Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Um 14.00 Uhr soll zunächst eine vereinbarte Debatte zum Vergleichsantrag des Bremer Vulkan stattfinden. Daran schließt sich um 15.30 Uhr die Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Moskau- Besuch des Bundeskanzlers an. Die Fragestunde wird erst gegen 16.40 Uhr beginnen. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann machen wir das so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung die Reform des Kindschaftsrechtes, die Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes und die Stärkung und Modernisierung der beruflichen Bildung mitgeteilt.
Das Wort zu dem einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister der Justiz, Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reform des Kindschaftsrechts stellt das umfangreichste rechtspolitische Vorhaben dieser Legislaturperiode dar. Die ersten Vorbereitungsarbeiten für diese Reform hatten bereits unter meinem Vorvorgänger im Amt, Klaus Kinkel, begonnen. Auch meine Vorgängerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, hat hier intensiv mitgearbeitet und konnte im vergangenen Jahr einen Referentenentwurf vorlegen, der nun auf Grund der eingegangenen Stellungnahmen nochmals überarbeitet worden ist. Ich möchte ausdrücklich auch Frau Kollegin Nolte für ihre Hilfe bei den Abstimmungen danken. Ohne diesen Einsatz wäre das Projekt so nicht zustande gekommen.
Darüber, daß diese Reform notwendig und dringlich ist, besteht allgemein Übereinstimmung. Die
Stellungnahmen haben auch ein hohes Maß an Zustimmung zu den Zielen dieser Reform erbracht.
Ich möchte an dieser Stelle folgendes hervorheben: In Erfüllung des Verfassungsauftrags aus Art. 6 Abs. 5 GG sollen Unterschiede im Recht ehelicher und nichtehelicher Kinder beseitigt werden. Im bürgerlichen Recht soll es begrifflich die Unterscheidung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern künftig nicht mehr geben. Das künftige Recht soll den veränderten sozialen Verhältnissen besser Rechnung tragen. So sollen etwa durch lebensnahe Vaterschaftszurechnungen teure Anfechtungsprozesse künftig überflüssig werden. Die Interessen der Kinder, die von einer Trennung oder Scheidung ihrer Eltern betroffen sind, sollen besser geschützt werden.
Ein Grundgedanke des Entwurfs besteht darin, daß die Kontakte des Kindes zu beiden Elternteilen und anderen wichtigen Bezugspersonen möglichst erhalten bleiben sollen; Umgangsrechte spielen dabei eine wichtige Rolle. Auf Antrag des Kindes soll auch das Jugendamt bei der Herstellung bestimmter Umgangskontakte behilflich sein.
In der Öffentlichkeit ist bislang vor allem die Problematik der gemeinsamen Sorge viel diskutiert worden. Künftig soll es in Erfüllung eines Auftrags des Bundesverfassungsgerichts auch für nicht miteinander verheiratete Elternteile die Möglichkeit geben, die elterliche Sorge gemeinsam auszuüben. Voraussetzung wird sein, daß beide Elternteile dies wollen und entsprechende Erklärungen abgeben.
Schwierig wird die gemeinsame Sorge vor allem aber dann, wenn sich die Eltern nicht mehr verstehen und sich trennen oder scheiden lassen. Von vielen wird befürchtet, daß die gemeinsame Sorge beider Eltern den Elternteil, der das Kind betreut - das wird auch künftig in den meisten Fällen natürlich die Mutter sein -, überfordert. Hierzu will ich ganz deutlich sagen: Der Gesetzgeber kann Gemeinsamkeit nicht verordnen. Deshalb soll die gemeinsame Sorge auch nicht als Regelfall vorgeschrieben werden. Vielmehr soll, wenn sich die Eltern über die Fortführung der gemeinsamen Sorge nach der Scheidung einig sind, dafür künftig keine gerichtliche Entscheidung mehr nötig sein. Wenn aber ein Antrag auf Übertragung der Alleinsorge gestellt wird, soll wie bisher
Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
über die elterliche Sorge verhandelt und entschieden werden.
Von großer praktischer Bedeutung wird das Alleinvertretungsrecht sein, das bei gemeinsamer Sorge dem überwiegend betreuenden Elternteil künftig zustehen soll. Dieses Alleinvertretungsrecht soll sich auf alle Angelegenheiten erstrecken, die im täglichen Leben eine Rolle spielen. Eine wirklich gemeinsame Entscheidung wird es daher nur bei generell wichtigen Fragen geben, etwa bei der Entscheidung über die Schul- und Berufswahl des Kindes. Die Abgrenzung wird im Einzelfall sicherlich schwierig sein.
Diese, wie ich meine, sehr praktikable Regelung soll dazu beitragen, daß sich möglichst viele Eltern dafür entscheiden können, auch nach ihrer Trennung oder Scheidung die gemeinsame Sorge beizubehalten. Wenn sie das tun, werden die betroffenen Kinder am ehesten mit dem Bewußtsein aufwachsen können, daß beide Eltern noch für sie da sind. Für die weitere Entwicklung der Kinder kann dies von großer Wichtigkeit sein.
Meine Damen und Herren, über die Reform des Kindschaftsrechts ist im Vorfeld bereits viel gesprochen worden, auch hier im Bundestag. Ich freue mich, daß jetzt die eigentlichen parlamentarischen Beratungen beginnen können.
Vielen Dank.
Dann beginnen wir mit den Fragen zu dem Bericht, der eben gegeben wurde. Bitte schön, Frau von Renesse.
Herr Minister, Sie haben die wesentlichen Züge des Regierungsentwurfs, der erarbeitet wird, dargestellt. Für mich ist der Referentenentwurf die bekannteste Grundlage. Könnten Sie vielleicht darlegen, an welchen prägnanten Stellen Unterschiede zwischen dem, was das Kabinett beschlossen hat, und dem Referentenentwurf bestehen und ob insbesondere der Komplex der Regelung der elterlichen Sorge nach der Scheidung im Verhältnis zum Referentenentwurf Änderungen erfahren hat?
Frau Kollegin, zwei Punkte will ich herausgreifen, wobei einer davon in den Komplex gemeinsamer elterlicher Sorge nach der Scheidung fällt. Das ist die pragmatischere Fassung des Alleinentscheidungsrechts bei den Angelegenheiten des täglichen Lebens. Der andere Punkt ist die Institutionalisierung des Anwalts des Kindes. Dazu will ich aber gleich einfügen, daß es in den parlamentarischen Verhandlungen natürlich alle Möglichkeiten geben kann, durch Änderungen oder Alternativen zur Verbesserung beizutragen. Mir scheint vor allen Dingen wichtig zu sein, daß es mit dem heute im Kabinett beschlossenen Entwurf gelungen ist, das tägliche Leben einer gemeinsamen Sorge nach Trennung/Scheidung der Eltern noch ein bißchen mehr - es ging zum Schluß nur noch um Nuancen - händelbarer zu machen, für beide Teile, für das Kind wie für den dann
allein entscheidenden Elternteil pragmatischer, lebensrealistischer zu machen.
Bitte schön, Frau Kollegin Schenk.
Herr Bundesminister Schmidt-Jortzig, ich habe eine Frage zum Antrag auf alleinige Sorge. Sie sagten, wenn ein solcher Antrag gestellt wird, dann solle verhandelt und entschieden werden. Inwieweit ist in dem jetzt vorliegenden Referentenentwurf sichergestellt, daß es eine gemeinsame Sorge gegen den Willen eines der beiden Elternteile nicht geben wird?
Das ist eine berechtigte Frage, die ich Ihnen nur - da bitte ich um Verständnis; das ist umgekehrt auch der Vorteil von Gesetzesfassungen - juristisch beantworten kann. In § 1671 Abs. 1 des neuen Entwurfs steht folgendes:
Leben Eltern, denen die elterliche gemeinsame Sorge zusteht, nicht nur vorübergehend getrennt, so kann jeder Elternteil beantragen, daß ihm das Familiengericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge allein überträgt.
So weit, so klar. In Abs. 2 steht:
Dem Antrag ist stattzugeben, soweit erstens der andere Elternteil zustimmt oder zweitens
- und das ist die entscheidende Passage -
zu erwarten ist, daß die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß es dem Wohl des Kindes am besten entspricht, wenn ein Teil der Eltern gezwungenermaßen in der gemeinsamen Sorge bleiben würde. Das ist meine Antwort.
Weitere Fragen? - Das ist erkennbar nicht der Fall.
Dann kommen wir zu Fragen zu den anderen von der Bundesregierung übermittelten Themen. Gibt es dazu Fragen? - Das ist nicht der Fall.
Dann frage ich, ob es sonstige Fragen gibt. - Frau Kollegin Altmann, bitte.
Ich habe eine Frage zu der Tankerkatastrophe vor der walisischen Küste. Ich frage die Bundesregierung: Welche Konsequenzen zieht sie aus diesem Tankerunglück hinsichtlich der Sicherheitsvorsorge? Ist damit speziell die Doppelwandpflicht gemeint, analog zum amerikanischen Recht? Inwieweit ist das vorgesehen? Inwieweit denkt die Bundesregierung daran, auch auf europäischer Ebene initiativ zu werden hinsichtlich eines Verbots für Tanker, die nur einwandig sind? Welche Konsequenzen könnte das für die Befahrensregelung zum Beispiel des Watten-
Gila Altmann
meeres haben? Wie wird sich das auf die Bewertung der Schlepperkapazitäten in der Deutschen Bucht auswirken? Als letztes möchte ich fragen: Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage der Cuxhavener Sonderstelle des Bundes, die für diese Angelegenheiten zuständig ist, daß Erfahrungen im Zusammenhang mit dieser Tankerkatastrophe auf die deutsche Nordseeküste nicht zu übertragen seien?
Darf ich fragen, wer von der Bundesregierung darauf antworten will? - Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Altmann, ich muß zunächst darauf hinweisen, daß sich diese Regierungsbefragung auf Themen bezieht, die im Kabinett behandelt wurden. Dieses Thema wurde meines Wissens im Kabinett nicht behandelt. Infolgedessen kann ich aus dem Hut heraus die Fülle der Fragen, die Sie gestellt haben, nicht beantworten. Ich empfehle Ihnen deshalb, zu anderen parlamentarischen Mitteln zu greifen, beispielsweise zu einer schriftlichen oder mündlichen Anfrage oder dazu, daß dieses Thema in dem entsprechenden Fachausschuß behandelt wird. Dann ist die Bundesregierung gerne bereit, dazu vertiefend Stellung zu nehmen.
Frau Kollegin Altmann, wenn die Frage von der Bundesregierung, wie hier dargestellt, nicht beantwortet werden kann, wird sie nach unseren Regeln schriftlich beantwortet, ohne daß Sie eine weitere schriftliche Frage dazu einbringen müssen.
Gibt es dazu weitere Fragen? - Gibt es andere Fragen an die Bundesregierung? - Das ist nicht der Fall.
Dann unterbreche ich die Sitzung bis 14.00 Uhr. Sie wird mit der vereinbarten Debatte zum Vergleichsantrag der Bremer Vulkan fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren! Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich grüße Sie.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Vereinbarte Debatte
zum Vergleichsantrag des Bremer Vulkan
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Bürgermeister von Bremen, Herr Henning Scherf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Krise beim Bremer Vulkan Verbund trifft eine ganze Region ins Mark. Von Mecklenburg-Vorpommern über Schleswig-Holstein bis zu Niedersachsen und Bremen sind 23 000 Arbeitsplätze direkt betroffen. Ich denke bei dieser Aussprache an die Familien und an die Menschen, die sich mit ihnen auf ein Leben in schwierigen Zeiten eingerichtet haben. Sie alle sind in größter Sorge und erwarten, daß wir bei dieser Debatte im Bundestag, aber natürlich auch auf den vielen anderen Ebenen, in den Landtagen und den Landesregierungen, mit dazu beitragen, einen Ausweg aus dieser Krise zu finden.
Sie müssen sich klarmachen: Die Arbeitslosigkeit in Bremerhaven beträgt zur Zeit 18,4 Prozent. Wenn wir aus dieser Krise keinen Ausweg finden, steigt sie sofort auf 24 Prozent und mehr an. Wir sind dann insoweit ein ostdeutsches Land, als wir Arbeits- und Lebensbedingungen haben, die mit den schwierigen Lebensverhältnissen in den neuen Ländern vergleichbar sind. Das wissen die Leute, und sie hoffen, daß wir Wege und Mittel finden, aus dieser Krise herauszufinden.
Nun muß man bei sich selber anfangen; man kann nicht immer auf andere blicken, wenn man um Hilfe und Zusammenarbeit bittet. Wir haben in der großen Koalition in Bremen Einmütigkeit erzielt und eine ganz enge Kooperation verabredet. Das praktizieren wir auch. Wir wollen im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeiten, auch der Möglichkeiten, die das EU-Recht uns bietet, alles dazu beitragen, damit die Leute, die auf uns schauen, merken, daß wir einen Schritt tun, der an der Küste, in Bremen und Bremerhaven, auch in Zukunft Schiffneubau und Schiffsreparaturen möglich macht.
Wir wollen - und sind auch dabei - dem Vergleichsverwalter bei dem Versuch beistehen, den Auftragsbestand, der bis Ende 1997 reicht - die Werftarbeitsplätze sind voll ausgelastet -, abzuarbeiten. Soweit wir das beurteilen können, macht es Sinn, diese Aufträge zu Ende zu führen. Dadurch gewinnt der Vergleichsverwalter Zeit, um die dringend benötigten unternehmerischen Vorschläge für eine Restrukturierung dieses Verbundes zu erarbeiten.
Wir haben nicht vor, einen volkseigenen Betrieb aufzumachen. Da gibt es schreckliche Beispiele; niemand von uns ist in der Versuchung, so etwas zu machen. Wir suchen ein industriepolitisches, unternehmerisch verantwortbares Auffangkonzept. Aber wir wollen es nicht unter ungeordneten Bedingungen erreichen, sondern wir wollen alles dazu tun, damit es unter halbwegs geordneten Bedingungen abläuft. Darum treten wir mit dem Vergleichsverwalter für eine Fortsetzungsperspektive ein.
Wir können uns vorstellen, daß der intakte Elektronikteil und die auf Grund der Konkurrenzpreise problematisch gewordenen Arbeitsplätze im Neubau-und Reparaturbereich der Werft zusammen ein Standbein in dem restrukturierten Verbund sein können. Wir können das nicht alleine umsetzen. Wir sind darauf angewiesen, daß die Landesregierungen in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen Ähnliches zu unternehmen bereit sind, damit wir im Rahmen unserer Möglichkeiten
Präsident des Senats Dr. Henning Scherf
Bausteine zusammenbringen können, die das ganze Gebäude wieder tragfähig machen.
Wir haben uns nicht vorgenommen, uns gegenseitig die Schuld zuzuweisen, sondern wir haben uns vorgenommen, miteinander zu kooperieren. Wir wollen die Gefahr, daß Ost- und Westbeschäftigte aufeinander zeigen, nicht schüren, sondern wir wollen die Beschäftigten davon überzeugen, daß wir nur gemeinsam aus dieser Krise herauskommen.
Wir wollen die Menschen für die Krise nicht verantwortlich machen und ihre Ängste mißbrauchen, sondern wir wollen einen Beweis dafür liefern, daß wir die Probleme gemeinsam lösen können.
Das gilt nicht nur für die direkt betroffenen Arbeitnehmer, sondern auch für viele Zulieferer, für kleine und mittlere Betriebe, die ihre Arbeitsplätze im Umfeld der Werft haben und nach dem Dominoeffekt von Zahlungsschwierigkeiten bedroht sind. Wir wollen mit dazu beitragen, daß diese Betroffenen eine Perspektive erhalten. Das gesamte Gefüge muß nach unserer Vorstellung tragfähig gemacht werden.
In Bremen wird seit über 1 200 Jahren Schiffahrt betrieben und werden Schiffe gebaut. Es gibt bei uns niemanden, der sich vorstellen kann, daß das vorbei ist. Alle, wie sie auch heißen, welche Parteibücher sie auch haben und wo sie auch herkommen, erwarten von uns, daß wir in dieser Krise Lösungen finden und umsetzen, die für die Küste notwendig sind.
Sie sagen: Konzentriert euch nicht nur auf Werften, sondern sucht Ersatzarbeitsplätze. Das ist ein Hinweis, den die bremische Landesregierung ganz ernst nimmt. Wir bemühen uns um Ersatzarbeitsplätze. Wir wollen das Sanierungsprogramm, das 1992 mit der Bundesregierung und den -ländern ausgehandelt worden ist, gezielt nutzen, um Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Arbeitsplätze kann man nicht einfach austauschen. Man braucht Konzepte dafür.
Darf ich mich vorsichtig an die Bundesregierung wenden? Sie haben uns in den letzten Monaten auf eine ungewöhnliche Weise konstruktiv begleitet.
Wir haben nicht Schuldzuweisungen gegeneinander organisiert, wir haben uns nicht gegenseitig in den Regen gestellt, wir haben uns auch nicht durch unerfüllbare, unrealistische, aber populäre, populistische Forderungen provoziert, sondern wir haben in einer für mich beispiellosen Weise aufeinander geachtet und versucht, Schaden zu begrenzen. Ich möchte mich dafür bedanken und hoffe, daß das eine Chance für diese schwierigen Wochen und Monate ist, die wir vor uns haben, um die Schadensbegrenzung unter uns einzuhalten. Das ist notwendig.
Das ist auch gegenüber den Brüsselern notwendig, die mit der Schiffbauindustrie an der Küste große Mühe haben und die uns nur in einem gemeinsamen Vorgehen überhaupt konstruktiv begleiten können.
Nehmen Sie die Anregungen, die ich jetzt geben möchte, nicht als maßlose Forderungen, sondern als den Beginn, Wege zu finden, wie der Bund in dieser schwierigen und angstbesetzten Krise helfen kann.
Ich möchte im Namen der bremischen Landesregierung anregen, uns auf Art. 104a Abs. 4 des Grundgesetzes zu konzentrieren. Wir sind der Meinung, es ist begründet, daß in einer so dramatischen regionalen Krise über Strukturhilfen nach Art. 104a Abs. 4 GG beraten wird. Ich bitte sehr darum, daß das nicht als Alibi angesehen wird, sondern als eine Chance.
Ich glaube, wir hätten Möglichkeiten, uns miteinander zu verständigen. Herr Rexrodt hat gestern begonnen, mit uns darüber zu reden, im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe regionaler Wirtschaftsstrukturhilfen zu überlegen, ob das nicht ein Fall ist, wo noch einmal genau und gezielt hinzusehen ist, um dann festzustellen: Das ist wirklich ein Fall regionaler Strukturkrise. Die Betroffenen brauchen jetzt und nicht irgendwann gezielte Hilfe.
Ich habe eine weitere Bitte, die schwierig zu vermitteln ist. Sie haben mit großer Mühe ein Werfthilfeprogramm fortgeschrieben. Das hat den Charme, daß zwei Drittel davon die Länder und ein Drittel der Bund bezahlen müssen. Das bringt uns zusätzlich in große Schwierigkeiten. Ich bitte sehr darum, zu überdenken und abzuwägen, ob nicht für eine befristete Zeit die Möglichkeit besteht, dieses Verhältnis im Sinne einer Entlastung der Länderhaushalte - ich denke, das wird in Mecklenburg-Vorpommern genauso gesehen - umzukehren und den Landesanteil jedenfalls teilweise über den Bund mitzufinanzieren.
Wir sollten meines Erachtens ferner aus dem großen EU-Topf für Strukturhilfen eine Gemeinschaftsinitiative begründen, die in dieser regionalen Krise gezielt hilft.
Das sind nicht populistische Forderungen, sondern das sind kollegiale Bitten um Beratung. Wir müssen das zusammen beraten, und wir müssen es möglichst bald beraten.
Ich möchte darauf hinweisen, daß ich in den öffentlichen Reden während der letzten Tage immer an die Kollegen gedacht habe, die nun Tag und Nacht vor den Werfttoren stehen und nicht wissen, wie es weitergeht.
Ich habe die große Bitte, daß auch Sie in dieser Debatte, die wir jetzt beginnen, diese Menschen in den Mittelpunkt Ihrer Reden, Ihrer Beiträge stellen. Denken Sie an sie. Sie haben nicht die Alternativen und Möglichkeiten, die die meisten von uns haben. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, daß es weitergeht, weil sie sonst nicht wissen, wie sie mit ihren Familien und mit ihren Kindern klarkommen.
Präsident des Senats Dr. Henning Scherf
Wenn dieser Gesichtspunkt im Mittelpunkt unserer Beratungen steht, dann können der Staatsanwaltschaft die Aufklärung und die Schuldzuweisungen überlassen werden. Die Verfahren sind eingeleitet. Sie werden eine Zeit dauern. Ich rate Ihnen allen, diesen Teil den Fachleuten zu überlassen. Wir sollten uns um die Menschen und um deren Perspektive kümmern.
Jetzt noch ein Letztes. In Frankreich haben Sie im letzten Jahr erlebt, wie die Menschen in ihrer Angst und Verzweiflung den Verkehr stillegen, Barrikaden aufbauen und einfach sagen: Es ist nicht mehr auszuhalten. Wenn Sie an die Küste kommen, finden Sie Menschen, die ernst an ihren Arbeitsplatz gehen. Sie wollen weiterarbeiten, sie wollen ihre Arbeit verteidigen. Sie wollen mit ihrer Arbeit einen konstruktiven Beitrag dazu liefern, daß es weitergehen kann.
Das ist für uns alle kostbar: für die Gesellschaft und für die demokratische Entwicklung. Wir könnten, wenn wir das als Beispiel nehmen, ein positives Exempel für Krisenbewältigung in der Europäischen Union setzen.
Ich bitte Sie alle, sich um diese Menschen zu versammeln, und danke, daß Sie mich angehört haben.
Für die Bundesregierung erteile ich jetzt Bundesminister Rexrodt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich Ihnen, Herr Kollege Scherf, für Ihren ausgesprochen sachlichen Beitrag danken. Sie sind an Lösungen orientiert und interessiert sowie an den Menschen, die von dieser Krise betroffen sind. Ich möchte versuchen, in diesem Sinne zu antworten.
Die Krise des Bremer Vulkan ist meiner Meinung nach keine Krise des deutschen Schiffbaus. Auch in Deutschland besteht die Möglichkeit, Schiffe zu bauen, wenn man sich an bestimmten technischen Entwicklungen orientiert, Nischen ausfüllt, vor allem wenn man innovative, hochwertige Schiffe baut. Auf keinen Fall darf vergessen werden, daß man in Kostenkategorien denken sollte.
Ich muß leider feststellen, daß beim Bremer Vulkan der Aspekt des Kostendenkens vernachlässigt worden ist. Kostendenken war ersetzt worden - wie wir heute alle wissen; ich sage das ohne Schärfe - durch Kombinatsdenken, das heißt, man packt möglichst viele Aktivitäten - die Elektronik, die Zulieferung aus dem schiffbautechnischen Bereich und vieles andere mehr - in einen Konzern und übernimmt damit ein Risiko, das man heute in der Wirtschaft, wenn man weltweit agieren will, gar nicht mehr tragen kann. Außerdem hat man Aufträge unter Kosten angenommen. Da ist ein volles Auftragsbuch kein Kunststück.
Früher war der Bremer Vulkan über Jahre hinweg eine regionale Werft. Ich will das nicht weiter bewerten. Faktum ist jedenfalls, daß der Bund durch die Privatisierung der Ostwerften viel stärker als bisher in die Problematik des Bremer Vulkan, der Werften und des Schiffbaus, involviert wurde.
Starke politische Kräfte nicht nur einer Couleur - auch das darf ich in Erinnerung rufen - wollten dem Bremer Vulkan möglichst alles in den Rachen werfen. Damals haben das Bundeswirtschaftsministerium - gestützt auch durch das Kanzleramt -, der Kollege Lehment, aber auch Herr Gomolka einen einsamen und harten Kampf in Mecklenburg geführt, damit wenigstens die Warnow-Werft nicht an den Bremer Vulkan ging, sondern über Kvaerner privatisiert wurde.
Der Bund hat viel Geld in die Hand genommen bei der Werftenprivatisierung - fast 1,6 Milliarden DM, von denen 1,2 Milliarden DM unmittelbar an die Werften gingen. Dann ist vieles schiefgegangen. Viele, auch der Bund, sind hinters Licht geführt worden. Der Crash wurde unabwendbar, weil beim Bremer Vulkan die Illiquidität ins Haus stand und die Verluste sich auf 1 Milliarde DM zu addieren begannen.
Das ist die Situation, wie sie sich heute darstellt: Die Volkswerft in Stralsund und die MTW in Wismar haben Forderungen an das sogenannte Cash-Management in einer Größenordnung von 850 Millionen DM, die zu einem großen Teil aus Anzahlungen, Krediten und Fördermitteln gespeist wurden. Sie sind für die Verlustabdeckung ganz anderer Bereiche mißbraucht worden. Das wissen wir jetzt, nachdem dies eine zweite Prüfung durch eine weitere Wirtschaftsprüfungsgesellschaft an das Tageslicht gebracht hat.
Die Mittel, die die BVS zur Verfügung gestellt hat - das wird von der Öffentlichkeit häufig mißverstanden -, sind im großen und ganzen in die Investitionen geflossen. Die Mittel, die im Cash-Management „abhanden gekommen sind", sind aus anderen Quellen. Aber das nutzt gar nichts. Faktum ist: Wenn nicht noch einmal derselbe Betrag - in etwa 500 Millionen DM - nach Wismar und Stralsund fließt, gibt es dort Investitionsruinen. Das kann und das will niemand hinnehmen. Wir werden alles daransetzen, daß die Forderungen abgegolten werden und die notwendigen Mittel zurückfließen.
Ich bitte, das einmal in so allgemeiner Form stehenzulassen, weil beihilferechtliche Aspekte eine Rolle spielen und das Verhältnis zu Brüssel in starker Weise berührt ist: Wir als Bundesregierung werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür kämpfen, in Abstimmung mit Brüssel Wege zu finden, daß die Werften in Wismar und die Volkswerft
7738 Deutscher Bundestag -- 13. Wahlperiode - 88, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Februar 1996
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
in Stralsund gerettet werden können - eine schwierige Aufgabe.
In diesem Zusammenhang - das will ich der guten Ordnung wegen sagen - hat die Bundesregierung gelernt, Verpflichtungen zu übernehmen, die weit über die Werftenkrise hinausgehen: Wir müssen uns intensiv mit den Rechten und Pflichten von Aufsichtsräten beschäftigen. Wir müssen das, was vorgelegt wird, genauso hinterfragen, wie die Haftung und die Aufgabenwahrnehmung durch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften.
Faktum ist, daß eine sehr bekannte und renommierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft immer wieder bestätigt und formal testiert hat, daß die Mittel aus dem Cash-Management zweckentsprechend verwendet wurden.
Dies ist aber nicht der Fall, wie wir wissen. Es hätte Fristenkongruenz geben müssen. Es ist in doppelter Weise gegen Abmachungen verstoßen worden, weil auch eine Vereinbarung innerhalb des Verbundes nicht eingehalten worden ist.
Die vierteljährlichen Berichte des Bremer Vulkan an die BVS und die Testate der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft waren falsch. Dies zwingt uns - weit über die Werftenkrise hinaus -, die Problematik Aufsichtsräte und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften anzugehen. - Das aber nur als ein Exkurs.
Lassen Sie mich nun auf die aktuellen Notwendigkeiten eingehen. Als deutlich wurde, daß ein Konkurs oder ein Vergleich ins Haus stand, haben wir als Bundesregierung zunächst das getan, was dringend erforderlich war: Wir haben sichergestellt, daß weitergearbeitet werden konnte.
Damit sind wir beim Thema Sicherung der Liquidität. Wir sind nach Brüssel gegangen und haben dafür Sorge getragen, daß die Bauzeitfinanzierung Bremen für 1995 ebenso grünes Licht bekam wie die Bauzeitfinanzierung Mecklenburg-Vorpommern. Und heute soll - hoffentlich - in Brüssel über die Bauzeitfinanzierung Bremen 1996 entschieden werden.
Das war eine Voraussetzung dafür, daß nicht die Telefone abgeschaltet worden sind und daß überhaupt noch Strom geliefert worden ist. Das ist durch unser unmittelbares Eingreifen möglich geworden. Wir haben damit Zeit gewonnen, die genutzt werden konnte, um einen Vergleich anzumelden.
Jetzt geht es darum, eine zweite Phase zu gestalten. Die zweite Phase besteht darin, daß es Vereinzelungstendenzen und Orientierungen bei den einzelnen Unternehmensteilen gibt. Das ist auch richtig und gut so, um das Überleben zu sichern. Das werden wir begleiten, soweit es möglich ist. Aber das ist auch eine unternehmerische Aufgabe.
Ich war gestern in Bremen und habe mit dem Kollegen Scherf gesprochen. Ich habe gute Gespräche mit dem Betriebsrat, dem Vorstand, dem Vergleichsverwalter und dem Aufsichtsrat geführt. Wir sind uns einig, daß die wenige Zeit, die jetzt zur Verfügung steht, dafür genutzt wird, ein unternehmerisches Konzept zu finden. Das kann weder der Kollege Scherf noch können wir das finden, noch wollen wir das finden, weil Industriepolitik, gemacht von einer Regierung oder der Politik, immer in die Sackgasse führt. Die Unternehmen müssen das machen, und die werden das machen.
Wir haben sichergestellt, daß die Einzelteile, die jetzt um ihr Überleben kämpfen, in geeigneter Weise in einen Verbund oder in einzelne Unternehmen, größere Blöcke, Partnerschaften und Kooperationen, überführt werden können. Wenn es jetzt zu einer Treuhänderlösung für die Ostwerften kommt, ist sichergestellt, daß durch eine Call-Option diese Werften gegebenenfalls wieder in eine größere Einheit eingehen können. Ich sage nicht „müssen", aber „können"; denn ein Verbund hat auch Vorteile, weil viel Know-how, das in Bremen vorhanden ist, in den ostdeutschen Werften, insbesondere in Stralsund, gebraucht wird.
