sich die SPD-Bundestagsfraktion etwas mehr von dieser Erkenntnis zu Herzen nehmen würde, wäre das hilfreich.
Die Tatsache, daß Herr Scharping hier zwar heftig geredet hat, daß er aber in keiner Weise irgendeine Alternative vorgeschlagen hat, verwundert doch nicht. Sie sind doch selbst bei der Frage der Finanzpolitik vollkommen zerstritten. Herr Schwanhold sagt, ohne höhere Neuverschuldung geht es nicht, und Frau Matthäus-Maier antwortet am gleichen Tag: Angesichts riesiger Schuldenberge und enormer Zinsbelastungen der öffentlichen Haushalte ist das ein großer Fehler und verschiebt die Probleme nur auf die kommenden Jahre.
Sie haben versucht, in dieser Debatte Zwietracht in den Reihen der Koalition zu säen, und sind jetzt verwundert darüber, daß die Koalition in dieser Debatte einig aufgetreten ist.
Ich glaube, es geht um sehr viel mehr. Es geht darum, ob wir am Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts, dessen Charakteristikum die Unfinanzierbarkeit unseres Gemeinwesens geworden ist, in der Lage sind, auch die notwendigen Kurskorrekturen durchzusetzen, oder ob wir so weitermachen wie bisher, mit dem Erfolg, daß die Schere immer größer wird, nämlich auf der einen Seite immer mehr Rechte und immer mehr Freiheiten den Bürgern zuzugestehen und auf der anderen Seite immer mehr Pflichten und immer mehr Verantwortung beim Staat anzusiedeln. Darin liegt auch der große Unterschied zwischen uns und Ihnen, Frau Beck von den Grünen. Wir wollen mehr Freiheit für mehr Menschen, aber wir wissen, daß das heißt: mehr Verantwortungsbereitschaft des einzelnen und auch für seinen Nächsten. Das ist das Entscheidende.
Dr. Guido Westerwelle
Sie wollen Freiheit von Verantwortung; wir setzen dem Freiheit zur Verantwortung entgegen. Darum geht es nämlich.
Wenn Sie den Eindruck erwecken - das ist schon bemerkenswert -, als ob es sich um radikalkapitalistische Methoden oder um frühkapitalistische Ansätze handeln würde, so möchte ich Ihnen sagen: Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 100 Prozent ist ja für Sie unantastbar; alles andere wäre, so IG Metall-Chef Zwickel, Kapitalismus pur.
Es stört offensichtlich überhaupt nicht, daß Schweden, das man dann ja auch als frühkapitalitisch bezeichnen müßte, viel weiter als wir gegangen ist und eine Gesetzgebung in bezug auf Lohnfortzahlung in dieser Form nie gekannt hat.
Herr Kollege Westerwelle, die Kollegin Luft würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte, gerne.
Darf ich gleich in einem Aufwasch fragen, ob Sie auch die Frage der Kollegin Matthäus-Maier beantworten wollen?
Ja, bitte.
Bitte, Frau Kollegin Luft.
Herr Fischer, wenn Sie beklagen, ich sei zu laut, dann finde ich das putzig.
Herr Kollege, Sie sprechen von Verantwortung. Ich darf doch wohl davon ausgehen, daß sich das auch auf die Unternehmer bezieht. Darf ich Sie fragen, was Sie von der Angabe des Bundes der Steuerzahler - das wiederholt sich ja nun schon seit vielen Jahren - halten, wonach pro Jahr allein die Wirtschaft an die 130 Milliarden DM Steuern hinterzieht? Wenn diese Angabe zutreffend ist - ich habe dazu von der F.D.P. oder dem BDI noch kein Dementi gehört -:
Warum legt dann diese Bundesregierung, der Ihre Partei angehört, nicht ein Sofortprogramm auf, das die Einstellung von zusätzlichen Betriebsprüfern und Steuerfahndern vorsieht, damit man zumindest 10 Prozent, 15 Prozent oder 20 Prozent dieser Gelder sofort einsammeln kann?
Darf ich noch eine Frage anfügen? -
Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß eine Steuerhinterziehung - generell und auch in einer solchen Größenordnung - mit der Sozialpflicht des Eigentums, wie sie das Grundgesetz vorsieht, überhaupt nichts zu tun hat?
Erstens möchte ich Ihnen in Ihrer Einschätzung ausdrücklich zustimmen. Die Bundesregierung und die Koalition sind selbstverständlich der Auffassung, daß Steuerhinterziehung ebenso wie illegale Formen von Steuerflucht in keiner Weise akzeptabel ist. Gerade um diesen Mißstand strukturell beseitigen zu können, legt die Koalition in dieser Legislaturperiode eine große Steuerreform vor.
Wir müssen an die Strukturen herangehen und von dem Steuerdickicht wegkommen. Mehr Steuervereinfachung und niedrigere Steuersätze sind viel gescheiter - das werden Sie sehen - als das, was Sie vorschlagen.
Zweitens. Frau Kollegin Luft, ich war bei der Lohnfortzahlung, als Sie mit diesem Thema gekommen sind. Ich habe gehört, was der Sprecher Ihrer Gruppe heute vorgetragen hat. Ich möchte Sie nur einmal darauf aufmerksam machen, daß das, was Sie hier heftig bekämpfen, nämlich die Änderung bei der Lohnfortzahlung, etwas ist, was Sie in der DDR überhaupt nicht gekannt haben. Sie hatten eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von 90 Prozent. Bei uns aber werden sogar noch die Überstunden eingerechnet, wenn man krank wird, so daß man, wenn man krank ist, manchmal mehr Geld bekommt als andere, die arbeiten. Das ist in Deutschland nicht in Ordnung.
Bitte.
Herr Kollege Westerwelle, da nicht nur Sie, sondern auch andere Redner der Koalition immer wieder auf Schweden hingewiesen und gesagt haben, die sozialdemokratische Regierung dort habe gekürzt und gespart, möchte ich die Frage stellen: Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir die sozial ungleiche Gewichtung kritisieren? Selbstverständlich hat die schwedische Regierung gekürzt; an Kürzen und Sparen führt auch kein Weg vorbei. Sie hat aber im Unterschied zu Ih-
Ingrid Matthäus-Maier
nen die Vermögensteuer nicht abgeschafft - das haben Sie vor -, sondern angehoben.
Frau MatthäusMaier, das ist eine Frage, die meines Erachtens deutlich macht, daß Sie mit Ihrem klassenkämpferischen Denken nicht mit den neuen Strukturen zurechtkommen.
Ich will Ihnen das an einem Punkt deutlich machen. Sie sagen, die Vermögensteuer sei eine Steuer, die nur die Reichen betreffe. Diesen Eindruck wollen Sie erwecken, Frau Matthäus-Maier. Sie nehmen dabei aber nicht zur Kenntnis, daß die Vermögensteuer in Deutschland zu zwei Dritteln eine betriebliche Vermögensteuer ist. Es ist, auch bezogen auf die Gewerbekapitalsteuer, Unsinn, daß wir die Substanz eines Unternehmens besteuern anstatt den wirtschaftlichen Erfolg. Deswegen wollen wir die Substanzsteuern abschaffen.
Das hat überhaupt nichts mit fehlender sozialer Symmetrie zu tun.
Ich sage Ihnen eines: Sie haben sich gegen alles, was gekommen ist, gewehrt. Sie waren gegen die steuerliche Abzugsfähigkeit von Haushaltshilfen und haben mit dem Stichwort Dienstmädchenprivileg argumentiert. Sie haben sich hingestellt und hinsichtlich der Gewerbekapitalsteuer zunächst gesagt: Das kommt mit uns auf keinen Fall in Frage! In beiden Fällen sind Sie mittlerweile zu einer besseren Einsicht gekommen.
Ich sage Ihnen voraus: Die Zeit geht an Ihnen vorüber. Sie werden auch hier eines Tages die Kurve kriegen, nur leider zu spät.
Meine Damen und Herren, im Entscheidenden geht es darum, daß wir in Deutschland eine Steuer- und Abgabenlast, Lohnzusatzkosten und eine Regelungsdichte haben, die Investitionen ins Ausland treiben und die viele Investoren veranlassen, ins Ausland zu gehen.
Wenn die Grünen und Herr Scharping in der Debatte auf Amerika hinweisen, so ist dies wirklich bemerkenswert. Frau Müller verweist im Hinblick auf die Erbschaftsteuer auf das Steuersystem in den USA, und Herr Scharping zitiert Herrn Kennedy, daß die Mentalität dort eine andere sei. Ihnen beiden und den verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen möchte ich sagen: Wenn Sie allen Ernstes Besteuerungsmodelle in den Vereinigten Staaten als vorbildlich vortragen, dann freue ich mich auf die Diskussion bei der Detailberatung. Dann nämlich können wir uns zum Beispiel die Einfachheit von Tarifen und die tatsächliche Steuer- und Abgabenquote im amerikanischen Steuerrecht ansehen. Die
Steuer- und Abgabenquote ist dort ungefähr 10 Prozentpunkte niedriger als bei uns. Dann darf man sich nicht wundern, daß das im internationalen Wettbewerb auf Dauer nicht gutgehen kann.
Daß im Jahre 1994 von deutschen Firmen ungefähr 50 Milliarden DM an Direktinvestitionen ins Ausland gegangen sind und gleichzeitig von den ausländischen Firmen in Deutschland lediglich 13 Milliarden DM investiert wurden, das ist ein Zeichen dafür, daß wir nicht mehr beliebig lange vom Speck leben können. Deswegen legen wir dieses Modernisierungspaket vor. Deswegen versuchen wir, Verkrustungen und Strukturen aufzubrechen. Ich habe den Eindruck, die Mitglieder sind in diesem Falle viel weiter als die Gewerkschaften, und die Bürger sind viel weiter als Rot-Grün.
Das Motto „Streiken statt Sparen" ist kein gelungenes Rezept, Arbeitsplätze zu schaffen. Sie sagen, Sie verträten Arbeitnehmerinteressen. Dazu will ich Ihnen entgegenhalten: Arbeitnehmerinteressen werden heute von den Parteien vertreten, die dafür sorgen, daß in Deutschland investiert wird, daß Arbeitsplätze geschaffen werden. Denn Arbeitsplätze sind in Deutschland die beste Sozialpolitik, die man sich überhaupt vorstellen kann.
Wir wollen an die Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung anknüpfen, die auch dieses Land zwischen 1983 und. 1989 so erfolgreich gemacht hat. Wir wissen, daß es eine Sonderaufgabe der deutschen Einheit gab. Und für uns ist diese deutsche Einheit immer noch ein Glück für unser gesamtes Land, meine Damen und Herren.
Aber eines möchte ich auch ganz klar sagen: Wir dürfen uns nicht an die zu hohe Steuer- und Abgabenlast gewöhnen. Wir dürfen uns nicht an dieses Niveau von Lohnzusatzkosten gewöhnen. Wenn ein Handwerker in Deutschland selber vier Stunden arbeiten muß, um sich eine Arbeitsstunde eines anderen Handwerkers leisten zu können, dann stimmt in diesem Lande etwas nicht.
Wenn wir die Situation haben - Herr Kollege Geißler hat in einer bemerkenswerten Rede darauf hingewiesen -, daß die Kündigungsschutzprozesse vor den Arbeitsgerichten im Endeffekt ein Abschreckungsmechanismus geworden sind, das heißt, Bürgerinnen und Bürger nicht zusätzlich zu Arbeit und Brot kommen, dann müssen wir hier korrigieren.
Wir haben die Schwellenwerte festgesetzt, als wir diese Form von Teilzeitarbeit überhaupt nicht gekannt haben. Ich kenne genügend Handwerksbetriebe, Freiberufler, Selbständige, kleine Unternehmen, die sagen: Um Gottes willen! Nicht mehr als
Dr. Guido Westerwelle
fünf Arbeitnehmer, sonst fallen wir unter das Kündigungsschutzgesetz; dann habe ich große Schwierigkeiten in meinem Betrieb.
Wir sagen ihnen: Wenn ihr jetzt bereit seid, neu einzustellen, tritt das Kündigungsschutzgesetz erst ab einem Schwellenwert von zehn Arbeitnehmern in Kraft. Das ist nicht die Beseitigung des Kündigungsschutzes, wie Sie behaupten, das ist die Anpassung an die Situation vor den Arbeitsgerichten und in unserer Gesellschaft, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Westerwelle, der Kollege Büttner würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte, gern.
Bitte, Herr Kollege Büttner.
Herr Kollege Westerwelle, Sie wie auch Herr Kollege Geißler haben gesagt, das Kündigungsschutzgesetz sei mit Blick auf die Beschäftigung eine Abschreckung. Würden Sie es als Abschreckung bezeichnen, wenn über 95 Prozent aller Kündigungen zwar in Form von Vergleichen und Abfindungen enden, aber die Summe, die dafür bezahlt wird, pro Beschäftigungsjahr zwischen 0,1 und 0,5 Monatsgehältern liegt, das heißt für eine zehnjährige Beschäftigung als Abfindung zwischen einem und fünf Monatsgehältern herauskommt? Ist das Abschreckung angesichts einer Leistung, die die Menschen für einen Betrieb und auch für das Fortkommen des Betriebes vollbracht haben?
Bevor ich in die Politik gekommen bin, habe ich selber als Anwalt in solchen Prozessen mitgewirkt. Ich kann Ihnen dazu nur eines sagen - und das meine ich mit allem Ernst -: Wenn Sie einen Handwerker mit sechs bis sieben Beschäftigten beispielsweise mit der Abfindungssumme von 30 000 DM konfrontieren - was bei entsprechenden Beschäftigungsverhältnissen in der gerichtlichen Realität nämlich herauskommt -, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn diese Schwellenwerte wie bisher ein tatsächliches Einstellungshemmnis geworden sind. Dieses Problem wollen wir angehen.
Meine Damen und Herren, ich möchte am Schluß noch auf eine Sache hinweisen: Ich denke, es geht nicht nur um Steuerpolitik, es geht nicht nur um Schwellenwerte, es geht nicht nur um Sozialpolitik insgesamt, sondern es geht darum, daß wir vor allen Dingen mit einem Vorurteil aufräumen müssen, was ich für nicht akzeptabel halte. Ich finde es nicht akzeptabel, wenn diejenigen, die den Sozialstaat auf diesem hohen Niveau reformieren wollen, in die Ecke der Ellenbogengesellschaft, der Egoisten und Darwinisten gestellt werden. Ich möchte Ihnen
sagen: Ab und zu etwas mehr von der Erkenntnis, daß man alles, was man verteilen will, vorher erst einmal erwirtschaften muß, würde Ihnen nicht schaden.
Ich möchte Ihnen ein Zweites dazu sagen: Nicht derjenige gefährdet den Sozialstaat, der ihn reformieren will, sondern derjenige, der ihn weiter überfordert. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir rechtzeitig zum Nutzen unseres Landes korrigieren müssen. Demokratie lebt davon, daß sie ihre Irrtümer korrigiert. Ich meine, es wäre an der Zeit, daß Sie sich diesem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, staatlichen Wandel stellen.
Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute morgen erlebt haben, war die Kapitulation, die Abdankungserklärung der Vertreter der katholischen Soziallehre in der CDU/CSU-Fraktion.
Wenn der Kollege Geißler hier ausdrücklich erklärt, die Koalitionsfraktionen hätten alle Anliegen der Arbeitgeberseite aufgegriffen in der Hoffnung, daß die damit versprochenen Arbeitsplätze auch geschaffen würden.
- Das haben Sie sinngemäß auch in der Sendung „ZAK" gesagt! In der Sendung „ZAK" haben Sie zudem hinzugefügt: Für den Fall, daß das Versprechen der Arbeitgeber, die Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000, nicht gehalten werden sollte, wollen wir eine Art Rückversicherung und eine Befristung der Gesetzgebung bis zum Jahre 2000. Davon haben Sie heute morgen nichts mehr gesagt. Aber das nur am Rande.
Wenn der Kollege Geißler - der Kollege Blüm hat es ja im Grunde genommen ganz ähnlich gemacht; ich komme darauf noch zurück - erklärt, wir übernehmen alle Anliegen der Arbeitgebervertreter -
- sicher haben Sie das so erklärt -, in der Hoffnung, daß die Arbeitslosigkeit damit abgebaut wird, dann können Sie, Herr Kollege Geißler, alle Bücher der katholischen Soziallehre in Ihrem Bücherschrank verbrennen.
Die können Sie alle wegschmeißen. Dann können Sie den Gedanken an Mitbestimmung, an Beteiligung am Produktivkapital, an Kündigungsschutz usw. usf. vergessen.
Ottmar Schreiner
Was passiert eigentlich, Herr Kollege Geißler, wenn unsere Prognosen zutreffen, die da lauten, das Paket der Bundesregierung führt nicht zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit, sondern zu einer Ausweitung der Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren? Was machen Sie dann eigentlich? Ich komme darauf zurück.
Wenn Sie schon auf die Logik der Arbeitgeberargumentation eingehen, frage ich Sie: Was machen Sie eigentlich, wenn die Arbeitgeber im nächsten Jahr sagen: Das reicht uns nicht, wir brauchen noch ein bißchen mehr; wir brauchen die gänzliche Abschaffung des Kündigungsschutzes, wir brauchen die Aushöhlung der Tarifautonomie, die Abschaffung der Tarifautonomie, wie sie von Graf Lambsdorff hier gefordert worden ist. Was machen Sie dann eigentlich? Dann können Sie eigentlich gar nicht mehr anders, als weiter nachzugeben, weiter beizudrehen und diese Republik sozialstaatlich ins vorige Jahrhundert zurückführen. Das ist wirklich eine Abdankungserklärung der führenden Vertreter der katholischen Soziallehre hier im Parlament.
Der Kollege Blüm - der Minister Blüm, der Herr Minister Blüm - hat versucht, die SPD-Fraktion als Steinzeittruppe zu entlarven mit dem Hinweis, die IG Chemie habe einen Tarifvertrag geschlossen, der mit dem Altersteilzeitgesetz der Bundesregierung korrespondiere. Herr Minister, ist Ihnen entgangen, daß der Tarifvertrag der Chemiewirtschaft nicht mit Ihrem Gesetzesvorschlag vereinbar ist?
Herr Minister, Sie werden erleben, daß die SPD- Bundestagsfraktion einen Änderungsantrag stellen wird mit dem Ziel, die Gesetzeslage so zu ändern, daß der Tarifvertrag mit dem Gesetzestext kompatibel gemacht wird. Deshalb können Sie doch nicht hergehen und sagen, hier säßen die Traditionskompanien und die IG Chemie sei gemeinsam mit dem Bundesarbeitsminister an der Spitze des Fortschritts.
Um dies noch ein bißchen zu illustrieren, lese ich Ihnen aus dem heutigen „Handelsblatt" vor: Die IG Chemie betrachtet die geplanten Einschränkungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und dem Kündigungsrecht als einen grundsätzlichen Wandel des Systems. Wie Gewerkschaftschef Hubertus Schmoldt sagte, seien die Pläne ein direkter Eingriff in unsere Zuständigkeitsbereiche. Die Kürzung der Lohnfortzahlung um 20 Prozent greife mittelbar in die Tarifhoheit ein, da die IG Chemie und manch andere Gewerkschaft im Vertrauen auf den Gesetzgeber dies nicht tarifvertraglich abgesichert hätten. Wenn die Arbeitnehmervertreter diesen Trend nicht stoppten, werde morgen das ganze Tarifvertragsgesetz in Frage gestellt. „Am Ende wird man uns das Recht nehmen, Löhne und Arbeitsbedingungen mit den Arbeitgebern in Tarifverträgen abschließend zu regeln" , so Gewerkschaftschef Schmoldt.
Meine Güte, genau das ist auch unsere Auffassung. Das ist die schiefe Ebene, auf die sich inzwischen auch die Herren Blüm und Geißler begeben haben: Kapitulation der katholischen Soziallehre. Oswald von Nell-Breuning würde sich im Grabe umdrehen, wenn er dieses Debakel heute morgen miterlebt hätte.
Es gibt zwei zentrale Fragestellungen, an denen wir das Paket der Bundesregierung messen. Die eine Fragestellung ist die des Kollegen Geißler: Geht es einigermaßen gerecht zu? Findet ein halbwegs solidarischer Lastenausgleich in Deutschland statt, oder ist es so - wie der Kollege Westerwelle behauptet hat -, daß ein rabiater Klassenkampf zu Lasten der Bezieher von Normaleinkommen, von Sozialleistungen, der Familien und der Kranken stattfindet? Genau das ist die Stoßrichtung Ihres Pakets: Klassenkampf gegen die Kranken, die Familien, die normalen Arbeitnehmer, die Arbeitslosen und die Sozialleistungsempfänger.
Keine andere Gruppe ist an der Finanzierung totailigt. Insofern ist dem Kollegen Westerwelle völlig zuzustimmen: Die Bundesregierung setzt ihren Massenkampf von oben in massivster Form fort.
Ist es gerecht, wenn einerseits Wohlhabenden viele Milliarden D-Mark über die Abschaffung der Vermögensteuer zusätzlich geschenkt werden sollen und andererseits Einkommensschwachen der Zuschuß für das Gebiß genommen wird? Wer dies macht, hat jedes soziale Augenmaß verloren.
Ist es sozial gerecht, wenn in Deutschland einerseits einer 80jährigen Frau, die nach dem Kriege unter schwierigsten Bedingungen und in einer grandiosen Lebensleistung vier oder fünf Kinder großgezogen hat, die Sozialhilfe gekürzt wird und andererseits die Vermögensteuer abgesenkt werden soll? Das ist eine sozialpolitische Sauerei. Das ist der Verlust des letzten sozialen Anstands in dieser Republik.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Geißler?
Ja.
Bitte, Herr Kollege Geißler.
Herr Schreiner, würden Sie mir und den anderen Anwesenden bitte erklären, in welchem unserer Gesetzentwürfe die Sozialhilfe für die Frau, deren Leben Sie gerade geschildert haben, gekürzt wird? Sie brauchen mir gar nicht den entsprechenden Paragraphen zu nennen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, federführend das Bundesministerium für Gesundheit, sieht einen prinzipiellen Systemwechsel bei der Berechnung der Sozialhilfe vor.
Es soll nicht mehr das Bedarfsdeckungsprinzip gelten, sondern es soll durch die Ankopplung der Sozialhilfesätze an die Nettolohnentwicklung, die in den nächsten Jahren vermutlich negativ sein wird, abgelöst werden. Das heißt faktisch eine deutliche Kürzung der Sozialhilfesätze.
Das trifft Menschen, Herr Kollege Geißler, wie die soeben beispielhaft genannte 80jährige Frau, die keine Erwerbsbiographie aufbauen konnte, weil sie vier oder fünf Kinder in einem Haushalt ohne Waschmaschine und Spülmaschine großgezogen hat. Vermutlich wäre meine Mutter, wenn sie noch leben würde, in dem Kreis der Betroffenen. Was hier passiert, ist eine grandiose Sauerei.
Auf der anderen Seite werden die Besitzer großer Vermögen von Ihnen beschenkt. Das Argument, Sie wollten die Vermögensteuer in die Erbschaftsteuer einarbeiten, ist nichts anderes als Nebelwerferei. Denn nach den Zahlen, die mir zur Verfügung stehen, soll bestenfalls ein Bruchteil der gegenwärtig geleisteten Vermögensteuer in die Erbschaftsteuer eingearbeitet werden. Das zusätzliche Argument der Erhebungsprobleme gilt offenkundig für andere Steuerarten nicht. Wenn es wirklich technische Probleme gäbe, dann wären sie lösbar, wenn nur der politische Wille dazu vorhanden wäre.
Verzeihung, ich glaube, der Kollege Geißler möchte eine Zusatzfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Schreiner, ich frage Sie noch einmal: Durch welches Gesetz wird der Frau in Zukunft die Sozialhilfe gekürzt, einmal unterstellt, daß das, was Sie gesagt haben, sogar zuträfe, nämlich daß wir anstelle des Bedarfsdeckungsprinzips entsprechend der Rentenformel eine Sozialhilfeformel erarbeiten wollten - die dann ab 1999 gälte -, in der das Bedarfsdeckungsprinzip, die Nettolohnentwicklung und vielleicht noch ein anderes Element der Definition der Sozialhilfesteigerung enthalten ist?
Es kann ja wohl nicht wahr sein, daß eine solche Formel dazu führt, daß die Sozialhilferegelsätze gekürzt werden. Sie werden selbstverständlich auch in der Zukunft erhöht werden, aber nach einem anderen Maßstab, nach einem anderen Kriterium. Deswegen frage ich Sie noch einmal: Wie kommen Sie zu der Behauptung, in dem Gesetzentwurf seien Vorschläge enthalten, um alten Leuten die Sozialhilfe zu kürzen?
In dem Gesetzentwurf ist ausdrücklich vorgesehen, daß das Bedarfsdeckungsprinzip durch die Anpassung der Sozialhilfe an die Nettolohnentwicklung ersetzt wird. Nochmals: Alle Prognosen gehen davon aus, daß in den nächsten Jahren die Nettolohnentwicklung eher negativ sein wird. Das heißt im Ergebnis, daß die Sozialhilfe, gemessen an dem bisherigen Bedarfsdeckungsprinzip, gekürzt wird. Jetzt können Sie sich aber wirklich setzen. Ich sage das nicht ein drittes Mal.
Der zweite Schwerpunkt, zu dem ich etwas sagen will, ist entscheidend. Der entscheidende Punkt ist, ob das Maßnahmepaket der Bundesregierung zu der von der Bundesregierung versprochenen Halbierung der Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahre 2000 führen wird.
Herr Kollege Schreiner?
Ich wehre mich überhaupt nicht gegen das politische Vorhaben, die Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahre 2000 halbieren zu wollen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß dann, wenn man es wirklich will, dieses Ziel erreichbar sein könnte.
Bereits im Dezember 1993 hat die EU-Kommission in Brüssel in ihrem umfänglichen Weißbuch „Wachstum, Beschäftigung, Wirtschaftsentwicklung" formuliert, daß bis zum Jahre 2000 eine Halbierung der Massenarbeitslosigkeit auf der Ebene der Europäischen Union denkbar wäre, wenn nur gehandelt werden würde.
Herr Kollege Schreiner, der Herr Kollege Dr. Ramsauer würde Ihnen auch gerne eine Zwischenfrage stellen.
Der hat doch die ganze Zeit geschlafen. Ist er jetzt aufgewacht?
Herr Kollege Schreiner, Sie sind überheblich wie immer. Ich stehe schon eine ganze Zeit. Offensichtlich war das Präsidium von Ihrer Rede so fasziniert, daß es nicht nach rechts geschaut hat.
Herr Kollege Ramsauer, Sie sollten mir jetzt keine falsche Faszination unterstellen. Die Rhetorik des Kollegen Schreiner ist so überwältigend, daß man nur schwer unterbrechen kann.
Herr Präsident, Sie kennen doch meine Ironie.
Herr Schreiner, halten Sie es für gerecht, wenn die Sozialhilfebezüge stärker steigen als die Nettolöhne der aktiv tätigen Arbeitnehmer?
Ich wäre sehr dafür, daß die Löhne der aktiven Arbeitnehmer stärker steigen, als es heute der Fall ist, weil dies ein wesentlicher Schritt zur Lösung unseres Beschäftigungsproblems wäre.
Die Tatsache, daß die Arbeitnehmereinkommen nicht in dem Maße steigen, hängt im wesentlichen damit zusammen, daß die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren die Arbeitnehmer zu den „Melkkühen" der Finanzierung der deutschen Einheit gemacht hat, aber alle anderen geschont hat. Das ist ein wesentlicher Grund für die Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen.
Im übrigen, wenn man das Bedarfsdeckungsprinzip aufgeben würde,
hätte man keine Möglichkeit mehr zu formulieren, was man tun will, um den tiefen Fall in die bitterste Armut zu verhindern. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich will zu dem Thema Beschäftigungspolitik noch ein paar Sätze sagen, weil dieses der zentrale Punkt der Auseinandersetzung ist. Wenn die Beschäftigung steigt und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird, dann hätten wir die finanzielle Lage der Renten und viele andere Probleme vollständig im Griff. Ich will Ihnen drei Beispiele aus Ihrem eigenen Programm nennen, das nicht zu einer Senkung, sondern zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit führen wird.
Der erste Punkt. Wenn man die Lebensarbeitszeit von Frauen und Männern verlängert, dann verteilt man das vorhandene Arbeitsvolumen auf weniger Schultern. Das Ergebnis wird eine höhere Arbeitslosigkeit sein. Wir haben ausgerechnet, daß dies im Rahmen des von Ihnen vorgesehenen Stufenplanes zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung von 500 000 bis 550 000 führen wird.
Der zweite Punkt. Wenn man die Arbeitsmarktpolitik so radikal zusammenstreicht, wie Sie es vorhaben - zum Beispiel dadurch, daß die arbeitsmarktpolitischen Instrumente in Ostdeutschland denen in Westdeutschland trotz steigender sozialökonomischer Probleme angenähert werden sollen; Sie haben dort ja nichts im Griff -, wenn gleichzeitig der Bund seine Ankündigung wahr macht, den Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr auf Null zu bringen, dann hat dies wiederum einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung von mehreren hunderttausend zur Folge.
Aus meiner Sicht ist viel entscheidender, daß das Sparprogramm selbst diejenige Kaufkraft zu Lasten der normalen und der unteren Einkommen abschöpft, die wir dringendst zur Belebung der Binnennachfrage in Deutschland brauchen würden.
Wir haben kein Standortproblem, Herr Kollege Westerwelle - die Außenhandelswirtschaft, die Exportwirtschaft blühen -, wir haben ein Wachstumsproblem; das ist das zentrale Problem.
Wenn Sie mit Ihrem Sparprogramm die Konjunktur weiter abwürgen, wird dies die Arbeitslosigkeit um eine weitere bemerkenswerte Größenordnung nach oben treiben.
Die zentrale Frage in Deutschland und Europa ist zur Zeit, wie wir die Nachfrage beleben können. Dies ist insbesondere für Deutschland wichtig, weil der allergrößte Teil der in Deutschland hergestellten, für den Export bestimmten Güter in den europäischen Binnenmarkt geht. Dazu zitiere ich Äußerungen von zwei Experten. Der eine Experte ist Herr Bleyfuß, Konjunkturexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Ich zitiere noch den Herrn Bleyfuß. Danach gebe ich dem Kollegen Westerwelle die Möglichkeit, seine Erkenntnisse in einer Frageform zu verbreiten.
Der Herr Bleyfuß hat vor wenigen Tagen geäußert, überall in Europa werde derzeit gespart; man könne nicht mehr ausschließen, daß daraus ein europäischer Gleichschritt in die Rezession werde. Wenn die deutsche Politik mit schlechtem Beispiel vorangeht und über eine massive Reduktion der verfügbaren Einkommen in den Arbeitnehmerhaushalten, in den Haushalten mit unteren und mittleren Einkommen, dazu beiträgt, daß die Kaufkraft drastisch beschnitten wird, und sich dann noch als europäischer Musterknabe aufführt, nach dem Motto: Die anderen müssen uns folgen, dann wird die Prognose des Herrn Bleyfuß zutreffen. Es ist ein Gleichmarsch, ein Gleichschritt in eine tiefere europäische Rezession mit dem Ergebnis: Die Defizite werden größer, die Arbeitslosigkeit steigt, die Staatsverschuldung wird noch problematischer, und die sozialen Sicherungsnetze geraten endgültig in finanzielle Bedrängnis. Das wird dann das Ergebnis sein, wenn Sie auf diesem Wege fortfahren.
Herr Kollege, bitte.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie die Auffassung vertreten, es
Dr. Guido Westerwelle
gehe um die Belebung der Konjunktur, und um eine Konjunkturbelebung nicht zu verhindern, könnten bestimmte Sparmaßnahmen nicht durchgesetzt werden? Mit anderen Worten: Sie wollen die Konjunktur durch Staatsausgaben beleben. Habe ich Sie da richtig verstanden? Es ist wirklich eine informative Frage.
- Ich frage ihn. Wir sind doch miteinander im Gespräch.
Geben Sie Ihrem Redner eine Chance!
Ich will Ihnen drei Antworten geben.
Die eine Antwort stammt von einem Herrn, den ich bereits in die Diskussion eingebracht habe. Es ist nicht Herr Blüm, auch wenn er so erwartungsvoll guckt. Die Antwort ist von Oswald von Nell-Breuning. Dies war ein bekannter Ökonom, der damals von Teilen der CDU/CSU-Fraktion hoch geschätzt wurde. Inzwischen ist er leider in Vergessenheit geraten. Er hat in seinem Buch „Soziale Sicherheit" geschrieben:
Eine fortschreitende Wirtschaftsentwicklung
macht es notwendig, die Sozialleistungen veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen anzupassen. Der Gedanke liegt nahe, diese Anpassungen in Zeiten konjunkturellen Aufschwungs vorzunehmen. Aus konjunkturpolitischen Gründen müßte jedoch gerade umgekehrt verfahren werden. Erhöhte Sozialeinkommen sind gerade in den Zeiten erwünscht, in denen die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung ihr Tempo verlangsamt oder gar Rückschritte erleidet.
Das heißt, Nell-Breuning fordert ausdrücklich, in einer rezessiven Konjunkturphase die Sozialeinkommen nicht nur zu stabilisieren, sondern sogar zu erhöhen, um die Konjunktur wiederbeleben zu können.
Ich will Sie an die Aussage der Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland vor wenigen Wochen erinnern, die starke Zweifel an der regierungsamtlichen These angemeldet haben, durch massive Einsparungen ließen sich die Probleme zu geringes Wachstum und mangelnde Beschäftigung lösen. Wortlaut: Die Gefahr sei groß,
daß der Staat mit einer prozyklischen Politik den Abschwung verstärkt und damit am Ende auch der Staatshaushalt nicht saniert ist.
Jetzt kommt ein letztes Beispiel, und dann haben wir es geschafft. Der ehemalige Reichskanzler Brüning fand Anfang der 30er Jahre, als er Kanzler wurde, eine Arbeitslosigkeit von 4 Millionen im
Deutschen Reich vor. Reichskanzler Brüning versuchte, die Probleme mit einer rigiden Sparpolitik zu Lasten der Bezieher niedriger Einkommen zu lösen. Damals hatte im übrigen der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund ein öffentlich finanziertes Arbeitsbeschaffungsprogramm gefordert. Das Ergebnis von Herrn Brüning waren 1932 nicht mehr 4 Millionen Arbeitslose, sondern 6 Millionen Arbeitslose. Die 6 Millionen Arbeitslosen des Jahres 1932 waren der soziale Anfang vom politischen Ende der Weimarer Republik.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Er ist offenkundig heute sehr wißbegierig. Er könnte ja häufiger einmal zu uns in den Ausschuß kommen.
Bitte.
Ich möchte nur nachfragen, ob ich Sie richtig verstanden habe. Ihre Antwort bedeutet im Klartext, daß Sie die steigenden Staatsausgaben durch eine höhere Nettoneuverschuldung finanzieren wollen - das schlägt Ihr Kollege Schwanhold vor -, was zum einen eine Zinserhöhung mit einer entsprechenden konjunkturabwürgenden Wirkung haben wird und was zum zweiten eine ziemlich unverschämte Hypothek gegenüber der nächsten Generation sein wird. Das andere Prinzip ist das der Steuererhöhung, das de facto ebenfalls eine konjunkturabwürgende Wirkung haben muß.
Das ist nicht ganz so alternativ zu sehen. Ich will Ihnen nochmals dick unterstrichen sagen, daß meiner persönlichen Auffassung nach eine restriktive Interpretation des in Maastricht festgelegten Kriteriums der Jahresverschuldung nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in eine weitere tiefe Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit, steigenden Staatsdefiziten und einer steigenden Anzahl von sozialen Problemen führen wird.
Die Kriterien von Maastricht sind zu Zeiten einer Hochkonjunktur definiert worden. Wir haben jetzt alles andere als eine Phase der Hochkonjunktur. In dem Maße, in dem Sie konjunkturpolitisch bedingte Steuermindereinnahmen des Staates über reine Sparmaßnahmen ausgleichen wollen, vergrößern Sie perspektivisch die Defizite des Staatshaushalts.
Das ist eine uralte Grundeinschätzung aller Ökonomen, die sich mit Konjunkturpolitik beschäftigt haben. Offenkundig sind aber selbst diese bescheidenen Grundsätze bislang nicht durch das Tor der modernen F.D.P. gestoßen.
Meine Damen und Herren, ich will abschließend sagen,
Ottmar Schreiner
daß das Sparpaket der Bundesregierung die Arbeitslosigkeit in Deutschland in den nächsten Jahren nicht verringern wird, sondern daß die Arbeitslosigkeit aus den dargestellten Gründen zunehmen wird.
Ich will darauf hinweisen, daß die Koalition mutwillig mit dem sozialen Zusammenhalt in dieser Republik spielt. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Der amerikanische Publizist und Buchautor Jeremy Rifkin hat vor wenigen Monaten die amerikanischen Verhältnisse so umschrieben:
Der Staat wird seine wenigen Mittel nicht für die Wohlfahrt und für Arbeitsbeschaffungsprogramme, sondern für die Aufrüstung der Polizei und neue Gefängnisse ausgeben. Was die wachsende Zahl von Menschen anbelangt, die in der Wirtschaft keinen Platz mehr finden, so steht der Staat vor der Wahl, entweder mehr Geld für Polizisten und Gefängnisse auszugeben, um eine stetig größer werdende Zahl von Kriminellen wegzusperren, oder mehr Geld für den Arbeitsmarktsektor zu investieren, um dort für Beschäftigung zu sorgen.
Das ist genau die Alternative; das ist die zentrale Alternative: Entweder sind Sie bereit, mehr Geld für mehr Beschäftigung auszugeben,
oder Sie werden in absehbarer Zeit bereit sein müssen, mehr Geld für mehr Polizei und mehr Gefängnisse auszugeben.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Julius Louven.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schreiner, Sie werden es trotz aller Diskriminierungsversuche nicht schaffen, unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung als ein Programm für den Abbau des Sozialstaates hinzustellen. Es ist ein Programm zur Sicherung des Sozialstaates.
Am 1. Mai hörten wir, wir träten mit diesem Programm den Marsch in eine andere Republik an. Darüber kann ich eigentlich nur lachen. Wir haben in der vergangenen Woche die Pflegeversicherung endgültig in Kraft gesetzt. Wir haben gestern im Ausschuß ein neues modernes Unfallversicherungsgesetz verabschiedet. Und dann redet man hier von einem Marsch in eine andere Republik? Nein, meine Damen und Herren von der Opposition, wir wollen in
eine bessere Republik. Ich bin sicher, dies gelingt uns.
Ich hatte mich darauf eingestellt, mich zu diesem späten Zeitpunkt der Diskussion mit SPD-Vorschlägen, wie man in der Frage der Beschäftigung weiterkommt, auseinandersetzen zu müssen. Aber bei Dreßler null, bei Scharping null, bei Schreiner - er hat laut gesprochen - ebenfalls null.
Alle haben gemeinsam, daß sie Schuldzuweisungen an diese Regierung vorgenommen haben.
Ich lese Ihnen daher jetzt, Herr Schreiner, Herr Scharping, Herr Dreßler, vor, was in einem Papier Ihrer Arbeitsgruppe Sozialpolitik von Ende 1994 steht. Da heißt es:
Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in Deutschland ist überwiegend Folge einer weltweiten Rezession, die sich wegen der D-MarkAufwertung und der ausgeprägten Exportorientierung unserer Volkswirtschaft in Deutschland besonders stark auswirkt. Die Sonderprobleme
der deutschen Einheit verstärken und überlagern die Krise.
Dies ist in der Tat die Wahrheit. Sie können dieser Regierung doch wohl nicht die weltweite Entwicklung vorwerfen wollen. Diese Regierung geht jetzt daran, die Probleme zu bewältigen,
um zu mehr Beschäftigung zu kommen.
Hohe Lohnzusatzkosten - dies ist wohl unstreitig - gefährden Arbeitsplätze und lassen neue nicht entstehen. In der Kanzlerrunde im Januar haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit der Bundesregierung einvernehmlich beschlossen, daß aus diesem Grunde der Gesamtsozialversicherungsbeitrag wieder auf unter 40 Prozent sinken muß. Dazu gibt es aber von Ihnen und von den Tarifpartnern bis heute keine Vorschläge, und deshalb muß die Politik handeln.
Die Ministerpräsidenten, die neulich auf Schloß Krickenbeck - das liegt in meinem Wahlkreis; deshalb erwähne ich den Namen - getagt haben, haben einvernehmlich festgestellt, daß an Einsparungen und Leistungskürzungen im Sozialbereich kein Weg vorbeiführt. Die meisten gehören ja zu Ihnen. Offensichtlich sind die Ministerpräsidenten also weiter als Sie.
Nun zu Ihrem Reizthema Lohnfortzahlung. Wir haben hier schon einmal eine Aktuelle Stunde dazu gehabt, in der Sie den Mißbrauch bestritten haben. Dazu darf ich Ihnen sagen: Selbst der Präsident des Bundessozialgerichts, Herr von Wulffen, hat in einem Interview festgestellt, daß eine Lohnersatzleistung, die zu 100 Prozent gewährt wird, Mißbrauch geradezu herausfordert.
Nun weiß ich auch, daß wir mit einer Absenkung des Lohnes bei Krankheit um 20 Prozent auch die
Julius Louven
wirklich Kranken mit treffen. Aber ich bitte, auch einmal zu berücksichtigen, meine Damen und Herren von der Opposition, daß der Arbeitslose - das Schicksal, arbeitslos zu sein, ist in der Regel größer, weil Arbeitslosigkeit heute länger dauert - bei uns in Deutschland 63 Prozent und, fällt er in die Arbeitslosenhilfe, nur noch 53 Prozent seines letzten Lohns bekommt.
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein Instrument gegen den Mißbrauch. Herr Dreßler hat hier heute morgen ausgeführt, daß er ein Gespräch mit jemandem geführt habe, der gegen unsere Beschlüsse demonstriert und gesagt habe, er tue dies, damit es seinen Kindern nicht so ergehe, wie es seinem Großvater ergangen sei. Herr Dreßler, ich will Ihnen von einem anderen Gespräch berichten: Ich kenne einen jungen Unternehmer, der Dachdecker ist und 25 Leute beschäftigt. Er hat vor einigen Monaten drei seiner Gesellen, die sich am Freitag morgen bei ihm krankgemeldet hatten, auf einer Baustelle bei der Schwarzarbeit erwischt. Dieser gleiche Unternehmer rief mich am letzten Freitag, also am Tag nach Christi Himmelfahrt, an und erklärte mir, daß er wiederum zwei seiner Gesellen bei der Schwarzarbeit erwischt habe. Da sie sich krankgemeldet hatten, muß er für diese Ausfalltage den Lohn weiterzahlen. So kann es doch wohl bei uns in Deutschland nicht weitergehen!
Dieser Unternehmer überlegt ernsthaft, seinen Laden aufzugeben, weil er die Schnauze voll hat. Wir brauchen Unternehmer, um Arbeitsplätze zu schaffen, insbesondere im mittelständischen Bereich, und wir sollten diesen Unternehmern dabei helfen.
Herr Kollege Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Bitte.
Herr Kollege Louven, gestehen Sie mir zu, daß die Beispiele, die Sie eben vorgetragen haben, wenn sich das beweisen läßt, vor jedem Arbeitsgericht zur fristlosen Kündigung reichen und daß Sie deswegen nicht die Lohnfortzahlung insgesamt angreifen müssen?
Ich möchte Sie auch fragen: Halten Sie es für richtig, daß unsere jungen Polizeikollegen, die beispielsweise in Gorleben dafür sorgen, daß Recht und Ordnung durchgesetzt werden, und die dabei verletzt werden, oder ein Feuerwehrmann, der im Einsatz für die Gemeinschaft verletzt wird, hinterher mit 20 Prozent Lohnkürzung bestraft werden?
Halten Sie so etwas für gerecht? Sie treffen mit Ihrer Lohnkürzung doch nie die Blaumacher, die Sie angesprochen haben. Dafür gibt es heute schon genügend andere Möglichkeiten qua Betriebsvereinbarung, zum Beispiel die, daß man sofort einen „gelben Schein" vorlegen muß usw. Sie kennen das, und Sie wissen, daß man dagegen anders vorgehen kann. Aber mit der Globalisierung der Lohnkürzung treffen Sie diejenigen, die lange Zeit krank sind.
Können Sie mir in diesem Zusammenhang einmal sagen, wieviel Einnahmen die Bundesregierung durch diese Lohnkürzung haben wird, oder hat sie etwa Steuerausfälle, weil weniger Steuern gezahlt werden?
Herr Dreßen, darüber was in Gorleben geschehen ist, sollten Sie einmal mit der Landesregierung in Niedersachsen reden. Das, was die Politik dort den Polizisten zugemutet hat, war, gelinde gesagt, eine Schweinerei.
Zur Problematik selbst: Ich habe eben ausgeführt, daß von dieser Regelung in der Tat auch wirklich Kranke betroffen werden; ich habe aber auch gesagt, daß Sie bitte berücksichtigen mögen, daß ein Arbeitsloser nur 63 Prozent und nicht 80 Prozent oder 100 Prozent als Lohnersatzleistung bekommt.
Sie fragen: Was wird damit eingespart? Wir senken damit Lohnzusatzkosten für die Unternehmen. Es müßte doch ein gemeinsames Anliegen sein, zu niedrigeren Lohnzusatzkosten zu kommen.
Ich wende mich jetzt einem zweiten Reizwort zu, der Veränderung des Kündigungsschutzes.
Es besteht noch der Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Singer.
Im Moment nicht.
Heute morgen wurde davon gesprochen, unsere Regelung würde zum Heuern und Feuern führen.
Davon sprach, glaube ich, die Kollegin Fuchs. Frau Fuchs, Sie sollten sich einmal Gedanken darüber machen, warum insbesondere die kleinen Betriebe nicht mehr heuern. Sie heuern nicht, weil sie Angst haben, daß sie sich, wenn die Auftragslage nicht mehr gut ist, nicht mehr von einem Arbeitnehmer trennen können. Sie sollten anerkennen, daß gerade bei den kleinen Betrieben die Fluktuation am geringsten ist. Wir versprechen uns von dieser Maßnahme Arbeitsplätze. Heiner Geißler hat bereits auf die Stellungnahme des Zentralverbands des Deutschen Handwerks hingewiesen.
Unsere Nachbarn - Schweden, Finnland und die Niederlande - handeln schon längst. In Finnland gibt es eine Fünf-Parteien-Koalition mit Kommunisten und Grünen, an deren Spitze ein sozialdemokratischer Ministerpräsident steht. Sehen Sie einmal, wie dramatisch dort gespart wird und wie groß die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt sind. Die Arbeitslosigkeit ist schon um ein Drittel reduziert worden.
Julius Louven
Meine Damen und Herren, wenn Arbeitskosten nicht erwirtschaftet werden, dann bedeutet das für die Unternehmen, sie müssen rationalisieren, also Arbeitsplätze abbauen, ins Ausland verlagern oder auf das Ende warten. Sie haben heute in der Diskussion gesagt, daß sich verschiedene Betriebe „doll und dusselig" verdienen. Dazu muß ich Ihnen sagen: Ich bin froh, daß es Betriebe gibt, die verdienen, und daß es Betriebe gibt, die investieren.
Ich bedaure, daß wir im letzten Jahr 30 000 Pleiten in der Bundesrepublik hatten. Diese hatten wir nicht, weil die Betriebe zuviel verdient haben, sondern wahrscheinlich deshalb, weil sie am Kostendruck gescheitert sind.
Herr Schreiner sprach gerade davon, daß durch die Einschnitte Kaufkraft verlorengeht. Herr Schreiner, lesen Sie heute einmal den Artikel „Die Mär vom Kaputtsparen" in der „Süddeutschen Zeitung" . Deutlicher, als es dort dargestellt wird, kann man es eigentlich nicht mehr sagen.
Es gibt in Deutschland noch eine Menge Arbeit. Wir sollten einmal darüber nachdenken, wo der Arbeitsmarkt boomt - das müßte uns zu denken geben -: Er boomt bei der Schwarzarbeit, er boomt bei der illegalen Beschäftigung, und er boomt bei der Scheinselbständigkeit.
Ich habe gestern in der Ausschußsitzung gehört, daß unsere Maßnahmen im Bereich der Sozialhilfe dazu führen, daß Sozialhilfeempfänger eine entehrende Arbeit wahrnehmen müssen, die ihnen nicht zuzumuten ist. Ich habe früher gelernt: Arbeit schändet nicht. Dabei sollte es eigentlich auch bleiben.
Wir sollten über jeden froh sein, dem wir einen Arbeitsplatz verschaffen können. Darum sind wir bemüht.
Noch ein Satz zu den versicherungsfremden Leistungen: Herr Scharping, Sie sollten den Mund nicht so voll nehmen; denn auch Sie haben sich in dieser Frage nicht mit Ruhm bekleckert. Noch vor wenigen Monaten haben Sie ebenso wie meine Kollegen - ich mache niemandem einen Vorwurf - eine versicherungsfremde Leistung mit beschlossen. Aber Sie haben den Kollegen, die sich dagegen wehrten, diese Leistungen in die Rentenversicherung zu bringen, Rechtspopulismus vorgeworfen. Das taten Sie vor wenigen Wochen im Deutschen Bundestag.
Ich muß noch eine Frage, die für das Gesetzgebungsverfahren wichtig ist, ansprechen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, daß die derzeitige Beitragserhebung durch Einmalzahlungen nur noch bis zum Ende dieses Jahres zulässig ist, weil derzeit aus diesen Beitragszahlungen bei den sogenannten kurzfristigen Lohnersatzleistungen keine Gegenleistung erfolgt. Hier besteht nach unserer
Auffassung Handlungsbedarf. Wir können auf die Beitragseinnahmen aus den Einmalzahlungen - dazu gehört auch das Weihnachtsgeld - nicht verzichten. Deshalb überlegen wir, im Rahmen des vorliegenden Gesetzesvorhabens eine verfassungskonforme Lösung vorzuschlagen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Louven, ich wünschte Ihnen, daß Sie sich Ihre Gläubigkeit erhalten können.
Das Schlimmste, was mit dem sogenannten Sparpaket gegenwärtig angerichtet wird, ist, daß Sie die Menschen belügen, daß Sie sie darüber im unklaren lassen, was wirklich an sozialen Grausamkeiten auf sie zukommt. Wer in den letzten Tagen genau hingehört hat, der weiß, daß dem heute zur Debatte stehenden Gesetzespaket noch einige folgen werden, die nicht weniger drastisch in die Existenzgrundlagen derjenigen eingreifen, die schon heute jeden Pfennig umdrehen müssen.
Sie betreiben gezielte Desinformationen. Das führt zu Unsicherheit und zu Zukunftsängsten bei immer größeren Teilen der Bevölkerung, wofür Sie die Verantwortung tragen. Sie prangern die Besitzstände ausgerechnet derjenigen an, die ohnehin nichts besitzen, und Sie schanzen jenen Milliarden zu, die sich gegenwärtig vor allen Dingen auf ihrem Besitz ausruhen.
Sie sind stolz darauf, daß Sie mit den Sparpaketen der letzten Jahre die Sozialausgaben um zweistellige Milliardensummen reduziert haben, und es fällt Ihnen offenbar gar nicht mehr auf, daß diese Politik zu nichts anderem geführt hat, als die Massenarbeitslosigkeit zu verfestigen und die Armen immer ärmer zu machen. Es ist Ihnen dummerweise auch noch gelungen, ihnen selbst die Schuld für ihre Misere zuzuschieben. Die Opfer werden zu Tätern gestempelt, und ihnen wird nicht nur die Verantwortung, sondern es werden ihnen auch die Folgen der gegenwärtigen Krise aufgehalst.
Mit dem Eingriff in die Lohnfortzahlung, der Kürzung des Krankengeldes und der Beseitigung zentraler Bestandteile des Kündigungsschutzes greift diese Bundesregierung aber nicht mehr wie bisher nur in die Taschen der Arbeitslosen und Sozialhilfeberechtigten; nein, auch die abhängig Beschäftigten sollen um Milliardenbeträge geprellt und um lang erkämpfte Rechte gebracht werden.
Ist es Ihnen eigentlich nicht peinlich, daß Sie sich selbst von dem katholischen Sozialethiker Friedhelm Hengsbach sagen lassen müssen, daß es hier um einen Verteilungskampf geht, der von den Arbeitgebern und Kapitalinteressen diktiert wird, wozu diese sich der Staatsmacht bedienen?
Dr. Heidi Knake-Werner
In Ihrer Diensteifrigkeit haben Sie jedes Gespür für soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich verloren. Wie sonst läßt sich noch erklären, daß Sie den Familien die Kindergelderhöhung vorenthalten, den Sozialhilfeberechtigten die bitter notwendige Erhöhung der, Regelsätze verweigern, den Frauen, obwohl bereits mehrfach auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert, durch die Anhebung der Altersgrenzen nun auch noch längere Wartezeiten auf die Rente - darum wird es in Wahrheit gehen - bzw. Renteneinbußen verordnen. Die bei diesem Sozialraub eingesparten Milliarden geben Sie postwendend aus, um die Vermögenden bei Laune zu halten.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, nichts an Ihren Vorschlägen greift die wahren Ursachen der gegenwärtigen Krise auf, im Gegenteil. Es ist wohl schon ein einmaliger Vorgang in der Bundesrepublik, daß Gewerkschaften und Kirchen und die großen Wohlfahrtsverbände sich gemeinsam veranlaßt sahen, eine Sozialstaatscharta zu verabschieden, in der sie feststellen:
Die Krise des Sozialstaates ist Folge falscher politischer Weichenstellungen, die die Arbeitslosigkeit erhöhen, Armut vergrößern, Branchenkrisen und regionale Ungleichgewichte verschärfen und die Finanzprobleme des Sozialstaates zugespitzt haben.
Genau das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich will das mal an einem Beispiel verdeutlichen, an einem 50jährigen Arbeiter, der sich im Zangengriff der Minister Seehofer und Blüm befindet. Ihm kann folgendes blühen: Seine infolge eines langen Arbeitslebens verschlechterte gesundheitliche Konstitution kommt ihn teuer zu stehen. Eine achtwöchige Krankheit zum Beispiel führt bei einem Nettogehalt von 3 000 DM in den ersten sechs Wochen
zu Einkommenseinbußen von 900 DM und danach durch die Reduzierung des Krankengeldes noch einmal zu einem Verlust von 450 DM. Im Jahr braucht unser Arbeiter durchschnittlich 40 DM mehr für Medikamente und 20 DM mehr für ein Brillengestell. Die benötigte Kur wird ihm auf drei Wochen verkürzt; dafür wird sie für ihn um 189 DM teurer, und sechs Urlaubstage gehen dabei auch noch drauf. Das macht summa summarum etwa 6,5 Prozent Einkommensverlust im Jahr.
Wie sagte doch gleich der für so etwas zuständige Minister: „Wir leben in einer Süßigkeitendemokratie. Jeder will nur Bonbons; doch gerade die verursachen im Endeffekt Zuckerkrankheit" . Das Bild ist so falsch, wie der medizinische Zusammenhang fehlt, und ich finde es im übrigen ausgesprochen zynisch.
- Karies hat diese Gesellschaft auch; das haben wir schon festgestellt.
Zum Glück arbeitet unser Kollege noch in einem Betrieb, der nicht von Kündigungsschutzeinschnitten betroffen ist. Aber im Zuge von betriebsbedingten Kündigungsmaßnahmen verliert er schließlich doch seinen Arbeitsplatz. Sozialkriterien wie Lebensalter und Betriebszugehörigkeit gelten bei ihm nicht mehr, weil der Betrieb höhere Interessen zur Weiterbeschäftigung anderer anmeldet. Er bekommt eine ganz üppige Abfindung in Höhe von 20 000 DM; davon werden ihm 10 000 DM auf das Arbeitslosengeld angerechnet usw. Es endet damit, daß dieser Kollege im Alter mit seinem Einkommen beim Sozialhilfesatz angekommen ist - ein sozialer Absturz, wie er sich millionenfach wiederholen wird, wenn Sie mit Ihrer Politik durchkommen.
Weil die PDS dies alles nicht will, haben wir heute dem Gruselkatalog der Regierung unser Konzept für eine soziale Grundsicherung als Alternative entgegengestellt. Wir halten die soziale Grundsicherung für die angemessene Form, um auf die Krise der bestehenden Sozialsysteme zu reagieren. Wir halten die Grundsicherung auch für eine angemessene Form der Reaktion auf die Unfähigkeit dieser Regierung, unsere Arbeitsgesellschaft umzubauen und allen Menschen, die wollen und können, die Chance zu geben, ihre Existenz durch ihre eigene Arbeit zu sichern. Das klagen zwar auch Sie immer ein; aber Ihre Vorschläge sind kontraproduktiv.
Nur eine ausreichende materielle Sicherung für alle bietet nach unserer Auffassung die Grundlage für eine solidarisch organisierte Gesellschaft und den Erhalt der sozialen Demokratie. Mit der sozialen Grundsicherung entscheiden wir uns gegen diese Ellenbogengesellschaft und für eine Entwicklung, in der der Sozialstaat zum elementaren Bestandteil unserer Gesellschaft wird und nicht zur Restgröße der Wirtschaftspolitik verkommt.
Wir bedienen damit nicht eine gern zitierte Vollkaskomentalität, sondern das ist unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, von einer Gesellschaft, in der gesellschaftlicher Reichtum zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und zur Wiederherstellung sozialer Sicherheit umverteilt wird.
Danke schön.
Bevor ich der Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort erteile, möchte ich ihr im Namen des Hauses zum heutigen Geburtstag gratulieren.
Bitte schön, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das von der Koalition vorgelegte und heute debattierte Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung hat große politische Sprengkraft. Die Gesetze greifen in Rechte ein,
Dr. Gisela Babel
beschneiden Ansprüche, verändern die Lebensplanung von Männern und Frauen. Deswegen fällt es der Politik nicht leicht, diese Entscheidungen zu treffen, auch Sozialpolitikern nicht.
Mir kommt es darauf an, deutlich zu machen, worum es im Kern geht. Bei rapide wachsenden Arbeitslosenzahlen, bei rapide sinkenden Steuereinnahmen, bei immer ernsteren wirtschaftlichen Daten muß die Politik den Mut haben, auch unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.
Sie muß soziale Standards verändern; sie muß unternehmerischer Freiheit mehr Raum geben. Daher muß das Ziel im Auge behalten werden, daß es darum geht, Arbeitsplätze zu erhalten und die Voraussetzungen für die Entstehung neuer Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir als Gesetzgeber müssen bereit sein, den Part zu übernehmen, mit dem wir selbst dazu beitragen können, die gesetzlichen Lohnkosten zu senken. Nur dann haben wir das Recht, anzumahnen, daß die Tarifpartner ihren Part spielen: tarifliche Kosten niedrig zu halten und auch innerhalb eines Betriebes betriebliche Kosten zu senken. All dies muß zusammenkommen. Jeder muß für sich die Verantwortung übernehmen können.
Meine Damen und Herren, die andere Seite, die Opposition - Sie unterscheiden sich eigentlich in den Tonarten kaum -, sieht dieses Programm als ein „Ende des deutschen Sozialstaates" . Die Gewerkschaften haben nun wirklich mit großen Worten nicht gespart. Sie reden von einem „Marsch in eine andere Republik" , von der „Systemüberwindung", der Sozialstaat werde „im Schnellverfahren mit der Abrißbirne beseitigt".
Wer so etwas sagt, meine Damen und Herren, der verkennt die Zeichen der Zeit. Wahr ist doch, daß Deutschland über seine Verhältnisse lebt. Unsere Ausgaben sind seit längerem höher als die Einnahmen. Wahr ist auch, daß Deutschland mit den jetzt vorgesehenen Maßnahmen im europäischen Vergleich spät dran ist.
Die von uns vorgesehenen Maßnahmen beschneiden soziale Leistungen weit weniger, als es unsere Nachbarn tun. Tatsache ist auch, daß der deutsche Sozialstaat selbst nach Inkrafttreten aller unserer Gesetze immer noch eines der bestausgebauten Sozialsysteme der Welt hat.
Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu abenteuerlich an, wenn die Opposition sagt, es breche in Deutschland eine „soziale Endzeit" an.
Die Bundesregierung und die Koalition haben Mut bewiesen und den richtigen Weg eingeschlagen. Als führende Industrienation muß Deutschland sich gegenüber internationaler Konkurrenz behaupten können. Anpassungsbereitschaft ist Voraussetzung, und das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist der Test für diese Anpassungsbereitschaft. Wir wollen die Nagelprobe bestehen, in einer Gesellschaft mit demokratischen und parlamentarischen Spielregeln diese Veränderungen durchzuführen.
Meine Damen und Herren, es ist doch an der Zeit, einmal die Augen zu öffnen und sich über das Maß an Versorgung und Absicherung bei uns klarzuwerden. Vielen Menschen ist ja gar nicht bewußt, wie hoch die Standards in den letzten Jahren geschraubt wurden. Wo gibt es denn das sonst noch, daß neben einem durchschnittlichen Jahresurlaub von sechs Wochen alle drei Jahre eine Kur von vier Wochen angetreten werden kann und daß innerhalb dieser Zeit immer noch Ansprüche auf Urlaub entstehen können? Wo gibt es denn sonst noch eine Absicherung wie im öffentlichen Dienst, wo nicht nur sechs Wochen lang eine 100prozentige Lohnabsicherung im Krankheitsfall gezahlt wird, sondern auch anschließend 26 Wochen lang das Krankengeld auf 100 Prozent aufgestockt wird? Wo gibt es das noch? Oder daß man bei Krankheit auf Grund von vorher geleisteten Überstunden mehr verdient, als arbeitete man ohne Überstunden? Und auch, daß das Erreichen der Altersgrenze - das ganze System ist auf 65 Jahre hin konstruiert - zu einer exotischen Ausnahme geraten und die Regel geworden ist, daß man die Rente sehr viel früher bekommt?
All dies sind Tatsachen, die das soziale Netz überbeanspruchen. Wenn wir nicht handeln, reißt dieses Netz. Wir müssen sehen, daß wir es eben durch die Maßnahmen, die wir hier durchführen, erhalten können.
Meine Damen und Herren, die Koalition will nun die gerade zum Symbolthema hochgehobene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verändern - ein Vorschlag, für den mein Kollege Louven und ich noch vor Monaten allgemein verdammt wurden. Wir sehen also schon eine gewisse wachsende Akzeptanz von Vorschlägen, die man vielleicht gestern und vorgestern noch nicht einmal zu äußern gewagt hätte.
Die Lohnfortzahlung ist eine Lohnersatzleistung, und der Abstand vom gezahlten Lohn für geleistete Arbeit ist sozial gerechtfertigt. Es ist ja ein durchgängiges Prinzip im deutschen Sozialstaat;. nur hier ist es nicht durchgehalten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß das Ganze doppelt genäht ist. Es gibt die gesetzliche und die tarifliche Lohnfortzahlung. Die gesetzliche Lohnfortzahlung wollen wir ändern. Aber was wir nicht ändern, ist die Freiheit der Tarifpartner, darüber noch einmal in eigenen Entscheidungen zu befinden.
Meine Damen und Herren, hier dann auch schon von einem Anschlag auf den Sozialstaat zu reden, ist meiner Ansicht nach abartig. Sie müßten damit Schweden verdammen, das dies als sozialpolitisch sehr engagiertes Land ja auch ertragen hat.
Dr. Gisela Babel
Sind denn nun die Skandinavier so viel härtere Männer und Frauen, daß sie das ertragen, als wir Deutschen, die das als absolut unverzichtbar ansehen, wie es die Gewerkschaften darstellen? Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist unakzeptabel, wie wir über dieses Thema reden.
Noch ein Wort zur Frage des Eingriffs in bestehende Tarifverträge. Heute stellt sich ja diese Frage nach den Grenzen der Tarifautonomie nicht. Aber ich möchte doch schon einmal fragen: Wie lange können wir als Gesetzgeber eigentlich ertragen, daß Tarifpartner unvernünftig handeln, daß Arbeitgeber - -
- Ich wußte, daß Sie jetzt aufwachen würden. - Ich frage mich: Was ist denn, wenn die Arbeitgeber auf tarifvertragliche Durchsetzung einer abgesenkten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verzichten,
gleichzeitig hohe Lohnzusatzkosten beklagen und Arbeitsplätze ins Ausland verlagern oder die Gewerkschaften weiter auf Forderungen beharren, die den Abbau von Arbeitsplätzen nach sich ziehen? Soll der Gesetzgeber für immer gezwungen sein, dies alles unter Hinweis auf die in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes garantierte Tarifautonomie hinzunehmen? Gewährleistet Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes einen gesetzesfreien Raum, in dem Tarifpartner sich ohne Rücksicht auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge bewegen können und - das sage ich als Liberale - die Freiheitsrechte von 4 Millionen Arbeitslosen überhaupt nicht berücksichtigen?
Ich habe die Hoffnung - es wird wieder versöhnlicher -, daß bei allem Säbelrasseln auf beiden Seiten der Grundkonsens über die Notwendigkeit des Umbaus des Sozialstaats gelingt. Ich hoffe, daß die notwendigen Maßnahmen ohne große Konfrontation auch durchgeführt werden können. Ich will aber sagen: Als Gesetzgeber können wir die Verantwortung nicht völlig und ohne Rücksicht auf Tarifpartner übertragen, wenn sie keine Rücksicht auf die Arbeitslosenzahlen nehmen, die wir heute zu bewältigen haben.
Meine Damen und Herren, zum Thema Kündigungsschutz will ich dem, was schon gesagt wurde, nur eines hinzufügen. Es wird immer zuwenig beachtet, daß sich Schutzrechte leicht gegen die Geschützten wenden. Wenn man keinem kündigen kann oder dies nur unter großen Schwierigkeiten und mit ho-
hen Abfindungen tun kann, dann stellt der Arbeitgeber eben keinen ein.
Er bezahlt eher 25 Prozent Zuschlag für Überstunden, was auf den ersten und zweiten Blick ökonomisch widersinnig ist. Hier sind den Unternehmen Fesseln auferlegt, die wir vorsichtig und nur eingeschränkt beseitigen wollen, immer mit dem Motiv, daß gerade in den kleinen Betrieben die Beschäftigung steigen soll.
Die Schwellenwerte bei Teilzeitbeschäftigten wollen wir so verändern, daß eine Teilzeitbeschäftigung einen Anreiz gibt und nicht in die Schwellenwerte hineingerechnet wird. Ich kündige im Bereich des Arbeitsrechts weitere Regelungen an, nämlich zur Höhe von Abfindungen im Kündigungsfall, neu gesetzte Fristen bei der Ausübung von Mitbestimmungsrechten, die Erstellung von Sozialplänen sowie eine Veränderung des § 613a BGB bei Insolvenzfällen.
Nun zur Rentenversicherung. Herr Kollege Dreßler, ich habe Sie schon früher in vielen erbitterten Auseinandersetzungen erlebt. Ich habe Sie immer als jemand erlebt, der seiner Rolle, der sozialpolitische Einpeitscher seiner Fraktion zu sein, sehr gut gerecht geworden ist. Aber ich habe auch erlebt, daß bei all Ihrer Energie und Ihren Bemühungen nachher die Ergebnisse - in Ihren Augen leider - doch so waren, daß Sie nicht mehr so ganz ungerupft dastanden. Das hat Sie damals ziemlich betrübt. Ich erinnere an das Thema Pflegeversicherung, bei dem wir auch nicht so happy waren.
Aber was Sie heute gesagt haben, Herr Kollege Dreßler, halte ich doch für ein bißchen leichtfertig. Sie haben gesagt, Sie wollten sich an dem großen Thema, wie wir die Rente für die nächsten 30, 40 Jahre zukunftsfähig machen wollen und wie die schon jetzt erkennbaren großen Probleme in der Rentenversicherung anzugehen sind, nicht beteiligen. Die demographische Entwicklung, die wir für das Jahr 2030 schon fest im Blick haben, wurde durch die Arbeitsmarktzahlen überholt. Sie sagen, die SPD wird da nicht mitmachen. Ich finde, Sie sollten das vorsichtiger formulieren. Ich würde noch verstehen, wenn Sie es konditionierten. Aber daß Sie es ganz ablehnen und sich aus einem solchen Sozialwerk ausklinken, macht mir fast Sorge um die Zukunft einer großen Volkspartei.
Selbst die Grünen, die nun wirklich nicht in den Verdacht geraten, mit uns besonders übereinzustimmen, haben begriffen, daß sie in einer solchen Kommission natürlich mitarbeiten müssen. Wollen Sie sie als Advokaten für linke Politik darin haben, und Sie sit-
Dr. Gisela Babel
zen draußen und machen Ihre Presseerklärungen? Ich kann mir das nicht vorstellen.
Ich komme noch auf einen Punkt zu sprechen. Frauen und Männer werden natürlich durch die Rentenmaßnahmen in konkreten Lebensplanungen getroffen. Es ist auch nicht einfach für jemanden einzusehen, daß vor ihm so viele mit 60 mit einer Rente ausgerüstet werden, als wären sie 63, und er selbst jetzt in diese Maßnahme hineinkommt. Deswegen bin ich schon der Meinung, daß wir bei diesen Maßnahmen in der Tat auch in Lebensplanung eingreifen.
Ich möchte nur zu den Frauen noch einen Satz sagen: So richtig die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Arbeits- und im Rentenrecht ist, so denke ich doch, daß wir den Auftrag des Verfassungsgerichts, Kindererziehungsleistungen, die ja in der Regel von Frauen erbracht werden, mehr und besser zu berücksichtigen, nicht beiseite schieben sollten.
Wir werden also bei den Beratungen dies sicher noch einmal überlegen müssen.
Meine Damen und Herren! Bei aller globalen und ins einzelne gehenden Kritik der Opposition und der Öffentlichkeit: Offenen Applaus für dieses Programm können wir sicher nicht erwarten, aber eine gewisse knirschende Anerkennung schon, dafür nämlich, daß wir den Mut zu diesen tiefgreifenden Veränderungen gefunden haben.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Mascher.
Frau Dr. Babel, als erstes möchte ich Ihnen ganz herzlich zu Ihrem Geburtstag gratulieren.
Es ist bedauerlich, daß, falls Sie Rentenbezieherin wären, Sie jetzt länger arbeiten müßten, denn Sie gehören zu den betroffenen Jahrgängen. Aber vielleicht haben Sie das noch nicht realisiert.
Ein Zweites: Glauben Sie wirklich, Frau Dr. Babel, daß es eine Einladung zur Mitarbeit in einer Kommission ist, wenn der zuständige Arbeitsminister und designierte Kommissionsvorsitzende sagt, daß alles das, was heute auf den Tisch gelegt wird, nicht verhandelbar ist? Ich halte das nicht für einen guten Einstieg,
und ich bin froh, daß meine Fraktion ganz eindeutig gesagt hat: So kann man nicht zusammenarbeiten.
Ein Drittes möchte ich Ihnen heute auch noch sagen. Ich habe mich schon sehr gewundert, daß Sie als Sprecherin einer Partei, die zumindest früher einmal für sich in Anspruch genommen hat, die Verfassungspartei zu sein, die Tarifautonomie so schlankweg hier einfach zur Disposition stellen.
Frau Dr. Babel, ich war zehn Jahre Betriebsratsvorsitzende, ich war Mitglied einer Tarifkommission, und ich würde Ihnen ganz kollegial raten: Begeben Sie sich doch nicht auf ein Eis, von dem Sie - ich werfe Ihnen das gar nicht vor - nicht so furchtbar viel verstehen. Was Sie hier heute zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, zur Streichung von Urlaub als Ersatz für die Kürzung bei der Lohnfortzahlung gesagt haben, das zeigt, daß Sie nie kapiert haben, daß Urlaub immer entgangener Lohn war. Wenn über Urlaubsverlängerung verhandelt worden ist, ist das immer voll in die Lohnforderung eingerechnet worden.
Wenn Sie heute verlangen, daß ein Urlaubstag hergegeben wird, dann verlangen Sie einen Verzicht auf Dinge, auf die sich die Tarifpartner in den Tarifverhandlungen geeinigt haben. Sie können nicht erwarten, daß wir dem zustimmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Herr Hinsken, bitte.
Verehrte Frau Kollegin Mascher, was Lohnfortzahlung anbelangt, hätte ich natürlich gern Ihre Alternativvorschläge gehört. Es muß doch zu denken geben, wenn Spitzenmanager der Weltwirtschaft, die zum Teil auch Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland haben und in den letzten Jahren Arbeitsplätze von hier in andere Länder verlagern mußten, darauf verweisen, daß dies gerade ein Wettbewerbsnachteil ist, insbesondere weil die Krankheitsquote in England nur halb so groß und in Italien nur ein Drittel so groß ist wie die in der Bundesrepublik Deutschland bei gleicher Arbeitplatzgestaltung und gleicher Produktion. Da ist doch irgend etwas faul. Sehen Sie hier Korrekturbedarf und, wenn ja, wie?
Herr Hinsken, ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal die Statistiken in Deutschland anzusehen. Dann erkennen Sie nämlich, daß über 44 Prozent der Krankheitstage auf nur 3 Prozent der Fälle entfallen; das sind nämlich alle die, die länger als sechs Wochen krank sind. Und Sie sehen, daß auf den Zeitraum von ein bis drei Krankheitstagen nur ein verschwindender Teil, nämlich nur 3 Prozent, der Kosten für die Lohnfortzahlung im
Ulrike Mascher
Krankheitsfall entfällt. Ich würde Ihnen raten - das ist die Vorgehensweise der SPD -, da anzusetzen, wo die meisten Kosten entstehen, nämlich bei den langfristigen, bei den chronischen Erkrankungen, bei den Erkrankungen, die die vielen Krankheitstage verursachen. Da müssen wir ansetzen und nicht bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ich rate Ihnen sehr, sich das einmal intensiv anzusehen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Hinsken, wir sollten meines Erachtens darüber im Ausschuß diskutieren. Wir reden offensichtlich von verschiedenen Statistiken.
So ist es. Frau Kollegin Mascher, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ich schätze Sie persönlich sehr und hätte gedacht, Sie würden mir eine Antwort auf meine Frage geben.
Deshalb möchte ich es noch einmal kurz auf einen Nenner bringen, wenn es, Frau Präsidentin, gestattet ist.
Nein, die Zwischenfrage kann nicht ich gestatten, sondern die Rednerin. Jetzt frage ich Sie, Frau Mascher: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Hinsken, ich glaube, ich habe Ihnen beantwortet, wo die SPD den Ansatzpunkt sieht.
Die hohen Kosten, die durch Krankheiten entstehen, müssen durch die Bekämpfung der großen Volkskrankheiten gesenkt werden - das ist der große Block der Kosten - und nicht durch die Kürzung der Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall. Das ist unsere Antwort.
Wenn man sich den Gesetzentwurf, der heute zur Debatte steht, ansieht, findet man eine Formulierung, die einen in ihren bürokratischen Anmutungen erschrecken läßt. In der Begründung des Gesetzentwurfes, in dessen Titel die Bundesregierung dreist behauptet, es sei ein Gesetz zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum, heißt es, um „Ausweichreaktionen" zu vermeiden, sei es erforderlich, die Altersgrenze für Frauen anzuheben.
Ist Ihnen, Herr Arbeitsminister, und Ihnen allen, meinen Herren Abgeordneten von CDU/CSU und F.D.P., eigentlich bewußt, mit welch kalter Brutalität Sie die Lebensplanung von Tausenden von Frauen zerstören? Um „Ausweichreaktionen" zu vermeiden, zerstören Sie das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Rentenrechtes.
Sie scheuen wieder einmal nicht davor zurück, ein ganz eindeutiges Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu mißachten. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich 1992 entschieden, daß der Gesetzgeber - also Sie, meine Herren - verpflichtet ist, bei jedem weiteren Reformschritt in der Rentenversicherung Zeiten der Kindererziehung besser als bisher zu berücksichtigen. Die Benachteiligung von Frauen, die Kinder erzogen haben, muß sich bei jedem weiteren Reformschritt - sagt das Verfassungsgericht - auch nachvollziehen lassen.
Da geht es um Gerechtigkeit, Herr Geißler. Sie können natürlich jetzt sagen: Das Gesetz, das Sie vorlegen, ist überhaupt kein Reformgesetz - da würde ich Ihnen zustimmen -, und deswegen ist eine Verbesserung der Situation der Frauen nicht notwendig. Ich hoffe, daß Sie so zynisch nicht sein werden.
Nichts davon, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, ist im jetzigen Gesetzentwurf enthalten. Wurde das einfach vergessen, oder ist das zu teuer? Oder sollen auch hier „Ausweichreaktionen" vermieden werden?
Ich frage die Familienministerin, die dankenswerterweise jetzt hier ist, ich frage die Vorsitzende der Frauen-Union: Frau Professor Süssmuth: Wo sind die konkreten Vorschläge, für die Frauen, um den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen? Oder sind Sie, verehrte Kolleginnen von der Union oder der F.D.P. - soweit Sie hier sind -, auch der Meinung, daß hier notwendigerweise, wenn auch mit leisem Bedauern, Vorteile von Frauen abgebaut werden müssen, weil in Zeiten knapper Kassen ein sozialer Ausgleich wie die Berücksichtigung der Doppelbelastungen von Frauen oder die frauentypischen Benachteiligungen im Beruf, wie zum Beispiel die schlechtere Bezahlung und geringere Aufstiegschancen, nicht mehr zu finanzieren sind?
Haben Sie vergessen, daß das Bundesverfassungsgericht 1987 in einem Urteil noch einmal bekräftigt hat, daß die Rentenaltersgrenze von 60 Jahren für Frauen durch die nach wie vor existierende tatsächliche Benachteiligung der Frauen im Beruf notwendig und gerechtfertigt ist? Oder wollen Sie etwa behaupten, daß sich die Situation der Frauen seit 1986 verbessert hat?
Die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit von Frauen spricht dagegen. Der große Unterschied bei der Rente von Frauen und Männern zeigt deutlich: Die durchschnittliche Rente der Frauen beträgt in der alten Bundesrepublik 773 DM, die der Männer immerhin 1 847 DM. Daran sieht man die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben.
Weil Frauen für eine Altersrente mit 60 Jahren mindestens 15 Pflichtjahre gearbeitet haben müssen - es ist kein Geschenk, das ihnen gemacht wird -, werden durch die drastische Heraufsetzung dieser Altersgrenze 60 Jahre ausgerechnet die Frauen getroffen, die lange Jahre Beiträge in die Rentenkasse
Ulrike Mascher
gezahlt haben. Zu Recht fühlen sich diese Frauen von dem Kahlschlag der Bundesregierung besonders ausgeplündert.
Deshalb versucht der Arbeitsminister ja auch, die SPD mitverantwortlich für seinen Raubzug bei den Frauenrenten zu machen. Eigentlich sei es doch nur eine Verschiebung um vier Jahre, meint er treuherzig. Herr Blüm, warum verschweigen Sie denn dabei, daß 1989 eine lange Übergangsregelung geplant war? Erst im Jahre 2001, also zwölf Jahre nach dem Beschluß, sollte mit der Anhebung begonnen werden; nach weiteren elf Jahren erst sollte die Regelaltersgrenze 65 erreicht werden. Also sollte es insgesamt 23 Jahre dauern, bis die 1989 beschlossene Anhebung voll wirksam geworden wäre. Jetzt heißt es: Beschluß 1996, Beginn 1997, Ende 2001; also ruck, zuck; in fünf Jahren ist die ganze Operation vorbei. Lebensplanung, Vertrauensschutz? - Die Zeiten sind hart; es geht um den Standort Deutschland. Da bleiben die Frauen auf der Strecke.
Ich höre sicherlich von Ihnen: Es gibt doch einen Vertrauensschutz für arbeitslose Frauen, genauso wie für arbeitslose Männer. Bemerkenswerterweise hält Herr Professor Ruland vom VDR diese Einschränkung des 1989 beschlossenen Vertrauensschutzes bei der Altersrente für Frauen nur auf arbeitslose Frauen, die älter als 55 Jahre sind, für verfassungsrechtlich bedenklich; ja, er hat sogar erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Ich meine, Herr Arbeitsminister, Ihnen sind diese erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken bekannt. Offenbar sind sie für Sie unbeachtlich. Aber möglicherweise werden Sie sich damit vor dem Bundesverfassungsgericht auseinandersetzen müssen.
Es geht - so lautet die Überschrift des Gesetzes - um Wachstum und Beschäftigung. Können Sie, Herr Arbeitsminister, mir und allen Frauen in der Bundesrepublik erklären, welche Chancen junge Frauen haben, einen Erwerbsarbeitsplatz zu bekommen, wenn die 380 000 Frauen, die in den letzten beiden Jahren mit 60 Jahren in Rente gegangen sind, zwei, drei oder fünf Jahre weiterarbeiten müßten?
Können Sie erklären, welchen Sinn eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit hat, wenn 1,8 Millionen Frauen als arbeitslos gemeldet sind? Welche positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt können denn die Frauen in Ostdeutschland von einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit erwarten, wenn da die Arbeitslosigkeit bei Frauen heute schon bei 56 Prozent liegt?
Warum legt die Bundesregierung den im Rentenreformgesetz 1992 geforderten Bericht über die Auswirkungen der Heraufsetzung der Altersgrenzen auf
den Arbeitsmarkt nicht vor der Beschlußfassung über Ihren Gesetzentwurf vor?
Fürchten Sie etwa, daß dann Ihre Behauptung, durch die Anhebung der Altersgrenze würden Arbeitsplätze geschaffen, wie eine Seifenblase zerplatzt?
Oder geht es in Wahrheit nur um eine ganz schnöde Rentenkürzung bei den Frauen?
Wollen Sie einfach erreichen, daß die Frauen, weil sie ihre Lebensplanung nicht mehr ändern können, die sie im Vertrauen auf die mit großer Mehrheit beschlossene Rentengesetzgebung gemacht haben, weiterhin mit 60 ihre Rente beantragen und dann die entsprechenden Kürzungen hinnehmen müssen: für jedes Jahr 3,6 Prozent, nach drei Jahren 10,8 Prozent, nach fünf Jahren 18 Prozent? 18 Prozent Kürzung bei einer durchschnittlichen Frauenrente von 773 DM: Alle diese Frauen landen beim Sozialamt. Aber das ist dann wohl ihr persönliches Risiko; Pech gehabt, wenn sie, wegen ihrer Doppelbelastung nach einem langen Arbeitsleben erschöpft, gehofft haben, noch einigermaßen gesund in Rente zu gehen. Falsch gehofft! Die Rentenfalle der Bundesregierung schnappt zu, und alle Frauen, die 1937, 1938, 1939, 1940 usw. geboren sind, sitzen in dieser Falle.