Wir wollen alles offenhalten, was eine unternehmerische Lösung ermöglicht. Dies ist besprochen worden; die Liquidität ist zunächst einmal überbrückt. Die Bundesregierung wird das Ihre tun, damit die Investitionen, die in Stralsund und Wismar notwendig sind, zu Ende geführt werden können.
Meine Damen und Herren, ich will noch mit Blick auf Sie, Herr Scherf, sagen: Ich kann nachvollziehen, daß Sie hierherkommen und bitten, Bremen zu helfen. Ich registriere durchaus - insoweit bin ich sehr angetan -, daß Sie nicht hierherkommen und sagen: Ich möchte Geld für den Bremer Vulkan haben. Denn zunächst einmal ist jetzt der Bremer Vulkan dran, ein Konzept zu entwerfen und ein marktgängiges, wettbewerbsfähiges Unternehmen entstehen zu lassen, das kreditwürdig ist. Wenn man kreditwürdig ist, kann man auch Finanzierungsprobleme lösen.
Sie sind nicht mit dieser Bitte gekommen; ich habe das wohl registriert. Sie haben aber gesagt: Helft Bremen. Darüber kann man reden. Ich habe bereits gestern gesagt: Wir sind bereit, eine entsprechende Initiative, ein Sonderprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zu unterstützen. Aber die Länder müssen zustimmen. Auch die EG-Strukturmittel stehen prinzipiell zur Verfügung. Ferner können auch die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen eingesetzt werden.
Zur Werfthilfe, zur Änderung des Finanzierungsschlüssels beim Werfthilfeprogramm und zu Art. 104 a GG kann ich Ihnen jetzt nichts sagen. Sie kennen die Situation des Bundes. Aber da, wo wir mit Blick auf
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
die Betroffenen, mit Blick auf die 23 000 Arbeitnehmer nicht nur in Bremen - aber vor allem in Bremen -, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern, in Schleswig-Holstein, in Hamburg und in Nordrhein-Westfalen helfen können, wollen wir das Unsrige dazu beitragen, daß diese Krise gelöst werden kann.
Die Bundesregierung steht zum Werftenstandort Deutschland, aber die Schiffbauindustrie muß sich an ihren eigenen Worten und Versicherungen messen lassen. Die Schiffbauindustrie ist hergegangen und hat über ein Jahrzehnt lang gesagt: Wir sind in Deutschland wettbewerbsfähig, wenn weltweit Subventionen zurückgeschraubt und abgestellt werden. Nun sind wir soweit. Subventionen werden - beginnend in 1996 und auslaufend in 1998 - nicht mehr zur Verfügung gestellt. Das ist gut so.
Ich sage noch einmal: Wir können dann, so hoffe ich, auch mit Korea und Japan konkurrieren, weil wir technologisch hochwertige Schiffe bauen können. Die Wirtschaft ist gefordert.
Die Bundesregierung wird den Schiffbaustandort Deutschland beobachten und begleiten. Wo sie in besonderer Verantwortung ist - das ist sie ohne Zweifel bei den Ostwerften, aber auch an anderer Stelle -, da wird sie die notwendigen und erforderlichen Hilfen zur Verfügung stellen.
Ich bin froh, daß wir die Diskussion, Herr Kollege Scherf, mit Blick auf die Betroffenen haben beginnen können. Ich hoffe sehr, daß wir sie auch so beenden können und daß wir am Ende eine wettbewerbsfähige und innovative Werftenindustrie in Deutschland haben.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernd Neumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bremer Vulkan ist heute ein Großunternehmen, ein Verbund mit 23 000 Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland, der allerdings nur noch gut zur Hälfte mit dem Schiffbau zu tun hat. Den eigentlichen Bremer Vulkan als klassischen Werftbetrieb gibt es seit bald 100 Jahren in Bremen-Vegesack. Er ist Mittelpunkt des Arbeitslebens in Bremen-Nord, einem Stadtteil mit gut 120 000 Einwohnern.
Mein Vater hat nach dem Kriege beim Bremer Vulkan wieder seine berufliche Existenz gefunden; dadurch kam meine Familie nach Bremen, wo ich bis heute lebe und politisch arbeite. Deshalb weiß ich, was bei den Tausenden von Werftarbeitern in Bremen und Bremerhaven vor sich geht, wenn jetzt in Zeitungen vom Konkurs des Bremer Vulkan geredet wird, und welche Hoffnungen sie gerade heute mit dieser Bundestagsdebatte verbinden. Es herrschen dort dieselben Ängste wie in Stralsund und Wismar.
Aber bevor man in Überlegungen eintritt, wie man helfen und was man verbessern kann, ist es unverzichtbar, die Ursachen und die Verantwortlichen für die Misere des Bremer Vulkan festzustellen, um nicht die gleichen Fehler zu wiederholen.
Sosehr ich es begrüße, daß Herr Bürgermeister Scherf eine sehr harmonische Rede gehalten hat, so sehr ist es doch wichtig, Herr Scherf, zu wissen, was in der Vergangenheit falsch war, wenn wir das Richtige tun wollen.
Das möchte ich auch deshalb tun, weil ich als Landesvorsitzender der CDU, die seit knapp einem Jahr in einer Koalition mit der SPD im Lande Bremen mitregiert, Wert darauf legen muß, daß die politische Mitverantwortung am Desaster des Bremer Vulkan in keiner Weise dem jetzigen Senat anzulasten ist.
Natürlich hat der Absturz des Bremer Vulkan auch mit den Problemen der deutschen und europäischen Werftindustrie zu tun. Diese Branche leidet seit langem an einem ruinösen Wettbewerb mit vielfältigen protektionistischen Mitteln, an zu hohen Kosten, nicht auskömmlichen Preisen und Währungsnachteilen. Dennoch sind diese Probleme - im Gegensatz zum Bremer Vulkan - von anderen, insbesondere mittelständischen, Werften in Deutschland ganz ordentlich bewältigt worden.
Nein, der Absturz des Bremer Vulkan ist vor allem die Folge eines eklatanten Versagens der Unternehmensführung, die auf Grund politischer Verfilzung ihres Vorstandsvorsitzenden Hennemann mit der SPD und dem von ihr beherrschten Senat in den zurückliegenden Jahren uneingeschränkt schalten und walten konnte.
Meine Damen und Herren, im Fall Bremer Vulkan hat nicht die Marktwirtschaft versagt, sondern der Vorstand des Unternehmens im Zusammenspiel mit sozialdemokratischer Politik, indem teilweise marktwirtschaftliches Verhalten außer Kraft gesetzt wurde. Das muß an dieser Stelle gesagt werden.
Es wurde nämlich versäumt, aus dem Vulkan ein normales Unternehmen zu machen. Statt als erstes den Kern, den Schiffbau, auf ein solides, wirtschaftlich tragfähiges Fundament zu stellen, wurde immer weiter an einem verwobenen Mehrsparten-Technologiekonzern geschmiedet.
Es ist eigentümlich, daß ein Vorstandsvorsitzender - nach dem, was man jetzt lesen kann - so uneingeschränkt tätig werden konnte und einen solchen Laden hinterläßt. Dies konnte er nur, weil er die politische Rückendeckung bei dem damaligen Senat hatte und weil im paritätisch besetzten Aufsichtsrat mit den Vertretern der IG Metall einschließlich dem Ex-Senator Grobecker auf der Anteilseignerseite immer eine Mehrheit vorhanden war. Das Problem ist, daß
Bernd Neumann
dieser Konzern weniger nach betriebswirtschaftlichen als nach arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten à la SPD geführt wurde. Das Desaster haben wir heute. Dies muß einmal deutlich festgestellt und gesagt werden.
Auch die Vertreter der Anteilseigner, insbesondere die Banken, tragen Mitverantwortung. Sie sitzen seit Jahren im Aufsichtsrat und haben alle Pläne von Hennemann quergeschrieben und mitgetragen. Im Fall des Vulkan erweist sich einmal mehr, welche unselige Rolle die Bankenvertreter in Aufsichtsräten großer Industrieunternehmen spielen können.
Strategie und Konzeption interessieren sie häufig nicht so sehr, sondern als Kreditgeber interessiert sie natürlich auch das, was mit den Krediten passiert. Ich glaube, daß die Rolle des Aufsichtsrats insgesamt als kläglich zu bezeichnen ist. Den halben Vorstand von der Brücke zu schicken und das Schiff dann fast ein halbes Jahr ohne Führung dümpeln zu lassen, das war unverantwortlich.
Ganz wichtig ist es, die Frage zu stellen, wie es weitergeht. Nach der Analyse und nach dieser Feststellung erwarten die Tausenden von Arbeitnehmern, die fleißig ihre Arbeit geleistet haben und für das Desaster nichts können, zu erfahren, wie es um ihre Arbeitsplätze in Zukunft bestellt sein wird. Es ist hier schon gesagt worden, daß wir in der Region zwischen Wilhelmshaven, Bremerhaven und Bremen Arbeitslosenzahlen haben, die an der Spitze von ganz Deutschland stehen. Auf der anderen Seite haben wir ausgebildete Fachkräfte, die in der Lage sind, Spitzenleistungen zu erbringen, und sicherlich auch bereit sind, tiefe Einschnitte mitzutragen, um die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Gesundung von Schiffbau und Elektronik zu ermöglichen.
Das sage ich jetzt an das ganze Haus gerichtet: Es geht hier nicht nur um die Werftarbeiter, sondern es geht um eine ganze Region, um mehr als 20 000 Arbeitsplätze, in der wir, wenn diese ganz oder zum Teil wegfallen, mehr oder weniger eine Industriewüste haben.
Deshalb ist die Bündelung aller verantwortungsvollen Kräfte erforderlich. In erster Linie ist die Unternehmensführung einschließlich der an den verschiedenen Verfahren Beteiligten aufgefordert, tragfähige Konzepte vorzulegen. Insbesondere die Banken stehen in ihrer Rolle als informierte Kreditgeber und im Hinblick auf ihre Präsenz im Aufsichtsrat des Bremer Vulkan in der Pflicht. Die Landesregierungen in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern müssen ihre Anstrengungen fortsetzen, die maritime Struktur in einem marktfähigen Kern zu erhalten. Hierbei müssen auch Niedersachsen, vor allem wegen der Arbeitnehmer, die auf den Werften und in der Elektronik im Lande Bremen tätig sind, und Hamburg mitwirken.
Wegen der übergeordneten tiefgreifenden Auswirkungen ist aber auch die Bundesregierung gefor
dert, wo es geht, flankierend zu helfen. Dazu gehören zum Beispiel Sonderprogramme im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur in den besonders bedrohten Küstenregionen. Es muß überprüft werden, ob es Möglichkeiten gibt, Investitionsprogramme zu unterstützen. Der Bundeswirtschaftsminister hat hier schon gesagt, daß die Unterstützung der Bundesregierung bei der EU für die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen, die es bisher schon gab, hilfreich wäre.
Herr Kollege, Ihre Zeit ist abgelaufen.
Es ist auch zu prüfen, ob Aufträge des Bundesverteidigungsministers, die im marinetechnischen Bereich ohnehin geplant sind, zügig umgesetzt und möglicherweise vorgezogen werden können.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Solche flankierenden Maßnahmen können dazu dienen, den am Markt orientierten industriellen Kern des maritimen Sektors an der Küste abzusichern und Ersatzarbeitsplätze für den nicht vermeidbaren Arbeitsplatzabbau zu schaffen.
Bundesregierung und CDU/CSU-Fraktion - das sage ich hier deutlich - tragen für die Krise beim Bremer Vulkan keine Mitverantwortung.
Insofern ist es schäbig, Herr Scherf, wenn Ihr Kollege Ringstorff nun den Bundeskanzler für das verantwortlich macht, was von der Politik und der Unternehmensführung des Bremer Vulkan an Desaster hinterlassen worden ist.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt aufhören. Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.
Mitverantwortung hin, Mitverantwortung her: Wir werden nicht tatenlos zusehen. Wir werden die Arbeitnehmer in Norddeutschland nicht im Regen stehenlassen, aber mit den richtigen Konzepten und nicht mit den falschen.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Janz.
Dieser Beitrag des Kollegen Neumann gibt mir Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß zur Zeit in Bremen kein Wahlkampf ist.
Ilse Janz
Herr Neumann, vielleicht haben Sie noch nicht begriffen und scheinbar kümmert es Sie auch nicht, daß Sie mit dieser Polemik und mit diesen Schuldzuweisungen den 23 000 Beschäftigten und ihren Familien überhaupt nicht helfen.
Wenn Sie so anfangen, dann müssen Sie sich warm anziehen, weil dann Fragen nach der Verantwortung der Bundesregierung und der BVS kommen.
Dann müssen wir fragen: Wo waren denn die Kontrollmöglichkeiten? Wo haben Sie sich eingesetzt?
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zusammenbruch des Bremer Vulkan ist schlichtweg eine Katastrophe. Eine ganze Region droht ihr industrielles Rückgrat zu verlieren. Gewachsene Fertigkeiten und Know-how, die die Produktionsstätten an der Küste ausmachen, stehen zur Disposition. Es geht um das Schicksal von Tausenden von Menschen. Jeder bei uns weiß, daß mit jedem verlorenen Arbeitsplatz auf den Werften noch einmal einer in den Zulieferbetrieben verlorengeht und dann noch einmal einer im Handel, in der Gastronomie und in den Freizeitstätten. Jeder bei uns weiß, daß das Aus der Werften den Verlust von Zukunft für viele Menschen bedeutet. Das gilt für den Osten wie für den Westen.
Aber der Zusammenbruch hat auch in anderer Hinsicht verheerende Folgen. Die Zweckentfremdung und Umlenkung von Mitteln, die für den Osten gedacht waren, in den westdeutschen Teil des Verbunds hat bei den ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern wieder einmal das Gefühl genährt, daß sie vom Westen betrogen worden sind. Ich sehe nicht, wie dieser Vertrauensbruch überhaupt wieder gutgemacht werden kann. Denn selbst wenn die ostdeutschen Werften letztlich mit einem blauen Auge davonkommen sollten, wird das Gefühl, daß man von „denen da drüben" eben nichts Gutes zu erwarten hat, lange Zeit anhalten.
Daß dieser Vertrauensbruch vom kleinen Bremen ausgegangen ist, ist für Mecklenburg-Vorpommern schlimm, aber auch schlimm für Bremen selbst. Dabei spielt es keine Rolle, daß auch in Bremen viele, viele Menschen für diesen Betrug letztlich teuer werden bezahlen müssen.
Um so unverständlicher ist es, daß in so eine brisante politische Situation hinein der Oberbürgermeister Bremerhavens die Bevölkerung seiner Stadt darauf hinweist, daß schließlich sie mit ihrem Solidarbeitrag den Osten habe aufbauen helfen und deswegen ihrerseits nun Hilfe einklagen könne. Das schürt den Kampf Ost gegen West und West gegen Ost.
Auch wenn die Menschen verzweifelt sind und voller Angst in die Zukunft sehen, wenn sie ahnen, daß die Chance des einen das Risiko des anderen sein kann, darf Politik nie und nimmer daran mitwirken, diesen Konflikt auch noch zu nähren.
Der erste Schock, die Angst vor der Zukunft, hat noch eine weitere Gefahr heraufbeschworen. Die da in Brüssel sollten schuld sein, die Bürokraten, die durch ihr kleinkariertes Beharren auf Recht und Gesetz dem Vulkan den Garaus zu machen drohten. Nachdem nun unabweisbar geworden ist, daß tatsächlich Gelder in riesigem Umfang zu Unrecht in die Löcher des westdeutschen Teils des Konzerns geflossen sind, sind diese Stimmen etwas leiser geworden - aber der Boden für eine antieuropäische Stimmung ist bereitet -, vielleicht auch, weil die Menschen nicht mehr verstehen, wie so etwas überhaupt passieren konnte.
Es ist ja auch fast nicht zu glauben, daß ein großer Konzern - eine Aktiengesellschaft mit einem Aufsichtsrat -, in dem von den Banken bis zu den Gewerkschaften alle vertreten sind, tatsächlich in der Lage sein soll, Gelder in Millionenhöhe unbemerkt zu verschieben. Es ist fast nicht zu glauben, daß ein Vorstandsvorsitzender noch im Juni den vielen Kleinaktionären seit langen Jahren zum erstenmal mit einer Dividende winkt und sich wenige Monate später herausstellt, daß derselbe Vorstand mindestens 1 Milliarde DM Verlust eingefahren hat. Wie kann es sein, daß die Wirtschaftsprüfergesellschaften die Solvenz des Betriebes testieren? Wie kann es sein, daß die BVS kein Bild von der tatsächlichen finanziellen Situation des Verbundes hatte?
Wie kann es sein, daß der Bremer Senat, obwohl er immer wieder mit Bürgschaften in Vorleistung getreten ist, so ahnungslos gewesen sein soll?
Jetzt ermittelt erst einmal der Staatsanwalt. Das ist gut so. Aber, meine Damen und Herren, mit diesen Fragen wird sich auch die Politik auseinandersetzen müssen. Wir sind da nicht aus der Verantwortung. Das Beispiel Vulkan stellt uns viele Aufgaben, was zum Beispiel die Transparenz von Aktiengesellschaften und die striktere Kontrolle von Subventionsverwendungen angeht.
Marieluise Beck
- Herr Schily, ich werde mich dazu gleich noch äußern.
Aber wir wissen natürlich auch, daß auch deswegen nicht so genau auf den Konzern geschaut wurde, weil die Angst vor Arbeitsplatzverlusten das Handeln bestimmte. Das gilt für die Bremer Politik - da ist keine Seite ausgenommen, Herr Neumann -, das gilt auch für die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat und im Betrieb.
Natürlich fehlte es nicht an Anzeichen, daß zumindest die Westwerften hoffnungslos überaltet und damit nicht in der Lage waren, den Konkurrenzbedingungen wirklich standzuhalten. Die Ahnung, daß eine Modernisierung der Betriebe auch mit Einschnitten und Arbeitsplatzverlusten verbunden sein würde, verführte dazu, über die Subvention von Aufträgen den Beschäftigungsstand zu halten.
Jetzt möchte ich mich noch ganz kurz an Sie wenden, Herr Neumann. Wir hatten in Bremen während der vergangenen Legislaturperiode einen F.D.P.-Wirtschaftssenator. Wir haben jetzt einen CDU-Finanzsenator und einen CDU-Wirtschaftssenator. Die einzige Fraktion, die bei der letzten Bürgschaft auf die Bremse getreten hat, waren die Bündnisgrünen. Sie haben gesagt: Leute, noch einmal eine Bürgschaft ohne Konzept und ohne Planung, wie es weitergehen soll, das geht nicht. Daraufhin hat Herr Per-schau in der Bremischen Bürgerschaft eben diesen Grünen vorgeworfen, es werde zum erstenmal in diesem Haus die Solidarität mit den Werften aufgekündigt. Und da halten Sie hier eine solche Rede, Herr Neumann! Das geht wirklich nicht.
Nun ist das Potemkinsche Dorf des Jongleurs Hennemann zusammengebrochen. Zahlen werden das die Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Werften, zahlen wird das die ganze Küstenregion. Das ist bitter. Das fordert die ganze Kraft von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik, jetzt alles Mögliche zu unternehmen, um die Krise so zu wenden, daß sich neue Perspektiven auftun. Perspektiven gibt es, meine Damen und Herren.
Die Werftindustrie ist nämlich mitnichten eine Altindustrie. Sie muß auch nicht dazu verdammt sein, auf unabsehbare Zeit am Subventionstropf zu hängen. Maritime Technologie, das bedeutet über den Schiffbau hinaus das Zusammenspiel von Elektronik, Systemtechnik, Hafenbetriebstechnik, Maschinenbau und Schiffahrt. Das bedeutet auch Forschung und Entwicklung; denn die Meere spielen eine immer wichtigere Rolle für eine wachsende Weltbevölkerung.
Die Wasserwege sind nach wie vor das beste Transportmedium, wenn wir endlich auch hier die ökologisch notwendigen Standards einklagen.
- Entschuldigung, ich kann Sie leider akustisch nicht verstehen.
- Es tut mir leid, ich kann Sie schlecht hören. Flughafen? Das Fliegen ist absolut unökologisch.
- Bitte.
Eine Zwischenfrage, bitte.
Frau Kollegin, ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Wasserwege sind die umweltfreundlichsten und günstigsten Transportwege. Deshalb meine Zwischenfrage, ob das gleiche für den Ausbau der Donau gilt, beim Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals.
Wissen Sie, Herr Kollege, es ist nicht umweltverträglich, alte Schrottkähne fahren zu lassen. Genausowenig ist es umweltverträglich, irgendwelche Kanäle mitten durch Naturzentren zu bauen, mit wahnsinnigen ökologischen Folgen,
wie das im Donautal geschehen ist. Daß es um eine Verbindung von Ökologie und Transport geht - diese Chance liegt im Schiffbau und Schifftransport -, ist das Entscheidende, und nicht, irgendwelche Kanäle durch Naturschutzgelände zu bauen.
Die Weltmeere werden von einer Flotte überalteter und damit gefährlicher Schiffe befahren, von den Emissionen der Motoren ganz zu schweigen. Wie viele Ölunfälle wollen sich die Regierungen eigentlich noch leisten, bis endlich die Sicherheitsbedingungen so verschärft werden, daß der doppelwandige Tanker zur Normalität wird? Es hätte auch im deutschen Wattenmeer sein können, wo der Tanker havariert ist. Das muß nicht immer weit weg bleiben.
Japan entwickelt bereits den computergesteuerten Lastensegler.
Marieluise Beck
- Entschuldigung, Frau Präsidentin, ich kann leider bei der Unruhe kaum reden.
- Ich kann leider Ihre Zwischenrufe akustisch nicht verstehen; sonst würde ich gerne darauf eingehen.
Einen Moment. Wir haben eine Regel, daß man Zwischenfragen anmelden muß. Das bitte ich dann zu tun.
- Jetzt bitte ich erst einmal um Ruhe, damit die Kollegin weitersprechen kann.
Es ist schön, wenn Sie sich angeregt fühlen; Nachdenken und Anregung sind immer gut für die Regierungsseite. Vielleicht kommt ja dabei etwas für die Küste heraus.
Japan betreibt Pilotprojekte für die Nutzung von Wasserstoff als ein umweltverträgliches Antriebssystem, entwickelt den Techno-Superliner, ein leichtes, schnelles Schiff für den Küstenverkehr. Norwegen hat ein Programm mit dem Titel „The green ship" aufgelegt, um die Ökobilanz des Transportsystems Schiff zu verbessern.
Meine Damen und Herren, im maritimen Sektor liegen große Potentiale für eine zukunftsfähige Produktion. Ich glaube, das müssen wir von der Küste den Landratten ab und zu vermitteln.
Es stünde der Bundesregierung und auch Europa gut an, nicht nur die Förderung der Luft- und Raumfahrt oder des Flugzeugbaus, sondern endlich auch die der maritimen Technologie auf die Agenda zu setzen.
Die Politik steht - und das gilt nicht nur für den Bremer Senat oder die mecklenburgische Landesregierung, sondern auch für Bonn - vor der Alternative, eine ganze Region ins Abseits zu schicken oder aber trotz der Krise neue Perspektiven zu eröffnen. Ich habe eben gezeigt, wohin das gehen muß.
Die Finanzierung von Arbeitslosigkeit kann nicht die Alternative sein. Statt Norbert Blüm zum größten Arbeitgeber der Küstenregion zu machen, muß auch Bonn seinen Teil dazu beitragen, daß die Küste nicht vom Rest der Republik abgehängt wird.
Wir haben für den Osten immer den Erhalt der industriellen Kerne gefordert, damit die Regionen überhaupt noch einen Nukleus haben, aus dem heraus sich neue Wirtschaftstätigkeit entfalten kann. Die Werften müssen, auch wenn jeder von uns weiß, daß sie vor schmerzhaften Einschnitten stehen, dieser Nukleus bleiben, damit die Elektronikbetriebe, die Systemtechnik, der Maschinenbau und andere Branchen in der Region ihren Weg des Strukturwandels zu Ende gehen können.
Ich weiß, daß Politik und insbesondere Wirtschaftspolitik nicht auf dem Reißbrett gemacht werden kann. Aber wir haben die Verantwortung, die Strukturen zu schaffen, in die hinein sich Wirtschaftstätigkeit überhaupt erst entfalten kann. Das ist die Aufgabe von Politik, Herr Rexrodt, wenn Sie sich nicht ganz verabschieden wollen.
Dazu gehört auch ein Küstenstrukturprogramm, das zum Ziel hat, überlebensfähige maritime Industriekerne zu erhalten. Was überlebensfähig ist, hängt wesentlich von der EU-Politik ab. Hier muß die Bundesregierung endlich aktiv werden.
Es ist noch nicht klar, ob der Westen und der Osten nach der Krise des Verbunds weiter gemeinsam marschieren oder getrennte Wege gehen werden. Es steht aber außer Zweifel, daß die Sanierung der Werften im Osten weitergehen muß und daß die Westwerften modernisiert werden müssen. Es ist klar, daß das kleine Bremen diese Aufgabe nicht allein meistern kann.
Das ist aber kein Sonderopfer für Bremen. Vielmehr geht es hier um den vielbeschworenen Standort Deutschland und seine Zukunftsfähigkeit. Ich bitte dieses Haus dringend, diese Aufgabe von unserer parlamentarischen Seite und von seiten der Regierung aufzunehmen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Koppelin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht verantwortlich für das Desaster sind die Arbeitnehmer, viele Menschen an der Küste, die jetzt um ihren Arbeitsplatz bangen. Nicht verantwortlich sind die vielen Zulieferer, wo jetzt ebenfalls um Arbeitsplätze gefürchtet wird.
Der Bund, so meine ich, hat ebenfalls nicht die Verantwortung zu tragen; denn der Bund hat Fördermittel für den deutschen Schiffbau an alle Werften gleich gegeben; er hat alle Werften gleichbehandelt. Es ist bezeichnend, daß es Schiffbauer gibt, wie Lürssen, Sietas, Meyer-Papenburg, HDW - die Liste ließe sich sicher fortsetzen -, die vernünftig wirtschaften und nicht in Schwierigkeiten sind.
Auch wenn ich sage, der Bund sei nicht in der Verantwortung, will ich an dieser Stelle dem Bundeswirtschaftsminister ausdrücklich für sein Engagement im Rahmen des Vorgangs um den Bremer Vulkan danken.
Jürgen Koppelin
Natürlich können wir hier eine sehr versöhnliche Diskussion führen; der Bürgermeister von Bremen hat das mit seinem Beitrag schon getan. Ich meine nur, allein den Mantel der Nächstenliebe über alles zu decken, kann nicht Sinn dieser Veranstaltung hier sein.
- Ja, über die Hilfen reden wir gleich.
Wenn Sie schon Zurufe machen, möchte ich sagen: Über die Rolle des Genossen Hennemann ist in den letzten Tagen viel geredet und geschrieben worden. Ich will hier auch sagen: Selten hat ein einzelner alleine die Schuld. Aber eines scheint klar zu sein: Seine Vision vom Riesenschiffbauverbund ist gründlich gescheitert.
Der Genosse Hennemann hatte nie Visionen, der Genosse Hennemann hatte Illusionen. Das ist das Problem des Vulkan gewesen.
Wenn Sie die dortige Region kennen, dann wissen Sie, daß man dort gefragt hat und heute noch fragt: Gehört dem Land Bremen der Vulkan, oder gehörte dem Vulkan das Land Bremen? Das war immer die Frage, die dort im Lande gestellt wurde. Dieses Experiment der Genossen an der Weser ist gescheitert; das muß man hier feststellen.
Für dieses Scheitern, Herr Bürgermeister - das sage ich trotz Ihrer versöhnlichen Rede -, tragen auch Sie Verantwortung; denn Sie sitzen seit 18 Jahren im Bremer Senat.
Leider reiht sich der Vulkan in eine Reihe von Unternehmen mit rotem Wirtschaftsfilz ein. Co op und Neue Heimat sind Beispiele dafür.
Zurück bleiben betroffene Arbeitnehmer und ganze Regionen in strukturschwachen Gebieten, deren Zukunft ungesichert ist.
Wer kontrolliert eigentlich Wirtschaftsunternehmen dieser Größenordnung? Da gibt es einen stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden, den Genossen Teichmüller von der IG Metall Küste, der jetzt Häschen in der Grube spielt: weiß von nichts, hat nichts gehört, hat wohl auch nie gefragt; jedenfalls ist er völlig unschuldig.
Genosse Teichmüller erklärt heute in einem dpa-Gespräch: Wir tagten dreimal im Jahr; wir verließen uns auf die Wirtschaftsprüfer. - Da fragt man sich
schon, was denn der Genosse Teichmüller im Aufsichtsrat des Vulkan gemacht hat.
- Frau Präsidentin, können Sie vielleicht für etwas Ruhe bei den Sozialdemokraten sorgen?
- Ich komme noch darauf; warten Sie einfach einmal in Ruhe ab!
Das Abnicken von Geschäftsberichten hätte der Genosse Teichmüller auch seinem Fahrer überlassen können.
Dieser Herr Teichmüller - jetzt hören Sie genau zu! - sitzt auch in den Aufsichtsräten von Airbus und von Blohm+Voss. Er sollte aus diesen Aufsichtsräten schnellstens verschwinden!
Es war auch ein unverantwortlicher Vorgang, daß ein so schwieriges Unternehmen wie der Vulkan monatelang ohne Unternehmensführung war und erst zum 1. Februar 1996 ein neuer Vorstandsvorsitzender seine Aufgaben übernehmen konnte.