Dabei waren wir im Bundestag schon einmal weiter. Im Juni 1991 haben alle Fraktionen und Gruppen, CDU/CSU, F.D.P., SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die PDS, einstimmig beschlossen, daß wir bis 1996, also bis zu diesem Jahr, eine Reform der Alterssicherung der Frauen anpacken wollen, die drei Punkte berücksichtigen sollte: eine Verbesserung der Anerkennung der Zeiten der Kindererziehung, vor allem für die Frauen, die gleichzeitig erwerbstätig waren - Frau Dr. Babel, Sie wollten das schon in der letzten Legislaturperiode realisieren -,
einen Ausbau eigenständiger Rentenansprüche von Frauen und einen Beitrag zur Lösung des Problems der Altersarmut von Frauen.
Aber was legen die Bundesregierung und die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. heute vor: die Verlängerung der Lebensarbeitszeit von Frauen, die drohende Kürzung der ohnehin niedrigen Renten, wenn Frauen ihre Rente vor der Regelaltersgrenze beantragen, die Kürzung der Anrechnung von Ausbildungszeiten, . die gerade für die Generation von Frauen, die in einem großen Aufholprozeß endlich qualifizierte und längere Ausbildungen für sich durchgesetzt haben, besonders schmerzlich ist - für sie kann dies ein Minus von 300 DM bedeuten -, eine niedrigere Bewertung der Ausbildungsjahre - eine weitere Schmälerung der ohnehin niedrigen Frauenrenten -, eine Verschlechterung des Kündigungsschutzes in kleinen Betrieben - hier sind vor allen
Ulrike Mascher
Dingen Frauen beschäftigt - und die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder den Verzicht auf einen Urlaubstag - für alleinerziehende Mütter, Frau Dr. Babel, ein ganz besonderes Geschenk!
Diese Liste der besonderen Belastungen für Frauen ließe sich weiter fortführen.
Die Bundestagspräsidentin, die Ministerinnen und die Staatssekretärinnen sind, soweit sie hier noch anwesend sind, nicht nur aufgerufen, mit den Frauen in der Union zu diskutieren und nachzudenken, wie es Frau Süssmuth heute morgen im Fernsehen angekündigt hat, sondern auch, dafür Sorge zu tragen, daß die großen Hoffnungen und Erwartungen, die viele Frauen in Deutschland gerade nach den Ankündigungen von Frau Professor Süssmuth hegen, nicht zerstört werden.
Es geht nicht nur um die Sympathiewerte für die Bundestagspräsidentin. Es geht um das Vertrauen in unseren Sozialstaat und um die Hoffnung, daß Frauen in der Politik fähig sind, beherzt und couragiert, mit Blick auf die reale Lebenssituation der Frauen, für die wir alle einmal in den Bundestag gegangen sind, auch in einer schwierigen Situation - ich bin mir durchaus bewußt, was ich von den Frauen der Union verlange - nein zu sagen zur Kahlschlagoperation der Bundesregierung gegen die Frauen.
Ich hoffe, die Frauen werden in ihren Erwartungen und Hoffnungen nicht enttäuscht.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Vogt.
Frau Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Abgeordnete Rudolf Dreßler hat sich heute morgen selbst erniedrigt und mir die Ehre gegeben, zitiert zu werden. Lieber Herr Kollege Dreßler, daß Ihnen die CDA weh tut, weiß ich. Mit diesem Schmerz werden Sie weiter leben müssen.
Der Herr Abgeordnete Rudolf Scharping hat sich um die CDU/CSU als Volkspartei Sorgen gemacht. Herr Ex-Parteichef der Sozialdemokraten, in Baden-Württemberg sind Sie gerade noch auf 25,1 Prozent der Stimmen gekommen. Achten Sie darauf, daß Sie nicht von den Grünen überholt werden!
Meine Damen und Herren, der Kollege Schreiner
hat in bezug auf die Sozialhilfe ein Faß aufgemacht, dabei aber vergessen, sich sachkundig zu machen, was gestern im Vermittlungsausschuß beschlossen worden ist. Die SPD-Länder, die SPD-Bundestagsfraktion - Frau Kollegin Schmidt ist noch da; Frau Kollegin Fuchs war da - und der Vertreter der Bündnisgrünen haben gestern im Vermittlungsausschuß beschlossen, daß die Regelsätze der Sozialhilfe von 1996 bis 1998 entsprechend der Rentenentwicklung erhöht werden. Sie haben weiterhin mit beschlossen, daß die Regelsätze zum 1. Juli 1998 höchstens um 2 Prozent angehoben werden.
Herr Kollege Schreiner, genau das waren die Punkte, gegen die Sie polemisiert haben. Sie haben damit gegen Ihre Fraktion polemisiert. Sie haben völlig übersehen, daß die SPD gestern im Vermittlungsausschuß beschlossen hat, daß die Regelsätze ab 1999 nicht mehr nach dem Warenkorb bemessen werden, sondern das Verbraucherverhalten, die Nettoeinkommensentwicklung und die Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen sind. Bevor Sie hier Fässer aufmachen, sollten Sie sich erst einmal sachkundig machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe sehr sorgfältig zugehört, was die Herren Abgeordneten Dreßler und Scharping heute gesagt haben.
Ich habe festgestellt, daß die Arbeitslosen als eine praktische Herausforderung bei Ihnen nicht vorgekommen sind. Sie instrumentalisieren die Arbeitslosen zum Zwecke der Polemik gegen unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung. Nichts anderes machen Sie.
Ich weiß um die Bedeutung der Lohnfortzahlung. Wir haben das Problem - Norbert Blüm hat darauf hingewiesen -, daß die Arbeiter mit den Angestellten gleichgestellt werden sollten. Ich weiß um den Wert des Kündigungsschutzes. Da brauchen Sie mich nicht zu belehren. Aber die Arbeitslosen haben weder etwas von der Lohnfortzahlung noch vom Kündigungsschutz. Sie brauchen Arbeitsplätze. Dieser Aufgabe stellen wir uns, und Sie stehen mit leeren Händen da. Sie führen diese chaotische Sozialstaatsdebatte weiter, die nur den Zweck hat zu verunsichern.
Man wird darüber streiten, aber unser Maßnahmenbündel steht unter dem Leitgedanken: im Zweifel für die Arbeitslosen. Das ist durchaus im Geiste von Oswald von Nell-Breuning. „Im Zweifel für die Arbeitslosen" verlangt auch, daß wir ein Risiko eingehen. Wer hier handeln will, ohne ein Risiko einzugehen, der wird nichts bewegen. Er wird weiter auf der Stelle treten, auf der wir heute schon stehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns die Entscheidung über das Maßnahmenbündel zu mehr Wachstum und Beschäftigung nicht leichtgemacht. Angesichts der existentiellen Fragen, um die
Wolfgang Vogt
es hier geht, könnte sicher auch niemand mehr in den Spiegel schauen, wenn er es sich leichtgemacht hätte.
Die Konflikte sind nicht ausgestanden; Frau Kollegin Babel hat das deutlich gemacht. Ich weiche auch hier kritischen Fragen nicht aus. Ich kann aus Zeitgründen nur eine ansprechen: Die geplanten Änderungen beim Kündigungsschutz sind aus meiner Sicht ein kritischer Punkt. Sie gründen auf dem Prinzip Hoffnung, der Hoffnung, daß den Arbeitslosen der Weg in ein Arbeitsverhältnis eröffnet wird.
Ich habe meine Bedenken, meine Vorbehalte gegen diese Änderungen nicht verheimlicht. Aber gerade weil ich die Vorbehalte gegen die Heraufsetzung des Schwellenwertes, ab dem das Kündigungsschutzgesetz greift, habe, darf ich die Erfahrungen mit dem Instrument der befristeten Arbeitsverhältnisse, das 1985 mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz eingeführt wurde, nicht in den. Wind schlagen. Auch damals wurde befürchtet - Herr Kollege Dreßler, Sie haben damals die gleiche Rede gehalten wie heute -,
daß das zum Heuern und Feuern führen würde.
Um Mißbräuche, die nicht auszuschließen waren, zu vermeiden, haben wir uns damals dem Zwang einer Erfolgskontrolle unterworfen: Die Maßnahme wurde zeitlich befristet; zugleich wurde die Bundesregierung verpflichtet, von einem unabhängigen Institut untersuchen zu lassen, wie die Arbeitgeber mit dem befristeten Arbeitsvertrag umgehen.
Die Ergebnisse der Untersuchungen liegen vor. Sie besagen: Der befristete Arbeitsvertrag war für viele hunderttausend Arbeitnehmer die Brücke in ein festes Beschäftigungsverhältnis.
In aller Regel sind die Arbeitgeber mit diesem Instrument verantwortungsbewußt umgegangen.
Ich meine, wir sollten bei der Änderung des Kündigungsschutzgesetzes so verfahren wie 1985 mit dem Instrument des befristeten Arbeitsvertrages. Erfolgskontrolle tut not. Sie liegt im Interesse der Arbeitslosen wie der Arbeitsplatzbesitzer.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen mehr Beschäftigung. Der Staat schafft das nicht allein. Die Tarifpartner tragen eine eigenständige Verantwortung. Sie bestimmen weitgehend die Arbeitsbedingungen. Bei all dem Getöse dieser Tage und auch hier im Hause will ich heute ein Wort der Anerkennung an die Adresse der Tarifpartner für die Tarifabschlüsse des Jahres 1996 sagen. Sie sind verantwortungsbewußt und beschäftigungsfördernd.
Diese Tarifabschlüsse beweisen aus meiner Sicht zweierlei: Erstens. Der Flächentarifvertrag bietet vielfältige Chancen zur Flexibilisierung. Mit Phantasie und Willen läßt sich viel bewirken. Nur Ideologen werden nichts bewegen.
Zweitens. Nur starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände sind Garanten für beschäftigungsfördernde, den sozialen Frieden sichernde Tarifabschlüsse.
Aber zugleich beobachte ich mit Sorge die Konflikte zwischen den Spitzenverbänden der Wirtschaft und innerhalb der BDA. Ich appelliere an sie, sich nicht vom Konflikt bei Gesamtmetall anstecken zu lassen. Ich appelliere an die Spitzenvertreter der Wirtschaft, die chaotische Sozialstaatsdebatte einzustellen. Ich versage mir heute, harte Worte an die Adresse einzelner Spitzenfunktionäre der Wirtschaft zu richten, allerdings - aus aktuellem Anlaß - mit einer Ausnahme. In der Sendung „Bonn direkt" am vergangenen Sonntag verstieg sich der Präsident des BDI, Hans-Olaf Henkel, zu einer Bemerkung über Norbert Blüm - ich zitiere -:
Im Augenblick lernt er ja, daß wir in der Tat nicht beides können, bei den Sozialsystemen immer draufpacken und dann gleichzeitig viele Arbeitsplätze zu schaffen, die wir ja brauchen. Er ist nun mal jahrelang Minister für Soziales und für Arbeit gewesen, und ich glaube, er war wohl mehr beim Sozialen beschäftigt und viel zuwenig damit, die Grundlagen für neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Soviel Falsches - ich könnte auch ein anderes Wort benutzen - in drei Sätzen habe ich selten gehört.
Deshalb habe ich jetzt eine Bitte an Graf Lambsdorff - vielleicht kann sie von Herrn Westerwelle weitergeleitet werden -, Wirtschaftsminister im Kabinett Helmut Schmidt und Wirtschaftsminister im Kabinett Helmut Kohl. Ich habe die Bitte, daß er Hans-Olaf Henkel darüber aufklärt, daß die Sozialleistungsquote von 33 Prozent zur Zeit der Wende, also 1982, auf 29,5 Prozent im Jahre 1990 gesunken ist. Diese Entwicklung, die zur Leistungsbilanz dieses Arbeitsministers gehört, hat dazu beigetragen, daß in der zweiten Hälfte der 80er Jahre knapp 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden sind.
Hans-Olaf Henkel sollte das endlich zur Kenntnis nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich empfehle Ihnen, auch das nachzulesen, was Klaus von Dohnanyi jüngst in der „Welt am Sonntag" geschrieben hat. Ich habe ein anderes Zitat; Klaus von Dohnanyi werden heute die Ohren klingen. Dort hat Klaus von Dohnanyi geschildert, wie vor kurzem der Gaullist Juppé den Sozialisten Rocard in den Regierungssitz eingeladen hatte, um mit ihm seinen Vorschlag einer steuerbegünstigten Arbeitszeitverkürzung zu besprechen. Als Rocard den Regierungssitz verließ, wurde er von einem Reporter gefragt, ob er sich nicht darüber im klaren sei, auf diese Weise dem politischen Gegner zu nützen. Da hat der Sozialist Rocard gesagt: Ich helfe hier meinem Vaterland und nicht dem politischen Gegner. - Diesen Geist von Rocard vermisse ich bei Ihnen.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4610 bis 13/4614, 13/3628, 13/4671, 13/4672 und 13/4674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Situation der Kinder und
Jugendlichen und die Entwicklung der
Jugendhilfe in den neuen Bundesländern
- Neunter Jugendbericht - mit der Stellungnahme der Bundesregierung zum Neunten Jugendbericht
- zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Matthias Berninger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Situation der Kinder und
Jugendlichen und die Entwicklung der
Jugendhilfe in den neuen Bundesländern
- Neunter Jugendbericht -
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Situation der Kinder und
Jugendlichen und die Entwicklung der
Jugendhilfe in den neuen Bundesländern
- Neunter Jugendbericht - mit der Stellungnahme der Bundesregierung zum Neunten Jugendbericht
- Drucksachen 13/70, 13/709, 13/726, 13/3314 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Kersten Wetzel Klaus Hagemann
Matthias Berninger
Rosel Neuhäuser
Zum Neunten Jugendbericht liegt ein weiterer, gemeinsamer Entschließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Frau Bundesministerin Claudia Nolte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte des heutigen Vormittags haben wir uns intensiv damit auseinandergesetzt, wie wir Beschäftigung schaffen, die öffentlichen Haushalte weiter konsolidieren und das soziale Sicherungssystem auch in Zukunft sichern
können. Das ist konkrete Politik für Kinder und Jugendliche. Für uns muß die Zukunft der Kinder und Jugendlichen Maßstab unserer Politik sein. Wir haben nicht das Recht, auf Kosten nachwachsender Generationen zu leben. Gerade auch deshalb ist unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung so wichtig.
Im Osten wie im Westen sehen Jugendliche den Lehrstellenmangel und die Lage auf dem Arbeitsmarkt als die derzeit drängendsten Probleme an. Es stimmt zwar, daß wir mit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa haben und daß wir heute etwa 85 000 arbeitslose Jugendliche weniger haben als noch vor einem Jahr. Trotzdem dürfen und können wir uns mit den derzeit noch knapp 300 000 Arbeitslosen unter 25 Jahren nicht abfinden.
Die wichtigste Voraussetzung für die erfolgreiche Integration junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt ist und bleibt eine solide Berufsausbildung, die das duale System bestens gewährleistet. Unser Ausbildungsstandard ist zudem ohne Zweifel ein großes Plus für den Standort Deutschland. Man kann es nicht oft genug in Erinnerung rufen: Ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen ist im Interesse der deutschen Wirtschaft. Es ist außerdem wichtig für die jungen Menschen, die erfahren sollen, daß sie gebraucht werden.
Deshalb stehen wir dazu: Auch in diesem Jahr wird jeder ausbildungswillige Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten. Dem dient das vor einem Monat beschlossene Zukunftsbündnis Lehrstellen, das die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe fördern soll, indem es die Modernisierung und Flexibilisierung der beruflichen Bildung vorsieht.
Von großer Bedeutung ist für mich dabei das Aktionspaket für die neuen Bundesländer; denn gerade dort sind besondere Anstrengungen nötig, um das derzeit noch zu geringe Angebot an Ausbildungsplätzen auszugleichen. Ich bin davon überzeugt, daß dieses Maßnahmenpaket - von betriebsnaher Ausbildungsförderung und in begrenztem Umfang schulischer Vollausbildung - für 1996 und 1997 den Bedarf an Ausbildungsplätzen decken kann. Daß das gelingt, ist im gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern.
Die Wirtschaft hat ihrerseits zugesagt, das Ausbildungsplatzangebot um 10 Prozent zu erhöhen. Ich erwarte, daß dieses Versprechen eingehalten wird und damit Verantwortungsbereitschaft und unternehmerische Weitsicht dokumentiert werden.
Investitionen in die Jugend sind immer auch Investitionen in die Zukunft. Das gilt nicht zuletzt für die Kinder- und Jugendhilfe. Der Neunte Jugendbericht, den wir als Bundesregierung entsprechend unserem gesetzlichen Auftrag in dieser Legislaturperiode dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat vorgelegt haben, war insbesondere ein „Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern" . Diese Themenstellung liegt auf der Hand. Uns fehlten wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse,
Bundesministerin Claudia Nolte
wie Kinder, Jugendliche und deren Familien den Prozeß der radikalen Umgestaltung ihrer Lebensverhältnisse bewältigten und ob die im Westen bewährten Strukturen angenommen werden. Der Neunte Jugendbericht bestätigt, daß die grundlegenden Weichenstellungen und Aufbauleistungen gelungen sind.
Ich teile die insgesamt zuversichtliche Gesamteinschätzung. Im Bericht heißt es:
Verglichen mit anderen Bereichen gestalten sich die Veränderungen in den Freizeitbedingungen und Handlungsmustern von Kindern und Jugendlichen aus dem Osten Deutschlands offensichtlich problemloser als bisher angenommen. Betrachtet man den heutigen Stand des Aufbaus der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern, so kann festgestellt werden, daß strukturell wichtige Rahmenbedingungen für eine KJHG-konforme Jugendhilfe geschaffen wurden.
Der finanzielle Leistungsumfang der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern ist, wenn auch bei unterschiedlichen Schwerpunkten, mit dem der westdeutschen Länder voll vergleichbar.
Daß die Bundesregierung einen maßgeblichen Anteil daran hat, sollte hier einmal gesagt werden dürfen.
Wir haben als Bundesregierung für eine Übergangszeit in den neuen Bundesländern, obwohl die Wahrnehmung der Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und dem Kinder- und Jugendhilfegesetz bei den Ländern und Kommunen liegt, Jugendhilfemaßnahmen mitfinanziert. Ich erinnere insbesondere an die Sonderprogramme des Bundes zum Aufbau freier Träger, das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt und Maßnahmen im Bereich der Fortbildung.
Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes hatten und haben dabei eine ganz besondere Bedeutung, sowohl für den Aufbau freier Träger als auch für die Maßnahmen der Jugendhilfe. Neben den AB-Maßnahmen ist hier insbesondere der § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes zu nennen. Allein darüber waren im vergangenen Jahr 7 700 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Jugendhilfemaßnahmen beschäftigt, was deutlich macht, daß wir auf diese Maßnahmen auf absehbare Zeit nicht verzichten können.
Deshalb ist es mein Ziel, daß wir im Rahmen der Reform des Arbeitsförderungsgesetzes eine Lösung finden, die die Förderung von Strukturanpassungsmaßnahmen auch über das Jahr 1997 hinaus möglich macht.
Zweifelsfrei gehören die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe zu den Pflichtaufgaben der Kommunen. Die über arbeitsmarktpolitische Instrumente nur zeitlich befristet eingestellten Mitarbeiter können selbstverständlich Festangestellte nicht ersetzen, da Kinder- und Jugendarbeit auf Kontinuität angewiesen ist.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Kommunen, die dieser Verpflichtung in vorbildlicher Weise gerecht werden, auch von dieser Stelle aus ganz herzlich zu danken. Dort, wo es möglich ist, sollte man künftig noch stärker auf freie Träger zurückgreifen. Ich unterstütze ausdrücklich die Forderung der Jugendberichtskommission nach einer präventiven, plural organisierten und an den Interessen der Betroffenen orientierten Jugendhilfe.
Gerade die Entwicklung in den neuen Bundesländern beobachte ich sehr aufmerksam. Es ist mir wichtig, daß mein Ministerium auch weiterhin besondere Anstrengungen - im Rahmen seiner Zuständigkeit - unternimmt. Wir unterstützen Einzelprojekte zum weiteren Strukturaufbau der Kinder- und Jugendhilfe und greifen hierzu auch Anregungen aus dem Neunten Jugendbericht auf.
Wir werden den sozialpädagogischen Ertrag der von uns geförderten Projekte gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit aufbereiten und breit zugänglich machen.
Wir waren und sind bestrebt, das jugendkulturelle Angebot in den neuen Bundesländern zu erhalten und es den freiheitlichen Bedingungen entsprechend fortzuentwickeln.
Wir wollen auch in finanziell schwierigen Zeiten den Ausbau des freiwilligen sozialen Jahres und des freiwilligen ökologischen Jahres weiter vorantreiben.
Wir unternehmen erhebliche Anstrengungen im Bereich der Jugendsozialarbeit, um benachteiligte Jugendliche beim Weg in Beruf und Arbeit zu unterstützen.
Wir arbeiten an der fachlichen Fortentwicklung der Kindergartenpädagogik in den neuen Bundesländern und geben Anstöße zu deren Umsetzung.
Wir werden uns weiterhin mit den Problemen der sogenannten Straßenkinder beschäftigen und fachliche Konzepte zur Betreuung obdachloser Jugendlicher erproben.
Im Bereich der Bauförderung werden Vorhaben in den neuen Bundesländern weiterhin überproportional bezuschußt.
Daneben erfolgt selbstverständlich die Fortsetzung der Regelangebote von Bundeszentralen Trägern, Verbänden und Vereinen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Schaffung tragfähiger Jugendhilfestrukturen in den neuen Ländern halte ich es für ganz entscheidend, wie die Jugendlichen ihre Lebenswirklichkeit selbst einschätzen und wie sie mit der neugewonnenen Freiheit zurechtkommen. Die IPOS-Studie 1995, die auf dem Fragenkatalog des Neunten Jugendberichts aufbaut, bestätigt, daß die ganz überwiegende Mehrheit, 73 Prozent, der jungen Leute in den neuen Ländern optimistisch in die Zukunft blickt.
Bundesministerin Claudia Nolte
Die gute Stimmungslage stabilisiert sich mit positiver Tendenz. 85 Prozent, das sind zwei Prozent mehr als 1993, sind mit ihrem Leben zufrieden. 75 Prozent, vier Prozent mehr als 1993, finden, daß die Einführung einer politischen Ordnung nach westlichem Muster richtig war. Wir stehen in der Pflicht, diese Hoffnung und diesen Optimismus der Jugendlichen von heute nicht zu enttäuschen.
Deshalb gibt es zu einer Politik, die nicht auf Pump lebt, aber in die junge Generation investiert, keine Alternative.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Hanewinckel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor über einem Jahr haben wir in diesem Hause über den Neunten Jugendbericht der Bundesregierung debattiert. Den Bericht zeichnete eine Besonderheit aus: Er dokumentierte nämlich ausführlich die Situation der jugendlichen Frauen und Männer in den ostdeutschen Bundesländern.
Nach den Beratungen in den Ausschüssen geht es heute um die politischen Konsequenzen, die aus diesem Bericht zu ziehen sind. Die Bundesregierung muß nach ihrer Stellungnahme und auch nach der Rede, die Frau Ministerin Nolte soeben gehalten hat, offenbar keinerlei Konsequenzen ziehen - außer den Forderungen und Hinweisen an andere. An diesem Punkt hat sich das Verhalten dieses Ministeriums und auch der anderen Ministerien nicht geändert.
Sie ziehen nicht nur keine Folgerungen aus dem Bericht, Sie tun alles, damit sich die Situation für die Jugendlichen im Osten durch Ihre aktuelle Politik, durch das, was Sie im Kürzungspaket als sogenannte Stabilisierung vorschlagen, noch verschärft. Das Signal, das Sie aussenden, ist verheerend. Statt zu investieren und zu stabilisieren, bauen Sie ab. Sie belasten nicht nur die jungen wie die älteren Menschen in den Familien; Sie treiben durch Ihre Politik einen Keil zwischen die Generationen, statt die Solidarität zwischen Alten und Jungen zu fördern.
Gefragt ist eine Arbeitsmarktoffensive für junge Leute. Die Frau Ministerin hat hier festgestellt, daß das duale System gut und förderungswürdig ist. Auch ich sage: Es ist gut - aber mit Sicherheit nur für die Jugendlichen, die in diesem dualen System einen Platz bekommen. Was tun Sie denn? Sie nehmen älteren Frauen die Chance, mit 60 Jahren in die Rente zu gehen. Damit nehmen Sie den jungen Leuten die Chance auf einen Arbeitsplatz.
Beiden Gruppen, den jüngeren und den älteren Frauen, nehmen Sie das weg, was ihnen jetzt und hier zusteht.
Und Sie tun noch etwas: Sie zerstören das Vertrauen der Jüngeren und der Älteren auf die Verläßlichkeit von politischen Entscheidungen. Was gilt in diesem Hause eigentlich noch eine Entscheidung, die vor ein paar Monaten oder vor ein paar Jahren gefällt worden ist, auf die sich alte und junge Menschen müssen berufen können und das auch tun wollen? Sie zerstören das Vertrauen der Jüngeren und der Älteren auf die Verläßlichkeit von politischen Entscheidungen.
Jugendliche wollen etwas in dieser Gesellschaft und von dieser Gesellschaft. Das ist nicht nur ihr gutes Recht, sondern auch etwas, was dieser Staat, was diese Demokratie braucht. Sie sind bereit, sich zu engagieren, ihre Möglichkeiten und ihre Fähigkeiten einzubringen. Ich denke, das Interesse am freiwilligen sozialen Jahr und am freiwilligen ökologischen Jahr zeigt das beispielhaft.
Gerade jetzt ist eine Politik für die Jugend nötig. In die Strukturen und in die Arbeit der präventiven Jugendhilfe sowie in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Jugendliche muß nicht nur Geld, sondern müssen Innovationen und Ideen gepackt werden. Sie können darauf setzen, daß Sie dann viele Verbündete haben werden: die Jugendlichen, die Verbände der freien Träger der Jugendarbeit, die Jugendhilfe in freier und kommunaler Trägerschaft, die Gewerkschaften, die demokratischen Parteien und die Kirchen. Sie nehmen das Angebot nicht auf und spalten auch dieses Bündnis immer wieder.
In einer Woche ist in Leipzig der 10. Jugendhilfetag. Wenn Sie sich das Programm ansehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann können Sie sehen, was sinnvoll und vernünftig ist und was im Interesse der Jugend und ihrer Lebenschancen, ihrer sozialen und beruflichen Perspektiven und ihrer gesellschaftlichen und politischen Orientierung möglich sein sollte.
Sie sollten auch erkennen, wie wichtig solche jugendpolitischen Initiativen zum Erhalt unserer demokratischen Ordnung sind. Wie sollen sich die Jugendlichen mit der Demokratie, ihren Werten und ihren Spielregeln identifizieren? Sie höhlen durch Ihre Nichtpolitik für Jugendliche das Vertrauen in die Demokratie aus. Ich möchte das gerade heute betonen, an dem Tag, an dem vor genau 47 Jahren unsere freiheitlich- demokratische Grundordnung festgeschrieben wurde, zu der sich auch die Jugendlichen im Osten Deutschlands bekennen und weiterhin bekennen wollen.
Wie wertvoll für dieses Land fühlen sich Jugendliche aber, wenn sie ohne Lehrstelle dastehen oder nach der Ausbildung in die Arbeitslosigkeit entlassen werden und noch etwas später als Sozialhilfeempfänger am Rande dieser Gesellschaft stehen? Gerade im Osten Deutschlands entwickelt sich die Aus-
Christel Hanewinckel
bildungsplatz- und Arbeitsmarktsituation für junge Frauen und Männer geradezu erschreckend. Trotz aller bisherigen Versprechen und Appelle klafft in den neuen Bundesländern in diesem Jahr bei den Ausbildungsplätzen eine riesige Angebotslücke.
Ich teile Ihr Vertrauen nicht, Frau Ministerin Nolte, daß diese Lücke gefüllt wird. Ich finde es fast infam, wenn Sie sagen, jeder ausbildungswillige Jugendliche bekomme einen Ausbildungsplatz. Im letzten Jahr ist das auch gesagt worden, aber wir können nicht feststellen, daß jeder ausbildungswillige Jugendliche einen Platz bekommen hat.
Ich komme zu den aktuellen Zahlen für dieses Jahr. Im Jahr 1996 fehlen laut Minister Rüttgers 12 000 Lehrstellen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Jagoda, spricht von einem Mangel an Lehrstellen in einer Größenordnung von rund 20 000.
Allein in Sachsen-Anhalt gab es im letzten Monat fast 30 000 Bewerber für Ausbildungsplätze. Das sind rund 9 Prozent mehr als im Vorjahr. Es gibt aber nicht einmal 10 000 Lehrstellen. Im Vergleich zum Vorjahr sind in diesem Jahr 6 Prozent weniger Lehrstellen im Angebot. Dieses Beispiel gilt auch für die anderen ostdeutschen Bundesländer. Die Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht; Sie können sie bei der Bundesanstalt für Arbeit und bei den jeweiligen Landesarbeitsämtern entsprechend abfragen.
Die Arbeitslosenquote liegt bei den Unter-25-Jährigen derzeit bei knapp 16 Prozent. Das müssen Sie sich einmal verdeutlichen und mit dem vergleichen, was Sie für junge Leute zu tun gedenken. Es reicht hinten und vorn nicht aus.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß sich der Mangel an Lehrstellen durch die beschleunigte Heraufsetzung des Renteneintrittsalters für Frauen zusätzlich verschärfen wird. Darauf weist auch der Deutsche Industrie- und Handelstag hin: Durch die Rentenbeschlüsse der Bundesregierung werde der notwendige Generationenwechsel in den Firmen verzögert.
Ich fasse die „Glanzleistungen" der Bundesregierung in puncto Jugendpolitik kurz zusammen: Fehlanzeige bei der Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen; Fehlanzeige bei der Schaffung von mehr Arbeitsplätzen für junge Leute; Fehlanzeige bei der Reform der Ausbildungsfinanzierung; Fehlanzeige bei der besonderen Förderung von Mädchen und jungen Frauen; Fehlanzeige aber auch bei der Stärkung der Jugendarbeit und der Förderung der Jugendhilfe.
Ihr Hinweis auf die entsprechenden Maßnahmen nach § 249h AFG oder die ABM-Stellen ist die eine Seite. Auf der anderen Seite wird etwas darüber ausgesagt, daß Kontinuität in der Jugendarbeit in den neuen Ländern nicht gegeben ist. Sie wissen genau so gut wie ich, Frau Nolte, daß es schön wäre, wenn das KJHG tatsächlich Pflichtaufgaben umfassen würde. An dieser Stelle wäre eine Weiterentwicklung des KJHG dringend erforderlich. Dann könnte sich der Bund in Zukunft nicht immer damit herausreden, daß es vorwiegend Ländersache ist. Der
Neunte Jugendbericht stellt diese Forderung mit in das Zentrum der politischen Veränderung.
Fehlanzeige aber auch bei der Bekämpfung der sozialen Ursachen der Jugendkriminalität, und Fehlanzeige bei der Bekämpfung von Kinderarmut und Kinderobdachlosigkeit. Fehlanzeige auch bei der Verringerung der Zahl der Kinder in der Sozialhilfe. Diese Zahl wird sich bei dem, was Sie vorhaben, vermutlich noch erhöhen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben einen Antrag eingebracht, der die Forderungen des Neunten Jugendberichts und die Forderungen dieser Zeit aufnimmt. Stimmen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, diesem Antrag zu, damit jugendpolitisch in Deutschland endlich ein Licht am Horizont erscheint!
Ich möchte hier nur einige Punkte aus diesem Antrag nennen. Es ist dringend notwendig - Punkt 5 -, Konzepte zur Verbesserung am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf Mädchen und junge Frauen, sowie- Punkt 6 -Förderprogramme für junge Frauen zu entwickeln, durch die Ausbildungsplätze in „Berufen mit Zukunft" bereitgestellt werden. Sie wissen genausogut wie ich, daß junge Frauen - und das nicht nur im Osten Deutschlands, sondern auch in den westlichen Bundesländern - nicht nur daran interessiert sind, sondern es auch wirklich wollen, nämlich Beruf, Ausbildung, Familie und das, was ihnen für ihre eigene Lebensgestaltung vorschwebt, unter einen Hut zu bekommen. Dafür tun Sie nichts. Im Gegenteil, Ihr Programm dient dazu, junge Frauen in die Arbeitslosigkeit bzw. zurück an Heim und Herd zu schicken.
Ein letzter Punkt - dazu liegt von Ihnen nichts vor -: Im Kinder- und Jugendplan ist ein Schwerpunkt „Politische Partizipation von Jugendlichen" enthalten. Das gilt es nicht nur als Schwerpunkt zu betreiben, sondern dafür muß in diesem Hause auch etwas getan werden. Ich rufe Sie von dieser Stelle aus auf, mit uns zusammen entsprechende gesetzliche Regelungen einzubringen, damit die Partizipation, die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an der politischen Gestaltung dieses Landes anders als bisher möglich wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn Sie das nächste Mal in Rostock vorbeikommen, dann schauen Sie sich mal in Dierkow die Situation eines Stadtteils an, der die zweifelhafte Ehre hat, der jüngste Stadtteil dieser Republik zu sein. Sie finden dort Plattenbauten, bei denen am Ende der DDR-Zeit die Fugen vergessen worden sind. Sie finden einen Stadtteil, der für wesentlich weniger Autos geplant worden ist. Die Folge davon ist, daß alle Freiflächen
Matthias Berninger
in diesem Stadtteil mit Automobilen zugestellt sind. Sie finden praktisch keine Freizeiteinrichtungen. Sie finden statt dessen einen Jugendklub, der so aussieht, wie er überall in der ehemaligen DDR aussah. Dort gibt es zwei Leute, die sich um Jugendarbeit kümmern. Und Sie finden eine Schule mit sehr engagierten Lehrern und sehr engagierten Eltern, eine Schule, in der nicht einmal kaputte Fenster repariert werden können.
Ich glaube, daß es ein großer Fehler wäre, die Situation der Jugend in der ehemaligen DDR überall nur mit solchen Beispielen zu beschreiben. Ich persönlich freue mich darüber, daß es an vielen Stellen gelungen ist, Fortschritte zu erzielen, und daß an vielen Stellen für junge Leute Perspektiven geschaffen worden sind. Ich freue mich vor allem darüber, daß junge Leute nach wie vor optimistisch in die Zukunft blicken, weil ich glaube, daß dieser Optimismus diesem Land noch einiges bringen kann, wenn man ihn nicht vollends zuschüttet.
Ich warne aber davor, solange es Beispiele wie Dierkow gibt, sich hinzustellen und Schönfärberei zu betreiben. Solche Schönfärberei besteht zum Beispiel darin, Statistiken vorzulesen, wieviel Prozent von Jugendlichen optimistisch in die Zukunft blicken. Diese Statistiken taugen in Dierkow so gut wie überhaupt nichts. Die Leute, denen sie dort vorgelegt werden, sagen zu Recht, das sei die Art von Politik, die sie überhaupt nicht interessiere.
Wir haben den Jugendbericht ein Jahr lang diskutiert. Frau Hanewinckel hat darauf hingewiesen, daß wir einen Entschließungsantrag vorgelegt haben, der auf das, was die Opposition üblicherweise macht, nämlich die Regierung in deutlicher Form anzugreifen, vollends verzichtet hat. Wir haben auch auf Vorschläge verzichtet, die Millionen D-Mark kosten. Wir haben ein paar kleine, pragmatische Vorschläge gemacht, mit denen wir zumindest ein wenig hätten erreichen können. Alle diese Vorschläge haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU-Fraktion, der CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion, ausgeschlagen.
Nach einjähriger Beratung und mit Blick darauf, wie die Situation in den neuen Ländern nach wie vor ist, und in dem Wissen, daß dort noch vieles getan werden muß, ist das ein sehr trauriges Ergebnis. Noch trauriger wird es, wenn man sich vor Augen führt, daß - auch das ist ein Problem - zwar eine ganze Menge an Programmen vorhanden war, daß diese Programme aber alle abgelaufen sind.
Frau Ministerin Nolte, Sie haben gesagt: Das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist ein Beispiel für konkrete Politik. Es zeigt, wie die Bundesregierung mit der jungen Generation umgehen möchte. - Ich gebe Ihnen zwar völlig recht, glaube jedoch, daß Ihre optimistische Einschätzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung ziemlich daneben ist.
Sie haben den Bereich Arbeitmarktpolitik angesprochen. Es ist richtig und ein großer Erfolg, daß man einen sehr großen Teil des Personals im Jugendbereich in den neuen Bundesländern über aktive Arbeitsmarktpolitik finanzieren konnte. Am Anfang war das eine sehr pragmatische Lösung. In den letzten Jahren zeigte sich aber, daß mangelnde Kontinuität und das Problem, daß nicht die Qualifzierung des Personals bei der Stellenbesetzung im Vordergrund stand, sondern vielmehr die für die aktive Arbeitsmarktpolitik vorgesehene Personengruppe, dazu geführt haben, daß im Jugendbereich leider an vielen Stellen nicht das qualifizierte Personal vorhanden war.
Wenn das, was im Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung steht, Realität wird, dann können wir uns von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in Zukunft verabschieden, und zwar ersatzlos. Wenn die Bundesregierung weiterhin sagt, die Kommunen und die Länder seien in erster Linie dafür verantwortlich, das Personal bereitzustellen, dann sage ich Ihnen: Dann wird das, was ich in meiner ersten Rede zum Neunten Jugendbericht prophezeit habe, wirklich eintreten. Dann werden wir im Jugendbereich sozialpolitische Ruinen hinterlassen.
Ein weiteres Beispiel macht noch sehr viel deutlicher, wie die konkrete Politik beim Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung aussieht. In diesem Programm finden Sie - auch das wird morgen diskutiert - eine neue Maßnahme im Gesundheitsbereich, die eine bestimmte Leistung, nämlich den Zahnersatz für Personen, die nach 1979 geboren wurden, nicht mehr in der Form gewährleistet wie für die, die hier sitzen, die nämlich bereits vor 1979 geboren wurden. Die Leistungen für den Zahnersatz werden für Menschen, die nach 1979 geboren wurden, in Zukunft gestrichen. Wenn sich diese Form von Konsolidierungspolitik - das müssen Sie sich einmal vor Augen führen - durchsetzen wird, dann heißt das: Wir alle wahren unsere Besitzstände, wir alle sehen zu, daß wir das, woran wir uns gewöhnt haben, in irgendeiner Form erhalten, sagen aber gleichzeitig der jungen Generation: Für euch ist das leider nicht mehr möglich.
Wenn Sie sich mit jungen Leuten unterhalten, dann stellen Sie fest: Sie wissen oder spüren, daß der Wohlstandzenit in diesem Land überschritten ist. Es ist ihnen klar, daß sich die Sozial- und Wohlfahrtspolitik in dem Maße, in dem man sie in den späten 70ern, den frühen 80ern und auch noch bis zur deutschen Einigung in den alten Ländern machen konnte, in Zukunft im Zuge der Globalisierung nicht mehr verwirklichen läßt.
Wenn wir aber bezüglich unserer eigenen Privilegien träge sind und statt dessen systematisch die Perspektiven der Kinder und Jugendlichen zum Opfer unserer Sparpolitik machen und uns zynischerweise aufschwingen und sagen, das ist Haushaltskonsolidierung, wir hinterlassen denjenigen, denen wir gar nichts hinterlassen, schließlich auch keine Schulden, dann sind wir auf dem Holzweg.
Ich möchte Sie um eines bitten: Wenn wir schon Konsolidierungspolitik in diesem Land betreiben
Matthias Berninger
müssen, dann sollten wir sie nicht - ich weiß, daß nur wenige junge Leute wählen gehen und daß junge Leute keine einflußreiche Personengruppe in diesem Land sind - auf dem Rücken junger Menschen austragen. Wir sollten sie statt dessen auf dem Rücken derer betreiben, die das auch leisten können.
Die Situation im Ausbildungsbereich, die bereits mehrfach angesprochen worden ist, sollte uns alle dazu bringen, in diesem Jahr konkrete Maßnahmen zu ihrer Verbesserung folgen zu lassen. Es ist richtig, daß sich die Bundesregierung über Jahre hinweg darum bemüht hat, daß es genügend Ausbildungsplätze gibt. Das will ich überhaupt nicht bestreiten. Wenn aber die Industrie Jahr für Jahr nur Versprechungen macht, die sie nicht einhält, und dies nur durch schönfärberische Rechnungen zu kaschieren versucht, wenn sich eine solche Industrie auch in diesem Jahr nicht an ihre Versprechungen hält und Ausbildungsplätze nicht bereitstellt, dann ist Handeln von dieser Stelle aus geboten.
Dazu möchte ich Sie auffordern, denn wenn wir junge Leute noch nicht einmal dazu befähigen, die Qualifikation zu erlangen, um Probleme zu lösen und für uns irgendwann einmal die Rente zu zahlen - da schließe ich mich übrigens ein, weil ich glaube, daß meine Generation noch nicht die volle Härte der vorzunehmenden Einschnitte im Sozialbereich zu spüren bekommt -, wenn wir das nicht hinkriegen, meine Damen und Herren, dann gute Nacht!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl in den bisherigen Beratungen des Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse wie auch in der Anhörung ist anerkannt worden, daß der Neunte Jugendbericht in verdienstvoller Ausführlichkeit die noch heute aktuellen und ernsten Probleme darstellt und analysiert, vor denen Jugendliche und Kinder in den ostdeutschen Ländern stehen. Bei aller Kritik, Herr Berninger, bedanke ich mich doch dafür, daß Sie in Ihren Ausführungen auch zum Ausdruck gebracht haben, daß sich seit der deutschen Einheit vieles wirklich verbessert hat, gerade was Kinder und Jugendliche in den ostdeutschen Ländern angeht.
Das heißt nicht, daß man die Probleme, die nach wie vor bestehen, nicht wahrnehmen möchte, aber man muß einfach auch einmal auf positive Entwicklungen hinweisen. Das haben Sie - anders als Ihre Vorrednerin - getan.
Ich denke, daß die fundierte Lageanalyse des Neunten Jugendberichts gerade deshalb hervorzuheben ist, weil in der Öffentlichkeit über die Probleme, die unsere Jugend hat, leider nur selten, dagegen über die Probleme, die sie macht, um so häufiger geredet wird. Gerade auch verstärkt durch Medien werden Kinder und Jugendliche häufig als zum Teil ordnungs- und ruhestörende Problemgruppe thematisiert. Manche Streitigkeiten, nicht nur im Osten, sondern auch in westdeutschen Gemeinden, machen das deutlich, wenn es um Kindergärten oder um andere Einrichtungen für Jugendliche geht, wobei dann Nachbarn sagen, das ist eine störende Problemgruppe. Man bezeichnet sie aber auch als Drükkeberger, als an gesellschaftlichen und politischen Vorgängen nicht Interessierte, und man belegt sie zunehmend mit den Adjektiven „kriminell", „gewaltbereit" und „gewalttätig".
Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, daß wir in einer jugendpolitischen Debatte auch einmal eine Lanze für die Jugend und für die Kinder brechen müssen und daß wir einmal deutlich machen müssen, daß viele dieser Behauptungen und Vorurteile überhaupt nicht zutreffen.
Wenn sich ein großer Teil der Jugendlichen nicht für den Militärdienst, sondern für den sozialen Dienst entscheidet, dann doch nicht unbedingt nur deshalb, weil sie einen bequemeren Weg gehen wollen, sondern weil sie dort ihre Verantwortung in der Gesellschaft wahrnehmen wollen. Und wenn sie nicht so politikinteressiert sind, wie wir uns das wünschen würden - was aber genau übereinstimmt mit dem Grad des Interesses der Erwachsenen -, dann liegt das nicht unbedingt nur an den Kindern und Jugendlichen, sondern vielleicht auch an der Politik und an Politikern.
Ich bin also der Meinung, wir sollten in einer solchen Debatte versuchen, mit diesen Vorurteilen etwas aufzuräumen. Das gilt auch für das Vorurteil, Jugendliche seien zunehmend kriminell und gewalttätig. Denn wenn man sich die Statistiken, immer auf bestimmte Personen- und Altersgruppen bezogen, ansieht, dann muß man zur Kenntnis nehmen, daß die Entwicklung im wesentlichen konstant und gleich geblieben ist, und das gilt auch für Kinder bis zum 14. Lebensjahr, die noch nicht strafmündig sind. Von denen sind nämlich 98 Prozent nicht kriminell auffällig. Auch das sollte man hier einmal sagen, weil häufig viele Berichte und Behauptungen einen ganz anderen Eindruck hervorrufen.
Eine Besonderheit möchte ich erwähnen, nämlich die unterschiedliche Entwicklung bei delinquentem Verhalten von Kindern und Jugendlichen in den ostdeutschen und in den westdeutschen Bundesländern. In den ostdeutschen Bundesländern ist leider die Kriminalitätsbelastungsrate höher als in den westdeutschen Bundesländern. Ich glaube, man darf es sich hier nicht zu leicht machen, wenn man nach den Ursachen sucht. Aber zumindest ist wohl ein Zusammenhang herzustellen mit dem Umstand, wie weit die Integration, auch die soziale Integration, von Jugendlichen in den ostdeutschen Bundesländern
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
vorangeschritten ist. Daran fehlt es in gewissen Bereichen. Die Situation hat sich hier verschlechtert. Das wissen wir alle.
Wir reden hier über Jugendarbeitslosigkeit, über Armut unter Jugendlichen und darüber, daß gerade in den ostdeutschen Bundesländern noch Ausbildungsplätze für Jugendliche geschaffen werden müssen. Heute morgen haben wir vier Stunden über ein Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung debattiert, an dem man sehr wohl einzelne Punkte kritisieren kann, aber das in die richtige Richtung weist.
Denn wenn wir nicht ansetzen, den ersten Arbeitsmarkt mit allen Möglichkeiten zu stärken, brauchen wir uns nicht mehr viele Gedanken zu machen über Maßnahmen, die nur den zweiten Arbeitsmarkt betreffen oder nur kompensatorische Wirkungen haben können.
- Das ist kein Gesundbeten. Ich mache einfach realistisch deutlich, wo heute die Schwerpunkte der Politik, auch der Bundespolitik, liegen müssen.
Vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, richtet sich eigentlich nicht an den Bund, sondern an Länder und Kommunen, und vieles ist im Kern bestimmt hilfreich und sinnvoll. Aber in Zeiten, in denen alle öffentlichen Haushalte - die der Kommunen, der Länder und des Bundes - nicht nur angespannt sind, sondern leere Kassen aufweisen, müssen wir uns doch fragen, was möglich ist. Vieles, was uns liebgeworden ist, können wir, auch wenn wir es für notwendig halten, eben nicht fortsetzen. Wir können auch manche wünschenswerten Sonderprogramme nicht weiterführen und können uns manche Projekte, die in Zeiten des Wohlstandes möglich waren, nicht mehr leisten. Das gehört zur Ehrlichkeit einer Debatte dazu,
wenn man sich mit der Situation von Kindern und Jugendlichen und damit, was für sie getan werden kann, beschäftigt.
Daß Sie, Frau Hanewinckel, im Bereich der politischen Partizipation nach Gesetzen rufen, paßt, so muß ich sagen, überhaupt nicht in die Debatte. Darauf hinzuwirken, daß man Jugendliche vor Ort für Politik interessiert, ist richtig. Auch daß die Abgeordneten zu Hause viel mehr tun können - zum Beispiel Diskussionen an Schulen führen -, ist richtig, aber
doch nicht, weil man vielleicht im Hinterkopf hat, das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen.
Das geht an den Problemen, die wir haben, vorbei. Außerdem halte ich es in der Sache für nicht richtig.
Im Zusammenhang mit der Integration von Jugendlichen möchte ich noch ein Wort zu der schwierigen Situation von ausländischen Jugendlichen sagen. Natürlich muß man gerade in den ostdeutschen Bundesländern helfen, sie in Deutschland zu integrieren. Aber - und damit schließe ich in dieser Debatte; Sie sehen, man kann einen weiten Bogen spannen - zu diesen Hilfen zur Eingliederung, zur Integration gehört natürlich auch - das adressiere ich eher an die Mitte dieses Hauses - eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts.
Es ist eben wichtig, daß sie von Geburt an Deutsche sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute beschäftigt sich das Parlament das letzte Mal mit dem Neunten Jugendbericht, der sich mit der Lage der Kinder und Jugendlichen, insbesondere in den neuen Bundesländern, befaßt hat. Es scheint, daß man zu diesem Thema nicht mehr Zeit als eine Stunde benötigt, um über die wirklich brennenden Probleme im Kinder- und Jugendbereich zu diskutieren. Demgegenüber haben wir in einer der nächsten Debattenrunden Zeit, 90 Minuten über das sicher ebenfalls durchaus bedeutsame Thema BSE zu debattieren.
Sowohl während der Debatten um die Nachtragshaushalte 1996 in den Ländern und Kommunen als auch gegenwärtig erreicht uns sehr viel Post. Ich habe mich in den vergangenen Wochen sehr oft in verschiedenen Orten umgesehen. Vereine und Verbände schildern uns ihre konkrete Situation vor Ort, von Sonneberg bis Rostock, von Nürnberg bis Lübeck, und fordern uns Politikerinnen und Politiker auf, zu verhindern, daß unter der Bezeichnung Sparen ein Kahlschlag in der Kinder- und Jugendarbeit stattfindet.
Einige Fakten dazu möchte ich kurz anreißen. So schätzt zum Beispiel der Deutsche Kinderschutzbund, daß 1 Million Kinder von Sozialhilfe leben. Allein im Freistaat Sachsen betrifft das mehr als 40 000 Kinder unter 15 Jahren; davon sind 24 000 Kinder jünger als 7 Jahre. Immer mehr Familien können die notwendige Sozialisierung ihrer Kinder aus eigener Kraft nicht mehr leisten. Viele Jugendliche verlieren vor dem Hintergrund dieser gravierenden gesell-
Rosel Neuhäuser
schaftlichen Problemlagen den Bezug zu ihrer Umwelt, vordergründig zur Schule und zur Ausbildung. Man muß damit rechnen, daß viele lebenslang zum Sozialhilfeempfänger werden. Ein Ausbruch aus diesem Teufelskreis ist fast unmöglich. Auch deshalb sind solche Kinder und Jugendlichen stärker in Gefahr, in gewalttätige Cliquen zu geraten oder in die Kriminalität abzugleiten. Die Tendenz der Kinder-und Jugendkriminalität ist ja, wie der Bundesminister in der letzten Statistik veröffentlichte, steigend.
Die Berichte zur Jugendarbeitslosigkeit - darüber ist jetzt schon mehrfach diskutiert worden - schätzen ein, daß die Zahl der Mädchen und Jungen zwischen 15 und 20 Jahren, die keine Arbeit und auch keinen Ausbildungsplatz haben, der Einwohnerzahl von Hoyerswerda oder Nordhausen bzw. von Hildesheim oder Kaiserslautern entspricht. Das heißt, daß zirka 105 000 junge Leute am Anfang ihres Arbeitslebens ohne Job dastehen. Statt vom selbsterarbeiteten Geld leben sie von „Stütze" oder Sozialhilfe.
Ich frage mich an dieser Stelle wirklich, meine sehr verehrten Damen und Herren: Was um alles in der Welt unternimmt die Bundesregierung gegen diese katastrophale Situation? Das Sparpaket, über das seit Anfang Mai in diesem Hause debattiert wird - heute vormittag haben wir es erneut erleben können -, ist mit Sicherheit keine Antwort auf diese Probleme, sondern wird die extreme soziale Schieflage in dieser Gesellschaft noch weiter zuspitzen.
Auch ständig aufgelegte Modellprojekte und Sonderprogramme, die sicherlich einmal wichtig waren, bieten für diese Probleme keine Lösung auf Dauer. Wortreiche Debatten, Sonntagsreden oder auch Hochglanzbroschüren scheinen mir kaum geeignet zu sein, daran etwas zu ändern. Aktives politisches Handeln der Familienministerin, die noch im Oktober letzten Jahres die Zukunft der Kinder als Maßstab einer verantwortlichen Politik bezeichnet hatte, läßt bis heute auf sich warten.
Auch in der Jugendhilfe wird deutlich, mit welcher „Ernsthaftigkeit" die Bundesregierung sich einer gesetzlich verankerten Verpflichtung stellt. Bund und Länder ziehen sich zunehmend aus ihrer Verantwortung zurück und übertragen immer mehr Aufgaben auf die kommunale Ebene, obwohl sich doch nun wirklich niemand über die finanziellen Möglichkeiten der meisten Kommunen irgendwelchen Illusionen hinzugeben braucht. Ich nenne ein solches politisches Handeln zynisch und auch verantwortungslos.
Sie müssen sich einmal vor Augen führen, wie sich dies konkret auswirkt. Ich ziehe Beispiele aus Thüringen heran: Der Jugendhilfeausschuß des UnstrutHainich-Kreises hat festgestellt, daß ab 1996 ein Drittel der über 100 Stellen im Jugendhilfebereich in diesem Kreis nicht mehr finanziert werden kann. Der Saale-Holzland-Kreis hat darüber beraten, den Anteil der Jugendhilfe am Kreishaushalt auf kaum zu fassende 0,2 Prozent zu senken. Der Landesjugendring Thüringen geht davon aus, daß von den zur Zeit etwa 2 400 AFG-Maßnahmen in Thüringen ein Drittel im Jugendbereich gefährdet ist. Wenn nicht innerhalb kürzester Zeit an eine Vielzahl von Trägern feste Zusagen zur Komplementärfinanzierung gemacht werden können, wird in absehbarer Zeit die erste Kündigungswelle Jugendclubs, Verbände und Vereine erreichen.
Ich darf darauf hinweisen, daß wir vor genau dieser Entwicklung vor einem Jahr schon gewarnt haben und daß sich auch die Sachverständigen in der Anhörung zum Jugendbericht quer durch alle Parteien kritisch demgegenüber geäußert haben. Wenn Sie, Frau Nolte, wirklich zu Ihrem Wort stehen, dann setzen Sie sich endlich dafür ein, daß der Kinder- und Jugendbereich für Einsparungen und Kürzungen eine Tabuzone ist, damit hier nicht auf Pump gelebt werden muß, wie Sie es vorhin in Ihren Schlußbemerkungen gesagt haben.
Die Forderung, das finanzielle Volumen des Kinder- und Jugendplanes des Bundes entsprechend den Anforderungen zu steigern, wie es im Entschließungsantrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steht, findet unsere volle Unterstützung.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich möchte nur noch kurz unsere Forderungen wiederholen. Wir fordern die Aufhebung der Jährlichkeit der Finanzierung im Kinder- und Jugendbereich, die Einführung eigener, unbefristeter Haushaltstitel als Verbundfinanzierung, den Übergang von Formen der Arbeitsförderung zu einer Regelfinanzierung und kontinuierlichen Fachkraftförderung, damit eine stetige Jugendarbeit auf der Basis einer lückenlosen Finanzierung gestaltet werden kann.
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Neunte Jugendbericht hat auf mehr als 700 Seiten die Befindlichkeit der Jugendlichen in den neuen Bundesländern sozusagen von Kopf bis Fuß mit großer Gründlichkeit und Präzision vermessen. Die überwiegende Zahl der Daten wurde 1991/92 erhoben. Drei Jahre nach der deutschen Einheit wurde der Bericht fertiggestellt. Über sechs Jahre sind verstrichen, seit in der Nacht des 9. November 1989 erstmals die Jugendlichen von Ost nach West frei zueinander kommen konnten.
Wie war die Ausgangsposition 1990? Der real existierende Sozialismus war am Ende. Weder für Erwachsene noch Jugendliche zeichnete sich eine Perspektive ab. Riesige Vergiftungen der Umwelt konnten nicht länger verborgen gehalten werden. Neben den Schäden an Gewässern und Wäldern wurden auch die Verwundungen in den Seelen offenkundig. Das Vertrauen einer großen Zahl junger Menschen war zerstört. Es galt, die Nachfolgelasten in beträchtlichem Ausmaß eines von Grund auf verfehlten Sy-
Johannes Singhammer
stems zu beseitigen. Der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn hat sich im Jahre 1990 zu diesem epochalen Systemwechsel zu Wort gemeldet. Aus seinem damaligen Exil im amerikanischen Vermont warnte er, die Bewältigung der Nachfolgelasten des real existierenden Sozialismus geringzuschätzen, indem er schrieb: Wie können wir uns davor retten, von seinen Trümmern erschlagen zu werden?
- Ich komme schon dazu.
Den Jugendlichen in den neuen Bundesländern wurde seither eine Menge zugemutet: der abrupte Übergang von Gängelung und Kommandowirtschaft in eine neue, freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur; die Konfrontation mit einer sozialen Marktwirtschaft, die sich selbst im Umbau und Umbruch befindet; die Herausforderung der Globalisierung der Weltwirtschaft mit allen Auswirkungen und Gefährdungen, die der jungen Generation in Ost und West in gleichem Maß zu schaffen machen; die Notwendigkeit der Umstellung auf neue Produktionsformen und High-Tech-Produkte und die Abwanderung von Arbeitsplätzen.
Niemand hat damit rechnen können, daß dieser Epochenwechsel ohne Verwerfungen und ohne Verunsicherung möglich wäre. Ausdruck dieser Verunsicherung sind nicht zuletzt die dramatisch zurückgehenden Geburtenzahlen, die in vergangenen Debatten immer erwähnt worden sind.
Gleichwohl gilt - dies machen der Bericht und auch weitere Umfragen deutlich -: Die allermeisten Jugendlichen der neuen Bundesländer haben die riesigen ökonomischen und psychologischen Umstellungen gut gemeistert. Diese Leistung der Umstellung und Neufindung ist niemandem leichtgefallen. Um so mehr muß man dieser jungen Generation Respekt zollen. Bei allen Schwierigkeiten haben Miesmacherei und Jammerei den Ton nicht angegeben.
Ich danke allen, die dazu beigetragen haben: seien es Organisationen, Institutionen, seien es engagierte Einzelpersönlichkeiten.
Die Bundesregierung hat sich von Anfang an vorbehaltlos für die Einheit eingesetzt und ihren Worten auch Taten folgen lassen. Es ist vieles getan worden - Sie wissen es, der Bericht führt es aus -, so beispielsweise bei der Versorgung mit Angeboten der offenen Jugendarbeit usw.
Nun kann man natürlich sagen: Das reicht nicht; es muß mehr getan werden. Man kann sagen: Noch mehr Maßnahmen zur Eindämmung der Gewaltbereitschaft, noch mehr Mittel für Jugendhilfe sind erforderlich. - Allerdings, fordern allein genügt nicht, und Finanzierungsvorschläge müssen gedeckt sein. Denn die schlimmste Hypothek, die man den Kindern und Jugendlichen aufbürden kann, ist ein Sack unbezahlter Rechnungen. Wenn ich in diesem Zusammenhang immer wieder das Wort vom „Kaputtsparen" höre: Was ist denn das Gegenteil von kaputtsparen? Das wäre dann wohl gesundschulden. Das kann wohl nicht der richtige Weg sein.
Die Bundesregierung hat das Notwendige und Richtige getan. Auch der Bundesrat, dessen Mehrheit Sie genau kennen, hat dies vor wenigen Monaten in seiner Sitzung am 3. November honoriert. Die Beschlußempfehlung des Jugendausschusses lautet:
Der Bundesrat teilt die Auffassung des Berichts der Bundesregierung, daß das Grundgefühl der meisten Menschen in den neuen Ländern von positiven persönlichen Zukunftserwartungen geprägt ist.
Der Bundesrat stimmt der Einschätzung des Berichts und der Bundesregierung zu, daß es bis zum Ausbildungsjahr 1994/95 durch gemeinsame Anstrengung gelungen ist, den jungen Menschen Ausbildungsplätze in quantitativ ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen.
- Sie, Frau Hanewinckel, haben gefragt, was die Konsequenzen aus diesem Bericht sind. Ich nenne Ihnen zwei. Zum einen brauchen wir mehr Arbeitsplätze. Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland: 7,2 Prozent. Das sind 7,2 Prozent zuviel; aber ich möchte auch Vergleichszahlen aus dem europäischen Ausland nennen. Ohne die Schwierigkeiten der deutschen Einheit lag die Jugendarbeitslosigkeit in Belgien nicht bei 7,2 Prozent, sondern bei 20 Prozent, in Italien nicht bei 20, sondern bei 33 Prozent, in Spanien nicht bei 33, sondern bei 42 Prozent. Auch das gehört zu einer gerechten Beurteilung.
Die entscheidende Konsequenz haben wir mit dem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung gezogen, nicht um des Sparens willen, sondern um Arbeitsplätze zu schaffen, wie es heute schon gesagt worden ist. Dazu gibt es keine Alternative.
Zum anderen ist mit dem Zerfall des kommunistischen Systems natürlich auch die Zerbrechlichkeit eines künstlich geschaffenen Wertesystems offenkundig geworden. Viele Jugendliche suchen nach Orientierung, und sie spüren, daß eine rein materialistische Ausrichtung nicht genügt. Ausschließlich hohes Einkommen oder Alleinverwirklichung ohne Rücksicht auf den anderen vermögen eben nicht sinnstiftend zu wirken. Hilfsbereitschaft, Schutz der Schwächeren, Ehrlichkeit, Fleiß und Toleranz sind vielmehr Grundlagen einer humanen Gesellschaft. Auch das Wort „Leistung" ist in dem Zusammenhang am Platz, das viele hier - so hat man manchmal den Eindruck - eine Gänsehaut bekommen läßt. Denn nur wenn die Stärkeren Leistung erbringen,
Johannes Singhammer
können die Schwächeren auch unterstützt werden. Auch das gehört zur vollständigen Wahrheit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil dieses Orientierungsbedürfnis vorhanden ist, ist es meines Erachtens der falsche Weg, beispielsweise das Unterrichtsfach LER in Brandenburg einzuführen. Diese Feststellung gehört auch hierher.
Wenn sich die Kirchen bemühen, ein Orientierungsangebot zu machen, dann ist es falsch, die Kirchen auszugrenzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen, daß die junge Generation diese neuen Chancen nutzt, die sie in einer freien Gesellschaft hat, wir wollen sie ermutigen und unterstützen. Die Perspektiven sind nicht schlecht, sondern gut.
Ich erteile der Abgeordneten Ursula Mogg das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicher eher ein Zufall, daß wir unmittelbar nach der Spardebatte des heutigen Vormittags über Jugendpolitik diskutieren. Sehr wohl hat das inhaltlich etwas miteinander zu tun. Die ganze Spardebatte hat eine Menge mit Jugendpolitik zu tun. Das haben wir nicht nur heute, sondern schon in den vergangenen Jahren gemerkt. Jugendpolitische Haushaltstitel waren nämlich immer die ersten, die dem Rotstift zum Opfer fielen: Kürzungen beim Kindergeld, beim BAföG, Streit um den Ausbau von Angeboten der Kinderbetreuung. Das sind Stichworte, die in Ihre Richtung weisen.
Daran macht sich offensichtlich Ungerechtigkeit fest. Dafür sind Jugendliche sehr sensibel. Glauben Sie nicht, daß sie diese nur im Elternhaus und in der Schule bemerkten. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten werden von Jugendlichen sehr aufmerksam registriert.
Wenn zum Beispiel immer öfter von einer neuen Qualität der Jugendgewalt die Rede ist, dann wird mir niemand ausreden, daß das eine mit dem anderen etwas zu tun hat.
Ihre „schöne neue Welt" fordert ihren Preis. Vor einigen Monaten veröffentlichte die „Wirtschaftswoche" eine Titelstory über „Die Macht der Kids". Die „Wirtschaftswoche" zitiert Untersuchungen des Instituts für Jugendforschung. Danach verfügen Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 20 Jahren über eine jährliche Kaufkraft von 30 Milliarden DM. Erziehungswissenschaftliche Untersuchungen der Universität Hamburg haben sogar ergeben, daß allein die Kinder zwischen 6 und 15 Jahren eine effektive Kaufkraft von 40 Milliarden DM haben, weil sie auch die Kaufentscheidungen ihrer Eltern beeinflussen.
An diesem Reichtum aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben längst nicht alle den gleichen Anteil. Hauptschüler, Zugewanderte, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger bilden das Schlußlicht. Welches Verhältnis sollen Jugendliche zu einem Gemeinwesen entwickeln, das die verehrt, die keine Ausbildungsplätze anbieten, die Arbeitsplätze abbauen, und das denen, die ohnehin schon nichts mehr haben, noch erzählt, daß sie dem Staat auf der Tasche liegen und zuviel bekämen.
Wie erleben denn zum Beispiel die Kinder der 4 Millionen Arbeitslosen diese Gesellschaft? Sie stellen fest, daß Jugendzentren geschlossen und die Angebote einer Jugendkultur gekürzt werden, daß ihre Eltern ihre Arbeitsplätze verlieren, die Wohnungen immer teurer und unbezahlbar werden. Andere haben, was sie nie haben werden, fahren, wohin sie niemals fahren können, und sind, wie sie niemals sein werden. Diese schon im Elternhaus benachteiligten Kinder und Jugendlichen erleben heute die Politik als eine Protektionsmaschine, die diejenigen hofiert, die durch schlagkräftige Organisationen oder materiell begründeten Einfluß gesellschaftliche Macht haben.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die Mehrzahl unserer Jugendlichen kriminell nicht auffällig ist. Gott sei Dank - dürfen wir sicher feststellen. Trotzdem müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Schlagzeilen zu den Kriminalstatistiken feststellen müssen, daß immer mehr Kinder „lange Finger" machen.
Auch das Deutsche Kinderhilfswerk argumentiert in diese Richtung. In über 40 Prozent der Fälle handelt es sich dabei um Diebstahlsdelikte. Das Deutsche Kinderhilfswerk sieht die gestiegene Kinderkriminalität daher unter anderem als eine Folge der in unserer Gesellschaft gewachsenen Armut sowie der zunehmenden Vernachlässigung der Kinder durch Staat und Gesellschaft.
- Richtig. Deshalb habe ich ja auch gesagt, Sie haben recht, wenn Sie feststellen, daß die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen nicht auffällig wird.
Trotzdem gibt es eine Entwicklung, auf die wir achten müssen. Über 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Haushalten, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, über 1,1 Millionen von regelmäßiger Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Auswirkungen werden jedoch von der Bundesregierung weitgehend ignoriert. Die Lebenserfahrungen der Empfänger von Sozialhilfe und erst recht der betroffenen Kinder sind der Bundesregierung völlig fremd. Der Mangel an Arbeits- und Ausbildungsplätzen wird im Einklang mit dem scheinbar unaufhaltsamen Anstieg der allgemeinen Arbeitslosigkeit auch für Jugendliche immer eklatanter. Was nutzt die Feststellung, es wür-
Ursula Mogg
den mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung .gestellt und das duale System arbeite ganz hervorragend, wenn Jugendliche keinen Zugang zu diesem dualen System finden können?
Im Februar 1996 waren 530 000 junge Menschen unter 25 Jahren ohne Arbeit. Immer mehr Betriebe verstehen unter Lean management auch den Verzicht auf Ausbildung. Sie vertrauen offenbar darauf, daß ein allgefälliger Staat ihnen diese Kosten durch außerbetriebliche Ausbildungsstätten abnimmt.
In letzter Zeit liest man immer öfter von einer Verschiebung der Armut von den Alten zu den Jungen. Wenn ich manche Berichte lese, wie etwa den der „Süddeutschen Zeitung" am letzten Wochenende zu den Berliner Straßenkindern, dann stelle ich fest, daß es hier nicht nur um materielle, sondern meines Erachtens auch um seelische Verarmung geht.
Gleichzeitig erleben wir aber nicht etwa ein Gegensteuern des Staates. Vielmehr stellen wir bei Jugendhilfe und Jugendarbeit ein Stagnieren fest, wenn nicht sogar ein langsames Austrocknen. Die politischen Mittel und Maßnahmen, die für Jugendliche in Krisensituationen ein Mindestmaß an sozialer Stabilität und Integration gewährleisten, verlieren in Zeiten, in denen sie besonders notwendig werden, ihre Effizienz.
Ich kenne Ihren Einwand: Die Verantwortung für Jugendpolitik liegt vor allem bei Ländern und Gemeinden. Das ist zweifellos richtig. Richtig ist aber auch, daß die zunehmende Verlagerung von Aufgaben vom Bund hin zu den Ländern diese zunehmend in eine haushaltspolitische Handlungsunfähigkeit treibt, die freiwillige Leistungen, die einst die Gestaltungskompetenz des föderalistischen Staates und besonders der Gemeinden begründeten, zu einem Luxus werden läßt.
Richtig ist auch, daß soziale Kürzungsmaßnahmen zu einem Ansteigen der Zahl der Fälle von Sozialhilfeberechtigung geführt haben, die vielen Kommunen jede Möglichkeit zu eigenständigen Initiativen genommen haben.
Die gesamte Jugendpolitik befindet sich in einem Dilemma. Ihre originäre Aufgabe besteht nicht darin, materielle gesellschaftliche Ungleichheiten zu bekämpfen. Wie nur wenige andere Politikbereiche leidet sie aber an diesen Ungleichheiten. Es ist erst recht nicht Aufgabe der Jugendpolitik, das System der finanziellen Zuweisungen und fachlichen Kompetenzen im föderalen System zu diskutieren. Gleichzeitig wird gerade sie in besonderer Weise geknebelt und eingeschränkt. Besonders die Jugendhilfe und die Jugendarbeit freier Träger sehen sich mit Aufgaben konfrontiert, die sie beim besten Willen nicht lösen können.
Der strukturelle Zuschnitt von Kompetenzen der Jugendpolitik wird aber den Anforderungen nicht
mehr gerecht, die heute an sie gestellt werden. Sie sind geprägt von anhaltenden Problemen beim Aufbau und Erhalt funktionsfähiger jugendpolitischer Strukturen vor allem in den neuen Bundesländern, von den finanziellen Problemen, denen sich heute Familien mit mehreren Kindern gegenübersehen - von den Alleinerziehenden wollen wir gar nicht sprechen; sie sind noch stärker betroffen -, und von dem bereits erwähnten Mangel an Arbeits- und Ausbildungsplätzen.
Bereits in den letzten Jahren ist nun wirklich jede jugendpolitische Initiative an angeblicher Nichtzuständigkeit des Bundes, finanzieller Überforderung der Länder und allseitig mangelnder Phantasie gescheitert.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sind ein reiches Land. Bei uns haben viele Jugendliche Möglichkeiten, von denen die Generationen vor ihnen nicht einmal geträumt haben. Selbst heute gibt es nur wenige Länder, in denen sie vergleichbare Möglichkeiten haben. Es geht also nicht darum, die Situation unserer Jugend grau in grau darzustellen. Es geht darum, für die Jugend in unserem Lande Chancengleichheit einzufordern.
Wenn es nicht gelingt, den Aspekt der Gerechtigkeit wieder stärker zu betonen und das Gefühl zu vermitteln, daß es bei uns gerecht zugeht, dann wird uns bald der ganze Wohlstand nichts mehr nützen.
Kinder- und Jugendpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Wer etwas für Kinder und Jugendliche tun will, muß Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze schaffen, muß die Umwelt intakt halten, muß bezahlbare Wohnungen anbieten und vieles andere mehr. Initiativen der Bundesregierung, diese Probleme anzugehen, sind eher spärlich; da wird gespart. Statt dessen wird von Ihnen ständig über die Kosten der durch Ihre eigene Unfähigkeit erzeugten Mißstände lamentiert - so auch heute morgen vielfach zu hören.
Tun Sie doch endlich etwas gegen die Ursachen! Das wäre die beste Jugendpolitik. Arbeiten Sie an einer Politik, die Perspektiven, nicht das Abstellgleis verspricht. Dann werden Sie unsere Unterstützung haben.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Kersten Wetzel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jugendpolitik ist naturgemäß sehr schnellebig. Dies gilt erst recht für die Jugendpolitik in den neuen Bundesländern. Hier hat sich in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung vollzogen. Bei allen Problemen, die wir haben - ich möchte ja nichts schönreden -: Lamentieren hilft uns letztendlich auch nicht weiter.
Kersten Wetzel
Ich selbst komme aus den neuen Ländern und habe mir nicht nur viele Jugendprojekte angeschaut, sondern versuche seit 1990 auch, vieles selbst mit zu initiieren und zu begleiten. Ich kann deshalb aus eigener Anschauung einschätzen, daß wirklich sehr vieles erreicht ist, was wir an dieser Stelle würdigen können.
Unser Jugendbericht kann lediglich die Probleme beim Aufbau der Jugendhilfe, insbesondere in den Jahren 1991 bis 1993, untersuchen. So mußten aktuelle Entwicklungen leider unberücksichtigt bleiben. Bereits auf der öffentlichen Anhörung vom 21. Juni letzten Jahres machte das das Expertengremium sehr deutlich. An Hand konkreter Zahlen und eigener Erfahrungen konnten gerade die Praktiker aus dem Jugendbereich nachweisen, daß die Entwicklung in den neuen Bundesländern schon viele Erfolge gezeitigt hat.
So konnte der Vertreter der Thüringer Landesregierung nachweisen, daß bereits Ende 1994 in Thüringen prozentual mehr Mitarbeiter in der Jugendhilfe beschäftigt waren als in den alten Bundesländern. Auch gab es dort zum selben Zeitpunkt einen höheren Anteil an Jugendeinrichtungen als in den alten Ländern.
Im Neunten Jugendbericht wurde noch von 1 853 Mitarbeitern für die gesamten neuen Bundesländer ausgegangen; diese Zahlen stammten aus dem Jahre 1991. 1995 aber waren allein im Teilbereich der Anstellung über § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes in Thüringen 2 500 Mitarbeiter beschäftigt. Sie müssen davon ausgehen, daß wir in Thüringen im Jahr 1995 wahrscheinlich 3 000 Mitarbeiter in der Jugendarbeit beschäftigt haben. Die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter ist höher als in westlichen Bundesländern mit vergleichbarer Bevölkerungsstruktur.
Bei den Einrichtungen der Jugendarbeit verhält es sich ähnlich: Im Jugendbericht wurde für die gesamten neuen Länder von 490 Einrichtungen der Jugendarbeit ausgegangen. 1993 gab es aber allein in Thüringen schon 768 solcher Einrichtungen.
Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, muß auch in Zukunft finanziert werden. Ich bin unserer Ministerin sehr dankbar, daß sie die Initiative unterstützt, für unsere Jugendlichen im Bereich des § 249h eine sinnvolle Weiterführung zu erreichen. Die Mittel des Arbeitsförderungsgesetzes, die Personalkosten, müssen aber künftig zunehmend von den Ländern und Kommunen übernommen werden. Hier müssen vor Ort mehr Prioritäten für Jugendarbeit gesetzt und die eigentlich Verantwortlichen stärker in die Pflicht genommen werden.
Mit Hilfe der in den letzten Jahren sicher sehr verdienstvollen Finanzspritzen und Bundesmodellprojekte wie AFT und AgAG kann diese Aufgabe nicht kompensiert werden. So wird auch im jüngst vorgelegten Bericht der Thüringer Landesregierung - dort regiert zur Zeit bekanntlich die Große Koalition -
festgestellt, daß die Kommunen stärker in die Pflicht genommen werden müssen. Ich zitiere:
Von besonderer Bedeutung ist die personelle Absicherung der Jugendarbeit in den Regionen durch die örtliche öffentliche Jugendhilfe. Jugendarbeit muß als präventives Angebot und als Pflichtaufgabe im kommunalpolitischen Handeln erkannt werden.
Die Thüringer Landesregierung wird durch das im Haushalt 1996 entwickelte Stabilisierungsprogramm für Jugendarbeit die Landkreise und kreisfreien Städte entsprechend unterstützen können.
Sicher entbindet dies alles uns im Bund nicht von der Verantwortung. Wir müssen weiterhin spezifisch die Länder und Kommunen in den neuen Bundesländern unterstützen: mit weiterentwickelten Modellprojekten, die der sich schnell verändernden Situation der Jugendarbeit gerecht werden, mit Projekten, die mit Kommunen und Ländern Hand in Hand entwickelt und umgesetzt werden.
Neue und vor allem kurze Wege sind heute in der Jugendhilfe gefragter denn je. Geld allein bringt noch keine neuen Initiativen. Manchmal habe ich den Eindruck, daß die Verwaltung der Jugendarbeit immer besser organisiert und verbürokratisiert wird. Die inhaltliche Gestaltung wird nach bestehenden Förderrichtlinien ausgerichtet oder, wie mir viele Jugendhilfe-Mitarbeiter sagen, passend gemacht. Ressort- und Richtliniendenken erschweren deshalb oft Initiativen von unten oder machen diese gar unmöglich. Auch das ist auf unserer öffentlichen Anhörung vor allem von den Experten aus der Praxis immer wieder betont worden.
Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen auch von der Opposition, müssen wir gemeinsam ansetzen; denn junge engagierte Leute, die mit eigenen Projekten und Ideen totverwaltet werden, unterscheiden in der Regel nicht zwischen SPD- oder CDU-geführter Regierung in Bund, Ländern und Kommunen. Für sie sind einfach die Politiker schuld oder unfähig.
Ich bin gerne bereit, mir selbst Asche aufs Haupt zu streuen, wenn es darum geht, wie wir gemeinsam die alten Zöpfe abschneiden können.
Der Dialog mit den jungen Leuten und nicht die Verhandlung über sie muß Ausgangspunkt für unsere politischen Überlegungen und unsere Unterstützung sein: Dabei geht es uns von der CDU/CSU- Fraktion, wie gesagt, nicht um Projekte und Finanzierungen um jeden Preis. Wenn in jetzigen Zeiten Kirchen, Jugendverbände und Jugendgruppen junge Leute verlieren und es immer schwieriger wird, mit langjährig bewährten Methoden bei Jugendlichen Interesse zu wecken, dann ist es dringend notwendig, die Förderung der Jugendarbeit neu auszurichten und neu zu orientieren, und zwar nach dem Bedarf vor Ort, der meines Erachtens nicht immer an Schreibtischen oder in 1,4 Kilogramm schweren Analysen - soviel wiegt nämlich unser Neunter Jugendbericht - festgestellt werden kann.
Kersten Wetzel
Von dem dicken Stapel an zur Zeit gültigen Förderrichtlinien - diesen hatte ich letztes Mal dabei - will ich jetzt gar nicht sprechen; denn meine Argumente sollten schließlich nicht alles erschlagen.
Projektarbeit innerhalb der Jugendhilfe muß also einfach mehr sein als das Nachschlagen und das Nachforschen in Marathon-Förderrichtlinien, die ohnehin oft nur von den Spezialisten in den großen freien Trägern oder von den zuständigen Beamten verstanden und gekannt werden.
Daß es natürlich nicht ohne Richtlinien geht, liegt auf der Hand. Aber die derzeitige Flut von Bestimmungen und Richtlinien macht eine ständige vernünftige Neuorientierung unserer Jugendarbeit zumindest sehr schwer.
Bei dem jetzt notwendigen Sparzwang, vom Bund bis hin zu den Kommunen, darf der derzeitige Bürokratie- und Verwaltungsaufwand eicht dazu führen, Projektplanung und -durchführung zu verzögern oder vielleicht ganz und gar unmöglich zu machen.
Neue Finanzspritzen aus Bonn, die ohnehin nur ein Verschieben der Gesamtlasten zur Folge haben, lösen die Ursachen vieler Probleme nicht. Gerade aber der Sparzwang, der alle öffentlichen Haushalte und alle eigenständig wohlgehüteten Ressorts betrifft, bietet uns die Chance zum grundlegenden Überdenken der Strukturen.
Warum kann es denn zum Beispiel künftig nicht möglich sein, gemeinsame Projekte von Bund, Ländern, Landkreisen und Kommunen für Jugendliche zu entwickeln, die ressortübergreifend schwer vermittelbare Jugendliche über ABM, junge Aussiedler über Eingliederungsförderung und junge Sozialhilfeempfänger gemeinsam in einem Projekt für die Erhaltung unserer Umwelt integrieren? Dann hätten wir viele Projekte in einem möglich gemacht.
Hier möchte ich an unsere Ministerien in Bonn appellieren. Sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen und Modellprojekte mit den Trägern und den örtlich Verantwortlichen entwickeln. Mit etwas gutem Willen kann man bekanntlich Berge versetzen. Warum also nicht auch eingefahrene Gleise verlassen?
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich bedanke mich sehr.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Klaus Hagemann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Wetzel, Sie haben eben zitiert, die Jugendarbeit sollte nicht totverwaltet werden. Aus Gesprächen mit den Jugendverbänden kann man nicht die Sorge entnehmen, daß sie totverwaltet würden.
Die Sorgen sind ganz andere, nämlich daß die Jugendarbeit insgesamt ganz wegbrechen könnte.
Verehrter Herr Kollege Singhammer, man hört auch nicht die Sorge um LER, wenn man Gespräche mit den Verbänden führt, sondern es besteht die Sorge, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Maßnahmen nach § 249h AFG insgesamt wegbrechen könnten. Wenn man Ihre Darlegungen im Kürzungspaket - so möchte ich es nennen - betrachtet, dann besteht die Gefahr, daß im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erhebliche Einschnitte vorgenommen werden. Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit dem Landjugendverband. Hier wird befürchtet, daß solche Maßnahmen ein Ende haben könnten.
Wir wissen um die Gefahren - sie sind schon dargelegt worden -, wenn Jugendarbeit wegbricht, wenn junge Menschen keine Arbeitsplätze, keine Ausbildungsplätze bekommen und wenn sie auch keine Beschäftigung in der Jugendarbeit erhalten. Welche Perspektive haben sie denn? Deswegen müssen wir dieses Problem verstärkt angehen, hier ansetzen und uns engagieren, und deswegen dürfen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht entfallen.
Meine Damen und Herren, es ist nicht gut - auch darauf möchte ich deutlich hinweisen -, wenn wir uns mit dieser subtilen Form der Beseitigung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abfinden. Den Kreislauf kennen wir ja: Die Kommunen werden aufgefordert, höhere Beiträge zu leisten, höhere Beteiligungen. Dann fehlen die Komplementärmittel bei den Kommunen, weil die Finanzsituation der Kommunen schlecht ist. Auch die Verbände können also keine AB-Maßnahmen mehr einleiten; die Kommunen können es wegen fehlender Mittel auch nicht. Die Folge ist, daß die Mittel nicht mehr abgerufen werden können. Wenn die Mittel nicht mehr abgerufen werden, heißt es: Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, hier Mittel bereitzustellen.
Ich meine, hier müssen deutliche Zeichen gesetzt werden, daß wir für die jungen Menschen da sind, daß wir ihnen eine Perspektive geben und daß wir für sie kämpfen und ihnen eine Möglichkeit geben, sich weiterhin einzusetzen. Denn die Jugend ist das Kapital, das wir für die Zukunft haben.
Ich bitte Sie darum, daß wir uns alle dafür einsetzen, daß entsprechende Mittel auch weiterhin in den zuständigen Haushalt eingestellt werden.
Vielen Dank.
Herr Kollege Wetzel, möchten Sie darauf erwidern? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Wir kommen zu den Abstimmungen. Wir stimmen zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Neunten Jugendbericht der Bundesregierung auf Drucksachen 13/70 und 13/3314 Buchstabe a ab. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung bei Gegenstimmen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
- Da möchte man mit den Hamburgern sagen: Nicht einmal ignorieren, wollten Sie sagen, Herr Kollege Fischer.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Neunten Jugendbericht auf Drucksache 13/3314 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/709 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden ist.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum Neunten Jugendbericht auf Drucksache 13/3314 Buchstabe c. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/726 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie eben angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4679. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß dieser Entschließungsantrag mit der gleichen Stimmenmehrheit abgelehnt worden ist.
Ich rufe die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:
ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz über den Verkauf von Mauer- und Grenzgrundstücken an die früheren Eigentümer und zur Änderung anderer Vorschriften
- Drucksachen 13/120, 13/3734, 13/3950, 13/4589 -
Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Schwanitz
ZP5 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Erstes SGB XI - Änderungsgesetz - 1. SGB XI-ÄndG)
- Drucksachen 13/3696, 13/4091, 13/4521, 13/4688 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann frage ich, ob das Wort zu Erklärungen gewünscht wird. - Ich gebe das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Blens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß schlägt Ihnen eine Reihe von Änderungen zum Pflegeversicherungsänderungsgesetz vor. Zwei dieser Änderungen - das sind die wichtigsten - betreffen die Behinderten. Durch diese Änderungen wird klargestellt: Die Behinderten werden bei der Pflegeversicherung nicht ausgegrenzt, und zwar auch diejenigen nicht, die ständig in speziellen Behinderteneinrichtungen leben. Ich meine, das ist das Entscheidende bei unseren Vorschlägen, die wir Ihnen heute machen.
Die Einbeziehung von Behinderten in speziellen Behinderteneinrichtungen in die Leistungen der Pflegeversicherung geschieht dadurch, daß sich die Pflegeversicherung an einem Teil der Leistungen, die dort erbracht werden, und zwar an einem untergeordneten Teil, der mit den üblichen Leistungen der Pflegeversicherung identisch ist, mit einem Pauschalbetrag bis zu 500 DM beteiligt.
'Bei der zweiten Änderung, die die Behinderten betrifft, geht es um die sogenannten Arbeitgeber- oder Assistenzmodelle. Das sind die Fälle, in denen Behinderte ihre Pflege selbst organisieren und dafür Leute einstellen. Davon gibt es in der Bundesrepublik mehrere hundert Modelle. Wegen der begrenzten Mittel der Pflegeversicherung war es nicht möglich, alle diese Modelle, auch wenn sie in Zukunft organisiert werden, in die erhöhten Sachleistungen der Pflegeversicherung einzubeziehen. Aber wir schlagen Ihnen vor, die bestehenden Modelle dieser Art, um ihren Bestand zu schützen, in die Pflegeversicherung mit erhöhten Leistungen einzubeziehen. Ich sage jedoch gleich dazu: Wenn wir nur die bestehenden Einrichtungen dieser Art einbeziehen, dann heißt das nicht, daß nicht in Zukunft auch neue Arbeitgebermodelle ins Leben gerufen werden könnten. Sie können nur nicht zu Lasten der Pflegeversicherung gehen.
Sie existieren bisher auf Grund der Finanzierung durch die Sozialhilfe. Diese Finanzierung bleibt auch in Zukunft möglich. Es ist also Sache der Sozialhilfe,
Dr. Heribert Blens
ob auch in Zukunft solche Modelle neu aufgelegt werden können oder nicht.
Lassen Sie mich hier einmal grundsätzlich etwas zum Verhältnis von Pflegeversicherung und Sozialhilfe sagen. Man hört immer: Das, das und das ist nach der Pflegeversicherung nicht mehr drin, also fällt es weg. - Das stimmt nicht. Die Pflege als solche ist auch in Zukunft Aufgabe der Sozialhilfe, wenn die Sozialhilfe subsidiär einspringen muß, um ein menschenwürdiges Leben der zu Pflegenden zu gewährleisten. Die Kämmerer können sich unter Berufung auf die Pflegeversicherung nicht einfach aus der Pflege verabschieden.
Das gilt für die Vergangenheit, und das gilt auch für die Zukunft.
Für die Kommunen bedeutet die Einbeziehung der zu pflegenden Behinderten in speziellen Einrichtungen eine Entlastung von 450 Millionen DM, also von fast einer halben Milliarde. Ich sage dazu: Wir hätten in der gestrigen Sitzung des Vermittlungsausschusses die Kommunen mit der Reform des Sozialhilfegesetzes und des Asylbewerberleistungsgesetzes gerne noch weiter entlastet. Es wären dort, wenn auf unsere Verhandlungsangebote eingegangen worden wäre, mindestens weitere 3 Milliarden DM an Entlastung der Kommunen möglich gewesen. Ich bedaure, daß es dazu nicht gekommen ist. Denn es bestand keine Bereitschaft der Mehrheit des Vermittlungsausschusses, auch die Entlastung des Bundes, die im Asylbewerberleistungsgesetz steht, zu akzeptieren.
Es kann nicht so sein, daß wir dazu beitragen, daß die Kommunalhaushalte und die Länderhaushalte durch Absenkung von Leistungen saniert werden, daß die Länder dabei auch mitmachen und daß dann, wenn es um die Sanierung des Bundeshaushaltes geht, die Länder mauern. Jedenfalls spielen wir dabei nicht mit.
Daran ist gestern eine Einigung zu diesen beiden Gesetzen bedauerlicherweise gescheitert.
Lassen Sie mich noch etwas zur Berichtigung der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses sagen. Sie finden in der Beschlußempfehlung den Vorschlag, einen § 202 a in das Gesetz einzufügen. Das hieße, daß man im Sozialgerichtsverfahren ein Mahnverfahren installieren würde. Dies ist gestern in Unkenntnis der wohl erheblichen Kosten, die sich daraus ergeben würden, vorgeschlagen worden. Wir empfehlen Ihnen - das ist mit den anderen Fraktionen besprochen -, diese Regelung heute nicht zu beschließen, also die Beschlußempfehlung zu berichtigen, indem wir dies herausnehmen. Ich schlage- Ihnen also vor, die Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/4688 zu berichtigen und mit folgender Maßgabe zu beschließen: Zu Artikel 6 - Änderung des Sozialgerichtsgesetzes: Artikel 6 wird gestrichen.
Ich darf noch ein Wort zu den Mauergrundstücken sagen, um die es jetzt auch geht. Meine Damen und Herren, es gibt niemanden, der in der Lage wäre, eine Lösung zu finden, die das Unrecht, das in 40 Jahren DDR in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen angerichtet worden ist, völlig wiedergutmachen und ausräumen könnte. Es kann nur darum gehen, den Versuch zu unternehmen, die größten Ungerechtigkeiten auch in Fragen der Enteignung rückgängig zu machen oder zu mildern.
Dieses Ziel - und nur dieses Ziel - hat das Gesetz über die Mauergrundstücke. Es wird niemand damit ganz zufrieden sein. Aber jeder muß wissen: Es ist einfach unmöglich, 40 Jahre DDR nach den Grundsätzen des Art. 14 des Grundgesetzes wieder aufzurollen und rückgängig zu machen. Die Geschichte ist vorangeschritten. Sie hat Tatsachen geschaffen. Diese alle rückgängig zu machen würde neue Ungerechtigkeiten schaffen. Das darf nicht sein. Wir können es nur versuchen. Dieses Gesetz ist ein Schritt in diese Richtung. Ich empfehle Ihnen deshalb die Zustimmung.
Ich möchte daran erinnern, daß es sich nicht um eine Debatte handelt, sondern nur um die Abgabe von Erklärungen. Mit dieser Maßgabe gebe ich das Wort der Abgeordneten Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erkläre hiermit, daß weder ich noch die anderen Mitglieder meiner Fraktion den beiden Kompromissen zustimmen können.
Beim Änderungsgesetz zum Pflege-Versicherungsgesetz sind in unseren Augen wesentliche Punkte nicht erreicht worden. Anders, als der Kollege Blens es gerade dargestellt hat, halte ich eine Besitzstandsregelung für bestehende Arbeitgebermodelle für unzureichend. Hier hätte es eine Weichenstellung geben müssen, die auch in Zukunft Behinderten eine selbstorganisierte Pflege ermöglicht. Immer wieder haben wir dazu Vorschläge gemacht, die auch den Befürchtungen, es könne dabei zu großem Mißbrauch kommen, entgegenkamen. Keines dieser Angebote ist angenommen worden. Statt dessen soll es Behinderten künftig erschwert werden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Mit der Verabredung, die Zuordnung der Behandlungspflege in drei Jahren noch einmal überprüfen zu wollen, wird zugestanden, daß wir es mit einer sachlich problematischen Zuordnung zu tun haben. Die Entscheidung für die Pflegeversicherung bleibt falsch. Aber sie wird nach drei Jahren Praxis vermutlich allein auf Grund von Sachzwängen nur noch schwer zu korrigieren sein.
Andrea Fischer
So erleichtert ich auch bin, daß Abstand von der geplanten Verengung des Pflegebegriffs im Sozialhilfegesetz genommen wurde, wiegt es jedoch den schlechten Kompromiß bei der anteiligen Zahlung von Leistungen der Pflegeversicherung an Behinderte nicht auf. Ich muß es noch einmal deutlich machen: Der Vorschlag der Verbände, 20 Prozent der Kosten der Eingliederungshilfe zu übernehmen, hatte nicht den Charakter einer Forderung nach Einstieg in Tarifverhandlungen, bei denen man von vornherein damit rechnet, daß man sich im Mittel zwischen ganz und gar nicht irgendwo einigt. Die 20 Prozent waren sozialpolitisch im Hinblick auf die für Behinderte höheren Pflegesätze wohlerwogen.
Der vorliegende Kompromiß schafft eine große Differenz zwischen dem regulären Pflegesatz und der Kostenübernahme für die Pflege von Behinderten, die auf 500 DM begrenzt werden soll. Das wird einen Anreiz für die Träger der Sozialhilfe darstellen, die Träger der Einrichtungen zur Schaffung von separaten Pflegeeinrichtungen zu drängen, die die engen Vorgaben des Pflegeversicherungsgesetzes erfüllen und somit auf wesentlich niedrigerem Niveau Pflege für Behinderte leisten. Das heißt, so wird die Abwärtsspirale bei der Pflegequalität gerade nicht gestoppt. Deshalb werden wir dem Pflegeversicherungsänderungsgesetz nicht zustimmen.
Nun liegt es in der Natur von Kompromissen, unbefriedigend zu sein. Aber es gibt Felder, auf denen ist erst gar kein Kompromiß möglich. Das ist für mich der Fall bei den Mauergrundstücken. Nach der Einigung des Vermittlungsausschusses werden die Eigentümer gegenüber dem Ursprungsentwurf der Bundesregierung beim Erwerb ihres ehemals enteigneten Grundstücks bzw. bei der Entschädigung im Falle der Nichtrückgabe steuerlich besser gestellt. Aber hier ging es nie um die Frage, ob der Erwerb des Grundstücks eine unzumutbare finanzielle Härte für die enteigneten Eigentümer darstellte.
Bei den Mauergrundstücken geht es um das Skandalon, daß die Bundesregierung die Enteignung im nachhinein für rechtmäßig erklären muß, damit sie einen Zugriff auf die Grundstücke in bester Berliner Lage erhält. Für einen finanziellen Vorteil des Bundes wird damit der Mauerbau 35 Jahre später für normal erklärt. Keine Rede ist mehr vom Bruch des Völkerrechts, vom Leid, das erst die Enteignung über die betroffenen Besitzer und dann 28 Jahre lang über alle Menschen in der DDR und der Bundesrepublik gebracht hat. Statt dessen wird nachträglich das DDR-Grenzgesetz als rechtsgültige Grundlage für die Enteigungen anerkannt und damit die Mauer zu einer ganz normalen Grenze verniedlicht. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich so etwas einmal einer konservativen Bundesregierung vorwerfen muß.
Der Mauerbau war empörendes Unrecht. Um ihn zu betreiben, wurden Menschen von ihrem Grund und Boden vertrieben, ihre Häuser abgerissen und unter den Bütteln des DDR-Regimes verteilt. Sagen Sie nicht, sie würden jetzt den Betroffenen ein attraktiveres Angebot machen. Hier ist kein Angebot zu machen. Hier muß den Opfern Gerechtigkeit widerfahren. Sie kümmern sich aber nicht um Ihre Klagen
über die Mauer, die Sie früher so oft geäußert haben. Sie machen sich statt dessen mit diesem Gesetzentwurf zu Erbschleichern Walter Ulbrichts.
Deswegen gibt es in dieser Frage keine Kompromisse.
Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden über zwei Empfehlungen des Vermittlungsausschusses. Ich will mich zunächst dem Thema Mauergrundstücke zuwenden.
Jedem der Beteiligten war klar, sowohl dem Deutschen Bundestag in der ersten, zweiten und dritten Lesung als auch dem Bundesrat, daß es eine für die Betroffenen befriedigende Lösung, die sie akzeptieren werden, nicht geben wird. Das war jedem klar.
Ich muß für meine Fraktion erklären, daß wir diesem Ergebnis des Vermittlungsausschusses nicht zustimmen können, sondern uns der Stimme enthalten werden, weil wir nach wie vor eine große Unsicherheit darüber empfinden, ob wir eine gerechte Lösung gefunden haben. Es ist übrigens auch damit zu rechnen, meine Damen und Herren, daß die Betroffenen, egal, wie im Vermittlungsausschuß entschieden würde, den Weg nach Karlsruhe gehen werden. Das ist ihr gutes Recht. Wir erwarten dann die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes zu dieser Frage.
Was das zweite Gesetz, das wir heute als Empfehlung des Vermittlungsausschusses zu beschließen haben, die Änderung des Pflege-Versicherungsgesetzes, angeht, so wird meine Fraktion dem zustimmen. Wir haben - das werden die Beteiligten im Vermittlungsausschuß auch sagen - sehr wesernlich zu diesem Vermittlungsergebnis beigetragen, Herr Kollege Blüm. Ich bin Ihnen auch dafür dankbar, daß Sie dies entsprechend gewürdigt haben.
Wer, wie die Fraktion der Grünen, diesem Ergebnis widerspricht und ihm nicht zustimmen kann, geht von einer anderen Grundposition an das Thema Pflegeversicherung heran. Wir Sozialdemokraten sind nicht der Auffassung, daß eine Pflegeversicherung 'aus Steuergeldern finanziert werden soll, Frau Kollegin Fischer. Wir sind auch nicht der Auffassung, daß eine Pflegeversicherung nur über den privaten Bereich hätte finanziert werden können, wie es einige aus der Fraktion der F.D.P. seinerzeit gefordert haben.
Es war damals ein schwerer Weg, auch im Vermittlungsausschuß, mit ganz schwierigen Verhandlungen, die Pflegeversicherung überhaupt zu installieren.
Es ist ein schwerer Weg, die zweite Stufe der Pflegeversicherung gesetzlich umzusetzen. Es ist genauso
schwer, diejenigen, die bisher nicht in der Pflegever-
9422 Deutscher Bundestag - 13, Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996
Dr. Peter Struck
sicherung waren, in angemessenem Rahmen in die Pflegeversicherung hineinzuführen. Wir haben jetzt mit der Hereinnahme der Behinderten in die Pflegeversicherung einen großen, einen wesentlichen Schritt gewagt. Der Bundestag wird dem heute zustimmen. Ich habe auch keine Zweifel daran, daß der Bundesrat dem nach den Entscheidungen, die gestern im Vermittlungsausschuß sehr einvernehmlich erfolgt sind, zustimmen wird.
Ich möchte zuletzt sagen, daß wir Sozialdemokraten die Entscheidung, daß der Rechtsweg für Streitigkeiten aus der Pflegeversicherung einvernehmlich auf die Sozialgerichtsbarkeit festgelegt wurde, immer gefordert haben, auch im Bundesrat. Es hat einige Irritationen über Einzelheiten dieses Verfahrens gegeben, die inzwischen bereinigt sind.
Deshalb, meine Damen und Herren, stimmen wir dem Pflegeversicherungsvorschlag zu, enthalten uns aber bei den Mauergrundstücken. Die Themen, die wir noch gestern im Vermittlungsausschuß kontrovers behandelt haben, werden uns in der nächsten Stunde in nicht so freundlicher Atmosphäre beschäftigen.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freien Demokraten werden beiden Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses zustimmen, wenn auch nicht mit ausgeprägten Glücksgefühlen.
Beide Kompromisse sind das, was das Wort sagt: Kompromisse.
Bei den Mauergrundstücken war dies von Anfang an der Fall. Es ist natürlich gerade für einen Liberalen schwer erträglich, wenn man sagt, ein Eigentum, das geraubt worden ist, wird nicht in vollem Umfang zurückerstattet. Aber Herr Blens hat eben zu Recht ausgeführt: Man kann nicht den Versuch machen, nach Ablauf von 50 Jahren das Unrecht in jedem Einzelfalle wiedergutzumachen und praktisch das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Deshalb hoffe ich doch sehr, daß die Regelung, die jetzt gefunden wurde, zum Rechtsfrieden und zur Befriedung insgesamt beitragen kann.
Es sind noch einige Elemente eingeführt worden, die die Betroffenen etwas günstiger stellen. Sie werden von der Grunderwerbsteuer ausgenommen. Das halte ich für richtig. Sie brauchen, wenn sie innerhalb von zwei Jahren verkaufen, die Spekulationsgewinne, die entstehen sollten, nicht zu versteuern. Für die Zahlung des Betrages ist eine Härtefallklausel vorgesehen.
Vorhin war schon vom Rechtsweg die Rede: In der Tat war übersehen worden, eine Rechtswegregelung
einzuführen. Das ist im Vermittlungsverfahren nachgeholt worden.
Ich bitte insbesondere die aus dem neuen Gesetz Berechtigten, die ehemaligen Eigentümer der Mauergrundstücke, herzlich darum, dies nicht als eine restlose Wiedergutmachung anzusehen, aber doch das Bemühen zu erkennen, daß wir nach Möglichkeit für mehr Gerechtigkeit sorgen wollen.
Hinsichtlich der Pflegeversicherung ist es in der Tat wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Einbeziehung der Behinderten in die Leistungen der Pflegeversicherung ein gänzlich neues Element darstellt, das auch mit Risiken behaftet ist. Ich betone: Diejenigen, die in diesem Punkt Bedenken haben, tragen diese nicht, weil sie kein Herz für Behinderte hätten. Die persönliche Situation der Behinderten im Hinblick auf ihre Leistungen wird sich nicht ändern. In Zukunft wird nur aus einem anderen Topf gezahlt. Hätten wir dies nicht einvernehmlich so festgelegt, hätte sich die Situation der Behinderten auch nicht verschlechtert. Das muß man wissen. Hier dürfen keine Emotionen mit ins Spiel gebracht werden.
- Ich erkläre die Position der Liberalen. Das Risiko, das bei der Einbeziehung der Behinderten hinsichtlich ihrer Pflege besteht, halten wir für akzeptabel. Die finanzielle Belastung beläuft sich auf 450 Millionen DM. Es besteht ein gewisses Risiko, daß diese Grenze unter verfassungsrechtlichen Aspekten durchbrochen werden könnte. Ich weise ausdrücklich auf dieses Risiko hin. Wir wollen uns später nämlich nicht sagen lassen, wir hätten nicht gewarnt.
Wir akzeptieren den Kompromiß aber, weil wir der Meinung sind: Es ist besser, das verfassungsrechtliche Risiko, das anderenfalls bestanden hätte, einzugrenzen. Die Experten sagen, daß das Risiko bei der gefundenen Lösung geringer ist als bei der Alternative, die Behinderten überhaupt nicht einzubeziehen.
Ganz wichtig ist: Die Pflegeversicherung muß auf Dauer finanzierbar bleiben. Deshalb müssen alle Einbeziehungen, alle Ausweitungen immer unter dem Vorbehalt stehen, eine solide Finanzierung zu gewährleisten; denn alle, die sich von der Pflegeversicherung eine Erleichterung ihres in der Regel schweren Loses versprechen, wären mit Recht bitter enttäuscht, wenn die Versprechungen, die durch die Einführung der ersten und zweiten Stufe der Pflegeversicherung gemacht worden sind, nicht gehalten werden könnten, weil der Finanzrahmen gesprengt werden würde. Das gilt auch für die zukünftige Behandlung der Pflegeversicherung.
Wir empfehlen die Annahme beider Beschlußempfehlungen.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe nun dem Abgeordneten Maus-Jürgen Warnick das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stehe wie meine Vorredner vor der mißlichen Aufgabe, zwei Themen in einer Erklärung zu verbinden, die nichts miteinander zu tun haben. Vorweg möchte ich sagen: Ich werde in beiden Punkten gegen die Empfehlung des Vermittlungsausschusses stimmen.
Zur Pflegeversicherung natürlich wollen auch wir, daß Pflegebedürftige und alte Menschen in Heimen eine Entlastung ihrer finanziellen Situation erfahren. Doch die zweite Stufe der Pflegeversicherung wird nur einiges mildem, nicht aber die Befreiung von Sozialhilfeabhängigkeit bringen. Wir können einer generellen Verabschiedung vom Bedarfsdeckungsprinzip nicht zustimmen.
Ein weiterer Punkt, der unsere Ablehnung begründet, ist, daß das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung nach wie vor nicht hinreichend geklärt ist. 10 Prozent des Heimentgelts, also maximal 500 DM, aus der Pflegeversicherung beizusteuern schließt Behinderte in Heimen von der Pflegeversicherung zwar nicht mehr ganz aus; dieser Betrag wird die Tendenz der Umstruktierung und Umbenennung der Einrichtungen der Behindertenhilfe aber nicht aufhalten können.
Nun zur Frage der Mauergrundstücke. Ich weiß nicht, ob die PDS geschlossen gegen den Kompromiß ist. Ich bin jedenfalls strikt dagegen, dies vor allem auch aus persönlichen Gründen. Mein Leben hat sich immer in mehreren hundert Metern Entfernung von Grenze und Mauer abgespielt. Ich habe live erlebt, wie 1961 die Mauer gebaut wurde und wie sie wieder eingerissen wurde. Die DDR hat die Mauer aus Beton gebaut. Ich habe die Mauer nie als antifaschistischen Schutzwall angesehen. Für mich war die Mauer immer ein Symbol für eine Politik, die mit Sozialismus nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun hatte. Sie war für mich ein Zeichen der Hilflosigkeit der damals in der DDR Herrschenden.
Ich war immer für den Fall der Mauer, und ich bin deshalb um so enttäuschter, daß nach der Beseitigung der Mauer diese jetzt vielfach höher ist als je zuvor. Dafür trägt die jetzige Bundesregierung die volle Verantwortung.
Selten wurden die Verlogenheit und die Heuchelei der Bundesregierung so deutlich wie bei den Mauergrundstücken. Tausende meiner Mitbürger sind wegen des verhängnisvollen Grundsatzes „Rückgabe vor Entschädigung" aus meinem Heimatort vertrieben worden. Da stellen Sie sich hin und sagen: Man darf nicht neues Unrecht schaffen, man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. - Dies passiert in Ostdeutschland schon seit mehreren Jahren. Dort wird das Rad der Geschichte zurückgedreht. In Millionen von Fällen werden Grundstücke zurückgegeben, ohne danach zu fragen, was mit den Menschen geschieht, die dort leben; und die Mauergrundstücke, bei denen man das schon vor Jahren hätte tun können, werden nicht zurückgegeben. Die
Bürger, die in meinem Heimatort schon seit 40 Jahren auf ihren Grundstücken an der Grenze leben und dort ausharren und denen man nach dem 13. August 1961 zwei Drittel der Flächen zum Mauerbau entzogen hat, haben diese Flächen bis heute noch nicht offiziell zurückbekommen. Jetzt sollen sie auch noch dafür zahlen, wenn sie sie zurückbekommen. Das ist ein Skandal! Ich erinnere mich noch sehr gut an die Krokodilstränen über diese schlimme Grenze, die der RIAS damals vergossen hat.
Die Historiker, denke ich, werden diese Unmoral noch in 50 und auch noch in 100 Jahren neben vielem anderem, was wir heute hier entscheiden, anklagen.
Ganz empört bin ich vor allem über das Verhalten der SPD. Deren Kollege Hacker aus dem Rechtsausschuß hat in der Diskussion zu den Mauergrundstükken davon gesprochen, daß es in dieser Frage eine große Koalition zwischen CDU und PDS geben werde und daß sich brandenburgische Abgeordnete, die im Wahlkreis immer behaupten, sie seien für die Rückgabe der Mauergrundstücke, hier anders verhielten.
Ich stehe nach wie vor zu meinem Wort und werde für die Rückgabe der Mauergrundstücke und gegen diese Empfehlung stimmen, die SPD anscheinend nicht. Das halte ich für einen Skandal.
Ich danke Ihnen.
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen zu Erklärungen.
Wir kommen damit zur Abstimmung, und zwar zunächst zur Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz über den Verkauf von Mauer- und Grenzgrundstücken. Der Vermittlungsausschuß hat nach § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wir stimmen also über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/4589 ab. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD und in der F.D.P. angenommen worden ist.
Wir kommen dann zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Ersten Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Wir stimmen zunächst ab über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses mit der vom Berichterstatter, Herrn Dr. Blens, vorgetragenen Berichtigung auf Drucksache 13/4688. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 bis 8 auf:
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe (Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz - AlhiRG)
- Drucksachen 13/2898, 13/3109, 13/3479, 13/3725, 13/3951, 13/4591 -
Berichterstattung: Abgeordneter Rudolf Dreßler
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksachen 13/2746, 13/3475, 13/3720, 13/3728, 13/3949, 13/3937, 13/4686 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts
- Drucksachen 13/2440, 13/2764, 13/3904, 13/4211, 13/4239, 13/4687 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht. Das Wort zu Erklärungen wird gewünscht. Ich gebe daher zunächst dem Abgeordneten Hans-Peter Repnik das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir jetzt führen, fügt sich in die Gesamtdiskussion zur Sicherung des Standortes Deutschland ein. Die Koalition hat drei Ziele bei den in Rede stehenden Gesetzen verfolgt.
Herr Kollege Dreßler, wir haben drei Ziele verfolgt. Leider muß ich jetzt feststellen, daß wir nicht zum Erfolg gekommen sind. Ich werde das begründen. Wir wollten die Kommunen, die Länder und den Bundeshaushalt ganz konkret entlasten. Wir haben im Vermittlungsverfahren versucht, ein Gesamtpaket zu schnüren, die Kosten für die öffentlichen Kassen zu senken, ohne die Prinzipien des Sozialstaates in Frage zu stellen.
Ein Vermittlungserfolg hätte den öffentlichen Kassen auf allen Ebenen rund 9,5 Milliarden DM in drei Jahren erspart. Dieses Bemühen ist auf Grund der Haltung der SPD und der Grünen gescheitert.
Deshalb müssen wir, die Koalition, diesen Vermittlungsvorschlag ablehnen.
Die von der Mehrheit der SPD und der Grünen vorgelegten Vorschläge des Vermittlungsausschusses zu den Bereichen Arbeitslosenhilfe, Asylbewerberleistungen und insbesondere zur Sozialhilfe sind gerade im Lichte der Bemühungen um den Abbau der Arbeitslosigkeit, um Schaffung von Spielräumen für mehr Wachstum und Beschäftigung der Öffentlichkeit schlichtweg nicht mehr zu vermitteln.
Es ist verhängnisvoll, wenn man sieht, welche Auswirkungen das für die Kommunen hat. Ich frage mich, wo die Bodenhaftung der SPD in ihren Wahlkreisen im Hinblick auf ihre Verantwortlichkeit den Kommunen gegenüber bleibt.
Es ist vielleicht ganz gut, wenn wir das Hohe Haus einmal mit der Situation an der Basis, in den Gemeinden, konfrontieren. Der Gemeindefinanzbericht 1996 des Deutschen Städtetages hat den Titel „Städtische Finanzen 1996 in der Sackgasse" . Die Einnahmen der deutschen Gemeinden sind im letzten Jahr gesunken, in diesem Jahr wird es auf eine Stagnation hinauslaufen. Die absoluten Ausgaben sind zwar insgesamt stabil geblieben, aber - das ist die uns alle bedrückende Situation - das Wachstum der Sozialhilfeausgaben beträgt durchschnittlich 6 Prozent pro Jahr.
Im Gemeindefinanzbericht heißt dies, daß die kommunalen Investitionen weiter auf Talfahrt sind: allenthalben Konsum vor Investitionen. Wer sich heute mit der Lage der Bauwirtschaft vor Ort auseinandersetzt, der weiß, daß wir dort eine dramatische Entwicklung zu beklagen haben; Arbeitsplatzverluste sind zu befürchten, auch und nicht zuletzt auf Grund dieser schwierigen finanziellen Situation im Bereich der Gemeinden.
Wiewohl, Herr Präsident, ich um die Rechtslage weiß, die einen Bericht aus dem Vermittlungsausschuß nicht zuläßt, muß ich doch einige Anmerkungen zum Verfahren machen. Die Sorge, die mich umtreibt, besteht darin, daß der Vermittlungsausschuß zunehmend zu einem oppositionellen Blockadeinstrument degeneriert. Diese Sorge wurde gestern eindsrucksvoll bestätigt.
Angesichts der Debatte, die wir heute geführt haben, lautet mein Appell an die Opposition sowie an die SPD-geführten Bundesländer: Behandeln Sie bitte den Bundesrat und den Vermittlungsausschuß mit dem ihnen von der Verfassung zugewiesenen Respekt als Organe des Bundes, die gesamtstaatliche
Hans-Peter Repnik
Verantwortung tragen. Auch sie stehen in der gesamtstaatlichen Verantwortung.
Das abgelaufene Verfahren wird wie das vorgelegte Ergebnis gerade dieser gesamtstaatlichen Verantwortung nicht gerecht. Es ist weder verantwortungsbewußt, noch ist es redlich, nach langem Ringen Entlastungen für Länder und Kommunen ins Auge zu fassen, genau diese aber dem Bund zu verweigern. Diese Rechnung, meine Damen und Herren von der Opposition, geht nicht auf. Sparen im kommunalen Bereich ist sozial verträglich, Sparen beim Bund ist sozialer Abbau - dies ist mit uns nicht zu machen. Und wenn Sie gleichzeitig in der Debatte des heutigen Tages die zu hohen Lohnzusatzkosten beklagen und in dem gestern zu Ende gegangenen Vermittlungsverfahren deren Abbau verhindern, dann trägt auch dies nicht zu einer höheren Glaubwürdigkeit bei.
Ich kann und ich will Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie den Vermittlungsauftrag, nämlich Suche nach tragfähigen Lösungen, nicht ernstgenommen haben.
Mit etwas gutem Willen, Kollege Struck, wäre dies möglich gewesen.
Ich füge hinzu: Dieses Vermittlungsverfahren, Kollege Dreßler, ist kein gutes Omen für die Behandlung all dessen, was wir im Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung hier auch dem Hohen Hause präsentiert haben und noch präsentieren werden. Deshalb möchte ich an Sie appellieren und für ein konstruktives Mitwirken werben.
Und wenn schon unsere Argumente Sie offensichtlich nicht überzeugen können, dann empfehle ich Ihnen heute die Lektüre einer ganzen Reihe von Kommentierungen in den Tageszeitungen zu Ihrem Verhalten und zu diesem Verfahren. Ich möchte mir erlauben, Herr Präsident, einen Kommentar aus der „Rheinischen Post" zumindest in Ansätzen hier vorzutragen.
Klaus Heinemann schreibt, und ich darf ihn zitieren: Die Bemühungen der Bonner Regierungskoalition, die Ausgabendynamik in den Sozialsystemen zu brechen, sind in einem wesentlichen Bereich am Widerstand des sozialdemokratisch dominierten Bundesrates gescheitert. Damit setzt die Mehrheit der SPD-regierten Länder in die Tat um, was angesichts der deutlich verhärteten innenpolitischen Fronten zu befürchten war, nämlich - Kollege Dreßler - ihre Blokkadestrategie. Speziell, so heißt es hier weiter, am Ergebnis dieser Kraftprobe läßt sich ablesen, daß Argumente offensichtlich nicht mehr verfangen.
Und ein letzter Satz aus diesem Kommentar: Dabei gibt es außerordentlich gute, vernünftige und überzeugende Gründe, zum Beispiel jene Bezieher von
Sozialhilfe, die sich als eindeutig arbeitsunwillig erweisen, mit einem Abschlag zu belegen.
Es bleibt das Geheimnis der SPD-Länder, denen schließlich auch eine maßgebliche Fürsorgepflicht gegenüber den Kommunen als Träger der Sozialhilfe zukommt, wie sie die Konsequenzen dieser nicht an der Sache orientierten Entscheidung zu rechtfertigen gedenken. - Ich glaube, Herr Kollege Dreßler, diesem Kommentar ist nichts hinzuzufügen.
Lassen Sie mich noch einmal auf einige wenige Zahlen eingehen. Länder und Kommunen wären nach unseren Vorschlägen um 9,4 Milliarden DM für die nächsten drei Jahre entlastet worden. Davon entfallen 2,8 Milliarden DM auf die Änderung der Regelsatzanpassung, rund 4,6 Milliarden DM auf die Eindämmung der Kostenexplosion und 2,7 Milliarden DM auf das Asylbewerberleistungsgesetz.
Sie verweigern sich einer Lösung. Sie schlagen diese Gesamtentlastung aus, weil Sie die Belastung von 500 Millionen DM im Jahr durch die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe nicht tragen wollen. Ich frage Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wo Sie nur das Rechnen gelernt haben, wenn Sie den enormen Gewinn für Länder und für Gemeinden nicht sehen. Hier haben Sie eine eklatante Fehlentscheidung getroffen, und Ihre Verhinderungspolitik wird dazu führen, daß die Kosten weiter steigen werden.
- Sehr verehrter Herr Kollege Struck, ich habe gesagt, ich kenne die Spielregeln,
und es ist mir versagt, aus dem Vermittlungsausschuß zu berichten. Aber es ist schon wichtig, daß wir die Öffentlichkeit darauf hinweisen,
wozu Ihre Blockadepolitik geführt hat.
Wir haben bei drei wichtigen Gesetzen gemeinsam ein Paket geschnürt, das für die nächsten drei Jahre den Kommunen, den Ländern und dem Bund 9,4 Milliarden DM erspart hätte. Sie haben sich verweigert, diesem Paket zuzustimmen. Deshalb tragen Sie in dieser Frage auch und nicht zuletzt für die Arbeitsmarktsituation eine ganz herausragende Verantwortung.
Wir haben gehandelt; doch Sie von der Opposition blockieren. Gestern waren es drei Gesetze, in den letzten Monaten weitere; ich erinnere zum Beispiel an die Unternehmensteuerreform und an das Meister-BAföG. Sie versündigen sich mit diesem Verhal-
Hans-Peter Repnik
ten im Vermittlungsausschuß an unserem Gemeinwesen und nicht zuletzt an den Arbeitslosen.
- Herr Kollege Struck, nur durch Kompromißbereitschaft und Einigungswillen können wir das Vertrauen der Wirtschaft erhalten. Sie allein kann Arbeitsplätze schaffen, aber muß im Rahmen des Notwendigen auch Steuern bezahlen.
Ich wünsche und erwarte Vernunft auch von der Opposition, konkrete Mitwirkung statt Obstruktion. Sonst entsteht Schaden für alle. Ich hoffe, daß die Lehren aus dem jetzt abgeschlossenen Vermittlungsverfahren, die wir zu ziehen haben, uns in die Lage versetzen, daß wir uns als Mitglieder des Vermittlungsausschusses bei den vor uns liegenden, schwierigen Aufgaben zum Wohle der Bürger anders verhalten. Dazu fordere ich Sie mit Nachdruck auf.
Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, der heutige Nachmittag ist geeignet, folgendes festzuhalten: Eine verfassungsmäßige Mehrheit von Abgeordneten und Landesministern in einem Verfassungsorgan, dem Vermittlungsausschuß, beschließt gemäß ihrer Überzeugung und ihrer verfassungsmäßigen Pflicht, und die CDU/CSU nennt das Blockade.
Das ist der Fakt.
Herr Repnik, was Sie hier vorgeführt haben, unterstreicht, daß Sie nicht einsehen wollen, daß die Hausordnung Ihrer Partei die bundesrepublikanische Verfassung nicht ersetzen wird. Daran müssen Sie sich nun einmal gewöhnen.
Politik hat nicht nur zu regeln. Sie hat auch die Aufgabe, Ängste abzubauen und ein würdiges Leben zu ermöglichen. Der Vermittlungsausschuß hat in diesem Sinne Mehrheitsbeschlüsse gefaßt. Er hat das Ganze gesehen und unterschiedliche Wirkungen in Gesetzen des Bundestages gegeneinander abgewogen. Mit Mehrheit hat der Vermittlungsausschuß Änderungen zum Sozialhilfereformgesetz vorgeschlagen. Mit diesen Änderungen könnten die Kornraunen um zirka eine halbe Milliarde D-Mark entlastet werden.
Eine einvernehmliche Lösung ist daran gescheitert, daß die Koalitionsparteien und die CDU/CSU-
regierten Länder auf eine Nullrunde für Sozialhilfeempfänger bestanden haben.
Außerdem haben Sie ein sachlich nicht zu rechtfertigendes Junktim zwischen der Streichung der originären Arbeitslosenhilfe im Asylbewerberleistungsgesetz und der Zustimmung zu einem Kompromiß bei der Sozialhilfe hergestellt.
Herr Repnik, insoweit hat die Mehrheit des Vermittlungsausschusses in christlicher Verantwortung gehandelt.
- Es ist schön, daß Sie mittlerweile schon die Stellungnahmen der evangelischen und der katholischen Kirche belächeln. Ich will das einmal festhalten.
Sollten Sie bei Ihrer angekündigten Ablehnung bleiben, werden die Länder in eigener Verantwortung sicherstellen, daß es zu einer maßvollen Anhebung der Regelsätze für die Sozialhilfe kommt. Anfangs schienen die Voraussetzungen für einen fairen Kompromiß gegeben zu sein. Eine vom Vermittlungsausschuß eingesetzte Arbeitsgruppe hatte in weiten Teilen einvernehmlich Empfehlungen für den Ausschuß erarbeitet, die bei objektiver Betrachtung tragfähig und auch sozialpolitisch vertretbar erschienen.
Strittig blieben nur die Festsetzung der Regelsätze und die sogenannten Hilfen zur Arbeit. Auch hier wurden Kompromißangebote erarbeitet, denen wir uns hätten anschließen können. Die Verhandlungen haben aber dann gezeigt, daß die Festsetzung der Höhe der Regelsätze und ihrer Fortschreibung nicht im Mittelpunkt des Interesses standen. Es mußte eine Nullrunde dabei herauskommen.
An dieser Stelle ist es wert festzuhalten, daß der Bundesminister für Gesundheit
in dieser Minute als Abgeordneter der CSU dazwischengerufen hat, als ich sagte, es sei ein Kompromißangebot von uns gemacht worden, dieses sei nicht stichhaltig. Er hat das mit seinen Worten hier erklärt. Ich darf das Hohe Haus darauf aufmerksam machen, daß die Mehrheit im Vermittlungsausschuß, Herr Seehofer, als Kompromißangebot Ihren eigenen Kabinettsbeschluß eingebracht hat, den Sie jetzt, ein paar Stunden später, hier ablehnen wollen, nur damit Sie Ihr Gesicht wahren. So schön sind Sie aber nicht, Herr Seehofer. So läuft das nicht, so nicht!
Meine Damen und Herren, es läßt sich nur schwer vermitteln, daß die Sozialhilfeempfänger nach einer dreijährigen Deckelungsphase mit willkürlich getrof-
Rudolf Dreßler
fenen Fortschreibungsbeträgen eine Reform des Bundessozialhilfegesetzes mit einer Nullrunde beginnen sollen, während alle anderen Gruppen in unserer Gesellschaft, ob Rentner oder Arbeitnehmer, wenn auch nur geringe Erhöhungen, gleichwohl Erhöhungen erhalten.
Diese Nullrunde sollte ja die Sozialhilfeempfänger nur zufällig treffen. Der eigentliche Grund für die strikte Ablehnung unseres Kompromißvorschlages ist die berechtigte Angst, daß mit einer Erhöhung der Regelsätze der Sozialhilfe die steuerliche Freistellung des Existenzminimums, das auf der Höhe der Sozialhilfesätze basiert, nicht mehr verfassungskonform ist. Damit würden Familien durch die Verweigerung der ursprünglich vorgesehenen Erhöhung des Kindergeldes im nächsten Jahr verfassungswidrig belastet. Weil also das Kartenhaus von Herrn Waigel auch an dieser Stelle zusammenzubrechen droht, wollte man Sozialhilfeempfängern die Anpassung der Regelsätze an die gestiegenen Lebenshaltungskosten ohne Mieten verweigern.
Unser Kompromißangebot, die Regelsätze für die Jahre 1996 bis 1998 an die Nettolohnentwicklung der Renten anzuknüpfen, ist im übrigen exakt - ich wiederhole es - der Mehrheitsbeschluß des Bundestages zur Verabschiedung der Reform des Sozialhilferechts.
Ein weiterer Punkt, der ebenfalls nur indirekt mit der Sozialhilfe oder dem Containergesetz zum Asylbewerberleistungsgesetz zu tun hat, ist der immer wieder deutlich werdende Versuch, die Arbeitsmarktpolitik, aber auch die Verwaltung von Arbeitslosigkeit zu kommunalisieren. Die verschiedenen Änderungsgesetze zur Arbeitslosenhilfe bis hin zur Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe belegen diesen Trend ebenso eindeutig wie das erweiterte Instrumentarium der sogenannten Hilfen zur Arbeit im Bundessozialhilfegesetz. Zu letzterem haben im übrigen die Träger der Sozialhilfe immer betont, daß das vorhandene Instrumentarium ausreiche, um individuell helfen zu können, sie aber einer stärkeren Einbeziehung der arbeitslosen Sozialhilfeempfänger in die aktive Arbeitsmarktpolitik der Arbeitsämter den Vorzug geben würden.
Dafür hatten wir auch einen Finanzierungsvorschlag unterbreitet, nämlich eine Beitragspflicht dieses Personenkreises zur Arbeitslosenversicherung bei Zahlung des Beitrages durch die Sozialhilfeträger. Auch dieser sinnvolle Vorschlag wurde abgelehnt.
Die Behauptungen, die Haltung der sozialdemokratisch geführten Länder würde die Belastungen von Ländern und Kommunen in die Höhe treiben, sind nachweislich falsch. Als Kompensation für die Rücknahme Ihrer Nullrundenforderung hatten wir eine Einbeziehung der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in die zwischen uns einvernehmlich vereinbarte Deckelung der Pflegesätze für die Jahre 1996 bis 1998 angeboten. Dieses Angebot ist von Ihnen nicht einmal geprüft worden. Durch Ihre Verweigerungshaltung werden die bundesweiten Bemühungen der Sozialhilfeträger zur Begrenzung des Anstiegs der Pflegesätze in Einrichtungen deutlich
erschwert. Gerade hier hätten aber die wesentlichen Einsparungen im Bereich der Sozialhilfe durch die genannte Deckelung erzielt werden können.
Das Asylbewerberleistungsgesetz des Bundestages ist im Vermittlungsausschuß gescheitert. Es wird zur Ablehnung empfohlen. Der Vermittlungsausschuß vermochte weder der Logik dieses Gesetzes noch seinen Konsequenzen zu folgen. Eine Seite im Vermittlungsausschuß hatte darauf bestanden, daß alle drei überaus unsystematisch zusammengefügten Teile des Asylbewerberleistungsgesetzes zusammenbleiben, also die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe für rund 50 000 Menschen, die Änderung des Schwerbehindertengesetzes mit der daraus folgenden Kostenverlagerung für die Beförderung Schwerbehinderter auf die Länder und die Umstellung der Versorgung von Asylbewerbern auf Sachstatt Geldleistungen und ihre zeitliche Streckung. Die Mehrheit des Vermittlungsausschusses hat erklärt, daß es ihr nicht einleuchte, daß dies das richtige Verfahren und der richtige Weg sein kann.
Zudem hat, wenn ich uns daran erinnern darf, die Konferenz der Ministerpräsidenten einvernehmlich erst vor wenigen Tagen im nordrhein-westfälischen Krickenbeck vor einer weiteren Verlagerung von Kosten aus der Bundesebene auf die Länder und auf die Kommunen gewarnt. Mit der Streichung der originären Arbeitslosenhilfe würde aber exakt dies geschehen. Es wäre ein schlimmes Signal gewesen, wenn der Vermittlungsausschuß dies mißachtet hätte. Wir müssen - ich wiederhole es - auch in solchen Fragen das Ganze sehen.
Der Vermittlungsausschuß konnte überdies nicht zulassen, daß der grundsätzlich falsche Weg, immer mehr Menschen aus vorrangigen sozialen Sicherungssystemen wie der Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe zu schieben, weiter beschritten wird. So werden nach unserer Auffassung keine Probleme gelöst.
Der Vermittlungsausschuß hatte bereits in der vergangenen Woche den Bundestag aufgefordert, das sogenannte Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz abzulehnen. Die Gründe kennen Sie: Kürzungen um 3 Prozent durch jährliche Herabstufungen des individuellen Wiederverwertungswertes sind für uns kein seriöses Angebot. Auch ein rascheres Abschieben aus der Arbeitslosenhilfe in die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit dürfen wir nicht zulassen und einen Zwang zur beinahe bedingungslosen Annahme unterwertiger Beschäftigung ebenfalls nicht. Dieses Gesetz hätte zusammen mit den Auswirkungen einer Streichung der originären Arbeitslosenhilfe zu Mehrbelastungen von wenigstens 750 Millionen DM jährlich bei den Kommunen geführt.
Auch das war nicht akzeptabel.
Ich appelliere deshalb an die Mitglieder des Bundestages, den Voten des Vermittlungsausschusses zuzustimmen. Ich appelliere vor allen Dingen an die CDU/CSU-Fraktion, der Linie des Vermittlungsausschusses zu folgen. Im Bundestag sollte die Einsicht gelten, daß das Ganze unseres Gemeinwesens wich-
Rudolf Dreßler
tiger ist als die verletzte Eitelkeit eines Bundesministers. Wir haben, glaube ich, in diesem Fall Verantwortung, die Herr Seehofer nicht gezeigt hat, hier im Bundestag zu zeigen.
Das Wort hat die Abgeordnete Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, daß mit den Vorschlägen des Vermittlungsausschusses diese Gesetzesvorhaben der Bundesregierung in der vorliegenden Form erst einmal vom Tisch kommen. Ich will aber auf die Debatte eingehen, die wir im wesentlichen um das Geld führen. Die Bundesregierung und die Länder werfen sich gegenseitig vor, sich jeweils am Sparen zu hindern. Damit dieser Vorwurf wirklich stark wirkt, müssen die Zahlen natürlich immer ein bißchen aufgeplustert werden. Herr Seehofer macht dann Angaben über die potentiellen Ersparnisse bei der Regelsatzanpassung in der Sozialhilfe, die Erhöhungen einbeziehen, die seit Jahren nicht mehr stattfinden, weil es dort eine Deckelung gegeben hat. Beim Asylbewerberleistungsgesetz - darüber haben wir inzwischen oft genug gestritten - werden Einsparungen durch das Sachleistungsprinzip behauptet, die tatsächlich wegen der hohen Verwaltungskosten gar nicht eintreten. Aber je höher die behaupteten Effekte, um so wirkungsvoller scheint der Vorwurf, sich dem Sparen zu verweigern.
Was in diesen Debatten völlig untergeht, ist die Frage, ob wir bei den Richtigen sparen und ob es angemessen ist. Ich war heute morgen außerordentlich beeindruckt von der Rede, die Kollege Geißler gehalten hat. Er hat davon gesprochen, Solidarität und Gerechtigkeit müssen sich an den Arbeitslosen erweisen. Er hat gesagt, in Zeiten knapper Kassen muß sich die Solidarität besonders erweisen und besonders genau sein. Auch Kollege Vogt hat es auf den Punkt gebracht und gesagt, im Zweifel für die Arbeitslosen.
Nun ist unser Thema nicht, welche Wirtschaftspolitik man machen muß, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Aber bei diesen Gesetzen ist unser Thema, wie wir diejenigen behandeln, die denn schon arbeitslos sind. Obwohl wir seit Jahren eine steigende Arbeitslosigkeit haben, haben wir heute - darauf verweist die Bundesregierung, wenn es paßt, immer sehr gern - die gleiche Sozialleistungsquote wie zu Beginn der 80er Jahre. Das heißt nichts anderes, als daß wir eine gleichbleibende Menge an Umverteilungsvolumen an immer mehr Menschen verteilt haben, die Unterstützung brauchten, weil sie arbeitslos wurden.
Die Leistungen an Arbeitslose und Sozialhilfebezieher wurden in den letzten Jahren bereits systematisch gekürzt. Wir haben in den vorherigen Konsolidierungsprogrammen bereits die Deckelung der Sozialhilfesätze gehabt. Ich sehe überhaupt keine weiteren Möglichkeiten mehr, dort zu kürzen. Ich glaube, wir kommen so auch nicht weiter. Das merken wir insbesondere bei den Themen, die heute mit den drei Gesetzentwürfen zur Debatte stehen. Es hilft nicht, die Transfers, um die es geht, immer weiter zu einem Spielball zwischen den verschiedenen Ebenen der föderalen Finanzverantwortung zu machen. Zunächst einmal müßten wir einen Konsens herstellen, daß der Unterhalt derjenigen, die erwerbslos sind, uns etwas wert ist und daß wir ihnen ein Leben in Würde zugestehen wollen. Unbestritten ist doch - das bestreitet niemand in diesem Haus -, daß die Kommunen ein wirklich gravierendes finanzielles Problem damit haben, daß sie seit Jahren zum Ausfallbürgen einer Sozialpolitik und von sozialen Sicherungssystemen werden, die nicht darauf eingerichtet sind, daß wir Massenerwerbslosigkeit in solchem Umfang und in solcher Dauer haben.
Das heißt - auch darüber haben wir gerade im Zusammenhang mit der Sozialhilfereform schon viel geredet -, es brauchte eigentlich eine umfassende Sozialreform, die sich auf diesen Umstand einstellt und nicht ständig davon ausgeht, daß wir einfach nur Lasten verteilen.
Ich glaube, es wäre dringend an der Zeit, diese Lastenverteilung zwischen den verschiedenen Finanzierungsebenen neu zu bestimmen und nicht einfach immer nur zu versuchen, daß es von der einen Ebene zu Lasten der anderen wegkommt. Es handelt sich hier um eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft.
Dann möchte ich trotzdem noch einmal die Frage stellen, warum wir uns eigentlich immer mit so viel Elan dem Unterhalt derjenigen zuwenden, die keine Chance haben, diesen Unterhalt durch Erwerbsarbeit zu verdienen. Die Ausgaben für die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, die ja bei der BSHG-Reform im Zentrum stehen, entsprachen im Jahre 1993 den Ausgaben für die Kriegsopferfürsorge oder auch den Kinderzuschlägen im Beamtenbereich, grob gesprochen. Ich will gar nicht das eine gegen das andere ausspielen. Ich will nur sagen, mit welchen Größenordnungen wir es eigentlich zu tun haben, und fragen, ob es berechtigt ist, daß wir ausgerechnet an diesem Punkt ständig diese Frage aufwerfen.
Manchmal überlege ich mir, woher es kommt, daß wir so viel politische Energie und Phantasie darauf verwenden, über die Höhe dessen zu reden, was wir denjenigen zugestehen, die ausgegrenzt sind. Ich stelle mir dann die Frage, ob es etwas damit zu tun hat, daß die meisten von uns Angst haben, es könnte sie selber einmal treffen. Diese Angst verdrängen wir, indem wir sie in ein Ressentiment gegen die jetzt schon Betroffenen wenden. Individuell ist das sehr verständlich, aber politisch dürfen wir uns davon nicht leiten lassen.
In der Sozialhilfe ist das Bedarfsprinzip längst in Frage gestellt worden. In der Arbeitslosenhilfe ist das Niveau so abgesenkt worden, daß für viele der ergänzende Sozialhilfebezug notwendig wird. Auf diese Art und Weise kommen wir meines Erachtens jetzt nicht mehr weiter.
Andrea Fischer
Deswegen ist es gut, daß diese Gesetzentwürfe, die von diesem Geist geprägt sind, mit den Vorschlägen des Vermittlungsausschusses erst einmal vom Tisch kommen sollen.
Wir haben im Vermittlungsausschuß dem Vorschlag der A-Länder zur BSHG-Novelle zugestimmt, weil wir den Seehofer-Entwurf nicht wollen. Wir werden uns jetzt aber bei der Abstimmung an diesem Punkt enthalten; denn diese Begrenzung der Regelsatzentwicklung in der Sozialhilfe wird aus den von mir eben dargelegten Gründen von uns sehr kritisch gesehen. Von Fachleuten wird geschätzt, daß durch die Deckelung der letzten Jahre die Regelsätze bereits jetzt um 5 bis 7 Prozent unter dem Bedarf liegen. Wir aber wollen zurück zum Bedarfsprinzip.
Wir stimmen den Vorschlägen des Vermittlungsausschusses, die Gesetzentwürfe zur Arbeitslosenhilfe und zum Asylbewerberleistungsgesetz abzulehnen, zu. Wir können nicht erkennen, daß eine permanente Absenkung der Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosenhilfe den Arbeitslosen hilft. Das Asylbewerberleistungsgesetz aber lehnen wir nicht nur wegen der darin enthaltenen Streichung der originären Arbeitslosenhilfe und der Fahrkostenzuschüsse für Schwerbehinderte ab, sondern wir haben einen grundlegenden Dissens, der sich schon auf das ursprüngliche Asylbewerberleistungsgesetz bezieht. Die Absenkung des Leistungsniveaus unter das eigentliche Sozialniveau und das Sachleistungsprinzip sind in unseren Augen - ich habe es an dieser Stelle schon mehrfach gesagt - eine grundlegende Verletzung der Menschenwürde. Deswegen wollen wir auch nicht, daß das auf weitere Personenkreise ausgeweitet wird.
Wir stimmen also diesen beiden Teilen des Vermittlungsausschußvorschlages zu, die die beiden Gesetzentwürfe der Bundesregierung zurückweisen.
Das Wort hat nun die Abgeordnete Dr. Gisela Babel.
Herr .Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Paket Arbeitslosenhilfe , Asylbewerberleistungsgesetz und BSHG-Reform war sozusagen ein Verbund, in dem Reformbemühungen, Entlastung des Bundes und Ausgleich der Belastung der Sozialhilfeträger eng miteinander verknüpft waren. Nicht jedes für sich genommen war vielleicht ganz akzeptabel, aber in dem Verbund war es meiner Ansicht nach ein Angebot, das auch den Ländern hätte schmecken müssen.
Die Ergebnisse des Vermittlungsverfahrens zum Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz, zum Asylbewerberleistungsgesetz und zur Sozialhilfereform geben uns nun einen Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Wochen und Monaten an Auseinandersetzung mit den SPD-dominierten Ländern, der Bundesratsmehrheit, bei dem Programm für mehr Wachstum
und Beschäftigung noch blühen wird. Das Ausmaß an Unvernunft ist wirklich schwer erträglich.
SPD und Bundesratsmehrheit haben das Vermittlungsverfahren scheitern lassen, auch und nicht zuletzt, weil sie offensichtlich nicht rechnen können.
SPD und SPD-regierte Länder verzichten für einen Zeitraum von drei Jahren auf finanzielle Entlastungen in der Größenordnung von 9,4 Milliarden DM, weil sie im Gegenzug für den gleichen Zeitraum eine Belastung von 1,6 Milliarden DM durch die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe nicht mittragen wollen. Im Ergebnis bedeutet dies also, daß die Länder - die Bundesratsmehrheit - eine Entlastung von fast 8 Milliarden DM innerhalb von drei Jahren ausgeschlagen haben.
Sollten die Länder künftig auf ihre Finanznöte hinweisen, muß man ihnen immer wieder deutlich machen, daß sie eine große Chance zur Konsolidierung ihrer Haushalte und der Haushalte der Kommunen nutzlos haben verstreichen lassen.
SPD und Bundesratsmehrheit betreiben also eine Politik zu Lasten Dritter, nämlich der Kommunen. Für uns ist es ganz wichtig, das deutlich zu machen.
Sie verweigern ihre Zustimmung nicht nur bei dringend benötigten Entlastungen, sondern sie sehen auch steigenden Belastungen zu. Sie werden den Kommunen, den Sozialhilfeträgem der Bundesrepublik, erklären müssen, wie Sie es jetzt schaffen wollen, den Anwendungsrhythmus in der Sozialhilfe in den Griff zu bekommen.
- Herr Dreßler, Sie haben im Bundesrat wirklich sehr interessante Märchen erzählt, wie Sie das machen wollen. Denn Sie müssen ja auf das Verfahren zurückkommen, wie es vom Fürsorgeverband vorgeschlagen wird. Wenn Sie wieder nach diesen Berechnungen verfahren müßten, dann müßten Sie, weil die Deckelung der Regelsätze ja nicht mehr möglich ist - die haben Sie zwar bekämpft, davon haben Sie aber auch profitiert -, ein Anpassungsvolumen in der Größenordnung von 4,5 oder 6 Prozent nachholen. Sie behaupten, Sie bekämen das in den Griff.
Nur damals haben Sie der Deckelung zugestimmt, weil Sie es nicht in den Griff bekommen haben.
Die Länder müßten unter den damit verbundenen Steuermindereinnahmen in der Größenordnung von 750 Millionen DM im Jahre 1997 und 3 Milliarden DM im Jahre 1998 leiden. Denn das wirkt sich ja auch auf die Höhe des Existenzminimums aus. Das ist ein Kriterium, das Ihnen überhaupt nicht bewußt
Dr. Gisela Babel
geworden ist. Ich möchte einmal wissen, wie Sie das begründen.
Statt dessen wird behauptet, Sie könnten den Anstieg des Regelsatzes mit administrativen Mitteln beherrschen. Wie wollen die Länder dies bewerkstelligen? Man müßte sie ja fast dazu zwingen, dieses Experiment einmal durchzuführen. Wir sehen den Magen dann gelassen entgegen.
Der Anstieg der Pflegesätze in den Einrichtungen hat sich von zweistelligen Zuwachsraten Anfang der 90er Jahre auf immerhin noch 8 Prozent im Jahre 1994 verlangsamt. Zur Begrenzung der auf diesem Niveau fortschreitenden Kostenentwicklung bieten die Länder den Sozialhilfeträgern lediglich das Mittel der Pflegesatzvereinbarung an - ein stumpfes Schwert, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Daß die Länder an diesen Vorschlag nicht glauben, haben sie ja selber offenbart. Denn sonst hätten sie ja wohl nicht den Vorschlag gemacht - wie sie es im Vermittlungsausschuß gemacht haben -, daß sie die Pflegesätze nicht um 3 Prozent jährlich anheben wollen - wie es der Vorschlag der Koalition war -, sondern nur um 1 Prozent.
Wie können Sie denn einen so unbarmherzig brutalen Vorschlag machen, wenn Sie glauben, das schon bei Pflegesatzvereinbarungen hinzubekommen?
Hier ist eine wie auch immer geartete Konsequenz in der Argumentation wirklich nicht erkennbar, von einem sozialpolitischen Konzept gar nicht zu reden.
Meine Damen und Herren, bei solchen rechnerischen Fehlleistungen der Opposition und der Bundesratsmehrheit, die sich bei der Beherrschung der Grundrechenarten vermeiden ließen, habe ich für das Sparpaket schlimmste Befürchtungen. Dort geht es um noch sehr viel komplexere Zusammenhänge, um aufeinander abgestimmte Maßnahmen der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik. Wer wie die SPD und die Bundesratsmehrheit schon beim schlichten Addieren und Subtrahieren von Belastungen und Entlastungen den Durchblick verliert, ist schwerlich der geeignete Partner, um das Problem, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, zu lösen.
Nicht nur beim Rechnen, sondern auch den Menschen gegenüber hat die SPD und die Bundesratsmehrheit versagt. Sie haben Politik zu Lasten arbeitsloser Sozialhilfeempfänger gemacht.
Ich weise noch einmal auf Kernpunkte der Sozialhilfereform hin. Hier war ja daran gedacht, daß wir den Sozialhilfeempfängern mit neuen Instrumenten zu einem Einstieg in betriebliche Arbeit verhelfen wollten - mit neuen Instrumenten, die Sie schon jetzt
sozusagen abgelehnt haben und die diesen Personen dann nicht zugute kommen können.
Die Sozialhilfeämter sollten flexible, moderne Instrumente bekommen, damit sie diesem kleineren Teil der arbeitslosen Sozialhilfeempfänger eine Integration ermöglichen können. Auch diese Chancen sind zunichte gemacht worden.
Die Senkung der Arbeitslosenhilfe entsprechend der Vermittlungschance, die der einzelne hat - eine Vorschrift, die ja in genereller Form schon im heutigen Recht verankert ist; wir haben sie nur noch einmal deutlich mit Zahlen ausgestaltet -, lehnen Sie ab, obwohl das nun in jener berühmten Kanzlerrunde zum „Bündnis für Arbeit" sogar mit den Gewerkschaften vereinbart war. Es handelt sich also um einen Vorschlag, der dort schon Zustimmung gefunden hat. Ich kann nicht verstehen, wieso Sie das ablehnen.
Die Richtigkeit der These, daß die SPD den Gewerkschaften hinterherhinke, haben Sie damit wieder unter Beweis gestellt.
Ich denke, daß Sie mit der heutigen Aktion weder den Sozialhilfeempfängern noch den Sozialhilfeträgern einen guten Dienst erwiesen haben und bestimmt nicht den Finanzen der Länder. Irgendwann wird auch Ihnen das dämmern.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abgeordneten der PDS begrüßen ausdrücklich die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum sogenannten Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz und zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Wir werden diesen beiden Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wenn Sie die Anhörung mit Sachverständigen zu beiden Gesetzen verfolgt hätten und wenn Sie sich daran erinnern würden, welche Argumente dort angeführt worden sind, dann hätten Sie daraus lernen können, daß alle die Argumente, die Sie heute ins Feld geführt haben, überhaupt nicht haltbar sind und daß sich alle Rechnungen, die Sie zur Entlastung der öffentlichen Haushalte aufgemacht haben, als Milchmädchenrechnungen erweisen.
Dr. Heidi Knake-Werner
In bezug auf das Asylbewerberleistungsgesetz sehen wir unsere Auffassung, daß die Menschenwürde unteilbar ist und sich daher eine Sonderbehandlung von bestimmten Ausländerinnen und Ausländern verbietet, natürlich nicht erfüllt. Das schlechte Gesetz besteht weiter, aber es wird wenigstens nicht noch mehr verschlechtert. Wir sehen natürlich auch, daß die SPD-Länder nicht aus prinzipiellen Erwägungen gegen dieses Gesetz gestimmt haben, sondern weil sie sich mit der Regierung bei dem unwürdigen Schacher zwischen Sozialhilfe, originärer Arbeitslosenhilfe und Leistungskürzungen bei den Flüchtlingen nicht haben einigen können.
Der Beschlußempfehlung zur Reform des Sozialhilferechts werden wir nicht zustimmen, wohl wissend, daß wir damit in einer ziemlich dämlichen Situation sind, weil wir natürlich auch den SeehoferEntwurf nicht wollen. Aber der von der Mehrheit des Vermittlungsausschusses vorgelegte Vorschlag läßt sich weitgehend auf die Regierungsabsichten ein.
Ich weiß zwar, daß das besonders umstrittene fünfzehnprozentige Lohnabstandsgebot nicht mehr im Entwurf steht. Aber offensichtlich konnte sich die Mehrheit des Vermittlungsausschusses von der fünfköpfigen Familie als Bezugsgröße zu den unteren Einkommen nicht trennen. Diese Bezugsgröße ist nach wie vor völlig unrealistisch.
Das jetzige Ergebnis widerspricht unseren Vorstellungen von einem menschenwürdigen Existenzminimum. Seit 1993 sind die Regelsätze gedeckelt und nicht mehr entsprechend den systemimmanenten Grundsätzen des Bundessozialhilfegesetzes erhöht worden. Nicht einmal 10 DM mehr im Monat erhielt ein Sozialhilfebezieher im Bundesdurchschnitt.
Nach der jetzt geltenden Gesetzeslage steht zum 1. Juli 1996 eine bedarfsorientierte Erhöhung von 8,6 Prozent an. Das würde etwa 40 DM ausmachen. Das ist schon ein ganz entscheidender Betrag in so einem kleinen Haushaltsbudget.
Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses lautet aber: Fortsetzung der Deckelung durch Anbindung an die nach anderen, nicht bedarfsorientierten Grundsätzen funktionierende Rentenentwicklung und ab 1. Juli 1998 maximal 2 Prozent. Damit rücken Sie - das auch an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD - von Ihrem ursprünglichen Versprechen, daß es bei der strikten Bedarfsorientierung bleiben muß, ab. Sie machen damit im Grundsatz gemeinsame Sache mit der Bundesregierung, die die Höhe eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließlich von der jeweiligen Kassenlage abhängig macht.
Ein weiterer Punkt: die Abschaffung des Mehrbedarfs für Ältere. Hier hat der Vermittlungsausschuß ebenfalls im Prinzip zugestimmt und lediglich Schwerbehinderte mit dem Merkzeichen G im Ausweis ausgenommen.
Schließlich noch ein prinzipieller Punkt: Der Vermittlungsausschuß akzeptiert in § 25 die Streichung des Rechtsanspruchs auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und die Kürzung des Regelsatzes um 25 Prozent, wenn zumutbare Arbeit verweigert wird. Es ist gerade einmal drei Monate her, da gehörte es bei der Opposition in diesem Hause zur allgemeinen Auffassung, daß wir im Bereich der Sozialhilfe nicht ein Zuviel an Arbeitsverweigerern haben, sondern daß ein Zuwenig an Arbeitsplätzen mit existenzsicherndem Einkommen das entscheidende Problem ist. Eine vernünftige, an sozialen Prinzipien orientierte Politik muß daher alle Hebel in Bewegung setzen, den Umfang vernünftiger Arbeitsplätze zu vergrößern. Schlimmer noch als Untätigkeit aber ist es, in der gegenwärtigen Situation Mißbrauch und Arbeitsverweigerung zum politischen Thema und die Arbeitslosen zu den Schuldigen dieser Misere zu machen.
Aus diesem Grunde werden wir der Beschlußvorlage für das Bundessozialhilfegesetz nicht zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Mehrheit der Bundesländer hätte zwar gerne die Entlastungen des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Bundessozialhilfegesetzes für die Länder und Kommunen in einer Größenordnung von gut 3 Milliarden DM jährlich mitgetragen. Das Vermittlungsverfahren zum Bundessozialhilfegesetz und zum Asylbewerberleistungsgesetz ist aber im Kern daran gescheitert, daß sie ihre Mitwirkung bei einer relativ bescheidenen Entlastung des Bundeshaushaltes von etwa 500 Millionen DM durch die Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe verweigert haben.
Ich denke, angesichts der schwierigen Situation der Sozialsysteme und aller öffentlichen Haushalte ist es ein faires Angebot der Koalition, zwei Gesetze mit einem Entlastungsvolumen von über 3 Milliarden DM jährlich zugunsten der Länder und Kommunen einzubringen und zu verlangen, daß die SPD-Mehrheit der Länder im Gegenzug eine Entlastung des Bundeshaushaltes von 500 Millionen DM mitträgt.
Herr Kollege Dreßler, natürlich ist es das verfassungsmäßige Recht einer Mehrheit in einem Verfassungsorgan, etwas zu beschließen, was sie für richtig hält. In diesem Punkt aber gab es während der ganzen Verhandlungen kein einziges ernstzunehmendes Argument, eine Entlastung von 3 Milliarden DM für Länder und Kommunen wegen einer Entlastung des Bundeshaushalts von 500 Millionen DM abzulehnen. Das einzige Argument, das letztendlich übriggeblieben ist, ist Ihre offensichtlich beabsichtigte rücksichtslose Blockadehaltung. Damit verstoßen Sie ge-
Horst Seehofer
gen Ihre bundesstaatliche Verpflichtung im Vermittlungsausschuß und im Bundesrat.
Das Scheitern dieser beiden Gesetze wird es ermöglichen, daß die Regelsätze nach dem Sozialhilfegesetz in den nächsten Jahren weiterhin stärker steigen als die Nettolöhne der Arbeitnehmer.
Das Scheitern wird dazu führen, daß die Pflegesätze in den Einrichtungen in den nächsten Jahren weiterhin stärker steigen als die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland und damit ein Milliarden-Defizit entsteht.
Die Verweigerung der SPD wird dazu führen, daß die Situation der Behinderten in den Behindertenwerkstätten nicht verbessert wird, wie es die Koalition beabsichtigt hat. Die Verweigerung der SPD wird dazu führen, daß wir die Hilfe zur Arbeit zugunsten langzeitarbeitsloser Sozialhilfeempfänger nicht ausbauen können.
Die Verweigerung der SPD wird dazu führen, daß wir die Kommunen mit den Kosten für die Zuwanderer in die Bundesrepublik Deutschland weiterhin allein lassen. Dies ist ein verantwortungsloses Handeln.
Die SPD übernimmt ab sofort die alleinige Verantwortung für die Entwicklung der Sozialhilfekosten in der Bundesrepublik Deutschland.
Machen Sie in den nächsten Monaten, wenn es negative Entwicklungen bei den Regelsätzen, den Pflegesätzen und ähnlichen Instrumenten in der Sozialhilfe gibt, nicht die Koalition oder die Regierung dafür verantwortlich! Sie haben eine wirksame Strukturreform der Sozialhilfe verhindert. Sie haben Kostendämpfungen bei den Regel- und Pflegesätzen verhindert. Deshalb übernehmen Sie jetzt die Verantwortung für die Entwicklung der Sozialhilfeausgaben der Kommunen.
Der dritte Punkt. Ich habe gesagt, wir hätten uns bei dem Teil sehr leicht verständigen können, der die Länder und Kommunen finanziell entlastet. Wir werden gleich anschließend zu hören bekommen, daß diese Rechnung nicht gestimmt habe und die Entlastung gar nicht in dieser Höhe stattgefunden hätte. Wir haben in allen Gesprächen innerhalb und außerhalb des Vermittlungsausschusses in den letzten Tagen das Angebot gemacht: Wenn wir einen Streit über die Höhe des Entlastungsvolumens bei Ländern und Kommunen haben, sind wir als Koalition bereit, zusätzliche Sparmaßnahmen mitzutragen, die unbestritten auch nach Meinung der Opposition ein nennenswertes Einsparvolumen erzielen, damit der Zahlenstreit über das tatsächliche Einsparvolumen in den Hintergrund tritt.
Wir waren im Einvernehmen mit der F.D.P. bereit, unter bestimmten Voraussetzungen die Bürgerkriegsflüchtlinge in die Leistungsabsenkung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einzubeziehen. Wir waren bereit, die Pflegesätze für Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen zu budgetieren. Nachdem die Pflegesätze in diesen Einrichtungen in den letzten Jahren durchschnittlich um 13 Prozent gestiegen sind, hätte dies bedeutet, daß eine einprozentige Senkung der Pflegesätze in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen eine Ersparnis von 300 Millionen DM gebracht hätte. Hätten wir die 13 Prozent halbiert, hätte allein dies ein weiteres Einsparvolumen von 1,8 Milliarden DM zugunsten der Länder und Kommunen bedeutet.
Meine Damen und Herren, wir haben im Vermittlungsausschuß und heute im Bundestag auch beschlossen, daß die Sozialhilfe dadurch, daß die Behinderteneinrichtungen in die Pflegeversicherung einbezogen werden, jährlich um weitere 450 Millionen DM entlastet wird.
Obwohl wir von unseren Zahlen und unserem Einsparvolumen sehr überzeugt sind, waren wir bereit, noch weitere Einsparmaßnahmen zugunsten der Länder und Gemeinden politisch mitzutragen, damit der Zahlenstreit über die Höhe des Einsparvolumens nur noch ein sekundärer und kein primärer ist. Trotzdem waren Sie aus dieser Blockadehaltung heraus nicht in der Lage, das mitzutragen.
Nicht die Sozialhilfe, sondern die von uns gewünschte bescheidene Entlastung des Bundeshaushaltes bei der originären Arbeitslosenhilfe in Höhe von 500 Millionen DM hat zu dem Scheitern geführt. Deshalb muß man auf folgendes hinweisen: Wir sind als Koalition von der SPD, von den Kirchen, von den Wohlfahrtsverbänden, von den Gewerkschaften bis in die letzten Tage hinein wegen der beiden Kernelemente unserer vorgeschlagenen Sozialhilfereform, nämlich Anbindung der Regelsätze an die Nettolöhne und Budgetierung der Pflegesätze in Einrichtungen für Pflegebedürftige und Behinderte, gescholten worden:
„Sozialraub", „Sozialkahlschlag".
Am 28. September 1995 hat die SPD hier erklärt: Ziehen Sie das Gesetz mit diesen beiden Kernelementen zurück! Und gestern hat die SPD mit ihrer Mehrheit im Vermittlungsausschuß eine Budgetierung der Pflegesätze in Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen beschlossen, die noch schärfer ist als die Budgetierung, die die Koalition im Deutschen Bundestag beschlossen hat.
Wir hatten im Bundestag beschlossen, daß die Pflegesätze in Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen in den nächsten drei Jahren nicht stärker steigen sollen als die Bruttolöhne in der Bundesrepu-
Horst Seehofer
blik Deutschland, damit das Personal in den Einrichtungen auch weiterhin bezahlt werden kann. Gestern nun hat die SPD-Mehrheit des Vermittlungsausschusses beschlossen, daß die Pflegesätze in Behinderteneinrichtungen und in Pflegeeinrichtungen in den nächsten Jahren im Westen Deutschlands maximal um 1 Prozent und im Osten Deutschlands um 2 Prozent steigen dürfen.
Wir sind ein Jahr lang beschimpft worden. Im Bundestag hat die SPD im September 1995 hier erklärt: Ihre Budgetierung und ihre Auswirkungen auf die Einrichtungen für Behinderte sind verheerend. Wenn das, was wir vorgeschlagen haben, für die Behinderten verheerend ist, dann ist das, was die SPD gestern beschlossen hat und heute dem Parlament vorschlägt, eine Katastrophe für die Behinderten.
Unser Vorschlag der Nettolohnanbindung der Regelsätze wurde im September 1995 von diesem Pult aus von der SPD wie folgt kommentiert: Die Nettolohnanbindung liefere uns einem System aus, das in die Ungerechtigkeit laufe. Es sei ein blanker Gruselkatalog. Das war die Einschätzung der SPD im September 1995. Gestern hat die SPD diesen Teil, der sie selbst entlastet hätte, genauso beschlossen, wie wir es im Deutschen Bundestag vorgeschlagen haben und weshalb wir seit Monaten der sozialen Kälte und des sozialen Kahlschlages bezichtigt wurden.
Meine Damen und Herren, so geht Politik nicht: In dem Moment, in dem die Länder und Kommunen durch Sparmaßnahmen entlastet werden, ist es eine notwendige, sozialverträgliche Konsolidierung, und in dem Moment, in dem der Bundeshaushalt entlastet wird, ist es Sozialraub und sozialer Kahlschlag.
Die gestern von der SPD gefaßten Beschlüsse werden wir heute ablehnen. Wir werden sie nicht ablehnen, weil wir Ihnen den Sparwillen vorwerfen, sondern weil Sie Ihrerseits die Einsparung von 500 Millionen DM im Bundeshaushalt verweigern. Ich warte jetzt nach den Hunderten von schlimmen Stellungnahmen, die ich in den letzten Monaten erhalten habe, was zu diesem Mehrheitsbeschluß der SPD im Vermittlungsausschuß - bei den Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen mehr zu sparen als die Koalition und die Regelsätze genauso anzubinden, wie wir es für die nächsten drei Jahre vorgeschlagen haben - geäußert werden wird. Ich warte mit größter Spannung, was die Kirchen, die Gewerkschaften und die Wohlfahrtsverbände jetzt bei ihren Kundgebungen gegen unsere Sparpakete in den nächsten Tagen in der Öffentlichkeit sagen werden.
Nun wird wahrscheinlich Herr Struck, so wie ich ihn kenne, oder ein anderer SPD-Vertreter hier sagen, der Minister hat jetzt gebellt, der kann nicht verlieren, jetzt hat er ein Gesetz nicht durchgesetzt, und deshalb schimpft er.
- Nein, seien Sie ganz ruhig, Frau Lange. Die Sätze, die ich jetzt gerade vorgetragen habe, stammen von Ihnen.
Sie haben hier gesagt: Ziehen Sie Ihr Gesetz zurück! Und ich werde heute bei der Abstimmung genau Obacht geben, ob Sie die Dinge, die Sie vor einem halben Jahr hier als Gruselkatalog eingestuft haben, mittragen. Darauf werde ich sehr genau achten.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht beleidigt. Es gehört zur Politik auch dazu, daß ein Gesetz nicht die Mehrheit findet. Aber eines möchte ich hier noch einmal vor der Öffentlichkeit sagen: Von der Reform des Sozialhilferechts hätte der Bund keine einzige Mark profitiert. Das ist nur eine Entlastung der Länder und Kommunen.
Von der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes hätten überwiegend die Länder und Kommunen profitiert, nur zu einem ganz bescheidenen Teil der Bund. Deshalb berührt uns das relativ wenig, und deshalb betrachten wir uns auch nicht als Verlierer. Die wahren Verlierer sind die deutschen Kommunen, die die SPD mit den ausufernden Sozialhilfeausgaben völlig allein läßt.
Noch mehr bedrückt mich, daß die ganz großen Verlierer jene sind, die - aus welchen Gründen auch immer - Sozialhilfe beziehen, insbesondere die Pflegebedürftigen und die Bewohner von Behindertenheimen; denn eines ist auch klar: Wenn die Sozialhilfeausgaben weiter so explodieren wie in den letzten Jahren - vor allem auch deshalb, weil die Pflegesätze in den Einrichtungen und die Regelsätze stärker steigen als die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland -, dann werden wir in absehbarer Zeit die Situation erleben, daß die Sozialhilfe nicht mehr die Hilfen gewähren kann, die für ein menschenwürdiges Leben von Sozialhilfeempfängern notwendig sind. Das ist die eigentlich schlimme Auswirkung Ihrer Blockadehaltung.
Sie legen die Axt an die Wurzeln der Funktionsfähigkeit eines Sozialhilfesystems und schaden durch Ihr Verhalten gerade jenen, die mit bescheidenem Einkommen aus Sozialhilfe ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Dies sind in den nächsten Jahren die wahren Verlierer Ihres Verhaltens.
Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier sprach gerade ein Abgeordne-
Rudolf Dreßler
ter auch in seiner Eigenschaft als Bundesminister, der in seiner Amtszeit noch nicht ein einziges Gesetz aus eigener Kraft durch die gesetzgebenden Körperschaften durchbringen konnte. Nicht ein einziges! Das, was er durchgebracht hat, hat er mit sozialdemokratischer Hilfe nach schwierigen Verhandlungen durchgebracht.
Die in Rede stehenden Tatbestände hätten ihn, weil sie nun einmal zustimmungsbedürftig sind, zu einer Kompromißfähigkeit zwischen Ländern und SPD-Bundestagsfraktion gezwungen. Dazu war dieser Minister nicht fähig. Nun findet er keine Mehrheit und spielt hier mit Drohungen und was weiß ich nicht allem die beleidigte Leberwurst.
Ich will Ihnen fünf Punkte nennen.
Punkt eins: originäre Arbeitslosenhilfe. Die SPD hat dies von Anfang an abgelehnt, weil sie es für unverantwortlich hält, zirka 50 000 Menschen, die bisher Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben, direkt, nur weil die Christdemokraten es wollen, in die Sozialhilfe zu schicken. Das können Sie uns noch ein paarmal vorwerfen. Wir sind stolz darauf, daß Sie uns das vorwerfen, da wir einen Minimalanstand aufrechterhalten haben, den Sie hier vermissen lassen.
Punkt zwei. Der Minister sagt: kein ernstzunehmendes Argument. Er verschweigt, daß das Abstandsgebot, hinter dem Herr Seehofer herläuft, in unserem Sozialhilferecht mit 7,5 Prozent real gegeben ist. Die Bundesregierung möchte dieses Abstandsgebot auf 15 Prozent pauschal erweitern. Dies lehnt die SPD ab. Noch so große Drohungen von Ihnen, Herr Seehofer, werden uns nicht dazu bringen dies als besonders glücklich anzusehen. Wir wollen, daß der Status quo, das Abstandsgebot von 7,5 Prozent, bleibt und sich nicht, wie Sie wollen, verdoppelt. Auch auf diese Haltung ist die SPD stolz. Das hat mit dem Verschieben von Kosten von der einen auf die andere Seite zunächst einmal nichts zu tun.