- Frau Präsidentin, ist es möglich, für Ruhe zu sorgen? Ich warte solange; das geht so nicht.
Ich halte jetzt für einen Moment die Uhr an und warte, bis Ruhe eintritt. Dann bitte ich Sie weiterzusprechen.
Lassen Sie mich noch eine weitere Bemerkung machen: Der Betriebsratsvorsitzende weist den Bundeswirtschaftsminister Rexrodt von einer Belegschaftsversammlung zurück mit dem Argument, man könne nicht für die Sicherheit des Ministers garantieren. Die schuldigen Genossen Hennemann und Teichmüller aber sieht man bei Demonstrationen. Für die wirklich Schuldigen gibt es anscheinend keine Sicherheitsprobleme. Das ist schon ein Skandal!
Bei der heutigen Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir als F.D.P. auch einmal daran erinnern, daß es die F.D.P. war,
die sich damals einer großen Verbundlösung zugunsten des Vulkan bei den Werften in MecklenburgVorpommern widersetzt hat. SPD, Grüne, PDS, IG
Jürgen Koppelin
Metall und leider auch ein Teil der CDU wollten allein auf den Vulkan setzen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja.
Nachdem Sie hier mehrmals den Kollegen Teichmüller
- den Kollegen -, der als Vertreter der Industriegewerkschaft Metall von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesen Aufsichtsrat gewählt worden ist, erwähnt haben, will ich Sie fragen, ob Sie nicht imstande sind, zwischen Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmerseite und denen der Kapitalseite zu unterscheiden, zumal in diesem Lande - im wesentlichen dank der Bemühungen Ihrer Partei - die Kapitalseite im Vergleich zur Arbeitnehmerseite das Übergewicht hat, so daß ich denke, daß die Verantwortung hier entsprechend dargestellt werden sollte.
Herr Kollege, ich will Ihre Frage gerne beantworten.
Einen Moment bitte. - Es gibt in dieser Debatte einige Schwierigkeiten, die Ruhe herzustellen, die man braucht, um die Redner verstehen zu können. Ich bitte doch alle, das jetzt zu beachten.
Sie haben jetzt das Wort. Die Uhr wurde angehalten.
Herr Kollege, Sie werden erstaunt sein: Auch ich war schon einmal Mitglied eines Betriebsrates, und zwar bei einem sehr großen Unternehmen. Wenn ich anstelle des Kollegen Teichmüller dort sitzen würde und nur abnicken dürfte, so wie Sie es darstellen, dann würde ich wahrscheinlich sofort meinen Hut nehmen und sagen: Wenn ich in dieser Weise agiere, habe ich hier nichts zu suchen. - Er hat nach meiner Auffassung ebenfalls versagt.
Meine Damen und Herren, die Probleme vor allem auch in Mecklenburg-Vorpommern wären noch viel größer, wenn sich der damalige Wirtschaftsminister der F.D.P. in Mecklenburg-Vorpommern, Conrad-Michael Lehment, und der damalige Bundeswirtschaftsminister, Jürgen Möllemann, nicht mit Vehemenz gegen eine große Verbundlösung gewehrt hätten.
Der Nachfolger von Minister Lehment, der Genosse Ringstorff von der SPD, führte damals als SPD-Fraktionsvorsitzender die Demonstrationen für den großen Verbund an. Selbst in der gestrigen Sitzung des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern war der Herr Minister Ringstorff anscheinend zu keinem Eingeständnis seiner verfehlten Politik bereit. Ich kann nur sagen: Der Mann muß seinen Hut nehmen. Dafür ist es noch nicht zu spät.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Conrad-Michael Lehment und Jürgen Möllemann, aber auch dem ehemaligen Ministerpräsidenten Gomolka meinen Dank für ihr damaliges Engagement sagen.
Meine Damen und Herren, im Mai 1991 schrieb das „Manager Magazin" - ich zitiere -:
In Wahrheit ist der aus fünf Werften und einer Reihe schiffbaufremder Firmen bestehende Verbund Bremer Vulkan ein Zuschußbetrieb par excellence. Mit abenteuerlichen Konstruktionen und schwindelerregenden Geschäften werden die Steuerzahler kräftig geschröpft und die Kleinaktionäre hinters Licht geführt.
So damals, 1991, das „Manager Magazin".
Was muß geschehen? Zunächst einmal ist es wichtig, daß in Mecklenburg-Vorpommern die Werften weiter aufgebaut werden. Die Arbeitnehmer müssen wissen, daß dort keine industrielle Bauruine hinterlassen wird.
Offensichtlich sind geflossene Gelder vertragswidrig verwendet worden. Wer daran die Schuld hat, wird noch zu klären sein, auch strafrechtlich. Die Notwendigkeit aber, das Werk dort zu vollenden, ist unbestritten.
Bei der Gelegenheit sage ich dem Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten: Sie sollten einmal nachlesen, um welche Papiere es sich handelt, die heute Ihr Kollege Diller im Haushaltsausschuß verteilt hat. Darin hat er die Bundesregierung, die Koalitionsparteien dafür kritisiert, daß jetzt strafrechtlich nachgeforscht wird, wo das Geld geblieben ist. Es kann ja wohl nicht wahr sein, daß Sie solche Papiere verteilen, wie es der Kollege Diller macht.
Meine Damen und Herren, niemand soll glauben, daß der Bremer Vulkan bei einem erfolgreichen Vergleichsverfahren nachher genauso aussehen wird, wie er jetzt aussieht.
Das ist nicht machbar, das ist unrealistisch. Aber eines muß klar sein: Wenn unternehmerische Konzepte gefunden werden, die stabilisierend wirken können, dann müssen die betroffenen Länder und der Bund bereit sein, das Ihre zu tun, um zu flankieren. Für Bremen heißt dies zunächst einmal: Die Schiffe müs-
Jürgen Koppelin
sen fertiggebaut werden. Dazu bedarf es einer Zwischenfinanzierung, und es muß alles versucht werden, diese Zwischenfinanzierung darstellen zu können.
Ich will bei dieser Gelegenheit eine positive Mitteilung an die Arbeitnehmer machen. - Das sage ich jetzt als Berichterstatter für den Einzelplan des Verteidigungsministers. - Der Bund, in diesem Fall also das Verteidigungsministerium, wird bei seinen Planungen bleiben, Aufträge im Wert von zirka 500 Millionen DM an Unternehmen des Vulkan zu vergeben. Ich denke, das ist eine positive Nachricht.
An diese Aufträge, Herr Bürgermeister Scherf, sollten Sie allerdings denken, wenn Sie das nächste Mal an einer Demonstration gegen die Bundeswehr teilnehmen.
Niemand weiß heute, wie die Nachfolgeunternehmen des Bremer Vulkan Verbunds einmal aussehen werden. Die Lösung kann nicht lauten: Geld geben und Augen zu! Garantien für den Vulkan Verbund kann niemand geben. Allerdings darf es auch kein Plattmachen an der Küste geben. Darüber müssen wir uns einig sein. Eine wirtschaftlich sinnvolle Regionallösung scheint der einzige Weg zu sein, um den betroffenen Arbeitnehmern eine Perspektive für ihre persönliche Zukunft und die Zukunft der Region zu geben.
Ich komme zum Schluß: Es kommt darauf an
- hören Sie jetzt bitte zu, weil mir das sehr wichtig ist und auch Ihnen wichtig sein sollte -,
daß die Unternehmen bei Vulkan, die gesund sind, in nächster Zeit nicht noch kaputtgeredet werden.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, zum letzten Satz zu kommen.
Ich sage den letzten Satz. Aber wenn ich so stark gestört werde - -
Ich habe die Zeit angehalten.
Die Situation des Bremer Vulkan ist keineswegs ein Abbild der Lage des deutschen Schiffbaus.
Die F.D.P. dankt den beiden Vergleichsverwaltern, die jetzt eine schwere Aufgabe übernommen haben. Die Menschen in der Region wollen eine Lebensperspektive. Wir Freien Demokraten sind bereit, entscheidend daran mitzuarbeiten.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete Wieczorek das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Koppelin veranlassen mich, aus dem Schreiben, das er hier angesprochen hat, zu zitieren und den Absatz, der ihn besonders interessiert, auch dem Hause bekanntzugeben. Ich zitiere:
Die Schuldzuweisungen aus Koalitionskreisen in Richtung Bremer Senat und ehemaliges VulkanManagement bei gleichzeitiger Zurückweisung jeglicher Mitverantwortung des Bundes lassen befürchten, daß es der Bundesregierung weniger um Aufklärung, Hilfe und Problemlösung geht, sondern vor allem um politische Entlastung.
In die gleiche Richtung zielt der von der Treuhandnachfolgerin BVS gestellte Strafantrag wegen Veruntreuung gegen das frühere Vulkan-Management.
- Wenn Sie noch einen Moment zuhören würden, wären Sie klüger.
Ich gehe davon aus, daß eine weisungsgebundene Bundesoberbehörde wie die BVS einen derartigen Strafantrag nur mit Billigung der politischen Leitung des Bundesministeriums der Finanzen stellt. Andernfalls müßte erneut die Frage der Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch das Bundesministerium aufgeworfen werden.
Ich denke, mit dieser Formulierung, Herr Kollege Koppelin, können Sie genauso leben wie wir alle.
Zur Antwort Herr Kollege Koppelin.
Herr Kollege Wieczorek, ich habe es nur angedeutet. Aber im nachhinein bin ich dankbar für Ihren Beitrag. Ich stelle nur kurz und knapp fest: Sie hätten es besser nicht vorgelesen. Das ist noch schlimmer, als ich es angedeutet habe.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gregor Gysi.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
- Ich bitte um Ruhe für den nächsten Redner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wahr ist, daß eine Katastrophe auf Bremen und auf andere Küstenländer, auch auf Mecklenburg-Vorpommern, zugekommen ist, die sich noch verschärfen kann. Richtig ist auch, daß wir uns hier damit auseinandersetzen müssen. Aber, Herr Bundeswirtschaftsminister und Herr Bürgermeister, wenn hier so getan wird, als ob diese Krise, diese Katastrophe vom Himmel gefallen sei, dann ist das eindeutig falsch. Das war seit langer Zeit abzusehen, und es gab seit langer Zeit entsprechende Warnungen. Die sind nicht beachtet worden.
Zunächst muß ich etwas richtigstellen, was vom Kollegen der F.D.P. gesagt worden ist, daß nämlich die PDS für diesen Vulkan-AG-Verbund war, so wie er jetzt besteht. Das ist schlicht und einfach falsch. Wir waren dafür, einen Verbund der Ost-Werften zu machen und diese zu sanieren, bevor sie in irgendeinen anderen Verbund gehen. Dies war übrigens auch die Meinung der IG Metall in Mecklenburg-Vorpommern. Genau das ist damals abgelehnt worden. Es wurde dann als sogenannter kleiner Verbund ausgegeben. Das ist die Wahrheit! -
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie interessieren sich dafür offensichtlich nicht mehr. Aber Sie werden gelegentlich wiederkommen.
- Er hat sich in die hinteren Reihen verdrückt. Dafür sehe ich gute Gründe.
Ich sage dazu folgendes: Sie haben hier gesagt, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß es Leute gab, die dagegen Widerstand geleistet haben. Das stimmt. Ich weiß sogar, daß Sie persönlich ein Gegner waren. Aber Sie haben nicht gesagt, wer dafür war und wer den Druck erzeugt hat: daß dies nämlich ein Mitglied der Bundesregierung, der damalige Bundesverkehrsminister Krause, war, mit Rückendeckung aus dem Bundeskanzleramt. Sie haben auch nicht gesagt, daß damals schon Gomolka und andere davor gewarnt haben. Das muß man der Ehrlichkeit halber auch hinzufügen. So weit zur Geschichtsaufarbeitung.
Nun zum Management: Es ist wahr, das Management hat hier beachtliche Fehler begangen. Aber die Fehler des Managements werden durch diese Bundesregierung permanent indirekt unterstützt. Denken Sie doch einmal an die anderen Diskussionen, die wir hier im Bundestag führen. Wie oft habe ich Sie gefragt, weshalb wir immer nur über die Sozialhilfe, die Arbeitslosenunterstützung, die Löhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diskutieren und nie über die Fähigkeiten und die Bezahlung des
Managements - hochbezahlt, aber ideenlos? Das ist die Realität in Deutschland.
Ein Weiteres: Sie sprechen von Kontrolle. Da geht es doch nicht nur um den Aufsichtsrat. Da sind 850 Millionen DM Beihilfe offensichtlich irgendwie in den Sand gesetzt oder auf jeden Fall zweckentfremdet verwendet worden. Wer hat denn eine Kontrollpflicht, wenn es um EU-Mittel und um Bundesmittel geht? Doch wohl die Bundesregierung! Sie scheuen weder Mittel noch Mühen noch Personal, um irgendeiner Sozialhilfeempfängerin nachzuweisen, daß sie 10 DM zuviel bekommt. Aber Sie scheuen alle Mittel und Mühen, um den Verbleib von 850 Millionen DM zu kontrollieren. Das ist die Realität in unserer Gesellschaft.
Später wundern Sie sich dann über entsprechende Verluste. Im übrigen brauchen Sie vor volkseigenen Betrieben oder ähnlichem gar nicht zu warnen. Das „Ding" ist sowieso schon überwiegend staatlich dadurch, daß der Staat sehr viele Kosten getragen hat, bloß die Gewinne werden privatisiert. Das kennen wir vom Transrapid und von anderen Projekten auch.
Jetzt noch ein Wort zu den Banken: Es ist wahr, die Banken in Deutschland sind überhaupt nicht mehr risikobereit. Sie vergeben höchst ungern Kredite - und wenn, dann zu extrem ungünstigen Bedingungen. Aber auch dafür trägt diese Bundesregierung, diese Regierungskoalition die Verantwortung; denn seit Jahren sorgen Sie dafür, daß das Geld bei den Banken immer stärker angehäuft wird, daß dort die eigentliche Rendite gemacht wird und nicht in der Wirtschaft. Das Ergebnis ist, daß die Banken es überhaupt nicht mehr nötig haben, Kredite zu vergeben. Wir hatten in der Bundesrepublik schon einmal eine Zeit, in der die Banken darum gebettelt haben, Kredite vergeben zu dürfen. Heute muß jeder, auch der kleinste Unternehmer, wochenlang betteln, um einen Kredit zu bekommen. Das ist die Realität in unserer Gesellschaft.
Das hat sich hier ganz deutlich gezeigt.
Nun haben Sie - das fand ich am schlimmsten -, Herr Bundeswirtschaftsminister, erklärt, die Bundesregierung könne keine Industriepolitik machen. Wenn Sie sich weigern, Industriepolitik zu machen, dann sagen Sie hier aber auch nie wieder, daß Sie Arbeitsplätze schaffen wollen. Denn wenn Sie nicht bereit sind, Industriepolitik zu machen, dann können Sie keine Arbeitsplätze erhalten und schon gar nicht neue schaffen.
- Wir werden uns einmal diesbezüglich über Ihre Politik unterhalten. Machen wir es doch konkret: Ich behaupte, diese Bundesregierung hat die maritime Wirtschaft zu keinem Zeitpunkt wirklich gewollt und unterstützt. Das hat einen naheliegenden Grund: Sie findet überwiegend in SPD-regierten Ländern statt.
Dr. Gregor Gysi
Und es hat einen weitergehenden Grund: Sie wollen zwar Hochtechnologie produzieren, aber Sie wollen Industrie nicht. Sie sind gar nicht unzufrieden, wenn die Schiffe in anderen Ländern gebaut werden und hier nur noch die Steuerungstechnik hergestellt wird. Dadurch treffen Sie einen für sie unberechenbaren Teil von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, was Ihnen ganz recht ist. Dahinter steckt Gesellschaftsstrategie.
Das werde ich Ihnen anhand von drei Punkten beweisen.
Als die OECD-Richtlinien zur Subventionierung des Schiffbaus noch galten - das heißt: bis Ende 1995 -, war die Bundesrepublik Deutschland das einzige Mitgliedsland, das die möglichen Subventionen nicht einmal zu 50 Prozent ausgeschöpft hat. Alle anderen Mitgliedsländer haben sie zu 100 Prozent oder mehr ausgeschöpft. Das ist die Realität. Warum haben Sie das denn nicht ausgeschöpft, wenn Sie die Werftenstandorte in Ost und West nicht schwächen wollten?
Ein zweites Beispiel kann ich Ihnen nennen. Die USA haben wegen des großen Tankerunglücks vor ihrer Küste damals gefordert, daß die Sicherheitsstandards für Tankerschiffe wesentlich heraufgesetzt werden, daß zum Beispiel die berühmten doppelwandigen Tankerschiffe hergestellt werden müssen. Das hat die Bundesregierung abgelehnt; deswegen sind diese Sicherheitsvorschriften nicht in Kraft getreten. Wären sie in Kraft getreten, hätte das nämlich einen zusätzlichen Auftragsboom auch bei deutschen Werften zur Folge gehabt.
So haben wir ökologische und andere Katastrophen praktisch täglich auf den Meeren zu verzeichnen.
Wenn Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, sagen, Sie seien hinters Licht geführt worden, und wenn dann hier von einem Vertreter der CDU Betriebsratsmitgliedern oder IG-Metall-Mitgliedern vorgeworfen wird, daß sie sich haben hinters Licht führen lassen, muß ich sagen: Das ist doch wohl ein starkes Stück! Diese haben viel weniger Kontrollmöglichkeiten, viel weniger Apparat als die Bundesregierung. Wie sollen die denn ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen überprüfen, wenn nicht einmal Sie dazu in der Lage oder willens sind?
Was ich ganz schlimm fand, war, daß hier wieder von Ersatzarbeitsplätzen geredet wurde. Sie müssen mal nach Bischofferode fahren. Da haben Vertreter der ... Bundesregierung höchstpersönlich über 700 Ersatzarbeitsplätze zugesichert; davon sind inzwischen, nach drei Jahren, 10 geschaffen. Das sind ganz leere Versprechungen. Ich hoffe, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bremen und in anderen Regionen nicht glauben, daß dort wirklich Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden,
wenn die Werften Schritt für Schritt totgemacht werden. Damit haben wir es doch zu tun. Es wird jetzt nur zeitlich etwas verzögert; es soll nicht alles auf einmal geschehen.
Dann habe ich natürlich eine ganz große Bitte; sie hängt mit dem „Ost-West-Konflikt" zusammen. Hier ist oft davon geredet worden, daß Mittel für den Osten - wie ist das hier immer genannt worden? - verschleudert wurden. Nun stellt sich heraus, daß sie zum Teil erst gar nicht angekommen sind,
weil sie schon woanders verschleudert wurden. Die Kollegin Beck hat hier schon darüber gesprochen, was das bedeutet. Aber ich sage etwas anderes dazu: Ich möchte nicht, daß dieser Fall dazu mißbraucht wird, den „Ost-West-Konflikt" weiter zu verschärfen.
- Ich möchte es nicht, sage ich; ich möchte es nicht.
- Wir tun es? Wer hält denn der Ost-Bevölkerung täglich die Transferleistungen vor und verwendet dabei falsche Angaben, um sie zu demütigen und um eine psychologische Stimmung im Westen dahin gehend zu erzeugen, daß man an den Osten schon zuviel zahlt? - Das sind doch Sie und nicht wir!
Wer die Probleme benennt und bekämpft, der schafft Einheit; nicht, wer sie ständig zuspitzt und auch noch falsch darstellt. Nein, ich möchte das nicht. Es geht um die Arbeitsplätze in den Werften und in der Zulieferindustrie und in vielen kleinen und mittleren Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und allen anderen Ländern, die davon betroffen sind. - Es handelt sich nicht nur um ein Land. - Davon läßt sich die PDS leiten. Wir sehen für eine Lösung gute Chancen. Das bedeutet natürlich, daß die Werften in Mecklenburg-Vorpommern die ihnen zustehenden Mittel bekommen müssen.
Aber jetzt ist nicht nur ein Unternehmenskonzept gefragt. Vielmehr muß diese Bundesregierung endlich einmal für die gesamte maritime Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ein Konzept auf den Tisch legen. Wir müssen wissen, wo Sie eigentlich hinwollen, welche Art von Werftindustrie und Zulieferindustrie Sie erhalten wollen oder ob Sie es weiter so machen wollen, daß Sie Mittel nur eingeschränkt zur Verfügung stellen, daß Sie keine Kontrolle ausüben und daß Sie zusehen, wie die Werftindustrie Schritt für Schritt in der Bundesrepublik Deutschland vernichtet wird. Dazu müssen Sie endlich einmal Stellung nehmen. Das verweigern Sie hier seit Jahren. Das ist Tatsache.
Dr. Gregor Gysi
- Da können Sie sich furchtbar aufregen, Herr Westerwelle. Aber Sie sind erst ein paar Tage hier; deshalb können Sie es nicht wissen.
Aber ich kann Ihnen garantieren, daß wir hier seit Jahren versuchen, Klarheit in bezug auf das Konzept der Bundesregierung für die maritime Wirtschaft zu bekommen. Wir bekommen keines vorgelegt.
- Fragen Sie einmal, warum dieses Konzept nicht vorgelegt wird. - Deshalb müssen wir darum kämpfen und die Bundesregierung in die Verantwortung nehmen. Es bringt nichts, mit schönen Worten der Bundesregierung für Ratschläge zu danken. Handeln muß sie, neben der Landesregierung, neben der Unternehmensleitung und den Beschäftigten selbst. Bloß, die handeln.
Das heißt im übrigen auch, daß wir über Wirtschaftsdemokratie neu nachdenken müssen. Es geht nämlich nicht, daß die Betriebsräte und die Gewerkschaften immer erst dann gefragt sind, wenn der Konkurs kurz bevorsteht, wenn es um Abfindungen geht, daß sie aber bei Investitionsentscheidungen und anderen wichtigen Entscheidungen nichts mitzuentscheiden haben. Das müssen wir ändern.
Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Herr Dr. Berndt Seite.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann verstehen, daß die Emotionen in diesem Hause bei diesem Thema hochgehen. Wichtig ist, daß wir diese Diskussion hier führen. Vor allen Dingen ist sie wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Eine Vision ist gescheitert: nicht die einer maritimen Verbundwirtschaft, sondern die, politisch dominierte Unternehmen könnten sich auf Dauer an der Realität vorbeimogeln.
Das ist für Zigtausende von Arbeitnehmern eine bittere Wahrheit. Ihnen und ihren Familien gilt heute mein erster Gedanke. Für sie kämpfen wir am besten, indem alle Beteiligten gemeinsam aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.
Gestatten Sie mir ein Wort zu den in den letzten Tagen deutlich gewordenen Differenzen zwischen Ost und West. Ich sage ganz klar: Jeder Beitrag zum Erhalt von wettbewerbsfähigen Industriearbeitsplätzen in Bremen - und damit zur Sicherung des Standorts Deutschland - ist auch im Interesse Mecklenburg-Vorpommerns. Norddeutsche Kleinstaaterei ist im Zeitalter einer ständig zunehmenden Verflechtung der Wirtschaftsbeziehungen im Weltmaßstab
bei Produkten, die weltweit abgesetzt werden müssen, zum Scheitern verurteilt.
Abschottung ist daher in jedem Fall die schlechtere Alternative, die man nur wählen sollte, wenn es keinen anderen Weg mehr gibt.
Aber man wird auch genauso klar sagen dürfen, daß es in diesem Fall vom alten Bremer Vorstand offenbar eine Zweckentfremdung der für die Oststandorte vom Steuerzahler aufgebrachten Mittel in bisher nie dagewesener Höhe gegeben hat. Unsere Herzen schlagen natürlich für unsere Standorte und die Arbeitsplätze in unserem Land.
Um Ihnen die Dramatik der letzten Jahre in unserem Bundesland zu verdeutlichen: Wir haben in zwei Jahren 400 000 Arbeitsplätze in Mecklenburg-Vorpommern verloren - 40 000 bei den Werften, 170 000 in der Landwirtschaft, 35 000 im Handel. Das sind entscheidende Einschnitte in unserem Leben. Trotzdem vertrauen wir der Zukunft.
Meine Damen und Herren, im Jahre 1992 gab es im wesentlichen nur zwei Konzerne, die sich für die Werften in unserem Land interessierten: der norwegische Kvaerner-Konzern und die Bremer Vulkan Verbund AG. Beide bekamen die Gelegenheit, jeweils ein Verbundkonzept zu verwirklichen. Dafür - das ist Ihnen bekannt - wurden erhebliche öffentliche Mittel bereitgestellt.
Auf der einen Seite, bei Kvaerner, können wir feststellen: Es ist gelungen - bei gleichen Ausgangsvoraussetzungen, wie sie die Bremer Vulkan Verbund AG vorgefunden hat, was Qualifikation der Arbeitnehmer, politisches und wirtschaftliches Umfeld anbelangt -, die Umstrukturierung der Warnow-Werft in Warnemünde in der vereinbarten Zeit durchzuführen, sie in den Konzernverbund zu integrieren und Gewinne zu erwirtschaften. Jeder kann sich in Rostock-Warnemünde davon überzeugen: Dort steht die modernste Werft Europas.
Auf der anderen Seite haben wir die Bremer Vulkan Verbund AG. Wir müssen feststellen: Die Investitionen auf den Werften in Wismar und Stralsund sind noch nicht abgeschlossen; das Dieselmotorenwerk in Rostock ist zwar mit den Investitionen fertig, aber noch lange nicht über den Berg; die Neptun Industrie Rostock ist nur dank ihrer konsequenten Eigenständigkeit in der Lage, kurzfristig sicheren Grund zu erreichen.
Am Beispiel Kvaerner können wir jedoch auch erkennen: Der ursprünglich verfolgte Verbundgedanke - das heißt die Einbindung der Werften in leistungsfähige Konzerne - war und ist richtig, wenn er mit entschlossenem, marktorientiertem, unternehmerischem Handeln verknüpft ist und auch die Banken nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden.
Es fehlt nicht an Einfallsreichtum und Einsatzbereitschaft unserer Arbeiter und Angestellten, um auch unter schwierigsten Bedingungen zusammen mit einer an Produktivitätssteigerung, Leistungsfä-
Tausende gingen bei uns auf die Straße, um für den Bremer Vulkan zu demonstrieren und die Übergabe ihrer Betriebe an den Bremer Vulkan zu erreichen. Es gab zum Bremer Vulkan nur ganz wenige Alternativen, und es schwang die Hoffnung mit, daß bei einem von der Gewerkschaft IG Metall nachhaltig unterstützten Konzern die Umstrukturierung für die Arbeitnehmer weniger hart ausfallen würde. Wer will, kann dies zum Vorwurf erheben.
Den Rest kennen Sie. Die BVS und andere haben sich bereits eindeutig geäußert.
Welche Fehler wurden nun vom Konzern gemacht? Stets wurden zwingend notwendig gewordene Entscheidungen vertagt, immer in der Gewißheit, der Staat und die Politik würden es schon richten. Wie ein roter Faden zieht sich durch die ganze Unternehmenspolitik eine Strategie, die auf Dauersubventionen abzielt, ja diese für die Abdeckung von Verlusten und die Übernahme waghalsiger Risiken geradezu voraussetzt. Dies alles allein einem einzelnen in einem Konzern vorzuwerfen, bei dem eine in Jahrzehnten gewachsene Verknüpfung zwischen Bremer Politik und Unternehmensentscheidungen deutlich geworden ist, hieße, die wahren Ursachen zu verschleiern.
Lassen Sie uns nach vorne schauen. Wir sollten aus diesen Erfahrungen die richtigen Schlüsse ziehen. Nicht die regionale Verwurzelung ist für den Unternehmenserfolg entscheidend. Nur ein Unternehmen, das solide arbeitet, um Gewinne zu erwirtschaften - nur so können Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden -, wird seiner sozialen Verantwortung auch gerecht. Dafür muß die Politik die Rahmenbedingungen schaffen.
Welcher Weg für den Vulkan und seine Unternehmen letztlich möglich sein wird, kann heute noch nicht präzise gesagt werden. Oberste Priorität für die Landesregierung hat jedoch die schnelle, umfassende Fertigstellung der Investitionen. Die erforderlichen Mittel zur Fertigstellung der modernen Produktionsanlagen auf den Werften müssen unbedingt aufgebracht werden. Die Bundesregierung, BVS und die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern sind sich darin einig. Wir stehen unter einem enormen Zeitdruck. Unabhängig davon, wie das Vergleichsverfahren ausgeht und welche Unternehmensstruktur sich als die zweckmäßigste herausstellen wird, müssen die Betriebe im Jahre 1998 - Stichwort: OECD-Abkommen - mit ihren Produkten ohne Subventionen wettbewerbsfähig sein, wettbewerbsfähig zu Preisen, die an anderer Stelle diktiert werden.
Eines ist sicher: Wir sind nicht die Herren des Verfahrens; denn Unternehmensleitung, Vergleichsverwaltung und - nicht zu vergessen - die Europäische Union haben innerhalb der bestehenden Handlungsspielräume viel mehr Einfluß. Aber Bundes- und Landesregierung werden ihrer politischen Verantwortung für den Erfolg der Privatisierung und den Erhalt der industriellen Kerne in Mecklenburg-Vorpommern gerecht werden und dabei die Lehren aus den schmerzhaften Erfahrungen beherzigen.
Ich fordere heute: Erstens. Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern besteht auf einer vollständigen und rückhaltlosen Aufklärung der Vorgänge.
Zweitens. Die geplanten und zugesagten Investitionen müssen im vollen Umfang durchgeführt und schnell abgeschlossen werden. Ich danke der Bundesregierung für ihre Zusage, die Investitionen zu plazieren.
Drittens. Die dafür erforderlichen Mittel sind unter Einbeziehung des Bremer Vulkan und der verantwortlichen Mitwirkung der Banken aufzubringen.
Viertens. Die zweckentfremdeten Mittel müssen an ihren Bestimmungsort zurückgeführt werden.
Das Wort „Das Geld ist weg! " darf nicht zum Unwort des Jahres 1996 werden.
Wichtig ist uns gemeinsam die Einheit Deutschlands, die wir verwirklichen wollen.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Dr. Rainer Ortleb das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich würde gerne vier Facetten dieser Debatte auseinanderhalten wollen.
- Entschuldigung, ich habe ja gerade erst einen Satz gesagt.
Erstens. Der Fall Vulkan an sich ist die zum Bankrott führende Philosophie eines Unternehmens, Monopoly in realer Welt zu spielen, dabei zu kaufen, Schulden als Haben zu buchen und letztendlich den Staat als Hausbank zu sehen.
Zweitens. Der Fall Vulkan ist in seiner Ostkomponente die falsch angefaßte Überführung von Wirtschafts- und Industriepotential der ehemaligen DDR in die Marktwirtschaft. Es ist dazu heute schon einiges gesagt worden. Ich stehe dazu, daß auch andere Wege hätten gegangen werden können als der, sozusagen die Konkursmasse des Vulkan zu verstärken.
Drittens. Es war und ist in der Tat eine unmenschliche Strapaze für unzählige Betroffene, aus plangesteuerter Staatswirtschaft in die soziale Marktwirtschaft überführt zu werden. Dabei hat man häufig zuerst den Markt, dann die Wirtschaft und zuletzt das Soziale kennengelernt. Es gibt andere Beispiele, bei denen in kleineren Strukturen neu angefangen wurde. Ich nenne nur das Stichwort Halle/Leuna.
Viertens. Der Effekt, daß der Vulkan wie ein Fördermittelverschiebebahnhof wirkt, diskreditiert das Bemühen der Überführung der Wirtschaft der neuen Bundesländer in die Marktwirtschaft. Deswegen ist es erforderlich, daß keine darauf gründenden Haßpotentiale aufgebaut werden. Das wäre das Schädlichste, was es gibt. Im Sinne des letzteren haben viele
Worte, auch Ihre, Herr Bürgermeister, Herr Ministerpräsident, in diesem Raume heute gutgetan.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Ernst Schwanhold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute in einer Woche wird uns Herr Jagoda Arbeitslosenzahlen von 4,4 bis 4,5 Millionen offenbaren. Dies ist schlichtweg eine Katastrophe. Im März wird diese Zahl sicher noch weiter ansteigen.
Der Kanzler redet über das „Bündnis für Arbeit", während das „Bündnis für Arbeit" ganz konkret in Bremen und in Mecklenburg-Vorpommern zu organisieren ist. Da geht es um 23 000 Menschen.
Und dann stellen sich Herr Koppelin und Herr Neumann hier hin und betreiben billige Parteipolemik. Ich finde das vor den Kolleginnen und Kollegen, die hier auf der Tribüne sitzen, schlichtweg zum Kotzen.
Sie haben Gott sei Dank den Grafen Lambsdorff zurückgezogen, der taucht hier gar nicht erst auf.
Zuerst sollten wir den Facharbeitern, die seit vielen Jahren hervorragende Schiffe gebaut haben, dafür danken, daß sie trotz schwierigster Bedingungen in Ost und West vorzügliche Arbeit geleistet und Werften haben, die an diesem Standort bestehen können.
Daß sie den Wettbewerb mit Japan und Korea trotz aller Schwierigkeiten - es gibt ein paar Währungsdifferenzen und andere Dinge - bestehen können, ist der vorzüglichen Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu danken und etwas weniger - das muß man auch sagen, Herr Rexrodt - der Regierung.
Sie reden immer davon, daß wir fördern müssen. Warum schöpfen Sie im Forschungshaushalt nicht die Möglichkeiten aus, Forschungs- und Technologieförderung auch in der maritimen Wirtschaft bis zur Obergrenze zu finanzieren?
In Mecklenburg-Vorpommern werden 17 Prozent der gesamten Wirtschaft auf die maritime Wirtschaft gestützt. Das Schicksal dieser Region und ihrer Menschen ist viel zu ernst, als daß wir darüber polemisieren sollten. Hier gilt es jetzt, an einem Strang zu ziehen. Politik, Unternehmen, Anteilseigner, Banken und Arbeitnehmer müssen an einen Tisch, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Ernst Schwanhold
Als erstes begrüßen wir natürlich den Schritt, der am Montag gemacht worden ist, daß das Vergleichsverfahren doch noch zu einem erfolgreichen Abschluß - so hoffe ich jedenfalls - geführt werden kann.
Jetzt müssen allerdings Sanierungskonzepte zwischen allen Beteiligten für die Werften in Stralsund und Wismar und auch für die Werften im alten Bereich des Bremer Vulkan erarbeitet werden. An unterschiedlichen Stellen zu trennen kann sich dabei durchaus als zweckmäßig erweisen. Das darf man nicht im Vorfeld sagen, sondern das muß dem Konzept vorbehalten bleiben, das das in sinnvoller Weise zusammenfaßt. Auf jeden Fall muß sichergestellt werden, daß die für die Modernisierung der ostdeutschen Werften aus Brüssel vorgesehenen Hilfen wirklich schnell mobilisiert werden und dorthin fließen, wo sie hingehören.
Gleichzeitig muß sichergestellt werden, daß die laufenden Aufträge in Bremen und Bremerhaven fertiggestellt werden können. Hier muß die Politik nachhelfen; denn sie trägt Mitverantwortung. Immerhin fließen die Brüsseler Hilfen im Rahmen der Regionalförderung durch das Bundeswirtschaftsministerium, Herr Minister.
Es ist schon schwer genug, sich vorzustellen, daß ein Titel im verwaltenden Ministerium in Höhe von 600 Millionen DM nicht besser kontrolliert worden ist, als das geschehen war. Sie haben sich ausweislich der Antworten von Frau Karwatzki und anderen zu den Fragen des Kollegen Uwe Küster allzusehr auf die Wirtschaftsprüfer verlassen. Sie haben uns das heute ausdrücklich bestätigt, insofern verstehe ich nicht, daß Sie Herrn Koppelin nicht vorher gesagt haben, daß er keine andere Anforderung an Herrn Teichmüller stellt, als er sie an Sie stellt.
Der Bundesregierung scheint offenbar bekannt gewesen zu sein, wohin die Gelder tatsächlich geflossen sind und daß sie zumindest vorübergehend zweckentfremdet wurden. Jedenfalls hat die Bundesregierung dies am 21. Dezember - das ist noch keine drei Monate her - kundgetan.
Es ist nicht von ungefähr so, daß Graf Lambsdorff den Bundesfinanzminister auffordert, sich dazu zu äußern. Der Finanzminister schweigt ja erstaunlich und ganz beredt. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Sie Ihrer Verantwortung in diesem Falle gerecht würden.
Strukturwandel ist notwendig, das will niemand bestreiten, und es gibt Beispiele von Werften, die den Strukturwandel bis hin zum Spezialschiffbau und anderen Nischen mit hochwertigen Erzeugnissen erfolgreich bewältigt haben, vielleicht sogar erfolgreicher, als das dem Bremer Vulkan in der Gesamtheit gelungen ist.
Bei allem notwendigen Strukturwandel geht es aber auch um die Frage: Wollen wir noch eine leistungsfähige Schiffbauindustrie in Deutschland, oder wollen wir uns auch aus dieser Industrie verabschieden, wie es schon in der Unterhaltungselektronik geschehen ist?
Ich denke, wir brauchen eine leistungsfähige Schiffbauindustrie.
Diese Frage muß hier beantwortet werden.
Hier geht es um Industriepolitik. Die Industriepolitik dieser Bundesregierung muß die notwendige Antwort darauf geben, ob dabei noch eine leistungsfähige Schiffbauindustrie vorgesehen ist.
In der Vergangenheit haben zum Beispiel die Jahreswirtschaftsberichte einzelne Branchenkomponenten gehabt. Das waren keine Konzepte, aber dieser Bundeswirtschaftsminister lehnt es ab, im Jahreswirtschaftsbericht auch etwas zu einzelnen Branchen zu sagen. Es wäre angesichts der Kenntnisse beim Bremer Vulkan hilfreich gewesen, schon im Jahreswirtschaftsbericht 1994, 1995 oder 1996 daran ein Wort zu verschwenden.
Wir brauchen ein Werftenkonzept. Daß der Wirtschaftsminister dazu nein sagt, werfe ich ihm in diesem Augenblick nicht vor. Ich will ausdrücklich anerkennen, daß er und der Staatssekretär Ludewig sich jetzt sehr intensiv darum bemühen, nachdem Sie, Herr Minister, eine Volte geschlagen haben. Sie hatten es erst anders vorgesehen. Diese Standorte zu erhalten, finde ich außerordentlich gut. Ich fände es auch sehr gut, wenn Sie in der Werft hätten reden können. Das wäre sicherlich ein gutes Zeichen gewesen. Sie nicht reden zu lassen, halte ich nicht für eine kluge Entscheidung.
Herr Kollege Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ich möchte Herrn Koppelin nicht die Chance geben, seine Tiraden von eben fortzusetzen.
Die einzigen, die am Ende draufzahlen, werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, weil sie keine vergoldeten Abfindungen bekommen.
Deswegen müssen wir erstens dringend darüber nachdenken, welche Verbesserungen der Kontrollrechte der Aufsichtsräte nach dem Aktiengesetz vorzusehen sind.
Die zweite Konsequenz muß sein: Die Mithaftung des Managements bei Unternehmensentscheidungen muß ausgebaut werden.
Drittens müssen Einfluß und Verflechtungen der Banken eingedämmt werden. Die Gesetzesvorlage der SPD mit genau diesen Zielen liegt dem Bundes-
Ernst Schwanhold
tag vor und wird von der Koalition in den Ausschüssen verschleppt. So geht das übrigens nicht.
Graf Lambsdorff sagt öffentlich: Wir sind für die Eindämmung der Bankenmacht. Und hinter unserem Rücken schmeißt er Sand ins Getriebe. Das halte ich für verlogen.
Viertens muß sich die Wirtschaftspolitik wieder zu ihrer industriepolitischen Verantwortung bekennen und deutlich machen, wie Industriearbeitsplätze in Deutschland gehalten werden sollen. Es geht hier um ein Werftenkonzept. Wirtschaftspolitik kann doch nicht heißen, auf die Krisen zu warten und dann den unwiederbringlich verlorenen Arbeitsplätzen hinterherzurennen. Selbst in der Zeit von Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff - leider ist er nicht da -
sind die Berichte zu den Wirtschaftsbereichen gekommen. Aber unter Ihnen, Herr Rexrodt, wird es nun dringend notwendig, die Möglichkeiten auszuschöpfen und nach Lösungen zu suchen, die für den Vulkan insgesamt an allen Standorten möglich sind.
Deshalb fordere ich erstens, die begrenzten haushaltsrechtlichen Spielräume zu Absicherungs- und Sanierungskonzepten noch auszuschöpfen, wie das schon in vergleichbaren Fällen geschehen ist. Die nach dem Vergleichsantrag verlorenen Hilfen für die ostdeutschen Werften müssen in voller Höhe erneut bereitgestellt werden, mit Ausnahme des Teils, der zurückzuholen ist.
Zweitens fordere ich die Entlastung der Länder durch Übernahme der Komplementärmittel für die normalen Werfthilfen, drittens ein Sonderprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur in den besonders betroffenen Küstenregionen.
Viertens werden wir über Bundessonderhilfen für Bremen nachdenken müssen.
Fünftens geht es um die Unterstützung der Länder, zusätzliche EU-Regionalmittel zu erhalten.
Wenn wir dies konsequent machen, gepaart mit der Suche nach einem Unternehmenskonzept, dann können wir trotz des lautstarken Getöses dafür sorgen, daß von den 23 000 Arbeitsplätzen viele erhalten bleiben. Das sollte unsere erste Sorge sein und nicht die parteitaktischen Vorteile.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Koppelin das Wort.
Mein Vorredner hat eben von einem Konzept für den Schiffbau gesprochen. Ich finde, darüber können wir uns durchaus unterhalten. Das ist sicher vernünftig.
Ich bitte jedoch, einmal in den Reihen der SPD-Fraktion zu klären, wie die SPD zum Beispiel zum Marineschiffbau steht. Der gehört schließlich auch dazu. Sie wissen genau, daß man ohne Marineschiffbau kaum im Handelsschiffbau tätig sein kann. Betrachten wir einmal, was wir dem Vulkan durch das Verteidigungsministerium geben werden. Ich nenne einmal Zahlen: vier Fregatten 123 - das sind etwa 135 Millionen DM -, dann drei Fregatten 124 mit 120 Millionen DM, weitere Instandsetzungsaufträge mit etwa 22 Millionen DM, schließlich wird er im Bereich der Minenjagdboote STN etwas bekommen, was sich noch einmal auf etwa 160 Millionen DM summiert. Ich frage Sie als Sozialdemokraten, warum Sie jedesmal den Verteidigungshaushalt ablehnen, denn diese Dinge stehen da drin. Sie stellen jedesmal in diesem Bereich Streichungsanträge. Lassen Sie das zukünftig bei den Haushaltsberatungen sein.
Herr Kollege Schwanhold möchte nicht entgegnen. Dann hat jetzt der Kollege Gunnar Uldall das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und meine Herren! Herr Kollege Schwanhold, die Kritik an den Kollegen Neumann und Koppelin war nicht angebracht.
Wer einen Lösungsweg sucht, der muß auch eine Analyse wollen, wie es zu den Problemen gekommen ist. Er muß diese Analyse auch dann wollen, wenn sie sehr schmerzhaft ist.
Schiffbau kann in Deutschland wirtschaftlich betrieben werden. Was auf einer Werft an der Ems möglich ist, müßte auch auf den Werften an der Weser möglich sein.
Was auf einer Werft in Rostock möglich ist, die nicht zum Vulkan Verbund gehört, müßte auch auf den Werften in Stralsund und in Wismar möglich sein.
Das zeigt: Der Vergleichsantrag des Vulkan beruht auf Fehlern des Unternehmens, nicht auf Fehlern der Politik.
Aufgabe der Politik ist, den Rahmen für ein erfolgreiches Unternehmen zu schaffen. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Politik, Managementfehler einzelner
Gunnar Uldall
Unternehmen auszugleichen und die damit entstandenen Verluste zu sozialisieren.
Der Bürgermeister von Bremen und der Kollege Schwanhold haben skizziert, wie Ansatzpunkte für eine Hilfe aussehen könnten. Hierzu möchte ich klar sagen: Der Handlungsspielraum des Bundes ist außerordentlich knapp bemessen, erstens weil die eigene Haushaltslage sehr angespannt ist und zweitens weil die Zustimmung zu weiteren Hilfen aus Brüssel kommen müßte. Diese Zustimmung wird wohl nur unter besonderem Einsatz zu erreichen sein.
Es muß auch deutlich hervorgehoben werden: Bremen bekommt schon jetzt umfangreiche Hilf estellungen durch den Bund.
Seit 1994 erhält das Land Bremen vom Bund als besondere Ergänzungszuweisung 1,8 Milliarden DM pro Jahr.
Das sind knapp 3 000 DM pro Einwohner des Landes Bremen. Dies ist eine Hilfe, die sonst nur noch an das Saarland gezahlt wird, sonst an kein anderes Bundesland. Weitergehende Zuschüsse an das Land Bremen sind deswegen nicht zu vertreten, es sei denn, man würde in gleicher Weise die danach zu Recht erhobenen Forderungen anderer Bundesländer erfüllen können.
Denkbar wäre auch eine verstärkte Unterstützung über die Gemeinschaftsaufgaben. Da auch hier der Gesamtumfang begrenzt ist, stellt sich die Frage vor allem an die anderen Bundesländer, ob sie zu einer Umschichtung zugunsten Bremens bereit sind. Diese Frage stellt sich insbesondere dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder; denn ein Großteil der Werftarbeiter wohnt in seinem Bundesland, das heißt, er ist in unmittelbarer politisch-moralischer Verpflichtung.
Ich appelliere an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, sich einer Hilfe für die betroffenen Mitarbeiter des Bremer Vulkan im Rahmen einer Gemeinschaftsaufgabe nicht zu entziehen.
Es ist erfreulich, daß der Bürgermeister von Bremen, Scherf, und auch der Kollege Schwanhold die ernsten Probleme in sachlicher Form hier behandelt haben. Absolut unerträglich und schädlich für die Belange der Werftarbeiter ist es jedoch, wenn der Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Herr Ringstorff, die Diskussion in einer fürchterlich polemischen Weise führt.
Das paßt vor allem deswegen nicht, weil es doch Ringstorff war, der vor einigen Jahren ganz massiv für den Bremer Vulkan als Gesellschafter eingetreten ist.
Wenn sich die Linie von Ringstorff damals nicht durchgesetzt hätte, dann hätten wir diese Probleme heute unter Umständen gar nicht.
Lassen Sie mich zum Abschluß feststellen: Der Neubau der Werften in Mecklenburg-Vorpommern ist kurz vor der Fertigstellung. Die Werften müssen zu Ende gebaut werden. Es darf keine Investitionsruinen geben. Vor drei bis vier Jahren wurde die politische Entscheidung getroffen, daß der Schiffbau in Ostdeutschland auf international wettbewerbsfähigen Stand gebracht werden soll. An dieser Entscheidung darf sich nicht deswegen etwas ändern, weil das Management der Muttergesellschaft Fehler gemacht hat. Wenn die Werften in Wismar und Stralsund fertig sind, dann werden das mit die modernsten Werften in Europa sein. Die Mitarbeiter auf diesen Werften haben nach der Wende gezeigt, daß sie sich in kürzester Frist auf neue Schiffstypen einstellen, neue Fertigungsverfahren anwenden, sich auf neue Kundenstrukturen einstellen konnten. Wenn sie das geschafft haben, dann werden sie es auch schaffen, sich auf neue Gesellschafterverhältnisse einzustellen.
Herr Uldall, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn ich noch einen Satz sagen darf, dann gerne.
Ich bin deswegen sicher, daß die Werften in Wismar und in Stralsund auch die jetzigen Herausforderungen meistern werden.
Herr Kollege, Sie haben gerade Herrn Dr. Ringstorff angesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß Herr Dr. Ringstorff damals in der Opposition gesessen hat? Sie weisen letztendlich ihm Verantwortung für die Entscheidung zu.
War es nicht statt dessen der damalige Bundesminister Krause, CDU, der sich ganz eindeutig, öffentlich und mediengerecht für einen Verbund mit dem Bremer Vulkan eingesetzt hat, während sich die SPD unter Führung von Herrn Ringstorff zu dem Prinzip Sanieren vor Privatisieren bekannt hat?
Ich habe schon ein gutes Gedächtnis, und ich weiß, wer damals auf die
Gunnar Uldall
Straße gegangen ist, Herr Kollege, und die Demonstrationen mit angeführt hat.
Ich empfehle Ihnen nur eines: Lesen Sie doch nur die Reden, die Herr Ringstorff damals zu diesem Thema gehalten hat. Dann erhalten Sie die beste Antwort, die Sie bekommen können.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eines vorausschicken: Diese Debatte führen wir, um Wege und Auswege aus der verfahrenen Situation zu suchen und nicht, um je nach Bedarf wechselseitig Sündenböcke zu benennen und Schuldzuweisungen vorzunehmen.
In der dankenswerterweise überwiegend sachlich geführten Debatte sind leider auch solche Töne angeklungen. Das kann uns nicht nützen. Vor allen Dingen kann das den betroffenen Regionen und den Arbeitnehmern nichts nützen.
Ich fühle mich auf fatale Weise daran erinnert, daß in der öffentlichen Debatte der vergangenen Zeit dann auch auf ungute Weise eine Schieflage entstanden ist, die bis zu wieder neu zu schürenden Ost-West-Konflikten reicht, in der der Solidaritätszuschlag und ähnliches instrumentalisiert wurden. Ich möchte den Bremerhavener Kommunalpolitikern, F.D.P., die es nicht wissen, noch einmal sagen, daß dieser Solidaritätszuschlag auch von Arbeitnehmern im Osten gezahlt wird. Das eignet sich einfach nicht zum Wahlkampf, denn es sind Probleme, die dahinterstehen.
Was aber die Sündenböcke angeht, die mir einfach zu schnell und zu griffig gefunden wurden, da denke ich, das geht wirklich zu schnell. Dort sollte man doch etwas nachsehen, wo die Verantwortlichkeiten wirklich liegen, denn es gibt auch Verantwortlichkeiten auf Bundesebene, die alles eben erst möglich gemacht haben. Da hat es offensichtlich doch ein großes Tal der Ahnungslosen gegeben. Ich denke, es muß um mehr Ehrlichkeit und auch um die Benennung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten gehen.
Daß die Schiffbaubetriebe in Mecklenburg-Vorpommern nach dem Verbleib ihrer zweckgebundenen Beihilfen fragen und sie zurückhaben wollen, ist doch eine normale und gerechtfertigte Reaktion. Es ist auch gerechtfertigt, daß sie überhaupt einmal wissen wollen, um welche Summen es geht, denn dabei ist abenteuerlich mit Summen zwischen 170 und 850 Millionen DM jongliert worden. Die BVS blickt offensichtlich am allerwenigsten durch.
Zu Ihnen, Herr Minister Rexrodt, und auch zu Ihnen, Herr Uldall. Es wurde fälschlich dargestellt, als hätte es nur eine einzige Möglichkeit gegeben und als hätte die SPD mit Vehemenz die jetzige Lösung gefordert. Ich darf Sie erinnern: Zum Zeitpunkt der Privatisierung der ostdeutschen Werften gab es das von dem erfahrenen Sanierer Dr. Krackow erarbeitete Sanierungskonzept der DMS.
Bundesregierung, Treuhandanstalt und auch die damalige Landesregierung von CDU und F.D.P. haben sich für die jetzige Variante entschieden, mit der sie jetzt nicht mehr so viel zu tun haben wollen.
Ich kann mir aber gut denken, und ich stelle mir manchmal vor, wie dieser verdienstvolle Mann Dr. Krackow jetzt empfindet, daß er zum damaligen Zeitpunkt recht gehabt hat, daß ihm die Entwicklung recht gegeben hat; denn wir verdanken ihm in Mecklenburg-Vorpommern durch seine Vorleistung sehr viel.
Aber klar muß angesichts der heutigen Situation nach der Verantwortung der Treuhandanstalt, jetzt der BVS, und ihres Dienstherrn, des BMF, gefragt werden. Denn es hat lange Zeit statt Information wohl mehr Verschleierung gegeben. Oder war es Blauäugigkeit? War es Schlamperei? Oder war es stillschweigende Duldung? Immerhin war das Cash-Management eine gängige und von der Treuhand gebilligte Praxis. Nur, wurde die Verwendung von Beihilfen jemals ausreichend durch die Treuhand geprüft, und hatte die Treuhand den Prozeß überhaupt im Griff? Ist die Bundesregierung jemals hellhörig geworden, als es Warnzeichen gab? Ich bezweifle dies sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bisher sind alle in den Privatisierungsverträgen mit der Treuhandanstalt festgelegten Verpflichtungen eingehalten worden.
Die von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben ... den ostdeutschen Werften im Verbund des Bremer Vulkan für Investitionen zur Verfügung gestellten Finanzmittel sind bereits zu über 90 % in den Werftneubauten Wismar und Stralsund investiert.
Bei dem Dieselmotorenwerk in Rostock ist sogar 35 % mehr investiert worden als vertraglich vorgesehen. Dies macht deutlich, daß keine Fördermittel der BvS zweckwidrig verwendet wurden.
Dr. Christine Lucyga
Die BvS erhält von den Werften vierteljährliche
ausführliche Prüfberichte ... Diese werden durch
internationale Wirtschaftsprüfer ... geprüft und
testiert. Darüber hinaus führt die BvS in regelmäßigen Abständen mit den einzelnen Werften Gespräche .. .
Wie wir jetzt wissen, war diese Antwort der Bundesregierung unwahr. Mir drängt sich einmal mehr der Verdacht auf - das ist ja nicht der erste Fall -, daß weder die Bundesregierung noch die Treuhandanstalt, noch die BVS mit der notwendigen Sorgfalt gearbeitet haben.
Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, fahrlässig gehandelt zu haben.
Der zuständige EU-Kommissar sagt es noch drastischer. Er nennt es schlichtweg „eine Schande". Denn, so sagt er, „es war an den deutschen Behörden aufzupassen" .
Wenn jetzt die BVS Strafanzeige wegen der zweckwidrigen Verwendung von Beihilfen stellt, dann ist das zwar im Grundsatz richtig, aber es ist auch eine Flucht nach vorn. Denn offen bleibt die Frage nach der Verantwortung von BVS und Treuhandanstalt, eine Frage, mit der sich der Bundesrechnungshof zu befassen haben wird.
Da ich für Mecklenburg-Vorpommern spreche, werden Sie verstehen, daß ich auch die Probleme, die Sorgen, die Nöte und die Forderungen Mecklenburg-Vorpommerns vortrage. Denn alle genannten Versäumnisse und Verfehlungen dürfen eben nicht zu Lasten der Meerestechnikwerft in Wismar, des Dieselmotorenwerks in Rostock, der Volkswerft Stralsund und der Neptun-Industrie in Rostock gehen. Sie haben sie nicht zu verantworten, und sie haben bereits einen äußerst schmerzhaften Prozeß des Gesundschrumpfens durchlitten bzw. durchleiden ihn noch.
Immerhin haben die Schiffbaubetriebe Mecklenburg-Vorpommerns zwei Drittel der direkt oder mittelbar mit dem Schiffbau verbundenen Arbeitsplätze geopfert, um den Weg zur Modernisierung freizumachen. Dahinter steht der Verzicht von Menschen; dahinter steht massenhaftes Leid. Das darf hier nicht vergessen werden. Es ist doch wohl die Aufgabe der Politik, Leid, das vermeidbar ist, zu verhindern.
Es ist an der Bundesregierung, dafür zu sorgen, daß die dem ostdeutschen Schiffbau zugesagten Beihilfen dort auch ankommen. Das ist keine „Unsinnsforderung", sondern eine berechtigte Forderung ostdeutscher Werften, die um ihr Recht kämpfen.
Es bleibt die Frage: Wie soll es weitergehen? Die Schiffbauer in Mecklenburg-Vorpommern brauchen ebenso wie die in Bremen, in Schleswig-Holstein und an der gesamten Ostseeküste eine verläßliche Perspektive. Denn es geht in dieser Debatte nicht allein um ökonomische Fakten oder Finanztricks. Es geht vor allem um Menschenschicksale, und es geht um Lebensperspektiven. Es ist nicht einzusehen, warum immer nur die Arbeitnehmer dran sind und auf der Strecke bleiben, nicht aber die Apparatschiks.
Was ist aus dem Küstenstandortprogramm oder aus den „blühenden Landschaften" geworden, die die Bundesregierung versprochen hat? Man muß sie mit der Lupe suchen. Gefragt ist jetzt endlich ein Schiffbaukonzept der Bundesregierung, das der Tatsache gerecht wird, daß die Schiffbauindustrie eine Zukunftsindustrie ist, die nicht allein den Küstenländern nutzt. Es geht um den Erhalt von Industriestandorten. Deshalb darf die Modernisierung der Schiffbaustandorte in Mecklenburg-Vorpommern nicht kurz vor dem Ziel abbrechen. Dies würde die Region auf lange Zeit weit zurückwerfen und eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe über die Region hinaus bedeuten.
Bundesregierung und BVS stehen mit ihren Zusagen, die Investitionen an den Werftstandorten in Mecklenburg-Vorpommern erfolgreich zu Ende zu bringen, im Wort.
Ich danke Ihnen.
Es spricht jetzt der Kollege Wilfried Seibel.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, der überwiegende Teil der Debattenredner hat den richtigen Ton gefunden. Sie, Herr Bürgermeister, haben, wie ich finde, in sehr glaubwürdiger Weise deutlich gemacht, daß bei Ihnen die Sorge um die betroffenen Arbeitnehmer vornan steht. Ich bin dafür dankbar, daß ich als niedersächsischer Abgeordneter heute reden darf, weil die Probleme auch mein Bundesland betreffen. Eine Krise in Bremen macht nicht an den Landesgrenzen halt. Sie strahlt ins Land hinaus.
Herr Scherf, da Sie ein führender Repräsentant Ihrer Partei in Bremen sind, sage ich ganz offen: Ich finde es unerträglich, mit welcher Überheblichkeit Herr Hennemann im Fernsehen auftritt. Ich frage mich: Gegen wen demonstriert der Mann eigentlich?
Ich möchte Sie einfach bitten, den Herrn einmal anzurufen und ihm zu sagen, er möge sich zurückhalten oder sich eines Tones bedienen, dessen Sie sich heute hier bedient haben; allerdings sind Sie nicht
Wilfried Seibel
mit ihm vergleichbar, wie ich einräumen will. Wenn die Information, die ich habe, stimmt, sollten Sie ihm den guten Rat geben, sein Büro mit Sekretärin, Referent und Dienstwagen, das ihm der Bremer Vulkan immer noch bezahlt,
aufzugeben. Das würde vielleicht zwei oder drei Arbeitsplätze in der Produktion retten. Ich denke, Herr Hennemann braucht dieses Büro nicht mehr. Vielleicht können Sie ihm diesen wohlgemeinten Rat geben.
Meine Damen und Herren, die Vulkan-Krise ist ein großer Skandal, der leider in zwei Bereichen auch die Politik betrifft. Ich danke dem Ministerpräsidenten Seite dafür, daß er gesagt hat: Wir wollen das nicht zu einer Ost-West-Diskussion machen. Aber wir werden es nicht vermeiden können. Die Menschen reden darüber. Ich denke, wir sind gut beraten, wenn wir Sorge dafür tragen, daß die Vorgänge vorbehaltlos und rückhaltlos aufgeklärt werden. Es kann nicht der Eindruck im Raume stehen bleiben, hier würden Hilfen für den Aufbau Ost im Westen verschleudert.