Punkt drei. Der Bundesminister für Gesundheit hat vor wenigen Wochen am Kabinettstisch eine Regelsatzanpassung in der Sozialhilfe für 1997 von 1 Prozent mitbeschlossen. Dies hat er wenige Wochen später in einem neuen Gesetzentwurf korrigiert, der heute morgen zum erstenmal das Parlament beschäftigt hat. Nun wollte er eine Nullrunde fahren. Als er merkte, daß die Mehrheit für eine Nullrunde im Vermittlungsausschuß nicht zu gewinnen war, war das sein Kristallisationspunkt. Diese Regierung war nicht willens, einen Gesetzentwurf zurückzuziehen, in dem sie eine Nullrunde predigt, obwohl genau dieses Zurückziehen den Kompromiß in der Sozialhilfereform generell ermöglicht hätte.
Herr Seehofer, wenn Sie unbedingt ihr Gesicht wahren wollen und die Fraktionen von CDU/CSU
und F.D.P. Sie dabei unterstützen, dann ist das Ihr Privatvergnügen. Das hat aber nichts mit einer seriösen Politik zu tun, die wir im Vermittlungsausschuß mit Mehrheit durchgesetzt haben, nämlich dem Ablehnen einer Nullrunde. Gewöhnen Sie sich also daran, daß die veränderten Mehrheitsverhältnisse im Vermittlungsausschuß logischerweise andere gesellschaftspolitische Positionen provozieren!
Punkt vier. Herr Seehofer sagte heute morgen in der Debatte: Sie müssen sich entscheiden. Sind Sie zu Einsparungen fähig oder nicht? - Was ist nun passiert? Die SPD-Fraktion und auch die Länder haben in der Vergangenheit, bezogen auf Regelsätze, auf Abstandsgebot sowie auf Leistungen und Entgeltvereinbarungen zwischen Einrichtungen und Sozialhilfeträgern, eine klare Position gehabt, die sich von jener, die gestern im Vermittlungsausschuß eingebracht wurde, erheblich unterschied. Das ist wohl wahr.
Was hat denn die SPD-Seite gestern gemacht? Sie hat dem Namen dieses Ausschusses entsprochen und hat Ihnen ein Vermittlungsangebot weit unter der sozialdemokratischen Position im Parlament gemacht. Obwohl wir das, von dem Sie heute morgen im Hinblick auf uns kritisiert haben, daß wir es nicht tun würden, gestern getan haben, stellen Sie sich hier hin und beschimpfen uns, weil wir kompromißfähig sind. Sie müssen sich nun einmal selbst entscheiden, welche Position Sie eigentlich einnehmen.
Fünfter und letzter Punkt: Asylbewerberleistungsgesetz. Kollege Seehofer hat völlig recht: Es geht beim Asylbewerberleistungsgesetz unter anderem um einen Punkt, der überhaupt nichts damit zu tun hat, nämlich um die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe. Das Volumen, welches der Bund auf die Kommunen zu schieben gedenkt, ist umstritten. Die Bundesregierung spricht von 500 Millionen DM, die Länder sprechen auf Grund von Zahlen, die um 12 000 höher sind, als sie die Bundesregierung zugrunde legt, von 700 Millionen DM.
Nun wehren sich die Länder, die in den letzten Jahren Milliardenbeträge durch diese Bundesregierung zusätzlich aufgebürdet bekamen,
dagegen, auch noch die Kosten für die originäre Arbeitslosenhilfe, die dann Sozialhilfe hieße, in Höhe von 700 Milliarden DM zu tragen. Um diesen Streitpunkt geht es.
Es geht außerdem um den Streitpunkt, daß sich die Berechnungen von Herrn Seehofer, was die Kostenfrage betrifft, von denen der Länder um eine schlappe halbe Milliarde unterscheiden. Wenn nun ein Minister hergeht und von diesem Pult erklärt, es gehe um eine halbe Milliarde, obwohl jeder, der sich um die Zahlen kümmert, weiß, es geht um 700 Millionen DM, er sich also eben um 200 Millionen DM verrechnet oder sie nicht in seinem Tableau berücksichtigt, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß ich dem Zahlenmaterial der Länder im Hinblick auf
Rudolf Dreßler
die Berechnungsgrundlagen eher traue als den Zahlen, die aus dem Hause des Herrn Seehofer kommen.
Die Länder sagen, daß sie das Asylbewerberleistungsgesetz in toto um über 400 Millionen DM zusätzlich belaste. Herr Seehofer behauptet, daß die Länder einen Gewinn von über 100 Millionen DM hätten. Solange ein Bundesminister dieses Zahlentableau mit einer Differenz in Höhe von einer halben Milliarde einem Vermittlungsausschußmitglied nicht glaubwürdig darlegen kann, hat er für mich jedenfalls die Legitimation, Zahlen zu nennen, endgültig eingebüßt.
Die SPD-Fraktion wird dem Vermittlungsausschußergebnis zustimmen.
Herr Kollege Seehofer, als Mitglied der Regierung haben Sie jederzeit die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen.
Meine Damen und Herren, ich möchte nur auf eines hinweisen: Die von mir genannte Entlastung des Bundeshaushaltes, die in Höhe von 533 Millionen DM die Kommunen durch Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe belastet, ist eine Größenordnung, die mit den Staatssekretären der Bundesländer A und B abgestimmt worden ist.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich muß Sie auf die Geschäftsordnung aufmerksam machen. Was sie eben erlebt haben, ist nach der Geschäftsordnung keine Debatte.
- Ich bin nicht bereit, Herr Kollege, über die Auslegung der Geschäftsordnung zu debattieren.
Nach § 10 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses handelt es sich um die Abgabe von Erklärungen. Wenn wir von dieser Geschäftsordnung hätten abweichen wollen, dann hätte das mit einer Zweidrittelmehrheit nach § 126 unserer Geschäftsordnung beschlossen werden müssen. Das war nicht der Fall.Damit ist die Abgabe von Erklärungen beendet.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst zur Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz, Drucksache 13/4591. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, den Gesetzesbeschluß vom 9. Februar 1996 aufzuhebenund den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P., Drucksache 13/2898, sowie den inhaltsgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksachen 13/3109 und 13/3479, abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/4591 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Ersten Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und anderer Gesetze, Drucksache 13/4686. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, den Gesetzesbeschluß vom 8. Februar 1996 aufzuheben und den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P., Drucksache 13/2746, abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/4686 zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses mit demselben Stimmenverhältnis wie eben abgelehnt worden ist.Dann kommen wir zur Abstimmung über die Bcschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts auf Drucksache 13/4687. Der Vermittlungsausschuß hat nach § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/4687 zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Gruppe der PDS gegen die Stimmen der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen abgelehnt worden ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 i auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Mitarbeiter/-innen von Presse und Rundfunk und des entsprechenden Beschlagnahmeverbotes auf selbst erarbeitetes Material- Drucksache 13/195 -Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Innenausschuß
Metadaten/Kopzeile:
9436 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirschb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes- Drucksache 13/3129 -Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Veräußerung von Teilzeitnutzungsrechten an Wohngebäuden
- Drucksache 13/4185 -Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismusd) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anrechnung von Dienstzeiten im Angestelltenverhältnis auf die beamtenrechtliche Probezeit nach dem Einigungsvertrag- Drucksache 13/4385 -Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnunge) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften- Drucksache 13/4386 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehrf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, Klaus Lennartz, Michael Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDÄnderung der EG-Mineralwasserrichtlinie- Drucksache 13/3335 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheitg) Beratung des Antrags der Abgeordneten Otto Reschke, Hans Büttner , Norbert Formanski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDÄnderung der Übergangsregelung beim Eigenheimzulagengesetz- Drucksache 13/4408 -Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauh) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Jochen Feilcke und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Roland Kohn und der Fraktion der F.D.P.Verschuldung der Entwicklungsländer- Drucksache 13/4670 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
FinanzausschußHaushaltsausschußi) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht über die Entwicklung der Konvergenz in der Europäischen Union im Jahre 1995- Drucksache 13/4101 -Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Auswärtiger Ausschuß InnenausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für die Angelegenheitender Europäischen Union HaushaltsausschußInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 q sowie die Zusatzpunkte 9 a bis 9d auf. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15 a:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 21. Juni 1994 über die Satzung der Europäischen Schulen
- Drucksache 13/3106 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
- Drucksache 13/4468 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Claus-Peter Grotz Freimut Duve
Dr. Helmut Lippelt
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/4468, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen worden.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 15 b bis 15e:
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. November 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Malediven über den Luftverkehr
- Drucksache 13/3846 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/4473 -
Berichterstattung: Abgeordnete Elke Ferner
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Mai 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Volksrepublik China über den Seeverkehr
- Drucksache 13/3847 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/4474 -
Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
9. September 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta über den Luftverkehr
- Drucksache 13/3848 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/4475 -
Berichterstattung: Abgeordnete Elke Ferner
e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
10. Mai 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Bosnien und Herzegowina über den Luftverkehr
- Drucksache 13/3850 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/4500 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Elke Ferner
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf den Drucksachen 13/4473 bis 13/4475 und 13/4500, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die vier Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich bitte diejenigen, die den vier Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die vier Gesetzentwürfe sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 f:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen Nr. 1 und Nr. 2 vom 4. November 1993 zu dem Europäischen Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
- Drucksache 13/2482 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)
- Drucksache 13/4501 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Altmaier
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/4501, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen und des EG-Amtshilfe-Gesetzes
- Drucksache 13/3845 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
- Drucksache 13/4664 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler Detlev von Larcher
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/4665 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Junghanns Dr. Wolfgang Weng Karl Diller
Oswald Metzger
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmverhältnis angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 h:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat zur möglichen Anwendung von Artikel K 9 des Vertrages über die Europäische Union
- Drucksachen 13/3668 Nr. 2.74, 13/4534 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz Peter Basten Dr. Jürgen Meyer
Christian Sterzing
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkte 15i bis 15n:
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung Dr. -MartinLuther-King-Village in Mainz
- Drucksachen 13/4149, 13/4601 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen, bisher von den französischen Streitkräften genutzten Wohnungen in Freiburg
- Drucksachen 13/4170, 13/4602 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
k) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin-Steglitz
- Drucksachen 13/4218, 13/4603 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines Wohngrundstückes in Laage/MecklenburgVorpommern
- Drucksachen 13/4255, 13/4604 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Susanne Jaffke
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
m) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin-Charlottenburg
- Drucksachen 13/4256, 13/4605 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
n) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen US-Liegenschaft Dolan-Barracks in Schwäbisch Hall-Hessental
- Drucksachen 13/4285, 13/4606 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkte 15o bis 15q:
o) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 120 zu Petitionen - Drucksache 13/4573 -
p) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 121 zu Petitionen - Drucksache 13/4574 -
q) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 122 zu Petitionen
- Drucksache 13/4575 -
Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelübersicht 120 auf Drucksache 13/4573. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelübersicht 121 auf Drucksache 13/4574. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist - wiederum bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS - angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelübersicht 122 auf Drucksache 13/4575. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit demselben Stimmverhältnis angenommen worden.
Zusatzpunkt 9 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ABG-Gesetzes
- Drucksache 13/2713 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/4699 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Dr. Eckhart Pick
Wir kommen zur Abstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis angenommen worden.
Zusatzpunkt 9 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Markenrechtsänderungsgeseztes 1996
- Drucksache 13/3841 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/4700 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Röttgen Ludwig Stiegler
Wir kommen zur Abstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.
Zusatzpunkt 9 c:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub
- Drucksachen 13/4514 Nr. 2.26, 13/4682 -
Berichterstattung: Abgeordnete Maria Eichhorn
Hildegard Wester Rita Grießhaber
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Rosel Neunhäuser
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Zusatzpunkt 9 d:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer
- Drucksachen 13/3668 Nr. 2.72, 13/4701 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rudolf Meyer
Wir kommen zur Abstimmung.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, des Straßenverkehrsgesetzes und der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte
- Drucksache 13/3691 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Verkehr
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe zunächst den Abgeordneten Alfred Hartenbach auf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Sozialdemokraten stellen unsere Reformvorschläge im Rechtswesen unter eine Überschrift, die für uns als Leitlinie gilt: Wir wollen eine moderne und leistungsfähige Justiz. Wir machen das nicht wie die Regierungsparteien mit dem Rasenmäher; wir beschneiden die Rechte der Bürger nicht, und wir verstümmeln auch nicht Rechtswege. Wir gestalten Verfahrensabschnitte neu und greifen nur dort regelnd in das Verfahren ein, wo echte Auswüchse erkennbar sind, Rechtsgarantien auf ein vernünftiges Maß beschränkt werden können und dem Durchschnittsbürger keine Schmerzen bereitet werden.
Wir sind sicher: Die überwältigende Mehrheit der Bürger wird unsere Reformvorschläge begrüßen. Wir zeigen neue Wege auf, die die Justiz entlasten und
die gleichwohl - das ist für uns wichtig - vertrauensbildend beim Bürger wirken werden.
Wir wollen den Bußgeldverfahren den Stellenwert zuweisen, den sie als Verfahren gegen „Verwaltungsunrecht" verdienen. Das gilt insbesondere für die Verkehrsordnungswidrigkeiten, die sich, einer ständig anschwellenden Flut gleich, zu Massenverfahren entwickelt haben, die die Arbeitskraft der Justiz lähmen.
Wir wollen, daß in der Justiz Kräfte für die Erledigung der Verfahren, die unserem Rechtsstaat schaden, freigesetzt werden. Es sind nicht die Kleinen, von denen Gefahren für den Rechtsstaat ausgehen, es sind die Kriminellen in den Ledersesseln. Ihnen gilt unser Augenmerk.
Zum Schutz des Rechtsstaates gehen wir Schritt für Schritt Reformen an, die der Justiz echte Entlastung bringen werden. Hierfür müssen wir alle Chancen nutzen. Wir wissen aber auch, daß oft die erste und auch einzige Begegnung der Mehrzahl der Bürger mit einem Gericht die Erfahrung mit einem Bußgeldverfahren ist. Deshalb muß das Instrumentarium, das Prozeßrecht, den Gerichten auch die Möglichkeit geben, dem Bürger angemessen und maßvoll begegnen zu können.
Unser Gesetzentwurf erreicht sein Ziel. Er schafft Vertrauen beim Bürger und entlastet die Justiz. Unsere Reformvorschläge will ich - damit es spannender wird - an zwei Begebenheiten verdeutlichen. Es sind Begebenheiten, die sich vieltausendmal so ereignet haben, im Einzelfall sogar authentisch sind, wenn auch eine selbst nur entfernte Ähnlichkeit der handelnden Personen und Institutionen mit real existierenden mehr zufällig denn gewollt ist.
Die erste Begebenheit handelt vom gutverdienenden selbstgefälligen Redakteur eines Motorsportjournals. Er fährt mit seinem Pkw in einer geschlossenen Ortschaft 70 bis 80 km/h und wird geblitzt. Einige Wochen später erhält er ein Anschreiben und den bekannten Anhörbogen.
Er verweigert, was rechtens ist, die Angaben zur Sache. Er beauftragt einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner Angelegenheit. Dieser beantragt und erhält Akteneinsicht und stellt fest, daß der Mandant auf dem sogenannten Radarfoto sehr gut zu erkennen ist. Er sendet die Akte an die Polizei zurück, kündigt eine Stellungnahme an, die abzugeben er aber, was auch rechtens ist, nie vorhatte.
Langsam kommt der Tag der Verjährung näher - ich erzähle aus dem Leben -, die Bußgeldbehörde erläßt den Bußgeldbescheid und setzt wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße in Höhe von 100 DM, aber keinen Punkt in Flensburg fest. Kurz vor Ablauf der Frist legt der Mann Einspruch ein.
Über die Staatsanwaltschaft kommt der Vorgang zum Amtsgericht in H. Der Richter in H. setzt einen Verhandlungstermin fest und ordnet das persönliche Erscheinen des Mannes an, der - das muß man wissen - in F., einer deutschen Großstadt, die etwa 200 Kilometer von H. entfernt ist, wohnt.
Alfred Hartenbach
Der Anwalt erbittet erneut Akteneinsicht, erhält die Akten, sieht sich noch einmal lange das Bild seines Mandaten an - ich hoffe, ich langweile keinen mit dieser Geschichte -
und beantragt die Aufhebung des Termins und die Vernehmung des Mannes vor dem Amtsgericht in F. Natürlich geschieht das.
Zum ersten Termin in F. erscheint nur der Anwalt und legt ein Attest des Mannes vor, der krank sei. Beim zweiten Termin erscheint der Mann, erklärt, er wolle nun, weil er es sich anders überlegt habe, doch lieber nach H. fahren und sich dort direkt äußern. Die Akten gehen zurück nach H.
Anwalt und Mandant erscheinen, nachdem der Richter in H. einen erneuten Termin festgesetzt hat, ebenso wie die beiden Polizeibeamten von der Radarkontrolle. Nun allerdings schweigt der Mann, was auch sein gutes Recht ist. Der Anwalt aber beantragt die Einholung eines Gutachtens darüber, ob das Geschwindigkeitsmeßgerät ordnungsgemäß geeicht, eingestellt und bedient worden sei und überhaupt richtig funktioniert habe.
- Da gebe ich Ihnen ja recht, Herr Kleinert.
Das Gutachten wird eingeholt. Nach zirka drei Monaten ist es fertig und kostet rund 1 000 DM. Ergebnis: Alles in Ordnung, Geschwindigkeit korrekt gemessen.
Es folgt ein neuer Termin, und der Mann ist wieder krank. Nächster Termin: Der Mann ist da, mit Anwalt. Zum drittenmal erscheinen auch die Polizisten. Der Mann redet nun plötzlich. Nicht er sei der Fahrer gewesen, nein, ein naher Verwandter, dessen Namen er nicht nennen wolle. Aber er biete Beweis, daß er nicht der Fahrer sei.
- Ist es auch, ist es auch! Seine Ehefrau könne dies bezeugen und auch erklären, daß es einen ihm sehr ähnlichen Verwandten gebe.
Langweile ich jemanden?
Neuer Termin: Der Mann erscheint, die Ehefrau erscheint, die Polizisten erscheinen und der Anwalt. Die Ehefrau verweigert die Aussage, was sie darf. Der Anwalt bietet nun die Einstellung des Verfahrens an, weil es denn schon zu lange her sei und wegen Geringfügigkeit. Und er bietet großzügig an, man übernehme auch die Anwaltskosten. Das war von Anfang an das operative Ziel. Allerdings findet er bei Gericht keine Gegenliebe. Der Richter spricht sein Urteil und bestätigt den Bußgeldbescheid. Der
Mann legt Beschwerde ein. Beim Oberlandesgericht zerbrechen sich zunächst zwei Oberstaatsanwälte und danach drei gut bezahlte Richter am Oberlandesgericht, dazu ein Senatspräsident, die Köpfe, ob das zehnseitige, alles Denk- und Undenkbare abwägende Urteil des Amtsrichterleins auch hohen rechtsstaatlichen Maßstäben entspreche. Man befindet: ja.
Ein Jahr und sieben Monate nach der Tat ist das Urteil rechtskräftig. Hundert D-Mark, null Punkte, kein Fahrverbot, 2 200 DM Kosten und Auslagen und rund 2 000 DM Honorar für die anwaltliche Vertretung. Fünf Richter haben sich mit der Sache befaßt, und der Mann meint noch, ihm sei Unrecht geschehen, denn 100 DM seien für ihn viel Geld.
Dies ist leider keine Ausnahme. So oder ähnlich werden die Gerichte tausendfach in Anspruch genommen. Sie werden von der Flut der Verfahren überschwemmt. Der personelle und zeitliche Aufwand steht vielfach nicht mehr im Verhältnis zu der Bedeutung der Angelegenheit und der durch sie verursachten Folgen.
Hier wollen wir gleich an mehreren Stellen mit Verbesserungen ansetzen und sind überzeugt, daß wir mit unseren Vorschlägen zur Straffung der Verfahren den richtigen Weg gehen.
Die Vernehmung durch den ersuchten Richter, die sogenannte kommissarische Vernehmung, wird abgeschafft. Wer gegen einen Bußgeldbescheid eine richterliche Entscheidung will, soll dies künftig vor dem zuständigen Richter erklären. Wenn ihm die Sache so wichtig ist, soll er sein Anliegen auch diesem Richter vortragen.
Nun sehe ich schon, wie mein obiger Freund, der Geblitzte, dem 100 DM zuviel Geld sind, seine Feder spitzen und über richterliche Willkür schreiben wird. Ich sage ihm: Gemach, mein Freund! Abgesehen davon, daß dies ein böser Vorwurf ist, den ich für die Richterschaft dieses Landes zurückweisen muß: Es wird niemand ohne Not vor einen Richter zitiert werden, wenn er nicht will. Ein Betroffener kann sich im gerichtlichen Verfahren anwaltlich vertreten lassen. Er kann seine früheren Aussagen verlesen lassen oder erklären, er werde sich nicht äußern. Nur dann, wenn sein persönlicher Tatbeitrag - ich betone diesen Begriff - der Klärung bedarf, muß er vor dem Richter erscheinen. Meinem ganz speziellen Freund wäre natürlich in seinem Falle dieser Gang zum Richter nicht erspart geblieben. Andererseits halte ich es aber für ein Gebot der Fairneß, daß der Richter, der die Sache entscheidet, auch Feststellungen über den Täter trifft und diese alles entscheidende Frage nicht einem Kollegen überläßt, den der Ausgang des Verfahrens überhaupt nicht interessiert.
Die überwiegende schweigende Mehrheit von einem Bußgeld Betroffener fährt mit dieser Regelung im wahrsten Sinne des Wortes besser.
Wir wollen auch das Beweisverfahren straffen. Ein einfach gelagertes Bußgeldverfahren, vor allem in Verkehrssachen, muß in einem Gerichtstermin erle-
Alfred Hartenbach
digt werden können und darf nicht zur Spielwiese juristischer Spitzfindigkeiten werden.
Deshalb sollen in bestimmten Fällen die Gerichte Beweisanträge dann zurückweisen dürfen, wenn diese ohne vernünftigen Grund - ich betone auch dies - so spät gestellt werden, daß ein völlig neuer Termin nötig wird. Wir sind allerdings überzeugt, daß kein Richter und keine Richterin einen begründeten Antrag auf weitere Beweiserhebung leichtfertig zurückweisen wird.
Wir wollen auch die Rechtsmittelgerichte entlasten. Die maßvolle Erhöhung der Rechtsmittelsummen gehört ebenso dazu wie das überwiegende Einzelrichterprinzip der Bußgeldsenate. Wir sind nämlich überzeugt, daß drei Richter an den Oberlandesgerichten nur noch in besonderen Fällen ein gemeinsames Votum abgeben müssen und daß für die Masse der Verfahren Wissen und Können eines Richters zur Überprüfung der Urteile eines Amtsgerichts völlig ausreichen.
Wir lassen aber die Rechtsmittel ohne Einschränkung zu, wenn es um ein Fahrverbot geht. Denn wir wissen, welche Bedeutung dieses Stückchen Papier für die Menschen hat.
Schon im Ermittlungsverfahren geben wir Gas und erwarten dadurch eine deutlich schnellere Bearbeitung. Der Rahmen der Geldbußen wird auf 3 000 DM erhöht. Ich hoffe, Herr Wissmann wird mit Freuden hören, daß wir das ebenso wie er vorhaben. Das gibt Behörden und Gerichten im Einzelfall die Gelegenheit, auf hartnäckige Fälle auch mit empfindlicheren Bußen zu reagieren. Das hat nichts mit Abkassieren zu tun, wie man vereinzelt von Lobbyisten hören konnte. Wir wollen damit nur ein Instrument für Behörden und Justiz verbessern, damit die Millionen ordentlichen Verkehrsteilnehmer umfassender vor Rasern, Dränglern und Brutalos geschützt werden können.
Wer etwas anderes behauptet, stellt sich Seite an Seite mit Verkehrsrowdies.
- Ich muß ja einmal etwas bringen, was auch Ihnen Spaß macht, Herr Kleinert.
Wir wollen der Polizei die Möglichkeit einräumen, im breiteren Rahmen als bisher mit Verwarngeldern zu arbeiten, also einfache Sachverhalte schnell und unbürokratisch zu erledigen und auf den üblichen Papierkrieg zu verzichten, sofern die Betroffenen einverstanden sind.
Durch Änderungen der Verjährungsbestimmungen wollen wir die Verwaltungsbehörden zu schnellem Handeln anhalten. Es kann nicht angehen, daß ein Bußgeldbescheid vom Schreibtisch des Sachbearbeiters bis zum Empfänger vier bis sechs und manchmal auch noch mehr Wochen braucht.
Das Herzstück unserer Reformvorschläge aber ist ein Punkt, der Kraftfahrer immer wieder beschäftigt: das Fahrverbot und vor allem dessen Vollstreckung.
Nun erzähle ich Ihnen eine zweite Begebenheit; sie wird kürzer sein als die erste, aber genauso realistisch: Zwei Auslieferungsfahrer der gleichen Firma werden in zwei verschiedenen Orten in derselben Woche wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erfaßt. Beide erhalten ihren Bußgeldbescheid - gleiche Geldbuße - und jeder einen Monat Fahrverbot. Beide wissen, daß sie zu schnell waren. Beide würden auch den Bußgeldbescheid und das Fahrverbot akzeptieren, wenn da nicht ein schlimmer Haken wäre: Jedem von ihnen droht die fristlose Kündigung, wenn sie nicht weiter für die Firma fahren können. Die Rettung: Urlaub nehmen. Aber das ist zur Zeit nicht möglich. Was tut man also?
- Ich sehe, wir verstehen uns in der Sache. - Man legt Einspruch ein. Die Verfahren kommen zum Amtsgericht.
Die Sache von Fahrer A. wird vor dem Amtsgericht in K., die von Fahrer B. vor dem Amtsgericht in H. verhandelt. Beide erklären den Gerichten ihre Probleme. Die Richterin - ich betone ausdrücklich: Richterin! - in K. zeigt Verständnis. Sie vertagt das Verfahren drei Monate. In dieser Zeit nimmt A. Urlaub, reicht seinen Führerschein zur Akte und nimmt den Einspruch zurück. In der Firma merkt niemand etwas davon. Mehrkosten entstehen ihm auch nicht.
Der Richter in H. ist nicht so konziliant. Er verwirft B.s Einspruch. B. legt Rechtsbeschwerde ein. Das Verfahren kommt zum Oberlandesgericht; ein Oberstaatsanwalt und drei Richter befassen sich damit. Vier Monate nach dem Urteil des Amtsgerichts in H. wird die Rechtsbeschwerde verworfen. Das Urteil ist rechtskräftig, das Fahrverbot wird sofort wirksam. B. ist verzweifelt, er hat seinen Jahresurlaub schon genommen. Was nun? Er muß die Tatsache seiner Firma mitteilen, erhält prompt die Kündigung, und einen Haufen Kosten trägt er auch noch.
Hier will und wird unser Entwurf für Gerechtigkeit und Sicherheit sorgen. Betroffene Kraftfahrer sollen künftig bis zu vier Monate nach Rechtskraft entscheiden, wann das Fahrverbot vollstreckt wird. Das wird klappen und wird auch nicht zur Lachnummer, wie einzelne Kritiker unken. Im Gegenteil, die Menschen werden uns für dieses Stück persönlicher Verantwortung dankbar sein. Behörden und Gerichte werden dann von vorsorglich eingelegten Rechtsmitteln, wie ich sie eben geschildert habe, verschont werden, was eine erhebliche Entlastung auf allen Ebenen bedeutet.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eylmann?
Herrn Eylmann gestatte ich immer eine Zwischenfrage.
Lieber Herr Kollege Hartenbach, ist Ihnen aufgefallen, daß der Unterschied in den von Ihnen geschilderten Fällen eigentlich darin lag, daß der eine Fahrer seinen Jahresurlaub noch hatte, der andere nicht, und daß auch in Zukunft, wenn Sie diese neue Regelung mit den vier Monaten haben, der Tatbestand, daß der eine seinen Jahresurlaub schon genommen hat und der andere nicht, nicht aus der Welt geschafft werden kann?
Herr Eylmann, ich habe diesen Unterschied sogar sehr bewußt vorgebracht, weil es eben diese Unterschiede gibt. Ich habe zwei authentische Fälle vorgetragen. Der eine mußte seinen Urlaub nehmen. Ich wollte nicht sagen, daß er schlecht beraten gewesen sei, daß er in dieser Zeit nicht seinen Führerschein zur Akte gegeben hat. Sie haben mich dazu herausgefordert.
Wir werden es aber künftig, denke ich, durch eine vernünftige Belehrung der Betroffenen hinbekommen - ich hoffe, Sie machen da bei den Beratungen mit -, daß die Menschen nicht mehr in diese Bedrängnis kommen. Das ist das eigentliche Ziel unseres Entwurfes, und ich freue mich schon auf die Beratung mit Ihnen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weng?
Natürlich. Das gibt mir Gelegenheit, noch etwas mehr aus meinem Repertoire zu schöpfen.
Herr Kollege, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat bei diesen gleichgelagerten Fällen die vernünftigere Lösung eine Richterin, die andere ein Richter auf den Weg gebracht. Wollten Sie damit eine grundsätzliche Aussage verbinden?
Nein, Herr Kollege. Ich habe eben schon Herrn Eylmann gesagt, daß ich zwei authentische Fälle geschildert habe, und ich wollte Sie nicht belügen.
Jetzt komme ich zu unserem Kernstück; hier wollte ich auch Sie, Herr Funke, ansprechen. Wir wissen, daß es weitere Entwürfe zur Änderung des Ordnungswidrigkeitenrechtes gibt. Einen trage ich auf dem Herzen; das ist der, den Ihr Haus erarbeitet hat. Aber sie sind alle nicht so gut und an den Bedürfnissen der Praxis orientiert wie unser Entwurf. Einerseits sehen diese Entwürfe Entlastungen nur in der Beschneidung der elementaren Rechte der Betroffenen, andererseits werden echte Neuerungen vermißt.
Aber ich bin sicher, daß wir zu einer guten gemeinsamen Lösung kommen werden. Wir haben nämlich unseren Entwurf mit vielen Praktikern erörtert, bevor wir uns hierhergewagt haben, und sie haben uns noch zusätzliche gute Hinweise gegeben. Ich freue mich darauf, daß wir demnächst in den Gremien Rechtsausschuß und Verkehrsausschuß diese Gedanken, diese Reformen und auch die Hinweise der Praktiker gemeinsam erörtern können. Ich bin sehr sicher, daß wir hier alle den gemeinsamen Willen haben, eine Reform zu schaffen, die beidem dient: die den Menschen dient, auf die das Recht hier anzuwenden ist, und die auch der Justiz dient, damit sie entlastet wird.
Ich danke Ihnen für Ihr geduldiges Zuhören.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr von Stetten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man könnte ja, wenn man Herrn Hartenbach zugehört hat, von Onkel Hartenbachs Märchenstunde reden, wenn nicht die Realität so traurig wäre. Es ist lange genug über die Vereinfachung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens geredet und diese gefordert worden. Nun werden wir, wenn ich das richtig sehe, endlich handeln und schnell mit großer Mehrheit des Hauses dann auch entscheiden, weil der vorliegende Gesetzentwurf der SPD mit dem vom Kabinett verabschiedeten Entwurf in vielen wesentlichen Punkten übereinstimmt. Nur, lieber Herr Hartenbach, unser Gesetzentwurf, den wir immerhin als Schnellbrief bekommen haben - das ist nicht das, was Sie in der Tasche haben -, ist natürlich der bessere; das ist gar keine Frage.
- Das, was Sie da haben, ist ja nur eine Presseerklärung. Der Entwurf ist etwas dicker als eine Seite.
- Er ist viel besser.
Wir können - um das auch zu sagen -, nun darüber streiten, wer von wem abgeschrieben hat. Aber es ist müßig, weil beide Entwürfe miteinander vereinbar sind und in den Beratungen sicher vernünftige und rechtsstaatlich ausgewogene Lösungen gefunden werden können. Wir dürfen nicht vergessen, das Gesetz über die Ordnungswidrigkeiten ist 1968 verabschiedet worden, um die kleineren Verstöße gegen die Rechtsordnung aus der Strafjustiz herauszunehmen, die Verfahren zu beschleunigen und die Gerichte zu entlasten. Das war am Anfang auch so gelungen. Aber mehr und mehr wurden Tatbestände aufgeführt, die Ordnungswidrigkeiten waren. So entwickelten sich die Ordnungswidrigkeitenverfahren
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
mit krakenhaftem Antrieb, was Häufigkeit und Umfang betrifft, und die Gerichte wurden belastet.
Dazu kamen naturgemäß noch die hausgemachten Komplizierungen durch die Gerichte selbst, wenn entscheidungsunfreudige oder entscheidungsunfähige Richter bei Verkehrsverstößen einem Zeugenladungsrausch anheimfielen und damit täglich Tausende von Polizeibeamten und Bürgern von ihrer eigentlichen Arbeit abhielten, nur um sie dann in der mündlichen Verhandlung zu fragen, ob die bereits schriftlich fixierte Polizeiaussage auch richtig sei oder nicht. Das sind Luxusdinge, die wir uns nicht mehr leisten sollten. Dieser Zeugenmißbrauch, der teilweise auch in anderen Strafverfahren, auch in Zivilverfahren auftritt, könnte durch gründliche Vorarbeit leicht vermieden werden. Er ist nicht nur kostenaufwendig und zeitaufwendig, sondern frustiert insbesondere Zeugen und führt zu den eben auf geführten personellen Überlastungen bzw. monatelangen oder jahrelangen Verfahren.
Der Rechtsmittelmißbrauch der Betroffenen, den Herr Hartenbach deutlich angesprochen hat, durch Rechtsschutzversicherungen abgedeckt und gewinnstrebende Anwälte geschürt, tat dann ein übriges. Auch die Beschwerdegerichte, die mit drei ausgewachsenen, hochbezahlten Richtern am Oberlandesgericht besetzt sind, haben oft durch kleinkarierte, pingelige Aufhebungen der Entscheidungen der Vorgerichte zur Beschwerdefreudigkeit beigetragen.
In beiden Gesetzentwürfen werden diese wesentlichen Mängel als änderungsbedürftig anerkannt und Vorschläge zu ihrer Abhilfe gemacht. Dabei wurde auch den überholten Grenzen der Ordnungswidrigkeitengelder, der Erweiterung der Einstellungsmöglichkeiten etc. Rechnung getragen.
Daß es bei den Gesetzentwürfen hierbei noch unterschiedliche Grenzen gibt, ist zu vernachlässigen. Wir sind in den anstehenden Beratungen sicher zu gemeinsamen Beschlüssen fähig. Ob das Wort „tausend" durch „zweitausend" oder „dreitausend" oder das Wort „fünfhundert" durch „zwölfhundert" oder „fünfzehnhundert" oder das Wort „fünfundsiebzig" durch „einhundertfünfzig" ersetzt wird, bleibt sich letztlich gleich. Ich glaube, lieber Kollege Hartenbach - ich mache gerade Vorschläge, wie wir uns einigen -, die sehr wenig differenzierenden Höhen spielen keine Rolle.
Grundsätzlicherer Art ist aber die Frage der Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte. Hier macht es schon einen Unterschied, ob man sagt, die Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte sind mit einem Richter besetzt - wie die SPD sagt -, oder ob man - wie wir - sagt, die Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte sind mit drei Richtern besetzt, und dann jeweils die Ausnahmen aufführt. Aber auch darüber werden wir Einigung erzielen.
Die Frage des beschleunigten Verfahrens, die Frage der Beweiswürdigung ist sicher eine sehr schwierige Sache, weil sie immer eine Frage des Rechtsstaates ist. Aber auch bei Verfahren über mit kleineren Geldbußen bewehrte Ordnungswidrigkeiten sollte man dazu kommen. Wir sind uns einig, daß der Einzelrichter bis 10 000 DM Bußgeldhöhe zu entscheiden hat. Ob dies auch bei Nebenstrafen gelten soll, zum Beispiel beim Fahrverbot, ist eine grundsätzliche Frage. Ich würde mich dafür aussprechen.
Die mit dem SPD-Entwurf geforderte Änderung der Anordnung der Erzwingungshaft ist zumindest bedenkenswert. Auch hier ist sicher nicht entscheidend, ob 95 DM oder 75 DM die Grenze sind. Auf der anderen Seite bestehen vom erzieherischen und rechtsstaatlichen Grundsatz her Bedenken. Es könnte natürlich ausgenutzt werden.
Vernünftig erscheint mir in beiden Entwürfen die Neuregelung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung. Das Gericht muß von dieser Verpflichtung nach beiden Entwürfen befreien, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen und nicht - wie in dem von Herrn Hartenbach geschilderten Fall - die persönliche Anwesenheit zur Aufklärung notwendig ist. Damit wird manchem Amtsrichter - ich will das nicht verallgemeinern - das Druckmittel genommen, das er oft direkt oder indirekt zur Rücknahme des Einspruchs angewandt hat, nämlich die Maßgabe: Sie können ja Ihren Einspruch zurücknehmen, dann müssen Sie nicht erscheinen.
Mancher Einspruch ist auch aus finanziellen Gründen zurückgenommen worden, weil es keinen Sinn machte, von Frankfurt in den Bayerischen Wald oder von Hamburg nach Stuttgart zur Hauptverhandlung zu kommen, um einen Bußgeldbescheid aufzuheben oder einen Einspruch im letzten Moment zurückzunehmen. Hier, so glaube ich, ist es richtig, daß der Richter von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht wie früher nur befreien kann, sondern daß er es muß, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen.
Die Erweiterung der Möglichkeit, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, ist ebenfalls ein richtiger Schritt, genauso wie die Beschränkung von Rechtsmitteln auf einzelne Teile des Beschlusses oder Urteils. Häufig wird ja vom Grunde her die Angelegenheit nicht bestritten, nur die Höhe des Bußgeldes oder die Nebenmaßnahme wird beanstandet, zum Beispiel das Fahrverbot. Hier kann man erheblich Zeit und Geld sparen, und man kann auch schon im Einspruchsverfahren vereinfacht und auch schneller entscheiden, meist dann auch im schriftlichen Verfahren.
Damit das schriftliche Beschleunigungsverfahren nicht so leicht an niedrigen Beweggründen scheitert, die es ja bei Rechtsanwälten nicht geben soll, nämlich an Gebühren, wird man die Änderung der BRAGO vornehmen, damit das schriftliche Verfahren genau die gleiche Gebühr kostet wie das mündliche Verfahren.
Der Herr Justizminister ist nicht hier, aber, lieber Herr Funke, wir werden hoffentlich sehr schnell miteinander zum Ergebnis kommen; denn ich glaube, wir im Rechtsausschuß sind über die Parteigrenzen hinweg der Meinung, daß etwas geschehen muß,
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
und dann werden wir auch kurzfristig diesen Weg finden.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der heutige Sitzungstag steht ganz unter dem Leitthema „Sparen"; allerdings nähert sich die SPD-Fraktion mit dem vorliegenden Entwurf dem Thema in moderaterer und zielgenauerer Form, als dies die Bundesregierung heute morgen mit ihrem sogenannten Sparpaket vermocht hat.
Daß große Teile der Justiz an den Grenzen ihrer Belastbarkeit arbeiten, ist unbestreitbar. Daß auf absehbare Zeit keine relevante Aufstockung des Personals zu erwarten ist, ist gleichfalls allen hier bekannt.
Um so wichtiger ist es deshalb, innerhalb der Justiz nach Entlastungsmöglichkeiten zu suchen. Hier müssen überkommene Strukturen aufgebrochen und Arbeitsabläufe rationalisiert werden. Unabdingbar ist die Zurücknahme von Strafansprüchen und Konzentration auf das Wesentliche im strafrechtlichen Bereich. Hier ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht; im Gegenteil: Die offene und ideologiefreie Diskussion hat noch gar nicht begonnen. Hier werden wir weiter darauf drängen, daß in dieser Richtung endlich einmal etwas geschieht.
Nicht jede Vereinfachung bestehender Verfahrensordnungen ist gleichzusetzen mit Aushöhlung des Rechtsschutzes. Nicht jede vorhandene Regelung hat sich auch bewährt. Und bei mancher Vorschrift ist es schlicht eine Frage der Abwägung, ob deren Aufrechterhaltung den verursachten Aufwand angesichts der Notwendigkeit einer sinnvollen Verteilung der anfallenden Arbeit noch rechtfertigt.
Gerade die Bearbeitung von Ordnungswidrigkeitsverfahren bindet einen bedeutenden Anteil der Arbeitskraft an Amts-, aber auch an Oberlandesgerichten. Gleichzeitig sehe ich hier durchaus Potential für eine Reform, die eine Entlastung der Justiz herbeiführt und eine Umverteilung der dort anfallenden Arbeit ermöglicht.
So stellt sich etwa die Frage, ob das hergebrachte Zwischenverfahren bei den Staatsanwaltschaften für eine effektive Verfahrensdurchführung tatsächlich notwendig ist.
Für sinnvoll halte ich auch die Einführung der Möglichkeit, einen Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid auf einzelne Beschwerdepunkte zu beschränken.
Auch die Einführung eines grundsätzlichen Einzelrichterprinzips bei den Bußgeldsenaten der Oberlandesgerichte scheint mir ein durchaus vertretbarer Ansatz zu sein, der eine Entlastung bewirken könnte. Hier geht es immerhin nicht um die Verhängung einer Kriminalstrafe.
Ich warne allerdings: Ordnungswidrigkeitsverfahren lassen sich nicht als Peanuts abtun, bei denen man es mit der Wahrheitsfindung nicht so genau nehmen muß. So soll etwa die Beschwerdesumme von 200 auf 500 DM erhöht werden. Ich gebe zu bedenken: Nicht jeder Bürger kann diese Summe so einfach aus der Portokasse bezahlen.
Auch eine weitere Einschränkung des Beweisantragsrechts ist bedenklich. Ich will mich hier einer Diskussion nicht verschließen, aber bin bei manchen Punkten skeptisch. Schließlich hat gerade in Ordnungswidrigkeitsverfahren nicht jeder Beschuldigte auch einen Verteidiger. Das müßten wir in dieser Rechtsmaterie natürlich bedenken.
Einen guten Ansatz für eine Zurückdrängung von Einspruchsverfahren sehe ich jedoch in dem Vorschlag der SPD-Fraktion, den Zeitpunkt, an dem ein Fahrverbot wirksam wird, vom Zeitpunkt der Rechtskraft des Bußgeldbescheides zu entkoppeln. Warum das in dem Entwurf des Bundesjustizministeriums nicht vorkommt, ist meines Erachtens erklärungsbedürftig. Ich hoffe, Sie sind in dem Punkt einer Diskussion gegenüber aufgeschlossen.
Das Fahrverbot ist eine angemessene und zugleich äußerst wirkungsvolle Reaktion auf Verkehrsordnungswidrigkeiten. Hieran soll und darf sich auch nichts ändern. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß die Verhängung eines Fahrverbotes für viele einen tiefen Einschnitt nicht nur in die private, sondern auch in die berufliche Lebensgestaltung mit sich bringt. Ich denke hier etwa an die Berufskraftfahrer oder an Pendler, die ihr Auto für den Weg zur Arbeit benötigen. Herr Hartenbach hat das schon angesprochen.
Um den Zeitpunkt, an dem das Fahrverbot wirksam wird, hinauszuzögern und die Zeit während des Fahrverbotes vernünftig zu organisieren, legen viele der Betroffenen daher erst einmal prophylaktisch Einspruch gegen den Bescheid ein, in dem das Fahrverbot verhängt wird. Hiermit haben sich dann die Gerichte herumzuschlagen - eine völlig unnötige Belastung der Justiz.
Ich teile die Hoffnung der Verfasser des Gesetzentwurfs, daß sich die Zahl der Einsprüche reduziert, wenn wir den Betroffenen gestatten, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes selbst zu bestimmen, wann das Fahrverbot in Kraft tritt. Daß es im Einzelfall dazu kommen mag, daß das Fahrverbot in die Zeit des Jahresurlaubes gelegt und die Sanktionswirkung damit abgemildert wird, erscheint mir angesichts der fehlenden Alternativen durchaus hinnehmbar.
Positiv hervorheben möchte ich noch den Vorschlag, die Anordnung von Erzwingungshaft in Bagatellverfahren gesetzlich zu verbieten. Als Bagatellverfahren nur solche mit einer Geldbuße bis zu 95 DM zu bezeichnen erscheint mir indes ein wenig zaghaft. Es ist doch absurd, daß die Verfolgung einer Tat als Ordnungswidrigkeit schneller zu einer Inhaftierung führen kann, als dies der Fall wäre, wenn die gleiche Tat als Straftat verfolgt worden wäre, wo es
Volker Beck
etwa bei einem Ersttäter in der Regel zu einer Einstellung gekommen wäre.
Meine Damen und Herren, der Umstand, daß nun endlich auch das Bundeskabinett einen Entwurf zur Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts verabschiedet hat, in dem sich in weiten Teilen Parallelen zum SPD-Entwurf finden, gibt Anlaß zur Hoffnung, daß wir in dieser Legislaturperiode einen vernünftigen Kompromiß finden werden.
Gerade ein vereinfachtes Ordnungswidrigkeitsverfahren schafft auch neue Spielräume für die Rücknahme des staatlichen Strafanspruchs - Schlagwort: Entkriminalisierung. Wir brauchen das Ordnungswidrigkeitenrecht als Weg zu bürokratieärmeren Sanktionen bei geringfügigen Rechtsverletzungen, wie zum Beispiel dem Schwarzfahren. Deshalb werden wir Reformbemühungen zur rechtsstaatskonformen Vereinfachung des Ordnungswidrigkeitenrechtes aktiv unterstützen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Westerwelle hat mir vorhin gesagt, Herr Hartenbach habe ähnlich formuliert, wie er es von seinem Repetitor gewohnt gewesen sei. Die richtig praktischen Juristen verdanken ihren Repetitoren ja sehr viel. Ich will keinem richtigen Professor etwa damit Abbruch tun. Wir dürfen uns aber auch einmal dankbar unserer Repetitoren erinnern. Heute hatte dies hier eine solch plastische Atmosphäre des Repetitoriums. Die fehlt nun manchmal im Hörsal. Das richtet sich keineswegs gegen alle und schon gar nicht gegen anwesende Professoren. Das muß klar sein.
Im übrigen ist es ja so, daß wir hier Vertreter des ganzen deutschen Volkes sind. Herr Hartenbach, in gewissen Grenzen bin ich gerne bereit, Ihre Vorschläge hinzunehmen. Sie haben aber an einigen Punkten durchblicken lassen, daß Sie von Beruf, Erfahrung und Werdegang eher Amtsrichter sind.
Angesichts einiger Kernpunkte Ihres Gesetzentwurfes möchte ich zu dem Hauptpunkt meiner Kritik kommen. Es wäre ja langweilig, Sie andauernd zu belobigen. Ich finde Ihren Gesetzentwurf im ganzen gesehen ganz prima. Wer von wem abgeschrieben hat, lassen wir einmal gleich außen vor. Darum müssen sich die Beteiligten kümmern. Ich habe da keine Organisationsverantwortung und werde mich dazu auch nicht weiter äußern.
Was meine Kritik anbelangt, nenne ich § 74 Abs. 3. Die von Ihnen vorgeschlagene Fassung ist mir nun doch ein bißchen dick aufgetragen. Daß jemand, der aus irgendeinem Grund - der hier nicht näher beschrieben ist - nicht vor Gericht erscheint, ohne Berücksichtigung irgendwelcher Tatsachen verurteilt wird, geht mir entschieden zu weit.
Ich habe das Gefühl: Nicht alle Amtsrichter sind gleich. Das ist gut so.
Alle Menschen sind unterschiedlich. Deshalb gibt es auch unterschiedliche Amtsrichter. Ich glaube, einige Amtsrichter aus meiner praktischen Advokatentätigkeit zu kennen, die es für weitaus unwesentlicher halten, daß Angeklagte und Zeugen eine Stunde auf dem zugigen Gerichtsgang sitzen müssen, als daß sie selbst eine Minute auf den nächsten Termin warten müssen.
- Das würde ein bißchen zu weit gehen, an dieser Stelle. Nein, nein.
- Das fällt unter den Datenschutz und unter all das, was Sie immer wollen.
Jedenfalls könnte man Termine auch publikumsfreundlicher gestalten. Das sage ich an die Adresse der wenigen hier nicht anwesenden Amtsrichter. Man könnte sich durchaus vorstellen, daß das Bewußtsein, eine Dienstleistung zu erbringen, auch in diese Kreise vordringt.
Es wird in diesem Zusammenhang allerdings gesagt: Egal, warum die Person jetzt nicht da ist, er wird verurteilt, ohne daß überhaupt auf die Sache eingegangen wird.
- Wieso soll er sich entschuldigen, wenn er die feste Absicht hatte, pünktlich da zu sein?
- Irgendwas muß ja passiert sein. - Das ist wirklich eine der bedenklichsten Stellen Ihres im übrigen verdienstvollen Diskussionsbeitrages.
Im übrigen finde ich es sehr lobenswert, daß Sie sich vorher mit den Praktikern über diese Dinge unterhalten haben. Auch ich mache das. Die Fachleute, die hier in dieser kleinen Runde im wesentlichen anwesend sind, wissen, daß man über so etwas erst einmal in der „Meineidsklause" sprechen muß, bevor man sich in das Plenum des Deutschen Bundestages vorwagt. Alles das muß an den dafür bestimmten Orten vorgeklärt werden.
Ebenfalls ist mir aufgefallen, Herr Hartenbach, daß von einem „Senat" nicht mehr gesprochen werden
Detlef Kleinert
kann, wenn dort nur noch ein Richter sitzt: Tres faciunt collegium.
- Der Senat ist eben auf einmal ein Einzelrichter, wenn dort nur noch ein Richter sitzt. Dieser Punkt in dem Entwurf hat mich sprachlich und logisch ein wenig überrascht, weil ich von Ihren diesbezüglichen Fähigkeiten im übrigen eine hohe Meinung habe.
Mit all diesen Bemerkungen will ich ja nur eines andeuten: Im Grunde sind wir alle dabei, gemeinsam nach vernünftigen Wegen zu suchen, diese Verfahren zu beschleunigen. Wir wollen dabei aber keine Rechte verletzen. Das sehe ich in bezug auf den Punkt, den ich am Anfang angesprochen habe, wo Rechte verletzt werden, die nun wirklich wichtig sind.
Die praktische Handhabung des Fahrverbots in der vorgeschlagenen Form drängt sich derart auf, daß wir uns allesamt fragen müssen, warum wir nicht früher darauf gekommen sind, die Sache anders anzufassen. Ich habe keine andere Meinung gehört.
Daß sich jemand das gerne so einrichtet, wie es ihm am besten paßt, ist erstens verständlich und zweitens berechtigt. Daß man auf Grund eines künstlichen Einspruchsverfahrens Akten wieder in Umlauf setzt, ist natürlich falsch. Die diesbezügliche Anregung ist eine von mehreren besonders vernünftigen.
Weil sich das alles so verhält, werden wir uns richtig schön praktisch und nicht ohne Rückkoppelung in der „Meineidsklause" mit der Sache befassen, damit etwas Vernünftiges dabei herauskommt.
Herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja schön, daß in unserem Hause auch einmal Fröhlichkeit aufkommt.
- Es ist alles möglich, Herr Fischer; Sie sind zu vielem fähig.
Verkehrsordnungswidrigkeiten haben sich, wie dies zu Recht in der Begründung des Gesetzentwurfes festgestellt wird, zu Massenverfahren mit hohem zeitlichen Aufwand entwickelt. Herr Hartenbach hat von einer ständig wachsenden Flut gesprochen und
sie hier mit sehr bewegenden Worten und einem eindrucksvollen, langandauernden Beispiel dargelegt.
Die Autoren dieses Entwurfs sehen diesen Weg in der Hauptsache darin - das würde ich hier sagen wollen -, Rechte der Betroffenen zu reduzieren. Ich habe meine Zweifel, ob dieser Ansatz so richtig ist. Nach meiner Ansicht jedenfalls ist er einseitig. Er ist vielleicht zu stark aus der Sicht des Amtsgerichtsdirektors gesehen.
Ein Problem spielt hier eigentlich kaum eine Rolle: Das ist die veränderte Arbeitsweise im Vorfeld. Im Grunde wird nur über die Frage gesprochen, was man auf dem Gebiet der Rechtspflege macht. Ich meine aber, im Vorfeld sei doch einiges zu tun. Rechtliche Regelungen können dafür sicher bessere Rahmenbedingungen schaffen; die Veränderung der Arbeitsweise scheint mir jedoch ein eigenständiges Problem zu sein.
In der Begründung des Entwurfs wird darauf hingewiesen, daß in der Mehrzahl der Fälle offenbar erst nach 6 bis 12 Monaten nach der Tat - Tat ist ein sehr heftiges Wort - der Bußgeldbescheid ergeht. Dieses Vorgehen erscheint mir doch sehr zweifelhaft.
Weiter heißt es dort, daß die Betroffenen in aller Regel ursprünglich gar nicht vorhatten, ein Rechtsmittel einzulegen, daß sie dies erst auf Grund des Prozederes gemacht haben. Da stellt sich doch die Frage, ob wir nicht ernsthaft darüber reden sollten, was im Vorfeld bei Polizei und Ordnungsbehörden geändert werden könnte.
Ich weiß auch nicht, ob die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen tatsächlich merkliche Entlastungen bringen werden; das sollten wir auf jeden Fall überprüfen. Mir scheint, daß in einer Reihe von Fällen noch keine überzeugenden Aussagen gemacht worden sind. Auch hier sehe ich die Gefahr, daß wir etwas korrigieren, aber nach wie vor vor derselben Situation stehen. Das hatten wir schon bei mehreren Regelungen zur Entlastung der Rechtspflege zu verzeichnen.
Insofern halte ich es für problematisch, die Entlastungen nur durch eine Reduzierung der Rechte der Betroffenen erreichen zu wollen. Dies ist meines Erachtens aus rechtsstaatlicher Sicht kontraproduktiv. Es trägt dazu bei, eine Gewöhnung an die scheibchenweise erfolgende Reduzierung von Bürgerrechten herbeizuführen, an die falsche Gleichung, weniger Rechte würden mehr Effektivität und Sicherheit bringen.
Eine konstruktive und gute Idee ist aus meiner Sicht die vorgeschlagene Regelung einer Neufassung von Art. 33 Abs. 1 Nr. 9 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten über die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung. Die Unterbrechung soll nicht mehr durch den Bußgeldbescheid schlechthin, sondern durch den Erlaß des Bußgeldbescheides, sofern dies binnen zwei Wochen geschieht, ansonsten durch die Zustellung erfolgen. Hierdurch würde zweifellos ein direkter Zwang auf die Behörde ausgeübt, sich an die reale Verjährungsfrist von drei Monaten zu halten. Eine Ursache für unberechtigte Einsprüche würde wegfallen.
Dr. Uwe-Jens Heuer
Viel wichtiger als die Sanktion aber ist in meinen Augen das schnelle Reagieren auf eine Verfehlung. Mehr Bürgernähe könnte beispielsweise dadurch erreicht werden, daß Einsprüche bereits auf der Verwaltungsebene positiv entschieden werden oder ein Bürgergespräch zur Klärung führt, so daß der Gang zum Amtsgericht überflüssig wird. Ich meine, man sollte auch die Arbeitsweise der Ordnungsbehörden zur Diskussion stellen.
Herr Beck hat den Vorschlag gemacht, man solle mit dem Täter Gespräche über das Fahrverbot und den Zeitraum seiner Geltung führen. Wann aber soll dieses Gespräch stattfinden? Wenn der Sachbearbeiter in der Ordnungsbehörde nur ein Formular schickt und derjenige, der dieses Formular erhält, nicht oder verspätet antwortet und dann einen Bußgeldbescheid zugesandt bekommt, ist eine Klärung auf diesem Wege vielleicht nicht möglich. Man sollte also überlegen, ob in den Ordnungsbehörden ein anderer Arbeitsstil eingeführt werden kann.
Warum kann keine Verständigung zwischen Bürger und Ordnungsbehörde erzielt werden, wenn es dem Bürger zum Beispiel nur um die Höhe des Bußgeldes und um die Punkte in Flensburg geht? Dadurch würden wir die Gerichte entlasten.
Ein Problem ist nach Aussage von Rechtsanwälten, die in derartigen Verfahren tätig sind, auch der Druck, dem Polizisten unterliegen, in zureichendem Maße Anzeigen und Bußgelder zu erbringen. Das kann zu falschen Aussagen der Art führen, daß zum Beispiel behauptet wird, der Bürger habe eine rote Ampel überfahren. Der Polizist vertritt sich in eigener Sache, und der Bürger hat das Nachsehen. Wir sollten also überprüfen, ob es Praktiken einer Art von Bußgeldsoll gibt, die sich zweifellos nicht gut auf das Verhältnis zwischen Bürger und Polizei auswirken.
Sicherlich ist die vorgeschlagene Änderung in § 73 des Ordnungswidrigkeitengesetzes in Form einer Verpflichtung des Betroffenen zum Erscheinen in der Hauptverhandlung rechtsstaatlich korrekter als die bisherige Regelung, wenn sie auch unter Umständen mehr Verwaltungsaufwand zur Folge hat.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Zumindest bei schwerwiegenden Sanktionen wie Fahrverbot oder Führerscheinentzug erscheint mir zudem die vorgeschlagene Regelung des § 74 Abs. 3 des Ordnungswidrigkeitengesetzes,
nach der ein Ausbleiben des Betroffenen bei der Hauptverhandlung nicht mehr dazu führt, daß der Einspruch verworfen werden kann, sondern automatisch die Verwerfung des Einspruchs zur Folge hat, nicht akzeptierbar.
Es gibt eine Reihe praxisrelevanter Probleme, die der Gesetzentwurf aufwirft. Nach meiner Meinung ist eine komplexere Sicht auf das Problem einer Neugestaltung der Arbeitsweise nicht nur der Rechtspflegeorgane, sondern auch der Polizei und der Ordnungsbehörden im Interesse der Sicherung von Effektivität und Bürgernähe erforderlich. Mir scheint eine Diskussion über diese Fragen im Ausschuß erforderlich.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Franz Peter Basten.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entlastung der Rechtspflege von Massenverfahren ist ein rechtspolitischer Dauerbrenner. Der Gesetzentwurf der SPD enthält Elemente, die uns bei der Problemlösung ein Stück voranbringen können. Es ist bei dieser Gelegenheit auch einmal gut, darauf hinzuweisen, daß in diesem Hause nicht bei allem Dissens herrscht. Dies sollten wir dazu nutzen, in den Bereichen, in denen es wirklich nicht nötig ist, künstliche Fronten aufzubauen, im Interesse der Sache im Konsens voranzukommen. Dafür ist das, was auf dem Tisch liegt, sicherlich eine gute Grundlage.
Die Ordnungswidrigkeitenverfahren sind, gemessen an ihrer Bedeutung, zu aufwendig und zu teuer. In der Absicht, eine umfassende Individualrechtssicherung zu gewährleisten, bewirken die strafprozessualen Prozeduren eher das Gegenteil. Vorbehaltlich einer vertieften Diskussion und abschließenden Beurteilung greife ich aus der Praxis einige wenige Aspekte heraus, die mir im vorliegenden Zusammenhang als besonders bedeutsam erscheinen.
Ich erwähne zunächst das Beispiel des Fahrverbots; es ist hier bereits wiederholt bemüht worden. Ich will dazu folgendes ausdrücklich sagen: Es sind nicht nur die berühmten Sonntagsfahrer, denen zum Beispiel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung ein Fahrverbot auferlegt wird. Es sind häufig die berufsbedingten Vielfahrer, die unter Zeitdruck eine Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten.
Dies betrifft viele aus ländlichen Räumen, denen der Umstieg auf das öffentliche Verkehrsmittel als Alternative nicht zur Verfügung steht. Auch bei einem einmonatigen Fahrverbot können Probleme am Arbeitsplatz entstehen, die in ihren Auswirkungen in keinem Verhältnis mehr zum Unrechtsgehalt des Verstoßes stehen.
Was will ein Außendienstmitarbeiter oder ein Berufskraftfahrer tun, wenn er vier Wochen oder sogar länger ein Kraftfahrzeug nicht mehr steuern darf? In solchen Fällen droht häufig der Verlust des Arbeitsplatzes. Verständige Richter haben bisher häufig mit Hilfsbrücken auf diese Lage reagiert, indem sie auf Anregung der Anwälte so terminieren, daß das Fahr-
Franz Peter Basten
verbot in der Ferienzeit einigermaßen erträglich abgebüßt werden kann. Häufig mißlingen solche vernünftigen Versuche, oder sie unterbleiben, aus welchen Gründen auch immer.
Im übrigen darf uns als Gesetzgeber eine Gesetzeslage nicht befriedigen, welche die Verfahrensbeteiligten zu allerlei Kunstgriffen nötigt, um für die Betroffenen im Einzelfall eine gerechte Entscheidung herbeizuführen. Manche Gerichte haben sich lange Zeit damit beholfen, indem sie das von der Verwaltung verhängte Fahrverbot aufgehoben und statt dessen das Bußgeld verdoppelt oder verdreifacht haben. Die obergerichtliche Rechtsprechung hat diese Praxis der Amtsgerichte in den letzten Jahren wesentlich erschwert.
Der Vorschlag zur zeitlichen Flexibilität beim Wirksamwerden des Fahrverbots wird zu einer sachgerechten Behandlung schwieriger Fälle beitragen.
Nun ein Wort zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte. So ist das Leben: Man muß die Gebührenordnung nur richtig gestalten, dann tritt eine Entlastung im Justizwesen ein.
- Sie als früherer Amtsgerichtsdirektor wollten natürlich den Kollegen nicht ins Geschäft hineinreden, so vermute ich. Deswegen schildere ich jetzt einmal die Situation: Nach bisherigem Recht bekommt der Anwalt im Bußgeldverfahren, wenn es mit einer Hauptverhandlung endet, eine kleine und eine große Gebühr: zunächst für das Verwaltungsverfahren die sogenannte halbe Gebühr und dann für das Verfahren in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht die ganze Gebühr. Endet das Verfahren nach § 72 Ordnungswidrigkeitengesetz im Beschlußverfahren vor der Hauptverhandlung, dann bekommt er nur die kleine Gebühr.
Wie das Leben so ist: Es wird den Anwalt nicht drängen, seinem Mandanten zu empfehlen, auf jeden Fall auf das Beschlußverfahren zu setzen, weil er dann die große Gebühr verliert. Da die allermeisten Autofahrer heute eine Rechtsschutzversicherung haben, führt auch das Interesse des Mandanten nicht zur Bevorzugung dieses Verfahrens, so daß der Vorgang in der Regel in einer Hauptverhandlung landet, obwohl er dort nicht landen müßte.
Deswegen ist die Gleichstellung der Erledigung der Sache durch Beschluß nach § 72 Ordnungswidrigkeitengesetz mit der Erledigung durch die Hauptverhandlung in gebührenrechtlicher Hinsicht richtig. Dadurch wird es einen erheblichen Entlastungseffekt geben: Die Richter brauchen keine Hauptverhandlung mehr durchzuführen; die Anwälte werden entlastet, weil sie den Hauptverhandlungstermin nicht wahrnehmen müssen; die prozessualen Individualschutzrechte des Betroffenen sind gewahrt; die Anwälte sind zufrieden. Ich denke, daß das ein richtiger und guter Beitrag in dieser Sache ist.
Lassen Sie mich noch zwei Dinge anmerken. Herr Kollege Hartenbach, ich bitte, darüber auch in Ihrer Fraktion einmal nachzudenken.
Zunächst einmal: Sie haben den Schritt, die Staatsanwaltschaft aus dem Verfahren herauszunehmen, nicht gewagt, obwohl dies diskutiert wird. Ich frage mich aus meiner Praxis immer wieder: Was hat die eigentlich da zu suchen, und welche Funktion erfüllt sie in Wirklichkeit? Es läuft doch so ab, daß nach einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid die Sache an die Staatsanwaltschaft abgegeben wird. Dort wird der Geschäftsstellenbeamte damit befaßt, dem Vorgang ein Aktenzeichen zu geben. Dann wird der Vorgang dem Staatsanwalt auf den Aktenbock getragen, füllt den Aktenbock und den Tisch und wird dann weitergeleitet an das Amtsgericht. Das ist die Regel: Arbeitsanfall, sinnlose Belastung mit Aktenumlauf, sonst gar nichts.
Ich füge die Frage hinzu, ob die Staatsanwaltschaft dem System nach überhaupt etwas mit diesem Verfahren zu tun hat. Auch das ist eine Überlegung wert. Die Staatsanwaltschaft ist ein Strafverfolgungsorgan. Wir haben es hier aber mit der Ahndung von nicht kriminellen Gesetzes- und Rechtsverstößen zu tun. Weshalb eigentlich die Einschaltung der Staatsanwaltschaft? Was sozusagen zur Herbeiführung der Waffengleichheit erforderlich ist - auf der einen Seite ein Anwalt, auf der anderen Seite der Staat -, kann auch durch die Fachbehörde wahrgenommen werden. Im Steuerrechtsverfahren ist das schon so: Die Vertreter der Finanzbehörden übernehmen sozusagen die staatsanwaltschaftlichen Aktivitäten.
- Das gilt auch für das Bußgeldverfahren. Wenn es schon für das Strafverfahren möglich ist, eine Fachbehörde sozusagen die Rolle der Staatsanwaltschaft übernehmen zu lassen, muß es um so mehr für - ich formuliere es einmal so - ein läppisches Bußgeldverfahren gelten.
Ich meine, das sei zumindest einer Erörterung wert. Das ist keine Auffassung, die ich für meine Fraktion hier vortrage, sondern meine persönliche Anregung. Damit wir uns nicht nur zujubeln, wie gut und problemlos das alles ist, möchte ich in diesem Punkte eine Problematisierung in die Debatte einführen. Man sollte darüber nachdenken.
Eine letzte Frage ergibt sich aus dem, was Sie im Zusammenhang mit den Änderungen zu §§ 28 und 28a des Straßenverkehrsgesetzes vorsehen: die Erhöhung der Bußgeldsumme von 80 auf 100 DM. Sie erklären das in der Begründung zum Entwurf mit den Änderungen beim Verwarnungsgeld im Rahmen des § 56 des Ordnungswidrigkeitengesetzes.
In der Begründung finde ich keinen Hinweis darauf, welche Folgen diese Erhöhung im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes auslöst, beispielsweise für die Bußgeldkatalogverordnung. Wir haben es in der Bußgeldkatalogverordnung mit Verstößen zu tun, die mit 80 DM geahndet werden. Sie werden nach geltendem Recht in Flensburg beispielsweise mit einem Punkt eingetragen. Heißt das, daß ein Verstoß, der
Franz Peter Basten
mit 80 DM geahndet wird, zukünftig, weil er nach dem Straßenverkehrsgesetz nicht mehr eingetragen wird, in Flensburg nicht mehr auftaucht, sondern nur noch Verstöße, die mit wenigstens 100 DM geahndet werden? Sollen bisher eintragungsfähige Verstöße in Zukunft nicht mehr eingetragen werden? Darüber hätte ich gerne Aufschluß gehabt.
Ich weiß nicht, ob Sie das bewußt ausgelassen haben oder ob Sie daran nicht gedacht haben; aber das ist eine notwendige Folge des Ganzen. Es wäre gut, wenn das in den Beratungen noch deutlicher erörtert würde.
Abschließend möchte ich feststellen, daß wir insgesamt gute Möglichkeiten für Lösungen im Konsens sehen. Das wird dem rechtspolitischen Klima in unserem Land und auch in diesem Parlament sehr guttun.
Vielen herzlichen Dank.
Es spricht für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich eine persönliche Anmerkung machen. Ich fand diese Debatte ungewöhnlich lebhaft und interessant. Das liegt vielleicht besonders daran, daß sich hier jeder mit seinen eigenen Erfahrungen im Leben wiederfindet, wo auch immer man die Erfahrungen gesammelt hat: als Anwalt, als Richter oder vielleicht auch als kleiner Sünder; auch letzteres soll ja gelegentlich vorkommen.
Hier geht es in erster Linie darum, die Gerichtsverfahren zu straffen und zu beschleunigen und dadurch auch eine Entlastung der Gerichte herbeizuführen. Das ist, glaube ich, unser gemeinsames Anliegen, gemeinsam im übrigen mit dem Bundesrat. Die Bundesregierung begrüßt daher jede Maßnahme, die hier Verbesserungen bringt. Dabei ist jedoch stets darauf zu achten, daß dadurch die berechtigten rechtsstaatlichen Interessen des Bürgers gewahrt bleiben und die Wahrheitsfindung nicht beeinträchtigt wird.
Spielraum zur Verfahrensstraffung und Gerichtsentlastung bietet - darin sind wir völlig einig - sicherlich das Ordnungswidrigkeitenrecht. Die SPD-Fraktion ist etwas schneller gewesen als die Bundesregierung, die gestern im Kabinett eine Änderung des Ordnungswidrigkeitengesetzes beschlossen hat. Aber ich glaube, wir liegen auf der gleichen Welle. Wir sind nicht übermäßig weit auseinander. Ich bin sicher, daß wir im Zuge der Beratungen ein vernünftiges, gemeinsam getragenes Ergebnis erzielen werden.
Verglichen mit einem Strafverfahren handelt es sich bei Ordnungswidrigkeiten in vielen Fällen um Lappalien. Deshalb haben Beschwerdewerte ihre Berechtigung, bis zu deren Höhe die Überprüfung der Entscheidung des Bußgeldrichters durch ein höheres Gericht eben nicht mehr stattfindet. Insoweit bin ich
schon der Meinung, daß sich drei hochbezahlte Richter an einem Oberlandesgericht nicht unbedingt mit jeder Lappalie beschäftigen müssen. Dies darf aber nicht dazu führen, daß berechtigte Rechtsschutzinteressen der Betroffenen zu kurz kommen. Auch darf nicht übersehen werden, daß der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte im Rechtsmittelverfahren ja auch eine gewisse Richtlinienfunktion zukommt, und diese geht häufig weit über die Bedeutung des Einzelfalls hinaus.
Meine Damen und Herren, sicherlich gibt es auch einige Punkte, die zu dem Gesetzentwurf der SPD kritisch anzumerken sind. Zum Beispiel könnte man zum Fahrverbot etwas sagen. Nun hat Herr Kollege Kleinert, der jetzt leider nicht mehr anwesend sein kann, Ihren Entwurf belobigt. Ich bin da etwas anderer Meinung.
- Das würde mich freuen.
Wir sind doch alle der Meinung, daß der alte deutsche Grundsatz „Wer schnell gibt, gibt doppelt" auch für die Rechtsprechung gilt, und das sollte natürlich auch für den Vollzug von Fahrverboten gelten. Wenn man sich sozusagen aussuchen darf, wann man dieses Fahrverbot realisiert, wenn man einen Monat pausieren kann, wann es einem gerade so paßt, mag die „Strafe" doch etwas abgemildert sein. Daß Sie das hinnehmen wollen, wage ich zu bezweifeln; denn Sie haben in dem anderen Bereich ausdrücklich auf die Verkehrsrowdies, die zu schnell fahren und dadurch die Verkehrssicherheit gefährden, hingewiesen. Man muß schon beide Seiten gleichermaßen betrachten.
- Das ist ja fast eine christliche Aussage, Herr Kollege. Ich freue mich natürlich ganz besonders darüber, daß diese Äußerung aus der Sozialdemokratischen Partei kommt.
- Ich gehöre der evangelisch-christlichen Kirche noch an.
Die Möglichkeiten des Gesetzgebers, Ordnungswidrigkeitenverfahren zu beschleunigen, sind durch die berechtigten Rechtsschutzinteressen der Bürger notwendigerweise und aus gutem Grund begrenzt, aber Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung lassen sich in erheblichem Maße auch durch organisatorische Maßnahmen der Gerichte und der Landesjustizverwaltungen erreichen. Diese müßten freundlicherweise endlich einmal die Beschleunigungsverfahren praktizieren, die wir hier im Bundestag gemeinsam beschlossen haben.
Der Vorschlag des Kollegen Basten, den Staatsanwalt in dem Verfahren wenigstens partiell auszuschalten, um auf diese Weise zumindest eine gewisse
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung sowie eine Kostenminimierung zu erreichen, scheint mir überlegenswert. Dazu dienen die Beratungen im Rechtsausschuß; auf diese freue ich mich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe damit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/3691 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie Zusatzpunkt 10 auf.
6. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Kirschner, Antje-Marie Steen, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesundheitliche Gefahren durch Rinderwahnsinn
- Drucksachen 13/1972, 13/4436 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Halo Saibold und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umfassende Verbraucherschutzmaßnahmen gegen die Rinderseuche BSE - Sofortprogramm für regionale Fleischerzeugung
- Drucksache 13/4388 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß
ZP10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Maßnahmen zum umfassenden Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern vor der Rinderseuche BSE und zur Stabilisierung des Rindfleischmarktes
- Drucksache 13/4676 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Antje-Marie Steen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erneut müssen
wir uns heute mit der BSE-Problematik und ihrer endemischen Ausbreitung in England, aber inzwischen auch in Europa befassen, wobei die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion noch vor ganz kurzer Zeit hier in der Aktuellen Stunde diesbezüglich fragten, ob wir nicht gelegentlich Punkte hochpuschten, die nicht hochgepuscht werden sollten.
Inzwischen scheint auch in der CDU/CSU-Fraktion die Erkenntnis gewachsen zu sein, daß die BSE-Problematik eine dramatische Entwicklung genommen hat und Vorwürfe wie „Panikmache" verstummt sind. Spätestens seit dem 20. März 1996 und dem „Eingeständnis" der britischen Wissenschaftler und Behörden, daß BSE im Verdacht stehe, bei mehreren Personen unter 42 Jahren die Creutzfeldt-JakobKrankheit ausgelöst zu haben, sind alle Kritiken an dem vom Bundesrat und den Oppositionsparteien dieses Hauses längst geforderten totalen Exportverbot britischer Rinder und der daraus gewonnenen Produkte verstummt.
Seit dem 23. März dieses Jahres besteht dieses Exportverbot. Wir begrüßen ausdrücklich, daß auch die aktive Beteiligung der Bundesregierung zu vermerken war, wenn sie auch - nach unserer Einschätzung - zu spät einsetzte. Denn noch immer werden wöchentlich bis zu 250 BSE-Verdachtsfälle registriert. Davon bestätigen sich über 84 Prozent der Fälle als Erkrankung. Nach wie vor sind Erregerstruktur und Übertragungswege ungeklärt, Testverfahren an lebenden Tieren nicht möglich und ein Schutz vor der Erkrankung am Creutzfeldt-JakobSyndrom nicht herzustellen.
Wissenschaftler beobachten mit großer Sorge die Überwindung der Speziesbarriere durch den Erreger. Übliche Sterilisations- und Dekontaminationsverfahren zeigen nur unzureichende Ergebnisse. Eine Entwarnung für mögliche Infektionsquellen wie Milch oder Blut und die daraus gewonnenen Produkte ist noch lange nicht angezeigt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sehr viel mehr Tiere infiziert, aber noch nicht manifest erkrankt sind. Der gleiche Zustand kann auch beim Menschen bestehen. Eine Infektion bedeutet also nicht den sofortigen Ausbruch der Krankheit. Allerdings wissen wir auch nichts über die Ursachen, die die Krankheit ausbrechen lassen.
Unter diesem Blickwinkel der Erkenntnisse ist unverzichtbar, daß eine Lockerung des Verbots von Exporten aus England und der Schweiz nicht in Frage kommt. Unter gar keinen Umständen darf es eine Ausnahme bei Gelatine, Talg und Sperma geben. Wir sehen Sie, Herr Minister Seehofer, in der Pflicht, daß Sie zu Ihrem Wort stehen. Sie haben wiederholt erklärt: Wenn die europäischen Partner ein totales Verbringungsverbot beschließen würden, werde die Bundesregierung sich diesem anschließen. Sie haben das am 23. März 1996 getan. Nun gilt es, dem Druck der britischen Regierung zu widerstehen und keine Schlupflöcher zu öffnen. Sie haben uns dabei an Ihrer Seite. Ich glaube, daß die Drohgebärden aus England nicht so ernst zu nehmen sind, als daß sie eine Aufweichung des Exportverbotes rechtfertigen.
Antje-Marie Steen
Aus mehreren Punkten der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage ergeben sich berechtigte Zweifel, ob der nötige Verbraucherschutz allein durch das Verschließen der Exportwege zu gewährleisten ist. So wird bei der Frage nach der Kontrolle, die auf Grund der Dringlichkeitsverordnung für Transporte aus BSE-freien Beständen zu erfolgen hat, festgestellt:
Fleischsendungen ... dürfen ... nur stichprobenweise und in nichtdiskriminierender Art und Weise ... überprüft werden.
Ich frage mich, wo da eine effektive Kontrolle ist.
An einer anderen Stelle - bei den Maßnahmen gegen den sogenannten Fleisch- und Viehtourismus -, wird angeführt, daß es schwierig sei, etwaige Umwegeinfuhren zu kontrollieren, und daß die Einhaltung des Exportverbotes nicht durch andere Mitgliedstaaten überwacht werden könne. Die Kommission sei anläßlich der letzten Sitzung im Ständigen Veterinärausschuß wiederholt aufgefordert worden, ein gemeinschaftsweit einheitliches Vorgehen zu gewährleisten. Unser Entschließungsantrag, der Ihnen heute zur Entscheidung vorliegt, fordert genau diese Produktkennzeichnung und die Herkunftsnachweise im europäischen Kontext.
Wir müssen erkennen, daß der Vertrauensverlust bei den Verbrauchern und den Verbraucherinnen in die Qualität und Genießbarkeit von Rindfleisch und der aus Rindfleisch gewonnenen Produkte auch ein Vorwurf an die Politik der Regierung ist, nicht rechtzeitig und umfassend für den vorsorgenden Verbraucherschutz gesorgt zu haben. Um so mehr - das wiederhole ich - dürfen jetzt keine Zugeständnisse der Aushöhlung bei dem bestehenden Exportverbot gemacht werden. Der Beweis, daß Rinderprodukte und Produkte, die Zutaten von Rindern enthalten, unbedenklich sind, ist zur Zeit nicht zu erbringen.
Im besonderen trifft das für den Bereich der Arzneimittel, der Kosmetika und der Lebensmittel zu. Ausgangsstoffe von Rindern werden als Wirkstoffe, Hilfsstoffe oder Produktionshilfen bei einer außerordentlich großen Zahl von Arzneimitteln verwendet. Wir müssen deshalb sehr wachsam sein und durch möglichst restriktive Maßnahmen eine Gesundheitsgefährdung ausschließen.
Durch verschiedene Maßnahmen hat das Bundesministerium für Gesundheit dies inzwischen sichergestellt. Doch mittlerweile ist unumstritten: BSE ist nicht auf Großbritannien beschränkt. Rinderrohstoffe aus der Schweiz - dem Land mit den größten Pharmaunternehmen - können keinesfalls als bedenkenlos eingestuft werden. Ich beziehe mich dabei auf eine Äußerung von Herrn Professor Hildebrandt in der Anhörung des Gesundheitsausschusses am 17. April 1996.
Ebenso sind aus Holland und Frankreich BSE- Fälle in nicht geringem Ausmaß bekannt.
Wir fordern in unserem Antrag dringend verläßliche europäische Gesetzesvorgaben zur Sicherstellung der Arzneimittelqualität. Ein Schreiben des BGA vom 16. April 1996 belegt, daß die Ermittlung jener Arzneimittel noch immer ein Problem ist, bei denen im Endprodukt zwar kein Tierkörperbestandteil mehr enthalten sein soll, bei deren Herstellung jedoch Rindermaterialien als sogenannte Produktionshilfen, zum Beispiel Enzyme und Nährlösungen, verwendet werden. Es besteht also noch immer die Gefahr, daß auf diese Weise infektiöse Erreger in Arzneimittel geraten. Auch diese Gefahrenlücke muß dringend durch klare Produktvorgaben und -kontrollen geschlossen werden.
Die EU-Diskussion über eine Lockerung des Exportverbots von Gelatine und Talg betrifft genau diese Hilfsstoffe, die aus Körperbestandteilen von Rindern hergestellt werden. Der wichtigste Hilfsstoff ist Gelatine, die in sämtlichen Kapseln eingesetzt wird. Insgesamt enthalten zirka 24 000 Arzneimittel Hilfsstoffe von Rindern, davon allein 16 000 Gelatine oder Lactulose.
Die Herstellungsverfahren sind nicht absolut sicher. Erreger überleben hohe Temperaturen und den Einsatz von radikalen Desinfektionsmitteln. Auch den Hinweis, Material nur aus BSE-freien Beständen zu verwenden, hinterfrage ich in dem Wissen, daß es fast kein Mitgliedsland gibt, in dem nicht BSE-Fälle bekannt sind.
Eine Lockerung des Exportverbots könnte also eine Katastrophe bedeuten. Deshalb müssen wir den Gesundheitsminister auffordern, sich nicht durch englische sogenannte Erpressungsversuche einschüchtern zu lassen. Wenn in der nächsten Verzögerungsetappe, am 3. und 4. Juni, erneut über eine Lokkerung der Exportbestimmungen beraten wird, darf es nicht zu einer Aufweichung kommen. Leider mehren sich die Signale, daß sich die Kommission für eine Lockerung entschließen könnte, wenn es nur um Gelatine und Talg geht. Sperma soll ausgenommen sein.
Schon lange haben wir auch auf die ungelöste Problematik bei der Verwendung von Frischzellen hingewiesen. Wir hoffen, daß die Bundesregierung endlich die notwendigen gesetzlichen Regelungen trifft, um auch in diesem Bereich die Gefahrenquelle zu schließen.
Auskünfte darüber, ob Kosmetika in irgendeiner Form Rinderbestandteile enthalten, gibt es nicht. Hier wirkt das geheime Spiel immer neuer, ständig wechselnder Rezepturen um immer größere Wirksamkeit gegen Fältchen oder sonstige sogenannte Schönheitsfehler. Die für 1998 geplante Änderung der Kosmetikverordnung auf EU-Ebene muß dringend vorgezogen werden, um die Erfüllung des notwendigen Regelungsbedarfs sicherzustellen.
Immer wieder haben wir in der Vergangenheit auch auf die Intensivierung der Erforschung der menschlichen und tierischen spongiformen Enzephalopathie, der Infektionswege und der Nachweismethode gedrängt und die Bereitstellung der erforderlichen finanziellen Mittel gefordert. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie sich bei der EU-Kommission nachdrücklich für eine Abstimmung der Programme zwischen den Ländern der EU und den Forschungsprogrammen der EU einsetzt, damit gemein-
Antje-Marie Steen
same Strategien entwickelt werden, ein effektives Handlungskonzept entstehen kann und ausreichend Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden.