Die Sache hat auch eine europapolitische Dimension. Wir haben uns zu Recht im Bundestag und auch auf der europäischen Parlamentsebene darum bemüht, daß Subventionsbetrug verfolgt und geahndet wird. Er ist nicht in allen Ländern mit den gleichen strafrechtlichen Sanktionen bewehrt wie bei uns. Wenn Dinge in der Größenordnung wie bei uns passieren, müssen wir auch beachten, daß das Rückwirkungen hat. Ich will es einmal flapsig sagen: Das hämische Grinsen mancher Südeuropäer sollte uns nicht zum Standard werden. Auch dort ist Aufklärung geboten.
Frau Lucyga, im Gegensatz zu Ihnen kann ich nur sagen, daß die Berichte, die uns jetzt von BVS und BMF gegeben worden sind, durchaus erkennen lassen, daß man der Pflicht zur sorgfältigen Prüfung gerecht geworden ist.
- Jetzt lassen Sie mich doch den Satz zu Ende sagen.
Herr Minister Waigel, ich denke, wir werden auch mit dem Haushaltsausschuß darüber reden müssen, ob das Verfahren immer effektiv genug ist.
- Lassen Sich mich doch den Satz zu Ende sagen.
Mich ärgert insbesondere, daß hier hochbezahlte Wirtschaftsprüfungsgesellschaften über Jahre hinweg Tatsachen nicht gesehen haben, die eine andere Gesellschaft innerhalb von drei Wochen herausfinden kann.
- Ich komme auf Sie zu.
In der Tat ist die Frage berechtigt, ob bestimmte Dinge durch Sonderprüfungsabteilungen im Ministerium oder durch den Bundesrechnungshof kontrolliert werden müssen und ob wir uns die hohen Kosten für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die in diesem Fall wie auch im Fall Schneider und in anderen Fällen fragwürdige Ergebnisse hervorgebracht haben, ersparen können.
Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit, den Sachverhalt gründlich aufzuklären, will ich zu der Kurzintervention der Kollegin Janz und zu dem Verlesen des Zitats von Herrn Diller ganz deutlich sagen: Wir sollten uns davor hüten, die Legende zu stricken, daß derjenige, der gestohlen hat, das Opfer ist und daß diejenigen, die bestohlen worden sind, die Täter sind. Das darf nicht passieren.
Herr Seibel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieczorek?
Darf ich das noch eben zu Ende führen? Dann kann Herr Wieczorek etwas sagen. Nur noch wenige Sätze.
Tatsache ist, daß 850 Millionen DM fehlgeleitet worden sind und die Chancen, sie zurückzubekommen, außerordentlich schlecht sind. Ich denke, daß wir uns auch im Haushaltsausschuß darüber unterhalten müssen, ob unsere parlamentarische Mitkontrolle, die bisher in einem Arbeitskreis Aufbau Ost geschieht, nicht unter Umständen doch wieder von einem ordnungsgemäßen Unterausschuß übernommen werden muß.
Wir stehen insgesamt in der Pflicht, zu hellen. Dazu ist hier vieles gesagt worden; der Herr Wirtschaftsminister hat das dankenswerterweise deutlich gemacht. Wir stehen aber auch in der Pflicht, rückhaltlos für Aufklärung zu sorgen. Daran sollten alle mitwirken.
Herr Wieczorek.
Kollege Seibel, ich bin mit Ihnen der festen Überzeugung, daß wir mit einem erweiterten parlamentarischen Kontrollrecht etwas mehr herausbekämen. Aber glauben Sie, daß wir Parallelfälle, solche Fälle wie den des Vulkan jetzt, ebenfalls noch zu befürchten haben? Ich begründe diese Frage auch: Wir haben Cash auch in andere Bereiche gegeben, und zwar in weitaus größerem Umfang. Sollte dieser Fall Vulkan für uns nicht eine Lehre sein, daß wir uns um die Kontrolle der hergegebenen Großmittel mehr kümmern müssen?
Lieber Herr Ausschuß-vorsitzender, ich bin natürlich nicht Prophet und
Wilfried Seibel
weiß nicht, was uns noch droht. Aber wir sind uns wohl darin einig: Ausschließen können wir natürlich nichts.
Ich sage einmal ganz subjektiv meine eigene Position: Ich bin hier als Parlamentarier in den Bundestag gewählt, und ich bin dankbar, im Haushaltsausschuß mitwirken zu können. Wir haben eine Kontrollpflicht. Wir werden um so glaubwürdiger, je besser wir sie ausüben.
Deshalb bitte ich auch die Kollegen Ihrer Fraktion noch einmal: Wir können uns um die notwendige Aufklärung nicht herumdrücken. Wenn Schuldige zu benennen sind, dann müssen sie benannt werden.
Ich sage noch einmal: Ich finde das Auftreten des Herrn Hennemann - der zumindest eines für sich nicht in Anspruch nehmen kann, nämlich vollkommen unschuldig zu sein - unerträglich. Der Mann sollte die Klappe halten.
Darf ich trotz allen Eifers darum bitten, daß wir ein bißchen auf die Sprache achten! Sie verroht immer mehr. Wie wir hier im Parlament sprechen, ist, denke ich, schon ausschlaggebend dafür, wie die Sprachbildung draußen ist und wie die Kultur der Debatte ist.
Als nächste hat die Kollegin Ilse Janz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Medienberichte der letzten Wochen Revue passieren lasse, in denen ich immer wieder lesen konnte, als wie mies doch die Arbeit des Vulkan-Verbundes beschrieben wurde, wenn es richtig ist, daß Journalisten über Bankengelder beauftragt wurden, Negativmeldungen über den Konzern zu verbreiten, und wenn ich außerdem der Meinung wäre, daß die Politik so einfach ist, wie sie der Kollege Graf Lambsdorff, der Kollege Neumann und der Kollege Koppelin hier darstellten, nämlich: schuld sind der Bremer Senat, die Unternehmensleitung und die IG Metall,
dann wäre das Thema Vulkan schon längst erledigt. Und das hätten Sie wohl gerne!
Aber so einfach ist das nicht, Herr Koppelin. Es geht um 23 000 Arbeitsplätze, also auch um 23 000 Familien und ihre Zukunft.
Es geht außerdem um viele Arbeitsplätze bei den Zulieferfirmen, im übrigen nicht nur an der Küste, sondern auch in Baden-Württemberg und Bayern. Und es geht um die Kernfrage: Welchen Stellenwert hat der Schiffbau in der Zukunft für die Bundesregierung? Sieht sie den Schiffbau als nationale Aufgabe an - wie es viele Staaten tun, die erfolgreich diese Politik betreiben -, und ist sie bereit, ebenso intelligente wie auf Dauer wirksame Unterstützung zu realisieren, oder ist sie der Auffassung, daß der Industriestandort Deutschland auf diese Hochtechnologie verzichten kann? Diese Fragen müssen Sie beantworten. Daran wird die Bundesregierung und ihre Wirtschaftspolitik gemessen.
- Darauf komme ich noch zu sprechen; Sie werden sich noch wundern!
Klar war doch auch, daß bei der Entscheidung in 1992, daß die Sanierung der Schiffbauindustrie nur dann ein dauerhafter Erfolg sein kann, wenn der Bund die entsprechenden Rahmenbedingungen, sprich: ein Konzept der maritimen Zukunftsindustrie, vorlegt. Das ist auch damals in der Debatte immer wieder gesagt worden. Leider können wir bis heute ein solches Konzept immer noch nicht finden.
Die Bundesregierung hat hier Verantwortung - auch wenn sie es nicht zugeben will -, die weit über den Schiffbau hinausgeht und die gesamte Küstenregion von Ostfriesland bis Mecklenburg-Vorpommern betrifft.
Ich halte es für ziemlich unsinnig, sogar für unverantwortlich, wenn einzelne Politiker aus unterschiedlichen Ländern heute den Verbund bereits in Einzelteile aufteilen. Nur wer die maritime Zukunftsindustrie ablehnt und wer 23 000 Arbeitsplätze abbauen will, kann so reden.
Jetzt muß doch vorrangig erst einmal die finanzielle Situation geprüft werden, und die Politik muß die Möglichkeit haben, die Vorwürfe der Treuhandnachfolgerin BVS zu überprüfen. Deshalb sollte das Gutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG auch den betroffenen Länderregierungen zur Auswertung vorgelegt werden.
Frau Janz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, das möchte ich nicht. - Um nicht mißverstanden zu werden: Ich bin für völlige Aufklärung der Situation. Nur, für mich hat der Arbeitsplatz Vorrang.
Wer heute immer noch von einer veralteten Industrie redet
- Ihre Wortmeldung wird durch das Schreien auch nicht besser -, der hat, gelinde gesagt, null Ahnung von dieser Spitzentechnologie. Hier wäre es dringend angebracht, sich vor Ort zu informieren. Die „Costa Victoria", die gerade im Dock der Lloyd Werft in Bremerhaven zur Weiterausrüstung liegt, wäre ein
Ilse Janz
hervorragendes Informationsobjekt. Dann würde endlich das unverständliche Gerede aufhören, die Beschäftigten auf den deutschen Werften in Ost und West lieferten veraltete Technologien ab.
Ich will an dieser Stelle auch noch einmal auf die diversen Tankerunfälle, jüngst der „Sea Empress", oder auf die Fährunglücke hinweisen. Der Vulkan Verbund hat gemeinsam mit anderen europäischen Werften einen neuen Tankertyp mit höchstmöglicher Sicherheit nach ökologischen Erkenntnissen entwikkelt. Gebaut wurde er nicht. Warum? Weil die politischen Rahmenbedingungen fehlen. Im Fährschiffbau hat der Verbund den besten Ruf der Welt in Qualität und Sicherheit. Dies, meine Damen und Herren, gilt es zu erhalten.
Die Verhandlungen des Vergleichsverwalters haben nun eine kurze Zeit zum Luftholen ermöglicht. Dieser Spielraum muß genutzt, die erforderlichen Sanierungskonzepte müssen erarbeitet werden. Sie müssen mit den Ländern, der EU und der Bundesregierung schnellstmöglich abgestimmt werden, damit endlich eine Weiterarbeit möglich ist und die Zulieferbetriebe wieder Vertrauen gewinnen. Nur dann, wenn auf den Werften weitergearbeitet wird, können Schiffe abgeliefert werden, die dann auch Geld in die Kasse bringen.
Die SPD ist davon überzeugt, daß das Exportland Deutschland seinen Werftenanteil von derzeit 5,7 Prozent zumindest halten, wenn nicht gar erhöhen muß. Deshalb sind Bundeshilfen und ein Konzept unabdingbar. Wir fordern Sie dazu auf.
Zum Schluß noch ein Wort zu dem Kollegen Koppelin, der hier bewußt Falschaussagen verbreitet.
- Selbstverständlich tun Sie das.
Lieber Kollege Koppelin, den Marineobjekten hat die SPD immer zugestimmt. Wenn Sie allerdings den Verteidigungshaushalt meinen, muß ich Ihnen ganz deutlich sagen: Für diesen Haushalt fehlt der SPD-Fraktion das Vertrauen; den haben wir immer abgelehnt. Das werden wir auch in Zukunft so halten.
Danke schön.
Als letzte in dieser Debatte hat die Abgeordnete Dr. Angela Merkel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Abgeordnete des Wahlkreises, zu dem auch die Hansestadt Stralsund gehört, bin ich mir ganz sicher, daß viele Werftarbeiter heute unsere Debatte verfolgen. Deshalb ist es
wichtig, daß von dieser Debatte die Botschaft ausgeht, daß wir die Arbeiter dahin gehend stärken, erst einmal in Ruhe ihre Arbeit fortzuführen, weil das für die Erhaltung der Standorte von außerordentlicher Wichtigkeit ist.
Meine Damen und Herren, ich war in der vergangenen Woche in Stralsund. Ich finde, daß dies in bewundernswerter Weise in einer so schwierigen Situation an all diesen Standorten gelingt.
Herr Scherf, ich kann Ihnen zustimmen. Sie haben gesagt: Wir wollen eine sachgerechte Debatte führen. Wir wollen uns um gemeinsame Lösungen bemühen, und wir wollen vor allen Dingen keinen Ost-West-Konflikt schüren. - Da bin ich voll auf Ihrer Seite.
Aber, Herr Scherf, ich möchte Sie wirklich bitten: Sprechen Sie mit denen, die in Ihrer Partei sind. Das ist zum Beispiel der Wirtschaftsminister von Niedersachsen, Herr Fischer. Er hat einfach behauptet, es sei unsinnig gewesen, daß in den neuen Bundesländern Werftkapazitäten aufgebaut wurden. Herr Fischer wird wohl wissen, daß 60 Prozent der Werftkapazität abgebaut wurden und daß in der Werft Stralsund wie auch in Wismar und anderen Werftenstandorten heute statt 8 000 Leuten nur noch 2 000 Leute arbeiten. Das ist ein schwieriger Weg gewesen. Deshalb sage ich: Lassen Sie solche Polemik!
Ich muß Ihnen auch ein Zweites sagen - Herr Ringstorff hört sonst offenbar nicht auf vernünftige Argumente -: Sagen Sie dem Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, daß er mit dem Feuer spielt, wenn er die Bundesregierung in den Punkten angreift, wo sie das tut, was möglich ist, auch innerhalb Europas, um Lösungen zu finden.
Es ist unverantwortlich, die Verantwortung einfach vollständig abzuschieben, wenn man regiert. Ich sage Ihnen: Das hilft niemandem in Bremen, niemandem in Wismar und niemandem in Stralsund.
Frau Lucyga, wir brauchen hier keine Geschichtsbetrachtung zu betreiben; ich habe auch nicht die Zeit. Ich weiß, daß sowohl Leute aus der CDU als auch Leute aus der SPD für diese Privatisierung waren. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Im Gegensatz zu Herrn Ringstorff ist Herr Krackow heute bereit, konstruktiv zu arbeiten, nicht Schuld zu verschieben, sondern als Berater in einer Kooperation mit der Bundesregierung zur Verfügung zu stehen. Er hat gesagt: Nur mit der Bundesregierung und nicht gegen die Bundesregierung. Das unterscheidet Herrn Krakkow von Herrn Ringstorff - damals und leider auch heute noch.
Dr. Angela Merkel
Herr Wieczorek, haben Sie als Vorsitzender des Haushaltsausschusses allen Ernstes etwas dagegen, daß die BVS Strafantrag gegen diejenigen stellt, die wahrscheinlich Gelder in unverantwortlicher Weise veruntreut haben?
- Sie haben Ihren Kollegen Diller aus dem Haushaltsausschuß in Schutz genommen und haben gesagt, sein Brief sei zuträglich gewesen, den müsse man verstehen. - Hier verschiebt niemand Verantwortung. Die BVS wird den Erkenntnissen gerecht, die sie hat. Das muß sie tun;
das hat selbst Frau Janz gesagt.
Deshalb kann ich nur feststellen: Die Bundesregierung hat das gesagt, was eine renommierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ihr mitgeteilt hat. So sind die Verantwortlichkeiten verteilt. Wenn es andere Erkenntnisse gibt, dann werden Nachforschungen angestellt und gegebenenfalls Strafanträge gestellt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wieczorek?
Ich möchte nur noch einen Satz sagen, und dann gestatte ich die Zwischenfrage.
Ich denke, meine Damen und Herren, es ist wichtig, daß wir alles tun in dem Sinne, wie es von vielen hier gesagt wurde: daß es darauf ankommt, für die Standorte eine zukunftsträchtige Entwicklung sicherzustellen. Dabei liegt mir als einer Abgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern natürlich insbesondere die Fortsetzung der Investitionen, die in den letzten Jahren getätigt wurden, am Herzen. Deshalb danke ich dem Bundeswirtschaftsminister und dem Bundeswirtschaftsministerium dafür, daß alles getan wird, um das auf die Reihe zu bringen. Ich denke, auch das Land, die Banken und die EU werden das Ihre dazu beitragen.
Herr Kollege Wieczorek.
Frau Ministerin, mein Einverständnis mit der Anzeige ist uneingeschränkt. Unsere Kritik richtet sich darauf, daß derjenige, der angezeigt wird, auch einer Dienstaufsicht durch den Finanzminister unterliegt. Ich frage Sie: Wollen Sie dann auch gegen die Dienstaufsicht eine entsprechende Sanktion einleiten?
Herr Wieczorek, Sie haben aus einem Brief des Kollegen Diller zitiert, in dem es heißt:
In die gleiche Richtung
- nämlich in die Richtung der Zurückweisung jeglicher Mitverantwortung -
zielt der von der Treuhandnachfolgerin BVS gestellte Strafantrag wegen Veruntreuung.
Sie haben gesagt, daß Sie dies unterstützen. Daraus konnte ich nicht entnehmen, daß Sie den Strafantrag uneingeschränkt unterstützen; denn das war nicht Inhalt dieser Äußerung. Deswegen danke ich Ihnen für die Klarstellung.
Ich kann Ihnen sagen, Herr Wieczorek, daß die Bundesregierung ihren Beitrag zur Aufklärung der Vorgänge ohne Wenn und Aber leisten wird. Davon können Sie ganz sicher ausgehen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der Moskau-Besuch des Bundeskanzlers
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Kollege Ludger Volmer.
Ich möchte die Kollegen, die nicht mehr teilnehmen wollen, bitten, den Saal zu verlassen, damit wir die Aktuelle Stunde hier durchführen können. - Herr Volmer, jetzt können Sie beginnen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ein Staatsbesuch darf auch einmal in der Sauna enden.
Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn sich im Laufe der politischen Zusammenarbeit auch persönliche Beziehungen und persönliche Freundschaften ergeben.
Dagegen ist insbesondere dann nichts einzuwenden, wenn es dem politischen Prozeß nutzt. Aber man muß peinlich genau darauf achten, daß sich die Ebenen nicht verschieben. Wir haben den Eindruck, daß sich im bilateralen Verhältnis zwischen der Bundesregierung und Rußland die Ebenen ganz dramatisch verschoben haben. Wir meinen nicht, daß die persönlichen Beziehungen im Vordergrund stehen müßten. Die außenpolitischen Beziehungen werden immer
Ludger Volmer
noch vom Bundeskanzler und vom Staatspräsidenten gestaltet und nicht von Privatleuten. Die bilateralen Beziehungen zu Rußland müssen auch dann gestaltbar bleiben, wenn die Staatschefs nicht Boris und Helmut heißen.
Schon deshalb verbietet es sich, eine einseitige Wahlkampfunterstützung für einen einzelnen Kandidaten in einem anderen Land zu machen. Dies ist nicht nur eine Benachteiligung der anderen Kandidatinnen und Kandidaten, dies wirft vor allen Dingen auch die Frage auf: Wie gestaltet sich eigentlich das bilaterale Verhältnis zu einem anderen Staat, wenn der bevorzugte, wenn der präferierte, wenn der favorisierte Kandidat nicht gewinnt? Falls er gewinnt, könnte auf der positiven Ebene weitergemacht werden, so sie denn positiv ist. Müssen aber, falls er nicht gewinnt, in Zukunft die bilateralen Beziehungen darunter leiden, daß durch den deutschen Staatschef die anderen Kandidaten, die theoretisch in Frage kommen, brüskiert werden? Das kann doch nicht sein. Von daher verbietet es sich - das ist einer der Grundsätze der Außenpolitik -, in Wahlkampfzeiten als Staatschef für einen Kandidaten einseitig Partei zu ergreifen.
Mehrere Abgeordnete, unter anderem meine Partei- und Fraktionsfreunde Helmut Lippelt und Gerd Poppe, haben im Vorfeld der Reise darauf hingewiesen und haben gefordert, daß der Bundeskanzler auch mit anderen Kandidaten redet, die zur Wahl stehen.
Leider wurde dies nicht berücksichtigt. Dies kritisieren wir ganz massiv.
Zudem stellen wir die Frage: Wer ist denn dieser Boris Jelzin, mit dem geredet wurde? Vor Jahren war er in der Tat einer der Hoffnungsträger des Westens. Aber heute verkörpert Boris Jelzin doch das Gegenteil dessen, für das er einst angetreten war. Jelzin ist doch faktisch nicht mehr der Reformer, er ist nicht mehr der Demokrat, er ist nicht mehr derjenige, der für Menschenrechte einsteht. Er ist Gegenreformer geworden. Er baut doch die Demokratie zurück. Er ist auch derjenige, der Menschenrechtsverletzungen gravierenden Ausmaßes durchgehen läßt.
Eines der jüngsten Beispiele möchte ich Ihnen nennen: Am 6. Februar wurde Aleksandr Nikitin vom Geheimdienst verhaftet. Er ist ein Umweltschützer aus Murmansk, der sich um das Problem der Atomreaktoren in den schrottreifen U-Booten gekümmert hat. Dieser Mann ist verhaftet worden und wird nun von der Todesstrafe bedroht. Nikitin ist unser Freund, und wir fordern den Bundeskanzler auf, sich sofort dafür zu verwenden, daß Nikitin freigelassen wird.
Der Bundeskanzler hat einen Staatschef besucht und hofiert, der der Hauptverantwortliche für das Morden in Tschetschenien ist.
Wir können verstehen, daß sich der Westen vielleicht aussuchen möchte, wo die reale Option dafür ist, einen Demokraten in Rußland an der Macht zu halten. Aber wo ist Jelzin noch demokratisch? Jelzin hat einen der grausamsten Kriege der heutigen Tage mit zu verantworten. Und wer umstandslos Jelzin unterstützt, beginnt langsam, sich an dem Morden in Tschetschenien mitschuldig zu machen.
Dabei gibt es Alternativen. Es gibt die Alternativen auch in Rußland. Es gibt die demokratischen Parteien. Sie sind noch klein, sie sind noch uneins, aber man kann diese Strukturen nicht dadurch festigen, daß man immer nur mit dem einen redet und die anderen schneidet. Zumindest hätte mit Jawlinski, mit Gaidar, mit Kowaljow und mit anderen geredet werden müssen. Diese Chance ist verpaßt worden.
Zudem wurde ein Thema in die bilateralen Beziehungen transportiert, das einen völlig anderen Rahmen verdient hätte. Der Bundeskanzler war auch dort, um Akzeptanz für die Ost-Erweiterung der NATO zu erzielen. Er wurde von Jelzin brüsk abgewiesen. Nun stehen wir in der Gefahr, daß die hochbrisante und sicherheitspolitisch komplizierte Frage der Ost-Erweiterung der NATO zum reinen Prestigekampf wird zwischen Jelzin und anderen russischen Nationalisten auf der einen Seite und dem westlichen Lager auf der anderen Seite. Die Notwendigkeit und die Chance, über gemeinsame Sicherheitssysteme nachzudenken, die insbesondere auch den mittel- und osteuropäischen Staaten eine Sicherheitsperspektive und die Perspektive der Einbindung und der Kooperation mit dem Westen bieten, könnte so verspielt werden.
Ihre Redezeit ist zu Ende, Herr Volmer.
Wir kritisieren die Reise deshalb auf drei Ebenen. Es wurden drei schwere Fehler gemacht. Es war ein schwerer Fehler, überhaupt einen einzelnen Kandidaten zu hofieren; es war ein schwerer Fehler, ausgerechnet auf Boris Jelzin zu setzen, und es war ein schwerer Fehler, den Eingriff in den russischen Wahlkampf mit der hochbrisanten Frage der NATO-Ost-Erweiterung zu verknüpfen. Wir kritisieren deshalb den Ansatz und das Ergebnis dieser Reise ganz deutlich.
Das Wort hat der Bundeskanzler.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen hat der Präsident Georgiens, der auch in diesem Hause hoch geschätzt ist, Schewardnadse, gesagt, die Reise des Bundeskanzlers sei ein kluger und notwendiger Schritt gewesen; gerade vor den Präsidentschaftswahlen müsse es darum gehen, dem Reformkurs zu helfen. Er empfahl, die NATO-Erweiterungsdiskussion bis nach den Wahlen zu stoppen. Sie nutze in Moskau nur denen, die wieder an die Macht wollten. - Eigentlich könnte ich meine Rede jetzt schon beenden.
- Sie wissen es doch auch: Die Herren von den Grünen, die jetzt eben hier reden, sind nun wirklich gänzlich ungeeignet, außenpolitische Empfehlungen abzugeben. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, von der Startbahn West bis zum heutigen Tag, wäre diese Republik eine andere Republik geworden. Mit Ihnen brauche ich darüber nicht zu reden.
Ich finde, mit diesem Zitat von Präsident Schewardnadse kann ich gut leben. Mein Besuch in Moskau und Petersburg war ein offizieller Besuch im Rahmen der vertraglich vorgesehenen Konsultationen zwischen Deutschland und Rußland. Dieser Besuch ist zum Teil natürlich auch ein Bestandteil des intensiven Dialogs der westlichen Staaten mit der russischen Führung. So war der russische Ministerpräsident Tschernomyrdin kürzlich in den USA; deren Außenminister Christopher wird im März Moskau besuchen; Präsident Clinton wird anläßlich des Nukleargipfels am 20. April - alles vor dem Wahltermin in Moskau - in Rußland sein, und der französische Premierminister Juppé war wenige Tage vor mir in Moskau.
Was wir zusammen vereinbart haben, die amerikanische, die britische, die französische Seite und übrigens die große Mehrheit aller meiner Kollegen in der Europäischen Union, habe ich aus der besonderen Verantwortung des deutschen Regierungschefs in die Tat umgesetzt.
In Rußland geht es gegenwärtig um einen ungewöhnlich schwierigen Prozeß. Das Land ist mitten in einer der dramatischsten Entwicklungen seiner Geschichte. Umfassende Veränderungen, ja Reformen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sind dringend notwendig. Man kann hier zwei Positionen einnehmen. Man kann sagen, wie es viele leider tun: Da ist eh nichts mehr zu gewinnen, wir ziehen uns zurück und wissen es dann ganz genau: Es war nichts zu gewinnen. Oder man kann sagen: Wir begeben uns in die Verantwortung der Partnerschaft; wir geben Signale der Ermutigung; wir üben Kritik; wir sprechen offen mit Partnern und Freunden.
Die Tragweite und die Schwierigkeiten dieses Entwicklungsprozesses in Rußland gehen weit über die Probleme hinaus, die uns beispielsweise unter viel günstigeren Verhältnissen in bezug auf die neuen Länder beschäftigen. Man muß sich doch bewußt sein, daß ein solcher Prozeß, der notwendigerweise langfristig sein muß, nicht ganz geradlinig verlaufen kann. Es wird auch künftig Schwierigkeiten geben; wir werden mit Rückschlägen leben müssen.
In Anbetracht des von Rußland übernommenen sowjetischen Erbes und der damit verbundenen Belastungen hat Rußland in den vergangenen Jahren unter der Führung von Boris Jelzin trotz aller Schwierigkeiten Fortschritte auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft gemacht. Der Präsident hat es ja in diesen Tagen auch in seiner Rundfunkansprache gesagt, daß er an diesem Weg der Reformen Schritt für Schritt festhalten will.
Und soviel wir das Tempo und die Details kritisieren können, eines ist doch ganz klar: Es muß Schritt für Schritt vorangehen. Der Präsident weiß, nicht zuletzt auch durch mich, daß wir im Westen, die Deutschen, die EU, die Amerikaner und alle, die wir mithelfen können, nur Hilfe zur Selbsthilfe geben werden, wenn sich Rußland auf diesem Weg entsprechend bewegt.
Natürlich gibt es viel Grund für Kritik im einzelnen. Ich könnte hier eine ganze Liste vorlegen. Das wird selbstverständlich von jedem von uns immer wieder angesprochen: wenn der Bundesaußenminister mit seinem Kollegen zusammentrifft, wenn ich mit dem Präsidenten telefoniere oder zu persönlichen Gesprächen zusammenkomme. Natürlich wissen wir auch, daß es ein Fehler war - wir haben es deutlich gesagt -, was beim Tschetschenien-Konflikt geschehen ist.
Wir haben es während des Konflikts gesagt; wir haben es öffentlich gesagt; wir haben es in unseren Gesprächen gesagt.
Ich hoffe sehr, daß das Wirklichkeit wird, was der Präsident öffentlich angekündigt hat: daß er diesen Konflikt auf alle Fälle noch vor dem Wahltermin friedlich beenden will.
Wenn das erreicht ist, ist, glaube ich, ein wesentliches Stück der Arbeit, die wir leisten können, vollbracht.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Ich sehe eine wichtige Aufgabe der deutschen Politik darin, daß wir Rußland auf diesem Weg helfen
- auch mit kritischer Begleitung. Ich bin sehr froh, daß es nicht zuletzt auf Grund unserer Unterstützung
- gemeinsam mit anderen - gelungen ist, daß Rußland Aufnahme im Europarat gefunden hat. Am heutigen Tag wird die formelle Aufnahme vollzogen.
All die Kolleginnen und Kollegen aus Europa - es war eine überwältigende Mehrheit -, die im Europarat sitzen, haben sich doch etwas dabei gedacht: Sie haben einen Vorschuß gegeben; sie haben damit ein Kontrollinstrument auf Grund der Agenda des Europarates. Wir wollen auf diesem Weg gemeinsam mit anderen weiter vorangehen. Für uns ist es ganz wichtig, daß wir jede nur denkbare Chance, die sinnvoll ist, nutzen, um diesen Gesprächskontakt aufrechtzuerhalten.
Wir haben hier viele Debatten, auch solche, die ins Innere der Bundesrepublik gehen, über die Fragen gehabt: Wie wird es im früheren Jugoslawien weitergehen? Wie werden wir uns beteiligen? Es ist eine blanke Illusion, zu glauben, daß man im früheren Jugoslawien, in der Bosnien-Frage, irgend etwas erreichen kann, wenn wir nicht erreichen, daß Rußland dabei ist, mitmacht und sich engagiert.
Zur NATO möchte ich sagen: Ich habe in Rußland nichts anderes gesagt als schon vor einem guten Jahr während einer Diskussion im amerikanischen Senat. Ich halte es für völlig abwegig und darüber hinaus für töricht, diese NATO-Frage mitten in den Wahlkampf in den USA und in Rußland hineinzubringen. Wer in den USA Stimmen amerikanischer Wähler, die aus osteuropäischen Ländern stammen, gewinnen will und jetzt bei Primaries über die NATO spricht, muß doch wissen, daß das nach dem Prinzip kommunizierender Röhren in Rußland durchschlägt.
Was wir jetzt brauchen, ist ein Augenblick der Ruhe und der Besinnung. Ich habe in Moskau gesagt und wiederhole es hier: Es gibt kein russisches Veto gegenüber irgendeiner Aufnahme eines Nachbarlandes. Ebenso klar muß aber sein, daß wir darauf bestehen - das muß deutsche und europäische Politik sein -, daß die Russen ein Angebot der NATO erfahren, das auch ihre wohlverstandenen Sicherheitsbedürfnisse befriedigt.
Meine Damen und Herren, wenn dabei persönliche Beziehungen nützlich sind, habe ich nichts dagegen.
Mir ist es völlig egal, wie Sie das beurteilen. Ich weiß: Zu einem wichtigen Zeitpunkt deutscher Geschichte, an dem Sie mit Ihrer Politik keinen Anteil haben, nämlich als es um die deutsche Einheit ging, war es wichtig - -
Den werden Sie wohl nicht als Ihren Zeugen nehmen.
- Entschuldigung, Herr Fischer, Sie haben an dieser Politik Deutschlands keinen Anteil. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, wäre die deutsche Einheit nie gekommen,
nie, zu keinem Zeitpunkt.
Deshalb, meine Damen und Herren, halte ich diese Beziehungen für wichtig - obwohl natürlich jeder weiß, auch ich, daß persönliche, freundschaftliche Beziehungen die Probleme der Politik nicht verändern können -; denn sie erleichtern es, miteinander zu sprechen. In diesem Sinne habe ich in meinem Amt als Bundeskanzler über ein Jahrzehnt lang viele Erfahrungen sammeln können.
Im übrigen muß ich bei dieser Gelegenheit einmal sagen: Ich habe natürlich nicht nur mit Boris Jelzin gesprochen. Ich habe mit einem der maßgeblichen Vertreter der kommunistischen Seite gesprochen; er ist immerhin der Vorsitzende der Duma. Ich habe mich lange und ausgiebig mit dem Vorsitzenden des Föderationsrates unterhalten. Wenn Sie den Bürgermeister von Petersburg kennen, wissen Sie, daß auch er wahrlich kein Anbeter der Politik von Boris Jelzin ist.
Darüber hinaus sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen, daß vorhin erwähnte Führer der demokratischen Parteien wie Jawlinski und Gaidar immer wieder bei uns in Bonn waren. Jedesmal waren sie auch bei mir.
Ich brauche Ihre Ermahnungen überhaupt nicht.
Mit einem Wort: Wir werden die Politik der Vernunft und des Ausgleichs, des Gesprächs und - wenn irgend möglich - des Miteinander fortsetzen. Ich weigere mich, mich in die Reihe jener zu stellen, die auf internationaler Ebene so tun, als dürfe man heute mit Rußland nicht mehr reden, weil es zweitklassig geworden ist.
Das russische Volk ist ein großes Volk, ein stolzes Volk. Es hat politisch und kulturell eine große Tradition zu vertreten. Man achtet im Augenblick in diesem Land sehr wohl darauf, ob die Möglichkeiten des Kontakts respektvoll wahrgenommen werden oder ob wir, wie es manche im Westen tun, jetzt sozusagen onkelhaft auf die Nachbarn herabblicken. Wir tun das nicht. Wir werden in dieser Politik des Miteinander und des vernünftigen Gesprächs fortfahren. Der Lauf der Geschichte wird einmal mehr erweisen, daß Sie nicht recht haben und daß diejenigen, die
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
diesen schwierigeren Weg mit Geduld und Ausdauer gehen, vor der Geschichte recht bekommen.
Als nächster hat der Kollege Günter Verheugen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, bevor ich zur Sache komme, möchte ich Ihnen sagen: Sie haben soeben nebenbei - ich hoffe, es war ein Ausrutscher - der gesamten Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR einen Verdienst am Zustandekommen der deutschen Einheit abgesprochen.
Hier bei der SPD und dort beim Bündnis 90/Die Grünen sitzen die Kolleginnen und Kollegen, die zur Bürgerrechtsbewegung gehört haben. Sie haben genausoviel wie Sie, Herr Bundeskanzler, und wir alle mit der deutschen Einheit zu tun. So ist das. Denken Sie darüber nach, wen Sie hier beleidigen.
Meine Damen und Herren, die Rußlanddebatte am heutigen Tag ist eine willkommene Gelegenheit, über die Rußlandpolitik der Bundesregierung zu reden, gerade an einem Tag, der wichtig ist, weil Rußland heute offiziell seine Mitgliedschaft im Europarat angetreten hat. Wir haben das unterstützt, weil wir es für falsch halten, dieses große und wichtige Land in eine Außenseiterrolle in Europa zu drängen und weil wir mit der Mitgliedschaft Rußlands im Europarat Erwartungen verbinden: die Erwartung nämlich, daß die jetzt unterzeichneten Konventionen zu einer deutlichen Verbesserung der Menschenrechts- und Demokratiesituation in Rußland führen. Diese Erwartung soll hiermit noch einmal ganz deutlich auch im Deutschen Bundestag ausgesprochen werden.
Eine ausführlichere Debatte über Ihre Rußlandpolitik, Herr Bundeskanzler, wäre wohl nötig. Sie würde vermutlich zeigen, daß wir zwar in den Grundlinien der deutschen Rußlandpolitik übereinstimmen, daß die Art und Weise aber, wie Sie diese Politik betreiben, zu erheblicher Kritik Anlaß geben muß. Was zunächst die Grundlinien dieser Politik angeht: Natürlich ist Rußland für uns ein herausragender politischer und wirtschaftlicher Partner, mit dem wir enge und besondere Beziehungen unterhalten müssen. Natürlich bleibt Rußland weltpolitisch bedeutsam. Schon aus sicherheitspolitischen Gründen ist der ständige Dialog notwendig, und natürlich ist für uns Stabilität in Rußland ein vorrangiges außenpolitisches Ziel. Wenn wir aber über Stabilität in Rußland reden, dann meine ich nicht allein die Stabilität eines Machtapparates, sondern ich meine die Stabilität eines gesellschaftlichen Systems, das sich ergibt, wenn Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Erfolg und soziale Sicherheit gegeben sind.
Die Auswirkungen von Instabilität in Rußland auf das übrige Europa kennt jeder. Das muß hier nicht
beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund sind gute und intensive Beziehungen mit Rußland nötig. Es ist auch nicht zu kritisieren, daß Sie, Herr Bundeskanzler, gute persönliche Beziehungen zum russischen Präsidenten unterhalten.
Es taucht allerdings das Problem der Einseitigkeit dieser Beziehungen auf. Warum pflegen Sie nicht breite und intensive Kontakte auch zur demokratischen Opposition und zu den Menschenrechtsgruppen in Rußland? Sie haben gerade gesagt, Sie empfangen die Vertreter dieser Gruppen, wenn sie in Bonn sind. Dies wäre aber jetzt in Moskau ein starkes und wichtiges Signal gewesen, um zu zeigen, daß der Westen hinter der Demokratiebewegung in Rußland steht.
Ist Jelzin denn wirklich der einzige Garant für Ref or-men in Rußland? Sie haben sich schon einmal sehr getäuscht bei der Einschätzung des führenden Mannes in Moskau.
- Freilich, Sie haben schon einmal Gorbatschow mit Goebbels verglichen, und dann wurde er ein guter Freund.
- Ist doch nicht schlimm, Herr Bundeskanzler, man kann sich ja einmal täuschen.
Ich sage nur: Es ist zu wenig geschehen, um die demokratischen Kräfte in der Breite zu unterstützen. Ich sehe einfach die Gefahr, daß bei der Art und Weise, wie Sie die Beziehungen zu Rußland pflegen, ein Blankoscheck für den russischen Präsidenten herauskommt, nach der Devise: „Right or wrong, my Jelzin!"
Sie müssen auch gegenüber Freunden eine sehr deutliche Sprache führen. Das haben Sie in bezug auf Tschetschenien auch diesmal wieder nicht getan.
Es ist nicht korrekt, wenn Sie sagen, das war ein Fehler. Das war wohl schon ein bißchen mehr als ein Fehler, was Jelzin sich hat zuschulden kommen lassen.
Sie haben noch nichts gesagt über das wenig transparente Regierungssystem dort und zu der Tatsache, daß dort eine Clique regiert. Man ist ja versucht - in Erinnerung an Max Webers Aufsatz über den Übergang Rußlands zum Scheinkonstitutialis-
Günter Verheugen
mus -, über den Übergang zum Scheinparlamentarismus zu reden. Das müssen Sie berücksichtigen bei Ihren Kontakten.
Sie müssen das Risiko sehen, daß eine auf die Beziehung zu einer Person abgestützte Politik auf jeden Fall die Breite, die Dichte der Kommunikation, die Dichte der Information, die Sie brauchen - auch die Dichte der Beziehungen in einem Land, das eben nicht nur aus Moskau besteht -, nicht erfüllt.
Herr Bundeskanzler, Sie sind in der Frage der NATO-Osterweiterung mit einem offenen Dissens zurückgekommen.
Sie können hier nicht so tun, als seien Sie derjenige, der in dieser Frage Behutsamkeit durchgesetzt hat. Sie sind es gewesen, der Zeitdruck geschaffen hat, indem Sie sogar Zeitpunkte genannt haben, wann östliche Nachbarn Mitglied der NATO sein werden.
Sie können nicht gut den Polen versprechen „Bis zum Jahr 2000 seid ihr drin! " und jetzt sagen: Wir betrachten diese Sache mit Ruhe und versuchen, das mit Rußland gemeinsam zu lösen.
Sie werden in große Probleme kommen.
Ich stimme Ihnen in der Sache zu: Es wird eine Lösung dieser Frage nicht geben ohne einen breiten sicherheitspolitischen Dialog mit Moskau, der die berechtigten russischen Sicherheitsbedürfnisse einbezieht. Es muß eine Lösung gefunden werden, bei der Rußland am Ende sieht, daß eine eventuelle Öffnung der NATO nicht gegen Rußland gerichtet ist. Aber dazu wäre es richtig und notwendig, auf russische Vorschläge in bezug auf die Stärkung der OSZE einzugehen. Ich fände es auch richtig, den Gedanken der ständigen Einbeziehung Rußlands als Vollmitglied in G7 weiter zu ventilieren. Das ist ein guter Gedanke, auch psychologisch für Rußland wichtig.
Ich rege an, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Gelegenheit nehmen, Ihre Rußlandpolitik dem Deutschen Bundestag alsbald ausführlich und zusammenfassend darzulegen, damit hier eine Debatte möglich ist, die nicht durch den Zwang, in fünf Minuten vieles sagen zu müssen, so leidet, wie das jetzt leider schon der Fall ist.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Karl-Hans Laermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Volmer, zunächst möchte ich einmal feststellen: Es ist schon bedrückend, wie Sie über den Staatspräsidenten eines anderen autonomen Landes reden.
Gute Außenpolitik bedarf der ständigen Pflege zwischenstaatlicher Beziehungen, der Rücksichtnahme und der ununterbrochenen Beurteilung aktueller und zukünftiger Perspektiven in Verbindung mit deutschen und, so betone ich, europäischen Interessen. Gute Außenpolitik bedarf auch der Visionen, das heißt einer Betrachtungsweise, die heute noch fremd anmuten mag, morgen selbstverständliche Realität ist.
Eine dieser Visionen war die von der SPD betriebene Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Es ging um die Einbeziehung und die politische Versöhnung mit dem sich zu jener Zeit als antagonistisch verstehenden Sowjetsystem. Ich. frage mich allerdings, ob es denn richtig war, daß zu jener Zeit nicht die gleichen moralischen und ethischen Kategorien angelegt worden sind, wie das heute offenbar der Fall ist.
Die legitime Nachfolge der Sowjetunion ist von der Russischen Föderation angetreten worden. Die Bundesregierung führt nun unter neuen und vielfach wesentlich komplizierteren Bedingungen die deutsche Ostpolitik fort.
Einige von denen, die heute eine Diskussion über einen selbstverständlichen politischen Vorgang führen wollen, nämlich über den Besuch des Bundeskanzlers beim russischen Präsidenten, haben vor wenigen Jahren mit allem Nachdruck für den Ausgleich und die Kooperation mit dem damaligen Sowjetsystem geworben. Ich denke, wir müssen das bei unserer Beurteilung berücksichtigen.
Der Transformationsprozeß in Rußland vom tausendjährigen, zentralistisch geleiteten Zarenreich über das 70jährige Sowjetsystem zu einer Marktwirtschaft und zu demokratischen Regelungsprozessen ist ein Vorgang von außerordentlicher Komplexität. Herr Volmer, wir können nicht erwarten, daß sich ein solcher Vorgang reibungslos und in wenigen Jahren vollzieht. Das bitte ich bei Ihren nächsten kritischen Bemerkungen zu bedenken.
Der Reformprozeß verdient mit all seinen für Ausländer zum Teil schwer nachvollziehbaren Facetten gerade deswegen unsere volle nachbarliche Solidarität und Unterstützung. Wer russisches Denken kennt, weiß, daß die amtierende Staatsführung ungeachtet der beginnenden Wahlkämpfe, die eine Erscheinung ohne Tradition in Rußland sind, von allen politischen Kräften des Landes in der Außenvertretung respektiert wird.
Daher ist der Besuch des deutschen Bundeskanzlers in Moskau ein, so könnte man sagen, fast zur Routine gewordener Meinungsaustausch zwischen den Regierungsverantwortlichen zweier großer europäischer Länder geworden. Enge persönliche Beziehungen zwischen diesen beiden Männern dürften nicht als schädlich betrachtet werden.
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
Außerdem denke ich, daß gerade bei dem Besuch und bei dem, was Sie wiederum kritisiert haben, deutlich geworden ist, daß die Probleme nicht mit persönlichen Beziehungen überwunden werden können, sondern daß diese Probleme und unterschiedlichen Positionen sehr deutlich und mit allem Nachdruck angesprochen worden sind. Das kann man doch nicht kritisieren, sondern das ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, daß man sich klar darüber wird, wo und wie die Positionen sind. Von daher kann man zu Lösungen dieser Probleme und zur Auflösung dieser Schwierigkeiten kommen.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich den Besuch des Bundeskanzlers. Sie sieht diesen Besuch fest eingebettet in die deutsche Außenpolitik, die auf bestmögliche Verständigung und Einbindung der Russischen Föderation in die europäische Szenerie gerichtet ist.
Der Besuch ist Ausdruck unserer kontinuierlichen Politik zur Unterstützung des russischen Reformprozesses. Ich denke, das ist ganz wichtig. Stabilität und Sicherheit in Europa können auf Dauer nur dann zuverlässig gewährleistet werden, wenn Rußland in diese europäischen Sicherheitskonzepte einbezogen wird.
Dazu ist nun einmal - siehe: NATO-Erweiterung - Vertrauen, und dazu sind Kontakte und persönliche Beziehungen unabdingbar. Dazu hat der Bundeskanzler einen weiteren Beitrag geleistet.
Gewiß, Herr Bundeskanzler, Sie haben mit dem Vorsitzenden der Duma gesprochen, aber ich verhehle nicht, daß die F.D.P.-Bundestagsfraktion - das sage ich ganz offen - die Einbeziehung weiterer Gesprächspartner in Moskau und St. Petersburg für wünschenswert gehalten hätte.
Sie haben zwar öfter mit Herrn Gajdar und Herrn Javlinskij in Bonn gesprochen, aber auch Jelzin war öfter in Bonn.
Bei den guten Verbindungen zwischen Präsident Jelzin und Ihnen, Herr Bundeskanzler, hätte man ganz sicher eine diplomatisch vertretbare Lösung finden können. Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, wenn ich besonders herausstelle, daß der Kontakt mit Gregorij Javlinskij für uns wichtig gewesen wäre; denn dessen politische Visionen sind für uns im Westen besonders nachvollziehbar.
Seine Einschätzung der Situation hätte auch Ihnen dienlich sein können.
Lassen Sie mich betonen: Die Übertragung deutscher innenpolitischer Konflikte auf den ausgesprochen komplizierten und ohne jegliches historische Vorbild ablaufenden Wahlkampf im größten Land der Welt ist ein Bärendienst, der der deutschen und der europäischen Politik beschert wird. Bitte überdenken Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in diesem Punkt Ihre Haltung.
Das übergeordnete Ziel unserer Politik muß bleiben, Rußland in die europäische Architektur unverrückbar einzubinden. Der Besuch des Bundeskanzlers bei Präsident Jelzin war aus der Sicht der F.D.P.-Bundestagsfraktion ohne jeglichen Zweifel ein weiterer Baustein in der Annäherung Rußlands an seine westlichen Partner.
Umgekehrt: Diese Politik wird von der F.D.P. mitgetragen, sie unterstützt in diesem Punkt die Bundesregierung und geht davon aus, daß die Bundesregierung diese Politik erfolgreich fortsetzen wird.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich Graf von Einsiedel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat es für richtig gehalten, zu Beginn des heißen Wahlkampfs
um die Präsidentschaft in Rußland nach Rußland zu fahren, also in ein Land, dessen gegenwärtiger Zustand sich in etwa mit dem der Weimarer Republik in ihren letzten Zügen oder sogar - wenn man die materielle Lage der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung betrachtet - wohl auch mit den Zuständen in den Resten des Deutschen Reiches in den Jahren nach 1945 vergleichen läßt.
Wozu diese Reise? Die deutsche, die russische und die Weltöffentlichkeit sind sich einig darüber: Es ging bei ihr nicht um grundsätzliche Fragen der deutsch-russischen Beziehungen, die ein solches Gipfeltreffen gerechtfertigt hätten,
denn dabei ist nichts außer einer gewissen Doppelzüngigkeit in der Haltung der Bundesregierung zur Dringlichkeit der NATO-Erweiterung herausgekommen.
Es ging schlicht und einfach um Wahlhilfe für den amtierenden Präsidenten Rußlands, der kraft der Verfassung, die er seinem Lande übergestülpt hat - übrigens unter aktiver Mithilfe Schirinowskis, ohne den das nie gelungen wäre -, die gesamte Verantwortung für die gegenwärtige dramatische Situation im Lande und obendrein für die fürchterlichen Vorgänge in Tschetschenien und in Inguschien trägt.
Selbst wenn man einmal davon absieht, was Jelzin alles anzulasten ist, frage ich Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Hand aufs Herz: Wer von Ihnen würde sich wohl in einen Bus oder in ein Flugzeug setzen, dessen Fahrer oder Pilot sich in einem Gesundheitszustand befindet wie der Präsident Jelzin? Wie verantwortungslos muß ein Mensch sein, der
Heinrich Graf von Einsiedel
sich in diesem Zustand zumutet und anmaßt, das Staatsschiff Rußlands mit seinen ungeheuren Problemen in ruhigere Gewässer zu lenken?
Kann es ein guter Dienst an den zukünftigen deutsch-russischen Beziehungen sein, diesen Mann in seiner Hartnäckigkeit, mit der er sich an die Macht klammert, noch zu bestärken? Ich habe meine Zweifel daran. Ich wage vorauszusagen, daß Sie es sehr bald bedauern werden, so einseitig auf diesen Mann gesetzt zu haben, mag er nun die Wahl gewinnen oder nicht. Im übrigen gibt es ja nicht wenige Kenner der innerrussischen Szene, die meinen, daß diese Wahlkampfhilfe eher ein Bärendienst für Jelzin gewesen ist.
- Ich rege mich auch gar nicht auf.
Ich kann Ihre Ängste nachvollziehen. Es ist ja nicht die Männerfreundschaft, die, wie die „Mitteldeutsche Zeitung" schreibt, den Bundeskanzler für alles, was Jelzin anzulasten ist, blind macht: den Tschetschenien-Krieg, die Fortsetzung der aus der Sowjetunion überkommenen Diktatur der Exekutive über die gewählten Verfassungsorgane und die ungeheure Bereicherung der aus der Nomenklatura hervorgegangenen Mafia-Bourgeoisie. Es sind das Gespenst der erstarkten kommunistischen Partei und die Möglichkeit der Präsidentschaft Sjuganows, was Sie blind macht. Kürzlich las ich in der „Wirtschaftswoche", daß ein führender Repräsentant der deutschen Wirtschaft - der ehemalige Präsident des Bundeskartellamtes, wenn ich mich richtig erinnere - in bezug auf Rußland - vielleicht nicht nur in bezug auf Rußland - gesagt hat, Geld in den Händen von Ganoven sei immer noch besser als in den Händen des Staates.
Unter einem Präsidenten Sjuganow könnte es mit diesem Zustand natürlich ein Ende haben, der unter Jelzin so wunderbar blüht. Sie befürchten das, aber Millionen am Rande des Existenzminimums lebende russische Menschen erhoffen es.
Wir haben in Deutschland Anfang der 30er Jahre erlebt, auf welche Irrwege ein Volk geraten kann, das keinen Ausweg mehr aus seiner verzweifelten Lage sieht. Der naheliegende Gedanke an den Ruf nach dem „starken Mann", den Jelzin zu sein vorgibt, ist verführerisch. Rußland braucht aber keinen starken Mann, sondern eine starke Demokratie, ein starkes Parlament, eine starke Opposition und sicher keine Wahlempfehlung des deutschen Bundeskanzlers.
Auch militärischer Druck von außen - als solcher wird die NATO-Erweiterung von fast allen Gruppierungen in Rußland empfunden - oder gar an Wohlverhaltensklauseln geknüpfte Wirtschaftshilfe werden nichts anderes bewirken, als den nationalistischen Kräften Auftrieb zu geben. Da helfen dann auch keine Beteuerungen mehr, daß dies alles nicht so aktuell sei und nicht so heiß gegessen werde, wie es gekocht wird.
Danke sehr.
Als nächster spricht der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man muß für die Schwierigkeiten der Opposition natürlich Verständnis haben, wenn man sieht, daß es eine so erfolgreiche Regierung gibt.
Ich kann aber kein Verständnis dafür aufbringen, Kollege Fischer, wenn man immer wieder versucht, dort Punkte zu machen, wo die Regierung ganz besonders erfolgreich ist, nämlich in der Außenpolitik und beim Bundeskanzler. Ich habe auch kein Verständnis, Herr Kollege Verheugen, wenn man immer wieder dasselbe kritisiert, obwohl das durch die Geschichte hinlänglich widerlegt ist. Sie haben heute wieder die Einseitigkeit der guten Beziehungen zu dem russischen Präsidenten Boris Jelzin kritisiert.
Ich erinnere mich noch sehr gut, daß Sie dieselbe angebliche Einseitigkeit bei Gorbatschow kritisiert
und gesagt haben: Was soll denn einmal werden, wenn Jelzin drankommt?
Ich darf daran erinnern: Präsident Gorbatschow haben wir den reibungslosen Ablauf des Wiedervereinigungsprozesses und die Implementierung des Zwei-plus-vier-Vertrages zu verdanken.
Dem Präsidenten Jelzin und den guten Beziehungen des Bundeskanzlers zu dem Nachfolger von Gorbatschow haben wir den reibungslosen Abzug der russischen Streitkräfte von deutschem Boden zu verdanken.
Ich finde, das alleine ist ein ganz unglaublicher Erfolg und nicht zuletzt ein Erfolg des deutschen Bundeskanzlers.
Karl Lamers
Deswegen haben wir alle Grund, ihm zu danken.
Als dieser Kanzler heute hier geredet hat, ist doch noch einmal völlig klar und unmißverständlich zum Ausdruck gekommen, daß dieses gute Verhältnis keineswegs heißt, daß wir alles kritiklos schlucken und hinnehmen und daß wir alles gut finden. Davon kann doch überhaupt keine Rede sein.
Aber die Grundvoraussetzung gerade im Falle Rußlands für die Chance einer Einflußnahme bei dem ganz ungewöhnlich schwierigen Prozeß, den dieses Land durchmacht, ist doch eine solche Haltung, wie sie der Kanzler einnimmt, das heißt eine Haltung, die klarmacht: Wir nehmen Anteil an dem Schicksal dieses großen und leidgeprüften Volkes. Wir haben Sympathie mit diesem Volk. Wir leiden mit - das heißt Sympathie -, weil wir auch wissen, welchen Weg dieses Volk vor sich hat und wie schwierig dieser Weg in die Zukunft sein wird.
Die Grundvoraussetzung, um auf die russischen Entwicklungen Einfluß nehmen zu können, ist eine solche Haltung, wie sie der Bundeskanzler hat. Das wissen doch auch Sie. Es ist bislang erwiesen, daß diese Haltung richtig ist. Der Bundeskanzler hat hier gesagt, daß er Tschetschenien natürlich angesprochen hat. Es ist gut, daß er es so gemacht hat, wie er es gemacht hat. Was er mit Präsident Jelzin unter vier Augen besprochen hat, sollte nicht auf dem off enen Markt gesagt werden. Die Russen wissen schon, daß wir das nicht akzeptieren können.
Was die NATO-Frage angeht: Die einzige Möglichkeit, dieses Problem so zu lösen, daß wir Rußland nicht ausgrenzen - wir müssen es begrenzen, aber gleichzeitig dürfen wir es nicht ausgrenzen -, ist doch, daß wir die Sache mit Umsicht und Bedacht betreiben. Nichts anderes hat der Herr Bundeskanzler getan. Im übrigen hat er in Warschau von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union um das Jahr 2000 gesprochen. Daran darf ich erinnern.
Von der NATO war nicht die Rede. Aber natürlich besteht ein Zusammenhang.
Übrigens: Genau diesen Zusammenhang müssen wir bei der Frage der NATO-Öffnung herausstellen. Ich finde es gut, daß wir darüber gelegentlich einmal reden, Herr Kollege Verheugen.
Es war also ein Erfolg, und zwar auch deswegen, weil auch die Länder, die sich betroffen hätten fühlen können, nämlich Polen und die anderen, sich nicht betroffen gefühlt haben.
Wer ist denn wirklich in der Lage, nach Rußland zu reisen, ein ganz intimes Verhältnis zum russischen Präsidenten zu haben und mit ihm unter vier Augen reden zu können, ohne daß in Warschau, Paris oder Washington die Alarmanlagen angehen? Das kann in
der Tat nur dieser Kanzler. Deswegen sind wir ihm zu Dank verpflichtet.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, wir müssen hier nicht über Dinge streiten, über die es vermutlich hier im Hause bei allen oder fast allen Fraktionen und parlamentarischen Gruppen Einigkeit gibt. Uns ist auch völlig klar, daß der Bundesregierung in der Außenvertretung der Bundesrepublik Deutschland und auch als Teil der Europäischen Union eine andere Aufgabe zukommt als dem Parlament und der jeweiligen Öffentlichkeit.
Wir sehen, wie vermutlich alle anderen hier im Hause, die enorme Gefahr, aber auch die große Chance, die die russische Entwicklung für Gesamteuropa bedeutet. Natürlich ist es im Interesse von Demokratie, von Menschenrechten, aber auch von Frieden und Sicherheit auf diesem Kontinent, wenn es zu einer friedlichen, demokratischen Zukunft Rußlands kommt. Auch im Interesse der Menschen in Rußland und in den Nachbarrepubliken kann man dies alles nur wünschen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben es hier mit einer sehr ambivalenten Entwicklung zu tun. Es geht um Reformen. Es geht um Menschenrechte. Es geht um eine demokratische gemeinsame Zukunft im europäischen Haus. Natürlich stellt sich die Frage: Paßt dann eine Reise zu dieser Zielsetzung, zwischen Menschenrechtsfragen und Demokratieentwicklung auf der einen Seite abzuwägen und dem Machterhaltsinteresse von Jelzin und den politischen Kräften, die ihn tragen, auf der anderen Seite und der Einschätzung, die Sie haben mögen, die ich erst einmal gar nicht grundsätzlich kritisiere? Aber sind das noch die Maßstäbe, die ein deutscher Bundeskanzler in der gegenwärtigen Zeit auf einer solchen Reise vertreten kann? Da haben wir mehr als Zweifel.
Der Tschetschenien-Krieg ist nicht einfach nur ein Fehler. Vielmehr droht im Tschetschenien-Krieg die russische Entwicklung, die Demokratie- und Reformentwicklung, kaputtzugehen, Herr Bundeskanzler.
Was wir Ihnen vorwerfen, ist, daß Sie eben diese Maßstäbe in Ihrer Reise nicht geachtet haben. Sie wissen doch so gut wie ich: Bei dem TschetschenienKonflikt handelt es sich um eine Frage des inneren Kolonialismus, nicht eines externen Kolonialismus wie der traditionellen Kolonialmächte. Es handelt sich auch um Ölinteressen. Wir erwarten von einem deutschen Bundeskanzler bei aller Interessenbezogenheit, die die Bundesregierung in der Außenvertretung wahrnehmen muß, daß er in dieser Frage
Joseph Fischer
ohne Wenn und Aber und nicht nur hinter verschlossenen Türen und gerade in Wahlkampfzeiten klipp und klar die Position der Bundesregierung und der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck bringt, nämlich, daß dieses nicht hinnehmbar ist.