Ich erlaube mir den Hinweis auf Mitteilungen aus Ihrem Haus, Herr Minister Seehofer, in denen auf die erheblichen Wissenslücken und den erheblichen Forschungsbedarf bei der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung und BSE hingewiesen wird, was ebenfalls in unserer Anhörung am 16. April beschrieben wurde.
Ich greife ein Detail unseres Antrags dazu auf: die ungeklärte Situation in bezug auf die Milch von an BSE erkrankten Kühen. Die wissenschaftlichen Aussagen zum Problem Milch in der eben genannten Anhörung kann ich Ihnen nicht vorenthalten. Herr Professor Heeschen sagte:
Dadurch bin ich zu der für einen Wissenschaftler einigermaßen zumutbaren Feststellung gekommen, daß ein Risiko für den Verbraucher ... mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist.
Gleichzeitig sagt er, dieses sei „als Wahrscheinlichkeit zu interpretieren, daß ein gesundheitlich unerwünschter Effekt besteht. " Das ist ein Widerspruch. Eine klare Aussage fehlt auch in diesem Punkt.
Es kann nicht beruhigen, wenn - ich beziehe mich wieder auf die Aussage von Wissenschaftlern in der erwähnten Anhörung - bei 300 britischen Kälbern, die mit BSE-Milch gefüttert wurden, bisher keine Erkrankungszeichen erkennbar sind. Klar ist doch auf jeden Fall eines: Die Lebenszeit der Kälber ist einfach zu gering und die Inkubationszeit möglicherweise zu lang. In dieser Hinsicht erwarten wir eine Erforschung des Gefahrenpotentials.
Wir sind noch lange nicht auf der sicheren Seite des vorsorgenden Verbraucherschutzes - trotz des bestehenden Exportverbots. Ich möchte noch einmal daran erinnern, in welchem Umfang Rinder, Kälber, Fleisch und daraus hergestellte Produkte nach Deutschland, aber auch in die EU und Drittländer verbracht wurden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gelangten 1994 allein aus England 101 870 Tonnen Rindfleisch nach Frankreich. Gleichzeitig exportierte Frankreich aber auch 54 850 Tonnen Fleisch nach Deutschland. Es ist sicher nicht zu vermuten, daß das alles gerade Fleisch aus Großbritannien war, das zu uns kam. Aber ganz auszuschließen ist es auch nicht.
Da sich meine Redezeit dem Ende nähert, komme ich zum Schluß. Der europaweit vorsorgende Gesundheits- und Verbraucherschutz darf nicht hinter den ökonomischen Interessen der Fleischerzeuger zurückstehen. Schon gar nicht darf er zum Spielball internationaler politischer Machtinteressen werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage von BSE ist ohne Zweifel eine der größten Herausforderungen für den gesundheitlichen Verbraucherschutz in den letzten zehn Jahren. Gerade weil wir es mit einem sehr sensiblen und ernsten Thema und mit vielen wissenschaftlich noch offenen Fragen zu tun haben, kommt es darauf an, daß wir die Bevölkerung richtig aufklären und unser Tun wissenschaftlich fundiert ausrichten.
Gerade weil in diesen Tagen sehr häufig der Verdacht geäußert wird, die Bundesrepublik Deutschland könnte sich unabhängig von internationalen Erkenntnissen aus vordergründigen Überlegungen und Erwägungen auf eigene Bewertungen und eigene Zielstellungen zurückziehen, möchte ich heute ausschließlich Bewertungen, Zitate und Zielformulierungen verwenden, die uns von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften in der Sitzung des Gesundheitsrates am 14. Mai in Brüssel ausgehändigt worden sind.
In dieser Dokumentation wird ausgeführt, daß die gegenwärtige Besorgnis über BSE und einen möglichen Zusammenhang mit CJD, also der menschlichen Form der Enzephalopathie, auf eine Erklärung der britischen Behörden vom 20. März 1996 zurückzuführen ist, die sich auf den Bericht einer nationalen britischen Sachverständigenkommission stützt. Dieser Bericht betrifft eine Variante von CJD, die im Vereinigten Königreich bei zehn Personen mit einem Durchschnittsalter von 26,3 Jahren beobachtet wurde, und zwar dank eines Überwachungssystems, das von einem fünf Mitgliedstaaten umfassenden Netz mit finanzieller Unterstützung der Kommission betrieben wird. In diesem Bericht, der von der Europäischen Kommission dokumentiert wurde, wird folgende Schlußfolgerung gezogen:
Es gibt zwar keinen direkten Beweis für einen Zusammenhang, doch angesichts der bislang vorliegenden Daten und mangels einer plausiblen Alternative ist die zur Zeit wahrscheinlichste Erklärung, daß diese Fälle mit der Exposition gegenüber BSE vor der Einführung des SBO-Verbots, im Jahr 1989 in Zusammenhang stehen.
Es handelt sich um Erkrankungen von sehr jungen Menschen mit wesentlich kürzerer Inkubationszeit, als bisher bekannt. Das ist also keine deutsche Risikobewertung, sondern eine Risikobewertung britischer Wissenschaftler, die dem dortigen Parlament mitgeteilt wurde, die von der Europäischen Kommission geteilt wird und die uns auch im Gesundheitsministerrat dokumentiert übergeben wurde.
Meine Damen und Herren, das ist für die Frage, ob der BSE-Erreger auf den Menschen übertragbar ist, eine fundamental andere Risikobewertung, als sie bis Anfang März übereinstimmend von Wissenschaftlern vertreten wurde.
Bundesminister Horst Seehofer
Die Risikoeinschätzung früher lautete: Es ist eher unwahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen.
- Herr Wodarg, das Thema ist so ernst, daß wir uns als Parlamentarier heute mit solchen Zwischenrufen zurückhalten sollten.
In der wissenschaftlichen Fachsprache ist es ein Restrisiko. Diese neue wissenschaftliche Bewertung macht aus dem Restrisiko eine Wahrscheinlichkeitshypothese. Auch wenn es nicht bewiesen ist, so ist die Übertragung doch wahrscheinlich.
Wir haben in der gleichen Sitzung des Gesundheitsministerrats eine interdisziplinäre wissenschaftliche Kommission mit dem Vorschlag eingesetzt, einen Wissenschaftler aus der Schweiz, Charles Weissmann, zum Vorsitzenden dieser Kommission zu machen. Er hat heute nach einer Agenturmeldung erklärt, daß er davon überzeugt sei, „daß ein Zusammenhang besteht zwischen der Rinderseuche BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen. "
Der „Basler Zeitung" vom letzten Mittwoch sagte Weissmann, er sei sicher, daß in den bekanntgewordenen Creutzfeldt-JakobF-ällen die tödliche Gehirnerkrankung durch infizierte Rinder übertragen wurde. Dies sei aber wissenschaftlich schwer zu beweisen. Weissmann hielt es zudem für möglich, daß Rinder auch an BSE erkranken können, ohne mit Tiermehl aus Schafskadavern gefüttert worden zu sein.
Meine Damen und Herren, das ist die ganz objektive, von unserer eigenen Einschätzung unabhängige Meinung der britischen Wissenschaft, der EU- Kommission und des von der Europäischen Union als unabhängiger Gutachter eingesetzten Schweizer Biologen Charles Weissmann. Ich sage das vor dem Hintergrund mancher Äußerungen dieser Tage, wir hätten unsere eigene Risikoeinschätzung in der Bundesrepublik Deutschland konstruiert. Daran können wir - unabhängig von der Verunsicherung der Verbraucher, die ernsthaft doch niemand bewußt betreiben will - kein Interesse haben. Ich muß immer wieder darauf hinweisen, daß gerade der deutsche Rindfleischmarkt - der Kollege Jochen Borchert wird das noch ausführlich darlegen - von dieser ganzen Diskussion besonders nachhaltig, und zwar negativ, betroffen ist. Schon von daher können wir kein Interesse daran haben, das Thema Rinderwahnsinn in der Bundesrepublik Deutschland unangemessen zu behandeln.
Die zweite Frage ist, ob man für Gelatine, Talg und Rindersamen das Exportverbot lockern sollte. Auch dazu möchte ich aus dem Dokument, das am 14. Mai dem Gesundheitsministerrat vorgelegt wurde, vortragen. Es heißt hier:
Bei Lebensmitteln und Arzneimitteln, für die in erster Linie Gelatine und Talg in Frage kommen, muß man die Eventualität eines Risikos der BSE- Übertragung durch Lebensmittel oder Arzneimittel, zu deren Ausgangsstoffen Gewebe oder Körperflüssigkeiten vom Rind zählen, zugrunde legen; denn das Wichtigste ist, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß diese Erzeugnisse nicht infektiös sind.
Dann zitiert die Kommission zwei wissenschaftliche Gremien, die nicht in der Bundesrepublik Deutschland angesiedelt sind: einmal die Weltgesundheitsorganisation und zum zweiten den wissenschaftlichen Ausschuß, der für Kosmetik zuständig ist. Es liegt ein entsprechendes Gutachten eines wissenschaftlichen Ausschusses für Arzneimittel auf europäischer Ebene vor.
Weil das Thema in diesen Tagen so wichtig ist, muß ich Ihnen zumuten, daß ich Ihnen aus den Empfehlungen der WHO vorlese, was sonst nicht meine Art ist. Ich zitiere:
Gelatine in Lebensmitteln wird als sicher betrachtet, wenn sie nach einem Herstellungsverfahren und unter Produktionsbedingungen hergestellt wird, die nachgewiesenermaßen jegliche Infektiosität, die in den ursprünglichen Geweben vorhanden gewesen sein könnte, inaktivieren. Talg wird ebenfalls als sicher betrachtet, wenn wirksame Verfahren der Tierkörperverwertung angewandt werden.
Das betrifft Lebensmittel.
Es wird nachdrücklich darauf hingewiesen, daß Material von Rindern, das für die pharmazeutische Industrie bestimmt ist, nur aus Ländern bezogen werden sollte, die ein Überwachungsystem haben und entweder keine oder nur sporadische Fälle von BSE melden. Eliminierungs-
und Inaktivierungsverfahren tragen zwar dazu bei, das Infektionsrisiko zu senken, doch es muß berücksichtigt werden, daß der BSE-Erreger außerordentlich widerstandsfähig ist gegenüber physikalisch-chemischen Verfahren, die die Infektiosität gewöhnlicher Mikroorganismen ausschalten.
Das heißt, wir haben hier ein wissenschaftliches Votum der Weltgesundheitsorganisation, uns am 14. Mai vorgelegt: bei Lebensmitteln, wenn ausreichend inaktiviert wird - keine Bedenken; bei Arzneimitteln - Bedenken.
Bei Kosmetika stellt der auf europäischer Ebene eingesetzte Wissenschaftsausschuß fest:
Angesichts des heutigen Kenntnisstandes ist der SCC der Ansicht, daß alle Gewebe und Körperflüssigkeiten, die von Rindern aus BSE-Endemiegebieten stammen, den BSE-Erreger übertragen können. Daher sind solche Gewebe und Körperflüssigkeiten wie auch aus ihnen hergestellte Inhaltsstoffe nicht in kosmetischen Mitteln zu verwenden. Wenn kein vollständiger Herkunfts-
Bundesminister Horst Seehofer
nachweis erbracht werden kann, aus dem hervorgeht, daß das Material frei von dem BSE-Erreger ist, ist die Inaktivierung mittels anerkannter Methoden angemessen nachzuweisen.
Es gibt auch eine Entscheidung der Europäischen Arzneimittelagentur, die in London sitzt und europäisch organisiert ist, die bei Gelatine bezüglich Arzneimitteln zu dem Ergebnis kommt, daß das Ausgangsmaterial nicht von Rindern stammen soll, die in Großbritannien geschlachtet sind. Ich weise der Korrektheit halber darauf hin - das steht in dieser Dokumentation nicht -, daß es auch einen Wissenschaftlichen Veterinärausschuß gibt, der diese Bedenken nicht teilt.
Meine Damen und Herren, bei dieser von mir eingangs genannten Risikobewertung, bei der es um die Wahrscheinlichkeitshypothese geht - Übertragung des BSE-Erregers auf den Menschen wahrscheinlich -, können wir bei unterschiedlichen wissenschaftlichen Voten nicht das Risiko eingehen, zu warten, bis der letzte Beweis angetreten ist, sondern unsere Bitte - Kollege Jochen Borchert hat das im Agrarrat immer wieder vorgetragen, und ich habe das gleiche im Gesundheitsrat getan - an die EU-Kommission ist, daß diese unterschiedlichen wissenschaftlichen Voten, die nicht aus Deutschland stammen, sondern auf europäischer Ebene bzw. weltweit entwickelt wurden und die uns - ich sage es noch einmal - am 14. Mai von der Kommission dokumentiert übergeben wurden, von der Kommission zunächst einmal koordiniert und aufeinander abgestimmt werden. Deshalb haben wir am 14. Mai die Einsetzung eines multidisziplinären wissenschaftlichen Ausschusses auf europäischer Ebene in Brüssel beschlossen. Das wäre eine der ersten Aufgaben, die dieser Ausschuß unter dem Vorsitz von Charles Weissmann, den ich zitiert habe, erledigen könnte.
Meine Damen und Herren, es ist also unsere Forderung, daß man angesichts des gewaltigen Risikos, das hier für Menschen möglicherweise besteht, diese unterschiedlichen wissenschaftlichen Meinungen aufeinander abstimmt und koordiniert. Ich kann mir eine Lockerung des Ausfuhrverbotes für Gelatine, Talg und Rindersamen nicht vorstellen, wenn sie nicht auf einer eindeutigen wissenschaftlichen Basis beruht, die jedes Risiko für die menschliche Gesundheit ausschließt.
Wir können bei einem Risiko, das von der Wahrscheinlichkeit der Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen ausgeht, nicht das kleinste Risiko eingehen. Ich erinnere an den Southwood-Bericht Ende der 80er Jahre, der - damals noch - zu dem Ergebnis kam: Wir gehen zwar nicht davon aus, daß BSE auf den Menschen übertragbar ist. Aber wenn wir in dieser Hypothese Unrecht haben sollten, dann wäre dies eine Katastrophe für die Menschen.
Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich in aller Ruhe und aller Gelassenheit sagen: Wir akzeptieren und respektieren die ungewöhnlich schwierige Lage innerhalb des Vereinigten Königreichs. Wir
wollen, wo immer es geht, mithelfen bei der Lösung der Probleme. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen den gesundheitlichen Verbraucherschutz der Menschen an die oberste Stelle setzen.
Deshalb kommt es zuallererst darauf an, daß die internationale Wissenschaft bei der Bewertung dieses Problems auf einen Nenner kommt. Wenn dieser Nenner nicht eindeutig ist, bitte ich um Unterstützung - und, wenn andere Meinungen vorherrschen sollten, auch um Verständnis - dafür, daß wir, so wie bisher übrigens auch, den Verbraucherschutz an die oberste Stelle setzen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Die Aufweichung des Embargos ist keine Antwort. Das steht fest. Sie wird kein Vertrauen einflößen. Solange nicht geklärt ist, ob der hirnzerstörende Erreger in die Spezies Mensch eingedrungen ist, gilt Primärprävention, und zwar ohne Einschränkung.
Auch wenn die Regierung jetzt am Exportverbot festhält und das hier bestätigt, ist das Jahr 1994 für mich immer noch entscheidend. Wir haben jetzt zwar das Exportverbot, aber können die gesundheitspolitischen Fragen nicht beantworten: Was ist, wenn sich die Expertenmeinung auf ein „Ja, übertragbar! " verdichtet? Was ist, wenn es als wahrscheinlich gilt, daß die zehn Neuerkrankungen in England eine Art neuer Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung sind? Was ist, wenn die Neuropathologie in Deutschland ebenfalls BSE-typische Plaque-Ablagerungen bei Verstorbenen findet? Dann ist das BSE-Problem kein englisches, dann ist es ein kontinentales, ein gesamteuropäisches Problem, für das es keine medizinische Lösung gibt.
Die epidemiologische Datenlage ist dürftig. Sie sagt nichts Eindeutiges über eine Creutzfeldt-JakobErkrankung in Deutschland aus. Sie zeigt nur, daß wir, wenn die Erregerforschung keine Ergebnisse bringt, erst um die Jahrhundertwende mehr darüber wissen, ob sich eine neue BSE-/Creutzfeldt-JakobErkrankung ausgebreitet hat, und zwar über die Todesursachenstatistik.
Der Forschungsbedarf ist beträchtlich. CFJ wird vom Menschen auf den Menschen übertragen, über Transplantate, über Hormone gegen Unfruchtbarkeit der Frau, über EEG-Elektroden im Gehirn, über Hirn- und Augenhornhäute von Toten. Die Inaktivierungsverfahren versagen bei der Creutzfeldt-JakobErkrankung.
Welche Analogien zu BSE sind statthaft? Herr Minister Seehofer, Sie haben dankenswerterweise
Monika Knoche
den Stand der internationalen unabhängigen Forschung genannt. Wir werden sehen, ob sich die Ängste der Bevölkerung als Vorahnung erweisen.
Ich habe von den Fachleuten der deutschen Bundesinstitute gehört, daß es sich durchaus um einen interessengeleiteten Streit handelt, der hinter dem Konflikt zwischen der Virus- und der Prionenhypothese steckt. Warum arbeiten weltweit nur vier Virologen an der Virustheorie, und warum werden 90 Prozent der Forschungsgelder für die Prionenforschung ausgegeben? Warum gibt das Bundesministerium für Gesundheit nur 1,5 Millionen DM von insgesamt lediglich 6 Millionen DM diesbezüglicher Forschungsmittel aus?
Ich weiß nicht, ob der Hypothesenstreit die Forschung über ein Nachweisverfahren behindert. Aber reichen 6 Millionen DM angesichts der Seuchendimension? Immerhin sind schon 160 000 Tiere verendet. Wir brauchen Klarheit über BSE. Wir brauchen Antikörpertests, und das nicht nur bei toten Tieren.
Wenn es eine neue Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung gibt: Wie sicher sind dann Blutübertragungen? Sie selbst haben die Analogie zu HIV hergestellt. Wer wird haften, wenn eine oder einer infiziert wurde? Welche Rechtsposition hat die Regierung heute schon für die möglichen Betroffenen vorgesehen?
Wir werden uns im Gesundheitsausschuß weiter mit diesen umfassenden Fragen zu beschäftigen haben, weil wir in der Politik nicht darauf hoffen dürfen, daß es so schlimm nicht kommen wird. Egal, was wir bei den Ergebnissen erfahren werden: Die Parole „falscher Alarm" ist - egal, von wem sie wann kommt - so und so falsch, auch wenn BSE nicht auf den Menschen übertragen worden sein sollte, weil richtig und bewiesen ist: BSE ist ein ungewolltes Nebenprodukt industrieller Fleischproduktion. Das Sich-Vergreifen des Menschen an der natürlichen Ernährung seines Nahrungsmittels Tier ist das Grundübel. Alle Entwarnungen laufen heute schon darauf hinaus, den wahren Wahnsinn der Rindfleischwachstumsproduktion wieder zur Normalität zu erheben.
Ich bin sehr froh, daß sich hier in diesem Haus - wenn auch sehr spät, aber jetzt auf Grund der wissenschaftlichen Aussagen, auf die wir schon 1994 vertraut haben - unser Bundesgesundheitsminister für die präventive Gesundheitsvorsorge entschieden hat.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man muß sich schon fragen, was in einem Land vor sich geht, in dem 1985 bereits die ersten Fälle von BSE aufgetreten sind, in dem bis heute mehr als 160 000 Rinder an BSE erkrankt sind und beseitigt werden mußten, das ganz Europa in helle Aufregung versetzt und bis heute noch keinen entscheidenden Schritt unternommen hat, um BSE wirksam zu bekämpfen. Anstatt gegen die Seuche vorzugehen, wird das Exportverbot, also die Folge der BSE-Seuche, vehement bekämpft.
Meine Damen und Herren, solange nicht wissenschaftliche Nachweise vorliegen, die die Unbedenklichkeit des Verzehrs von britischem Rindfleisch bestätigen, und solange die britische Regierung nicht in der Lage ist, die Bekämpfung der Seuche in der notwendigen Form tatsächlich durchzuführen, darf dieses Exportverbot nicht gelockert werden.
Wie kam es eigentlich zu dem Exportverbot für britisches Rindfleisch und daraus hergestellten Produkten? Der britische Gesundheitsminister selber hat diese Lawine losgetreten, als er Ende März vor dem Unterhaus das erste Mal öffentlich zugab, daß es ein wissenschaftliches Gutachten gebe, das besagt, daß ein Zusammenhang zwischen BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bei Menschen bestehen könnte.
Heute beschimpft der britische Premierminister Major Verbraucher und Politiker, weil sie die Konsequenzen aus dieser Aussage gezogen haben. Ich erlaube mir, hier die Queen zu zitieren: „We are not amused." Und ich sage für ganz Deutschland: We are not amused about that.
Wir wissen doch alle ganz genau, daß dieses Problem nicht durch gegenseitige Schuldzuweisungen gelöst werden kann, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln.
Wir reichen unseren britischen Freunden die Hand zu einer gemeinsamen, solidarischen Lösung,
und wir übernehmen bei den Keulungsaktionen, die notwendig sind, um die Seuche wirksam zu bekämpfen, 70 Prozent der Kosten für die Entschädigung der betroffenen Landwirte.
Ich möchte hier ausdrücklich mein Mitgefühl für die Probleme der britischen Landwirte aussprechen. Das sind nämlich diejenigen, die die Zeche zu bezahlen haben. Sie sollten einmal Druck auf ihre Regierung ausüben.
Allerdings sage ich ebenso deutlich: Vorbeugender Gesundheitsschutz zur Abwehr gesundheitlicher Gefährdungen der Verbraucher hat absolute Priorität und kommt vor wirtschaftlichen Interessen.
Erst recht kann und darf die Sicherheit von Menschenleben keine politische Verhandlungsmasse sein.
Ulrich Heinrich
Zum vorbeugenden Verbraucherschutz gehört neben der Keulung der über 30 Monate alten Tiere und deren Vernichtung eine noch viel größere Aufmerksamkeit hinsichtlich Herstellung, Kontrolle und Einsatz von Tiermehl. Es geht also um die grundsätzliche Bewertung des Fütterungskreislaufes. Wenn es tatsächlich zutrifft, daß die Übertragung von BSE in erster Linie über Tiermehle erfolgt - aber nicht einmal das ist mehr wissenschaftlicher Stand; hier sind die Gefahren wohl noch breiter anzusehen -, die aus Schlachtabfällen von Schafen hergestellt wurden, dann ist die Entscheidung des EU-Agrarministerrates hinsichtlich der Umrüstung der Tiermehlanlagen in Großbritannien bis Ende dieses Jahres für mein Dafürhalten schlichtweg unverantwortlich.
Entweder haben sie ordentliche Anlagen, dann ist es in Ordnung, oder sie haben sie nicht. Wenn sie sie nicht haben, kann es nicht sein, daß man in ihnen noch länger Tiermehle produziert und damit in den Fütterungskreislauf hineinbringt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Ja, bitte.
Warum steht denn diese Aussage zum Tiermehl und zu den Verfahrensumstellungen nicht in Ihrem Antrag?
Meine sehr verehrte Frau Kollegin Höfken
- genau -,
wir sind der Meinung, daß die Tiermehlproduktion in der von mir beschriebenen Art und Weise zu erfolgen hat. Hier geht es in erster Linie um die Tiermehlanlagen, die in Großbritannien stehen. Wir wissen, daß wir in Deutschland schon viele Jahre nach wissenschaftlich anerkannten Regeln produzieren und Großbritannien hier noch erheblichen Nachholbedarf hat. Ich fordere deshalb eine sofortige Umstellung dieser Anlagen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bredehorn?
Ja, bitte.
Herr Kollege, haben Sie eine Erklärung dafür, daß das Vereinigte Königreich hinsichtlich der Anlagen auf die Gefährlichkeit der Übertragung über Tiermehl, die seit fünf Jahren bekannt ist, in diesen fünf Jahren überhaupt nicht reagiert hat?
Ich habe nicht nur für die, wie ich das einmal nennen darf, nicht nachvollziehbare Schlamperei in Großbritannien kein Verständnis, sondern ich habe auch kein Verständnis dafür, daß es fünf Jahre dauern mußte, bis die britische Regierung dieses Problem endlich einmal öffentlich im Unterhaus diskutiert hat. Das ist doch der Punkt. Hier hat doch die Sensibilität nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Regierung gefehlt. Hier ist doch nichts erfolgt.
Zusätzlich muß die Möglichkeit einer verbesserten Kontrolle von Importfuttermitteln und Tiermehlen geschaffen werden. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Stichproben bei Importen von Futtermitteln und Tiermehlen reichen nicht mehr aus. Ich fordere deshalb wegen einer zur Zeit nicht auszuschließenden Gesundheitsgefährdung - das ist meine Begründung dafür -, daß eine generelle Untersuchung von Futtermitteln und Tiermehlen zu erfolgen hat. Ich sage Ihnen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Wir haben Systeme und Testverfahren, mit denen wir in der Lage sind, nachzuweisen, ob in den Kraftfuttermischungen für Rauhfutterfresser Tierprotein enthalten ist oder nicht. Genau das brauchen wir. Das müssen wir untersuchen. Auf Grund der derzeitigen Situation ist es für mich unverantwortlich, hier die Grenzen länger ohne entsprechende Kontrollen offenzulassen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer?
Ja, bitte.
Ich habe eine schlichte Verständnisfrage, Herr Kollege: Auf was wollen Sie denn untersuchen? Kennen Sie eine Untersuchungsmethode?
Ja. Es wird nicht auf BSE- Erreger untersucht - denn die finden Sie nicht -, sondern es wird untersucht, ob in Futtermitteln, die für den Rauhfutterfresser, sprich Rind und Schaf, bestimmt sind, tierisches Eiweiß enthalten ist, und wenn tierisches Eiweiß enthalten ist, ist das das Gegenteil dessen, was wir unter einer verantwortungsvollen Fütterung von Rindern und Schafen verstehen. Tiermehl, tierisches Eiweiß hat in diesen Futter-
Ulrich Heinrich
mischungen nichts zu suchen. Außerdem ist es verboten.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Wodarg?
Bitte.
Sie haben eben gesagt, daß Kontrolle besser ist als Vertrauen. Heißt das, daß Sie in der F.D.P. jetzt umdenken und daß Sie dazu übergehen, die staatliche Kontrolle im Lebensmittelbereich stärker zu bewerten, und nicht mehr so sehr auf die freiwillige Selbstkontrolle der Firmen vertrauen? Haben Sie hier schlechte Erfahrungen gemacht? Lernen Sie hieraus?
Wenn Sie meine Rede von vor fünf oder sechs Jahren, als ich das erste Mal in diesem Hause zu BSE gesprochen habe, nachlesen, dann werden Sie dort die gleiche Sensibilität finden, die ich heute an den Tag lege. Wir haben hier nichts hinzuzulernen. Wir waren schon immer ausgesprochen auf der sicheren Seite, und für uns war schon immer der Verbraucherschutz das Thema Nummer eins.
Herr Kollege, Sie haben zwar schon viele Zwischenfragen beantwortet, aber auch der Herr Kollege Ronsöhr möchte noch eine stellen.
Ihm kann ich natürlich keine Frage abschlagen.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Können Sie bestätigen, daß für die Lebensmittelkontrolle die Länder zuständig sind, und würden Sie das bitte auch einmal den Kollegen der anderen Fraktionen so übermitteln? Wenn ein Versagen der Lebensmittelkontrolle vorliegt, dann sind die Länder verantwortlich, und wie die Länder handeln, das wissen wir ja ziemlich genau.
Herr Kollege Ronsöhr, für Lebensmittelkontrolle, für den Wirtschaftskontrolldienst usw. sind selbstverständlich die Länder zuständig. Das kann uns aber von der Notwendigkeit der Diskussion über erforderliche zusätzliche Kontrollen nicht freisprechen.
Ich glaube, wir sollten uns dem Thema widmen, und wir sollten es deshalb heute auch ansprechen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Verbraucherschutz heißt auch, daß der Konsument wissen muß, was er kauft. Es muß endlich europaweit eine Kennzeichnungspflicht eingeführt werden, damit die
Entscheidungsmöglichkeit in den Händen des Verbrauchers liegt, welche Nahrungsmittel er kaufen will. Nur der verunsicherte Verbraucher reagiert mit Kaufverzicht, der unsere Bauern und die fleischverarbeitenden Betriebe, die Metzgereien, ohne deren Verschulden in riesengroße wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht hat.
Wir brauchen deshalb vertrauensbildende Maßnahmen. Sie müssen jetzt parallel laufen: Das eine ist, Vorsorge zu treffen, aber wir müssen auch Vertrauen schaffen für das Produkt Rindfleisch in der Bundesrepublik Deutschland.
Hier möchte ich ausdrücklich die CMA loben, die mit ihren Werbespots und mit ihrer Information einen wichtigen Beitrag dazu leistet, daß man den Verbraucher informiert und daß das Vertrauen in das deutsche Rindfleisch wiederhergestellt wird.
Daneben kommt regionalen Herkunfts- und Qualitätsprogrammen, wie sie bereits in einigen Ländern existieren, eine immer wichtigere Rolle zu. Auch das gehört zum Verbraucherschutz, auch das gehört zu vertrauensbildenden Maßnahmen. Sie garantieren den Verbrauchern die regionale Herkunft und eine höhere Qualität.
Höhere und garantierte Qualität kann es allerdings nicht zum Nulltarif geben.
Da bitte ich Sie, daß Sie das Ihren Verbraucherinnen und Verbrauchern auch sagen: Nicht der Billigeinkauf, nicht das Fleischdumping sind hier gefragt, sondern die Qualität - und das kostet auch etwas.
Ich möchte zum Abschluß aber noch grundsätzlich meine Sorgen über die Entwicklung in der Ethik der Lebensmittelproduktion zum Ausdruck bringen. Wer Pflanzenfressern Tiermehle als Futter anbietet, entfernt sich meilenweit von dem, was ich für eine ethisch vertretbare Landwirtschaft halte.
Meine Damen und Herren, Rinder fressen nun einmal keine Schafe, und die Natur schlägt jetzt zurück. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Es ist nicht bewiesen, ob der BSE-Erreger auch auf den Menschen übertragbar ist. Das haben wir vom Gesundheitsminister gehört, und das wissen wir von den Wissenschaftlichen Beiräten. Das Gegenteil ist allerdings auch noch nicht bewiesen. Um aber zu einer besseren Analyse zu kommen, brauchen wir genauere Statistiken und medizinisch einheitliche Kriterien, um bei der Creutzfeldt-Jakob-Feststellung zuverlässige Daten zu bekommen. Deshalb muß mindestens europaweit eine Meldepflicht für die Creutz-
Ulrich Heinrich
feldt-Jakob-Krankheit eingeführt werden. Ich verstehe nicht, warum man hier noch zögert und warum der europäische Ministerrat diese Dinge nicht schon längst beschlossen hat. Eine Meldepflicht für die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit halte ich angesichts der Ernsthaftigkeit dieser Diskussion und der Gefährdung von Menschenleben für zwingend notwendig.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt, daß wir nur zusammen mit den Briten eine dringend notwendige Seuchenbekämpfung durchführen können. Deshalb halte ich es für kontraproduktiv, wenn aus Großbritannien harsche Töne kommen. Ich unterstreiche noch einmal: Wir reichen den Briten zur Beseitigung der Seuche die Hand. Wir sind aber nicht bereit, uns für eine Maßnahme, die aus gesundheitspolitischer Sicht notwendig und richtig ist, beschimpfen zu lassen.
Danke schön.
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist irgendwie erfreulich, wenn man die Diskussionsbeiträge heute hört. Ich erinnere mich noch an die letzte Debatte. Da gab es, glaube ich, wesentliche Unterschiede.
- Ja, ich glaube aber, in bestimmten Fragen sind wir uns doch wohl einig geworden, daß das ganze Problem nicht einfach von der Hand zu weisen ist.
Im März dieses Jahres ist es zu dem gekommen, was die Opposition in diesem Haus seit Jahren gefordert hat, was auch Minister Seehofer im April 1994 - leider aber nur für sehr kurze Zeit - schon einmal als eigene Einsicht formuliert hatte: Verhängung eines vollständigen Importverbotes für britisches Rindfleisch und aus ihm hergestellte Produkte in Form einer Dringlichkeitsverordnung. Was hat die Regierung nun bewogen, nicht länger vor den Interessen einer britischen Fleischlobby zurückzuweichen und die damit verbundene Verweigerungshaltung in dieser Frage aufzugeben?
Am Nachmittag des 20. März 1996 erklärte der britische Gesundheitsminister vor dem Unterhaus, daß der BSE-Beratungsausschuß seiner Regierung zu dem Schluß gelangt sei, daß die gegenwärtig wahrscheinlichste Erklärung für zehn ungewöhnliche und deshalb auf das sorgfältigste untersuchte Creutzfeldt-Jakob-Erkrankungsfälle darin besteht, daß sie aus einem Kontakt der erkrankten Menschen mit von BSE-befallenen Tieren herrühren. Dies war zweifellos ein sensationeller und zugleich höchst alarmierender Befund.
Dennoch hatte sich damit die bisherige Risikobewertung durch deutsche und internationale Wissenschaftler kaum gravierend verändert. Auch bis zu
diesem Zeitpunkt war es schon so, daß die Wissenschaft zwar keinen letzten Beweis für die Übertragung von BSE auf den Menschen hatte, andererseits aber auch das entsprechende Risiko nicht ausschließen konnte.
In einer gemeinsamen Erklärung des Robert-KochInstitutes und des Bundesinstitutes für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin vom 29. März 1996 heißt es dazu, daß die Stellungnahme des britischen Gesundheitsministeriums die Auffassung der Berliner Institute bestätigt hat. Bereits 1993 hatten sich beide Institute gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium dahin gehend geäußert, daß - ich zitiere - die Übertragung der Krankheit unter geeigneten Bedingungen auch auf den Menschen möglich sein kann.
Diese Einschätzung stützte sich vor allem auf die besorgniserregende Tatsache, daß der BSE-Erreger bereits auf entwicklungsgeschichtlich sehr weit von den Rindern entfernte Säuger wie Katzen und katzenähnliche Tiere experimentell mit der Nahrung übertragen worden war. Damit war das gleiche für den Menschen denkbar geworden, auch wenn wissenschaftliche Beweise nach wie vor ausstanden.
Der begründete Verdacht der Übertragbarkeit besteht also nicht erst seit März dieses Jahres. Die britischen Informationen zu den zehn Creutzfeldt-JakobFällen haben ihn letztlich nur weiter erhärtet. In einer solchen Situation und vor allem auch angesichts der außerordentlichen Gefährlichkeit der Krankheit und der verheerenden Folgen ihres Übergreifens auf den Menschen kann verantwortliches politisches Handeln aber immer nur darin bestehen, von der jeweils ungünstigsten Entwicklungsmöglichkeit auszugehen, sie dem politischen Handeln zugrunde zu legen und dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung absolute Priorität einzuräumen.
Heute muß konstatiert werden: Dieser Verantwortung ist die Bundesregierung, sind beide zuständigen Minister in den zurückliegenden Jahren nicht gerecht geworden. Mehr noch: Es steht der Verdacht im Raum, daß sich die Bundesregierung über die unmißverständlichen Warnungen ihrer eigenen wissenschaftlichen Beratungsgremien hinwegsetzte und mit der Gesundheit der Menschen dieses Landes va banque gespielt hat. Dabei mußte zumindest Minister Seehofer aus eigener Erfahrung mit einer fast analogen Problematik sehr genau wissen, was auf dem Spiel steht. Im Falle der HIV-Infektion der Bluter haben bei ganz ähnlichen Risikobewertungen ebenfalls gravierende Unterlassungen des Bundesministeriums und der Aufsichtsbehörden zwischen 1983 und 1985 zum späteren Tod von Hunderten von Menschen geführt. Minister Seehofer verdiente Respekt, als er sich dafür Anfang 1995 im Namen der Bundesregierung bei den Opfern und ihren Angehörigen entschuldigte.
Heute hat er selbst ein schwerwiegendes Nichthandeln zu verantworten. Wer kann es den Menschen im Land verdenken, daß sie angesichts dieser Entwicklung zutiefst verunsichert sind und nicht
Dr. Ruth Fuchs
mehr wissen, wem sie noch glauben und vertrauen können? Auch die jetzigen Markteinbrüche gehen damit klar auf das Konto der Politik der Bundesregierung. Ein Kollege hat vorhin zwar gesagt, daß er für die im Fernsehen gezeigten Spots für deutsches Rindfleisch dankbar ist. Ich meine allerdings: Das hat zu lange gedauert. Man hätte vorher Aufklärungsarbeit leisten müssen, eben auch von seiten der Bundesregierung, und damit den Menschen Sicherheit geben können, daß sie unter bestimmten Bedingungen Rindfleisch weiterhin gefahrlos essen könnten.
Erst wurde von der Bundesregierung angekündigt, daß sie fest entschlossen sei, auch im nationalen Alleingang zu handeln, wenn die anderen EU-Länder nicht zu entsprechenden Regelungen bereit seien. Die wörtliche Aussage von Minister Seehofer im April 1994 lautete: „Kein verantwortungsvoller Politiker kann auf diesem Gebiet auch nur das geringste Risiko eingehen." Dann aber kam es zu durchweg halbherzigen Kompromissen innerhalb der EU, und der Import von britischem Rindfleisch auch nach Deutschland wurde, versehen mit einigen völlig inkonsequenten Auflagen, fortgesetzt. Im Frühjahr 1996, allerdings erst nach den neuesten besorgniserregenden Erkenntnissen, wurde nun endlich doch ein vollständiges Exportverbot für britisches Rindfleisch und zugehörige Produkte verhängt, und diesmal sogar auf EU-Ebene.
Aber schon heute kann es jeder täglich aus den Medien erfahren, wie sehr die britische Regierung, so, als sei nichts gewesen, bereits wieder auf Lockerung des gerade erst ausgesprochenen Exportverbots drängt. Bisher haben die zuständigen Gremien dem noch widerstanden. Nach allen bisherigen Erfahrungen muß allerdings befürchtet werden, daß die Geschlossenheit dieser Front auch sehr schnell wieder bröckeln könnte. Schon werden Schritt für Schritt vorwiegend die wirtschaftlichen Aspekte des Geschehens in den Vordergrund gerückt, und bereits für Anfang Juni, also in wenigen Tagen, ist eine nächste Beratung der EU-Agrarminister angekündigt.
Wir meinen aber, daß hier die Regierung unverändert im Interesse des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung in einer großen Verantwortung steht. Wir fordern sie deshalb auf, den gerade gefundenen Konsens so lange nicht aufzugeben, bis das Problem sicher gelöst ist. Ich bin heute sehr beruhigt; denn Herr Minister Seehofer hat sich hier diesbezüglich auch geäußert. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen Standfestigkeit für die Zukunft.
Obwohl über die eine oder andere Einzelheit der vorliegenden Anträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen durchaus noch zu diskutieren wäre, meinen wir, daß sie in jedem Fall alle jene Maßnahmen enthalten, deren Verwirklichung jetzt von der Bundesregierung erwartet werden muß.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe nun das Wort dem Abgeordneten Matthias Weisheit.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wie einig wir uns heute sind. Ich möchte aber noch einmal daran erinnern: Ähnlich wie heute haben Sie, Herr Minister Seehofer, 1994 gesprochen.
Danach haben Sie der Verharmlosungsstrategie der Briten und der EU-Kommission Rechnung getragen und hier im Brustton der Überzeugung erklärt, die halbherzigen Maßnahmen, die ergriffen wurden, reichten aus. Heute sind Sie wieder voller Ernst; wahrlich eine große schauspielerische Leistung!
Ich hoffe, daß es nicht so weitergeht, sondern daß Sie jetzt bei dem einmal eingenommenen Standpunkt bleiben.
Die Verharmlosungsstrategie hat zu einer Ausweitung des BSE-Risikos innerhalb der gesamten EU beigetragen, ist Ursache für den Vertrauensschwund der Verbraucher und hat den Bauern in der Bundesrepublik, die von der Rindermast leben, in den letzten Monaten immense Verluste gebracht, die sie zum Teil in den Ruin treiben, obwohl sie mit bestem Gewissen sagen können, daß ihre Tiere gesund sind.
Eine konsequente Haltung der Bundesrepublik in dieser Frage von Anfang an hätte mit Sicherheit dazu beigetragen, daß die Verunsicherung der Verbraucher, die in den letzten Monaten zu massivem Verzicht auf Rindfleisch geführt hat, keine derartigen Ausmaße angenommen hätte.
Dieses Mißtrauen der Verbraucher ist ja auch mehr als berechtigt. Da wurde ihnen noch vor wenigen Monaten erklärt, eine Gefahr, daß BSE von Rindern auf den Menschen übertragen werden könne, sei kaum vorhanden. Inzwischen zeichnet ein Dutzend Todesfälle jüngerer Menschen infolge der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit ein völlig anderes Bild.
Da wurde versichert, Tiermehl werde in ganz Europa nach den Standards produziert, die bei uns gelten und als sicher zu betrachten sind.
Die staunende Öffentlichkeit hat inzwischen erfahren, daß dies gar nicht stimmt.
Da wurde behauptet, Großbritannien habe die BSE-Problematik im Griff, alle Herden seien unter Kontrolle.
Inzwischen wissen wir, daß dies nicht der Fall ist.
Matthias Weisheit
Ich kann nur feststellen: In diesem Zusammenhang tendiert mein Vertrauen in die europäische Administration und in die britische Regierung gegen Null. Ich kann mir kaum vorstellen, daß bei den Kollegen, die im März 1995 an der Informationsreise nach Großbritannien teilgenommen haben, inzwischen ein anderer Eindruck herrscht als der, daß wir damals ganz schön hinters Licht geführt geworden sind.
Deshalb begrüße ich nachdrücklich, daß die Bundesregierung bei den Versuchen, das Exportverbot wieder aufzuweichen, hart geblieben ist. Ich fordere Sie auf, den Erpressungsversuchen der britischen Regierung nicht nachzugeben. Sie haben mit dem Wahlkampf und den inneren Problemen der Regierung Major zu tun, nichts jedoch mit der Sache, nämlich der Wiederherstellung der Verbrauchersicherheit bei Rindfleisch und Rinderprodukten.
Die britische Regierung hat zu verantworten, daß sich BSE überhaupt entwickeln konnte. Eine Umfrage, die heute in der Presse veröffentlicht wurde, zeigt, daß zwei Drittel der britischen Wähler die Einschätzung teilen, daß es ein britisches Problem ist und nicht eines, das ihnen von den bösen Europäern aufgedrückt wird.
Der Rückzug des Staates aus der vorsorgenden Gesundheitspolitik unter dem ach so schicken Oberbegriff „Deregulierung" hat es ermöglicht, daß aus rein betriebswirtschaftlichen Gründen das Verfahren der Tiermehlproduktion so „optimiert" wurde, daß der BSE-Erreger überleben konnte. Dieselbe Geisteshaltung, die ungeregelt alles zuläßt, was sich rechnet, hat die Perversität ermöglicht, daß Wiederkäuer mit Tiermehl gefüttert wurden und an BSE erkrankten.
Nach dem ersten Schock über eine große Zahl verendeter Kühe wurde seitens der britischen Regierung alles getan, um die Risiken herunterzuspielen und die Geschäfte mit Fleisch am Laufen zu halten. Gegenüber diesem massiven Einsatz zugunsten der britischen Fleischwirtschaft kann man die Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche und zur Wiederherstellung der Sicherheit bei Futtermitteln, Rindfleisch und Nebenprodukten des Rindes nur als Alibiveranstaltung bezeichnen.
Solange die britische Regierung nicht den Beweis erbracht hat, daß es ihr mit der restlosen Ausrottung von BSE und der Beseitigung der Ursachen dieser Krankheit wirklich Ernst ist, so lange gibt es keinerlei Grund, irgendwelchen Drohgebärden nachzugeben.
Jedes noch so geringfügige Nachgeben würde nach allen Erfahrungen der letzten Jahre nur dazu führen, daß man in London glaubt, so weitermachen zu können wie bisher.
BSE und seine negativen Auswirkungen auf unsere Landwirtschaft muß auch Konsequenzen für die Landwirtschaftspolitik haben. Tierartgerechte Haltung - dazu gehört auch die Fütterung, wie Kollege Heinrich vorhin schon betont hat - muß in der gesamten EU mehr als ein Lippenbekenntnis sein. Dabei denke ich auch an die Mäster und ihre Helfershelfer - sie erscheinen immer wieder in der Presse -, die durch verbotene Pharmaka- und Hormoneinsätze eine schnelle Mark verdienen und den ganzen bäuerlichen Berufsstand in Verruf bringen.
Die Forderung nach tierartgerechter Haltung und Fütterung heißt für uns nicht, die Landwirtschaft umfassend auf Richtlinien biologischer Erzeugerverbände umzustellen, wie dies von einigen Populisten im Zusammenhang mit BSE gefordert wird. Aber die bisherige Praxis, landwirtschaftliche Nutztiere ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ständig höherer Leistungen zu züchten, zu halten und zu füttern, darf nicht ungeprüft fortgesetzt werden.
In einer Anzahl von Regionen haben Bauern, Verbraucher und der Lebensmittelhandel bereits Konsequenzen gezogen, zum Beispiel in meiner Heimat, wo mit Hilfe des Landes das Herkunfts- und Qualitätskennzeichen eingeführt wurde und immer mehr Bauern nach diesen Regeln produzieren. Auch die Vermarktung macht Fortschritte, wenngleich die Werbung noch besser unterstützt werden müßte.
Wer Fleisch oder Wurst mit diesem Qualitätskennzeichen kauft, kann sicher sein, daß es sich um ein hochwertiges, gesundes Produkt handelt, das von einem Bauernhof stammt, auf dem tierartgerecht gehalten und gefüttert wird. In Berlin - so konnte ich dieser Tage lesen - wirbt eine große Handelskette damit, daß ausschließlich Rindfleisch von namentlich bekannten Betrieben aus Brandenburg über die Ladentheke geht.
Wenn die Verbraucher wissen, woher ihr Fleisch kommt und wo die Fleischprodukte herkommen, und sie sich - ob sie es nun tun oder nicht - selbst überzeugen können, wo und wie die Tiere aufgezogen werden, deren Fleisch sie später essen, dann schöpfen sie wieder Vertrauen, und unsere bäuerlichen Familien haben als Fleischproduzenten eine Zukunft. Ich gebe dem Kollegen Heinrich völlig recht: Das geht nicht mit immer niedrigeren Preisen und Billigangeboten. Das geht nur mit vernünftigen und angemessenen Preisen für gute Qualität.
Vertrauen beim Verbraucher ist nur zu gewinnen, wenn Klarheit über Herkunft und Haltung der Tiere besteht. Deshalb haben alle Maßnahmen, die diese Klarheit verbessern, absoluten Vorrang. Die wichtigste Voraussetzung, wieder wachsendes Vertrauen nicht zu gefährden, ist eine konsequente Haltung der Bundesrepublik gegenüber Großbritannien und der EU-Kommission. Solange BSE und ihre Ursachen
Matthias Weisheit
nicht nachweisbar konsequent bekämpft werden, darf es keine Lockerung des Exportverbots geben. Verbrauchergesundheit und Produktsicherheit müssen innerhalb der EU Vorrang gewinnen vor der Maxime des freien Warenaustausches.
Herzlichen Dank.
Ich gebe dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Jochen Borchert, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns alle bedrückt die Entwicklung der letzten Wochen. Die Rinderseuche BSE in Großbritannien hat in den letzten Tagen und Wochen im Hinblick auf den Schutz der Verbraucher und die konsequente Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes zu einer großen Beunruhigung geführt.
Ich möchte daher ausdrücklich hervorheben, daß für uns - dies sage ich gerade auch für meinen Kollegen Horst Seehofer - der Gesundheits- und Verbraucherschutz - nur um den geht es - mit allen beschlossenen Vorsorgemaßnahmen in Deutschland und im europäischen Binnenmarkt höchste Priorität hat. Das heißt das in Deutschland verfügbare Rindfleisch ist sicher und gesundheitlich unbedenklich. Der Verbraucher kann sich auf die Qualität und Sicherheit des Rindfleischangebots in Deutschland verlassen.
Die für einen freien Binnenmarkt unüblichen Handelsbeschränkungen können aber erst dann wieder schrittweise gelockert werden, wenn die konsequente Bekämpfung von BSE in Großbritannien dies ohne gesundheitliche Risiken erlaubt.
Nach neuen wissenschaftlichen Ergebnissen in Großbritannien hatte der Sonderrat der Agrarminister nach dem von der Kommission verfügten Exportstopp Maßnahmen beschlossen, um den Schutz der Verbraucher zu sichern und ein gemeinsames Vorgehen bei der Bekämpfung von BSE zu gewährleisten. Dazu gehören unter anderem ein generelles Exportverbot für britisches Rindfleisch und daneben zur Seuchenbekämpfung in Großbritannien die Aufstellung eines Programms zur Tilgung von BSE durch die britische Regierung, das Verbot, die über 30 Monate alten Rinder in Großbritannien als Nahrungsmittel oder .zur Verarbeitung zu verwerten, sowie die Auflage, die Herstellung von Tiermehl in der Europäischen Union bis Ende dieses Jahres auf sichere Verfahren umzustellen, bei denen mögliche Krankheitserreger zweifelsfrei abgetötet werden, ein Verfahren, das in Deutschland bereits Standard ist und das wir in der Vergangenheit auch immer für die Europäische Union gefordert haben.
Herr Kollege Heinrich, dieser Beschluß ist nicht unverantwortlich, denn in Großbritannien darf seit März dieses Jahres kein Tiermehl mehr an Tiere verfüttert werden. Das heißt, solange die Anlagen in Großbritannien nicht umgestellt sind - dazu ist Großbritannien bis Ende dieses Jahres verpflichtet -, darf in Großbritannien kein Tiermehl produziert und verfüttert werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gern.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Minister, Sie sprechen von sicheren Verfahren. Wie können Sie von sicheren Verfahren sprechen, wenn überhaupt kein Mensch weiß, was der Erreger ist, wenn bekannt ist, daß es Bakterien gibt, die weit höhere Temperaturen und weit höhere Drücke als in diesem Verfahren vorgeschlagen überleben?
Wir verlassen uns hier wie bei allen Maßnahmen auf die Aussagen der Wissenschaft. Die Aussage der Wissenschaft ist, daß das Verfahren, das wir in Deutschland anwenden, zweifelsfrei alle Erreger abtötet und damit ein sicheres Verfahren ist. Das ist ein Verfahren, das wir schon in der Vergangenheit für ganz Europa gefordert haben, das aber leider in der Vergangenheit nicht für ganz Europa durchsetzbar war.
Meine Damen und Herren, es ist die Frage angesprochen worden, ob die Kontrollen des Exportverbotes sicher sind. Wir in Deutschland kontrollieren über die Bestimmungen der Europäischen Union hinaus die Importe dadurch, daß Lieferungen von Fleisch und Tieren von amtlichen Bescheinigungen begleitet sein müssen, in denen bestätigt wird, daß dieses Fleisch oder diese Tiere weder aus Großbritannien noch aus BSE-gefährdeten Beständen in anderen Ländern stammen. Damit geht Deutschland bei den Kontrollen weiter, als dies in Großbritannien vorgeschrieben ist.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Wodarg?
Aber sicher.
Herr Minister, wie beurteilen Sie die Angaben des Verbandes Fleischmehlindustrie, der als bakteriologische Kontaminationen des Fleischknochenmehls, wie es dort genannt wird, folgende Bakterien nennt, mit denen gerechnet werden muß: Bacillus, Clostridium, Staphylococcus, Enterococcus, Micrococcus? Es werden auch gramnegative Bakterien genannt; auch Salmonellen dürfen bis zu einem bestimmten Grenzwert, der angegeben wird, enthalten sein. Schimmelpilze dürfen enthalten sein. Es ist also eine ganze Reihe von Mikrolebewesen, die noch enthalten sein können. An-
Dr. Wolfgang Wodarg
geblich soll das Fleischmehl sterilisiert sein; ich kenne es so, daß es nur desinfiziert ist. Wenn etwas sterilisiert ist, dann ist es keimfrei. Hier dürfen also noch Keime enthalten sein.
Alle wissenschaftlichen Aussagen bestätigen, daß das Verfahren, nach dem in Deutschland Tierkörpermehl hergestellt wird, zweifelsfrei sicher ist. Das heißt, daß alle Erreger abgetötet werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Höfken?
Aber sicher. Bitte.
Ich möchte mich noch einmal vergewissern, daß die Importbescheinigungen nicht nur Fleisch aus allen Drittländern und allen EU-Mitgliedstaaten, sondern auch verarbeitetes Fleisch und Rinderprodukte betreffen. Ist das so?
Ja. Wir gehen mit diesen Kontrollen sehr viel weiter, als dies von der Europäischen Union vorgeschrieben ist. Alle Bundesländer bestätigen, daß bei den Kontrollen gerade diese amtlichen Bescheinigungen eine erhebliche zusätzliche Sicherheit bieten. Ich glaube, wir tun damit alles, um sicherzustellen, daß der Verbraucher sich auf diese Kontrollen verlassen kann.
Ich appelliere hier noch einmal an die Länder, diese Kontrollen noch intensiver durchzuführen. Für die Einhaltung der Bestimmungen und die konsequente Durchführung der Kontrollen sind die Bundesländer verantwortlich.
Meine Damen und Herren, der Herauskauf der nicht mehr für den Verzehr bestimmten Rinder wird - wie bei der Schweinepest in Deutschland - zu 70 Prozent aus dem europäischen Haushalt finanziert.
Mit diesen Maßnahmen, die der Sonderrat beschlossen hat, sind zur Zeit europaweit alle Voraussetzungen für einen wirksamen Verbraucherschutz geschaffen. Es versteht sich von selbst und es entspricht auch der Beschlußlage, daß die Europäische Union das Exportverbot ständig überprüft und schließlich lockern kann, sobald die eingeleiteten Maßnahmen dem Gesundheits- und Verbraucherschutz Rechnung tragen. Eine einheitliche Position zur Lockerung des britischen Exportverbotes für Gelatine, Rindertalg und Rindersperma konnte allerdings Anfang dieser Woche im Ständigen Veterinärausschuß nicht gefunden werden.
Ich kenne die schwierige Situation in Großbritannien. Wir wollen Großbritannien bei der Tilgung von BSE helfen. Großbritannien kann sich bei den erforderlichen Maßnahmen auf die Solidarität der europäischen Länder verlassen. Aber die nunmehr im Sonderagrarrat am 3. und 4. Juni erneut zu beratende Lockerung des Verbringungsverbots von Gelatine, Talg und Rindersamen kann aus meiner Sicht erst dann ins Auge gefaßt werden, wenn die beschlossenen Maßnahmen konsequent umgesetzt sind, deren Einhaltung von der Europäischen Kommission bestätigt und die Teilaufhebung wissenschaftlich gerechtfertigt wird und damit jedes gesundheitliche Risiko auszuschließen ist. Maßstab muß auch hier der Verbraucherschutz und nur der Verbraucherschutz sein.
Meine Damen und Herren, die Situation auf dem deutschen Rindfleischmarkt war schon bisher sehr schwierig. Sie hat sich durch die jüngste Entwicklung um BSE extrem zugespitzt. Wegen tiefgreifender Verunsicherung der Verbraucher hat der Rindfleischmarkt tiefe Einbrüche erfahren. Zur kurzfristigen Stützung des Rindfleischmarktes wurden daher die Exporterstattungen deutlich erhöht, die Intervention für Rindfleisch eröffnet und Maßnahmen zur privaten Lagerhaltung beschlossen. Die beschlossenen Interventionsmaßnahmen tragen zur Stabilisierung des Rindfleischmarktes bei.
Gleichwohl haben die Preise für Rindfleisch in den letzten Wochen erheblich nachgegeben. Eine direkte finanzielle Hilfe für die vom Markteinbruch betroffenen rindfleischerzeugenden Landwirte ist dringend geboten. Darüber wird ebenfalls auf dem Sonderrat am 3. und 4. Juni beraten. Die Kommission hat sich verpflichtet, hierzu einen Vorschlag vorzulegen. Ich werde mich dafür einsetzen, daß auf dieser Basis eine schnelle und unbürokratische Auszahlung möglich wird.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung mißt neben der konsequenten Bekämpfung von BSE in Großbritannien den vertrauensbildenden Maßnahmen für deutsches Rindfleisch eine große Bedeutung zu. Ich möchte an dieser Stelle wiederholen - ich glaube, man kann das nicht oft genug tun -: Das Fleisch, das in Deutschland produziert und angeboten wird, ist absolut in Ordnung. Es gibt keinen Grund, an der Qualität und Unbedenklichkeit unseres Rindfleisches zu zweifeln.
Unsere langjährigen Bemühungen, auf der europäischen Ebene eine Herkunftskennzeichnung bei Rindfleisch durchzusetzen, sind nun endlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Kommission hat sich verpflichtet, ein EU-weites Herkunftskennzeichnungssystem für Rindfleisch vorzuschlagen. Die deutsche Vieh- und Fleischwirtschaft hat hier mit ihren freiwilligen Maßnahmen der Herkunfts- und Qualitätssicherung bereits erhebliche Vorleistungen erbracht, um den Weg der Rinder von der Geburt bis zur Ladentheke transparent zu gestalten. Die Bundesregierung hat bereits im Oktober 1995 eine einheitliche und durchgehende Kennzeichnung vom Kalb bis zum Schlachtkörper vorgeschrieben, den Rinderpaß. Es wäre jetzt durchaus reizvoll, manch kritische Anmerkung zu diesem Vorschlag gerade aus den Reihen des Parlamentes zu zitieren.
Bundesminister Jochen Borchert
Ich bin zuversichtlich, daß wir mit der lückenlosen Kontrolle und Kennzeichnung ein gutes Stück Vertrauen unserer Verbraucher zurückgewinnen können, Vertrauen in die gesundheitliche Unbedenklichkeit und darüber hinaus in die hohe und nachprüfbare Qualität unseres deutschen Rindfleisches. Dies kann aber nur gelingen, wenn die wenigen schwarzen Schafe, die beispielsweise verbotene Masthilfsmittel in der Kälbermast einsetzen, durch schärfere Kontrollen und eine harte Bestrafung an ihrem illegalen Vorgehen gehindert werden.
Hier sind die Länder gefordert, mit allem Nachdruck durchzugreifen.
Ein solch skrupelloses Vorgehen gefährdet die Verbraucher, schafft bei ihnen neues Mißtrauen und bringt damit den gesamten Berufsstand in Mißkredit.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, ich bitte alle Parteien und Verbände, alle Landwirte, die gesamte Vieh- und Fleischwirtschaft, ihren Beitrag zu leisten. Ich bitte um Unterstützung für die Maßnahmen der Bundesregierung, bei denen der Schutz der Verbraucher absoluten Vorrang hat, und um Unterstützung, um das Vertrauen der Verbraucher zurückzugewinnen, damit unsere Landwirtschaft auch in diesem Bereich wieder eine Perspektive gewinnt.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Abgeordneten WieczorekZeul das Wort.
Herr Minister, Sie haben hier die kommende Sitzung des Agrarministerrates angesprochen und auch die Sitzung des Veterinärausschusses, die in dieser Woche stattgefunden hat. Sie haben aber an einem interessanten Punkt in Ihrer Darstellung aufgehört.
Der Veterinärausschuß in der Tat hat in dieser Woche den Kommissionsvorschlag zur Lockerung des Exportverbotes nicht angenommen. Sie haben nicht darauf hingewiesen, daß es nur keine qualifizierte Mehrheit für den Vorschlag gegeben hat; es war aber eine Mehrheit der Stimmen für diesen Kommissionsvorschlag und für die Lockerung.
Ich möchte jetzt von Ihnen wissen, mit welcher Linie die Bundesrepublik Deutschland in die Sitzung des Agrarministerrates am 3. und 4. Juni 1996 geht. Sie müssen dann auch die volle Wahrheit sagen, denn es ist so: Zur Ablehnung dieses Vorschlages der Kommission werden acht Mitgliedsstaaten der Europäischen Union benötigt, und das letzte Mal haben nur sieben überhaupt gestimmt.
Das heißt aber auch, Sie müssen den Leuten sagen: In dem Fall, daß Sie diese acht Stimmen nicht zusammenbekommen, kann die Kommission ihren
Vorschlag 14 Tage danach als Kommissionsverordnung einfach in Kraft setzen.
- Das hat uns gestern hier im Europaausschuß der Vertreter der Bundesregierung geschildert.
Das heißt auf gut deutsch, wenn es so ist, wie Sie es hier erzählen, dann berichten Sie über einen Teil der Wirklichkeit nicht. Ich fordere Sie jetzt auf: Nehmen Sie hierzu Stellung.
Sagen Sie auch, daß die Bundesregierung unter der Bedingung, daß das Exportverbot gelockert wird, bereit ist, wieder eine nationale Regelung eines entsprechenden Verbotes einzuführen. Denn sonst sagen Sie hier nur die halbe Wahrheit.
Herr Minister, Sie können darauf entgegnen.
Frau Kollegin, ich habe hier sehr deutlich gesagt, unter welchen Bedingungen eine Teillockerung für uns überhaupt nur möglich ist. Ich will das gern wiederholen.
Eine Teillockerung des Exportverbotes kann nur in Frage kommen, wenn die beschlossenen Maßnahmen konsequent umgesetzt worden sind,
deren Einhaltung von der Kommission bestätigt und die Möglichkeit der Aufhebung wissenschaftlich gerechtfertigt wird. Darüber werden wir im Sonderagrarrat am 3. und 4. Juni 1996 beraten.
Grundlage der Beratungen sind auch die Ergebnisse - -
- Hören Sie doch einmal einen Augenblick zu! Vielleicht will ich ja gerade das beantworten, was Sie jetzt fragen wollen.
Grundlage der Beratungen sind auch die Ergebnisse einer Inspektionsreise einer Expertenkommission, die am 27. Mai stattfindet und die zu der Situation, den beschlossenen Maßnahmen und der Umsetzung Stellung nimmt. Auf der Grundlage dieses Berichtes werden wir beraten. Weder Sie noch ich wissen, wie die anderen europäischen Mitgliedsstaaten auf der Basis dieses Berichtes am 3. und 4. Juni entscheiden werden.
Wir werden für eine Aufrechterhaltung des Exportverbotes kämpfen, wenn die Bedingungen, die ich genannt habe, nicht erfüllt werden. Ich gehe davon
Bundesminister Jochen Borchert
aus, daß wir dabei von einer ausreichenden Anzahl von Mitgliedsstaaten unterstützt werden.
- Entschuldigen Sie einmal, Sie wissen nicht, wie die Abstimmung verlaufen wird, und ich weiß es nicht, weil wir beide den Bericht der Inspektionsreise noch nicht kennen, es sei denn, Sie wären in der Lage, schon heute vorauszusagen, wie dieser Bericht aussehen wird. Wir könnten natürlich die Kosten sparen, wenn Sie dazu in der Lage wären.
Vielen Dank.
Ich erteile nun der Abgeordneten Ulrike Höfken das Wort.
Ich glaube, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul wollte fragen, was passiert, wenn diese Mehrheitsentscheidungen nicht so zustande kommen, wie Sie wollen, wie wir wissen. Gibt es dann einen nationalen Alleingang?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seehofer?
Ja.
Frau Kollegin, halten Sie es bei diesem sehr sensiblen Thema und der sehr aufgewühlten Gefühlslage in Europa nicht auch für sehr bedenklich, wenn wir heute vom Deutschen Bundestag aus Drohungen oder Ankündigungen in der Öffentlichkeit aussprechen, die das, was wir hoffentlich gemeinsam wollen, nämlich die Sicherstellung des Verbraucherschutzes am 3. und 4. Juni, nur gefährden können? Wir sollten mit den Mitgliedsländern reden und ihnen heute nicht über die Öffentlichkeit mitteilen, was wir bei dem Fall X machen oder androhen.
Es ist im Grunde überhaupt nicht unser Ansinnen - ich denke, das trifft für alle Abgeordneten zu -, diese aufgewühlten Reaktionen Großbritanniens noch weiter negativ zu beeinflussen. Auf der anderen Seite ist es ganz klar unsere Aussage, daß wir den Verbraucher- und Gesundheitsschutz nicht dem Wahlkampf in Großbritannien opfern wollen.
Natürlich stellen sich die betroffenen EU-Mitglieder diese Frage auch von ganz alleine. Es wäre hilfreich für die Entscheidung in dieser Kommission, zu wissen, wie die Deutschen reagieren würden, nämlich im Sinne eines Verbraucher- und Gesundheitsschutzes.
Wir wollen Großbritannien ja auch unterstützen. Es ist ein europäisches Problem. Diese Hilfe bieten wir an. In diesem Zusammenhang, denke ich, hat die Frage der Kollegin Wieczorek-Zeul durchaus eine Berechtigung.
Außerdem wollte ich noch dem Kollegen Köhler, der inzwischen entschwunden ist, ausrichten lassen, doch einmal auf seinen Kollegen Heinrich zu hören, was nämlich die Behauptung angeht, nicht das Tiermehl sei problematisch; das Ganze sei vielmehr nur eine Schlamperei im Verfahren. Das ist eine Bemerkung, die wirklich etwas vorsintflutlich war.
Einig sind wir uns ja inzwischen in der Bewertung des Rinderwahnsinns, zumindest wenn man die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zugrunde legt, in der Bewertung des Risikopotentials und auch darin, daß Anonymität in der Fleischproduktion Verbrauchergefährdung beinhalten kann und daß eine verbindliche Herkunftskennzeichnung für den Verbraucherschutz, für die Verantwortung in der Produktion, für die Einkommenssicherung der Betriebe sowie für die Kontrolle und den Vollzug ein äußerst hilfreiches Mittel ist. Das zweite ist aber, daß in diesem Bereich bereits Differenzen bestehen, merkwürdigerweise auch mit der Fraktion der SPD; denn die bezieht sich in Ihrem Antrag erstaunlicherweise nur auf Rind- und Frischfleisch, im Gegensatz zu der CDU, die ihre Forderung noch auf das gesamte Fleisch bezieht.
Das ist ein Unterschied, den ich bemerkenswert finde. Ich vermute, daß das ein Fehler in der Bearbeitung und nicht so gemeint ist.
Einig sind wir uns auch bezüglich der Forderung, die Insel dichtzumachen. Aber man macht es sich viel zu einfach, wenn man die Schuld lediglich auf die Regierung Großbritanniens schiebt. Dies wäre außerdem nicht hilfreich.
Sie sagen, Herr Minister Borchert: Das in Deutschland verfügbare Rindfleisch ist sicher. Na ja. Die Maßnahmen kommen natürlich in der ganzen Realisierung und Auswirkung äußerst spät. Es gibt erste Maßnahmen und Defizite, die im Vollzug zu beklagen sind. Zwar ist verboten worden, Tiermehl an Wiederkäuer zu verfüttern, aber dieses Verbot ist zum großen Teil in den Betrieben gar nicht angekommen.
Wenn Sie sich einmal die Kontrollen anschauen, die zugegebenermaßen in den Landkreisen erfolgt sind, dann werden Sie feststellen, daß noch nicht einmal das Personal vorhanden war, dieses Verbot überhaupt realistisch zu kontrollieren.
Ein anderer Punkt ist, daß das Tiermehlrisiko gerade beim Import ungenügend erfaßt ist. Das Exportverbot müßte generell auf Fleisch aus originären BSE- gefährdeten Ländern ausgedehnt werden - das ist zum Beispiel im Antrag enthalten -, wenn mit Tier-
Ulrike Höfken
mehl gefüttert wurde. Das betrifft aber auch Schweine und Schafe - ich sage das ganz ausdrücklich: wenn mit Tiermehl gefüttert wurde.
Solange das Verfahren nach den deutschen Vorstellungen bzw. deutschen Standards noch nicht verbessert war, wurde Tiermehl an die dort lebenden Tiere verfüttert. Beim Import ist es nicht möglich, nachzuvollziehen, ob in das entsprechende Tiermehl infektiöses Material gelangt ist. Es besteht natürlich die erhebliche Gefahr der Reinfektion britischen Tiermehls.
Ich finde, es ist ein deutliches Defizit, wenn man einfach sagt: Deutsches Fleisch ist sicher. Ich meine, das stimmt für die Erzeugergemeinschaft in der Eifel; die kenne ich. Ich möchte das aber nicht generell sagen.
Zur Sicherheit des Verfahrens. Auch dazu wurde von Kollegen schon angemerkt, daß es Aussagen gibt: 200 Grad kann dieser Erreger überleben. Ich finde es außerordentlich schwierig, sich auf diese widersprüchlichen wissenschaftlichen Aussagen zu stützen.
Zu den Drittlandreimporten von Tieren möchte ich sagen: Die Tiere, die aus Großbritannien stammen und nach Polen gelangt sind, oder infiziertes Tiermehl, das nach Polen gelangt ist, werden beispielsweise über Italien wieder in die EU eingeführt. Das sind immerhin 480 000 Tiere pro Jahr. Auch das ist sicherlich ein Manko.
Hundefutter aus Großbritannien gelangt nach wie vor nach Deutschland - auch ohne die Klärung, ob infiziertes Material enthalten ist oder nicht. Wir haben die Problematik der Haustiere in dieser Hinsicht sicher noch nicht vollständig erfaßt. Wir können sie auch nicht ausreichend bewerten. Auch das ist ein Defizit.
Ähnlich verhält es sich mit Tierarzneimitteln wie Prostaglandinen, die - wie ähnliche Arzneimittel - zurückgezogen wurden - zumindest hoffe ich das -, bei denen aber ein Kontrolldefizit besteht. Aber was ist mit den Anwendungen, die bereits erfolgt sind? Auch in diesem Punkt gibt es mit Sicherheit Schwierigkeiten in der Beurteilung.
Ein letzter Punkt ist, daß die in Großbritannien getroffenen Maßnahmen sicherlich unzureichend sind, von uns allen so eingestuft werden. Es ist notwendig, einerseits eine Unterstützung zu geben, andererseits von der EU-Seite aus auch darauf hinzuwirken, daß diese Maßnahmen ausgedehnt werden. Wir haben erhebliche Schwierigkeiten, zu beurteilen, was mit den Tieren ist, die zwar infiziert sind, bei denen die Krankheit aber nicht erkannt werden kann, weil es keine Nachweisverfahren gibt. Hier sehe ich gerade in Großbritannien eine große Gefahr.
Aktuell kosten die Maßnahmen insgesamt etwa 13 Milliarden DM, die zur Bekämpfung dieser Seuche BSE eingesetzt werden. Das sind alles Maßnahmen, die die Krise im Grunde nur begleiten, aber keine Lösung der Probleme bringen.
Wir wollen, daß die Gelder, die für Aufkaufaktionen und Exporterstattungen verwendet werden, in
ein Programm „Regionale Fleischerzeugung" gehen. Damit soll, solange es noch möglich ist, garantiert werden können, daß es BSE-freie Bestände gibt, daß Tiere artgerecht gehalten werden und daß beispielsweise auch keine anderen die Verbraucher beeinträchtigenden Mittel, zum Beispiel Antibiotika und Leistungsförderer, verwendet werden. Mit diesen Geldern wollen wir diese regionalen Programme fördern, um in der Landwirtschaft endlich wieder eine Situation zu erreichen, in der für die Verbraucher eine Unbedenklichkeitserklärung ausgesprochen und in der ein neuer Absatzmarkt für Fleisch geschaffen werden kann.
Danke schön.
Auch zu dieser Rede hat die Kollegin Wieczorek-Zeul um eine Kurzintervention gebeten. Bitte sehr, Frau Kollegin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme den Diskussionsbeitrag der Kollegin Höfken zum Anlaß, zu sagen: Sie hat zu Anfang ihrer Rede ausgedrückt, die Erwartung des Deutschen Bundestages sei es, daß die Bundesregierung bei den Verhandlungen des Agrarministerrates am 3./4. Juni keiner Lockerung des Exportverbotes zustimmen wird.
Ich denke, ich drücke das für alle diejenigen aus, die sich in der heutigen Debatte geäußert haben und die sich hier entsprechend festlegen.
Ich möchte aus der Replik, die sich ergeben hat, auf eines verweisen - das sind auch Ihre Rechte -: Der Deutsche Bundestag hat nach der Verfassung und dem Rechtstellungsgesetz, das wir und Sie gemeinsam beschlossen haben, das Recht und die Pflicht, an der Willensbildung der Bundesrepublik Deutschland in Fragen der Europäischen Union teilzunehmen.
Es geht um eine EU-Gesetzgebung, die hier angesprochen worden ist, und der Deutsche Bundestag gibt mit seiner Position der Bundesregierung die Orientierung, die sie bei den Verhandlungen zugrunde zu legen hat. Da kann man doch nicht so tun, als wären das irgendwelche diplomatischen Verhandlungen, bei denen es peinlich wäre, wenn der Deutsche Bundestag etwas sagen würde!
Es gehört zu unserem Recht und zu unseren Pflichten. Nur unter Bezug auf diese Regelung hat das
Bundesverfassungsgericht den Maastricht-Vertrag
Heidemarie Wieczorek-Zeul
überhaupt passieren lassen. Wenn einzelne Regierungsmitglieder das immer noch nicht kapiert haben, ist das schlimm genug.
Deshalb mit Blick auf die anstehende Entscheidung: Wir erwarten, und zwar der gesamte Deutsche Bundestag, daß die Bundesregierung unter keinem Vorwand einer Lockerung des Exportverbots zustimmt.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Editha Limbach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es eigentlich schade, daß durch die Äußerungen der Kollegin Wieczorek-Zeul die an sich sehr ruhige und sachdienliche Diskussion jetzt doch etwas auf die schiefe Bahn geraten ist. Mich hat an der Diskussion hier und heute gefreut, daß bei dieser schwierigen Frage, mit der möglicherweise ein großes gesundheitliches Problem verbunden Ist, nicht der Hysterie und der Panik,
sondern einer richtigen Wertung der Gefährdung das Wort geredet wurde, und für den vorsorgenden Gesundheits- und Verbraucherschutz gesprochen wurde.
Frau Wieczorek-Zeul, Sie nehmen es immer so genau, daß alles vollständig gesagt wird. Dann hätten Sie korrekterweise natürlich auch berichten müssen, daß im Europaausschuß der Vertreter der Regierung, nachdem er erläutert hatte, wie das Verfahren ist, meine Frage nach dem Standpunkt der Regierung damit beantwortet hat, daß man in dieser Frage selbstverständlich dem vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutz den Vorrang gibt und alles tun wird, damit auf der Grundlage dessen, was man erst noch an Erkenntnissen gewinnen muß - darauf hat Herr Minister Borchert hingewiesen -, die richtige Entscheidung in dem Sinne, wie wir es haben wollen, nämlich Vorrang für den gesundheitlichen Verbraucherschutz, getroffen wird.
Gerade wenn Sie Herrn Borchert vorwerfen, daß er diese komplizierten Verfahren nicht erläutert hat, und wenn Sie den Europaausschuß zitieren, hätten Sie mit dem, was Sie hier vorgetragen haben, die unmittelbar im Zusammenhang damit stehende Frage und deren Beantwortung durch die Regierung mit erwähnen müssen.
Ich finde überhaupt, man muß doch ein bißchen darauf achten, was hier gesagt worden ist. Man sollte vielleicht auch lesen, was die einzelnen Anträge und Entschließungsanträge enthalten. In dem Antrag der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion können Sie lesen, daß wir die Regierung auffordern, einer Lockerung des Exportverbots nur dann zuzustimmen, wenn gesundheitliche Risiken wissenschaftlich hinreichend bewertet und die erforderlichen Maßnahmen beschlossen und durchgeführt sind, um die BSE-Freiheit der Rinder und die Unterbrechung der Infektionskette sicherzustellen. Das ist eine ganz klare und eindeutige Aussage, und ich habe nicht gehört, daß die Regierung diese Aussage nicht aufgreifen und unterstützen würde.
Wir sollten auch sehen, daß die Forderung nach mehr Forschungsmitteln, auf die die Kollegin Knoche hingewiesen hat, schon erhoben worden ist und daß man sich auf der anderen Seite ehrlicherweise Rechenschaft darüber geben muß, daß Forschung auf deutschem Boden - Frau Knoche hat das bei der Anhörung im Gesundheitsausschuß mitbekommen - deshalb so schwierig ist, weil wir kein Material haben, weil BSE in Deutschland erfreulicherweise nicht vorkommt. Das bedeutet, wir können unsere Forscher nicht zu etwas verdonnern, was sie nicht leisten können, weil sie das Material, das sie erforschen sollen, gar nicht haben.
Ich will auch etwas zu dem sagen, was in dem Entschließungsantrag der SPD steht und hier aufgegriffen wurde, nämlich dazu, daß dem Importverbot vom April 1994 später die Einigung auf eine europäische Regelung folgte, die nicht ganz so streng war wie das, was wir vorher allein durchgesetzt hatten und tun wollten.
Mehrere Rednerinnen und Redner haben darauf hingewiesen, wie wenig freundlich die Töne sind, die man gelegentlich in diesem Zusammenhang aus England hört, und daß das europafeindlich sei. Ich kann nicht verstehen, daß man gleichzeitig verlangt, die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem Hause hätten sich europafeindlich verhalten sollen; denn in dem Moment, in dem eine Gemeinschaftsregelung da war, wäre es falsch gewesen, dieser nicht zu folgen, zumal sie die Sicherheit vergrößert hat.
Dieser Meinung bin ich nach wie vor: Notfalls sind nationale Alleingänge nötig, aber gemeinschaftliche europäische Regelungen sind beim Binnenmarkt sehr viel besser.
Wir haben über die Kontrolle der Maßnahmen gesprochen. Auch in unserem Antrag werden Sie wiederfinden, daß wir großen Wert darauf legen. Ich finde es deshalb sehr erfreulich, daß der Agrarrat eigens eine eigene Kommission nach Großbritannien schicken kann, um sich dort selbst ein Bild zu machen.
Ich muß in einem Punkt dem Kollegen Weisheit recht geben: Bei dem Besuch in Großbritannien, an dem auch ich teilgenommen habe, sind uns wahr-
Editha Limbach
scheinlich alle positiven Dinge gezeigt worden, die uns durchaus beeindruckt haben, und all die Dinge, bei denen es doch nicht klappt, sind natürlich nicht gezeigt worden. Ich muß allerdings sagen: Wenn ich das recht bedenke, so zeigen wir unseren Besuchern in der Regel auch lieber das, was klappt, als das, was nicht klappt.
Wir haben deutlich die Forderung nach dem Herkunftsnachweis gestellt. Diesen halte ich für sehr richtig, ebenso wie ich den Forderungen, die aus der Landwirtschaft kommen, nämlich nach der Regionalisierung und der deutlichen Kennzeichnung, sehr gerne folge; denn das ist etwas, das geeignet ist, das Vertrauen von Verbraucherinnen und Verbrauchern in das Rindfleisch und die Rindfleischprodukte wieder herzustellen.
Es ist nicht so, daß die Leute plötzlich kein Rindfleisch mehr mögen, sie möchten nur sicher sein, daß das, was sie kaufen, aus gesunden Beständen kommt. Sie wollen wissen, was sie kaufen und mit welchen Produkten sie es zu tun haben.
Es stellt sich in der Tat die Frage: Was ist mit den kräftigen Äußerungen, die in England gefallen sind? Ich möchte hier ausdrücklich das betonen, was ich in verschiedenen Interviews, die ich englischen Medien geben durfte, gesagt habe: Wir haben keinen Streit mit England, wir haben Streit mit BSE - wenn man das so sagen kann.
Wir wollen mit den Engländern gemeinsam diese Tierseuche, die möglicherweise auch Menschen gefährden kann, bekämpfen und möglichst ausrotten. Ich meine, in diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß wir nicht die Mittel, die auch den Briten helfen, mit diesem Problem fertig zu werden, plötzlich wieder einkassieren, um sie für andere, möglicherweise auch schöne Dinge zu benutzen, sondern wir müssen auch hier zur Solidarität stehen und sagen: Jawohl, diese Zuschüsse, die im übrigen noch mit dem Rabatt verrechnet werden - das reduziert sie in gewisser Weise -, müssen gezahlt werden.
Letzte Frage: Was passiert, wenn es nicht zu dem erhofften gemeinsamen Ergebnis auf europäischer Gemeinschaftsebene kommt? Ich denke, daß wir dann die Regierung bitten werden - ich bin davon überzeugt, daß sie dazu bereit ist -, unter Einbeziehung dessen, was die Kommission beschlossen hatte, und unter Einbeziehung der Dringlichkeitsverordnungen, die wir hatten, zu einer Dauerverordnung zu kommen, die unseren Verbraucherinnen und Verbrauchern so viel Sicherheit wie möglich gibt. Am liebsten wäre mir eine europäische Lösung. Wenn es sie aber nicht geben kann, müssen wir national handeln.
Ich gebe das Wort noch einmal dem Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Jochen Borchert.
Vielen Dank, Herr Präsident! Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, in dem Antrag der CDU/CSU und F.D.P. wird gefordert, das Exportverbot so lange aufrechtzuerhalten, und dann werden die Bedingungen formuliert, die ich hier vorgetragen habe. Diese Bedingungen zeigen, daß der Verbraucherschutz oberste Priorität hat. Grundlage der Beratungen im Sonderagrarrat am 3. und 4. Juni sind der Bericht der Kommission und die wissenschaftliche Bewertung und ein Bericht der Expertenkommission über eine Inspektionsreise nach Großbritannien. Auf der Grundlage dieser beiden Berichte werden wir dann die Situation bewerten, und vor dem Hintergrund dieser Bewertung müssen wir dann entscheiden.