Die Jelzin-Leute, Herr Bundeskanzler, haben doch nach Ihren Gesprächen ganz offen gestreut, daß das, was Sie gesagt haben, überhaupt nicht weh getan hat. Im Gegenteil, man bedankte sich recht artig für Ihre vornehme Zurückhaltung in diesen Fragen. Das geht nicht.
Da müssen wir schon die Frage aufwerfen, Herr Bundeskanzler - das wurde in der deutschen Presse auch von Ihnen nahestehenden Presseorganen wie der „Welt" getan -, nach den Zielen Kohlscher Realpolitik.
Dort sitzt der Herr Rühe. Ich war damals hier im Hause nicht Mitglied. Aber ich habe es zufällig im Radio gehört, als er nach dem Fall der Mauer das Wort vom Wandel durch Anbiederung Richtung Sozialdemokraten formuliert hat. Zu Ihrer Politik, die Sie gegenwärtig betreiben, nenne ich drei Punkte Kohlscher Realpolitik. Ich nenne Ihre Rußlandreise, Ihre Zurückhaltung - um nicht zu sagen: geduckte Haltung - in der Tschetschenien- und Demokratiefrage gegenüber Jelzin. Ich nenne Ihre Verneigung vor dem chinesischen Militär. Ich nenne die vielen Fragezeichen Ihrer Iranpolitik, Herr Bundeskanzler. Wir werfen Ihnen vor, daß Sie sich mit Ihrer außenpolitischen Realpolitik mehr und mehr dem Verdacht aussetzen, eine Politik des Wandels durch Anbiederung erreichen zu wollen. Wo das enden wird, haben wir schon einmal erlebt.
Ein letztes, Herr Bundeskanzler. Was glauben Sie, was die demokratischen Kräfte, die in Rußland mit dem Rücken an der Wand stehen, von dieser Reise zu Jelzin gehalten haben? Mußten sie nicht denselben Eindruck erhalten wie früher, als manche Oppositionelle, manche Menschenrechtler und manche Initiativen im Widerstand gegen die kommunistische Diktatur ein ähnliches Erlebnis hatten? Deswegen kritisieren wir nachdrücklich Ihre Position, die auf Wandel durch Anbiederung hinausläuft.
Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als der Kollege Fischer gerade seine Rede gehalten hat, bin ich ein bißchen an einen anderen Russen erinnert worden, nämlich an Herrn Potemkin. Er hat Dörfer auf Fassaden gegründet. Ihre außenpolitische Konzeption scheint der Idee der Potemkinschen Dörfer sehr zu ähneln. Sie mögen zwar einige Teile Ihrer Konzeption durchführen können; dennoch werden Sie nicht verleugnen können, daß dahinter nichts steht.
Es ist das gute Recht der Opposition, die Regierung zu kritisieren. Es steht auch nirgendwo geschrieben, daß Bewertungen von Reisen des Bundeskanzlers oder der Mitglieder der Bundesregierung etwa nur dem Regierungssprecher vorbehalten sind. Dennoch muß man mit Blick auf diese und auch manche vorangegangene Aktuelle Stunde - Sie haben das ja gerade erwähnt - den Eindruck haben, daß die Opposition das Schiff, das von Kapitän Joschka gesteuert wird - oder von anderen Steuermännern, die sonst noch an Bord sind -, zwar immer haarscharf, aber konkret darauf zusteuert - -
- Auf Ihrem Schiff möchte ich kein Schiffsjunge sein, weil ich wüßte, daß ich dann in Untiefen käme und nicht dahin, wohin wir müßten.
Wissen Sie, wohin Sie steuern? Sie steuern zwar immer voll auf den Bundeskanzler; Sie wissen aber, daß Sie bei ihm auflaufen, weil Sie von christlicher Seefahrt und von Steuermannskünsten überhaupt nichts verstehen.
- Herr Verheugen, Sie haben gerade ein Beispiel dafür geliefert, wie Ihre Kritik am Bundeskanzler in sich zusammenbricht. Der Schluß Ihrer Rede war begrüßenswert, weil er gelautet hat: Man bitte den Bundeskanzler, über den Fortgang seiner politischen Vorstellungen und Erfahrungen zu berichten. Das ist eine der Opposition und dem Parlament angemessene Position.
- Das haben Sie gesagt.
Im übrigen, Herr Verheugen: Wenn Sie sich über die Frage näher informieren wollen, ob die Konzeption - -
- Frau Präsidentin, ich habe Schwierigkeiten mit Herrn Verheugen.
Christian Schmidt
Herr Verheugen, ganz einfach: Lesen Sie Egon Bahr nach.
Ich zitiere ungern Egon Bahr; aber lesen Sie einmal nach, was er zur Reise des Bundeskanzlers geäußert hat. Sie werden dann merken, daß es nicht, wie Joschka Fischer sagt, um die Frage von Realpolitik geht, sondern daß viel mehr auf dem Spiel steht. Sie reden völlig am Thema vorbei.
Sie tun so, als wäre das Ganze eine Wahlkampfreise gewesen, als wäre der Bundeskanzler aufgebrochen, um Boris Jelzin für den Wahlkampf den Rücken zu stärken. Haben Sie sich einmal umgekehrt gefragt, Herr Fischer: Was wäre gewesen, wenn der Bundeskanzler die im Rahmen der Konsultationen vereinbarte Reise abgesagt hätte? Was wäre denn dann Ihre Reaktion gewesen?
Wollen Sie Rußland isolieren? Wollen Sie die Beziehungen zu diesem Land abbrechen? Wollen Sie bei Jelzin - und nicht nur bei Jelzin - den Eindruck vertiefen: „Die mögen uns nicht."? Wollen Sie den Eindruck westlicher Arroganz und Überheblichkeit gegenüber einem Volk, das unbestritten in erheblichen Schwierigkeiten ist, so weit treiben, daß dieses Volk nicht denen, die dem Prinzip der Mäßigung bei allen Schwierigkeiten und bei allen kritikwürdigen Problemen folgen, sein Vertrauen schenkt? Auch Jelzin ist keine Ikone des Schönen, Wahren und Guten. Aber immerhin hat dieser Mann - da mögen Sie nun lachen oder nicht - verhindert und kann auch in Zukunft verhindern, daß die Schatten einer roten Diktatur wieder über Europa kommen. Wir haben gerade gehört, wie Herr Einsiedel uns seinen kommunistischen Freund empfiehlt.
Ist jemand hier im Raum, der sich von Herrn Sjuganow, von Herrn Lebed oder von Herrn Schirinowski in irgendeiner Weise Besserung verspricht? Ich muß doch mit den Personen umgehen, die da sind, und nicht mit denen, die in der Fischerschen Bäckerei gebacken werden sollen.
Es geht hier darum, wie ein Kommentator formuliert hat - hören Sie zu, Herr Fischer; Sie können etwas lernen -:
Auf dem außenpolitischen Feuer des Kanzlers nur ihre eigene Parteisuppe kochen zu wollen, ist zu kurz gedacht und zu kurz geredet und damit werden sie den deutschen Interessen nicht gerecht.
Es gibt einen sehr treffenden Kommentar über diese Reise. Dort heißt es, daß es eine Reise im Interesse Europas gewesen sei.
- Das war die Mehrheit.
Wenn ein anderer Kommentator schreibt, daß des Kanzlers Moskaureise ein Beitrag zur europäischen Stabilität in der Gegenwart sei, und er Skepsis äußert, ob nicht in der Zukunft möglicherweise alles über den Haufen geworfen wird, dann reflektiert er damit natürlich die Ungewißheit über die weitere Entwicklung Rußlands. Gerade wegen dieser Unsicherheit war diese Reise aber notwendig. Der deutsche Bundeskanzler ist als ein wesentlicher und maßgeblicher Vertreter Europas nach Moskau gekommen, hat Respekt nicht nur vor Jelzin, sondern auch vor dem vielfach verunsicherten russischen Volk bekundet und dennoch sehr konkret und präzise die kritischen Fragen angesprochen.
Damit nichts über den Haufen geworfen wird in Europa, damit nichts über den Haufen geworfen wird in Rußland, war diese Reise notwendig und richtig. Wir können den Bundeskanzler nur ermuntern,
bei dieser zielstrebigen klaren Politik zu bleiben, bei einer Politik, die das Ganze in Europa im Auge hat und die im wahren Sinne von Frieden im 21. Jahrhundert den Weg der Stabilität für Europa sucht.
Das Wort hat der Kollege Karsten Voigt.
Herr Bundeskanzler! Wir wollen nicht nur gute Beziehungen zu Rußland, wir wollen noch bessere Beziehungen zu Rußland. Wir wollen nicht nur enge Beziehungen zu einem demokratischen Rußland, sondern freundschaftliche Beziehungen zu einem demokratischen Rußland.
Trotzdem bin ich der Meinung, daß die Reise des Bundeskanzlers zwar den freundschaftlichen Beziehungen zu Jelzin gedient hat, nicht aber den freundschaftlichen und besseren Beziehungen zu Rußland.
Dies beides ist nicht identisch, und beides miteinander verwechselt zu haben ist Ausdruck eines monarchischen Stils in der Außenpolitik, eines vordemokratischen Verständnisses von deutsch-russischen Beziehungen, was wir nicht akzeptieren können und auch von zahlreichen Russen nicht akzeptiert wird.
Daß es Wahlkampfhilfe sein sollte, ist von Außenminister Primakow, einem Spezialisten für solche
Karsten D. Voigt
Fragen der Analyse der Absichten anderer Völker als ehemaligem Geheimdienstchef, sehr wohl gesehen worden, denn er hat in einem Interview am 20. Februar 1996 gesagt:
... der Zeitpunkt, der für den Besuch gewählt wurde, und der Besuch selbst unterstreichen die Unterstützung, die Helmut Kohl dem russischen Präsidenten Boris Jelzin bei dessen Wahlkampf leistet.
Dies ist eine wahrhaftige Aussage. Sie sollten zu dem, was Sie dort beabsichtigt haben, öffentlich stehen und es nicht verheimlichen.
Wir kritisieren Ihren Besuch in fünf Punkten.
Der erste ist die unzulässige Personalisierung der deutsch-russischen Beziehungen, die sich auf eine persönliche Männerfreundschaft reduziert, eine Männerfreundschaft, die, wie jeder weiß, zeitlich durch den Erfolg desjenigen, mit dem man kommuniziert, limitiert ist; denn Sie haben Gorbatschow, den Sie so viel gelobt haben, bei diesem Aufenthalt in Moskau nicht einmal eines Besuches aus Dankbarkeit für würdig gehalten.
Zweitens. Es gab kein Treffen mit engagierten Reformern und Demokraten in der Duma. Das wäre bei uns eine Selbstverständlichkeit, wenn wir in Wahlkämpfen Besuch von außerhalb erhalten. Es wäre sinnvoll und erforderlich gewesen, diesen demokratischen Stil, den wir hier pflegen, auch in Rußland zu praktizieren. Daß Sie das nicht getan haben, ist eine Beleidigung des demokratischen Empfindens in Rußland.
Drittens. Sie haben keine anderen Präsidentschaftskandidaten getroffen - eine Sache, die im Westen selbstverständlich ist, ganz egal, wer die Regierung und die Opposition stellt. Man pflegt, wenn man ins Ausland reist, in solchen Fällen die führenden Oppositionspolitiker, auch die alternativen Präsidentschaftskandidaten, zu sehen. Daß Sie das dort nicht getan haben, unterstellt, daß Sie Jelzin für keinen Demokraten halten; denn sonst hätten Sie von ihm verlangen können, daß dort den Gepflogenheiten, wie sie im Westen bestehen, Rechnung getragen wird und Sie sich mit alternativen Kandidaten treffen. In Wirklichkeit bedeutet das eine Einschätzung, daß Jelzin in vielen Punkten in bezug auf demokratische Verhaltensweisen zweifelhaft ist, was wohl eine realistische Einschätzung wäre.
Viertens. Sie haben keine eindeutige Kritik an dem Vorgehen der russischen Regierung in Tschetschenien geübt. Diese Kritik hätte öffentlich sein müssen, und sie hätte eindeutig sein müssen; denn das Vorgehen widerspricht Völkerrechtsnormen.
Fünftens. Sie haben die öffentlich geäußerten und deshalb auch öffentlich zurückweisungsbedürftigen Äußerungen von Jelzin zur NATO-Osterweiterung eben nicht zurückgewiesen. Dies hat irritiert. Ihre Aussagen, daß das in Warschau verstanden werde, sind falsch. Ich bin in den letzten Tagen von zahlreichen Politikern aus Ostmitteleuropa kontaktiert worden, die sich besorgt gezeigt haben und vermutet haben, daß sich darin eine veränderte Haltung der deutschen Bundesregierung äußere. Das gleiche habe ich von meinen Kollegen im amerikanischen Kongreß erfahren. Ich weiß, daß Leute aus Ostmitteleuropa in den letzten Tagen nach Ihrem Besuch dem State Department die Türen eingelaufen haben.
Das heißt, der von Ihnen behauptete Tatbestand, daß die Äußerungen, die Sie dort über die NATO- Osterweiterung gemacht haben, im Westen so abgestimmt waren, ist, glaube ich, nicht zutreffend. Ich glaube, daß Sie das hier gegenüber dem Bundestag so sagen, um den Eindruck zu verhindern, den es in Wirklichkeit in zahlreichen westlichen Hauptstädten schon gibt, nämlich daß Sie in dieser Frage durch Ihre Stellungnahme dort in der Öffentlichkeit von der westlichen Haltung abgewichen sind
Man kann Ihrer Meinung sein. Aber es schadet auf jeden Fall den deutsch-polnischen und den deutschrussischen Beziehungen, daß Sie in Warschau bei Ihrem Besuch einen anderen Eindruck erweckt haben als jetzt in Moskau. Diese Art der doppelten Zunge, der doppelten Sprache, ist für deutsche Außenpolitik nicht akzeptabel,
weil sie den Eindruck erweckt - den können wir uns aber nicht leisten -, als würde das Schicksal der Staaten zwischen Deutschland und Rußland bilateral im Verkehr zwischen Rußland und Deutschland entschieden und nicht durch die Staaten selber.
Im übrigen ist in dieser Frage Jelzin nicht ein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems. Die russische Bevölkerung interessiert sich für diese Frage am allerwenigsten. Alle Meinungsumfragen zeigen, daß, wenn man wichtige Probleme der russischen Bevölkerung analysiert, sie dieses Thema überhaupt nicht auf die Tagesordnung bringt. Wenn es von Befragern vorgegeben auf der Liste steht, steht es ganz unten. Wenn die Russen gefragt werden, wie sie zur NATO-Osterweiterung stehen, sagen über 50 Prozent, sie wüßten es gar nicht.
Wie immer man zu der Vermutung steht, daß Jelzin in Zukunft in dieser Frage die russische Bevölkerung aufklärt, ich kann gegenwärtig nur sagen: Statt daß die russische Führung die sozialen und demokratischen Probleme ihres Landes löst, hat sie endlich ein Konsensthema gegen den Westen gefunden und puscht es auf, statt in dieser Frage einen Kompromiß mit dem Westen zu suchen.
Ich bin der Meinung, in der Art und Weise, wie Sie über Tschetschenien geschwiegen haben, und dadurch, daß Sie mit den Demokraten Rußlands in dem breiten Spektrum nicht geredet haben und daß Sie die polnischen, die ungarischen und die tschechischen Bedürfnisse in der Öffentlichkeit nicht einmal erwähnt haben, haben Sie ein Verständnis von Realpolitik sichtbar gemacht, das viele in den Nachbarländern Deutschlands an Bismarck erinnert, und
Karsten D. Voigt
zwar nicht an die guten Seiten Bismarcks, sondern an die schlechten Seiten Bismarcks, -
Herr Voigt, Ihre Redezeit ist beendet.
- der zu Lasten von Demokratie und Demokraten und zu Lasten der kleinen Staaten deutsch-russische Politik betrieben hat.
Danke.
Als nächster hat der Kollege Kersten Wetzel das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit 1990 haben wir zugleich eine große Verantwortung für die Gestaltung eines gemeinsamen und friedlichen Hauses Europa übernommen. Sicher werden Sie mir alle zustimmen, daß dazu natürlich auch ein Raum für Rußland gehört.
Der Zerfall des sozialistischen Staatenblockes in Osteuropa hat damals zu radikalen Veränderungen der politischen Prozesse geführt. Die in West und Ost in mehr als vier Jahrzehnten gewachsenen Vorstellungen und gegenseitigen Einschätzungen sind damals fast über Nacht zusammengebrochen. Schablonenhafte Außen- und Sicherheitspolitik wurde durch eine Politik des neuen Denkens ersetzt.
Die Politik der Bundesregierung hat bei der Gestaltung der deutschen Einheit in den Jahren 1989 und 1990 dazu Maßstäbe gesetzt.
Ein unbestreitbar entscheidender Schlüssel dazu war die Neugestaltung der deutsch-russischen Beziehungen. So waren es zunächst Perestroika und Glasnost und schließlich auch russische Panzer, deren einfache Anwesenheit die friedliche Revolution des Volkes in der damaligen DDR gegen die SED- Diktatur ermöglichte.
Doch mit diesem Prozeß ergab sich zugleich eine einmalig historische Chance neuer konstruktiver Zusammenarbeit zwischen West und Ost, zwischen Deutschland und Rußland.
Gerade die Politik unseres Bundeskanzlers, die damals noch von so vielen verlacht oder ganz einfach nicht verstanden wurde, hat sich über viele konstruktive und auch persönliche Kontakte nach Rußland bis heute ausgezeichnet und bewährt.
Die Zeit im Osten Europas ist wesentlich schnelllebiger, als sich manche westlichen Politiker an ihren Schreibtischen vorstellen können. Der Beitritt der neuen Bundesländer und der dortige Aufbau von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft mit all seinen Folgen und auch Problemen sind dafür ein unschätzbar wichtiges Beispiel. Hier sind gerade wir Deutschen als Westeuropäer gefordert, unsere Erfahrungen nicht nur in für viele unverständlichen und langwierigen Parteiengeplänkeln zu diskutieren, sondern vor Ort, in Osteuropa und insbesondere in Rußland, einzubringen.
Bei meinen mittlerweile vielen Besuchen und Kontakten in Rußland und Osteuropa spüre ich immer wieder ganz deutlich, wie doch mein Herz viel stärker als Osteuropäer, als Deutscher aus den neuen Bundesländern, denn als Westeuropäer fühlt. Das soll jetzt nicht zu einem Mißverständnis führen; ich freue mich, Deutscher in diesem vereinigten Deutschland zu sein. Ich möchte damit vielmehr deutlich machen, wie gerade wir aus den neuen Bundesländern spüren, mit welch großen Hoffnungen und Erwartungen das russische Volk auf uns und auf Westeuropa schaut. Das russische Volk braucht unsere Hilfe und unsere Dankbarkeit jetzt nötiger denn je.
Unser Know-how und unsere Erfahrungen beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, bei der Schaffung von Lebensqualität und sozialer Sicherheit, bei der Bewältigung der Folgen von Diktatur und sozialistischer Planwirtschaft sind gefragt und für die neuen Demokraten in Rußland von unschätzbarem Wert.
Alle demokratischen Parteien, aber auch Verbände und Organisationen, Länder, Kommunen, Universitäten und Schulen sind aufgefordert, Kontakte und Beziehungen für eine friedliche und demokratische Entwicklung in Osteuropa zu suchen und aufzubauen. Rußland ist deshalb immer eine Reise wert.
Ansprechen möchte ich aber auch unsere deutsche Wirtschaft, die einen wesentlichen Einfluß auf die Schaffung marktwirtschaftlicher Strukturen in Rußland ausüben kann. Auch hier bringen die Erfahrungen aus den neuen Bundesländern nicht nur gewisse Wettbewerbsvorteile, sondern auch Verantwortung. Jede sinnvoll investierte Mark bringt letztendlich auch ein Stück Sicherheit für Demokratie und Frieden.
Die jüngste Geschichte in Osteuropa, aber auch in einigen Ecken der neuen Bundesländer hat gezeigt, daß das schwer erkämpfte Geschenk von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kein Selbstläufer ist, sondern immer wieder neu verteidigt werden muß. Das kommunistische System ist zwar überholt; aber viele seiner Kräfte haben noch nicht aufgegeben. Strategie und Taktik haben zwar ein Ziel, aber oft viele Gesichter und neue Namen.
Die Demokratie in Rußland und in vielen Staaten Osteuropas ist vielleicht sogar anfälliger, als heute noch viele glauben. Der Demokratieprozeß ist schwierig genug. Es gibt sicher für alle Demokraten in und für Osteuropa alle Hände voll zu tun. Die Zukunft Europas entscheidet sich in Rußland. Darüber sollten wir nicht nur von außen reden. Wir sollten vor allem vor Ort handeln.
Ich danke deshalb dem Bundeskanzler für seinen letzten Besuch in Moskau.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Bundeskanzler ist mit leerer Aktentasche nach Moskau und St. Petersburg gefahren und ist auch mit leerer Aktentasche wiedergekommen. Er hat eine Reise ohne Ambition und Zielsetzung unternommen. Gerade weil nichts auf der Tagesordnung stand, ist es in seiner Verantwortung, daß diese Reise nicht nur von außen, sondern vor allem vor Ort als Wahlkampfhilfe für einen der Kandidaten für die Präsidentschaft wahrgenommen wurde. Das ist hier schon mehrfach angesprochen worden.
Mein Thema ist ein anderes. Ich erwarte eigentlich - auch wenn das als Routineangelegenheit eingeordnet wird -, daß der deutsche Kanzler, wenn er ins Ausland fährt, auch deutsche Interessen vertritt. Jetzt stellt sich doch die Frage: Was ist bezüglich der Vertretung deutscher Interessen herausgekommen? - Gestatten Sie mir, daß ich hier eine kleine Liste abfrage; denn ich meine, es ist nicht die Zeit, daß man Routinereisen ohne Ambition und politische Zielsetzung, auch ohne Beachtung deutscher Interessen machen kann.
Da ist zum Beispiel der Komplex der Abrüstung. Meine Damen und Herren, der amerikanische Senat hat im Januar dieses Jahres das sehr wichtige START-II-Abkommen endlich, nach über drei Jahren, ratifiziert. Aus Rußland hört man nicht nur, daß dieser Prozeß in der Duma noch nicht eingeleitet worden ist, sondern daß das auf die Zeit nach den russischen Präsidentschaftswahlen verschoben werden soll.
Herr Bundeskanzler, haben Sie dieses Thema überhaupt angesprochen? Gehört hat man nichts von irgendeiner Zusage. Es ist aber ein existentielles deutsches Interesse, daß die bereits unterzeichneten Verträge endlich in Moskau ratifiziert werden. Dazu gehören der START-II-Vertrag, das Chemiewaffenübereinkommen und auch die Beseitigung der schwarzen Wolken über dem Prozeß der konventionellen Abrüstung. Hier haben Sie eigentlich die Aufgabe gehabt, einmal deutlich deutsche Interessen zu vertreten und nicht nur Komplimente auszutauschen. Davon haben wir leider nichts gehört. Das kritisieren wir.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Tschetschenien. Sie haben das Pech gehabt, daß die Versicherung, die der russische Präsident schon ein paarmal gemacht hat, eine zivile, eine friedliche Lösung des Konflikts anzustreben, in demselben Augenblick gemacht wurde, in dem Novogroznenskij militärisch erobert wurde. Die Ankündigung ist bis heute nicht erfüllt. Der Kollege Sperling wird dazu gleich noch Näheres sagen. Die Frage ist doch: Wäre es nicht im deutschen Interesse, hier nachzuhaken, auch nach Ihrer Reise die Einhaltung dieses Versprechens einzufordern? Davon hört man nichts. Außer der Pflichtübung, die Sie absolviert haben, hat man nichts davon gehört.
Der dritte Punkt: Zum Zeitpunkt Ihrer Reise hat der russische Präsident die Verstärkung der Auslandsspionage angekündigt. Mir liegen Unterlagen vor, daß besonders die Bundesrepublik einer verstärkten Industriespionage seitens Rußlands ausgesetzt sein soll. Haben Sie das Thema angesprochen, oder glauben Sie, daß sich das mit dem verträgt, was Sie als „hervorragende und vertrauensvolle Beziehungen" bezeichnen, daß wir in besonderer Weise Ziel von solchen verstärkten Bemühungen werden?
Schließlich will ich noch zwei Punkte ansprechen. Zunächst eine Frage, die vielleicht abseitig erscheint. Aber wenn die Beziehungen so hervorragend sind, dann frage ich mich, warum Sie nicht wenigstens mit einem kleinen Erfolg in bezug auf die Rückführung deutscher Kulturgüter zurückgekommen sind.
Ich entnehme die Zahlen, die ich jetzt nenne, einer Antwort der Bundesregierung von heute. Es gibt 200 000 Museumsgüter, zwei Millionen Bücher und drei Kilometer Archivgut, die immer noch auf Rückführung warten.
Ganze fünf Bücher sind bisher in einem symbolischen Prozeß zurückgeführt worden. Ich sehe es als eine Überschreitung der Grenzen der Selbstachtung an, wenn dieses Thema nicht angesprochen wird bzw. wenn Sie ohne jede konkrete Zusage in dieser Frage zurückkommen.
Jetzt komme ich zu dem letzten Punkt, der mir sehr wichtig ist.
- Ich komme jetzt zu einem sehr wichtigen Punkt, Herr Kollege, nämlich den Interessen der deutschen Wirtschaft. In Moskau sind allein 800 deutsche Firmen vertreten, die bei ihrer Pionierleistung, die sie dort erbringen, seit langem auf Unterstützung warten, diese Unterstützung aber nicht bekommen. Jetzt kommen Sie wieder mit der Ankündigung, im Herbst solle es ein Doppelbesteuerungsabkommen geben. Sehr interessant! Die Amerikaner haben seit langem ein modernes Doppelbesteuerungsabkommen. Die deutsche Wirtschaft klagt, und zwar in einer langen Liste, darüber, daß ihre Pionierarbeit dort nicht genügend unterstützt wird. Herr Bundeskanzler, da geht es um Arbeitsplätze. Was haben Sie da mitgebracht? Gar nichts! Eine absolute Nullösung!
Ich stelle also leider fest: Das war, wie die Russen sagen würden, eine Reise von Onkelehen zu Onkelchen, eine Reise ohne jede Ambition und ohne jede politische Zielsetzung. Das war keine Glanzleistung deutscher Außenpolitik. Das ist es, was wir an dieser
Gernot Erler
Reise kritisieren, daß Sie die deutschen Interessen nicht richtig vertreten haben.
Als nächster spricht der Kollege Lummer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Volmer hat seine Ausführungen mit den Worten beendet: Ich kritisiere. Ich meinerseits möchte mich ausdrücklich bedanken, bedanken dafür, daß die Opposition der sogenannten Grünen diese Aktuelle Stunde beantragt und uns damit die Gelegenheit gegeben hat, die Grundzüge unserer Rußlandpolitik durch den Bundeskanzler und die Vertreter der Fraktionen noch einmal deutlich zu machen.
Herr Kollege Erler, es gibt Reisen, die etwas Selbstverständliches sind. Günter Grass hat ein Buch über das Selbstverständliche geschrieben. Solche Besuche unter Freunden oder Verwandten muß man nicht kritisieren. Sie haben ihren Wert in sich und strahlen aus auf viele andere Fragen. Insofern besteht keine Veranlassung, darüber zu meckern und zu lamentieren. Wenn jemand aus der Opposition diese Reise kritisiert, dann ist das nichts anderes - Frau Präsidentin, Sie haben Sprachpflege heute großgeschrieben, aber ich muß das dennoch sagen - als ein Schuß in den Ofen. Es tut mir leid, eine andere Bewertung ist nicht möglich.
Was soll der arme Bundeskanzler denn machen? Er ist zur Konsultation und zu Gesprächen verpflichtet. Nun kann er sagen: Während der Zeit des Vorwahlkampfes mache ich gar nichts, bleibe ich zu Hause. Dann würden Sie sofort sagen: Jetzt ist die Zeit der Sprach- und Kontaktlosigkeit ausgebrochen; das können wir nicht ertragen.
Nun geht er nach Rußland und überlegt sich: Wie gestalte ich das Programm? Dann sagen Sie, er solle mit allen reden. Aber dann muß er selektieren. Wenn er mit Schirinowski geredet hätte, dann hätten Sie auch gemeckert. Was soll er also machen? Er muß selektieren. Wenn er selektiert, dann hält er sich tunlichst an das, was in der Diplomatie üblich ist. Das hat er getan, und das hat er auch gut gemacht. Insofern ist alles in Ordnung.
Meine Damen und Herren, es ist sicherlich vollkommen richtig zu sagen, daß der russische Präsident nicht das Idealbild eines Präsidenten aus unserer Sicht ist. Das ist vollkommen klar. Wir kennen natürlich auch die Bedingtheiten seiner präsidentiellen Tätigkeit. Er ist bestimmten Kräften ausgesetzt und ausgeliefert, die er in der praktischen Politik berücksichtigen muß, wie wir das alle tun müssen: Rücksichten auf Nachbarn, Rücksichten auf politische Gegner und was alles sonst noch eine Rolle spielt. Da kann mancher vielleicht gar nicht das tun, was er gerne tun würde. Aber das war doch der Sinn. Herr Kollege Sperling weiß das so gut wie ich. Der Bundeskanzler hat das eingangs zitiert. Herr Schewardnadse hat uns in dem Gespräch gesagt: Unter denen, die möglicherweise da sind oder kommen werden, ist dieser für uns in Georgien der Beste, weil die anderen partielle Neo-Imperialisten sind, und wer weiß, was dann aus Georgien wird. Das ist nun einmal so in der Politik. Sie könnten jetzt eine Relativitätstheorie oder eine Theorie des kleinsten Übels aufstellen. Es gibt auch viele Wähler der CDU, die diese Partei nicht wählen, weil sie so schön ist, sondern weil sie sagen: Die auf der anderen Seite sind so mies, daß uns nichts anderes übrig bleibt, als die CDU zu wählen. Das ist die Relativität in der Politik, die man immer wieder berücksichtigen muß.