Frau Kollegin, Ihre Forderung, am 3. und 4. Juni auf jeden Fall jede Lockerung abzulehnen, unabhängig davon, welche Erfolge bei der Bekämpfung erreicht worden sind
und wie die wissenschaftliche Bewertung und der Bericht der Expertenkommission aussehen, halte ich, um es vorsichtig zu sagen, für nicht vertretbar. Unsere Position kann doch nur sein: Der Verbraucherschutz hat oberste Priorität, und das Exportverbot wird so lange aufrechterhalten, wie dies aus Gründen des Verbraucherschutzes notwendig ist. Das Exportverbot kann in dem Umfang gelockert werden, wie der Verbraucherschutz dies zuläßt. Dies müssen wir auf der Grundlage der Berichte am 3. und 4. Juni bewerten, aber, wie gesagt, völlig unabhängig davon, wie die Berichte aussehen. Wer heute bereits sagt, wir werden keinen Veränderungen zustimmen, der handelt politisch nicht verantwortlich.
Ich erteile nun das Wort dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der von Großbritannien angestrebten Lockerung des Exportverbots für Rinderprodukte hat gestern in der „Frankfurter Rundschau" der EU-Kommissar Fischler gemeint, daß BSE-Erreger beim Herstellungsverfahren von Gelatine oder Talg abgetötet würden. Das ist nicht mehr als ein gewagtes Wunschdenken. Ich möchte, daß wir uns ein wenig mit dem Tiermehl beschäftigen.
- Eine Frage? - Gern!
Normalerweise erteile ich das Wort, Herr Kollege Wodarg, wenn Sie einverstanden sind. Ich nehme aber an, daß Sie die Zwischenfrage zulassen. - Bitte schön, Frau Kollegin.
Wir haben von Minister Seehofer gehört, daß für den Arzneimittelbereich Gelatine offensichtlich anders eingeschätzt wird als für den Bereich der Lebensmittel. Mir ist nicht nachvollziehbar, wie er diese Aussage begründet hat. Meine Frage an Sie: Führen Sie das vielleicht auf die unterschiedlichen Haftungsregelungen zurück, die für diese beiden Bereiche gelten?
Ich glaube zu verstehen, was Sie mit der Frage meinen. Es sind natürlich Haftungsfragen, die eine Rolle spielen beim Verhalten von Firmen, die diese Stoffe herstellen. Ich glaube schon, daß es gut wäre, das Haftungsrecht auch auf den Lebensmittelbereich und auf den Medikamentenbereich in gleicher Weise anzuwenden. Das ist hier nicht der Fall, da haben Sie recht.
Wir sollten uns daran erinnern, daß als Ursache für die Verbreitung von BSE die Verfütterung von verseuchtem Tiermehl an Rinder genannt werden muß. Was ist eigentlich Tiermehl? In der Bundesrepublik fallen jährlich über 2,3 Millionen Tonnen an Material an, welches in den 42 deutschen Tierkörperbeseitigungsanlagen behandelt werden muß. Das sind in Deutschland im Jahr 100 000 Lastwagen voll, jeder Lastwagen gefüllt mit 23 Tonnen Tierabfällen. Das sind durchschnittlich zehn Lkw pro Tag für jede Anlage - nur damit man einmal eine Vorstellung hat, um welche Mengen es sich dabei handelt.
Das deutsche Tierkörperbeseitigungsgesetz kennt drei Arten von zu entsorgendem Material:
Erstens die Schlachtabfälle. Sie machen etwa 1,9 Millionen Tonnen im Jahr aus.
Zweitens die Tierkörper. Das sind verendete oder getötete Tiere, also Kadaver.
Drittens sonstige Erzeugnisse wie zum Beispiel verdorbene tierische Lebensmittel.
Die beiden letzten entsprechen allerdings nur etwa 15 Prozent aller anfallenden Materialien in den Tierkörperbeseitigungsanlagen. Die weit überwiegende Menge, etwa 85 Prozent, sind also Schlachtabfälle, das heißt, es sind Reste von Tieren, deren Fleisch vorher für den menschlichen Verzehr als geeignet befunden wurde.
Der Erlös aus den insgesamt hergestellten zirka 350 000 Tonnen Tiermehlen - was immer das im einzelnen dann sein mag; es gibt da unterschiedliche Fraktionen - beläuft sich allein in der Bundesrepublik auf etwa 143 Millionen DM jährlich. Sie sehen also, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hier, neben der Seuchenbekämpfung, neben einer kostengünstigen Abfallbeseitigung, neben Recycling und Verbraucherschutz, wieder einmal auch ums Geld.
In Deutschland wenden 38 der 42 Tierkörperbeseitigungsanlagen das sogenannte Druck-Hitze-Verfahren an, bei dem das zerkleinerte Material mindestens 20 Minuten auf 133 Grad unter 3 bar Dampfdruck erhitzt wird. Dieses Verfahren gilt als das hygienisch sicherste Verfahren der Beseitigung von Tierkörpern, wenn man am Ende Mehl erhalten möchte, welches noch als Tierfutter geeignet ist.
Für die Tierernährung werden Tiermehl, Fleisch-, Knochen- oder Blutmehle aber immer dann unbrauchbar, wenn Eiweiße bzw. Fette darin zu sehr durch Hitze oder Chemikalien verändert werden. Sie sind dann schlicht unverdaulich. Ähnliches gilt für die Herstellung von Gelatine. Zwar werden hier nur Schlachtabfälle verwendet und keine Kadaver, aber es bleibt auch hier dabei: Man kann die kollagenen Eiweißmoleküle in der Gelatine nicht beliebig erhitzen. Irgendwann verändern sich deren Strukturen so sehr, daß die Quellfähigkeit weg ist, und dann ist es keine Gelatine mehr.
Abgesehen von den Energie- oder den Verfahrenskosten ist man deshalb seitens der Anlagenbetreiber und der Tiermehlindustrie daran interessiert, die Erhitzung möglichst niedrig zu halten. Das heißt, was die seuchenhygienische Qualität angeht, gibt es ein wirtschaftliches Interesse, sie nicht allzusehr zu übertreiben.
Ich möchte Sie - ich sehe schon Ermüdungserscheinungen - nicht mit weiteren Einzelheiten über die Verarbeitung von Rinderprodukten und Schlachtabfällen überfordern. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß die von EU-Kommissar Fischler behauptete Sicherheit mit Sicherheit nicht gegeben ist - schon allein deshalb nicht, weil die europäischen Tierkörperbeseitigungsanlagen noch nicht auf unseren deutschen Standard umgerüstet worden sind. Nur in Deutschland und Holland sollen die Anlagen diesem Standard entsprechen. Von neugewonnener Sicherheit für die Briten und für ihre europäischen Partner kann deshalb nicht die Rede sein. Wer das tut, der liefert nichts als ein erneutes Schönreden der Verhältnisse des gesundheitlichen Verbraucherschutzes im Staate Europa.
Wir wollen, daß die Verantwortlichen der Bundesregierung jetzt endlich kontinuierlich und eindeutig dafür sorgen, daß das, was sie den Menschen erzählen - Sie haben es uns auch wieder erzählt –, in Brüssel auch endlich gemacht und konsequent durchgehalten wird. Das ist das einzige, was wir Ihnen als Opposition nun wirklich nicht abnehmen können.
Herr Kollege Wodarg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Limbach?
Ja, gerne.
Herr Kollege Wodarg, können Sie mir sagen, auf Grund welcher Bestimmungen des Vertrages von Maastricht die Bundesregierung das alleinige Sagen in Brüssel hat?
Das hat sie nicht, natürlich nicht.
Aber wir verlangen von der Bundesregierung - das
wurde hier deutlich -, daß sie zu dem, was sie in der
Dr. Wolfgang Wodarg
Sache vertreten hat, steht und im Notfall auch einen Alleingang wagt.
Ein integrierter Wirtschaftsraum Europa braucht auch ein integriertes europäisches System des Gesundheitsschutzes, der Seuchenvermeidung und der umweltgerechten Lebensmittelerzeugung. Hätten Sie, Herr Seehofer, und Sie, Herr Borchert, für die europäische Integration des Gesundheits- und Verbraucherschutzes soviel getan wie die Wirtschaftsminister für den freien Warenverkehr, so käme es nicht zu diesen krisenhaften Belastungen zwischen den europäischen Partnern.
Doch jetzt haben wir den Salat! Ob neben dem wirtschaftlichen Schaden auch bei uns gesundheitliche Schäden durch halbherzige Verbraucherschutzmaßnahmen der Bundesregierung entstanden sind, wissen wir noch nicht. Wenn es hier so kommt wie in Großbritannien, wo jetzt die ersten atypischen CJK-
Fälle zunehmend wahrscheinlich machen, daß BSE- Erreger auch beim Menschen eine Epidemie auslösen, dann ist es für die Betroffenen allerdings zu spät. Die Bundesregierung hat auf unsere Große Anfrage lakonisch geantwortet:
Es gibt keine therapeutischen Möglichkeiten, die spongiformen Enzephalopathien bei Menschen oder Tieren zu lindern oder zu heilen. Sie verlaufen chronisch progredient und immer tödlich.
Wenn es aber keine Therapie gibt, so müssen wir doch um so intensiver alles tun, damit die Infektion nicht noch mehr Menschen trifft.
Hier, im Bereich der Vorbeugung, läuft aber alles so halbherzig weiter wie bisher. Der Gesundheitsminister hat offenbar immer noch nicht entdeckt, daß Vorbeugen tatsächlich besser ist als Heilen; er redet nur darüber. Das zeigen übrigens auch seine Anstrengungen, die vorbeugenden Maßnahmen der GKV auf das zusammenzustutzen, was in der Arztpraxis stattfindet. Doch darüber werden wir morgen noch ein wenig hören.
Der von uns vorgelegte Entschließungsantrag enthält ein Paket von Forderungen, von denen ich einige nennen möchte, die besonders den Ursachen einer solchen Epidemie entgegenwirken sollen.
Ausgelöst, wie gesagt, wurde BSE durch den fahrlässigen Einsatz von infektiösem Tiermehl bei der Herstellung und Verfütterung von Rinderkraftfutter. Deshalb liegt uns ein vernünftiger und verantwortungsvoller Umgang mit tierischen Abfällen besonders am Herzen. Hier besteht weiterhin ein erheblicher Regelungsbedarf.
Wir fordern deshalb die europaweite Rücknahme der in der EU-Tierkörperbeseitigungs-Richtlinie von 1990 tolerierten Ausnahmegenehmigungen und eine unverzügliche Umstellung aller europäischen - nicht nur der britischen - Tierkörperbeseitigungsanlagen entsprechend § 5 des deutschen Tierkörperbeseitigungsgesetzes. Wir möchten übrigens auch wissen, wie lange dies dauert und wie in der Zwischenzeit verfahren werden soll.
Wir schlagen außerdem vor, in der Zwischenzeit das Tiermehl, das nicht entsprechend diesen Standards hergestellt wurde, mit erstens einem Verfütterungsverbot für alle landwirtschaftlichen Nutztiere , zweitens einem Verbringungsverbot innerhalb der EU und drittens einem Exportverbot, soweit dieses Mehl von britischen Rindern stammt, zu belegen.
Darüber hinaus halten wir es für einen vertretbaren Kompromiß - ich bitte jetzt besonders die Landwirte hier im Haus um ihre Aufmerksamkeit -, wenn entsprechend § 5 des deutschen Tierkörperbeseitigungsgesetzes hergestelltes Tiermehl zum Beispiel an Geflügel und Schweine verfüttert werden darf, sofern es von gesunden Tieren stammt. Das heißt aber, es darf auch weiterhin keinesfalls an wiederkäuende Tiere und andere Pflanzenfresser verfüttert werden.
Das Risiko von BSE und anderen bisher vielleicht noch nicht in ihrer Gefährlichkeit für den Menschen bekannten Zoonosen erfordert doppelte Sicherheitsmaßnahmen. Deshalb müssen wir zusätzlich zu der für bekannte Erreger ausreichenden Sicherheit durch Druck-Hitze-Verfahren auch auf der Inputseite das Risiko minimieren und deshalb das Material vorsortieren, bevor es in die Tierkörperbeseitigungsanlage kommt. Das heißt, Kadaver, krankheitsverdächtige und andere riskante Tierprodukte haben nichts in Anlagen für die Herstellung von Tierfutter zu suchen. Das ist heute tägliche Praxis.
Wenn wir schon Tiermehl verfüttern müssen, dann dürfen Schweine, Hühner, Puten, Hunde, Katzen und andere Nichtwiederkäuer nur von den Tieren die technisch aufbereiteten Reste erhalten, deren Fleisch auch für uns Menschen als unbedenklich eingestuft wurde.
Auf weitere Forderungen sind meine Kolleginnen und Kollegen bereits eingegangen, so daß mir im Zusammenhang mit dem Tiermehlproblem nur noch eine letzte Frage an den Landwirtschaftsminister gestattet sei: Wie beurteilen Sie, Herr Minister Borchert, daß wir einerseits sagen, Tiermehl dürfe nicht an Wiederkäuer verfüttert werden,
und andererseits regelmäßig -
Herr Minister Borchert, Sie werden gerade angesprochen. - Bitte schön.
- Tiermehlbestandteile an Kälber verfüttern, wenn sie mit künstlichen Milchaustauschpräparaten getränkt werden? Diese
Dr. Wolfgang Wodarg
Milchaustauschpräparate enthalten etwa zwei Gewichtsprozent an aus Tierkörperbeseitigungsanlagen stammenden Tierfetten. Was habe ich da vorhin gehört, daß an Rinder nicht andere Tiere verfüttert werden dürfen? Halten Sie es für richtig, Herr Minister, daß wir unsere Kälber nur deshalb nicht als Wiederkäuer bezeichnen, weil sie noch keine feste Nahrung zu sich nehmen? Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich meine, daß diese Diskussion anfangs gut gelaufen ist, da zu Beginn viele gemeinsame Erklärungen abgegeben wurden. Aber wenn es nun um das Detail geht, wenn es darum geht, was jetzt konkret gemacht wird, dann paßt die Regierung. Auch der Antrag der Bundesregierung ist so lasch und besagt, die werden es schon machen, enthält aber keine konkreten Maßnahmen, die durchgesetzt werden können.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Heinrich-Wilhelm Ronsöhr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der eigentlichen Substanz dieser Debatte ist für mich und, glaube ich, auch für andere deutlich geworden, daß es ein großes Maß der Übereinstimmung in der Bewertung der derzeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung der BSE gibt. Viele Aussagen sind hier von einer großen verbraucherpolitischen Verantwortung getragen gewesen. Der agrarpolitischen Verantwortung haben sich einige jedoch nicht gestellt. Ich möchte mich damit einmal auseinandersetzen.
Jochen Borchert hat bereits in seiner Rede von unqualifizierten Äußerungen eines SPD-Abgeordneten gesprochen.
Auch der Präsident des Europäischen Parlaments, Herr Hänsch, hat sich ähnlich unqualifiziert geäußert.
- Ich habe die Pressemitteilung gelesen. Vielleicht beschaffen Sie sich diese Pressemitteilung auch.
Frau Höfken, wenn Sie erklären, daß Sie zwar für Ihre Gemeinschaft von Rindfleischerzeugern Ihre Hand ins Feuer legen, aber nicht für andere deutsche Rindfleischerzeuger, dann verunsichern Sie die Verbraucher, und Sie verunsichern sie in einer ungerechtfertigten Weise. Denn BSE ist nicht das Ergebnis deutscher Agrarpolitik. BSE ist das Ergebnis britischer Agrarpolitik. BSE ist auch nicht das Ergebnis deutscher Rindfleischproduktion, sondern das Ergebnis britischer Nachlässigkeiten. Auch deshalb muß BSE in Großbritannien umfassend und hinreichend bekämpft werden. Es muß immer wieder darauf gedrungen werden, daß eine restriktive Handelspolitik stattfindet, um diese scharfen Bekämpfungsmaßnahmen in Großbritannien auch durchzusetzen.
Ich glaube, daß durch den Druck der deutschen Bundesregierung, aber auch durch den Druck anderer europäischer Länder, durch das rigorose Exportverbot und auch durch die konsequente, nunmehr eingeleitete notwendige Bekämpfung der BSE in Großbritannien die Bekämpfung der BSE umfassend und hinreichend begonnen worden ist. Auch finde ich richtig - das ist bereits zum Ausdruck gekommen -, daß wir diese Bekämpfungsmaßnahmen über die Europäische Union mitfinanzieren. Es gibt teilweise Kritik an dieser Mitfinanzierung. Ich möchte allerdings allen Kritikern einmal empfehlen, sich genau anzusehen, inwieweit wir die Maßnahmen der Briten eigentlich mitfinanzieren und inwieweit sie
von den Briten auch selbst finanziert werden.
Oftmals - das ist durch meinen Vorredner wieder zum Ausdruck gekommen - wird im Zusammenhang mit BSE die Verfütterung von Tiermehl generell kritisiert. Nun muß man als erstes feststellen: An Wiederkäuer wird in Deutschland kein Tiermehl verfüttert. Das hat man in Großbritannien immer anders gesehen. Auch nach meiner Meinung ist es ein Skandal, daß man das in Großbritannien anders gesehen hat. Aber Tiermehl aus ernährungsphysiologischen Gründen bei Schweinen und bei Hühnern zu verfüttern, halte ich nach wie vor für richtig. Wir müssen allerdings darauf achten - auch das ist durch mehrere Redner zum Ausdruck gekommen -, daß bei der Produktion von Tiermehl alle Krankheitserreger unschädlich gemacht werden. In Deutschland gibt es ein Verfahren, das alle Krankheitserreger unschädlich macht.
Dieses Verfahren muß - Sie sind dafür eingetreten - überall in der EU zur Anwendung kommen. Deshalb bitte ich doch auch, über den Einsatz von Tiermehl differenzierter zu sprechen, als das im Bundestag oder in der Öffentlichkeit teilweise immer wieder geschieht.
Die Maßnahmen, die durch die EU beschlossen worden sind, sind übrigens auch besser, sie sind erfolgreicher und konsequenter - darauf hat ja unser Bundesminister Horst Seehofer immer wieder aufmerksam gemacht - als alle nationalen Alleingänge, weil nur die Maßnahmen der EU das Ganze auch kontrollfest machen. Auch darauf ist ja Bundesminister Seehofer mehrmals eingegangen.
Wir sollten keinen Zweifel lassen, daß die EU bei einer konsequenten Bekämpfung - ich meine: Bekämpfung der BSE in Großbritannien - bleiben muß. Nur wenn diese Bekämpfungsmaßnahmen auch weiterhin in Großbritannien durchgesetzt werden, ist das Vertrauen der Verbraucher in Rindfleisch wiederherzustellen.
Zu diesem notwendigen Vertrauensbildungsprozeß gehört jedoch auch - ich bin bereits zu Beginn
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
meiner Rede darauf eingegangen - eine vernünftige, sachorientierte Auseinandersetzung über die BSE, und dazu gehört nach meiner Auffassung auch eine zwar nicht unkritische, aber verantwortungsbewußte Berichterstattung der deutschen Medien.
Ich habe bereits zu Beginn meiner Rede angesprochen - und, Frau Höfken, das ist ja durch Ihre Aussagen hier auch wieder zum Ausdruck gekommen -, daß einige ganz bewußt unterstellen, BSE sei ein Ergebnis der konventionellen Rinderhaltung und der Rindfleischproduktion. Wer so etwas behauptet, wer so etwas unterstellt, der will sein politisches Süppchen kochen, und zwar auf Kosten der deutschen Bauern, aber nichts, aber auch gar nichts zur Verbraucheraufklärung beitragen.
Meine Damen und Herren! Es wäre genauso falsch, wenn man der alternativ produzierenden Landwirtschaft in Deutschland BSE anlastet. Es trifft zwar zu, daß in alternativ produzierenden Betrieben BSE aufgetreten ist, aber das hat nichts mit dem Produktionsverfahren in diesen Betrieben zu tun; vielmehr wurden für diese Betriebe Zuchttiere aus Großbritannien importiert.
Deshalb ist es richtig, aufzuklären und nicht immer mit Unterstellungen zu operieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Höfken?
Gerne!
Herr Ronsöhr, ist Ihnen denn bekannt, daß ökologisch wirtschaftende Betriebe kein Tiermehl verfüttern dürfen und insofern auch eine Auslösung der Krankheit BSE in diesen Betrieben nicht erfolgen kann?
Sie wissen, daß alle deutschen Rindfleisch produzierenden Betriebe kein Tiermehl verfüttert haben. Insofern ist das, was Sie jetzt gesagt haben, genau wieder eine Aussage gegen bestimmte landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen!
Ich begrüße ausdrücklich jede Aufklärungskampagne für den Verbraucher. Ich mache allerdings auch darauf aufmerksam, daß jede Aufklärungskampagne konterkariert wird, wenn die Medien über BSE nicht richtig berichten oder die Politiker falsche Aussagen über BSE treffen. Die Medien - das stelle ich noch einmal fest - sollen Kritik üben; aber sie müssen auch ihrer Verantwortung gerecht werden. Die Medien haben zwar sehr umfangreich über das Thema BSE berichtet; aber die Bevölkerung fühlt sich trotz dieser umfangreichen Berichterstattung nicht richtig informiert. Das ist nach meiner Meinung dann auch eine Kritik an dieser Berichterstattung.
Deshalb hoffe ich, daß in Zukunft wir alle unserer Verantwortung gerecht werden: die Briten, indem sie die Beschlüsse der EU konsequent umsetzen, die EU, indem sie die Briten so kontrolliert, daß sie diese Beschlüsse der EU auch umsetzen, die Europäische Union, daß sie, wenn sich die Notwendigkeit auch weiterhin ergibt, an der jetzigen Politik der konsequenten BSE-Bekämpfung festhält, die Medien, indem sie mit ihrer Aufklärungspflicht verantwortungsbewußt gegenüber dem deutschen Verbraucher und den deutschen Rindfleischproduzenten umgehen, und die Landwirte, die Schlachtbetriebe und die Vermarkter, indem sie für den Verbraucher nachvollziehbare Wege von der Produktion bis zur Ladentheke aufzeigen.
Auch wir als Vertreter der deutschen Politik müssen dieser Verantwortung gerecht werden, indem wir - das ist meiner Meinung nach durchgängig in allen Reden zum Ausdruck gekommen - innerhalb der EU unsere erfolgreiche Politik des Verbraucherschutzes weiter fortsetzen, damit die EU bei der konsequenten Haltung im Hinblick auf die Bekämpfung der BSE bleibt.
Wir wollen eine Politik, die den Verbraucherschutz auf hohem Niveau beibehält bzw. herstellt und die ein gerechtfertigtes Vertrauen für die deutschen Rindfleischproduzenten schafft. Denn die Rindfleischproduktion - darauf möchte ich zum Schluß einmal ganz bewußt im Namen meiner Berufskollegen aufmerksam machen, die zur Zeit ganz schwere Zeiten erleben - ist in Deutschland für die Bewirtschaftung des Grünlandes unbedingt erforderlich. Wer auf den Almen und in den Flußtälern, wer in den Mittelgebirgen und an der Küste Grünland erhalten will, der muß das gerechtfertigte Vertrauen in die deutschen Rindfleischproduzenten wieder stärken. Alle Maßnahmen zur Stützung des Rindfleischmarktes können meines Erachtens nicht das bewirken, was wir gemeinsam - die Politik, die Medien, die Bauern, die Schlachtereien, die Vermarkter - erreichen können, indem wir das Vertrauen in deutsche Bauern und in ihre Rindfleischproduktion herstellen.
Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4388 und 13/4676 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4697 soll zur federführenden Beratung dem Ausschuß für Gesundheit und zur Mitberatung dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und dem Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und b sowie den Zusatzpunkt 11 auf:
7. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hans Martin Bury, Gerd Andres, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Postfilialen
- Drucksachen 13/2504, 13/4234 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Martin Bury, Arne Börnsen , Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Remailing unterbinden - Arbeitsplätze in Deutschland sichern
- Drucksache 13/4448 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Dr. Manuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Hans Martin Bury, Gerd Andres, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Postfilialen
- Drucksachen 13/2504, 13/4001, 13/4662 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Elmar Müller
Hans Martin Bury
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hans Martin Bury.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1981, zu Zeiten der SPD-geführten Bundesregierung,
gab es hier im Hause breite Übereinstimmung bei der Diskussion über das „Konzept zur Postversorgung auf dem Lande", das einstimmig verabschiedet wurde, wenngleich Kollege Eduard Lintner - heute Parlamentarischer Staatssekretär - damals für die CDU/CSU-Fraktion erklärte, sie werde - Zitat - „dem Konzept nur unter der Voraussetzung zustimmen, daß der derzeitige Bestand an Poststellen im wesentlichen erhalten bleibt" - schön gesagt. Doch
1982 kam diese Koalition der Posträuber an die Regierung.
- Ich räume ein, daß der Vergleich mit Posträubern vielleicht unfair ist: Die nehmen nur das Geld, Sie rauben den Bürgern gleich die ganze Postfiliale.
In Ihrer Regierungszeit hat sich die Zahl der Postfilialen um 13 000 verringert, also halbiert.
Der Bundespostminister, offenbar erschreckt über die Folgen seiner eigenen Politik, verkündete im Dezember letzten Jahres vollmundig ein Moratorium. Mit dem Postchef wollen Sie, Herr Bötsch, vereinbart haben, daß zunächst keine Postfiliale mehr geschlossen oder umgewandelt werden soll, bis über den Vertriebsverbund von Post und Postbank entschieden ist.
Doch die Schließungen und Umwandlungen gehen ungehindert weiter. Ich kann Ihnen aus verschiedenen Niederlassungsbereichen die Schließungs-
und Umwandlungszahlen der letzten sowie die konkreten Umwandlungspläne für die nächsten Monate vorlegen. Die Niederlassungsleiter kümmern sich überhaupt nicht um die Erklärung der Bundesregierung, sondern folgen der Vorstandsorder, „das Filialnetz zu optimieren", wie die Ausdünnung dort vornehm umschrieben wird.
Wie will der Bundespostminister sein Versprechen einlösen, eine fünfstellige Zahl posteigener Filialen zu sichern? Während andere Minister gerne Grundsteine legen, kann Bundespostminister Bötsch bald den Grabstein für die zehntausendste Postfiliale legen - und damit für seine politische Glaubwürdigkeit.
- Darüber reden wir nächste Sitzungswoche, Herr Kollege.
Aber auch bei den Streitereien innerhalb der Regierungskoaltion um das Telekommunikationsgesetz wird immer offensichtlicher, daß es sich beim BMPT um ein Auslaufmodell handelt. Nicht nur der Postchef tanzt Ihnen auf der Nase herum; der Bundeskanzler schickt den Bundespostminister schon vor der Auflösung seines Ministeriums in den Vorruhestand, indem er den klammen Waigel und den Prinzen Solms beauftragt, die Beute Postbank zu verscherbeln. Die haben zwar kein Konzept, aber schon den Verkaufspreis in den Haushalt eingestellt. Dabei könnten Sie wissen, daß man für heiße Ware nicht den optimalen Preis bekommt.
Hans Martin Bury
Schlimmer noch: Infrastrukturaspekte bleiben bei dieser Vorgehensweise außen vor. Im Vordergrund stehen für die Koalition nicht Kunden und Arbeitnehmer, sondern steht das Stopfen von Haushaltslöchern.
Unser Ziel ist die flächendeckende Versorgung mit hochwertigen Postdienstleistungen zu erschwinglichen Preisen. Dazu gehört ein flächendeckendes Postfilialnetz. Voraussetzung für dessen Erhalt ist der Vertriebsverbund mit der Postbank. Dazu muß endlich der Kooperationsvertrag abgeschlossen und der Vertriebsverbund durch eine Beteiligung der Post an der Postbank mit mindestens 25 Prozent plus einer Aktie dauerhaft institutionell abgesichert werden. Es müssen weitere Vertriebspartner hinzukommen, die mit eigenen Produkten die Schalterauslastung sinnvoll ergänzen und verbessern. Dieses Konzept gewährleistet eine hochwertige Versorgung der Bevölkerung und sichert Arbeitsplätze.
Um die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen geht es auch in unserem Antrag gegen Remailing, also den Versand von Inlandspost über das Ausland. Dadurch erleidet die Post AG schon heute Verluste in Höhe von 500 Millionen DM. Dieses Geld fehlt bei der Erhaltung der flächendeckenden Infrastruktur.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister heute wörtlich erklärt: „Was heute noch als Remailing bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein ganz normaler Vorgang der internationalen Arbeitsteilung", dann offenbart er ein merkwürdiges Verständnis von Arbeitsteilung.
Die Post macht die Arbeit, ausländische Unternehmen den Profit. Die deutschen Verbraucher tragen das Defizit, die Nachbarländer gewinnen die Arbeitsplätze.
Das ist Arbeitsteilung à la Rexrodt.
Das veraltete, nicht kostendeckende Abrechnungssystem zwischen den Postunternehmen im internationalen Postverkehr, das sich nicht an den tatsächlichen Zustellkosten orientiert, ist der entscheidende Anreiz für das Remailing und zugleich Ursache der Defizite in Deutschland. Angesichts der nicht kostendeckenden Vergütungen sind Rexrodts Förderung und Bötschs Nichtstun ein eindeutiger Verstoß gegen deutsche Interessen.
Großversender wie etwa Bertelsmann haben angekündigt, Herstellung und Versand von Mailings und damit verbundene Arbeitsplätze ins Ausland zu verlegen, wenn die Bundesregierung nicht schnell für faire Wettbewerbsbedingungen sorgt. Also handeln Sie endlich! Es geht nicht an, öffentlich und im Regulierungsrat gegen Remailing zu sprechen, aber Remailern wie der Citibank zu signalisieren, daß man beide Augen zudrückt.
Die 500 Millionen Verlust, die die Post AG durch das Remailing erleidet, sind auch mehr als die Hälfte der geplanten Portoerhöhungen. Herr Postminister, stoppen Sie endlich das Remailing! Dann ersparen Sie Wirtschaft und Verbrauchern zumindest einen Teil der geplanten Portoerhöhungen.
Wenn Sie weiterhin nichts tun, tragen Sie die volle Verantwortung für die Portoerhöhungen. Dann müssen wieder Privatkunden und Mittelstand die Zeche dafür bezahlen, daß Großunternehmen die Post umgehen und die Bundesregierung nichts unternimmt.
Das neue Postgesetz muß unter anderem Regelungen vorsehen, mit denen das Filialnetz gesichert und das Remailing unterbunden wird. Wir können aber nicht warten, bis das neue Gesetz, dessen Wettbewerbsmodell sehr umstritten ist, verabschiedet ist, zumal die heutigen Äußerungen von Oberpostminister Rexrodt für die Beratungen das Schlimmste befürchten lassen und sich das Ganze weiter verzögern wird, wenn sich die Bundesregierung nicht einigt, wer eigentlich die Federführung für den Post- und Telekommunikationsbereich hat, und wenn das BMPT an seinem nicht EU-konformen Konzept in Sachen Postregulierung festhält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Entschließungsantrag zur Sicherung der Postfilialen ist bewußt zustimmungsfähig gehalten. Wir wollen, daß der Deutsche Bundestag heute, wie vor 15 Jahren, breite Übereinstimmung demonstriert. Die Entschließung ist Zielbeschreibung und Grundlage zum Handeln. Unser Remailing-Antrag ist dann ein erster Schritt zur Umsetzung.
Sie alle sind heute gefordert, Ihren Ankündigungen Verbindlichkeit zu verleihen und entsprechend aktiv zu werden. Deshalb fordere ich Sie auf, dem Entschließungsantrag die breite Zustimmung des Hauses zu geben. Damit können wir deutlich machen, daß der Deutsche Bundestag auch weiterhin an dem Ziel einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen postalischen Dienstleistungen zu erschwinglichen Preisen festhält und das flächendeckende Postfilialnetz sichert.
Vielen Dank.
Ich gebe der Abgeordneten Renate Blank das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde wird es doch noch ein bißchen lebendig im Plenum.
Kollege Bury, da der Präsident das Wort „Posträuber" nicht gerügt hat, möchte ich es an Sie zurückgeben. Sie nämlich betätigen sich als Posträuber, wenn Sie der Post immer mehr Aufgaben und Lasten zu-
Renate Blank
schieben und ihr damit auch immer mehr Kosten aufbürden.
Das Thema Postfilialen hat uns zuletzt am 8. März 1996 beschäftigt. Heute liegen Entschließungsanträge von SPD und Bündnis 90 vor; die Themen Infrastrukturauftrag und Postfilialen werden uns noch länger beschäftigen. Sinnvoller allerdings wäre es aus meiner Sicht gewesen, wenn wir diesen Komplex im Zusammenhang mit den von Bundesminister Bötsch vorgelegten Eckpunkten eines künftigen Regulierungsrahmens im Postbereich diskutiert hätten, die wir nach einem hoffentlich guten und einvernehmlichen Abschluß der Beratungen zum Telekommunikationsgesetz in Angriff nehmen werden.
Ich habe bereits im März ausgeführt, daß der auf Grund von Art. 87 f GG vom Bund zu gewährleistende Infrastrukturauftrag nicht leicht zu handhaben ist und unterschiedlich interpretiert wird. Der Gewährleistungsauftrag im Bereich des Postwesens für flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen basiert jedoch auf Gesetzen, die bis zum 31. Dezember 1996 befristet sind. Wir sind also auf jeden Fall gehalten, uns in nächster Zeit mit der Konkretisierung des Gewährleistungsauftrages zu beschäftigen.
Die Deutsche Post AG wird auf Veranlassung des Bundespostministers voraussichtlich bis Jahresmitte ein neues Filialkonzept vorlegen. Dieses Konzept muß sowohl den Infrastrukturauftrag als auch die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens Deutsche Post AG berücksichtigen.
Es ist aber dringend erforderlich - da stimme ich Ihnen zu -, daß der Kooperationsvertrag zwischen Deutscher Post und Deutscher Postbank endlich zu einem Abschluß kommt. Die Zusammenarbeit beider Unternehmen muß langfristig angelegt, effektiv und für beide betriebswirtschaftlich sinnvoll sein. Dann kann die Wettbewerbsfähigkeit von Post und Postbank gefördert werden und eine gemeinsame Zukunft entstehen. Dies muß aber tatsächlich nach dem Motto „Wettbewerb " stattfinden, nicht nach der alten Denkart „Monopol sichern".
Nun zu den heißumstrittenen Postfilialen. Derzeit unterhält die Deutsche Post rund 17 000 Filialen, darunter 3 000 Postagenturen, die sich bewährt haben.
An dieser Stelle möchte ich einmal unserem Postminister ganz herzlich danken,
daß er vor drei Jahren zugelassen hat, daß eigenbetriebene Postfilialen in Postagenturen umgewandelt werden dürfen.
Diese Postagenturen werden mittlerweile von der Bevölkerung positiv aufgenommen, vor allen Dingen durch die längeren Öffnungszeiten.
Natürlich muß die Post vor dem Hintergrund erheblicher Nachfragerückgänge nach Schalterdienstleistungen und der damit verbundenen Auswirkungen auf die anfallenden Netzkosten das Filialnetz fortlaufend und bundesweit nach Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit einerseits und der Infrastrukturdienstleistungsverpflichtung andererseits untersuchen und sorgfältig abwägen, wie das Filialnetz an veränderte Gegebenheiten angepaßt und gegebenenfalls auch auf wirtschaftlichere Vertriebswege umgestellt werden muß.
Die Verantwortlichen der Deutschen Post AG sollten sich aber nicht als Bremser für Postagenturen darstellen, wie mir schon des öfteren zu Ohren gekommen ist. Wenn eine Filiale aus für die Post wirtschaftlichen Gründen geschlossen werden muß, sollte sich die Post nicht weigern, Postagenturen zuzulassen. Hier sollte etwas großzügiger und weitschauender gedacht werden; denn Postagenturen sind im Vergleich zu eigenbetriebenen kleinen Postfilialen im Durchschnitt um 60 Prozent billiger. Es läßt sich dadurch leicht ausrechnen, welche Möglichkeiten bestehen, um Service und Dienstleistungen wirtschaftlich auszubauen. Ich plädiere deshalb für weitere Postagenturen.
Ich erlaube mir aber den dezenten Hinweis auf eine kundenorientierte Mitarbeiterschulung bei der Post. Der Kunde sollte auf jeden Fall König sein.
In der zum 1. Januar 1996 in Kraft getretenen PostKundenschutzverordnung sind die Gestaltungsregeln für das Postfilialnetz präzisiert. Man geht dabei von einer 2 000-Meter-Entfernungsregelung für Postfilialen aus. Ich bin der Meinung, daß wir einmal darüber nachdenken sollten, ob diese Entfernungsregelung für viele Gebiete noch richtig ist. Wir sollten vielmehr, ohne in die Organisation der Post einzugreifen, die Vorgabe machen, daß Postdienstleistungen in jeder selbständigen Gemeinde angeboten werden müssen, egal ob in einer eigenen Filiale oder in einer Postagentur. Damit wären wir unserem Interesse und dem Ziel, die Infrastruktur zu erhalten, wesentlich näher als mit der starren Entfernungsregelung oder der bisher geltenden Auslastungsgrenze von 5,5 Wochenstunden, die ohnehin nicht überprüft werden kann.
Beim Erbringen von Postdienstleistungen in jeder selbständigen Gemeinde könnte die Post auf Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen. Allerdings sollte sie ohne Gewerkschaftsvorgaben dabei völlig frei entscheiden dürfen.
Ich komme wieder auf meine Vision vom Nachbarschaftsladen zurück - nicht nur in der Fläche, sondern auch in Städten -, der neben seinem Einzelhandelssortiment Postdienstleistungen betreibt, einfache Bankgeschäfte abwickelt, Bausparverträge abschließt und Lebensversicherungen verkauft sowie
Renate Blank
nebenbei noch als Kommunikationszentrum zweckdienlich ist.
Denn den persönlichen Kontakt halte ich gerade im Zeitalter der Kommunikationstechniken und fast unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten nach wie vor für außerordentlich wichtig. Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, vielleicht liegt hier Ihr Problem: im mangelnden Einfluß der Gewerkschaften auf einen selbständigen Betreiber eines Nachbarschaftsladens.
Die beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sind aus unserer Sicht reine Schaufensteranträge.
Die Nennung einer Zahl von Postfilialen oder Postagenturen bringt der Bevölkerung keine einzige postalische Dienstleistung mehr.
Wir wollen die Post beim Wort nehmen, daß sie ihr Angebot einlöst und eine vernünftige Infrastrukturlösung darstellt.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Manuel Kiper das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Sicherung des flächendeckenden Postfilialnetzes helfen nicht die Beschönigungen von Ihnen, Frau Blank, und es hilft nicht das sonnige Gemüt, mit dem uns immer der Herr Bundespostminister begegnet, und auch nicht die Anekdoten aus Franken, sondern hier wären Tatkraft und gezielte Maßnahmen gefordert. Ich begrüße deshalb die Einbringung des SPD-Antrags zum Remailing. Ich begrüße auch den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion zu den Postfilialen. Ich hoffe mit der SPD-Fraktion, daß der Bundespostminister hier noch ein bißchen auf Trab gebracht werden kann.
Unsere Fraktion hatte bereits im März 1996 zu beiden Themen einen Entschließungsantrag eingebracht, der - ganz offensichtlich aus Profilierungsgründen - von der großen postpolitischen Koalition in diesem Hause im zuständigen Fachausschuß negativ beschieden worden ist. Ich bedaure das. Es wird uns allerdings nicht daran hindern, den SPD- Anträgen unsere Zustimmung zu geben,
weil die Forderungen im wesentlichen gleich sind.
Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren wurde das Postfilialnetz um 10 000 Filialen verkleinert. Der Bundespostminister hat das eigentlich erst dann richtig bemerkt, als auch bei ihm im Wahlkreis, in Würzburg, die Postfilialen dichtgemacht wurden und die Würzburger Basis rumorte. Art. 87 f Abs. 1 des Grundgesetzes verpflichtet den Bund, „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen" zu garantieren.
Qualität und Quantität müssen stimmen - das war noch der Tenor der Beratungen zur Postreform II; wir waren ja nicht dabei. § 10 der Kundenschutzverordnung, der flächendeckend Postfilialen garantieren soll, konnte inzwischen von der Post AG ausgehebelt werden. Sogar an Brennpunkten der Nachfrage können heute entgegen dem, was 1994 beschlossen worden ist, Postfilialen dichtgemacht werden. Und was macht der Bundespostminister? Er hat - ich zitiere aus seiner Antwort auf die Große Anfrage -
die Deutsche Post AG ... gebeten, vorerst keine wesentlichen Veränderungen im Postfilialnetz mehr vorzunehmen.
Jawohl, er hat die Post AG gebeten. Donnerwetter! Herr Minister, die Post hat das sogar zugesagt, aber die ,,Schließungsmaßnahmen" - so die Antwort - könnten noch einen „gewissen Nachlauf" haben. Vielleicht sollten Sie der Post AG einmal ein paar von Ihren beliebten Folterinstrumenten zeigen, um diese Situation zu ändern.
Herr Bötsch, Schneckenpost ist wohl die angemessene Assoziation, wenn man Ihre Pläne aus der Antwort auf die Große Anfrage der SPD zu Postfilialen summiert:
Die Bundesregierung wird das von der Deutschen Post AG noch vorzulegende Filialkonzept daraufhin überprüfen, ob durch die unterschiedlichen Vertriebsformen insgesamt der Gewährleistungsauftrag nach Artikel 87 ff. GG eingehalten wird.
Das Filialkonzept muß also erst noch vorgelegt werden. Es ist die Frage, ob das noch vor der Jahrtausendwende geschehen wird. Danach wird dann die Prüfungsphase einsetzen. Wenn dereinst die Prüfungsphase beendet sein wird und der Herr Minister aufgewacht sein wird, dann sind die Postfilialen in der Fläche abgewickelt. Herr Bundespostminister, Sie sind hier gefordert, strukturell die Weichen richtig zu stellen.
Was die strukturell zu stellenden Weichen anbelangt, ist vieles in dem Entschließungsantrag der SPD richtig formuliert. Es geht erstens um die Sicherstellung des Schalterverbundes und zweitens um eine angemessene Kapitalverflechtung zwischen Post AG und Postbank. Ich kann Sie, Herr Minister, hier nur auffordern, nicht den Begehrlichkeiten des Finanzministers zu erliegen und nicht finanzpolitische, sondern strukturpolitische Überlegungen in den Vordergrund zu stellen. Die Vorgaben des Art. 87f müssen ausschlaggebend sein. Zeigen Sie Ihren Kollegen Rexrodt und Waigel einmal Ihre Ellenbogen, Herr Minister! Drittens kommt es darauf
Dr. Manuel Kiper
an, ein Vorwärtskonzept zu entwickeln, neue Tätigkeitsfelder zu erschließen.
Meine Damen und Herren, ich möchte auch noch etwas zum Remailing sagen. Remailing ist ein sozialer Skandal. Remailing ist eine skandalöse Rosinenpickerei. Remailing bedeutet eine Gefährdung des postalischen Universaldienstleistungsauftrags.
Remailing heißt Portoersparnis für die Großkunden und Portoerhöhung für die Kleinkunden. Wir haben diesbezüglich im Postregulierungsrat eine fraktionsübergreifende Resolution verabschiedet.
Ich möchte aber auch darauf hinweisen, daß Remailing ein ökologischer Skandal ist. Wenn hiesige Banken für ihre deutschen Kunden die Kontoauszüge in den USA drucken lassen, die Briefe nach Holland fliegen und sie von dort nach Deutschland versendet werden, dann ist das eine Postzustellung mit hohen Kosten für die Umwelt und großen Mitnahmeeffekten für die Banken. Unter Umweltgesichtspunkten ist Remailing pervers. Wir brauchen deshalb eine angemessene internationale Kostenvergütung einerseits und Ökosteuern auf den Verkehr andererseits,
um diesen um sich greifenden Transportwahnsinn zu stoppen.
Wer Liberalisierung der Post- und Telekommunikationsmärkte will, wird nicht nach dem Verbot von Remailing rufen können. Remailing kann aber unattraktiv gemacht werden. Dazu müssen gerechte Preise ausgehandelt und deshalb muß die bislang kostenlose Inanspruchnahme von Umweltgütern dem Verkehr angelastet werden.
Remailing ist aber auch ein politischer Skandal. Herr Bötsch, Ihr Kollege Wissmann lacht sich ins Fäustchen. Die Deutsche Bahn AG fährt die Gewinne ein, indem die Bahncards von Holland aus verschickt werden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die Deutsche Post AG ist das Unternehmen mit dem bundesweit dichtesten Filialnetz. Der Infrastrukturauftrag könnte für die Post AG auch eine große Chance und nicht nur eine Pflicht sein. Der Aufbau eines Netzes von Bürgerservicebüros könnte dazu dienen, die Kostendeckungsbeiträge zu liefern.
Herr Kollege, wenn Sie sagen, Sie kommen zum Schluß, dann müssen Sie das auch tun. Ihre Redezeit ist beendet.
Ich komme zum Schluß.
Perspektivisch könnte und müßte die Post in der Fläche ein umfassendes Dienstleistungsunternehmen werden. Das böte der Post AG Chancen und würde die Schließung der Postfilialen beenden.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Max Stadler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über das Filialnetz haben wir erst im März 1996 ausführlich debattiert,
so daß ich mich zunächst einmal dem Problem des Remailing zuwenden möchte. In der Tat ist das für die Deutsche Post AG eine ärgerliche Angelegenheit. Dem zu widersprechen wäre natürlich verfehlt. Aber es ist doch bemerkenswert, daß von keinem der verehrten Vorredner die schlichte Tatsache angesprochen wurde, daß Remailing ein deutliches Indiz dafür ist, daß die Kosten in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich schlicht und einfach zu hoch sind.
Es wäre die Frage zu stellen gewesen, Herr Kollege Kiper, ob die strukturelle Weichenstellung, von der Sie gesprochen haben, im Postbereich möglicherweise zu spät in Angriff genommen worden ist, so daß wir jetzt in der Situation stehen, daß die Verbraucher, insbesondere die Wirtschaft, die Portokosten in Deutschland als zu hoch empfinden und daher ins Remailing ausweichen.
Dieser Zustand wird sich im Laufe der Zeit erst ändern, wenn voller Wettbewerb herrscht. Natürlich können wir mit der Lösung des Problems nicht bis dahin zuwarten. Deswegen stimme ich denjenigen zu, die gesagt haben, daß die internationale Abrechnungsstruktur verändert werden muß. Dies ist ein berechtigtes Anliegen der Deutschen Post AG, ist in erster Linie allerdings Sache der betroffenen Postunternehmen. Die Staaten können hier eher nur moderierend eingreifen.
Bis es wiederum soweit ist, ist die Frage, wie sich die Rechtsprechung zu dem Problem des Remailing stellt. Hier ist zu konstatieren, daß das echte, sogenannte A-B-A-Remailing von der Rechtsprechung in der Tat als unzulässig angesehen wird. Der Deutschen Post AG ist es keineswegs verwehrt, diesen Rechtsstandpunkt geltend zu machen, und sie tut dies auch laufend.
Dagegen erscheint uns - hier unterscheiden wir uns von der SPD - die bekannte Entscheidung des Landgerichts Frankfurt zum sogenannten Non-physical-Remailing durchaus überzeugend.
Dr. Max Stadler
Bei einem vorgelagerten grenzüberschreitenden Datenverkehr oder bei einem Vorgang der unternehmerischen Arbeitsteilung in Europa ist das Remailing unserer Auffassung nach durch Art. 59 EGV gedeckt. Aus diesem Grund würde eine Umsetzung des Artikels 25 des Weltpostvertrages, wie sie im SPD-Antrag gefordert ist, ohnehin nur im Rahmen des EG- Rechts zulässig sein und daher jedenfalls zum Teil fehlgehen.
Es bleibt an dieser Stelle nur zu hoffen, daß bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die deutschen Gebührenstrukturen endlich zugunsten der Verbraucher ändern werden,
eine Vorhersage, die in der „Welt am Sonntag" kürzlich getroffen worden ist, eintrifft, nämlich daß der Kostengesichtspunkt doch für manche Unternehmen nicht allein entscheidend ist, weil - wie in dieser Umfrage unter verschiedenen Unternehmen festgestellt worden ist - die Wirtschaft natürlich auch nach dem Verhältnis von Aufwand und dem Ertrag fragt, jedenfalls bei A-B-A-Remailing.
Meine Damen und Herren, zu den Postfilialen hat Frau Kollegin Blank schon alles Wesentliche gesagt. Ich habe an ihren Ausführungen, wenn ich das sagen darf, besonders bemerkenswert gefunden, daß sie festgestellt hat, lange Öffnungszeiten wirkten sich besonders kundenfreundlich aus.
Diese langen Öffnungszeiten sind nun einmal in den Postagenturen leichter zu gewährleisten als in den Postfilialen. Ich möchte jetzt nicht alles wiederholen, was ich im März dazu gesagt habe. Aus dem Grund geht auch hier die SPD mit ihrem Antrag in die Irre, wenn sie eine bestimmte Zahl von unternehmenseigenen Postfilialen der Post AG verlangt.
Ich bin der Meinung, daß man eine solche Vorgabe nicht machen sollte. Richtig ist, daß der Infrastrukturauftrag erfüllt werden muß; richtig ist, daß die Post AG dazu verpflichtet ist. Aber es ist ebenso unbestreitbar, daß wir es der Post AG überlassen müssen, wie sie diesen Auftrag am besten erfüllt.
Man muß kein Prophet sein, um zu prognostieren, daß die Entwicklung in der Fläche eindeutig in Richtung Postagenturen laufen wird. Dies ist ja auch durchaus zu begrüßen, denn alle Umfragen ergeben, daß die Kundenzufriedenheit hiermit weitaus höher als mit Postfilialen mit geringer Öffnungszeit ist, Frau Kollegin Blank.
Daß das von uns allen erwartete neue Filialkonzept noch nicht vorliegt, hat selbstverständlich damit zu tun, daß die Entscheidung über das künftige Verhältnis zwischen der Post AG und der Postbank noch nicht feststeht. Sie wissen alle, daß eine Entscheidung hierzu in den nächsten Wochen getroffen werden wird. Wir halten es allerdings für verfehlt, eine
Kapitalbeteiligung von 25 Prozent plus eins vorzusehen, wie die SPD dies beantragt. Ich nehme an, die Entscheidung wird etwas anders aussehen.
Wichtig ist, daß es dann zum Kooperationsvertrag zwischen der Post AG und der Postbank kommt. Wenn dieser erneuert ist, dann kann man vernünftigerweise ein neues Filialnetzkonzept verlangen. Wir erwarten, daß dies noch vor der Sommerpause vorgelegt wird.
Vielen Dank.
Nun gebe ich dem Abgeordneten Gerhard Jüttemann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf die aktuelle Frage, welche Anzahl von unternehmenseigenen Postfilialen die Bundesregierung für notwendig hält, gab diese im Frühjahr 1996 offiziell die bemerkenswerte Antwort, daß der Minister für Post- und Telekommunikation 1993 - man höre: 1993! - eine mindestens fünfstellige Zahl von posteigenen Filialen für erforderlich bezeichnet habe. Alle Achtung für diese Art von Informationspolitik! Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.
Wo war Herr Bötsch denn sechs Monate lang - so lange hat es mit der Antwort immerhin gedauert -, so daß man ihn nicht fragen konnte, welche Zahl er heute für erforderlich hält?
Das einzige, was man von drei Jahre altem Regierungspolitikergeschwätz ganz sicher weiß, ist doch, daß es heute nicht mehr gilt. Was also gilt heute? Vielleicht die Presseberichte, die für das Jahr 2 000 nur noch 3 000 posteigene Filialen gegenüber heute knapp 14 000 vermuten?
In den vergangenen 13 Jahren wurden Jahr für Jahr durchschnittlich 1 000 Filialen geschlossen. Aber wer sagt denn, daß sich das Tempo nicht erhöhen ließe? Postminister und Postvorstand schweigen sich zu diesem Thema jedenfalls weiter aus.
Dafür spricht der Referentenentwurf für ein neues Postgesetz aus dem Hause Bötsch Bände. Zwar bescheinigt der Vorsitzende der Deutschen Postgewerkschaft, Kurt van Haaren, den Autoren des Entwurfs wenig postpolitischen Sachverstand, aber man darf wohl unterstellen, daß diese dennoch sehr genau wußten, was sie formulierten.
Es ging und geht diesen Damen und Herren nämlich um etwas ganz anderes. Sinn der Postreform ist es einzig und allein, durch Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung die Verwertungsbedingun-
Gerhard Jüttemann
gen des Kapitals zu verbessern. Das ist allerdings nur möglich, wenn die sozialen Interessen, die Interessen der Postkunden und -beschäftigten außen vor bleiben.
Bisher hat sich die deutsche Politik dabei üblicherweise der Europäischen Union bedient. Sie hat zunächst in Brüssel durchgesetzt, was sie in der BRD auf den Weg bringen wollte. Diesmal läuft es zur Abwechslung einmal anders.
Was Herr Bötsch beispielsweise in seinem Gesetzentwurf als Basisversorgung bzw. Universaldienst anbietet, bleibt weit hinter den europäischen Vorgaben zurück. Geht dieser Gesetzentwurf durch, wird es entgegen den Vorstellungen der Europäischen Kommission ab dem Jahre 2003 für die Post AG keinerlei reservierten Bereich mehr geben. Das bedeutet nichts anderes als das geplante Ende postalischer Basisversorgung ab diesem Zeitpunkt.
Zu reden ist darüber hinaus auch über den massiven Arbeitsplatzabbau bei der Post, der durch den neuen Gesetzentwurf weiter verschärft werden wird. Bis zum Jahr 2000 werden dort insgesamt 90 000 Stellen planmäßig gestrichen worden sein, 55 000 sind bereits weg - und das nicht wegen des Remailings, das sicher ein Problem darstellt, das dringend gelöst werden muß.
Aber Arbeitsplätze werden einzig und allein aus Profitgründen gekippt. Darum ist auch von dem mit der Postreform angekündigten Entstehen neuer Arbeitsplätze nichts zu sehen; es sei denn, bei den untertariflich entlohnten, nicht sozialversicherten Turnschuhbrigaden, deren sich jetzt die Deutsche Post AG bedient, um weitere Gewinnexplosionen möglich zu machen.
Dieser Skandal ist ein Ergebnis der unverantwortlichen Postpolitik der Bundesregierung, und das ist erst der Anfang. In welche Richtung der Zug fährt, kann bei den gegenwärtigen Post-Tarifverhandlungen besichtigt werden. Eine Nullrunde beim Einkommen, Einschnitte in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kürzungen beim Weihnachtsgeld sowie längere Arbeitszeiten stehen im Fahrplan der Arbeitgeber.
Der Zug muß umkehren, bevor er ganz und gar von den modernen Posträubern ausgeplündert wird. Die PDS fordert deshalb einen von der Deutschen Post AG abzusichernden Universaldienst für die Bevölkerung. Dieser muß eine breite Palette postalischer Leistungen in hoher Qualität zu erschwinglichen und in strukturschwachen Gebieten gleichen Preisen wie in Ballungsräumen enthalten.
Voraussetzung für die Finanzierung dieses Universaldienstes wäre, daß die Deutsche Post AG auf Dauer einen möglichst breiten reservierten Bereich erhält, in dem sie alleinige Anbieterin bleibt. Einzig dieser Weg könnte die Voraussetzungen dafür schaffen, den arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag im Postbereich zu stoppen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Kiper meint, man müsse den Postminister auf Trab bringen. Der Postminister pflegt bei seiner Arbeit aber normalerweise den Galopp.
Man braucht ihn also gar nicht auf Trab zu bringen.
Sie werden mich auch nicht davon abbringen, das Leben vielleicht etwas optimistischer zu betrachten. Mir ist heute früh in einer Diskussion beim WDR vorgeworfen worden, Politik dürfe keinen Unterhaltungswert haben, sonst würde der Inhalt darunter leiden. Ich bin der Meinung, man muß beides haben, und ich lasse mich von dieser positiven Betrachtungsweise und der Freude am Leben auch nicht von manchen Problemen, die ich im Augenblick diesseits und jenseits des Ganges habe - darauf komme ich noch -, beeinflussen,
selbst wenn ich weiß, daß das Bundespostministerium - ich greife einmal Ihren Begriff auf, Kollege Bury - ein Auslaufmodell ist und vielleicht auch mancher mich selbst als solches bezeichnet. Aber ich habe mich jedenfalls schon eingelaufen.
Sie müssen sich erst einmal richtig einlaufen, Kollege Bury.
Dazu sind Sie bisher noch nicht gekommen. Voraussetzung für das Auslaufen ist doch, daß man sich zumindest anständig eingelaufen hat.
Wir haben uns am 8. März 1996, also vor zweieinhalb Monaten, mit der Thematik der Postfilialen beschäftigt. Ich habe dazu gesprochen. Vor knapp zwei Monaten hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag die Antwort auf die Große Anfrage des Kollegen Bury und der Fraktion der SPD vorgelegt. Eigentlich hätten wir gar nicht antworten müssen, da Sie damals auf ein Aufsetzungsrecht gepocht haben. Ich habe aber gemeint: Der Umgang mit dem Hause gebietet es, diese Anfrage zu beantworten, auch wenn es geschäftsordnungsmäßig nicht geboten war.
Seitdem gibt es nichts wesentlich Neues. Ich kann inhaltlich voll auf das damals Gesagte verweisen und wiederholen: Die Bundesregierung bekennt sich zum Gewährleistungsauftrag des Art. 87f des Grundge-
Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch
setzes - nicht „folgende", Kollege Bury, Sie haben sich da etwas verlesen - und damit zu flächendekkend angemessenen und ausreichenden Dienstleistungen.
- Ich habe den Kollegen Kiper gemeint, richtig. Sie beide möchte ich nicht verwechseln, wirklich nicht. Entschuldigung!
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kiper?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, jetzt nicht, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt. Die Sitzung dauert sonst zu lange: Die Mitternacht rückt näher schon, in stiller Ruh' lag Babylon.
Die Bundesregierung hat nach Beteiligung des Regulierungsrates die Gestaltungsregeln für das Postfilialnetz in der seit dem 1. Januar 1996 geltenden Post-Kundenschutzverordnung niedergelegt. In ihr sind die Vorgaben - der Kollege Bury hat das Geschehen aus dem Jahre 1981 richtig dargestellt - des damaligen Beschlusses aufgenommen bzw. übernommen worden.
Ich überwache die Einhaltung dieser Regelungen. Mit der von mir veranlaßten Veränderungssperre im November 1995 ist auch eine - ich gehe darauf noch im Detail ein - gewisse Beruhigung bei der Bevölkerung eingetreten. Der zugestandene Nachlauf - der Kollege Kiper hat es zitiert - ist praktisch abgearbeitet. Die Entscheidungen zur Kapitalverflechtung und die Aufhebung der Sperre stehen hingegen noch aus. Hierzu hat sich seit meiner Rede vom 8. März nichts geändert.
Die Zahl der ortsfesten Vertriebsstellen liegt derzeit - das ist der Stand vom 31. März - bei 16 745; darunter sind 3 239 fremdbetriebene Postagenturen.
Ich bedanke mich bei der Kollegin Blank für das Lob der Postagenturen. Ich glaube, wenn wir alle Interessen betrachten - die der Post, der Kunden und der Beschäftigten; die Kunden haben für mich Priorität - und gegeneinander abwägen, stellen wir fest, daß die Postagenturen angenommen werden. Das zeigen von Instituten durchgeführte Umfragen.
Die Bundesregierung hat keine bestimmte Zahl von Stellen festgelegt. Die Gesamtzahl ist das Ergebnis vorgabekonformer Einzelfallentscheidungen. Ich habe - das ist richtig - im Jahr 1993 im Rahmen der Postfilialnetzanpassung allerdings eine mindestens fünfstellige Zahl von posteigenen Filialen für erforderlich gehalten.
Jemand rief vorhin: Wir sind gespannt, wo er war. War er während der Zeit im Postpaket? Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe seit meinem Amtsantritt keinen Fehltag zu verzeichnen -
dank von mir nicht zu beeinflussender Tatsachen: Ich war halt nicht krank. Ich habe also die ganze Zeit gearbeitet.
An der Stelle muß ich noch etwas zum Kollegen Jüttemann sagen: Europäische Vorgaben gibt es bis dato nicht. Es ist beabsichtigt, daß sich der Postministerrat am 27. Juni mit dieser Frage beschäftigt. Es gibt Vorstellungen der Kommission; das ist richtig. Da gibt es aber eine kleine Verzögerung - da ist die Situation also genau umgekehrt wie beim Telekommunikationsgesetz -, so daß wir auch etwas tun müssen. Ich bekenne mich dazu. Wir können uns als das größte Volk in der Europäischen Union mit der Wirtschaftskraft, die wir nun mal haben, doch nicht zurücklehnen und sagen: Wir warten auf Brüssel; da wird schon was kommen. Nein, wir beeinflussen natürlich, was in Brüssel passiert.
Ich gebe zu, da gibt es innerhalb der Bundesregierung - ich komme an anderer Stelle noch darauf - bisher noch nicht eine ganz einheitliche Auffassung. Der Kollege Bury hat dies in gekonnter Weise - das sage ich ohne Häme, sondern mit Respekt - aufgespießt. Das hätte ich bei den Agenturmeldungen, die heute nachmittag gelaufen sind, genauso gemacht.
Die Deutsche Post AG - das habe ich bereits im März ausgeführt - geht nach ihrem derzeitigen Umstrukturierungsplan immer stärker dazu über, Postagenturen anstelle von kleinen eigenbetriebenen Filialen einzurichten. Diese Postagenturen - darauf muß nochmals hingewiesen werden - haben grundsätzlich das gleiche Angebotsspektrum wie die kleinen eigenbetriebenen Postfilialen. Geringe Einschränkungen gibt es allerdings beim Auslandspaketdienst und bei den öffentlichen Telefonstellen.
Ich möchte heute schon versichern, daß wir das von der Deutschen Post AG noch vorzulegende Filialkonzept sehr genau daraufhin überprüfen werden, ob mit den unterschiedlichen Vertriebsformen insgesamt der Versorgungsauftrag nach Art. 87 f des Grundgesetzes eingehalten wird. Kollege Kiper, Sie haben das etwas persiflierend dargestellt und haben gesagt, das könne man nicht mit Anekdoten und mit Beispielen aus der fränkischen Heimat des Postministers belegen. Jetzt muß ich aber doch zu einem solchen Beispiel kommen. Sie haben gesagt, das gehe alles etwas langsam. Dazu kann ich nur sagen: Es geht so, wie man fränkische Bratwürste ißt: eine nach der anderen. Es geht nicht auf einmal.
Herr Minister, bleiben Sie dabei, keine Zwischenfragen zuzulassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt gestatte ich einmal eine. Auf geht's!
Herr Minister, halten Sie es mit dem Art. 87 f auch für vereinbar, daß die Post jetzt weitergeht und nicht nur Filialen zu Postagenturen
Peter Dreßen
umwandelt, sondern auch die Briefzustellung im ländlichen Raum anders organisiert, in der Form nämlich, daß zum Beispiel in einer Gemeinde mit 3 000 Einwohnern 25 Schließfächer geschlossen werden und die Leute und die Finnen, die in dem Dorf ansässig sind, darauf angewiesen sind, jeden Morgen in den sieben Kilometer entfernten Ort zu fahren, um ihre Post zu holen, falls sie weiterhin an Schließfächern interessiert sind? Für die Firmen ist das eine ganz schlimme Geschichte, weil sie entweder sehr verspätet zu ihrer Post kommen oder eben jeden Tag sieben Kilometer fahren müssen. Was das umweltpolitisch bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. Da finden zusätzlich 20 Fahrten statt, und das halte ich nicht für richtig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das waren jetzt so viele Relativsätze, Wenn-Sätze und eingeschobene Halbsätze, daß ich den Einzelfall wirklich nicht aus dem Stegreif beantworten kann. Mir ist der Fall nicht bekannt. Wenn Sie ihn mir zuleiten, bekommen Sie von mir eine detaillierte Antwort, weil mich das natürlich auch interessiert. Aber so kann ich es wirklich nicht beantworten. Ich bitte dafür um Verständnis.
Die Briefzustellung gehört natürlich zu der Frage einer vernünftigen Postversorgung auch auf dem Lande. Da ist in der Vergangenheit manches passiert - jetzt komme ich noch einmal auf die Postfilialen zu sprechen -, was zu Kritik Anlaß gibt. Die Benehmensregelung ist von der Post meines Erachtens viel zu eng ausgelegt worden. Wir haben uns darüber im Regulierungsrat unterhalten. Wir haben auch Kriterien festgelegt. Aber da geht es manchmal nach der Methode: Weiß das die Katz? Ich bin der Meinung, das muß durchgezogen werden, und zwar auch mit denen, die es vor Ort vollziehen. Da ist manches nicht so gelaufen, wie ich es mir vorstelle, weil ich die angemessene Versorgung mit postalischen Einrichtungen für notwendig halte.
Ich will jetzt noch ein paar Sätze zu dem zweiten Teil sagen, nämlich zu der Frage des Remailings. Worum geht es hier? Mit Respekt, ich wollte den Kollegen Rexrodt auf Grund seiner Ausführungen, die ich auch in einer Agenturmeldung gelesen habe, anrufen. Das war wegen einer Dienstreise nicht möglich. Ganz so einfach, wie er es jedenfalls nach der Agenturmeldung dargestellt hat, ist die Problematik nicht. Darüber müssen wir uns noch etwas unterhalten, auch über die anderen Fragen, die er angesprochen hat. Ich pflege solche Dinge dann aber in etwas anderer Form abzuhandeln.
Meine Damen und Herren, so einfach, wie es dort zitiert worden ist, „internationale Arbeitsteilung" , ist das nicht. Man muß schon genau hinschauen, ob bei internationaler Arbeitsteilung die Kostensituation tatsächlich die gleiche ist. Wenn es nämlich mit der internationalen Arbeitsteilung so einfach wäre, bräuchten wir keinen Weltpostvertrag und auch alles das nicht, was inzwischen verhandelt wurde. Das kann Sendungen betreffen, die für Deutschland bestimmt sind, ebenso wie Sendungen für Drittländer. Wir müssen unterscheiden, ob die absendefertige Postsendung vom Absender selbst beziehungsweise von einem eingeschalteten Transportunternehmen ins Ausland befördert wird. Das ist physisches Remailing. Im Gegensatz dazu steht das - das wurde hier durcheinandergebracht - nicht physische Remailing. Hier werden die Sendungen selbst im Ausland gedruckt und versandfertig gemacht. Der Inhalt der Sendungen wird in diesem Fall per Datenträger oder auf einem Telekommunikationsweg elektronisch ins Ausland übermittelt.
Die Hauptursache für Remailing-Aktivitäten ist darin zu sehen, daß die internationalen Endvergütungssätze - Sie, Herr Kollege Stadler, haben das dankenswerterweise angesprochen -, wie sie innerhalb des Weltpostvereins vereinbart sind, für Postbetreiber in Hochpreisländern unbefriedigend, das heißt zu niedrig sind.
1994 wurden beim Weltpostkongreß in Seoul Erhöhungen der Endvergütungen beschlossen. Für Massensendungen wurde ein völlig neues Abrechnungsverfahren eingeführt, das erstmals einen Bezug zu den tatsächlichen Bearbeitungskosten im Bestimmungsland herstellt.
Die Postunternehmen der Europäischen Union haben mit Ausnahme von Spanien darüber hinaus ein Abkommen abgeschlossen, nach dem untereinander höhere Endvergütungen als im Weltpostvertrag verrechnet werden sollen. Dieses Abkommen von Reims koppelt die Endvergütungen an den Inlandstarif des Bestimmungslandes.
Nun ist dieses Reims-Abkommen teilweise als Kartell interpretiert worden, und deshalb prüft die Europäische Kommission gegenwärtig, ob dieses Kartell, wenn es denn eines sein sollte, zugelassen werden kann.
Für die Bundesregierung ist es im Zusammenhang mit Remailing-Aktivitäten vorrangiges Ziel, in überstaatlichen Vereinbarungen auf ein. kostengerechtes Endvergütungssystem hinzuarbeiten. Hierzu sind auch die betroffenen Postunternehmen selbst aufgerufen.
Ich möchte im übrigen darauf hinweisen, daß die Remailing-Problematik bereits heute gesetzlich geregelt ist, und zwar im Gesetz zu den Verträgen des Weltpostvereins. Durch das Ratifizierungsgesetz ist Art. 25 des Weltpostvertrags, der das Remailing regelt, deutsches Recht. Aber die Frage ist, ob physisches Remailing darunter fällt. Die Gerichte haben das inzwischen anders entschieden.
Selbst wenn wir eine gesetzliche Regelung anstreben würden, könnten wir sicherlich nicht über den Weltpostvertrag hinausgehen. Es ist auch das Recht der Europäischen Union tangiert, und die EU-Kommission sieht es als Verletzung des EG-Vertrages an, wenn die postalische Beförderung im Zusammenhang mit nichtphysischem Remailing beeinträchtigt würde.
Lassen Sie mich noch einige Sätze zu den Zahlenangaben und Prognosen, die die Deutsche Post AG zum Thema Remailing gemacht hat, sagen. Die Behauptung, wonach die Deutsche Post AG durch Re-
Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch
mailing jährlich Betriebsverluste in Höhe von 500 Millionen DM macht, ist nicht nachvollziehbar. Gleiches gilt für das genannte gefährdete Potential von 3 Milliarden DM.
Eine solch dramatische ökonomische Verschärfung des Remailing-Problems müßte sich an einer spürbaren Zunahme des eingehenden Auslandsverkehrs bzw. an einer merklichen Abnahme des abgehenden Auslandsverkehrs ablesen lassen. Solch signifikante Änderungen sind aber von der Deutschen Post AG bis dato nicht belegt worden.
Ferner muß bei einer ökonomischen Bewertung auch der abgehende internationale Briefverkehr berücksichtigt werden. Es war eine Grundidee des Weltpostvertrags, daß der abgehende Briefverkehr in das Ausland die Kosten erwirtschaftet, die durch die Zustellung des eingehenden Verkehrs entstehen.
Es liegen bisher keine Anhaltspunkte vor, daß der gesamte internationale Briefverkehr der Post defizitär wäre. Im Gegenteil: Der Auslandsverkehr erscheint nach wie vor sehr lukrativ. Ich sehe deshalb auch in Remailing-Aktivitäten, solange sie sich im gegenwärtigen Umfang bewegen, keinen Rechtfertigungsgrund für notwendige Tarifanpassungen bei Privatkunden, wie das von Ihnen befürchtet wurde.
Unabhängig davon halte ich es gleichwohl für wichtig, daß wir den eingeschlagenen Weg, im internationalen Bereich zu kostendeckenden Endvergütungen zu kommen, konsequent weiterverfolgen. Ich bin der festen Überzeugung, daß es gelingen wird, für die Fragen im Zusammenhang mit dem Remailing zumindest im europäischen Bereich - das interessiert uns in vorderster Linie - in absehbarerer Zeit akzeptable Lösungen zu finden.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält nun der Abgeordnete Manuel Kiper das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundespostminister hat mir eine klarstellende Zwischenfrage nicht erlaubt. Darum muß ich jetzt noch einmal das Wort ergreifen.
Herr Bundespostminister, Sie haben mir unterstellt, daß ich Sie hier nicht richtig zitiert habe. Aber ich bin offensichtlich der einzige, der Ihre Antworten auf Große Anfragen richtig liest; vielleicht nicht der einzige im Lande, aber offensichtlich scheinen Sie selber oder Ihr Haus das nicht mehr im einzelnen zu tun.
Mir ist natürlich klar - darüber brauche ich keine Belehrung -, daß der Gewährleistungsauftrag in Art. 87 f Abs. 1 niedergelegt ist. Und wenn Sie meiner Rede aufmerksam zugehört haben, was Sie offensichtlich teilweise getan haben, dann werden Sie auch bemerkt haben, daß ich im weiteren vom
Art. 87f Abs. 1 des Grundgesetzes sprach. Als ich Sie aber zitierte, Herr Minister, da habe ich zitiert, was in der Antwort auf die Frage 3 der Großen Anfrage der SPD zu Postfilialen von Ihnen niedergelegt ist. Da ist von einem Gewährleistungsauftrag nach Art. 87 ff. Grundgesetz die Rede. Und „ff." heißt auf deutsch nicht „f", sondern heißt „folgende". Darauf möchte ich Sie aufmerksam machen. Und wenn Sie, Herr Bundespostminister, wieder einmal meinen, mich belehren zu müssen, dann suchen Sie sich doch Dinge aus, bei denen es vielleicht nötiger ist als beim Grundgesetz.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Barthel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor knapp elf Wochen hatten wir die letzte Aussprache über die Situation im Postsektor - auf unsere Große Anfrage hin. Auch die heutige Debatte mußten wir mit unseren Initiativen erzwingen. Sonst würde nämlich dieses Thema hier in Bonn, wo Nicht-Entscheidungen derzeit tagtäglich fallen, überhaupt keine Rolle spielen. Sonst würde die Postpolitik dem Gerangel der Kaufinteressenten der Postbank, das größtenteils hinter den Kulissen stattfindet, überlassen sein. Sonst würde die Postpolitik den monatelangen Spekulationen über den ministeriellen Entwurf zum Postneuordnungsgesetz - wann kommt er denn nun endlich? - überlassen sein. Sonst würde die Postpolitik den gelegentlichen Auftritten des Ministers bei der Herausgabe von Postwertzeichen und bei der Eröffnung von Brief- und Frachtzentren überlassen sein,
bei denen es dann bisweilen am Rande zu den bekannten Äußerungen über Bestandsgarantien von Postfilialen, Arbeitsplätzen und dergleichen kommt.
Im richtigen Leben sieht es allerdings anders aus: Zigtausend Beschäftigte von Post AG und Postbank machen sich ernste Sorgen um ihre Zukunft und die des Unternehmens. Viele dieser Sorgen sind existentiell.
Kundinnen und Kunden der Unternehmen klagen über den Abbau und Qualitätsverlust von Postdienstleistungen. Das Austrocknen der Postversorgung in Wohnortnähe geht weiter. Bei der Debatte über unsere Anfrage und in der Antwort auf die Anfrage hat die Bundesregierung darauf hingewiesen - das wurde zitiert -, eine Zusage der Post AG zu haben. Diese Zusage besteht seit November 1995. Was aber derzeit geschieht, ist alles andere als unvermeidlicher Nachlauf. Was derzeit geschieht, ist der nahezu ungebremste Prozeß der Schließung weiterer Postfilialen, deutlich über 200 pro Monat, jeden Werktag zehn. Und weiterhin, Frau Blank, die Hälfte ohne jeden entsprechenden Ersatz zum Beispiel in Form einer Postagentur. Sind das keine „wesentlichen Veränderungen"? Haben Sie jetzt auch schon die
Klaus Barthel
Peanuts-Mentalität gewisser Bankdirektoren übernommen?
Sind es Peanuts, wenn entgegen Ihrer Aussage in der Antwort die Post AG ihre Pläne zur Einrichtung von Franchise-Läden einfach weiterverfolgt? Das Franchise-Konzept betrifft bekanntlich größere Postfilialen in zentralen Lagen, also den Kernbestand der Postfilialen.
Ist es völlig nebensächlich, daß offensichtlich das Bankgeschäft in den Postagenturen erheblich zurückgeht?
Ist es völlig uninteressant, daß die Post AG dem Filialsterben selber noch Vorschub leistet, indem viele noch existierende Filialen immer kürzere Öffnungszeiten haben, die Schalter oft so schwach besetzt sind, daß lange Wartezeiten entstehen, daß bei Krankheit Personal zur Vertretung nicht mehr zur Verfügung gestellt wird? So wird systematisch der Boden bereitet für die Selbstdemontage der beiden Unternehmen.
Wir wollen dem nicht mehr tatenlos zusehen. Wir wollen zunächst einmal wissen, was eigentlich die Position der Bundesregierung der sie tragenden Parteien ist. Frau Blank, Sie schmeicheln der Deutschen Postgewerkschaft, indem Sie ihr großen Einfluß unterstellen. Aber das ist ein bißchen zuviel des Guten. Entscheidend ist immer noch die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem Haus.
Es fällt auf, daß in der Antwort auf unsere Anfrage angeführt wird:
Der Bundesminister für Post und Telekommunikation hat 1993 im Rahmen der Postfilialnetzanpassung eine mindestens fünfstellige Zahl von posteigenen Filialen als erforderlich bezeichnet.
Es fällt auf, daß das Jahr 1993 erwähnt wird, aber nicht die viel weniger weit zurückliegenden Äußerungen des Ministers mit identischem Inhalt, zum Beispiel am 8. März 1996. Es fällt auf, daß die schriftliche Antwort sich um eine Aussage drückt, ob das Ministerwort heute noch gilt - und wenn ja, wie lange noch. Der Minister hat dazu auch heute nichts mehr gesagt.
Wir wollen wissen, was darüber hinaus in der Bundesregierung insgesamt gilt. Daß der F.D.P., Herr Stadler, der Bestand der flächendeckenden Postversorgung vollkommen egal ist, hat sich inzwischen herumgesprochen.
Aber wie ist das in der großen Regierungsfraktion?
Da haben wir zum Beispiel Herrn Müller, immerhin Sprecher der CDU/CSU in Post- und Telekommunikationsfragen. Er schreibt an den Hauptvorstand der Deutschen Postgewerkschaft:
Im Gegensatz zu den Äußerungen des Bundesministers für Post und Telekommunikation halten wir
- wer ist „wir"? -
eine untere Grenze für eigenbetriebene Filialen weder für politisch erforderlich noch für die Erfüllung des Infrastrukturauftrages für notwendig.
Da haben wir zum Beispiel Frau Blank und die Postkundenschutzverordnung: Am 8. März haben Sie sich hier noch ausdrücklich zu ihr bekannt; heute haben Sie sie in Frage gestellt.
Dann haben wir den Staatsminister beim Bundeskanzler, Herrn Pfeifer. Er bestätigt die Aussagen des Postministers von 1993 in einem Schreiben von Anfang April dieses Jahres.
Wie gesagt, in der Antwort auf unsere Anfrage vom gleichen Zeitpunkt fehlt die Aussage des BMPT zu dieser Sache. Deswegen haben wir unseren heutigen Antrag gestellt. Da steht eigentlich nur das drin, worüber bisher, so haben wir geglaubt, in diesem Haus eigentlich Einigkeit bestand.
Deswegen brauchen wir endlich einen Beschluß des Parlaments. Wir wollen dem Minister den Rükken stärken für seine überfälligen Hausaufgaben: für das mehrfach angekündigte Filialkonzept der Post AG und dessen Überprüfung und Optimierung im Sinne des Grundgesetzes, für die Klärung der Schalterkooperation und der Kapitalverflechtung von Postbank und Post AG.
Dazu muß man noch folgendes anmerken: Wir hätten gerne Geduld in dieser Frage gezeigt, Frau Blank, aber mit jeder geschlossenen Filiale werden neue negative Fakten geschaffen. Mit jedem Tag der Verzögerung werden die eigenen Strategien und Handlungen der getrennten Unternehmen auf getrennten, ja gegensätzlichen Wegen durchgesetzt. Mit jedem Tag der Verzögerung und des Dahinwurstelns entwerten sich die beiden Unternehmen selbst, vor allem in den Augen ihrer möglichen Kooperationspartner.
Man muß auch darauf hinweisen, daß die Frage der Kapitalverflechtung freigehalten werden muß von sachfremden Erwägungen. Wer die Postbank meistbietend verscheuern will, gerät zwangsläufig in Widerspruch zu postpolitischen Zielen. Deswegen muß den Begehrlichkeiten des Finanzministeriums beim Stopfen der Haushaltslöcher Einhalt geboten werden
und ein Weg gesucht werden, den Infrastrukturauftrag zu stützen statt zu stören.
Wir wollen dem Minister den Rücken stärken bei der Frage der Existenzsicherung der früheren Postunternehmen gegen die Zeitbombe der Pensions-
Klaus Barthel
lasten. Verheimlichen Sie dieses Problem doch nicht länger! Klären Sie es, damit diese bisher unterschätzten Lasten nicht die Arbeitsplätze, die Investitionen und die Infrastruktur gefährden!
Wir wollen dem Minister den Rücken stärken gegenüber den Vorständen von Post AG und Postbank AG.
Wenn Sie nicht endlich klare Vorgaben machen und vor allem diese durchsetzen, werden die weitermachen wie bisher. Sie müssen endlich deutlich machen, daß die Unternehmen öffentliches Eigentum sind und daß es um das vergangene, das jetzige und das zukünftige Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geht und nicht um die Portokasse von Herrn Zumwinkel und Herrn Schneider.
Mit welchem Recht wollen Sie sich eigentlich über Vandalismus gegen Telefonzellen aufregen, wenn Sie es zulassen, daß die Unternehmen von oben her, von ihren leitenden Angestellten, demontiert werden und die Bundesregierung Schmiere steht?
Wir wollen der Bundesregierung insgesamt den Rücken stärken für die Diskussion auf europäischer Ebene; das haben Sie angesprochen. Wir haben nämlich den Eindruck, daß Sie offensichtlich immer dann, wenn es um die Interessen unserer Postunternehmen geht, auf europäischer Ebene schlechte Karten haben. Wir stellen fest, daß es dort Liberalisierungsfans gibt, für die das Remailing den Höhepunkt des fairen Wettbewerbs darstellt, und daß sie keinen ernsten Widerstand der Bundesregierung in dieser Frage zu verspüren haben. Im Gegensatz dazu stellen wir fest, daß das Engagement und der Erfolg der Bundesregierung immer dann gewaltig sind, wenn es um das Herunterschrauben des Universaldienstes, des reservierten Bereiches und um die Durchsetzung der asymmetrischen Regulierung geht.
Da wir aber nicht so naiv sind, an die höhere Gewalt vom blauen Sternenhimmel der EU zu glauben, sind wir sicher, daß die Bundesregierung ihren Einfluß bisher entweder zu wenig oder in falscher Richtung nutzt oder sogar beides. Eines wissen wir auch sicher: Die EU geht im Postbereich eindeutig von der Finanzierungsnotwendigkeit eines Universaldienstes, also auch der Filialen, aus, also gerade nicht davon, daß der Markt alles regelt. Während sich die Bundesregierung in anderen Fällen, zum Beispiel bei der Telekommunikation, in vorauseilendem Gehorsam übt, schwimmt sie im Postbereich gegen den europäischen Strom. Das läßt uns doch aufhorchen.
Deshalb wollen wir ein Überdenken des Entwurfs eines Postgesetzes herbeiführen. Es hat uns nämlich alarmiert, was der Minister bei seiner Pressekonferenz am 8. Mai gesagt hat. Er hat festgestellt - ich zitiere ihn wörtlich -:
Durch das neue Postgesetz sollen ein unserer Wirtschaftsordnung entsprechender Regulierungsrahmen für den Postsektor geschaffen und das teilweise über 100jährige Monopol möglichst rasch abgebaut werden. Denn die mit dem Monopol einhergehende Einschränkung der Berufs- und Gewerbefreiheit ist aus verfassungsrechtlichen und ordnungspolitischen Gründen nicht akzeptabel.
Er hat diese Vorstellung sinngemäß wiederholt.
Wir sind von diesem Verständnis unserer Verfassung und unserer Wirtschaftsordnung sehr beeindruckt und stellen fest, welches Zeugnis er der Postpolitik seiner Vorgänger, also auch der früheren Minister Dollinger und Stücklen nebst der Kanzler Adenauer und Erhard ausstellt. Wenn wir jetzt sagten, daß sie eine andere Republik wollten, dann wollen wir nicht wissen, was Sie uns dann entgegneten.
Alles zusammen ist diese Aussage angesichts Ihrer bisherigen Aktivitäten relativ kühn. - Ich muß jetzt leider einiges aus meinem Manuskript auslassen, weil meine Redezeit vorbei ist.
Sie müssen jetzt wirklich aufhören.
Ja. - Wir können nur hoffen, daß Sie es sich noch einmal überlegen und unserem Entschließungsantrag doch noch zustimmen, damit wir auf dieser Grundlage im Ausschuß gemeinsam beraten können, wie wir den Entschließungsantrag, den wir hier vorgelegt haben, praktisch umsetzen können und eine Finanzierung der Postfilialen in Zukunft sicherstellen können.
Jetzt hat der Kollege Elmar Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer das Netzwerksystem der SPD und der Gewerkschaften bisher nicht kannte, findet es durch den Kollegen Barthel bestätigt. Man schreibe einen Brief an den hochverehrten Herrn Vorsitzenden der Postgewerkschaft, Herrn van Haaren, man weiß, daß der Obersozi van Haaren diesen Brief postwendend der Fraktion der SPD zukommen läßt, und man weiß, daß er dann gelesen wird. Damit spart man natürlich Kopien, und ich werde das weiterhin so nutzen.
Elmar Müller
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was wir in der Debatte im März dieses Jahres erlebt haben, setzt sich hier in einer Art Dauerlutscher fort: Die SPD nennt ein Thema und versucht, sich an diesem Thema hochzuhangeln. Wir sind mitten in der Vorbereitung eines Gesetzes, nämlich des Postgesetzes, das unter anderem auch diese beiden Themen berühren wird.
Ich möchte vorweg zwei Sätze zu Ihren beiden Anträgen und dazu sagen, weshalb wir diesen Anträgen nicht zustimmen können. Zum Antrag zu den Postfilialen. Herr Kollege Bury, der letzte Absatz Ihres Antrags lautet sinngemäß, daß der Postminister sofort einschreiten soll, um jede weitere Schließung von Postfilialen zu verhindern. Wir haben gemeinsam, auch mit Ihnen, vor zwei Jahren die drei Unternehmen der Post privatisiert. Das einzige, bei dem der Postminister Möglichkeiten hat, einzugreifen, ist die Kundenverordnung, die wir gemeinsam im Regulierungsrat verabschiedet haben. Solange gegen diese Kundenverordnung nicht verstoßen wird - das ist in diesen Fragen nicht der Fall -, hat der Postminister auch keinerlei Einwirkungsmöglichkeit. Wir denken, das sollte auch so bleiben. Wir haben die Unternehmen der Post nicht umsonst privatisiert. Sie sollen auch dafür sorgen, daß das Unternehmen insgesamt wettbewerbs- und ertragsfähig wird.
Zweitens: Ihr Antrag zum Remailing. Der Postminister hat es Gott sei Dank ausführlich geschildert: Mit keinem Wort - das zeigt die Oberflächlichkeit Ihres Antrags - gehen Sie in Ihrem Antrag auf den Unterschied zwischen Physical Remailing und Nonphysical Remailing ein. Dies aber ist die Voraussetzung, die begriffen werden muß, um gegen Remailing insgesamt vorgehen zu können.
Denn das, was wir unter dem Begriff Remailing, also Physical Remailing, verstehen, ist unbestritten, wenn es angewandt wird, ein Verstoß gegen den Art. 25 des Weltpostvertrages. Im Falle des - darüber streiten wir uns - Non-physical Remailing sind Gerichte, aber - das sei zugegeben - auch die Europäische Union, unterschiedlicher Auffassung.
Ich will eines an dieser Stelle ausdrücklich begrüßen. Während wir seit Monaten den Versuch unternehmen, mit den Kollegen, die im Europaparlament in diesen Fragen mitverantwortlich sind, zu reden und gemeinsam vorzugehen, haben Sie nichts getan. Endlich haben wir heute nachmittag zusammengesessen, um einen gemeinsamen Termin in Brüssel zu vereinbaren. Ich denke, dies ist im Grunde genommen zu spät. Ich bin deshalb außerordentlich dankbar, daß die EVP-Fraktion, also die Fraktion der Christdemokraten, am 2. Mai dieses Jahres in einem Änderungsantrag zur entsprechenden Richtlinie der Europäischen Kommission erreicht hat, daß die Europäische Kommission ihre Richtlinie genau in der Richtung verändert, in der Sie ihren Antrag jetzt im Grunde genommen überflüssig stellen, und dort hineinzuschreiben, daß die Frage des Remailings durch die Initiative der Postminister der Europäischen Union durch ein kostengerechtes Verfahren gelöst wird, und zwar so lange, bis Art. 25 des Weltpostvertrages greift. Das ist, soweit ich weiß, bis über das Jahr 2000 hinaus. Wir brauchen eine Übergangsregelung. Die EVP-Fraktion im Europäischen Parlament hat dies geschafft.
Ich möchte das, was wir zu diesen beiden Anträgen der SPD zu sagen hatten, damit beenden. Beide Anträge sind, Herr Kollege Bury, überflüssig. Der Entschließungsantrag zu den Postfilialen ist überflüssig, weil wir im März ausführlich darüber geredet haben, der andere Antrag ist überflüssig, weil wir uns in den nächsten Monaten darüber unterhalten werden. In einem Fall gebe ich Ihnen gerne recht. Es handelt sich um die ungelöste Frage der Finanzbeziehungen zwischen beiden Unternehmen. Es ist Aufgabe der Regierung, hier möglichst schnell eine Lösung zu finden.
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne darf ich die Kollegen auch von der Regierungsseite sehr herzlich bitten, den Antrag zu den Postfilialen als überflüssig abzulehnen. Den anderen Antrag überweisen wir lediglich als Arbeitsmaterial dorthin, wo er hingehört.
Ich bedanke mich herzlich.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4696. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD zur Unterbindung des Remailing auf Drucksache 13/4448 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Großen Anfrage der SPD, Drucksache 13/4662, ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/4001 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Erste Beratung des von dem Abgeordneten Gerald Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aussetzung der Diätenerhöhung für Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments
- Drucksache 13/4667 -
Überweisungsvorschlag:
Ältestenrat
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerald Häfner.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor sehr kurzer Zeit hat der Herr Bundeskanzler in diesem Hause dazu aufgefordert, sich gemeinsam vor Augen zu halten, in welchen Notwendigkeiten dieses Land gegenwärtig steht, und daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Niemand, so hieß es, dürfe vom Sparen ausgenommen werden; alle hätten ihren Beitrag zu leisten. Die Bürger seien bereit, hat dann der Bundesfinanzminister erklärt, ihren Beitrag zu erbringen, weil sie sich „der Verantwortung ... für das Gemeinwohl und für die nächste Generation durchaus bewußt" seien.
Die Bürger mögen vielleicht bereit sein, meine Damen und Herren; allerdings glaube ich, daß sie sehr viel eher bereit wären, wenn sie das Gefühl hätten, daß auch gerecht gespart wird, auf allen Seiten gleichermaßen.
Noch mal: Die Bürger mögen vielleicht bereit sein. Die Frage ist: Sind wir es auch? Das ist eine Frage, die wir als Politiker nicht nur aushalten, sondern die wir uns selbst auch immer wieder stellen müssen: Sind wir bereit, das, was wir anderen abverlangen, auch von uns selbst zu verlangen? Damit steht und fällt die Glaubwürdigkeit der Politik.
Ich glaube deshalb, daß wir in diesem Jahr Anlaß haben, über die Frage der Diätenanpassung erneut nachzudenken, obwohl im letzten Jahr mit großer Mehrheit hierzu eine Entscheidung ergangen ist.
Meine Fraktion hat hierzu einen Gesetzentwurf eingebracht, und zwar, wie Sie alle wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, schon vor vielen Wochen. Wir sind der Meinung, daß es in einer Zeit, in der in den öffentlichen Haushalten dramatische Ebbe herrscht, in der immer mehr öffentliche Einrichtungen geschlossen und Arbeitskräfte abgebaut werden, in der die Wirtschaft überall zu Einsparungen und oft auch Entlassungen gezwungen ist, in der die Einkommen eines Großteils der Bevölkerung real nicht mehr steigen, sondern sinken, in der von seiten des Bundes und der Länder sogar lauthals eine Nullrunde im öffentlichen Dienst gefordert wird, und in der die Bundesregierung ein Paket dramatischer Sparaktionen vorlegt, durch die zum Beispiel die Rentensumme für die Bezieher durch eine Heraufsetzung des Rentenalters real deutlich gemindert oder auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gemindert werden soll, daß es in einer solchen Zeit äußerst unsensibel, unklug und unverantwortlich wäre, wenn ausgerechnet unsere eigenen Bezüge, die Abgeordnetendiäten, von diesem allseitigen Sparen ausgenommen werden sollten.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß wir unsere Diäten zum Ende des vergangenen Jahres - genauer gesagt: im Oktober des vergangenen Jahres - bereits um fast 1 000 DM pro Monat heraufgesetzt haben. Jetzt sollen sie zum 1. Juli noch einmal um monatlich 525 DM steigen.
Das paßt nun wirklich nicht in die aktuelle politische Landschaft und ist nicht vermittelbar. Wenn wir als Mitglieder dieses Parlaments dies nicht rechtzeitig erkennen und nicht eine gemeinsame Lösung finden - das ist jedenfalls unser Wunsch und Anspruch -, wäre dies zum Schaden für das gesamte Parlament.
- Ich war ursprünglich dahin gehend informiert, daß die Fraktion der Grünen wegen der Einbringung unseres eigenen Gesetzentwurfes zehn Minuten Redezeit habe. Deswegen meine Rücksprache.
- Dann bin ich falsch informiert, bitte um Entschuldigung und muß meine Rede dramatisch abkürzen.
- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nun hören Sie doch diesen einen Moment noch zu!
Wir haben unseren Gesetzentwurf schon sehr früh vorgelegt, ihn aber lange Zeit nicht eingebracht, weil wir mit allen Fraktionen des Hauses das Gespräch gesucht und vorgeschlagen haben, dies zu einer gemeinsamen fraktionsübergreifenden Initiative zu machen. Wie Sie wissen, sah es auch lange Zeit so aus, als ob dies zustande käme. Es hat Wochen und Wochen gedauert und ist dann immer wieder verschoben worden.
Gerald Häfner
Inzwischen ist es so spät, daß wir - wie Sie, Herr Schmidt, wissen - die für die Gesetzgebung zwingend zu beachtenden Fristen kaum noch einhalten können. Wir werden sie sogar nur noch dann einhalten können, wenn allseitig auf Fristeinrede verzichtet wird, um überhaupt noch etwas Verbindliches vor dem automatischen Inkrafttreten am 1. Juli beschließen zu können.
Ich freue mich - das will ich deutlich sagen -, daß nun plötzlich rege Betriebsamkeit ausgebrochen ist, daß heute zum Beispiel bereits zum erstenmal die Rechtstellungskommission getagt hat, daß es also doch gelungen ist, endlich das Nachdenken in allen Fraktionen zu intensivieren. Und ich hoffe noch immer, daß wir uns in dieser Frage zu einem gemeinsamen Vorgehen durchringen können. Das würde dem Hause insgesamt gut anstehen.
Wir haben in unserem Gesetzentwurf deshalb bewußt auf all das verzichtet, was eigentlich eigene grüne Positionen gewesen waren, zum Beispiel auf unseren Vorschlag der Orientierung der Diätenanpassung an der allgemeinen Einkommensentwicklung statt der Orientierung an den Richtergehältern. Wir haben auf diese Dinge verzichtet, weil wir bewußt einen Entwurf vorlegen wollten, der in allen Fraktionen des Hauses konsensfähig ist.
Dieser Entwurf liegt Ihnen nun vor. Wir bitten um Beratung, bitten um Ihre Zustimmung und hoffen nach wie vor sehr, daß es in dieser Frage zu einer gemeinsamen Geste des Hauses kommt.
Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Conradi das Wort.
Herr Abgeordneter Häfner, ich habe Verständnis dafür, daß die Führung der Koalitionsfraktionen sich darum bemüht, die soziale Schieflage ihres Sparpakets - das, was man sonst als Grausamkeiten bezeichnet - mit einem Ausweichmanöver, mit einem Palliativ für die Öffentlichkeit abzudecken, indem sie sagt: Die Abgeordneten werden ja auch einbezogen; bei denen wird auch ein bißchen gespart. Wenn ich zur Führung der Koalitionsfraktionen gehörte, würde ich das bei einem so schlimmen Paket auch so machen. Ich muß ausdrücklich sagen: Es ehrt die CDU/CSU-Fraktion, daß es in ihr einige Abgeordnete gibt, die diesem opportunistischen und durchsichtigen Vorgehen widersprechen.
Was ich nicht ganz verstehe, ist die Haltung Ihrer Fraktion. Heute morgen haben Sie nachdrücklich die soziale Schieflage dieses Sparpakets beklagt und angekündigt dagegenzustimmen. Heute abend treten Sie hier auf und helfen der Koalitionsfraktion - jedenfalls ihrer Führung - zu einem lächerlichen, opportunistischen und populistischen Ablenkungsmanöver.
Ich habe großes Verständnis dafür, daß in der Öffentlichkeit gesagt wird: Auch die Abgeordneten haben angesichts dessen, was da geschieht, ihren Teil beizutragen. Auch die höheren Einkommen sollen mit einbezogen werden.
Verehrter Herr Kollege, dann bringen Sie aber doch einen Vorschlag ein, der Fleisch und Knochen hat, das heißt einen Vorschlag, wie man zum Beispiel durch eine Erhöhung des Solidaritätszuschlages für eine befristete Zeit auf die Einkommen der Abgeordneten und der Besserverdienenden zugreift. Das bringt dann möglicherweise ein paar Milliarden DM ein und nicht die lächerlichen 6 Millionen DM, für die Sie hier eine populistische Show abziehen, die dem Ernst der Sache und der Würde dieses Hauses nicht entspricht.
Wenn Sie dazu bereit wären, dann würde ich Ihren Worten eher glauben. Aber nach dem, was Sie hier vorgetragen haben, war das nur Show.
Möchten Sie antworten? - Bitte.
Herr Abgeordneter Conradi, ich möchte Ihnen gern eine Antwort hierauf geben.
Zunächst einmal zu Ihrer eingangs gemachten Unterstellung: Es ist nicht unsere Aufgabe und auch alles andere als unsere Absicht, das in unseren Augen sozial in völliger Schieflage befindliche sogenannte Sparprogramme der Bundesregierung durch einen Antrag zu den Diäten in irgendeiner Weise zu kaschieren oder gar zu stützen.
Wir sind nämlich, lieber Herr Kollege Conradi, anders als die Koalition und die Bundesregierung, der Meinung, daß das Sparen gerade nicht unten, sondern oben zu beginnen hat. Und „oben" heißt auch: bei uns, lieber Herr Conradi.
„Oben" heißt selbstverständlich zum Beispiel auch: beim Bundeskanzler und bei den Ministern. Das ist meine feste Überzeugung.
- „Oben" heißt vor allem auch: bei allen weiteren Beziehern hoher Einkommen, über die hier im Parla-
Gerald Häfner
ment zu verhandeln uns nicht ansteht. Ich bin ebenfalls der Meinung, daß viele Einkommen, die zum Beispiel für Posten in Vorstandsetagen der deutschen Industrie gezahlt werden, deutlich überhöht sind, und fände es erfreulich, wenn es ähnlich wie in Japan und in anderen Ländern auch hier zu deutlichen Kürzungen käme. Das liegt nicht in unserer Hand.
- Über die Einkommen in der Wirtschaft zu befinden liegt nicht in unserer Hand.
Was wirklich in unser Hand liegt, sind die eigenen Einkommen. Insofern, verehrter Herr Conradi, kann ich Ihre Einlassung nicht ganz verstehen. Denn gerade wer die soziale Schieflage des Sparpakets beklagt, sollte mit den diesbezüglichen Erkenntnissen bei sich selbst beginnen.
Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen. Hätten wir eine populistische Kampagne vorgehabt, dann hätten wir uns anders verhalten; dann hätten wir mit Ihnen nicht wochenlang verhandelt und versucht, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Jetzt legen wir offiziell vor, was zuvor schon Gegenstand dieser gemeinsamen Verhandlungen war und zunächst einmal von großen Teilen Ihrer Fraktionen mitgetragen worden ist. Wir haben ja all das herausgenommen, was von Ihrer Seite angeblich oder wirklich nicht mitgetragen werden konnte. So haben wir euch nur noch das vorgelegt, von dem uns signalisiert wurde, es könne fraktionsübergreifend mitgetragen werden. Uns jetzt vorzuwerfen, dieser Antrag der Grünen enthalte zuwenig, das finde ich, wenn man den Hintergrund der Debatte kennt, in der Tat einigermaßen merkwürdig.
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Häfner, Sie sind ein leuchtendes Beispiel dafür, wie weit Anspruch und Wirklichkeit, Handeln und Reden auseinanderklaffen können. Sie stellen sich hier hin und sagen: Es ist gut, daß die Rechtsstellungskommission zusammengetreten ist. Allerdings habe ich heute morgen in der „taz" von Ihnen gelesen, die Einschaltung der Rechtsstellungskommission diene nur dem Zweck, irgend etwas zusammenzuschustern, was den Eindruck einer Spargeste mache, aber niemandem weh tue. Herr Häfner, entweder begrüßen Sie, daß die Rechtsstellungskommission zusammentritt, oder Sie diskreditieren die Rechtsstellungskommission, deren Mitglied Sie sind, im Vorfeld, ohne zu wissen, was dort heute behandelt worden ist.
Diese klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit müssen Sie, Herr Häfner, sich zurechnen lassen. Dies will ich hier sehr deutlich zum Ausdruck bringen.
Herr Häfner, ich werfe Ihnen und Ihrer Fraktion ganz konkret vor: Es geht Ihnen nicht um die Sache; es geht Ihnen um reinen Populismus, um reine Medienhascherei. Denn wenn es Ihnen um die Sache gegangen wäre, dann wären Sie bereit gewesen, heute zunächst die Debatte nur in der Rechtsstellungskommission zu führen. Nein, darum geht es Ihnen nicht; Ihnen geht es um ein Medienereignis, um Populismus und um nichts anderes.
Übrigens entspricht das, Herr Kollege Häfner, dem Verhalten Ihrer Fraktion. Sie wissen, daß es ein vertrauliches Sondierungsgespräch der Fraktionsvorsitzenden gegeben hat. Ihre Fraktion war es, die vertraulich gesprochene Worte in der Presse lanciert hat,
um aus populistischen Gründen einen kurzfristigen Medienvorteil zu erheischen.
Herr Kollege Häfner, ich sage Ihnen ganz deutlich: Ihnen und Ihrer Fraktion ist eine schnelle Agenturmeldung wichtiger als kollegiales Verhalten.
Herr Kollege Häfner, ich muß Sie leider weiter angreifen, weil in meinen Augen wirklich unglaublich ist, was Sie heute gemacht haben. Sie sind heute verspätet in die Sitzung der Rechtsstellungskommission gekommen. Als Sie hereinkamen, hatte ich bereits meinen persönlichen Vorschlag, den ich gleich noch einmal erläutern werde, kundgetan. Um 18.16 Uhr wurde von der Agentur Reuter eine Meldung herausgegeben, in der Sie zitiert werden und aus der nichtöffentlichen Rechtsstellungskommission berichten.
Sie, Herr Häfner, haben der Agentur erzählt, welchen Vorschlag ich in der Rechtsstellungskommission gemacht habe; diesen haben Sie zudem noch falsch dargestellt.
Dies ist in der Tat ein unglaubliches Verhalten. Ich muß Ihnen sagen: Ich sehe keine Basis mehr, um mit Ihnen in der Rechtsstellungskommission vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.
Sie sind in der gesamten Diskussion nicht glaubwürdig - auch das müssen Sie und Ihre Fraktion sich gefallen lassen -, wenn Sie zwar kritisieren, aber auch immer kassieren.
Andreas Schmidt
Sie sollten sich überlegen, wie Sie die Diskussion in Zukunft führen wollen.
Jetzt aber zur Sache: Im Dezember 1995 haben wir in diesem Haus, im Deutschen Bundestag, mit großer Mehrheit gemeinsam ein Gesetz beschlossen
- ich weiß, die PDS war dagegen -, mit dem Ziel, ein Verfassungsgebot zu erfüllen, nämlich für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine angemessene Entschädigung sicherzustellen.
Dabei handelt es sich nicht um die Teilnahme an der normalen Einkommensentwicklung, sondern um das Aufholen eines tatsächlichen Einkommensrückstands. Ich will daran erinnern, daß die Kissel-Kommission, eine unabhängige Kommission, bereits für 1995 festgestellt hat, daß die angemessene Entschädigung für Abgeordnete 14 000 DM betragen müßte.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seiffert?
Bitte schön.
Herr Kollege Schmidt, können Sie sich erklären, daß die Grünen in Baden-Württemberg in diesen Tagen einer Diätenerhöhung von 10,3 Prozent zugestimmt haben?
Das zeigt, wie widersprüchlich das Verhalten ist, wie groß die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist.
Ich würde mich freuen, wenn die Grünen im Deutschen Bundestag auch dieses Thema, das sensibel für den Parlamentarismus ist, in großer Verantwortung behutsam behandelten.
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal darauf hinweisen: Seit 1977 gab es für die Bundestagsabgeordneten neun Nullrunden. Wenn wir die gleichen Anpassungsschritte gehabt hätten, wie sie bei den Renten erfolgten, würden die Diäten heute 13 657 DM betragen. Deswegen betone ich noch einmal - ich habe dies schon öfter von diesem Pult aus gesagt -: Ich halte die Anpassungsschritte mit dem Ziel, 1998 eine Diät in Höhe von 12 875 DM zu erreichen, für dem Verfassungsgebot der angemessenen Entschädigung entsprechend.
Ich will, damit in der Öffentlichkeit nichts Falsches dargestellt wird, meinen Vorschlag, den ich in der
Rechtsstellungskommission gemacht habe und der von Herrn Häfner offensichtlich an eine Agentur weitergegeben worden ist - dieser Eindruck muß sich zumindest aufdrängen -, wiederholen: Ich bin dafür, daß das Abgeordnetengesetz vom Dezember 1995 in der Substanz nicht angetastet wird.
Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß sich das Parlament von innen oder außen beliebig manipulieren läßt. Gleichzeitig aber sage ich, daß wir uns auch hinsichtlich der schwierigen finanz- und wirtschaftspolitischen Situation in der Bundesrepublik Deutschland der Verantwortung stellen müssen.
Herr Conradi, es geht hier nicht um das Kaschieren einer falschen Politik, sondern darum, die richtige Politik dieser Bundesregierung und der Regierungsfraktionen zu bestätigen und unseren Beitrag dazu zu leisten.
Deswegen schlage ich vor, das Gesetz vom Kern her nicht anzutasten. Wir müssen unseren Beitrag leisten, indem wir gesetzlich festlegen, daß wir auf die Auszahlung der schrittweise erhöhten Diäten für ein Jahr verzichten.
- Dann, Herr Kollege Catenhusen, wären wir wieder bei dem, was das Gesetz vorschreibt. Dann würden wir im Jahre 1998 Diäten in Höhe von 12 875 DM erreichen, was ich für angemessen halte.
Ich finde, wir sollten auch den Mut haben, von diesem Gesetz in der Sache nicht abzuweichen, meine Damen und Herren.
Ich finde, nachdem ich diesen Vorschlag hier noch einmal unterbreitet habe, sollten wir die Frage sehr sachlich und mit dem nötigen Verantwortungsbewußtsein diskutieren.
Meine Damen und Herren, es besteht natürlich immer die Gefahr, daß diese Diskussion und dieses Thema bewußt von Leuten in diesem Haus, aber auch von draußen als Keule gegen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mißbraucht werden. Die Gefahr ist immer sehr groß, daß sich diese Keule sehr schnell auch zu einem Knüppel gegen den deutschen Parlamentarismus entwickeln kann.
Deswegen warne ich vor dem Populismus der Grünen und werbe dafür, daß wir die Sache mit dem notwendigen Verantwortungsbewußtsein in diesem
Andreas Schmidt
Haus, aber auch in der Rechtstellungskommission diskutieren und dann schnell entscheiden.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält zunächst der Abgeordnete Eylmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ginge es nur um einen Aufschub um zehn Monate und damit um 5 000 DM, bräuchten wir nicht lange zu reden. Aber wer in diesem Hause und auch draußen in der Bevölkerung ist so naiv, anzunehmen, daß im nächsten Frühjahr die Grünen nicht mit einem neuen Antrag kämen?
Wenn Sie, Herr Häfner, das bestreiten, erklären Sie doch bitte hier und heute - vor drei Wochen haben Sie etwas ganz anderes gesagt -, daß Sie dann im nächsten Frühjahr keinen neuen Antrag stellen würden.
Das werden Sie nämlich nicht tun, obwohl jeder in diesem Hause weiß, daß die Strukturschwächen, die uns zu Einschränkungen zwingen, nicht in diesem Jahr überwunden sind, sondern dazu ein Zeitraum von drei bis vier Jahren benötigt wird.
Auch im Jahre 1998 wird ein Antrag kommen. Wenn der Bundestag den ersten Schritt tut, wird er im nächsten und übernächsten Jahr die . weiteren Schritte tun. Das sollte jeder in diesem Hause wissen.
In Hessen - leider ist Joschka Fischer, das Sinnbild parlamentarischen Sparwillens, hier nicht zugegen, sonst würde ich ihm gerne einmal einige Zahlen nennen betrugen die Amtsbezüge des Regierungschefs 1977 12 382 DM, am 1. Mai 1995 22 902 DM. Das entspricht einer Steigerung um 85 Prozent.
Nehmen wir Rheinland-Pfalz, um die F.D.P. nicht auszusparen:
Am 1. Januar 1977 bezog der Chef der Regierung 12 342 DM, jetzt 21 875 DM. Das entspricht einer Steigerung um 77,2 Prozent. Unsere Steigerung liegt bei 38 Prozent.
Jetzt frage ich die Grünen und die F.D.P., wann die Herren Justizminister Caesar und von Plottnitz ihren
Sparbeitrag erbringen werden, den wir in den letzten Jahren bereits erbracht haben.
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Oswald Metzger das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine Richtigstellung zur Aussage des Kollegen Seiffert in seiner Zwischenfrage, was die Bezüge in BadenWürttemberg betrifft.
In Baden-Württemberg ist im letzten Jahr zwischen allen Landtagsfraktionen mit Ausnahme der Republikaner eine stufenweise Erhöhung mit den Stimmen der Grünen verabredet worden,
die am 1. Juni dieses Jahres in Kraft tritt. Der neue Landtag konstituiert sich am 11. Juni. Die Erhöhung wurde in einem Zeitpunkt verabredet, als diese Koalition noch den Konjunkturaufschwung beschrieb.
Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU, der
SPD und der F.D.P. - Dr. Guido Westerwelle
[F.D.P.]: Wenn Sie weiter so reden, ändere
ich noch meine Meinung!)
Dabei wird die Aufwandsentschädigung - -
- Hören Sie doch zu, meine Damen und Herren!
- Herr Dr. Westerwelle, beruhigen Sie sich! Dabei wird die Aufwandsentschädigung in dem Ausmaß gekürzt, wie die Erhöhung stattfindet.
- Das stimmt.
Mein Ratschlag an die Kollegen in Baden-Württemberg wäre, das Thema Diätenerhöhung im Lichte der jetzigen Sparbeschlüsse neu zu diskutieren.
Meine Damen und Herren, die Diskussion, die jetzt läuft, finde ich moralisch absolut absurd.
Sie haben Glück, daß wenige Fernsehkameras eingeschaltet sind. Daß es Opportunismus sein soll - dieser Eindruck wird hier von den Koalitionsfraktionen und der SPD erweckt -, eine Erhöhung um über 500 DM zum 1. Juli und die im nächsten Jahr zu verschieben, während Sie gleichzeitig den Beschäftigten eine Nullrunde zumuten und die Lohnfortzahlung abbauen, leuchtet mir in keinster Weise ein.
Oswald Metzger
Es gibt Glaubwürdigkeit in der Politik, die sich gerade an dem Punkt festmacht, wie man mit der eigenen Interessenlage umgeht.
Derzeit läuft im öffentlichen Dienst eine Tarifauseinandersetzung, die sich heute zuspitzt. Wir sitzen hier und genehmigen uns einen Schluck aus der Pulle, der so trotz der beschlossenen Gesetze nicht nachvollziehbar ist. Ich bin ein Stückweit entsetzt. Sonst akzeptiere ich durchaus, daß wir um unsere gerechte Entlohnung kämpfen. Ich gehöre nicht zu den Pharisäern - -
- Ihre Zwischenrufe machen das Ganze nicht besser. Das zeigt im Prinzip eher Ihre Selbstbedienungsmentalität.
Eine ehrliche Auseinandersetzung ist erforderlich. Wir befinden uns derzeit in einem gesellschaftlichen Klima, das sich ganz erheblich von dem im letzten Sommer und Herbst unterscheidet, als das jetzige Gesetz diskutiert und verabschiedet wurde.
Ich halte unsere Bezahlung für unterdurchschnittlich. Um das ganz deutlich zu sagen: Ich gehöre nicht zu denen in unserer Fraktion, die den Eindruck erwecken, daß Abgeordnete nur auf Geldsäcken sitzen und zu gut bezahlt sind. Für gute Arbeit gehört ein Parlamentarier bezahlt.
Aber ich bin genauso wie Sie angesichts der jetzigen Spardiskussion für ein Zeichen, indem wir endlich - da treffen wir uns wieder ein Stück weit - die Aussetzung dieser Erhöhung wenigstens nach außen vertreten.
Ich bin froh, daß Sie jetzt wenigstens in der letzten Minute meiner Stellungnahme zuhören, damit Sie merken, daß es auch differenzierende Positionen gibt. Diese blanke Zuordnung von Opportunismus geht mir einfach gegen den Strich.
Ihre Redezeit ist jetzt vorbei. Kurzinterventionen dauern drei Minuten.
Das muß gesagt werden, und wenn es nachts um 22.05 Uhr ist.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wilhelm Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir uns im vorigen Jahr dreimal über dieses Thema in diesem Haus auseinandergesetzt hatten und in der Öffentlichkeit mit einem unglaublichen Hin und Her uns immer wieder hatten maßregeln lassen, diskutierend bewegen und vielleicht im Einzelfall auch niedermachen lassen müssen, da habe ich, ehrlich gesagt, am Ende der ganzen Debatte geglaubt: Es war schlimm, es war schwierig, aber es war jetzt auch genug.
Und was passiert? Wir stehen heute wieder hier.
Wir lassen uns wieder von der Öffentlichkeit gewissermaßen vor uns hertreiben. Wir werden an dieser Stelle wieder dazu gebracht, uns mit den Grundsätzlichkeiten der parlamentarischen Tätigkeit und ihrer angemessenen Bezahlung auseinanderzusetzen, die nicht nur im Grundgesetz festgehalten sind, sondern auch an vielen Stellen unumstritten waren. Im vergangenen Jahr haben wir mit der großen Mehrheit dieses Hauses eine, wie wir fanden, ordentliche Regelung zustande gebracht.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muß bekennen: Heute hier zu stehen ist wirklich kein motivierender Faktor.
Aber ab und zu muß man vielleicht einen Teil unserer Entschädigung als Schmerzensgeld ansehen - warum eigentlich nicht?
Meine Damen und Herren, es kommt jetzt darauf an: Wir müssen den Ausgangspunkt der jetzt erneut in Gang gekommenen Debatte, wie ich finde, deutlich machen und vielleicht sogar entlarven - entlarven nämlich als einen zutiefst populistischen Ansatz, dessen Herkunft von den Grünen mich doch ab und zu wundert. Das kam schon mit der Kurzintervention des Kollegen Conradi zum Ausdruck. Ich will es von hier aus für mich bekräftigen.
Sie unterstützen mit der Art und Weise Ihres Vorgehens das Regierungsprogramm mit den ganzen Kürzungsschweinereien, die zur Zeit im Gespräch sind.
Wir werden nicht dafür sorgen, daß davon abgelenkt wird. Dafür werden wir Ihnen nicht die Hand reichen, sondern wir werden dafür sorgen, daß mit der Diätendebatte bald Schluß ist, damit wir uns entsprechend auf die Kürzungsprobleme konzentrieren können, die für viele Millionen Menschen in diesem Lande mit einem Umfang von vielen Milliarden D-Mark in diesen Tagen auf den Weg gebracht worden sind und die in einem unglaublichen Mißverhältnis zu dem stehen, was wir heute in der Diätenfrage auf dem Tisch haben: 6 Millionen gegen ungefähr 50 Milliarden DM oder wahrscheinlich noch viel mehr.
Ich kann Ihnen nur sagen: Dies ist nicht nur schlechter politischer Stil, sondern auch inhaltlich völlig daneben, meine Damen und Herren von den
Wilhelm Schmidt
Grünen. Da kann auch die Intervention von Herrn Metzger überhaupt nichts beschönigen und begleichen. Das, was Herr Häfner heute in der Rechtsstellungskommission gemacht hat, ist, wie ich finde, mit Ausdrücken zu bezeichnen, die wir in dieser Runde wenigstens als unkollegial betrachten müssen.
Ich habe Ihnen, Herr Häfner, heute nachmittag in der Rechtsstellungskommission dazu etwas gesagt. Ich habe den vom amtierenden Vorsitzenden gerügten Begriff zurückgenommen. Nach dem, was ich jetzt vom Kollegen Andreas Schmidt von der CDU- Fraktion gehört habe, nämlich daß Sie, fünf Minuten nachdem die Sitzung der Rechtsstellungskommission zu Ende gewesen ist, sich gleich wieder an die Presse gerichtet haben, um sich einen weißen Fuß zu machen, nehme ich die Zurücknahme des Ausdruckes von heute nachmittag hier zurück. Ich lasse im Nebel, was damit gemeint ist.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Das, was hierauf den Weg gebracht wird, geschieht nicht mit dem Wollen und nicht mit dem Wissen der SPD. Wir müssen uns darauf konzentrieren, das eine vom anderen deutlich zu unterscheiden: auf der einen Seite das Kürzungsprogramm mit seinen unglaublich vielen schmerzhaften Einschnitten für viele Millionen Menschen und auf der anderen Seite diese sehr vordergründige Diätendebatte. Ich will hinzufügen, daß das nach meiner Einschätzung genau der Ansatz gewesen ist, mit dem es dieses Haus neunmal nicht geschafft hat, eine Anhebung der Bezüge für die Abgeordneten zu beschließen. Wir sind jedesmal vor der angeblichen öffentlichen Meinung zurückgeschreckt und eingebrochen. Wir lassen uns von Magazinen, von Zeitungen und vor allen Dingen von einigen Professoren, deren Chefs oder die selbst unglaublich viel mehr verdienen oder - ich will es einmal deutlicher sagen - an Geld bekommen als wir in diesem Hause, vorführen. Dies machen wir nicht mit.
Es ist vom Kollegen Eylmann zu Recht darauf hingewiesen worden, daß es im öffentlichen Raum Mandatsträger gibt, die mit einem ganz anderen Gehalt leben. Ich frage unabhängig davon, ob die Regierungsbank oder die Bundesratsbank leer ist: Wer diskutiert denn in diesen Tagen eigentlich über die Gehälter der Minister hier in Bonn oder in den Ländern?
Wer diskutiert denn eigentlich über das Kanzlereinkommen? Wer diskutiert denn eigentlich über die
überbezahlten Sportler? Wer diskutiert denn eigentlich über die Einkommen der überbezahlten Wirtschaftsmanager und anderer
und setzt das einmal ins Verhältnis zu dem, was uns hier bei jeder Diätenerhöhung vorgeworfen wird und zu dem wir an dieser Stelle leider immer mit vorauseilendem Gehorsam - das kommt ja auch noch hinzu - angemessen reagieren sollen?
Ich sage Ihnen: Dies kann jedenfalls von der Struktur her nicht der richtige Weg sein. Darum kann das nicht die richtige Methode sein, mit der das Haus auf diese Dinge reagiert.
Ich will allerdings - damit will ich mich in gewisser Weise öffnen - sagen, daß uns die Debatte, die draußen läuft, nicht unbeeindruckt lassen kann. Ich weiß auch noch nicht, wohin wir, was die Ergebnisse von künftigen Regelungen betrifft, am Ende kommen werden, weil die SPD-Fraktion darüber bisher keine Entscheidung getroffen hat.
Es ist schon sehr fahrlässig, Herr Häfner, wenn Sie behaupten, Sie hätten versucht, mit uns eine Gemeinsamkeit herzustellen. Über dieses ominöse Vorsitzendengespräch hinaus hat es nie einen Kontakt zu mir oder zur SPD-Fraktion gegeben. Das will ich hier einmal mit sehr großem Nachdruck unterstreichen. Sie tun jedesmal so, als wenn Sie diese Gemeinsamkeit herbeiführen wollten. Das haben Sie heute nachdrücklich genau ins Gegenteil verkehrt. Das muß deutlich sein.
Der andere Aspekt ist, daß wir dann, wenn die Kürzungsprogramme der Regierungsseite hier über die Bühne gebracht worden sind, die Verpflichtung haben, darüber nachzudenken, wie wir damit umgehen. Das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Davor dürfen wir uns nicht drücken. Der vorauseilende Gehorsam hat den fatalen Beigeschmack, als wenn all diejenigen, die so handeln, also die Grünen und die F.D.P. ganz besonders, davon ablenken wollten, was mit diesen Kürzungsprogrammen auf den Weg gebracht werden soll.
Dies kann nicht hingenommen werden, und Sie werden uns auch nicht auf Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, zum Beispiel so zu tun, als wenn wir, falls wir jetzt die Diätenkürzung vornehmen, anschließend nicht mehr über die Kürzungsprogramme diskutieren müßten. Nicht mit uns, meine Damen und Herren; das werden wir schon sehr nachdrücklich, wie heute morgen hier im Plenum geschehen, entlarven wollen.
Ich stelle fest, daß wir an dieser Stelle also noch Beratungsbedarf haben. Es ist beileibe nicht so, daß die Überweisung dieses Gesetzentwurfes an die Rechtsstellungskommisson so etwas wie ein Verschiebebahnhof sein soll, im Gegenteil: Dort ist das Fachgremium dieses Hauses, in dem diejenigen sitzen, die sich darüber aussprechen müssen, welches der verschiedenen Modelle diskutiert, nachvollzogen und
Wilhelm Schmidt
geprüft werden soll und ob wir dann überhaupt Empfehlungen aussprechen können und wollen.
Das heißt, an dieser Stelle gibt es - das will ich für die Öffentlichkeit klarstellen - mehrere Möglichkeiten, mit diesem Problem zu verfahren.
Eine erste mögliche Verfahrensweise, die ja auch bei mir tendenziell durchklingt und die ich auch gar nicht von mir weisen will, ist, nichts zu tun,
Selbstbewußtsein zu zeigen und am Ende Klarheit darüber herbeizuführen, wann dieses Haus und seine Mitglieder Rückgrat zeigen müssen, auch in öffentlichen Debatten.
Machen wir uns doch nichts vor: Informieren Sie sich einmal über die Einkommen von Aufsichtsräten und Vorstandsmitgliedern in der Privatwirtschaft.
Da wird jetzt die Anbindung an die Aktienkurse herbeigeführt, gerade in diesen Tagen bei Daimler Benz in der Hauptversammlung wieder diskutiert. Darüber redet in der Öffentlichkeit niemand.
Ich will an dieser Stelle hinzufügen: Ich finde es zutiefst richtig, wenn wir uns der Debatte stellen. Wir haben eine besondere Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit,
aber als Bundestagsabgeordnete Sonderopfer zu bringen, ohne auf alle anderen Beteiligten in der Öffentlichkeit hinzuweisen und einzugehen, ist diesem Hause nicht angemessen.
Ich will zweitens hinzufügen, meine Damen und Herren, daß wir die verschiedenen Möglichkeiten von Kürzungen oder auch das, was sonst noch im Gespräch ist, prüfen müssen. Dazu gehört das, was die Grünen vorgeschlagen haben. Das läuft ja auf eine Verschiebung und Kürzung hinaus.
Herr Häfner wußte heute nachmittag bei all seinen wolkigen Worten in der Rechtsstellungskommission nicht einmal, welchen Antrag die Grünen hier eingebracht haben.
Es kommt drittens hinzu, daß Kollege Andreas Schmidt von der CDU/CSU das Aussetzen für zwölf Monate oder wie lange auch immer als eine Möglichkeit hier ins Gespräch gebracht hat.
Auch das ist zu prüfen. Auf jeden Fall geht es nur auf eine Weise, meine Damen und Herren, nämlich mit gesetzlicher Absicherung.
Ohne gesetzliche Absicherung funktioniert nichts, und dieser müssen wir uns stellen - in der Öffentlichkeit, aber auch uns selbst gegenüber.
Der vierte Punkt könnte sein - ich finde, er ist der schwächste unter allen, aber auch er ist im Gespräch -, daß man gewissermaßen mit Druck durch einen Beschluß dieses Bundestages eine Zwangsabgabe, eine Zwangsspende an eine Stiftung institutionalisiert.
Dies, denke ich, sollte man an dieser Stelle nicht unbedingt tun.
Wir müssen das alles prüfen; die Dinge sind auf den Weg gebracht.
Ich will an dieser Stelle unsere Bereitschaft zur Diskussion in den nächsten Wochen kundtun und ausdrücklich bekräftigen, aber ich kann Ihnen hier heute nicht gewissermaßen den vorauseilenden Gehorsam der Grünen und der F.D.P. bestätigen, jetzt schon Kürzungsvorschläge zu beschließen.
Vielen Dank.
Zur Kurzintervention die Kollegin Antje Hermenau.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt, da Sie sich auf den Kollegen Häfner eingeschossen haben, biete ich Ihnen noch eine andere Zielscheibe an: Versuchen Sie einmal, mit mir zu diskutieren; ich bin im Haushaltsausschuß, und dort reden wir über das Sparen an sich.
Reden wir einmal darüber, daß Sie gerade unterstellt haben, daß in diesem Land nicht gespart werden müßte. Unterhalten Sie sich einmal mit Ihren Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, mit Ihrem Häuptling Wieczorek, und erkunden Sie, wie die Haushälter Ihrer Fraktion die Lage insgesamt einschätzen. Ich glaube nicht, daß es wirklich Ihr Wunsch war, hier zu suggerieren, daß die Deutschen im Moment nicht sparen müßten.
Wollen wir diese Spardebatte einmal führen.
Der Standpunkt, daß allgemein im Moment über die Möglichkeiten hinaus gewirtschaftet wird, ist nichts Neues, und ich hätte mir gewünscht, die Verve, die Sie hier gerade entwickelt haben, die Leidenschaft und das Temperament hätten auch heute morgen die Diskussion beherrscht, als es darum ging, daß anderen Leuten in die Börse gegriffen wird. Aber diesmal geht es ums eigene Geld.
Ich war da. Hören Sie auf; ich habe diese blutarme Diskussion ja verfolgt.
Antje Hermenau
Wenn Sie unterstellen wollen, daß es nicht nötig ist, in diesem Land alle Ausgaben zu überprüfen, dann glaube ich, daß Sie politisch auf dem falschen Dampfer sind. So einfach ist das. Wenn die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam der Meinung sind, daß Deutschland abspecken muß, ist das im Prinzip richtig.
Ihre Ausführungen, die ich heute morgen gehört habe, meine Damen und Herren, wiesen genau den falschen Weg. Wir mußten heute einfach handeln, um Ihnen zu zeigen, wie falsch der Weg ist, den Sie mit einem Sparpaket für die armen und nicht so betuchten Bevölkerungsteile beschreiten. Aber da, wo Sie die Möglichkeit haben einzugreifen, nämlich bei Ihren eigenen Gehältern, da sind Sie nicht dabei. Das ist wirklich ein Problem in diesem Land.
Auf diese Kurzintervention will der Kollege Schmidt antworten. Auch der Kollege Conradi hat sich gemeldet. Sie können aber zu einer Kurzintervention weder eine Zwischenfrage stellen noch auf eine Kurzintervention antworten. Das gäbe eine Debattenrunde. Sie können lediglich eine Kurzintervention anmelden. Diese muß sich allerdings auf den letzten Redebeitrag beziehen.
Jetzt erst Kollege Schmidt.
Das mache ich nun ausdrücklich, Frau Präsidentin.
Ich weiß nicht, ob Sie von den Grünen mich mißverstehen wollen. Ich sage Ihnen jetzt sehr deutlich, und wenn Sie es nicht kapiert haben, sage ich es Ihnen noch einmal: Ich habe hier zum Ausdruck bringen wollen, daß Sie mit diesem Antrag und mit der Art und Weise, wie Sie das Ganze hier debattieren, den Boden für eine völlig falsche Sparorgie dieser Regierung bereiten.
Ich habe doch gesagt, wir müssen uns dann, wenn das Gesetz verabschiedet worden ist, darüber unterhalten.
- Joschka Fischer, es wird doch nicht besser, wenn Du wieder dazwischenschreist. Das kennen wir doch alles schon.
Ich will an der Stelle nur bekräftigen: Sie haben genau die Taktik der Regierung eingeschlagen. Das ist es, was ich kritisieren wollte.
Wenn Sie bemängeln, daß diese Auseinandersetzung heute morgen nicht in dem Stile stattgefunden hat, wie Sie es gerne gehabt hätten, dann frage ich: Warum haben Sie sie dann nicht geführt? Wir müssen uns das nicht vorwerfen lassen. Wie die SPD heute morgen auf die Sparorgie dieser Regierung und der Koalition reagiert hat, war mehr als angemessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt einmal allgemein: Es ist sicher eine Diskussion, bei der die Nerven leicht blank liegen.
Ich will alle bitten, zu bedenken, daß gerade diese Diskussion in der Öffentlichkeit verfolgt wird, und wir sollten sie deswegen ganz ruhig, ganz geduldig und ganz souverän führen.
Zur Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt das Wort.
Herr Kollege Schmidt, ich möchte mich noch einmal auf Sie beziehen, weil mich eine Sache sehr überrascht hat.
Herr Kollege Lippelt, auch Sie können jetzt nicht auf diese Kurzintervention antworten, sondern nur auf den Redebeitrag.
Ich beziehe mich nicht auf die Antwort, ich beziehe mich auf die Rede. Dazu hatte ich mich gemeldet. Und ich beziehe mich auf den Satz des Kollegen Schmidt,
mit dem er ziemlich zu Anfang zum Ausdruck brachte: Wir hatten es doch endlich hinter uns, nun müssen wir uns hier wieder stellen, dann tun wir das eben.
Herr Kollege Schmidt, was ist denn passiert? Was hat denn dieses Hohe Haus beschlossen? Es hat einen Vier-Stufen-Plan beschlossen. Ich will überhaupt nicht darüber diskutieren, ob die Anhebung so gerechtfertigt war oder nicht. Wir haben das so beschlossen, und damit steht es.
Die erste Stufe ist gelaufen; die erste Stufe haben wir in der Tasche. Dann kommt eine Spardiskussion, und in dem Moment, da die Sparmaßnahmen die Kleinen treffen, sagen wir: Laßt es uns bitte hinausschieben. Ich finde, das ist für uns nicht unzumutbar.
Der Kollege Eylmann fragte: Werden die Grünen nicht in neun Monaten erneut kommen und wieder eine solche Forderung erheben? - Herr Eylmann, ich sage Ihnen eines: Wenn die Nettogehälter der Bevölkerung in neun Monaten nicht steigen, werden wir in neun Monaten wieder damit kommen; denn da besteht ein Zusammenhang.
Dr. Helmut Lippelt
Was mich außerdem sehr ärgert, sind die Ablenkungsmanöver. Ich muß immer wieder hören: Ihr besorgt für die CDU das dreckige Geschäft. - Was ist das für ein Unsinn! Sie lenken ab, indem Sie auf Einschnitte in Milliardenhöhe hinweisen, die 6 Millionen DM aber nicht in Frage stellen wollen. Das ist Ablenkung und geht an der Sache vorbei.
Es ist auch Ablenkung, wenn auf die Gehälter in der Industrie hingewiesen wird. Ich sage ganz klar: Natürlich ist die Entwicklung, die in den Vorstandsetagen der Industrie zur Zeit zu beobachten ist, sehr schlimm. Aber: Was sind unsere Vergleichsgrößen? Ist unsere Vergleichsgröße das Gehalt des Chefs der Hannoverschen Expo, der in einem Jahr 700 000 DM in die Tasche steckt? Oder ist unsere Vergleichsgröße das, was die Bevölkerung, die wir vertreten, im Schnitt verdient? Letzteres ist die Vergleichsgröße.
Wenn Sie sich mit Herrn Heede von der Expo-Gesellschaft vergleichen wollen, dann bewerben Sie sich um diesen Vorsitz.
Herr Kollege Lippelt, die Zeit für die Kurzintervention ist abgelaufen.
Wenn Sie einen Minister der Grünen erwähnen, dann erwähnen Sie auch die anderen Minister.
Herr Kollege Lippelt!
Aber auch das ist nicht unsere Sache.
Herr Kollege Lippelt!
Unsere Sache ist das, was wir im Bundestag beeinflussen können. Sprechen Sie von Ihren Ministern, die da vom sitzen, und nicht über irgendwelche Länderminister, auf die wir keinen Einfluß haben.
Herr Kollege Lippelt, zu Ihrer Information: Eine Kurzintervention darf drei Minuten dauern. Wenn ich Sie ermahne aufzuhören, müssen Sie auf die Präsidentin hören.
Zur Kurzintervention jetzt der Kollege Conradi.
Es ist nicht streitig, daß gespart werden muß. Angesichts der Lage der öffentlichen Kassen, der Arbeitslosigkeit, der zurückgehenden Steuereinnahmen und der wachsenden Staatsverschuldung besteht darüber in diesem Hause kein Streit. Der Streit geht darum, wie, bei wem, zu wessen Lasten und zu wessen Gunsten gespart wird.
Da allerdings stelle ich die Frage, warum Sie, wenn Sie der Auffassung sind, dieses Paket sei sozial ungleichgewichtig, nicht einen Vorschlag machen, der die Abgeordneten, die Beamten, die Minister und viele andere, die mehr verdienen, auch Professor von Arnim, einbezieht.
- Ich werde einen solchen Antrag einbringen, Joschka Fischer; dann werde ich sehen, wer ihm zustimmt.
Aber einen Vorschlag zu machen, der 6 Millionen DM umfaßt, und zu sagen, damit würde die soziale Symmetrie hergestellt, finde ich läppisch. Dann machen wir hier etwas Richtiges und werden sehen, wie Sie sich verhalten.
Ich bitte um Ruhe für den nächsten Redner. Das ist der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Hermann Otto Sohns.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selbstverständlich haben die Abgeordneten wie alle anderen auch ein angemessenes- Einkommen verdient. Die geplanten und im Gesetzblatt stehenden Steigerungen sind nicht unangemessen. Das ist nicht das Problem.
Das Problem besteht in dem, was wir hier heute morgen diskutiert haben. Wenn wir als Koalitionsfraktion oder Koalitionsabgeordnete oder F.D.P.-Abgeordnete fordern - weil wir es für unausweichlich und notwendig erachten -, daß im öffentlichen Dienst eine Nullrunde durchgeführt wird, die im übrigen ganz automatisch auch die Minister trifft - wir sind die Handelnden, die entscheiden, nicht irgend jemand anderes -, wenn wir auch darüber hinaus Einsparungen fordern, dann, meine ich, ist es nicht nur angemessen, sondern eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit zu sagen: Wir müssen die Erhöhung der Diäten, die ursprünglich geplant war, aussetzen.
Im öffentlichen Dienst war es ja nicht anders.
Wenn Sie, Herr Conradi, sagen: Ich bin anderer Meinung; ich bin nicht dafür, daß es eine Nullrunde gibt - die Ministerpräsidenten der SPD sind alle der Meinung, es sollte eine geben -, dann ist es auch legitim, zu sagen: Ich bin nicht dafür, daß die Diätenerhöhung ausgesetzt wird. Das ist richtig. Aber wenn ich der Meinung bin, das muß für andere geschehen, und darüber entscheide, dann ist es auch notwendig,
Dr. Hermann Otto Solms
einen eigenen Beitrag zu leisten. Das ist unser Ansatz.
Wir haben keinen Gesetzentwurf eingebracht, weil wir glauben, in dieser schwierigen Situation wäre es für die Würde und das Ansehen des Hauses am besten, wenn wir zu einem gemeinsamen Beschluß und einem gemeinsamen Ergebnis kämen.
Darauf warten wir, und ich denke, dafür ist auch noch Zeit.
Herr Fischer, weil Sie so lautstark klatschen, muß ich sagen, daß ich, als wir einmal gemeinsam unter den Fraktionsvorsitzenden darüber gesprochen hatten, nicht wenig verwundert war, schon eine Dreiviertelstunde später eine Tickermeldung von Herrn Häfner auf dem Tisch zu haben, mit der er dies bereits ankündigte, sozusagen in einem Wettlauf, wer in Sachen Popularität schneller ist. Das offenbart ein wenig die Absicht, die dahintersteht, und das kann man heute auch nicht wiedergutmachen.
Meine Damen und Herren, es geht darum: Wer von anderen Opfer fordert, muß selbst zu Opfern bereit sein.
Deswegen unser Vorschlag, die Diätenerhöhung um ein Jahr zu verschieben
und wegen der Absenkung bei der Lohnfortzahlung den Abzug für krankheitsbedingte Fehltage an Präsenztagen von 30 DM auf 90 DM anzuheben. Das trifft genau das, was wir von anderen ebenfalls fordern, nicht mehr und nicht weniger.
Wir haben die Geduld, zu warten, bis die Entscheidungen in den anderen Fraktionen getroffen sind.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält das Wort die Abgeordnete Hendricks.
Herr Kollege Sohns, es wundert mich nicht, daß Sie zu den ersten gehört haben, die für die Verschiebung der Diätenanhebung plädiert haben. Daß Sie diesen opportunistischen Weg gehen, kann ich verstehen, weil natürlich Teile der Koalitionsfraktionen ein besonderes Interesse daran haben müssen, diese besonderen Einschränkungen für die allgemeine Bevölkerung zu verdecken. Daß die Grünen darauf reingefallen sind, finde ich bedauerlich.
Ich persönlich könnte mich mit einer Verschiebung der Diätenanhebung sehr gut einverstanden erklären, wenn dieses Parlament gleichzeitig eine Offenlegung der Nebeneinkünfte beschließen würde.
Ich glaube, daß an erster Stelle die F.D.P. damit Probleme hat. Da es in diesem Parlament wahrscheinlich auch bei der nächsten Entscheidung noch nicht zu einer positiven Entscheidung über die Offenlegung der Nebeneinkünfte kommen wird, bitte ich Sie, Herr Fraktionsvorsitzender Sohns, um eine kleine Dienstleistung durch Ihre Fraktionsgeschäftsführung. Nach meiner groben Schätzung sind von den 47 Mitgliedern der F.D.P.-Fraktion mindestens 20 ehemalige oder aktive Minister oder Staatssekretäre. Sie alle erhalten öffentlich bekannte Bezüge, die man Gesetzen entnehmen kann. Man weiß, wie hoch die Abgeordnetenbezüge sind; man weiß, wie hoch die Minister- und Staatssekretärsbezüge sind, und man weiß auch, wie hoch die Bezüge von ehemaligen Ministern und Staatssekretären sind - jedenfalls kann man es nachsehen. Da Sie, Herr Kollege Solms, die Mitglieder Ihrer Fraktion besser kennen als wir, darf ich Sie bitten, uns und der Öffentlichkeit durch Ihre Fraktionsgeschäftsführung einmal eine solche Liste der Nebeneinkünfte in Form öffentlicher Bezüge zur Verfügung zu stellen.
Herr Fraktionsvorsitzender, bevor Sie antworten, möchte ich erst dem Kollegen Eylmann das Wort zu einer Kurzintervention geben, weil sich die auch auf diesen Redebeitrag bezieht. Dann können Sie auf beide zusammen antworten.
Verehrter Herr Kollege Sohns, meine Frage zielt in eine andere Richtung. Nachdem die Grünen in der bisherigen Debatte haben durchblicken lassen, daß sie einen Verlängerungsantrag - so darf ich es nennen - im nächsten Jahr nicht ausschließen, möchte ich Sie fragen, wie Sie zu einer Verlängerung der Aussetzung stehen.
Herr Kollege Solms, ich frage aus einem sehr ernsten Grund. Ich glaube, daß es dieses Parlament auf Dauer nicht aushält, jedes Jahr erneut als Diätensau durchs Dorf getrieben zu werden.
Ich halte es, verehrter Herr Kollege Sohns, für bloße Augenwischerei - die auch von der Öffentlichkeit durchschaut werden wird -, wenn wir die Diätenerhöhung nur für zehn oder zwölf Monate aufschieben. Wenn wir schon der Meinung sind, sie sei nicht zu verantworten, dann wäre es ehrlicher, zu sagen, wir verschieben sie gleich für einen längeren Zeitraum.
Horst Eylmann
Wenn dieses Parlament weiterhin ein Mindestmaß an Respekt haben will, dann muß sich das Parlament entscheiden, es entweder bei der gegenwärtigen Regelung zu belassen oder aber der bitteren Wahrheit ins Auge zu sehen, daß wir den Rückstand, der uns vor drei Jahren von einer unabhängigen Kommission dargelegt worden ist, in den nächsten vier bis fünf Jahren nicht aufholen werden. Das allein ist die ehrliche Alternative.
Sehr geehrter Herr Kollege Eylmann, wir stehen gegenwärtig vor einer bisher noch nie dagewesenen Sparaktion. Wir stehen an einem Wendepunkt in der Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik.
Wir gehen davon aus, daß unsere Vorschläge den notwendigen Erfolg erzielen, Investitionsbereitschaft auslösen und dazu beitragen werden, daß es mehr Arbeitsplätze und mehr Beiträge zu den sozialen Versicherungssystemen geben wird. Wir gehen davon aus, daß eine zweite Sparaktion nicht notwendig sein wird.
Deswegen ist die Aussetzung oder - besser - die Verschiebung - damit Sie Zeit haben, unseren Vorschlag richtig zu verstehen - der drei Stufen um jeweils ein Jahr zum gegenwärtigen Zeitpunkt das angemessene Mittel. Im nächsten Jahr wird das nicht notwendig sein. Da wird es diesen Vorschlag nicht geben.
Die Frau Kollegin Hendricks möchte ich fragen: Was heißt hier „verdecken"? Wir haben heute morgen ganz offen und offensiv unsere Vorschläge vertreten. Sie und ich, wir wissen beide, daß das keine populäre, sondern eine schwierige Diskussion ist. Wir wissen alle, daß das bei den Betroffenen natürlich keine Freude auslöst.
Trotzdem sind diese Diskussion und die Einsparungen notwendig.
- Wenn Sie reden wollen, dann melden Sie sich doch bitte! Ich kann Sie so akustisch nicht verstehen. -
Das ist das eine.
Das zweite ist: Die Höhe der Versorgung derjenigen, die aus öffentlichen Kassen Ansprüche haben, ist bekannt. Jeder kann sie sich ausrechnen.
Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, Herr Kollege, dann bitten Sie Ihre Kollegen in der Fraktionsführung; die werden Ihnen das ausrechnen. Das ist überhaupt kein Problem. Wir sind nicht dafür da, Ihnen Nachhilfeunterricht in Mathematik zu geben.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Conradi, ich mag Sie wirklich sehr.
Aber im Zusammenhang mit Abgeordneten von einer sozialen Schieflage zu sprechen ist etwas makaber. Die Diskussion, die hier stattfindet, ist längst überfällig. Sie steckt allerdings voller Heuchelei, denn wir reden hier über die Verschiebung der zweiten Stufe einer drastischen Diätenerhöhung, die vor wenigen Monaten hier mit übergroßer Mehrheit beschlossen wurde. Über die erste Stufe spricht schon gar niemand mehr.
Aber bereits zu diesem Zeitpunkt hat die PDS vor den Vorboten des Regierungsprogramms sozialer Grausamkeiten gewarnt. Es ging um die Kürzung der Arbeitslosenhilfe. Es ging um die Streichung im Asylbewerberleistungsgesetz. Deswegen haben wir damals deutlich gesagt: Bevor man Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern, bevor man Rentnerinnen und Rentnern, Arbeitslosen oder Familien in die Tasche greift, sollten wir zunächst auf die Erhöhung der eigenen Bezüge verzichten.
Aber der äußere Druck war damals offenkundig nicht stark genug. Dafür war der Druck einer offenbar minderbemittelten Mehrheit in diesem Parlament um so größer. Und so gab es dann quasi als Weihnachtsgeschenk 1995 einen kräftigen Nachschlag aus der Diätensuppe.
Nun haben Sie das Programm sozialer Graumsamkeiten hier vorgestellt und damit den Bogen offenkundig überspannt. Das Faß ist übergelaufen. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger fragen nach, warum sie für die konzeptionslose Sparpolitik dieser Bundesregierung bluten müssen, während an den Abgeordneten der Kelch vorbeigehen soll.
Nein, ich denke, die Entscheidung über die Verschiebung der Diätenerhöhung ist ein Gebot der politischen Moral. Sie ist nicht nur nach außen hin notwendig, Kollege Metzger, sondern sie ist vor allem für unsere eigene Glaubwürdigkeit wichtig.
Dr. Dagmar Enkelmann
- Ich kann Ihnen gern die Kontonummer unseres Spendenfonds zur Verfügung stellen. Wir haben so viele Anträge, daß wir sie gar nicht bedienen können.
Unserer Auffassung nach stellt der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen aber nur eine Minimalforderung dar. Wir meinen, daß das gesamte Paket der Leistungen für Abgeordnete erneut aufgeschnürt werden muß.
Es geht erstens darum, daß es endlich Regelungen nicht nur für die Offenlegung der Nebeneinkünfte gibt, sondern vor allem auch für die Anrechnung von Nebeneinkünften. Daß Sie davon aus guten Gründen die Finger lassen, Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ist mir irgendwie verständlich. Denn immerhin sind die Diäten für mehr als die Hälfte der Abgeordneten dieses Parlaments nur ein angenehmes Zubrot, sozusagen Peanuts. Daß es oftmals einträglicher ist, in Aufsichtsräten zu sitzen oder Beratungsfunktionen auszuüben, ist, so denke ich, vielen klar.
Zweitens geht es darum, daß die Pensionsregelung erneut auf den Prüfstand muß. Das ist notwendig angesichts der zunehmenden Unsicherheiten bei Rentenbezieherinnen und -beziehern, angesichts Ihres Vorhabens, die Renten stärker zu besteuern, auch angesichts der zunehmenden Belastung von Rentnerinnen und Rentnern bei Arzneimitteln, Kuren, Brillen usw. Es ist einfach nicht länger hinnehmbar, daß Abgeordnete in die Rentenkasse nicht einzahlen, aber bereits nach kurzer Zeit in diesem Parlament einen nicht unbedeutenden Anspruch erwerben.
Ich denke, als Gesetzgeber haben wir die moralische Pflicht, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.
Wir haben aber auch die moralische Pflicht, uns nicht über das Volk zu erheben, also nicht dort zu nehmen und uns selbst zu geben.
Zu einer Kurzintervention hat das Wort der Abgeordnete Teiser.
Liebe Kollegin, halten Sie es eigentlich für besonders glaubwürdig, sich hier als Mitglied einer privilegierten Gruppe hinzustellen, die - im Gegensatz zu vielen Ihrer Landsleute in den neuen deutschen Bundesländern - mit 100 Prozent ihrer Bezüge hier sitzt, wobei ich niemals den Vorschlag gehört habe, sich dem Niveau von etwas über 80 Prozent anzunähern, für die viele Ihrer Mitbürger in den neuen deutschen Bundesländern arbeiten müssen? Vor diesem Hintergrund hier mit pathetischen Worten davon zu sprechen, man müsse „Schaden vom deutschen Volk" abwenden und eine Überprüfung der Gesamtleistungen für Abgeordnete vornehmen, während man sich selber als privilegierte Gruppe die Diäten, die ich als durchaus angemessen betrachte, jeden Monat überweisen läßt,
halte ich nicht für besonders glaubwürdig.
Die Antwort bitte.
Gerade weil diese Schieflage besteht und im Osten nach wie vor - und wahrscheinlich auf lange Sicht - keine 100 Prozent gezahlt werden, können wir hier erst recht nicht kräftig zulangen, auch als Ost-Abgeordnete nicht. Wir haben eine andere Variante ersonnen, weil es gesetzlich nicht möglich ist, auf Diäten zu verzichten. Wir haben einen Spendenfonds eingerichtet, und wir unterstützen mit diesem Spendenfonds soziale Projekte, kulturelle Projekte und Jugendprojekte vor allem in den neuen Bundesländern. Ich kann Sie nur dazu aufrufen, sich dem anzuschließen.
Ich schließe nun die Aussprache und erteile zunächst nach § 30 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten Gerald Häfner das Wort zu Äußerungen, die sich in der Aussprache auf die eigene Person bezogen haben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, Sie ertragen es, daß ich für einen Moment die Tonlage etwas ändere. Ich möchte eine persönliche Erklärung abgeben zu den Vorwürfen, die in dieser Debatte nicht in der Sache, sondern ad personam, und zwar zu meiner Person, gefallen sind.
Es war die Entscheidung insbesondere von Ihnen, Herr Schmidt, sich im wesentlichen nicht mit der Sache zu beschäftigen, sondern mit der Person, so wie Sie das sehen.
Ich möchte deutlich sagen: „Heuchler" war nicht das einzige, was ich ertragen mußte. Sie können in dem Stil weitermachen. Ich habe mir hier zum Beispiel notiert: „Häfner, dein Name sei Doppelzunge". Jeder, der solches sagt, möge dies selbst verantworten.
- Ich möchte für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten, und zwar deshalb
- gestatten Sie das bitte für einen Moment -, weil hier noch mehr und anderes auf dem Spiel steht als
Gerald Häfner
nur irgendeine Abstimmung. Hier steht der Umgang miteinander auf dem Spiel.
Hier steht auch mein persönlicher guter Ruf auf dem Spiel, und der ist mir wichtig.
Ich habe in diesem Deutschen Bundestag sehr wohl darauf geachtet - ich habe in solchen Dingen mit vielen Kollegen, die hier sitzen, zu tun gehabt -, daß ich mich, was Absprachen betrifft, immer korrekt verhalte und zuverlässig bin.
- Sie müssen mir nicht glauben.
Ich kann die Vorwürfe, die hier gegen mich erhoben worden sind, nur in aller Deutlichkeit zurückweisen. Ihnen, Herr Schmidt, sage ich: Die Meldung, die Sie hier zitiert haben, enthält richtige Zitate. Ich habe nach der Diskussion in der Rechtsstellungskommission, angesprochen von einem Journalisten der Agentur Reuters auf die Frage, ob nicht bereits alles entschieden sei, gesagt, es sei überhaupt nichts entschieden, sondern es solle - wie es hier steht - erst Mitte Juni entschieden werden:
Der grüne Abgeordnete Häfner erklärte, in der Rechtsstellungskommission des Bundestages sei am Donnerstag vereinbart worden, daß zunächst die Parlamentsverwaltung die verschiedenen Vorschläge zusammenstellen sollte. Am 11. Juni solle die Kommission dann ihre Haltung zu der am 1. Juli geplanten Anhebung der Abgeordnetenbezüge festlegen.
Das habe ich erklärt. Das entspricht den Tatsachen, und das enthält nichts, was zu erklären nicht richtig, nicht dienlich oder aus sonstigen Gründen nicht schicklich wäre.
Ich habe dann auf die Frage, ob nicht schon alles entschieden sei - denn nun sei ja der Vorschlag der CDU/CSU auf dem Tisch, die Erhöhung in diesem Jahr auszusetzen -, gesagt, dies sei meines Wissens kein Vorschlag der CDU/CSU, sondern Ihr persönlicher Vorschlag Herr Kollege Schmidt. So jedenfalls haben Sie das in meiner Gegenwart auch erklärt. Ansonsten habe ich hinsichtlich anderer Vorschläge - diesen habe ich nicht dargestellt; der wurde mir unterbreitet - keine Erklärungen abgegeben, außer, wie ich das gesagt habe, bezüglich des Zeitplans.
Ich finde das - gestatten Sie mir das zum Abschluß -, was sich in dieser Debatte abgespielt hat, unangemessen und im persönlichen Umgang und im parlamentarischen Stil nicht gut. Heute nachmittag war Herr van Essen - der aus Gründen, die er selber kennen muß, seine Rede nicht gehalten, sondern zu Protokoll gegeben hat - Opfer dieses „bashing", heute abend bin ich es geworden. Ich fände es angemessen, wenn wir die Debatte in der Sache führen würden - durchaus mit harten Argumenten, aber nicht in diesem Stil.
Ich habe - das möchte ich zum Abschluß sagen - den Eindruck, daß die Debatte, die wir heute abend geführt haben, im umgekehrten Verhältnis zu dem steht, was sich im Lande abspielt und was die Menschen nachvollziehen und verstehen können.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/4667 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Annette Faße, Elke Ferner, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Perspektiven der deutschen Binnenschifffahrt
- Drucksachen 13/1796, 13/3378 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung über eine gemeinsame Politik bei der Gestaltung des Marktes der Binnenschiffahrt und von Begleitmaßnahmen
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Einzelheiten der Befrachtung und der Frachtratenbildung im innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Binnenschiffsgüterverkehr in der Gemeinschaft
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 über die Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1107/70 über Beihilfen im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr
- Drucksachen 13/3286 Nr. 2.9, 13/4243 -
Berichterstattung: Abgeordnete Annette Faße
Zur Großen Anfrage liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wenn es hier etwas ruhiger geworden ist - ich bitte darum, den Gang freizumachen -, eröffne ich die Aussprache. Zunächst hat die Abgeordnete Renate Blank das Wort.
- Wir warten noch einen Moment, bis Ruhe ist.
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, würden Sie bitte,
falls Sie nicht im Raum bleiben wollen, Platz machen,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
damit hier Ruhe einkehrt. Ich bitte insbesondere, den Pulk da oben aufzulösen. - Ich glaube, jetzt ist es halbwegs ruhig.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Binnenschiffahrt hätte eigentlich eine bessere Zeit und eine bessere Gelegenheit verdient, wenn über sie diskutiert wird. Aber zu dieser späten Stunde möchte ich doch noch einmal darauf hinweisen, daß die Binnenschiffahrt umweltverträglich ist, einen hohen Sicherheitsgrad besitzt, sparsam im Energieverbrauch ist und zur Entlastung des Straßenverkehrs beiträgt.
Der Anteil der Binnenschiffahrt an der Gesamtverkehrsleistung liegt bei zirka 20 Prozent. Das entspricht in etwa dem Anteil der Bahn im Güterbereich. Viele sprechen von der Bahn, aber nur wenige von der Binnenschiffahrt, obwohl sie eine beachtliche Transportleistung erbringt. Im Jahre 1995 wurden auf den bundesdeutschen Wasserstraßen zirka 240 Millionen Tonnen Güter befördert, allerdings nur zu einem Anteil von zirka 45 Prozent mit deutscher Flotte.
Damit der vergessene Verkehrsträger die Bedeutung erhält, die ihm zusteht,
müssen die Vorteile der Binnenschiffahrt bekannter werden. Deshalb hat sich hier eine Parlamentariergruppe gebildet, die aus den Sprecherinnen der Fraktionen zu diesem Sachbereich besteht. Wir wollen zu einer Anhebung der Bedeutung der Binnenschiffahrt beitragen.
Damit die Binnenschiffahrt zu einer bei Verladern und Spediteuren nicht mehr wegzudenkenden Größe im Transportgeschäft werden kann, ist es zwingend notwendig, daß die Binnenschiffahrt Logistikkonzepte entwickelt und anbietet; denn das Angebot einer durchgehenden Transportkette vom Versender zum Empfänger ist gefragt. Dies geht aber nur, wenn mehrere Verkehrsträger konzeptionell und kooperativ zusammenarbeiten. Intensive Zusammenarbeit ist also angesagt. Im Miteinander, bei dem jeder Verkehrsträger seine arteigenen Vorteile einbringen kann, liegt die Zukunft, nicht aber in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf und Verdrängungswettbewerb zwischen Schiene und Straße.
Meine Damen und Herren, mit der Aufhebung der Tarifbindung zum 1. Januar 1994 und mit der Freigabe der Kabotage zum 1. Januar 1995 fing eigentlich alles an, und die deutsche Binnenschiffahrt geriet in Minuszahlen und in die Schlagzeilen. Ich erinnere an die Aktion des Gewerbes mit der Sperrung des Rheins für einige Stunden.
Nach wie vor befindet sich die deutsche Binnenschiffahrt in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Neben der Tarif- und Kabotagefreigabe haben konjunkturelle und strukturelle Gründe zu völlig unzureichenden Frachterträgen geführt. Trotz der in letzter Zeit deutlich steigenden Transportmengen haben sich die Frachten bislang nur auf sehr niedrigem Niveau stabilisiert.
Zur Verbesserung der Situation im Binnenschiffahrtsbereich hatte der Deutsche Bundestag bereits am 9. Dezember 1993 einen umfangreichen Maßnahmenkatalog beschlossen. Betonen möchte ich: Die in dieser Entschließung enthaltenen nationalen Maßnahmen sind inzwischen umgesetzt worden.
Die deutschen Vorleistungen zur Liberalisierung in Europa sind erbracht. Nun gilt es, um in Europa zu einer Harmonisierung und einem chancengleichen Wettbewerb zu gelangen, mit Nachdruck auf die Abschaffung der Tour-de-Rôle-Systeme in unseren Nachbarländern deutlich vor dem Jahre 2000 zu drängen. Außerdem ist darauf hinzuwirken, daß ein Marktbeobachtungssystem eingerichtet wird. Im Interesse einer deutschen Binnenschiffahrt ist auf eine dringend gebotene Harmonisierung der Soziallasten, zum Beispiel bei den Beiträgen zur Berufsgenossenschaft, die echte Wettbewerbsnachteile darstellen, hinzuwirken. Ich weiß sehr wohl - und es bedrückt mich -, daß hier kurzfristige Erfolge nicht zu erwarten sind.
Am 11. März hat der EU-Ministerrat einer Abwrackaktion einschließlich der Mitfinanzierung aus Gemeinschaftsmitteln mit 20 Millionen Ecu für 1996 nach langwierigen Verhandlungen zugestimmt. Zu später Stunde danke ich an dieser Stelle ausdrücklich dem Bundeskanzler für seinen Einsatz in dieser Angelegenheit.
Neben diesem positiven Signal für die Binnenschifffahrt ist der Ausbau von Güterverkehrszentren mit der Förderung des kombinierten Verkehrs wichtiger Bestandteil für eine funktionierende Transportkette. Hier sind neben privaten Investoren auch Länder und Kommunen gefragt und gefordert. Das nationale 100-Millionen-DM-Hilfsprogramm ist ein Ansatz für die Förderung der deutschen Binnenschiffahrt. Leider fließen die Mittel nur zögerlich ab. Wir drängen auf Übertragung der Restmittel aus dem Jahr 1996 auf das Jahr 1997.
Eine moderne und leistungsfähige Binnenschiffahrt benötigt aber auch gut ausgebaute Wasserstraßen. Deutschland verfügt über ein Bundeswasserstraßennetz von rund 7 500 Kilometern, das fast alle bedeutenden Industriestandorte und Regionen verbindet. Wir sagen deshalb ja zum umweltschonenden Ausbau von Donau und Elbe, damit die Binnenschiffahrt möglichst ganzjährig im Einsatz sein kann. Nur so kann sie ein verläßlicher Verkehrsträger sein. Ich erinnere hier nur an den Widerstand gegen den Main-Donau-Kanal. Der positive Trend der Verkehrsentwicklung auf dem Main-Donau-Kanal hat auch 1995 angehalten. Auch die Personenschiffahrt und der Tourismus erleben dort seit der Eröffnung einen wahren Boom.
Aber nun zu einem Lieblingskind von Bündnis 90/ Die Grünen. Ihre ökologische und soziale Steuerreform und die sogenannte verursachergerechte Anla-
Renate Blank
stung der Wegekosten - dies ist übrigens auch im SPD-Antrag enthalten - würden der Binnenschiffahrt das Lebenslicht ausblasen. Kostendeckende Kanalgebühren und eine Mineralölsteuer wären der Tod der Binnenschiffahrt. Wir wollen der deutschen Binnenschiffahrt nicht das Lebenslicht ausblasen. Wir wollen, daß die deutsche - ich betone das Wort „deutsche" - Binnenschiffahrt zu auskömmlichen Preisen genügend Fracht erhält, damit viele Güter auf diesem umweltfreundlichen Verkehrsträger transportiert werden können.
Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen lehnen wir ab. Den Antrag der SPD in der ursprünglichen Fassung lehnen wir auch ab, da Formulierungen enthalten sind, die wir so nicht mittragen können und die auch nicht unseren Vorstellungen entsprechen. Leider ist ein gemeinsamer Antrag gescheitert,
aber - ich betone dies - nicht an den Verkehrspolitikern. Doch wir befinden uns immer noch auf der Grundlage unseres gemeinsamen Antrages vom 31. Januar 1996. Er wird für uns eine weitere Diskussionsgrundlage sein.
Wir werden in unseren Bemühungen um eine deutsche Binnenschiffahrt nicht nachlassen.
Das Wort hat die Kollegin Annette Faße.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Blank, das war nun wirklich kein Glanzstück, obwohl wir die Chance zu einem Glanzstück heute gehabt hätten, auch wenn es zu später Stunde ist, nämlich ein Zeichen zu setzen, indem wir einen gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht hätten. Leider, muß ich an dieser Stelle sagen, war dies nicht möglich. Es war nicht deswegen nicht möglich, weil wir beide uns nicht hätten einigen können. Es war auch nicht deshalb nicht möglich, weil die Verkehrsfachleute dagegen gewesen wären. Es war deshalb nicht möglich, weil die CDU/ CSU-Fraktion und auch die F.D.P.-Fraktion einen Antragsentwurf, der seit fünf Wochen den einzelnen Berichterstattern vorliegt, innerhalb der Fraktionen nicht haben beraten und auf den Weg bringen können.
Ich sage ganz deutlich, der Antrag der von Ihrer Seite im Vorfeld entstanden war, ist dann glücklicherweise zurückgezogen worden, denn es war ein Antrag, dessen man sich wirklich nur schämen konnte.
Meine Damen und Herren, die Sonntagsreden hören wir immer wieder: Umweltfreundlich, kostengünstig, sicher ist der Verkehrsträger Binnenschiff. Wir müssen jedoch ganz deutlich sagen: Nach den politischen Fehlentscheidungen hat dieser Träger keine Perspektiven innerhalb der deutschen Verkehrsträger. Er hat keine Chancen, weil die politischen Vorgaben eindeutig fehlen. Das sage nicht nur ich Ihnen, das wird auch öffentlich vom Gewerbe deutlich gesagt.
Um überhaupt ein Stück in der Entwicklung voranzukommen, hat die SPD eine Große Anfrage gestellt. Aber das Gewerbe, so muß ich Ihnen sagen, ist über die Antwort sehr enttäuscht. Danach heißt es nämlich in der Tendenz: Seht zu, wie ihr allein mit der Krise fertig werdet; ihr - das Gewerbe - seid gefordert. Die Politik äußert sich eigentlich nur sehr schwammig und sehr zurückhaltend.
Ich hätte es darum begrüßt, wenn wir heute klare Perspektiven hätten aufzeigen können; denn es ist ja weiterhin so, daß auf EU-Ebene Wettbewerbsnachteile bestehen. Das Tour-de-Rôle-System wird nicht vor dem Jahr 2000 beerdigt werden. Wir haben keine einheitliche Binnenschiffsordnung. Wir haben keinen europäischen Krisenmechanismus. Da frage ich mich: Wo ist das Engagement dieser Regierung auf EU-Ebene? Hier muß natürlich massiver als bisher Einfluß genommen werden.
Jetzt zu der vielgerühmten und mit großem Dank bedachten Abwrackaktion, die wir nur mit Krampf durchbekommen haben. Das war ja nun wirklich kein gutes Schauspiel, was zwischen Verkehrsministerium und Finanzministerium hin und her vorgeführt wurde: ein Ja, ein Nein, ein Nein und dann doch wieder ein Ja. Es ist gut, daß es nachher ein Ja wurde. Wir müssen aber deutlich sagen: Solch ein Hin und Her auf EU-Ebene schadet der deutschen Binnenschiffahrt.
Lassen Sie mich auch noch einmal auf das Notprogramm, auf das 100-Millionen-Programm, zu sprechen kommen. Bisher liegen Anträge mit einem Volumen von 20,556 Millionen vor. Bescheide sind erst über 13,228 Millionen erteilt worden, und ausgezahlt worden sind erst 7,796 Millionen.
Dieses Programm war inhaltlich falsch ausgestaltet, und man hat eines nicht bedacht: daß die Komplementärmittel von den Partikulieren überhaupt nicht erbracht werden konnten.
Ich hoffe, daß das Geld jetzt überhaupt noch vorhanden ist und nicht schon unter „gegenseitig dekkungsfähig" für andere Haushaltsstellen im Binnenschiffahrtshaushalt verbraten worden ist. Ich hoffe das nur; denn unser Antrag beinhaltet nachher ja auch eine Fortführung der Maßnahmen.
Es fehlen weiterhin flankierende Maßnahmen. Das sind die Investitionen in den Häfen; die Umschlageinrichtungen sind ungenügend, und wir haben weiterhin das Problem der Güterverkehrszentren. Wir
Annette Faße
müssen bedenken, daß von 75 Großstädten 57 am Fluß, am Wasser liegen. Hier sind natürlich auch Länder und Kommunen gefordert, diesem eine andere Gewichtung zu geben.
Das kommt aber gleich auf Sie zurück, Herr Staatssekretär. Ich frage mich, wo eigentlich das Wasserstraßenausbaugesetz bleibt.
Es wurde mir für den letzten Herbst angekündigt; es ist aber immer noch nicht da. Ich sehe hier einfach den Konflikt zwischen Verkehrs- und Umweltministerium. Wenn das nicht so ist, können Sie das heute abend sicherlich aus der Welt räumen und uns sagen, wann wir eine Gleichbehandlung von Schiene, Straße und Wasserstraße im Ausbaugesetz bekommen werden. Allein schafft die Binnenschifffahrt es sicherlich nicht, die Probleme zu lösen.
Der SPD-Antrag, der ja eigentlich auch von Ihren Verkehrspolitikern bis auf kleine Details akzeptiert worden ist, bedeutet für uns: Wir brauchen eine schlüssige Verkehrspolitik zugunsten der Binnenschiffahrt. Wir brauchen eine Zukunftsperspektive, um deutlich zu machen, daß hier bisher eine falsche Gewichtung erfolgt ist, daß wir einen Schwerpunkt auf den Träger Schiff setzen.
Darum drängen wir in den Punkten unseres Antrags energisch auf die Abschaffung des Tour-deRôle-Systems noch deutlich vor dem Jahr 2000. Wir fordern Sie auch auf, gegebenenfalls den Weg einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einzuschlagen. Wir brauchen weiter auf EU-Ebene eine Harmonisierung angesichts der Unstimmigkeiten bei den sozialen Lasten.
Zur Abwrackaktion habe ich schon einiges gesagt. Für uns ist ganz wichtig, daß das 100-Millionen-Programm um ein Jahr verlängert wird, daß die Inhalte verändert werden, nämlich dahin gehend, daß nicht nur Partikuliere förderfähig werden, sondern auch mittelständische Reedereien mit bis zu fünf Schiffen. Damit würde man der Schiffahrt auch in den neuen Ländern gerecht werden.
Wir wollen weiterhin eine Diskussion über die Ausbildungsförderung. Denn wenn wir demnächst breite und tiefe Flüsse sowie große Schiffe haben, aber keine Menschen mehr, die diese Schiffe fahren können, dann ist das, was wir hier machen, für die deutsche Binnenschiffahrt eine Farce. Wir müssen also auch in Ausbildung investieren. Für die Seeschiffahrt ist das möglich. Warum nicht auch für die Binnenschiffahrt?
Man kann mit uns sicherlich auch über eine Veränderung des Prozentsatzes bei den Komplementärmitteln reden. Man kann mit uns auch darüber sprechen, ob wir auf dem Weg über die Berufsgenossenschaften helfen können. Man muß dann aber auch versuchen, wirklich etwas zu bewegen.
Meine Damen und Herren, alleine schafft die Binnenschiffahrt es nicht. Wir können uns über Telematik und über die Modernisierung der Binnenhäfen streiten - diese Binnenschiffahrt braucht unsere Solidarität.
Wir haben auf der einen Seite die Abwrackaktion, auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, daß wir Investitionen in neue Schiffe unterstützen. Wir brauchen moderne Schiffe mit neuer Technik. Wenn bald nur noch alte Schiffe fahren, dann frage ich mich, wie lange dies noch ein sicherer Verkehrsträger ist.
Darum sind - ähnlich wie in den Niederlanden - Modelle der Steuererleichterung und einer steuerfreien Rücklage für Investitionen in modernes Schiffsmaterial und logistische Systeme zu prüfen.
Ganz große Sorgen bereitet dem Gewerbe die Öffnung in Richtung östliche Länder. Hier haben wir das Verhandlungsmandat an die EU verloren. Ich hoffe nur, daß wir die Übergangsfristen noch halten können. Ich hoffe für die Zeit danach, daß der Einfluß der Bundesregierung auf EU-Ebene wächst,
daß weiterhin überhaupt eine Möglichkeit besteht, daß die deutsche Binnenschiffahrt auch in Richtung Osten expandieren kann und dort eine Chance bekommt.
Meine Damen und Herren, wir haben die Parlamentariergruppe „Binnenschiffahrt" gegründet, um diesem Verkehrsträger eine neue Wertigkeit und eine Zukunftsperspektive zu geben. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn wir - zumindest die großen Parteien - heute eine gemeinsame Entschließung, einen gemeinsamen Antrag hätten auf den Weg bringen können. Das Gewerbe hätte sich sehr gefreut und das als weiteres positives Zeichen angesehen.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
Das Wort hat die Kollegin Gila Altmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle wollen etwas für die Binnenschiffahrt tun - wie schön. Trotz der vorzeitigen Tariffreigabe und des Verfalls der Frachtpreise hat die Binnenschiffahrt noch genügend Wasser unter dem Kiel, um nicht vollends leckzuschlagen.
Am rasanten Verkehrswachstum in den letzten Jahren war sie nicht beteiligt, die Bahn übrigens auch nicht.
Nach neuesten Schätzungen gehen die Frachtanteile entgegen den bisherigen Prognosen weiter zurück. Statt dessen boomt ein anderer Verkehrsträger, der den höchsten Energieverbrauch, die meisten
Gila Altmann
Schadstoffemissionen und die größte Lärmbelastung verursacht: der Lkw.
Alle bisherigen Ankündigungen der Bundesregierung, Bahn und Binnenschiff stärken zu wollen, haben sich als Seifenblasen entpuppt. Die Binnenschifffahrt geht weiter den Bach runter. Statt weiter mit einer Abwrackaktion hier und einem Hilfsprogramm dort an den Symptomen herumzudoktern, ist es an der Zeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrsträger durch die Anlastung der realen Kosten herzustellen. Frau Blank, auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß das die einzige Möglichkeit ist.
Um das gleich klarzustellen: Wir sind nicht pauschal gegen Anpassungshilfen für die Binnenschiffahrt. Diese müssen aber an klare Bedingungen geknüpft sein.
Erstens. Die Finanzhilfen müssen befristet sein. Es darf sich also nicht um dauerhafte Subventionen handeln, wie von Ihnen, Frau Blank, gefordert und wie die SPD sie in ihrem Entschließungsantrag mit Modellen zur Steuererleichterung und einer steuerfreien Investitionsrücklage befürwortet. Wohin das führt, hat Vulkan in eindrucksvoller Weise bewiesen.
Die Binnenschiffer selbst wollen das auch nicht. Sie wollen eine reelle Chance bekommen.
Zweitens. Anpassungshilfen haben nur zur Bewältigung einer Umbruchsituation einen Sinn, nämlich wenn eine konkrete Perspektive zur Genesung des Patienten in Sicht ist.
Dann muß ein Sofortprogamm auch seinem Namen gerecht werden. Es darf nicht im bürokratischen Gestrüpp hängenbleiben, wie es zur Zeit mit dem 100-
Millionen-DM-Sofortprogramm geschieht.
Drittens. Regelmäßige Überprüfung der Wirksamkeit der Finanzhilfen und der flankierenden Maßnahmen ist erforderlich. Genau das ist heute eben nicht der Fall.
Die Bundesregierung kneift, wenn es konkret wird, und schiebt alles auf Europa. Insofern sind die Antworten auf die Große Anfrage zwar lyrisch wertvoll, aber politisch wertlos. Solange durch fehlende Anlastung der Infrastrukturkosten und der externen Kosten die Binnenschiffahrt insbesondere gegenüber dem Lkw massiv benachteiligt wird, sind ein dauerhafter Umschwung, steigende Marktanteile und vernünftige Frachtpreise bei der Binnenschiffahrt nicht zu erwarten.
Frau Blank, die Chancen sind da. Das DIW hat dies in seiner Studie zur Verminderung der Luft- und Lärmbelastung im Güterfernverkehr eindeutig belegt. Sie sollten sich das vielleicht einfach einmal zu Gemüte führen. Statt dessen wollen Sie Milliarden in den ökologisch und ökonomisch verheerenden Flußausbau stecken. Zusammenhänge zwischen Hochwasserkatastrophen und Flußausbau werden nicht nur ignoriert, sondern sogar ins Gegenteil verkehrt, nach dem Motto: Natur ist gut; wir machen sie besser.
Es ist aus unserer Sicht absurd, von einem umweltfreundlichen Verkehrsträger zu sprechen, wenn man erst die Voraussetzungen durch gigantische Zerstörung von Naturräumen schaffen will. Wir wollen statt dessen den Einsatz und die Weiterentwicklung flexibler, flußangepaßter und umweltfreundlicher Schiffstypen. Sie gibt es im übrigen schon, gerade auch im Osten, zum Beispiel in Dessau, mit den entsprechenden Logistikkonzepten.
Dann erst wird die Binnenschiffahrt ihrem Anspruch gerecht und auch international konkurrenzfähig.
Statt also weiter Milliarden in den Flußsand zu setzen, sollten wir endlich den Mut haben, den ministeriellen Kanalbauern das Ruder aus der Hand zu nehmen. Wenn wir schon über Tiefgang reden, dann, bitte schön, im Zusammenhang mit differenzierten, integrierten und vernetzten Verkehrskonzepten.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Lisa Peters, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren! Meine Damen! Wir führen jetzt, 10 Minuten nach elf, eine Diskussion über die deutsche Binnenschiffahrt.
Wir haben nur eine halbe Stunde Zeit. Ich habe 5 Minuten. Insofern kann ich nur einige wenige Punkte aufzeigen und einige Forderungen und auch Wünsche vortragen. Dies möchte ich aber mit Nachdruck tun.
Es ist schon vieles festgestellt worden - ich stelle es noch einmal fest -: Die Binnenschiffahrt ist ein wichtiger Verkehrsträger; sie ist umweltfreundlich. Man kann etwa zwei Drittel unserer großen Städte in der Bundesrepublik über die Binnenwasserstraßen erreichen. Es gibt auch noch viele Kapazitätsreserven, die überhaupt noch nicht genutzt werden. Sie zu nutzen ist aber leichter gesagt als getan.
Nur, ein Binnenwasserhafen alleine nützt nicht viel, wenn das auf dem Binnenschiff beförderte Gut nur per Lkw abtransportiert werden kann. Häfen, die auch einen Eisenbahnanschluß haben, sind nicht die Realität in unseren Städten. Deshalb lautet die Forderung - ich bin sehr dankbar, daß wir uns in bezug darauf im Verkehrsausschuß einig sind -: In den Hä-
Lisa Peters
fen müssen mehr Vorrichtungen dafür geschaffen werden. Kombinierter Verkehr ist angesagt. Hierzu sind Hilfen und auch Ideen gefragt.
Auch Kommunalpolitiker und Kommunalpolitikerinnen sind aufgefordert, in Städten mit Binnenhäfen aktiv die Vernetzung zu fordern, in die kommunalpolitische Infrastruktur zu investieren und die Binnenhäfen dort mit einzubeziehen. Das - so stelle ich fest - ist leider auch nicht immer geschehen.
Gemeinsam - nur so kann es gehen - müssen Kommunen, Länder und auch der Bund dafür sorgen, daß es Innovationen gibt und daß Investitionen in diesem Bereich getätigt werden, so daß dadurch für die Binnenschiffahrt bessere Bedingungen entstehen.
Der Markt in der EU - das haben meine Vorrednerinnen schon gesagt - ist liberalisiert und harmonisiert. Für die deutsche Binnenschiffahrt sind einige Maßnahmen zu früh gekommen. Sie hat sich noch nicht auf den Wettbewerb eingestellt und auch nicht, wie ich denke, einstellen können. Doch der Stellenwert der Binnenschiffahrt ist gestiegen. In allen Publikationen und den Fachzeitschriften des Verkehrsgewerbes wird zwischenzeitlich die Rechnung mit der Binnenschiffahrt als ernstzunehmendem Verkehrsträger gemacht. Sie wird nicht mehr ausgegrenzt, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war.
Meine Herren und meine Damen, unser Thema heißt „Perspektiven der deutschen Binnenschifffahrt". Eigentlich müßte man diesen Text mit einem Fragezeichen versehen. Das haben fast alle Abgeordneten erkannt. Deswegen arbeiten wir gemeinsam an Lösungen.
Wir müssen dafür sorgen, daß das deutsche Wasserstraßennetz weiterhin dort ausgebaut wird, wo es sinnvoll ist, wo es einen Nutzen für den vernetzten Verkehr bringt und wo der Ausbau ökologisch machbar ist. Hier werden keine Wasserwege durch die Landschaft geklotzt. In der Bundesrepublik können nur dann Wasserstraßen gebaut werden, wenn sie vernünftig geplant sind und eine Umweltverträglichkeitsprüfung stattgefunden hat.
Wir tragen heute Wünsche und Forderungen vor. Ich denke, Herr Carstens - der Minister ist heute nicht anwesend; das ist vielleicht auch nicht so wichtig;
- ich stelle das in Frage -, daß diese bei Ihnen in guten Händen sind. Man kann Sie, Herr Carstens, beim Wort nehmen; das wird deutlich, wenn man Ihre Reden in den Protokollen nachliest. Auch der Minister hat in letzter Zeit mehrfach Presseerklärungen abgegeben, in denen er die Binnenschiffahrt ganz klar vorangestellt hat.
Ich will noch einige Forderungen deutlich machen: Hier ist schon gesagt worden, daß das Tour-de-RôleSystem vor dem Jahr 2000 beendet sein muß. Wir fordern den Minister auf - das ist schon von Frau Faße gesagt worden -, daß, wenn das in Europa so nicht durchzusetzen ist, eine Klage geführt werden muß.
Auch unsere Partikuliere und die gesamte deutsche Binnenschiffahrt können meiner Ansicht nach Gewinne erwirtschaften, wenn Chancen- und Wettbewerbsgleichheit besteht. Diese ist wirklich in vielen Punkten noch nicht gegeben. Wir drängen deshalb auf Harmonisierung in den Bereichen der sozialen Leistungen und auch bei den Lasten, die durch die Berufsgenossenschaften entstanden sind und weiter entstehen.
Ich will es bei der Nennung dieser wenigen Fakten bewenden lassen.
Wichtig ist weiter, daß auch die Abwrackaktion gemeinsam mit Europa vorangetrieben wird. Durch eine Verringerung der Überkapazitäten entsteht mehr Nachfrage und mehr Umsatz bei den verbleibenden Binnenschiffern.
Auch die Umstellung der Richtlinien auf eine erweiterte Förderung der Partikuliere und der mittelständischen Unternehmen in der Binnenschiffahrt muß erfolgen. Von Frau Faße ist schon gesagt worden, daß bis zu fünf Schiffe bezuschußt werden müssen.
- Dazu hat meine Kollegin Blank schon einiges ausgeführt; ich denke, daß wir uns im Verkehrsausschuß in absehbarer Zeit auf etwas einigen werden. - Wichtig ist auch, daß im Steuerbereich Erleichterungen angedacht werden. Außerdem muß auf die Wettbewerbssituation mit den MOE-Staaten geachtet werden.
Es ist meine feste Überzeugung, daß die Binnenschiffahrt auch in Zukunft Perspektiven hat. Wir benötigen diesen leistungsfähigen Verkehrsträger.
Wir sind bereit, den Rahmen zu verbessern. Dazu gehört auch, daß noch einmal über Ausbildungsmodalitäten nachgedacht wird. Die Zukunft erfordert meiner Ansicht nach laufende Anpassung an neue Anforderungen. Hier heißt es, gute und bewährte Systeme beizubehalten, sich aber dem Neuen nicht zu verschließen.
Ich denke, die Binnenschiffer und ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben es verdient, daß wir uns für sie einsetzen. Generell, so glaube ich, steht dies über dieser ganzen Angelegenheit.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Enkelmann, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche hier sozusagen als letzte der Fünferbande, bevor der erste Herr reden darf.
Gerade in der letzten Zeit wird die Bundesregierung nicht müde, immer wieder den hohen Stellenwert der Binnenschiffahrt im Güterverkehrssektor
Dr. Dagmar Enkelmann
zu betonen. Verbal ist ihr die Schiffahrt das liebste Kind. Das aber fällt ihr ausgerechnet dann ein, nachdem sie mit der völligen Freigabe der Frachttarife zu Beginn des Jahres 1994 die deutsche Binnenschiffahrt in eine schwere Krise gestürzt hat.
Während in den Niederlanden, Frankreich und Belgien das Tour-de-Rôle-System zumindest bis zum Jahr 2000 bestehenbleibt, hat die Bundesregierung völlige Vertragsfreiheit und freie Preisbildung eingeführt. Das Tarifaufhebungsgesetz, das eine Liberalisierung ohne die notwendige europäische Harmonisierung brachte, hat zu einem Verfall der Frachtraten bis zu 60 Prozent geführt.
Deswegen hat die PDS im Verkehrsausschuß der Beschlußempfehlung zugestimmt. Der Bundestag hat die Bundesregierung bereits im Dezember 1995 aufgefordert - ich zitiere - „mit Nachdruck auf die sofortige Beseitigung des sogenannten Tour-de-Rôle-Systems in den Niederlanden, Belgien und Frankreich hinzuwirken, erforderlichenfalls im Wege einer Klage". Passiert ist allerdings bisher nichts.
Weiterhin wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Übergangsfrist für die Freigabe der Kabotage in Deutschland bis zur Beseitigung des Tour-deRôle-Systems zu verlängern. Auch dieses Ziel hat die Bundesregierung nicht erreicht.
Das großartig angekündigte 100-Millionen-Programm vom Dezember 1994, das im übrigen von der PDS mitgetragen worden ist, reicht nicht - das hat sich inzwischen gezeigt - an die Bedürfnisse der Partikuliere heran. Zum einen konnte es wegen mangelnder Eigenmittel nicht in Anspruch genommen werden. Darauf hat Annette Faße schon aufmerksam gemacht. Ich will nur eine Zahl nennen: Aus dem 100-Millionen-Programm sind bislang nicht einmal 8 Millionen DM abgerufen worden.
Es kommt hinzu, daß der größte Teil der ostdeutschen Binnenschiffahrt zu diesem Förderprogramm keinen Zugang hat, obwohl die Tonnage oftmals weit niedriger liegt als bei drei motorgetriebenen Schiffen. Wir meinen auch, daß die Zugangsmöglichkeiten zu diesem Programm erweitert werden müßten, etwa was den Zugang von Schubverbänden mit vier Schubleichtern anbetrifft - fünf Schiffe wären also schon so ein Kompromiß. Es geht aber auch die Frage, inwieweit für Ausbildungsbeihilfen, aber auch zur Stärkung der Eigenanteile Mittel aus diesem Programm herausgenommen werden könnten. Hier sind durchaus einige Möglichkeiten vorhanden, Mittel aus diesem Programm abzurufen.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die vielbeschworene Liebe der Bundesregierung zur Binnenschiffahrt für diese wohl eher tödlich ist.
Ein im Frühjahr 1994 vorgelegtes, von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten hat ein Verlagerungspotential für die Binnenschiffahrt von den Verkehrsträgern Straße und Schiene in Höhe von rund 55 Millionen Tonnen ermittelt. Ich denke, das ist eine gewaltige Chance. Aber um dieses Potential zu aktivieren, bedarf es der notwendigen verkehrspolitischen Rahmenbedingungen. Abwrackaktionen können unseres Erachtens nicht das Allheilmittel sein. Es geht vor allen Dingen um Investitionen in moderne Schiffsysteme, in den Containertransport, in den kombinierten Verkehr, in moderne Logistikkonzepte, in die auch kleinere Schiffe tatsächlich eingepaßt werden können und in denen sie durchaus ihren Platz haben.
Ein Wort noch zum Thema faire Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrsträger: Der umweltfreundliche Gütertransport per Binnenschiff und Bahn wird nur dann gestärkt werden, wenn endlich die Subventionierung des Straßengüterverkehrs beendet wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe sehr und möchte auch alles dafür tun, gemeinsam mit Matthias Wissmann und Ihnen hier im Parlament, daß die deutsche Binnenschiffahrt tatsächlich eine gute Zukunft, eine gute Perspektive hat.
Wir wissen, daß sich die deutschen Partikuliere zur Zeit in einer schwierigen Situation befinden. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Die Preise sind gesunken, die Frachtraten auch in der Menge zurückgegangen. Gott sei Dank erholen sie sich im Moment ein wenig.
Aber was tun die Partikuliere mit ihren Familien? Sie halten durch, sie arbeiten länger als sonst, um über diesen vermehrten Arbeitseinsatz in der ganzen Familie trotzdem durchzukommen. Ich möchte einmal im Deutschen Bundestag den deutschen Partikulieren und ihren Familien dafür danken, daß sie durchhalten und nicht aufgeben.
Wenn man sich die konkrete Situation anschaut, stellt man fest, daß beste Voraussetzungen dafür gegeben sind, daß wir in der Binnenschiffahrt zusätzliche Umsätze erwarten können. Wir haben erhebliche Mengenaufwüchse beim Güterfernverkehr, und die Straßenbelastungen nehmen zu. Die Binnenschifffahrt ist umweltfreundlich, sicher, kraftstoffsparend. Das alles spricht dafür, daß sie eine Chance hat. Natürlich spricht das auch dafür, daß wir uns dafür einsetzen, auf dem politischen Wege das zu tun, was wir helfend tun können.
Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
So haben wir nun dafür gesorgt, daß das 100-Millionen-Programm bewilligt werden konnte. Das war keine leichte Arbeit. Es war vor allen Dingen sehr schwierig, sich in Europa durchzusetzen. Ich kann aber die Fragesteller heute abend insoweit beruhigen, als ich die Zusage geben kann, daß die Mittel, die 1996 möglicherweise nicht ausgegeben werden, auf das Jahr 1997 übertragen werden.
Das heißt, das Geld steht zur Verfügung. Die Binnenschiffer können absolut sicher sein, daß das Geld nicht verfällt. Wir sind jetzt mit den Verbänden der Binnenschiffahrt dabei, in Übereinstimmung mit der EU zu kommen, damit wir möglichst schnell zu einer besseren Flexibilität in der Anwendung dieses Programmes kommen.
Frau Faße, wenn ich an einen Punkt in Ihrem Papier denke, dann warne ich Neugierige. Falls wir dem nachkämen, dann würden Sie erleben, daß ein wesentlicher Verband der deutschen Binnenschifffahrt dem nicht zustimmte, nämlich der Ausweitung der Förderung auf die Reedereien.
Wir vertreten die Meinung, daß die Verbände sich einigen müssen. Wenn die Verbände sich einigen sollten, dann wären wir auch bereit, diesem Gedanken näherzutreten. Aber es kann nicht angehen, innerhalb der Partikuliere, innerhalb der Binnenschiffahrt unnötig Streit zu säen, den ich für den Fall voraussehe, daß wir dem nachkommen, was Sie in diesem einen Punkt gefordert haben.
Wir haben dann als nächstes durchgesetzt, daß die Abwrackaktion, die schon seit einigen Jahren läuft, fortgesetzt wird - eine wesentliche Sache. Wenn dann gesagt wird, es sei nicht leicht gewesen, das durchzusetzen, auch nicht gegenüber dem deutschen Finanzminister,
so haben Sie recht. Aber es ist nicht das Entscheidende, ob es schwierig war oder nicht. Entscheidend ist, daß wir es durchgesetzt haben und daß weiter abgewrackt werden kann.
Ich bin gar kein so großer Freund des Abwrackens; denn an sich wollen wir die Binnenschiffahrt aufrechterhalten. Aber wenn eine Partikulierfamilie die Garantie hat, im Notfall noch abwracken zu können, dann nimmt die materielle Sicherheit für diese Familie ganz erheblich zu. Im Falle des Falles, wenn sie doch durchhalten will, hat sie einen ganz anderen Hintergrund, viel mehr Möglichkeiten auch gegenüber den Kreditinstituten. Somit ist das auch ein Instrument, um das Durchhalten der Familien zu fördern, die darin ihre Existenz haben. Insofern freue ich mich, daß wir das fortsetzen können.
Nun möchte ich, weil in einer solchen Kurzdebatte nicht die Möglichkeit besteht, auf alle Fragen einzugehen, nur noch dies sagen: Mir sind natürlich die Papiere bestens bekannt, vor allen Dingen das Papier, auf dessen Grundlage wir in unserer Arbeit stehen: das Papier der Koalition vom 31. Januar 1996. Wir werden natürlich das Bestmögliche tun, um in all den Fragen Stück für Stück weiterzukommen, auch bezüglich der Wettbewerbsverzerrungen, die es tatsächlich - das ist wahr - in Europa gibt. Es ist an der Zeit, an den Abbau dieser Wettbewerbsverzerrungen heranzugehen. Aber das bedeutet auch das Bohren dicker Bretter. Wir dürfen den Partikulierfamilien nicht zuviel Hoffnung machen. Wir dürfen diesen Familien, die auf unsere Worte vertrauen, nur das zusagen, was wir anschließend einhalten können, und nicht irgend etwas, was in Papieren steht und gar nicht eingehalten werden kann.
Insofern abschließend von mir die Zusage: Die Bundesregierung wird sich wirklich mit aller Kraft dafür einsetzen, daß wir in Deutschland und in Europa die Voraussetzungen dafür bieten, daß die deutsche Binnenschiffahrt und die deutschen Partikuliere mit ihren Familien weiterhin eine echte Perspektive haben.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4681. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD- Fraktion und der PDS gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
- Es tut mir leid.
- Wenn es denn so ist: gegen die Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4710. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koaliti-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
onsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltungen der PDS abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einer Mitteilung der Europäischen Union über eine gemeinsame Politik bei der Gestaltung des Marktes der Binnenschiffahrt und von Begleitmaßnahmen, Drucksache 13/4243. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9c auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Rolle der Union im Bereich des Fremdenverkehrs - Grünbuch der Kommission
- Drucksachen 13/2306 Nr. 2.106, 13/4214 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rolf Olderog Brunhilde Irber
Halo Saibold
Dr. Olaf Feldmann
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Halo Saibold und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung des Tourismus
- Drucksachen 12/7895, 12/8467 Nr. 1.36,
13/1513, 13/1548, 13/4216 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Brähmig Susanne Kastner
Halo Saibold
Dr. Olaf Feldmann
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Umweltschutz und Tourismus
- Drucksachen 13/1531, 13/4217 -
Berichterstattung:
Abgeordnete
Simon Wittmann Susanne Kastner
Halo Saibold
Dr. Olaf Feldmann
Es war für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vereinbart. Es sind aber alle Reden zu Protokoll gegeben worden, und zwar für die CDU/CSU von dem Abgeordneten Olderog, für die SPD von den Abgeordneten Kastner und Follak, für Bündnis 90/ Die Grünen von der Abgeordneten Saibold, für die F.D.P. von dem Abgeordneten Dr. Feldmann, für die PDS von der Abgeordneten Schenk und für die Bundesregierung vom Parlamentarischen Staatssekretär Kolb.*)
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 13/4214. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und der PDS angenommen.
Wir kommen zu der Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu dem Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4216. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/1548 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei etwas unklarem Stimmverhalten der PDS und bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksachen 13/1531 und 13/4217. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder
- Drucksache 13/4183 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Aber auch die Reden zu diesem Punkt sind sämtlich zu Protokoll gegeben worden.
Es sind dies die Reden der Abgeordneten Dr. Götzer, von Renesse, Grießhaber, Braun, Lüth und für die Bundesregierung Schmidt-Jortzig.**)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/4183 an die in der Tagesordnung auf-
*) Die Redetexte werden als Anlage 2 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt.
**) Die Redetexte werden als Anlage 3 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
geführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS
Die Situation von Lesben und Schwulen in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/1946, 13/4152 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die PDS hat Kollegin Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe der PDS wollte von der Bundesregierung wissen, wie sie die Situation von Lesben und Schwulen hierzulande einschätzt und inwieweit die diesbezüglichen Erkenntnisse sich in ihrer Politik widerspiegeln. Ich muß hier leider feststellen, daß die Antwort der Bundesregierung durch eine beispiellose Selbstzufriedenheit und eine bodenlose Ignoranz gegenüber den Diskriminierungen und Beeinträchtigungen, mit denen Lesben und Schwule Tag für Tag in diesem Land konfrontiert sind, geprägt ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich die Bundesregierung in Ihrer Antwort nicht ein einziges Mal dazu durchringen konnte, von Lesben und von Schwulen zu reden. Die Bundesregierung spricht statt dessen von Menschen mit homosexuellen Neigungen, als ob es sich um eine luxuriöse Marotte handeln würde, und meint, diese seien doch frei in ihrer Entscheidung, wie sie ihr Leben gestalten wollten.
Freiheit der Wahl, meine Damen und Herren, gibt es nur unter den Bedingungen der Anerkennung der Gleichheit und Gleichwertigkeit. Nein, Lesben und Schwule sind nicht frei und gleichberechtigt in der Wahl ihrer Lebensweise.
Nur wer verheiratet ist, kann gemeinsam Kinder adoptieren, hat einen Rechtsanspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses beim Tod des Partners bzw. der Partnerin, hat einen gemeinsamen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein, hat ein Zeugnisverweigerungsrecht, bekommt als ausländischer Partner oder Partnerin eine Aufenthaltsgenehmigung und hat einen Anspruch auf einen achtzigmal so hohen Steuerfreibetrag bei einer Erbschaft. Das sind die Fakten, die die Bundesregierung nicht zur Kenntnis nimmt.
Grundlage der Diskriminierung von Lesben und Schwulen ist die Bevorzugung und Begünstigung einer einzigen Lebensform, der Ehe, und das soll nach dem Willen der Bundesregierung auch so bleiben.
Lesben und Schwule - so ist der Antwort zu entnehmen - sollen zum Beispiel keinen gemeinsamen Wohnberechtigungsschein bekommen, weil
es gegenüber wohnungssuchenden Familien nicht zu rechtfertigen
sei. Begründet wird das mit Art. 6 GG. Dazu möchte ich zwei Anmerkungen machen.
Erstens. Nirgendwo ist in Art. 6 die Rede davon, daß andere Lebensformen außer der Ehe zu benachteiligen seien. Hier wird ganz kaltschnäuzig das Grundgesetz dazu mißbraucht, Vorurteile und Vorbehalte gegenüber anderen Lebensweisen, insbesondere gegenüber Lesben und Schwulen, zu rechtfertigen. Das ist ein Skandal.
Zweitens ein Wort zur Familie. Hierzulande wird darunter auch das kinderlose Ehepaar verstanden, nicht jedoch zum Beispiel das lesbische Paar mit Kind. In der Antwort werden beispielsweise lesbische und schwule Paare einfach mit Wirtschafts- und Wohngemeinschaften gleichgesetzt. Das ist absurd.
Es kommt noch schlimmer bei der Frage der Adoption. Zwischen der sexuellen Orientierung und der Fähigkeit, die Personensorge wahrzunehmen oder per Adoption für Kinder zu sorgen, besteht absolut kein Zusammenhang. Die Bundesregierung meint jedoch, es müsse geprüft werden,
ob die sexuelle Orientierung der Antragstellerin bzw. des Antragstellers das Kindeswohl gefährdet.
Das ist einfach unglaublich.
Es gibt Untersuchungen zur Situation von Lesben und Schwulen in der Arbeitswelt, wonach 81 Prozent der Befragten sich manchmal oder häufig am Arbeitsplatz diskriminiert fühlen. Die Bundesregierung findet zwar, daß dies auf ein
bedauernswertes Maß an Intoleranz in unserer Gesellschaft hindeutet,
aber Handlungsbedarf sieht sie nicht. Die trivial anmutende Erkenntnis, daß Homo- und Heterosexualität gleichwertige Varianten menschlicher Sexualität und Lebensweise sind, hat die Bundesregierung noch nicht erreicht. Zu groß sind die ideologischen Scheuklappen.
Stil und Inhalt der Antwort der Bundesregierung haben die Notwendigkeit, an einer Veränderung der Situation zu arbeiten erneut sehr deutlich vor Augen geführt. Wir, das heißt die PDS im Bundestag, werden ein Konzept zur Gleichstellung aller Lebensweisen entwickeln. Es darf keinen Unterschied machen, ob jemand verheiratet ist oder nicht, ob jemand allein, zu zweit oder mit mehreren zusammenlebt, ob jemand heterosexuell, lesbisch oder schwul ist.
Der Staat muß aufhören, sich in die Lebensgestaltung Erwachsener mit normativen Vorgaben einzumischen. Dafür muß er weit stärker als bisher das Zusammenleben mit Kindern und Pflegebedürftigen schützen und fördern, und zwar unabhängig von der Lebensweise. Die Debatte dazu insgesamt muß in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert wer-
Christina Schenk
den. Das ist, glaube ich, das einzige Ergebnis, was aus der Antwort der Bundesregierung zu entnehmen ist.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Hanna Wolf, SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte diese Debatte gerne zu einem anderen Zeitpunkt geführt als gerade um Mitternacht. Ich finde bedauerlich, daß wir das nicht geschafft haben.
Deswegen hätte man Sie heute endlich einmal auf sitzen lassen sollen.
Seit gut zwei Jahren gibt es eine Entschließung des Europäischen Parlaments - ich zitiere -:
daß alle Bürgerinnen und Bürger ohne Ansehen ihrer sexuellen Orientierung gleichbehandelt werden müssen.
Und die Bundesregierung? Frei nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, behauptet sie - ich zitiere wieder -:
Das Bundesrecht erlaubt es nicht, Personen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung sachwidrig ungleich zu behandeln. Die Entschließung des Europäischen Parlaments gibt deshalb zur Änderung des Bundesrechts keinen Anlaß.
Folgerichtig finden sich in der Antwort der Bundesregierung zur Situation von Lesben und Schwulen in der Bundesrepublik gehäuft Formulierungen wie „sieht derzeit keine Veranlassung", „liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor", „liegen keine Informationen vor", „vermag die Bundesregierung nicht zu erkennen", „sind der Bundesregierung nicht bekannt" und „ein Änderungsbedarf ist nicht zu erkennen" oder „es besteht kein Anlaß".
Die vorliegende Antwort der Bundesregierung liest sich daher streckenweise, als ob die berühmten drei Affen mitgeschrieben hätten, die weder etwas sehen noch hören oder sagen wollen.
Aber ganz so harmlos ist die Antwort der Bundesregierung denn doch wieder nicht. Wo sie argwöhnt, der grundgesetzliche Schutz der Ehe und Familie sei in Gefahr, wird sie deutlich: „der Familie den Vorrang vor anderen Formen von Lebens- und Wohngemeinschaften geben", „undifferenzierte Ausdehnung", „nicht angemessen", „nicht beabsichtigt".
Was Sie hier betreiben, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist nicht der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie, sondern schlichte Privilegierung.
Und die Privilegierung der einen schafft immer die Diskriminierung der anderen. Warum hat sich denn die Regierungsmehrheit in der Verfassungskommission so gesträubt, ein explizites Verbot der Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung auf zunehmen? Etwa, weil das Abendland zusammengebrochen wäre? Auch Sie müßten wissen, daß sich das Abendland auf eine andere Tradition berufen kann als auf Ihre äußerst eng gestrickte Familienideologie.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Die SPD will weder die Ehe noch die Familie abschaffen. Sie sind höchstpersönliche Lebensentscheidungen. Unserer Meinung nach hat sich aber der Familienbegriff in der Bevölkerung im Laufe der letzten Jahrzehnte ausgeweitet. Wenn wir von Familie sprechen, meinen wir das Zusammenleben Erwachsener mit Kindern. Hier bedarf es des besonderen Schutzes durch den Staat.
Um einem weiteren Mißverständnis vorzubeugen: Unser Emanzipationsbegriff verträgt sich schlecht mit der Vorstellung, daß nun alle lesbischen und schwulen Paare in den vermeintlich schützenden Hafen der Ehe einfahren sollten. Dazu haben wir in 25 Jahren Frauenbewegung gelernt, daß die von konservativer Seite so besonders geförderte Ehestruktur die Alleinverdienerehe ist. Sie bringt eine geradezu zwangsläufige Abhängigkeit der Ehepartnerin vom Ehepartner. Diese potentielle Abhängigkeit wollen wir lesbischen und schwulen Paaren gar nicht erst wünschen.
Das Stichwort ist gefallen.
Herr Kollege Beck möchte eine Zwischenfrage stellen.
Sie wollten es nicht anders, Frau Kollegin Wolf.
Ich kenne Ihr SPD-Grundsatzprogramm von 1990. Darin steht ein sehr wichtiger Satz zu diesem Thema: Keine Lebensgemeinschaft darf diskriminiert werden, auch die gleichgeschlechtliche nicht.
Teilen Sie mit mir nicht die Meinung, daß das Eheschließungsverbot für homosexuelle Paare und die Rechtsprobleme, die schwule und lesbische Paare haben, eine ungerechtfertigte Benachteiligung sind? Bei heterosexuellen Ehepaaren gibt es den direkten Ausfluß des grundgesetzlichen Schutzes der Ehe wie das Aufenthaltsrecht für den ausländischen Ehepartner, Rechtsfolgen aus dem Erbrecht, die besonders privilegierte Stellung im Erbschaftsteuergesetz. Meinen Sie nicht, daß wir als fortschrittliche Kräfte die Benachteiligung der homosexuellen Paare hier bekämpfen sollten?
Volker Beck
Teilen Sie mit mir nicht die Meinung, daß uns ideologische Vorschriften für Minderheiten, wie sie richtig, sozialistisch, emanzipiert oder frei zu leben haben, nicht anstehen, sondern wir es den Menschen selber überlassen sollten, wie sie leben und das rechtlich organisieren wollen?
Ich komme noch auf alle Punkte, die Sie gerade angesprochen haben. Ich habe schon früher gesagt: Die Privilegierung der Ehe bedeutet die Diskriminierung von anderen Lebensformen. Dagegen müssen wir etwas machen.
Wir kämpfen gegen das sogenannte Ehegattensplitting; da haben wir ein Stichwort. Ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit, für zwei Menschen, die zusammenleben, eine steuerliche Privilegierung einzuführen. Wir sind einer Meinung, daß das Ehegattensplitting abzuschaffen ist. Aber Sie wollen es für andere Lebensformen einführen. Da sind Wir anderer Meinung. Wir stimmen aber vollkommen darin überein, daß die Diskriminierung abgebaut werden muß. Dazu sage ich gleich noch etwas.
Wir sehen den von der Bundesregierung in Abrede gestellten gesetzlichen Handlungsbedarf völlig anders. Dazu haben wir auch eine Initiative in Vorbereitung. Ich gebe zu, Herr Kollege Beck, daß wir darüber bei uns kontrovers diskutieren.
Ich frage mich auch, was die Formulierung „nicht sachwidrig ungleich behandeln" heißen soll. Hält die Bundesregierung die derzeitige Ungleichbehandlung auf Grund der sexuellen Orientierung für sachgerecht?
Ist es etwa sachgerecht, wenn eine lesbische Frau oder ein schwuler Mann das bestehende Mietverhältnis nicht fortsetzen kann, weil die Partnerin oder der Partner gestorben ist?
Ist es sachgerecht, wenn Menschen, die in schwuler oder lesbischer Partnerschaft zusammenleben möchten, ihre Wohnberechtigungsscheine nicht zusammenlegen dürfen?
Ist es sachgerecht, daß zwar Quasiverlobte oder selbst durch nicht mehr bestehende Ehen Verschwägerte, nicht aber gleichgeschlechtliche Partner oder Partnerinnen ein Zeugnisverweigerungsrecht haben?
Ist es sachgerecht, daß lesbische Partnerinnen und schwule Partner im Erbrecht wie wildfremde Leute behandelt werden und ihnen alle möglichen entfremdeten Verwandte vorgezogen werden können?
Ist es sachgerecht, wenn eine Nicht-EU-Bürgerin oder ein Nicht-EU-Bürger in Deutschland nicht auf Dauer mit ihrer lesbischen Partnerin oder seinem schwulen Partner zusammenleben kann, weil sie oder er kein Aufenthaltsrecht bekommt? Und das selbst bei vorliegender Unterhaltspflichterklärung.
Es gibt solche Fälle, in denen ein schwuler Partner aus Deutschland in das ehemalige Jugoslawien ausgewiesen werden soll und sein Lebenspartner nichts dagegen machen kann. Das halte ich für eine massive Diskriminierung. Dagegen sollte gesetzlich vorgegangen werden.
Allerdings sieht die Bundesregierung das nicht so. Da sollten wir tätig werden.
Das sind nur einige gravierende Beispiele, für die wir dringenden gesetzlichen Handlungsbedarf sehen. Die Behinderungen müssen ausgeräumt werden; denn sie verstoßen nicht nur gegen unser Grundgesetz und die schon erwähnte Entschließung des Europäischen Parlaments - sie verstoßen gegen Menschenrechte.
Auf noch etwas möchte ich besonders eingehen: In ihrer Antwort spricht die Bundesregierung noch immer von „Menschen", „Personen", „Personenkreis", „Partnern" oder „Homosexuellen". Auch in diesem Punkt werden Frauen - die lesbischen Frauen - sprachlich wieder neutralisiert und zum Verschwinden gebracht. Versuchen Sie einmal, sich vorzustellen, wie es auf Sie wirkt, wenn niemand Sie wahrnimmt, wenn Sie glauben müssen, daß es eine solche wie Sie nicht gibt, daß Sie selbst womöglich gar nicht existieren.
Die feministische Lesbenbewegung kämpft seit Jahrzehnten gegen dieses Verschwindenmachen an. Deshalb haben wir von der SPD-Fraktion im Frauenausschuß zu den Haushaltsberatungen auch immer wieder Anträge zur Förderung von Lesbenprojekten gestellt. Die Regierungsfraktionen haben sie immer wieder abgelehnt. Das nenne ich eine feine Fürsorge: keine gesetzliche Unterstützung, keine materielle Unterstützung.
Auch auf der UN-Regierungskonferenz der Frauen in Peking hat Ministerin Nolte nicht dafür gestritten, daß die Gleichberechtigung der lesbischen Frauen im Abschlußdokument festgehalten wird. Da müssen sich die lesbischen Frauen wieder einmal selbst helfen.
Eben in diesen Tagen läuft in Deutschland eine Kampagne „Come out - Lesben kommen raus". Wenn lesbische Frauen totgeschwiegen werden, müssen sie sich um so lauter melden. Wir unterstützen sie dabei. Ich freue mich, daß sich die Frauen gerade an diesem Wochenende in München Gehör verschaffen werden, und ich wünsche dieser Tagung in München vollen Erfolg.
Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Enkelmann hat eine Kurzintervention von zwei Sätzen angekündigt. Dazu hat sie das Wort.
Frau Wolf, ich möchte nur ein Wort der Aufklärung darüber sagen,
Dr. Dagmar Enkelmann
weshalb dieser Punkt so spät auf der Tagesordnung steht und die Debatte zu dieser Stunde stattfindet. Es ist grundsätzlich so, daß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Anträge der PDS immer am Schluß der Tagesordnung aufgeführt sind, also auch immer um diese Zeit behandelt werden. Ich kann Sie nur auffordern, sich an Ihre parlamentarischen Geschäftsführer zu wenden und das möglicherweise zu verändern. Falls Sie dazu Unterlagen brauchen: Wir haben eine entsprechende Statistik vorliegen.
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Man hätte vielleicht doch parlamentarisch etwas klüger verfahren und die verschiedenen Anträge, die es aus dem Hause zu diesem Thema gibt, in einer längeren Debatte gemeinsam diskutieren können.
Meine Damen und Herren, heute ist ein historisches Datum, auch wenn dies sicher keine historische Stunde des Parlaments ist. Heute ist der Tag der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Homosexuellen die einzige Gruppe sind, die im Dritten Reich verfolgt, verschleppt und vernichtet wurde, die in der Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich unter der gleichen Rechtslage zum Teil von denselben Personen, denselben Richtern drangsaliert und kriminalisiert wurde und die nicht ausdrücklich unter den Kriterienkatalog des Gleichbehandlungsartikels des Grundgesetzes fällt. Die Behinderten haben es in der letzten Wahlperiode geschafft, aufgenommen zu werden. Dafür haben wir alle wacker gekämpft, und darüber haben wir uns sehr gefreut. Den Homosexuellen wurde es verwehrt.
Gestern wurde die Rede von Nelson Mandela vor diesem Hause mit großem Beifall aufgenommen. Wir haben gehört, was er zu den Unterdrückten, ihrer Kraft und ihrer Wut, die sie nicht ruhen läßt, bis sie gleiche Rechte erhalten haben, gesagt hat. Was Nelson Mandela gesagt hat, bezog sich nicht nur auf die Diskriminierung von Schwarzen, von Farbigen in Südafrika. Nein, mit dem Ende der Apartheid und mit der Einführung der Demokratie in Südafrika ist dort auch für die Schwulen und Lesben ein neues Zeitalter angebrochen.
Südafrika hat als erster Staat Homosexuellen verfassungsmäßig festgeschriebene Rechte garantiert. Der Bill of Rights zufolge ist indirekte oder direkte Diskriminierung durch den Staat auf Grund von Geschlecht, sexueller Ausrichtung, Abstammung, Familienstand, Schwangerschaft, Alter, Behinderung, Religionszugehörigkeit, Glaube, Überzeugung oder Sprache verboten. Ich meine, es stünde dem Deutschen Bundestag gut zu Gesicht, von den demokratischen Fortschritten in Südafrika zu lernen.
Auch andernorts, wo Willkür und Tyrannei von einer mutigen Bevölkerung abgeschüttelt wurden, tut sich etwas für die Rechte von Lesben und Schwulen. In Ungarn wurden die Lebensgemeinschaften der
Homosexuellen vor zwei Tagen vom Parlament rechtlich anerkannt. In Polen hat die Verfassungskommission mit Zweidrittelmehrheit empfohlen, dem Vorschlag von Südafrika zu folgen und die Nichtdiskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung in der neuen polnischen Verfassung festzuschreiben. Vaclav Havel, der Präsident von Tschechien, hat sich dafür ausgesprochen, die skandinavische Rechtslage eingetragener homosexueller Partnerschaften auch dort einzuführen.
In vielen westeuropäischen Nachbarstaaten ist die Bürgerrechtssituation von Schwulen und Lesben viel weiter als in der Bundesrepublik Deutschland. Registrierte Partnerschaften mit gleichen Rechten wie für Ehegatten - mit Ausnahme des Adoptionsrechts - gibt es in Dänemark, Schweden und Norwegen. Antidiskriminierungsgesetze gibt es in Skandinavien, in den Niederlanden und in Frankreich. In den Niederlanden hat das Parlament im letzten Monat einen Gesetzentwurf der Regierung zurückgewiesen, die eingetragene Partnerschaft nach skandinavischem Vorbild einzuführen.
Wahrscheinlich meinen Sie, das könnte uns hier auch so passieren. Ja, aber wohl kaum mit der Begründung: Das geht nicht weit genug. Das niederländische Parlament hat mit seiner Mehrheit die Regierung aufgefordert, die Ehe für schwule und lesbische Paare zu öffnen.
Dazu muß ich sagen: Betrachtet man diese Vorgänge, dann ist unser Land schwulen- und lesbenpolitisch ein Entwicklungsland. Was Sie, Herr Minister, vorgelegt haben, ist ein Offenbarungseid für liberale Rechtspolitik und für Ihre Politik in Sachen Bürgerrechte von Schwulen und Lesben.
Es ist ein Dokument der Ignoranz, wenn Sie sagen, die Bundesregierung setzt sich dafür ein, alle Formen der Diskriminierung zu vermeiden und ihnen entgegenzutreten. Wann haben Sie das einmal in den letzten 13 Jahren getan, in diesem Hause, mit einem Gesetzentwurf, mit einem Vorschlag? Ich kann es nicht benennen, Sie auch nicht; denn Sie bekennen in Ihrer Antwort freimütig: Zu besonderen Maßnahmen sieht die Bundesregierung derzeit keinen Anlaß. Dieses Papier hat mich sehr enttäuscht, weil es einen völligen Immobilismus in der Diskussion dokumentiert.
Abschließend muß ich noch ein Wort an die PDS richten. Sie haben es denen auch verdammt leicht gemacht. Sie haben einen unserer Anträge aus der 11. Wahlperiode abgepinnt und in Fragen umformuliert. Sie haben ihn dabei juristisch so vermurkst, daß es auf Grund der unklaren Rechtsbegriffe, die Sie in Ihren Fragen verwenden, für die Bundesregierung ein leichtes war, Ausflüchte zu finden.
Die Probleme, die Sie angesprochen haben, sehe ich genauso. Aber wo ist Ihr Lösungskonzept? Ich höre drei verschiedene Stimmen aus Ihrer Fraktion, Ihre, Frau Schenk, die Sie die Ehe abschaffen wollen, und die Stimmen von Herrn Heuer und Herrn Gysi, die die Ehe für Homosexuelle einführen wollen.
Herr Kollege Beck, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich denke, Sie sollten die Bundesregierung bei einer solchen Anfrage mit einem gangbaren Konzept konfrontieren, mit dem wir in der Sache weiterkommen. Ich hoffe, wir werden in den Ausschüssen noch Gelegenheit haben, diese Frage an Hand anderer Anträge ausführlich zu diskutieren.
Das Wort hat der Kollege van Essen, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte vorweg mein Bedauern darüber aussprechen, daß uns die PDS mit diesem gestern nachträglich angemeldeten Tagesordnungspunkt in dieser Woche überrascht hat. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn der Christopher-Street-Day in Zukunft jährlich genutzt werden könnte, über die Situation von homosexuellen Menschen in Deutschland zu debattieren. Wir hätten in diesem Jahr gut damit anfangen können. Es wäre dann sicher auch möglich, einen günstigeren Zeitpunkt als diese sehr späte Stunde für die Debatte zu vereinbaren.
Wir haben heute erneut ein großes Klagelied gehört, und vieles ist sicher berechtigt. Trotzdem möchte ich ganz bewußt ein Gegenbild aufzeichnen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Zu dieser späten Stunde möchte ich auf Zwischenfragen verzichten.
Wenn keine Zwischenfrage zugelassen ist, wird auch keine gestellt.
Wir haben auch Rücksicht auf unsere Kollegen zu nehmen, die noch sehr lange warten müssen.
Wer gesellschaftliche Entwicklungen mit wachem Sinn verfolgt, kommt an der Feststellung nicht vorbei, daß sich die gesellschaftliche Lage von homosexuellen Menschen in den letzten Jahrzehnten und gerade in den letzten Jahren entscheidend verbessert hat. Dazu hat wesentlich das beigetragen, was die F.D.P. in den jeweiligen Koalitionsregierungen umgesetzt hat. Wir freuen uns sehr darüber.
Es ist heute doch ganz selbstverständlich, daß man zusammen wohnt, lebt und arbeitet. Das Positivste daran ist: In allen mir bekannten Fällen gibt es keinerlei Probleme mit der Nachbarschaft, im Gegenteil.
Von genau dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit sollten wir uns bei der Beurteilung leiten lassen.
Natürlich gibt es formale Defizite. Ich nenne nur das Besuchsrecht im Krankenhaus. Aber auch da hilft uns eine rein rechtliche Betrachtungsweise nicht weiter. In wieviel Fällen kommt es denn tatsächlich zu einer Verweigerung von Auskünften an die Lebenspartner oder den Lebenspartner? In allen mir bekannten Fällen haben die Ärzte die besondere Situation respektiert, anerkannt und alle notwendigen Auskünfte ohne Probleme erteilt.
Ich habe Verständnis dafür, Herr Beck, daß die eine oder andere Partei die Situation auch deshalb besonders schlecht darstellt, weil sie ihrer Klientel Bürokratenstellen zuschanzen will.
Mit Bürokratisierung ist jedoch noch nie eine Problemlage gelöst worden, in welchem Bereich auch immer.
Ich finde es immer wieder von neuem interessant, daß Parteien, die sonst jegliche Wirkung des Strafrechts verneinen und deshalb für Entkriminalisierung eintreten, in bestimmten Bereichen die bewußtseinsbildende Kraft des Strafrechts loben und die Einführung neuer Straftatbestände fordern.
Wir hatten kürzlich eine Debatte über das Thema Beleidigung, bei der es sehr interessante Ausführungen gegeben hat. Hier wird nun plötzlich im Gegensatz zu den damaligen Überzeugungen eine Erweiterung des Beleidigungsparagraphen 185
mit dem Ziel gefordert, eine bestimmte Personengruppe zu schützen.
Mit einer so widersprüchlichen Politik schadet man nur.
Für uns Liberale ist der Schwerpunkt in dieser Legislaturperiode die Beseitigung der tatsächlichen Diskriminierung im Bereich des Mietrechts beim Tode der Mieterin oder des Mieters. Die Kollegin Hanna Wolf hat das zu Recht angesprochen. Die bisherige Regelung ist vom Bundesgerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung auf nichteheliche Lebensgemeinschaften mit heterosexuellen Partnern erweitert worden. Es ist kein, aber auch wirklich keinerlei Grund ersichtlich, warum gleichgeschlechtliche Partnerschaften hier weiter diskriminiert werden. Gerade in einer Zeit, in der die zunehmende Singularisierung der Gesellschaft zu Recht beklagt wird, muß die Politik alles tun, um Einstehensgemeinschaften zu stärken und zu fördern.
Jörg van Essen
Ich mache diese Bemerkung auch deshalb mit großem Nachdruck, weil die Erfahrungen mit der Einführung von rechtlich abgesicherten homosexuellen Gemeinschaften inzwischen in vielen unserer Nachbarländer positiv sind. Die F.D.P. tritt seit langem für eine entsprechende Regelung auch bei uns ein. Ich rate unserem Koalitionspartner deshalb sehr, sich über diese Erfahrungen zu informieren und daraus für unser Land die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Nicht umsonst hat das niederländische Parlament vor wenigen Wochen eine Verbesserung der rechtlichen Regelungen der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gefordert. Gerade liberale Abgeordnete waren an dieser Verbesserung an maßgeblicher Stelle beteiligt - gegen eigene Regierungsmitglieder, ich weiß.
Insgesamt bin ich der Auffassung, daß es gilt, auch in Zukunft mit Selbstbewußtsein und Nachdruck für den weiteren Abbau von Diskriminierungen zu kämpfen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird dabei wie in der Vergangenheit die notwendige Unterstützung leisten.
Das Wort für eine Kurzintervention hat die Kollegin Schenk.
Herr Kollege Beck, ich sehe mich gezwungen, auf verschiedene Ihrer Bemerkungen einzugehen, die ich hier nicht unwidersprochen stehenlassen kann.
Erstens. Die Forderung, die Ehe für Lesben und Schwule zu öffnen, ist selbstverständlich. Es ist eine Diskriminierung, wenn Menschen von der Möglichkeit zu heiraten ausgeschlossen werden. Was Sie jedoch noch immer nicht verstanden haben, ist, daß es überhaupt keinen Widerspruch gibt zwischen der Forderung nach Öffnung des Instituts der Ehe für Lesben und Schwule und der Forderung nach Abschaffung der damit verbundenen Privilegien bzw. der Benachteiligungen für Nichtverheiratete.
Zweitens. Ich bedaure es sehr, daß Sie meiner Rede offensichtlich nicht zugehört haben, denn sonst hätten Sie die Frage nach den Alternativen, die die PDS vorschlägt, nicht gestellt. Ich kann das aber hier für Sie wiederholen. Wir wollen einen Gesetzentwurf einbringen, der die Gleichstellung aller Lebensweisen realisiert - ob jemand verheiratet ist oder nicht, ob jemand zu zweit lebt oder mit mehreren zusammen oder allein, ob jemand heterosexuell oder bisexuell oder lesbisch bzw. schwul ist, soll nach unseren Vorstellungen für den Staat ohne Belang sein.
Noch eine Bemerkung, Herr Beck, da wir diesen Streit über die Ehe schon länger miteinander haben. Es ist mein Anliegen, tatsächlich einen emanzipatorischen Schritt zu gehen. Das heißt nicht, daß ich anderen Menschen vorschreiben möchte, wie sie leben sollen. Da haben Sie mich völlig mißverstanden. Aber man kämpft nicht gegen Privilegierungen, indem man einfach nur den Kreis der Privilegierten erweitert.
Eine letzte Bemerkung zu Ihrer Bemerkung über die Qualität unserer Großen Anfrage. Ich wäre sehr froh gewesen, wenn Sie auf die Ausarbeitung Ihrer Großen Anfrage, deren Beantwortung noch bevorsteht, auch nur einen Bruchteil der Sorgfalt verwendet hätten, die wir verwendet haben.
Herr Kollege Beck, mit diesem Umgangsstil hier kommen wir nicht weiter. Ich hoffe auch, daß Sie sich einmal mit der Bewegung in Verbindung setzen, endlich mal den Kontakt aufnehmen, mal mit Lesben und Schwulen sprechen, damit Sie erfahren, daß Sie mit Ihrer alleinigen Forderung nach Öffnung des Instituts der Ehe für Lesben und Schwule doch sehr auf verlorenem Posten stehen.
Die Gegenrede!
Verehrte Frau Kollegin, ich finde, Ihre Ausführungen machen es nicht besser: Bestimmte Vorschläge von Ihnen sind in der. Form, wie sie hier angesprochen worden sind, juristisch einfach nicht möglich. Deshalb bin ich auch so gespannt darauf, daß Sie uns eines Tages mit Ihrem Entwurf zur Gleichstellung aller Lebensweisen beglücken.
- Hören sie mir doch einfach einmal zu. - Ich weiß nicht, ob es der richtige Ansatz ist, allen Menschen die gleichen rechtlichen Regelungen aufzuzwingen. Vielleicht sollte man Ihnen statt dessen lieber die Wahl lassen - wie wir das vorschlagen - zwischen der Ehe, die für alle offen sein soll, der „Ehe light", einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die wenigstens den Angehörigenstatus und die unmittelbaren Rechtsfolgen des Zusammenlebens regelt, und der Lebensform derjenigen, die einfach alleine leben wollen und keine rechtlichen Regelungen benötigen. Ein entsprechender Antrag von uns liegt bereits vor.
Ich bin für größtmögliche Liberalität und nicht dafür, den Menschen etwas vorzuschreiben. Denn die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich. Der Unterschiedlichkeit der Wünsche rechtlich Rechnung zu tragen, sie bei Heterosexuellen wie bei Homosexuellen anzuerkennen, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Mit ihrer erziehungsdiktatorischen Gleichmacherei erreichen Sie nichts. Das ist gegen die Interessen der Menschen.
Ich würde auch gerne einmal wissen, was eine sinnvolle Folge aus Rechtsinstituten ist und was nur ungerechtfertigte Privilegien sind. Das sind Worthülsen, Schlagworte, mit denen wir nicht weiterkommen.
Wir sollten eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Politik machen. Ich weiß, daß es diese unterschiedlichen Bedürfnisse gibt; denn ich rede sehr viel mit Schwulen und Lesben, aber auch mit Heterosexuellen, die in nichtehelichen Lebensge-
Volker Beck
meinschaften leben, und nehme deren Gründe für die Wahl ihrer Lebensform sehr ernst.
Der Kollege Dr. Mahlo gibt - mit Einverständnis des Hauses - seine Rede zu Protokoll.*)
Das gleiche gilt für Herrn Minister Schmidt-Jortzig.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 14 und 15 auf:
ZP14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 13/4065 -
ZP15 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 2. Untersuchungsausschusses
- Drucksache 13/4698 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß wir uns heute zum vierten Mal innerhalb eines Vierteljahres mit den Vorgängen um den einst größten deutschen Werftenverbund beschäftigen, ist gut. Es zeigt zumindest, daß Einigkeit über alle Fraktionsgrenzen hinweg darüber besteht, daß uns das Schicksal von 22 500 Vulkan-Beschäftigten in West und Ost sowie weiteren Zehntausenden Beschäftigten in Zulieferbetrieben nicht gleichgültig ist.
Die Einigkeit endete aber bisher bei der Frage, wie die Umstände aufzuhellen sind, die zum Versickern eines mindestens dreistelligen Millionenbetrages öffentlicher Mittel führten - Umstände, welche die Steuerzahler nun nochmals mit vierstelligen Millionensummen zur Kasse bitten.
Die Gruppe der PDS hat seit Anfang März wieder und wieder eine parlamentarische Untersuchung verlangt. Seit 12. März liegt diesem Hause unser entsprechender Antrag vor. Alle Fraktionen hüllten sich bis vorgestern entweder in Schweigen oder verwiesen auf die Bemühungen der Bundesregierung um „eine schonungslose Aufklärung der persönlichen Verantwortlichkeiten für die Fehlleitung öffentlicher Mittel", wie es die Mehrheit des Haushaltsausschusses am 17. April so hübsch formulierte.
*) Die Redetexte werden als Anlage 4 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt.
Was aber brachten bisher die regierungsamtlichen Untersuchungen, nachdem fast 90 Tage seit dem öffentlichen Eingeständnis des Desasters ins Land gegangen sind? Staatssekretär Kolb konnte gestern im Wirtschaftsausschuß nichts aus behördeninternen Untersuchungen, geschweige denn von Staatsanwälten und BKA berichten.
Dabei häufen sich die Ungereimtheiten in den amtlichen Darstellungen. Nur ein Beispiel: Heute erfuhr ich im Finanzministerium, ein Abschlußgutachten der KPMG wird es nicht geben - wegen unüberbrückbarer Widersprüchlichkeiten zwischen Aussagen dieses Institutes und den einstigen Vulkan-Wirtschaftsprüfern C&L-Treuarbeit. Susat und Partner, Hamburg, soll nun ein neutrales Gutachten vorlegen - ein Vorgang von nicht zu überbietender Brisanz, war es doch der sogenannte Zwischenbericht der KPMG vom 23. Februar, der letztlich den Konkurs des Vulkan-Verbundes mit all seinen Folgen auslöste. Nun entpuppt sich dieser möglicherweise als unseriös. Brachen die Firmen möglicherweise wegen eines von interessierter Seite gestreuten Waschzettels zusammen? Nicht nur am Rande sei erwähnt, daß der KPMG-Bericht unter anderem auf Informationen der Herren Dirk Groß-Blotekamp, Gerald Utikal und Hans Christoph von Rohr von der BvS basierte.
Eine schnelle Aufklärung der Vulkan-Affäre tut also not; denn es geht dabei keineswegs nur um die für den Steuerzahler millionenteure Geschichte. Verstrickungen im politischen wie im finanziellen Bereich sind herauszufinden. Es geht vor allem um das Heute und Morgen vieler Arbeitsplätze, weil viele der Akteure von gestern nach wie vor an den Schalthebeln sitzen und über Gegenwart und Zukunft der betroffenen Betriebe entscheiden.
Auch dabei häufen sich mittlerweile die Ungereimtheiten. Ein Beispiel dafür ist die rechtliche Führung und Finanzierung der Ostwerften. Am 4. April nötigte der Bund Mecklenburg-Vorpommern zu einer Vereinbarung, mit der das Opfer für einen Teil des ihm zugefügten Schadens selbst aufkommen soll. Am 23. April akzeptierte das Land schließlich zähneknirschend die Vergewaltigung. Einen Monat später aber befinden sich die Werften noch immer in einem undefinierbaren Schwebezustand.
Herr Kollege Kutzmutz, gucken Sie bitte einmal auf die Uhr.
Danke. - Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen, weil ich glaube, daß es wichtig ist, ganz schnell zu Lösungen zu kommen. Das sind wir dem Steuerzahler schuldig. Wir sind es aber insbesondere den 10 000 Beschäftigten schuldig, die bisher auf den Werften Arbeit gefunden haben.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Beucher, SPD.
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die PDS hat einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vorgelegt, der die Vorgänge um die Bremer Vulkan Verbund AG aufklären soll. Die SPD ist ebenfalls der Auffassung, daß die Folgen der Privatisierung der ostdeutschen Werften rückhaltlos und vollständig aufgeklärt werden müssen. Aber auch andere Privatisierungen wie zum Beispiel der Verkauf ehemaliger DDR-Kreditinstitute an westdeutsche Großbanken im Zuge der Umstrukturierung des DDR-Bankensystems haben möglicherweise zu erheblichen Vermögensnachteilen für die öffentlichen Kassen geführt und müssen daher untersucht werden.
Die Vorgänge um die Bremer Vulkan Verbund AG sind somit nur ein Beispiel dafür, daß bei der Treuhandanstalt und ihrer Nachfolgeeinrichtung, der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, Lücken und Mängel im Vertragsmanagement und Controlling bestehen, die eine zweckentfremdete Verwendung von Fördermitteln möglich gemacht haben bzw. immer noch möglich machen.
Alleine durch die zweckentfremdete Fördermittelverwendung im Rahmen des Cash-Managements beim Bremer Vulkan sind für den Bund und für das Land Mecklenburg-Vorpommern insgesamt zusätzliche Haushaltsbelastungen von fast 1 Milliarde DM entstanden. Dieser Untersuchungsausschuß bietet sich deshalb geradezu an, da dieser Ausschuß ohnehin noch offen gebliebene Fragen des Treuhand-Untersuchungsausschusses aus der letzten Wahlperiode aufzuklären hat.
Allerdings hat die bisherige Ausschußarbeit auch gezeigt, daß der derzeitige Untersuchungsauftrag nicht ausreicht, die jetzt offenkundig gewordenen Sachverhalte über den Verkauf der DDR-Banken und der Vorgänge beim Bremer Vulkan zum Gegenstand von Untersuchungen durch diesen Ausschuß zu machen - dies vor allem deshalb, weil die SPD vor der Einsetzung des Ausschusses dem Drängen der Koalitionsfraktionen auf Einschränkung des Auftrages nachgegeben hat. Derzeit kann der 2. Untersuchungsausschuß trotz Vorliegens eines weitergehenden Aufklärungsbedarfs nicht tätig werden, wenn zum Beispiel in gleicher Angelegenheit ein Bericht des Bundesrechnungshofs vorliegt. Dies hat sich als nachteilig erwiesen, weil ein Untersuchungsausschuß im Vergleich zum Bundesrechnungshof durch sein Beweiserhebungsrecht über ein größeres Instrumentarium verfügt.
Der Antrag der PDS auf Einsetzung eines VulkanUntersuchungsausschusses muß von der SPD auch aus folgenden Gründen abgelehnt werden:
Erstens. Dieser Ausschuß würde sich nur mit den Vorgängen um die Bremer Vulkan Verbund AG beschäftigen. Beim Auftreten von untersuchungswürdigen Sachverhalten im Zusammenhang mit der Privatisierung von anderen Unternehmen durch die Treuhandanstalt und BvS würde sich in jedem Einzelfall die Frage nach Einsetzung eines Untersuchungsausschusses stellen. Dies ist bei einer Erweiterung des Auftrags des 2. Untersuchungsausschusses nicht der Fall.
Zweitens. Bei einer Erweiterung des Untersuchungsauftrags können die vorhandenen Kapazitäten des 2. Untersuchungsausschusses genutzt werden. Im Vergleich zur Einsetzung eines eigenständigen Vulkan-Untersuchungsausschusses entstehen somit auch nur geringe zusätzliche Kosten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, hat die Bremer Bürgerschaft Anfang dieser Woche die Einsetzung eines Vulkan-Untersuchungsausschusses beschlossen, der insbesondere die Verantwortlichkeiten des Bremer Senats bei dieser Affäre untersuchen soll. Insofern ist es in diesem Zusammenhang zweckmäßig, gleichzeitig die Zuständigkeiten des Bundes durch den Deutschen Bundestag zu beleuchten.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält daher auch aus diesem Grund die Erweiterung des Auftrags des 2. Untersuchungsausschusses für dringend geboten und hofft auf die Unterstützung des Hauses.
Das Wort hat Kollegin Simone Probst, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorgänge um die Zweckentfremdung der öffentlichen Mittel, die eigentlich für die ostdeutschen Werften des Vulkan-Verbundes gedacht waren, sind, denke ich, nicht aufgeklärt. Zur Sache hat mein Vorredner schon einiges gesagt. Ich brauche mich zu dieser späten Stunde daher nicht mehr großartig dazu zu äußern. Die Verantwortung, die die BvS in diesem Bereich trägt, ist sehr erheblich. Über die BvS steht daher auch die Bundesregierung in der Verantwortung.
Der Kollege der SPD hat eben schon den Bremer Untersuchungsausschuß angesprochen. Dieser Untersuchungsausschuß befaßt sich vornehmlich mit den Vorgängen, die der Bremer Senat zu verantworten hat, und nicht mit der Bundesregierung. Die Bundesregierung kann sich aber nicht aus der Verantwortung stehlen. Ihr Vorschlag einer Ausweitung des Untersuchungsauftrages ist nicht ausreichend. Der Vorgang ist so gravierend, daß er rechtfertigt, einen extra Untersuchungsausschuß einzurichten.
Deshalb unterstützen wir den Antrag der PDS.
Das Wort hat Kollege Koppelin, F.D.P.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben zwei Anträge vorliegen, einmal einen Antrag der PDS, Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, und einen Antrag der Sozialdemokraten, Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 2. Untersuchungsausschusses. Beide Anträge sind nach Auffassung der Fraktion der Freien Demokraten überflüssig.
Wenn PDS und SPD wirklich Interesse an der Aufklärung hätten, hätten sie die Gelegenheit nutzen können, im Haushaltsausschuß ihre entsprechenden Fragen zu stellen. Im Haushaltsausschuß haben wir mehrfach Gelegenheit gehabt, zum Beispiel mit der BvS zu diskutieren. Sie hat dort ganz klar Rede und Antwort gestanden. Aber wir haben natürlich eine schiefe Lage insofern, weil Sie teilweise nach Vorgängen bei der BvS fragen und dabei vergessen, überhaupt erst einmal nach den Schuldigen zum Beispiel beim Bremer Vulkan zu fragen.
Frau Professor Luft, Sie wissen ganz genau, wie wir sehr sachlich mit der BvS im Haushaltsausschuß über diese Punkte diskutiert haben. Ich habe nicht feststellen können, daß zum Beispiel von der PDS dort sehr viele Fragen gekommen sind.
Herr Kollege Koppelin, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage von Herrn Kutzmutz?
Ja, gerne. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte sehr.
Herr Kollege Koppelin, Sie sprechen den Haushaltsausschuß an. Ich bin im Wirtschaftsausschuß. Herr Staatssekretär Kolb wird Ihnen bestätigen können, daß ich nicht nur eine Frage gestellt habe, sondern mehrere, und die Fragen, um die Ausschußsitzung nicht zu verlängern, immer schriftlich übergeben habe. Ich muß noch einmal sagen: Durch die zögerliche Arbeit der BvS und durch die ganzen Fragen, die aufgetreten sind - -
Frage, Herr Kollege!
Ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mir nicht übereinstimmen, daß durch die Verzögerung, die jetzt eintritt und die bei keinem Untersuchungsausschuß auftritt, zum Beispiel auch die Volkswerft Stralsund nachträglich gefährdet wird, weil keine Entscheidungen getroffen werden und deshalb schon ein Verzug bei der Bautätigkeit von über sechs Wochen eingetreten ist.
Herr Kollege, ich sehe den Zusammenhang in diesem Falle nicht. Der Untersuchungsausschuß, den Sie fordern, wird nach meiner Auffassung da nichts weiterbringen. Aber ich werde nachher in einem anderen Bereich auf Ihre Frage zurückkommen. Ich bitte dafür um Verständnis.
Der Bremer Untersuchungsausschuß ist schon angesprochen worden. Ich finde, daß die Fragen, die man in Bremen formuliert hat, sehr gut sind. Dabei gibt es drei Fragen, die genau den Bereich betreffen, den die PDS angesprochen hat. Wir sind als F.D.P. der Auffassung: Warten wir einmal die Ergebnisse des Bremer Ausschusses ab! Wenn uns die Ergebnisse dann nicht zufriedenstellen, müssen wir sicher über weitere Schritte reden. Dabei muß man fairerweise sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten: Zur Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses haben nicht Sie sich entschieden, sondern zwei andere, kleinere Fraktionen. Sie sind dazu gedrängt worden.
Wir erwarten allerdings, daß die BvS beim Untersuchungsausschuß in Bremen hierzu auch Rede und Antwort steht.
Jetzt sage ich noch einen Satz zum Antrag der PDS. Daß Sie als PDS in Ihrem Antrag zum Untersuchungsausschuß zum Beispiel nicht nach der Rolle des Herrn Ringstorff in Mecklenburg-Vorpommern gefragt haben, dafür habe ich natürlich Verständnis, wo Sie doch gern heimlich mit ihm eine Koalition eingehen würden. Das wollen Sie selbstverständlich nicht stören, aber das hätte auch dort hineingehört. Ich komme darauf nachher noch zurück.
Nun kommen wir zum Antrag der Sozialdemokraten. Warum stellen Sie denn diesen Antrag? Sie stellen doch den Antrag, weil Sie jetzt feststellen müssen, daß Sie im 2. Untersuchungsausschuß den großen Fisch, den Sie dort gern fangen wollten, nicht gefangen haben. Das ist Ihr Problem, und nun versuchen Sie aus Enttäuschung darüber, mit den Themen zu BvS und Treuhand das Ganze noch etwas aufzupäppeln.
Es ist doch interessant, wenn Sie in Ihrem Antrag erst in der Begründung etwas zum Vulkan sagen und vorher nur von BvS und von der Treuhand reden. Warum haben Sie denn nicht in Ihrem Antrag auch eindeutig zum Vulkan Stellung genommen? Nein, das tun Sie nur in der Begründung, weil Sie schamhaft verschweigen, wer damit zu tun hatte: die Herren - wir kennen sie alle - Hennemann, Teichmüller, Ringstorff.
Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang noch etwas: Ich habe ganz großen Respekt vor dem Bremer Bürgermeister, wie er sich auch auf dem Parteitag der Sozialdemokraten eindeutig von dem distanziert hat, was der Herr Hennemann dort abgelassen hat.
Jürgen Koppeln
Es ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, daß Sie solch einen Herrn noch als Delegierten zum Landesparteitag wählen. Das ist doch auch ein Skandal,
und ich denke, damit müssen Sie sich auch einmal beschäftigen.
Und nun, da Sie das große Geschrei anheben, liebe Kolleginnen und Kollegen, komme ich auf das zurück, was ich Ihnen versprochen habe. Sie bekommen doch alle die Bücher, woran der Bund beteiligt ist, wo er seine Beteiligungen hat. Schauen Sie einmal hinein! Ich nehme jetzt nur einmal den BvS-Verwaltungsrat. Ich lese Ihnen Namen vor, bei denen Sie sich erkundigen können. Wissen Sie denn, wer im Verwaltungsrat der BvS sitzt? Da sitzt Herr Reinhard Höppner, Ministerpräsident in Magdeburg; da sitzt Herr Dr. Norbert Meisner, Senator in Berlin; da sitzt Herr Harald Ringstorff; da sitzt Herr Dieter Schulte, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Düsseldorf; da sitzt Herr Manfred Stolpe; da sitzt Herr Joachim Töppel, geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der Industriegewerkschaft Metall. Fragen Sie doch diese Leute, was sie in dem Verwaltungsrat tun! Da können Sie die Auskünfte bekommen.
Herr Kollege Koppelin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Gleich, wenn ich zuvor noch einen Satz sagen darf!
Wenn wir noch einmal in die Treuhand zurückschauen, dann frage ich Sie: Wer hat denn dort im Verwaltungsrat gesessen? Herr Roland Issen, Herr Hans-Werner Meyer, Hermann Rappe, Manfred Stolpe usw. Fragen Sie doch die Herren; die wissen ja Bescheid. Oder sind die ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen?
Jetzt haben Sie selbstverständlich das Wort zu einer Frage.
Herr Kollege Koppelin, ist Ihnen eigentlich bei Ihren langwierigen Ausführungen nicht aufgefallen, daß die erste Adresse, was die Rechts- und Fachaufsicht über die BvS und ihre Vorgängerin, die Treuhand, angeht, bei dem Bundesfinanzminister und bei dem Bundeswirtschaftsminister lag?
Zum ersten, Herr Kollege: Ich habe nicht länger Zeit als die anderen Kollegen auch. Insofern habe ich keine langwierigen Ausführungen gemacht, wie Sie das hier dargestellt haben; denn ich habe genau die Zeit, die andere auch haben.
Zweitens. Das habe ich eben erwähnt: Da haben Ihre Kolleginnen und Kollegen ja nicht zuhören wollen, als ich sagte, daß wir dieses Thema laufend im Haushaltsausschuß diskutieren, auch mit der BvS. Und der Finanzminister und die Staatssekretärin, die erfreulicherweise an diesem neuen Tag noch hier bei der Debatte anwesend ist und nachher etwas dazu sagen wird, sind auch immer dabei. Also, das Thema ist doch richtig erkannt, daß wir das im Haushaltsausschuß diskutieren müssen.
Herr Kollege Koppelin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Barbara Hendricks?
Mit großem Vergnügen, wenn die Fragen solche Qualität haben wie eben.
Herr Kollege Koppelin, Sie haben eben eine große Zahl von Namen von Mitgliedern des Aufsichtsrates der Treuhand und der BvS aufgezählt
und an uns die Aufforderung gerichtet, bei diesen nachzufragen, was denn dort losgewesen sei. Darf ich Sie fragen, ob Ihnen bewußt ist, daß das Aktienrecht verbietet, aus Aufsichtsratssitzungen Mitteilungen zu machen?
Aber, Frau Kollegin, das sind ja alles Sozialdemokraten. Die sind von politischen Gremien dort hineingeschickt worden. Ich denke, wenn die - und das ist jetzt mein Eindruck - versagt haben, dann müßten sie eigentlich von den politischen Gremien, von denen sie dort hineingeschickt worden sind, zurückgezogen werden. Und die Vorschläge sind, soweit ich weiß, überwiegend von Sozialdemokraten gemacht worden.
Ich komme zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Fraktion der Freien Demokraten lehnt die beiden Anträge ab. - Auf den Zuruf sage ich Ihnen: Herr Rexrodt hat mit der Angelegenheit nichts zu tun. Das wissen Sie genausogut wie ich.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Christa Luft.
Herr Kollege Koppelin, als Mitglied des Haushaltsausschusses weise ich mit Nachdruck zurück, daß die PDS in diesem Gremium nicht die Möglichkeit genutzt habe, Fragen zu stellen, wenn dieser Tagesordnungspunkt an der Reihe war. Vielleicht waren Sie zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen. Das ist möglich.
Ich jedenfalls könnte eine Reihe von Zeugen beibringen. Die Protokolle sagen das ja auch aus.
Im übrigen haben wir in der vorletzten Sitzung des Haushaltsausschusses einen Antrag der PDS beraten - natürlich hat die Mehrheit ihn abgelehnt -, der sich mit dem weiteren Umgang beim Subventionsmißbrauch befaßt. Was Ihre Person angeht, erinnere ich mich sehr genau, daß Sie in diesem Hause - allerdings vor den Landtagswahlen - selbst gefordert haben, man möge einen Untersuchungsausschuß einsetzen. Nachdem die Landtagswahlen vorbei sind, haben Sie mit diesem Thema offenbar nichts mehr am Hut.
Vielleicht geht es Ihnen auch darum, zu verhindern, daß aufgeklärt wird, welche Rolle in diesem Prozeß eine ganze Reihe von Großbanken dieses Landes und auch einige Abgeordnete spielen, die in diesem Hause sitzen, und zwar auf der Bank mir gegenüber.
Danke schön.
Ich nehme an, das ist auch eine Kurzintervention zu dem Beitrag. Ich bitte, sich an der Kürze der Vorrednerin ein Beispiel zu nehmen. Danach kann der Kollege Koppelin einmal antworten.
Sehr schön, Herr Präsident. Ich nehme Ihre Aufforderung selbstverständlich gerne entgegen.
Ich möchte nur darauf hinweisen, daß der Kollege Koppelin keine Silbe zu der Frage verloren hat, ob es nicht auch untersuchungswert ist, was mit der Privatisierung der Banken geschehen ist.
Herr Kollege Koppelin.
Ich weiß sehr wohl etwas dazu.
- Habe ich nun die Gelegenheit zu antworten oder nicht? Man sagt zwei Worte, und Sie ereifern sich bereits.
Darf der Kollege Koppelin die Gegenrede halten?
Ich kann ja die Aufregung der Sozialdemokraten verstehen. Ich will jetzt nicht noch einmal die ganzen Namen aufzählen. Herr Kollege Schily, ich könnte Ihnen dazu noch etwas sagen. Ich habe mich - solange ich diesem Parlament angehöre - sehr intensiv damit beschäftigt, wie zum Beispiel die Allianz an bestimmte Dinge in den neuen Bundesländern gekommen ist. Ich will auch das einmal erwähnt haben. Ich habe immer wieder nachgebohrt. Das wäre auch noch ein Kapitel für sich. Ich bin da sehr wohl in der Materie.
Ich habe nur fünf Minuten Redezeit. Deshalb kann ich dazu nicht mehr sagen.
Ich möchte zur Kollegin Professor Luft etwas sagen. Es ist richtig, daß ich einen Untersuchungsausschuß gefordert habe. Ich habe - das werden Sie nachlesen können - aber gesagt, ich würde den Landesparlamenten in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern Untersuchungsausschüsse empfehlen. Das war jedenfalls der Vorschlag der F.D.P. Deswegen habe ich ausdrücklich gesagt, daß wir begrüßen, daß in Bremen ein Untersuchungsausschuß eingerichtet worden ist.
Das war Rede und Gegenrede.
Jetzt wollen wir in der Tagesordnung weiterfahren. Die veranlaßt mich zu sagen, daß Kollege Andreas Schmidt seine Rede mit dem Einverständnis des Hauses zu Protokoll gibt.*)
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Gruppe der PDS zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses auf Drucksache 13/4065. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koali-
*) Der Redetext wird als Anlage 5 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS abgelehnt.
Der Antrag der Fraktion der SPD zur Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 2. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 13/4698 soll dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenbar der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
- Das tut mir leid. Ich bedaure außerordentlich. Ich kann nur das aufrufen, was mir die Geschäftsführer auf Zetteln angeben. Der Name stand dort nicht. Etwas anderes kann der Amtierende Präsident hier nicht tun. Ich weiß nicht, wie das entstanden ist. Aber so ist nun einmal das Leben. Deshalb ist die Sache jetzt abgeschlossen.
Wir sind am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 24. Mai 1996, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.