Insofern sage ich: Man kann, wenn man eine Reise macht, viel erzählen. Dies sagt der Volksmund. Andere sagen: Reisen bildet. Das ist sicherlich richtig, denn sonst würden so viele Bundestagsabgeordnete gar nicht reisen. Reisen bildet. Deswegen reisen sie. Das ist vollkommen in Ordnung. Manchmal macht es auch Freude, richtig Vergnügen. Reisen haben jedenfalls immer Wirkungen und auch Nebenwirkungen. Die Wirkung ist die Stabilisierung und Verbesserung des Verhältnisses zu Rußland, Herr Erler. Das ist der primäre Zweck. Das ist sicherlich dargestellt und auch erreicht worden.
Eine unvermeidbare Nebenwirkung ist der Eindruck, daß Herrn Jelzin Wahlhilfe geleistet worden ist.
Ich bitte um Gottes willen: Ist es denn so schrecklich, wenn es denn so ist? Ich finde das überhaupt nicht. Solche Nebenwirkungen muß man in Kauf nehmen, als wenn man Medikamente schluckt. Das läßt sich nicht vermeiden. Insofern sage ich: Wir sollten darüber gar nicht soviel reden. Herr Jelzin ist der gewählte Präsident Rußlands. Sie können doch nicht vom Bundeskanzler oder von uns erwarten, daß wir vor der nächsten Wahl diesen Präsidenten demontieren. Sie wissen doch noch gar nicht, was danach kommt und ob er nicht vielleicht sogar wiederkommt. Dann stehen Sie im Regen. Nein, wir halten uns an das, was der russische Wähler gewählt hat, solange bis er eine andere Entscheidung treffen wird. In diesem Sinne war das, finde ich, eine sehr gute Reise und eine für die Opposition schlechte Aktuelle Stunde.
Herr Kollege Dietrich Sperling, Sie haben das Wort.
Mein lieber Freund Heinrich Lummer! Ich bin sicher, daß unsere gemeinsame Reise nach Georgien um vieles besser war als die Reise des Bundeskanzlers nach Moskau, und zwar weil das selbst gesetzte Ziel des Bundeskanzlers, seinem Freund Jelzin im Wahlkampf zu helfen, nicht erreicht wurde. Warum, Herr Kohl? Warum, Herr Bundeskanzler?
Dr. Dietrich Sperling
Was ist nach der Analyse Ihres Freundes Boris Jelzin sein Problem im Wahlkampf? Boris Jelzin sagte im russischen Fernsehen am 8. Februar, vom Presseamt veröffentlicht, also auch für Sie nachlesbar:
Wir haben sieben Varianten, wie der Krieg in Tschetschenien zu beenden ist. Sie verstehen selber, werden die Truppen abgezogen, kommt es zu einem Gemetzel in ganz Tschetschenien.
Weil Dudajew nach Jetzins Auffassung metzeln wird.
Werden sie nicht abgezogen, so brauche ich mich gar nicht um das Präsidentenamt zu bemühen. Das Volk wird mich nicht wählen. Sie sehen, was dabei herauskommt. Wo ist der Kompromiß? Man muß einen solchen Kompromiß finden, der sowohl dem einen als auch dem anderen sowie dem tschetschenischen Volk paßt.
Eine gute Analyse Ihres Freundes Boris Jelzin. Haben Sie ihm denn nun geholfen? Sie haben mit dem Besuch, der so einseitig war, eigentlich nichts Ungewöhnliches getan. Vielmehr haben Sie das getan, was man in Rußland als Routinebesuch im Wahlkampf macht. Das ist auch so verstanden worden.
- Ich rege mich doch gar nicht auf.
Ich ärgere mich eher darüber, daß Sie sich nicht aufregen, daß es einen solchen ineffektiven Bundeskanzler gibt, der, wenn er nach Moskau fährt, nicht einmal sein Ziel erreicht, Boris Jelzin wirkungsvoll im Wahlkampf zu helfen.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, es hätten tun wollen, hätten Sie bei Ihrem Besuch auch die Damen Kuklina und Melnikova einschließen müssen. Warum die beiden? Kennen Sie sie überhaupt? Es sind die Vorsitzenden der russischen Soldatenmütter, Frauen, die tapferer waren als die meisten, die in Tschetschenien mit Waffen um sich geschossen haben.
Warum hätten Sie mit den beiden Damen Kontakt aufnehmen sollen? Sie hätten das ja aus Protokollgründen nicht selber tun müssen; es hätte vielleicht Leute aus Ihren Reihen gegeben, die das verständlicherweise hätten tun können. Das hätte den Erfolg gehabt, daß etwas für Jetzins Wahlkampf geschehen wäre und daß das beachtet worden wäre, was Karsten Voigt angedeutet hat, nämlich daß die Freundschaft zu Boris Jelzin doch nicht identisch ist mit der Freundschaft zum russischen Volk. Es wäre dokumentiert worden, daß das deutsche Volk die friedlichen Leute in Rußland allesamt liebt und Freundschaft zu jenen ausgedrückt haben möchte, die Frieden in Rußland verwirklicht sehen wollen.
Nach meiner Einschätzung sind diese russischen Soldatenmütter die einzigen, die Jelzin die Sorge nehmen könnten, daß Dudajew ein Gemetzel anrichten würde, wenn die russischen Truppen zurückgezogen würden. Sie hätten sie nur bitten müssen, gemeinsam mit tschetschenischen Frauen dorthin zu gehen, wo jetzt die russischen Truppen stehen, und als Frauen die tschetschenische Bevölkerung vor einem Angriff Dudajews zu schützen. Nach meiner Überzeugung haben diese Frauen das Vertrauen Dudajews.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben versäumt, etwas Ungewöhnliches zu tun, das auch die Aufmerksamkeit des russischen Volkes auf diesen Besuch zur Wahlkampfhilfe gelenkt hätte. Vielleicht hätten Sie damit ein wenig von Ihrem Ansehen, das Sie ja auch in Rußland haben, auf Jelzin übertragen können. Statt dessen ist das Gegenteil eingetreten: Ihr Ansehen in Rußland ist gemindert worden, weil Jelzins Ansehen unglaublich gering ist. Denn die einzige Antwort, die er auf die Tschetschenien-Frage, die er selber für die wahlentscheidende gehalten hat, gibt, ist - wie sich in den Tagen Ihres Besuches zeigte -, auch inguschetische Dörfer so niederzumachen, wie es bei dagestanischen geschah.
Es ist keine Wahlkampfzeit, in der ein Jelzin erfolgreich durch Gratschow und seine Truppen operieren ließ. Vielmehr war in dem, was die Besuchten gemacht haben, nichts von den Worten zu spüren, die Sie in Sankt Petersburg dankenswerterweise in ein Gästebuch geschrieben haben: „Die alles entscheidende Lehre aus der Barbarei dieses Jahrhunderts lautet: Der Frieden beginnt mit der Achtung der unbedingten und absoluten Würde des einzelnen Menschen." Diese Worte hätten Sie über die russischen Soldatenmütter besser ausdrücken lassen können als durch die von Ihnen besuchten persönlichen Freunde.
Der Kollege Dr. Alfred Dregger hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne Rußland wird es keine europäische Friedensordnung geben.
Diese Tatsache hätte im Mittelpunkt unserer Debatte stehen sollen, und nicht die Frage, ob, wann, wie und unter welchen Umständen der Präsident Rußlands Staatsmänner aus dem Westen empfängt.
Ich will das nicht im einzelnen kritisieren, was gesagt wurde. Aber ich kritisiere die arrogante Abwertung des russischen Staatsoberhauptes. Ich glaube, daß das keine gute Politik für Deutschland ist.
Ich möchte mich davon ausdrücklich distanzieren.
Ich möchte Helmut Kohl dazu gratulieren, daß er es versteht, zu ausländischen Staatsmännern, die für uns wichtig sind, ein persönliches Vertrauensverhält-
Dr. Alfred Dregger
nis aufzubauen. Er versteht es wirklich meisterhaft, auf diese Weise die deutschen Interessen zu fördern.
- Mit großem Erfolg. Ich kann nur hoffen, daß wir in Zukunft nie Kanzler haben werden, die den Unwillen der Menschen, der Ausländer, der Nachbarn herbeirufen, sondern Kanzler wie Helmut Kohl, die Sympathie für Deutschland erwerben.
Wenn Friedensordnung für Europa die Hauptsache für uns ist, dann kann man folgern: Die Reise war notwendig, und sie war auch erfolgreich. Die Kritik, die häufig in Beckmesserei gipfelte, ist völlig unbegreiflich, wenn man weiß, was zum Beispiel einige angesehene Journalisten dazu sagen.
Walter Stützle schrieb als Leitsatz seines Kommentars im „Tagesspiegel" mit der Überschrift „Eine Reise im Interesse Europas":
Schon viele Kanzler haben Moskau besucht - aber eine Reise wie Kohl hat noch keiner von ihnen gemacht. Nicht mit leeren Händen, sondern mit schwerem Gepäck und spürbar gestiegenem Gewicht kehrt der Bundeskanzler von seiner Rußlandvisite an den Rhein zurück.
Für die Allianz, nicht nur für Deutschland, ist Helmut Kohl an die Moskwa gereist, um Jelzin zu versichern, daß deutsche Einheit und Rußlands Zweiplus-Vier-Vertragstreue nicht mit dem Versuch beantwortet werden, die Großmacht Rußland aus Europa auszuschließen.
Das schreibt kein Parteigänger von Helmut Kohl; das sagt ein erfahrener Journalist, der zur Zeit der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt Planungschef im Verteidigungsministerium gewesen ist. Recht hat er: Jeder Versuch, die Großmacht Rußland aus Europa herauszudrängen, würde gefährden, was wir mit der Überwindung der deutschen Teilung an Stabilität gewonnen haben.
Rußland muß umgekehrt begreifen, daß kleine und mittlere Nachbarländer Sicherheit in der Allianz suchen. Es sind Länder, die nicht Rußland, aber der Sowjetunion unterworfen waren und jetzt von dem Gerede über das „nahe Ausland" irritiert sind, das sie aus Rußland vernehmen. Es geht nicht um die Osterweiterung der NATO, es geht um existentielle Sicherheitsinteressen kleiner und mittlerer Länder, die an der Westgrenze Rußlands liegen und Sicherheit suchen. Wir müssen dafür werben, daß auch Rußland das begreift.
Das ist ein gesamteuropäisches Problem, dessen Lösung im russischen wie im polnischen, im deutschen und im Interesse aller anderen europäischen Staaten liegt. Deshalb muß man mit der russischen Führung über dieses Problem sprechen. Das hat der Bundeskanzler getan. Ihm ist es gelungen, einen Dissens in dieser Frage einzugrenzen, einen drohenden Konflikt zu vermeiden und wesentlich dazu beizutragen, daß ein solcher Konflikt im russischen Wahlkampf nicht außer Kontrolle gerät. So haben es auch russische Oppositionspolitiker gesehen.
Da Kohl in Abstimmung mit dem amerikanischen und dem französischen Präsidenten gereist ist, hat er mit seiner Initiative der gesamten Allianz in ihrem Verhältnis zu Rußland einen wichtigen Dienst erwiesen.
Der Kanzler hat Zeit gewonnen und den Weg für eine gemeinsame Lösung offengehalten. Wie diese aussehen könnte, kann ich hier nicht in wenigen Sekunden darlegen. Nur so viel: Die Lösung muß von der Erkenntnis ausgehen, daß Sicherheit nicht gegeneinander, sondern nur miteinander geschaffen werden kann, daß dazu die Europäische Union und die Russische Föderation zusammenwirken müssen. Beide sind Staatenunionen. Ihre Partnerschaft muß vertraglich geregelt werden und alle Politikbereiche einschließen, die für die Nachbarschaft von Europäischer Union und Russischer Föderation von Bedeutung sind.
Eine solche Lösung würde niemanden benachteiligen oder gar bedrohen. Sie würde auch das Prestigebedürfnis Rußlands nicht verletzen, da sie nur einvernehmlich mit Rußland vereinbart werden kann. Diese Lösung würde gleichberechtigte und gleichgewichtige Beziehungen entwickeln, die in der Lage wären, eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen.
Freiheit und Friede auf Dauer für ganz Europa, das brauchen wir alle.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagungsordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
- Drucksache 13/3842 -
Die im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie gestellten Fragen 1 und 2 der Kollegin Simone Probst mögen bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Das gleiche gilt für die Fragen 3 und 4 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die der Kollege Hans Wallow gestellt hat. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Das gleiche gilt für die Fragen 5 und 6 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft, die die Kollegin Marion Caspers-Merk gestellt hat. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ebenso betrifft dies die Frage 7 des Kollegen Egon Jüttner aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Zur Beantwortung der Fra-
Vizepräsident Hans Klein
gen steht uns die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8, die der Kollege Klaus Kirschner gestellt hat, auf:
Wie hoch beläuft sich nach Vorausschätzung des Bundesministers für Gesundheit die nach § 270a SGB V zu ermittelnde durchschnittliche Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einkommen der Mitglieder aller Krankenkassen für das Jahr 1996, die der Bundesminister für Gesundheit bis zum 15. Februar eines jeden Jahres zu treffen hat?
Ich bitte um Beantwortung, Frau Bergmann-Pohl.
Herr Präsident! Herr Kollege Kirschner, nach § 270a in Verbindung mit § 270 SGB V schätzt der Bundesminister für Gesundheit zwar nicht die beitragspflichtigen Einkommen, aber die beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder aller Krankenkassen. Diese Regelung diente der auf diese Größe bezogenen Ausgabenbegrenzung in zentralen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung im Budgetierungszeitraum 1993 bis 1995. Deshalb sieht der Bundesminister für Gesundheit für den Zeitraum ab 1996 keine gesetzliche Notwendigkeit einer amtlichen, im Bundesanzeiger bekanntzugebenden Schätzung der beitragspflichtigen Einnahmen nach § 270a SGB V.
Der Bundesminister für Gesundheit hat den Mitgliedern der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen heute eine Einschätzung zur Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung als Hilfestellung und Orientierungsgröße für die Umsetzung der Empfehlungsvereinbarungen der Konzertierten Aktion vom 14. September 1995 schriftlich mitgeteilt. Diese Orientierungsgröße geht von einer Steigerungsrate der beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied um 1,7 Prozent in den alten Bundesländern und 4,5 Prozent in den neuen Bundesländern aus.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Frau Staatssekretärin, Sie sagen, daß der Bundesgesundheitsminister der Konzertierten Aktion einen Zuwachs der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der Krankenkassen um 1,7 Prozent in den alten und 5 Prozent in den neuen Bundesländern empfohlen hat. Auf welcher Basis beruhen diese Annahmen?
Nach der Begründung zu § 270a SGB V hat die Vorausschätzung die wirtschaftliche Entwicklung gemäß den Daten des jeweiligen Jahreswirtschaftsberichts zugrunde zu legen. Damit baut diese Orientierungsgröße auf einer Schätzung auf. Die völlig anders verlaufene als geschätzte wirtschaftliche Entwicklung in 1995 hat im übrigen nicht nur Forschungsinstitute, sondern auch die Krankenversicherungen überrascht.
Im übrigen möchte ich noch korrigieren, Herr Kollege Kirschner: In den neuen Bundesländern handelt es sich nicht um 5 Prozent, sondern 4,5 Prozent.
Dann habe ich das akustisch falsch verstanden. Ich bitte um Entschuldigung.
Eine zweite Zusatzfrage? - Nein.
Dann rufe ich die Frage 9 auf:
Wie lautete die jeweilige Vorausschätzung des Bundesministers für Gesundheit nach § 270a SGB V in den Jahren 1993, 1994 und 1995, und wie sieht die endgültige Veränderungsrate aus, die der Bundesminister für Gesundheit jeweils bis zum 1. Juli für das Vorjahr festzustellen hat?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Herr Kollege Kirschner, die Vorausschätzung nach § 270a SGB V und die endgültigen Ergebnisse lauten für die alten Länder - jetzt wird es etwas kompliziert, weil ich eine Tabelle vorlesen muß -: Vorausschätzung 1993 3,1, Ergebnis 4,0. Vorausschätzung 1994 3,2; Ergebnis 2,4. Vorausschätzung 1995 1,7.
Für die neuen Länder: Vorausschätzung 1993 9,5, Ergebnis 16,5. Vorausschätzung 1994 7,5, Ergebnis 8,9. Vorausschätzung 1995 3,5. Jeweils in Prozent.
Die endgültigen Ergebnisse für 1995 werden gemäß § 270a SGB V bis zum 1. Juli 1996 festgestellt.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, wenn ich Sie richtig verstanden habe, war beispielsweise 1994 in den alten Bundesländern die Vorausschätzung höher als das tatsächliche Ergebnis. Wie sollen die Krankenkassen das verrechnen? Sollen die Beträge im nachhinein zurückgefordert werden, oder wie soll das im einzelnen funktionieren?
Die Krankenkassen sind verpflichtet, die Leistungserbringer im Budgetierungszeitraum zur Rückzahlung aufzufordern. Das wird bei den neuen Verhandlungen in der Regel durch Verrechnung geschehen.
Zweite Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, wenn die Vorausschätzung zum Beispiel für 1994 3,2, das Ergebnis aber nur - wenn ich das richtig notiert habe - 2,4 betrug: Wie soll das im einzelnen funktionieren? Es geht hier ja um Milliarden. Wie sollen diese Summen konkret zurückgefordert werden?
Eine entsprechende Verrechnung muß - so hatte ich das eben be-
Metadaten/Kopzeile:
7778 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Februar 1996
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohlantwortet - Berücksichtigung bei den Vertragsverhandlungen finden.
Werden zu dieser Frage aus dem Haus Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Die Fragen 10 bis 17, gestellt von den Kollegen Dr. Lippelt, Gansel, Frau Dr. Leonhard und Erler, mögen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Frage 18 des Kollegen Cem Özdemir wurde zurückgezogen.
Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Die Fragen 19 und 20 sowie die Fragen 23 bis 26, gestellt von den Kollegen Conradi, Dr. Mahlo und Schlee, sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Fragen 21 und 22 des Kollegen Dr. Hirsch wurden zurückgezogen.
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Es wurde um schriftliche Beantwortung der Fragen 27 und 28 des Kollegen Ulrich Heinrich, der Frage 29 des Kollegen Simon Wittmann und der Frage 30 des Kollegen Manfred Such gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe auf den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl zur Verfügung.
Ich rufe auf die Frage 31, die unser Kollege Jürgen Koppelin gestellt hat:
Hat die Meiereigenossenschaft HANSA-Milch Mecklenburg-Holstein eG für ihr Unternehmen in Upahl Fördermittel oder sonstige finanzielle Hilfen durch den Bund oder die EU erhalten, und, wenn ja, in welcher Höhe sind diese Mittel zur Verfügung gestellt worden (vgl. „Segeberger Zeitung" vom 14. und 16. Februar 1996)?
Ich bitte Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Herr Kollege Koppelin, Antragsteller und Begünstigter für die Förderung der Molkereiinvestitionen in Upahl war die Offene Handelsgesellschaft Schweriner Molkerei und Dauermilchwerk GmbH & Co, an der durch Fusionen der ursprünglichen Gesellschafter die HANSA-Milch Mecklenburg-Holstein eG seit 1991 maßgeblich beteiligt ist.
Die Höhe der Fördermittel kann ich nicht nennen, da die Daten dem Betriebsgeheimnis unterliegen. Nach § 30 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes dürfen Betriebsgeheimnisse nicht offenbart werden. Ich bitte um Verständnis.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß ich gerade für Ihre letzte Äußerung kein Verständnis habe; denn es sind immerhin Steuergelder, die geflossen sind. Ich denke, daß wir als Abgeordnete schon erfahren sollten, wohin unsere Steuergelder fließen.
Darf ich Sie in dem Zusammenhang weiter fragen: Wenn öffentliche Gelder fließen, dann muß es wahrscheinlich auch ein Gutachten oder ein Konzept dieser Meierei gegeben haben, auf Grund dessen die öffentlichen Mittel geflossen sind?
Das ist richtig. Die Förderung mit Mitteln aus der EG und mit Bundes- bzw. Landesmitteln setzt ein entsprechendes Förder- und Unternehmenskonzept voraus. Ein derartiges Konzept wurde erarbeitet. Zur Kontrolle des Unternehmenskonzepts wurde zusätzlich ein Gutachter aus Weihenstephan, Dr. Öttel, eingeschaltet, der sich ebenfalls mit dem Unternehmenskonzept auseinandergesetzt hat.
Herr Staatssekretär, können Sie mir in kurzen und knappen Worten sagen, was der Inhalt dieser Gutachten war? Hatten sie zum Beispiel zum Inhalt, daß eines Tages Meiereien in Schleswig-Holstein geschlossen werden müssen, nur weil öffentliche Mittel nach Mecklenburg-Vorpommern in eine Großmeierei fließen, die dort neu aufgebaut worden ist?
Nein, das Ziel der Förderung von Vermarktungseinrichtungen der Landwirtschaft oder der Ernährungswirtschaft ist es, die Strukturen effizienter zu gestalten und überholte Strukturen abzubauen. Diesem Ziel dient auch die Förderung in Upahl.
Herr Bredehorn, bitte.
Herr Staatssekretär, auch ich war über Ihre Aussage etwas verwundert - es sind immerhin Steuermittel für die öffentliche Förderung geflossen -, daß das dem Betriebsgeheimnis unterliegen soll, wenn wir Steuergelder in nicht unerheblicher Höhe ausgeben. Ich habe der Frage des Kollegen Thönnes entnommen, daß es sich um Bundes- und Europamittel in Höhe von 100 Millionen DM handelt. Können Sie das bestätigen?
Nein.
Herr Kollege Carstensen, der Kollege Bredehorn hatte sich vor Ihnen zu Wort gemeldet. Deshalb hat er zuerst gefragt. Bitte sehr.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Februar 1996 7779
Herr Präsident, ich würde nie an Ihrer Gerechtigkeit zweifeln, wenn es um die Worterteilung geht.
Auch ansonsten?
Darüber müßten wir uns an anderer Stelle unterhalten. Das möchte ich hier nicht diskutieren, Herr Präsident, wenn es Ihnen recht ist.
Herr Staatssekretär, wenn es ein Gutachten gegeben hat und auf Grund des Gutachtens Fördermittel geflossen sind, stimmt es, daß die Baumaßnahmen erheblich teurer gewesen sind, und wissen Sie, ob jemand kontrolliert hat, ob die Baumaßnahmen in Upahl auch im Rahmen der Kosten geblieben sind, so wie sie hätten sein sollen und wie sie Grundlage für die Fördermittelzuteilung gewesen sind?
Daß es Probleme gegeben hat, ist offensichtlich. Der Betrieb in Upahl ist nicht so angelaufen wie geplant. Es gibt auch Auseinandersetzungen mit der Firma, die die Meierei in Upahl gebaut und eingerichtet hat.
Frau Kollegin Peters.
Herr Staatssekretär, für wieviel Kilo Milch war diese Molkerei ausgelegt, und wieviel Kilo Milch werden dort derzeit angeliefert?
- Nein, die werden nach Kilo bezahlt, nicht nach Litern, wenn ich das so sagen darf.
Ich will das getrennt für schleswig-holsteinische und mecklenburg-vorpommersche Erzeuger - es sind insgesamt drei Werke betroffen, sie bilden ein Unternehmen - beantworten. Zwei Drittel der Milcherzeuger kommen aus Schleswig-Holstein; sie liefern insgesamt 370 000 Tonnen an. Ein Drittel der Milcherzeuger kommt aus Mecklenburg-Vorpommern; sie liefern 230 000 Tonnen Milch an.
Frau Kollegin Peters, es gibt immer nur eine Frage, die man als Zusatzfrage stellen kann, wenn man nicht selbst Fragesteller ist.
Gibt es weitere Fragen aus dem Hause zu diesem Punkt?
- Nein, Sie haben nur eine Frage.
- Einen Moment, wenn das eine Doppelfrage war und der zweite Teil dieser Frage noch nicht ganz beantwortet wurde, bitte ich den Herrn Staatssekretär, das jetzt zu tun.
Ich habe das aber akustisch nicht ganz genau mitbekommen.
Frau Kollegin Peters, wiederholen Sie doch den zweiten Teil.
Ich habe zunächst gefragt - das ist beantwortet worden -, wieviel Kilo Milch angeliefert werden. Aber ich habe zudem gefragt, für wieviel Kilo Milch das ausgelegt war. Das ist nämlich die entscheidende Frage; dann kommen wir der Sache näher. Meine Kollegen haben eben mitgeschrieben, weil ich das nicht so schnell konnte. Wir rechnen dann gleich einmal nach.
Frau Kollegin, ich kann Ihnen für die einzelnen Werke die Aufteilung jetzt nicht nennen. Ich gebe Ihnen das gerne schriftlich.
Ich rufe die Frage 32, die ebenfalls der Kollege Koppelin gestellt hat, auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, und, wenn ja, wie reagiert sie darauf, daß die HANSA-Milch aufgrund von Überkapazitäten im Werk Upahl ihre Werke in Schleswig-Holstein schließen und ca. 300 Beschäftigte entlassen will, obwohl diese Firmen erfolgreiche Bilanzen ausweisen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Der Bundesregierung ist bekannt, daß die HANSAMilch - ich nenne sie abgekürzt einmal so - die Schließung ihrer Werke in Rendsburg und Leezen erwogen hat. Nach der „ HANSANO" -Presseerklärung vom 26. Februar 1996 hat die HANSA-Milch hierzu jedoch noch keine endgültigen Entscheidungen getroffen. Zur Zeit werden demnach Möglichkeiten geprüft, die Produktion an diesen Standorten aufrechtzuerhalten.
Zusatzfrage.
Abgesehen davon, Herr Staatssekretär, daß Sie die Erklärung so nicht richtig wiedergegeben haben, weil das Werk Rendsburg durchaus in Gefahr ist - für Leezen gibt es eine gewisse Lösung -, darf ich Sie fragen, ob sich die Landesregierung von Schleswig-Holstein in dieser Frage an das Bundeslandwirtschaftsministerium gewandt hat und, wenn ja, welche Vorschläge das schleswigholsteinische Landwirtschaftsministerium gemacht hat?
Eine Initiative aus Schleswig-Holstein ist mir nicht bekannt.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie dann fragen: Wenn von der HANSA-
Milch in Erwägung gezogen wird, diese Werke oder zumindest das Werk Rendsburg zu schließen, weil man die Milchmenge in Upahl braucht, halten Sie es dann für vertretbar, daß Lebensmittel - in diesem Fall also Milch - über so große Entfernungen kutschiert werden, um sie zu einer Meierei zu bringen, und daß eine andere Meierei, die in der Nähe ist und nur wenige Kilometer von den Bauern entfernt liegt, einfach dichtgemacht wird?
Das ist eine ausgesprochen unternehmerische Entscheidung, für die wir weder Verantwortung zu tragen noch fachliche Beurteilungen anzustellen haben. Ich kann nur darauf verweisen, daß es auch im norddeutschen Raum Molkereien und Meiereien gibt, die ihre Milch aus einem Einzugsgebiet mit einem entsprechend großen Radius beziehen.
Herr Kollege Carstensen.
Herr Staatssekretär, können Sie vielleicht sagen, wie hoch die Milchauszahlungspreise bei den Bauern sind, die nach Leezen liefern - also letztendlich in die Meierei Upahl -, im Vergleich zu den Bauern, die dort in der Nähe ansässig sind? Haben Sie dafür Verständnis, daß es Bauern gibt, die sagen: Ich bekomme bei der Auszahlung - die entsprechende Zahl werden Sie uns wahrscheinlich gleich nennen - ungefähr 300 DM weniger oder manchmal noch weniger für eine Kuh im Jahr; bei 60 Kühen sind das Gewinnverluste von ungefähr 20 000 DM. Können Sie verstehen, daß die Bauern bei so etwas auf die Barrikaden gehen?
Herr Kollege Carstensen, dazu kann ich Ihnen noch
eine zusätzliche Information geben: Etwa 380 Milcherzeuger mit insgesamt 95 000 Tonnen Milch haben inzwischen die Mitgliedschaft bei dieser Meierei gekündigt; wohl aus den Überlegungen heraus, die Sie zur Grundlage Ihrer Frage gemacht haben.
Jetzt zu den Milchauszahlungspreisen: Der Milchauszahlungspreis liegt bei der HANSA-Meierei
- da haben Sie schon recht; ich schaue gerade, damit ich es Ihnen ganz exakt sagen kann - bei 51,2 Pfennig. Der durchschnittliche Milchauszahlungspreis liegt in Mecklenburg-Vorpommern bei 52,6 Pfennig und in Schleswig-Holstein bei 56,3 Pfennig. Im Januar 1996 wurden von der Meierei 54 Pfennig pro Kilogramm ausbezahlt.
Herr Kollege Bredehorn.
Herr Staatssekretär, Sie haben uns soeben gesagt, daß die Bundesregierung nicht in unternehmerische Entscheidungen eingreifen könne. Das ist völlig richtig. Aber hat denn die Bundesregierung bei der Genehmigung nicht unerheblicher Fördermittel - das haben wir eben besprochen - gewisse Kriterien beachtet, die sicherlich auch in dem Gutachten gestanden haben? Wenn Sie ein Gutachten gehabt haben, haben Sie doch sicherlich auch gewisse Kriterien beachtet. Können Sie dazu etwas sagen?
Die Fördermittel werden zum ersten vom jeweiligen Bundesland und zum zweiten von der EG genehmigt. Diese Fördermittel sind in der EG in drei Stufen genehmigt worden. Ich kann Ihnen die Daten noch nachliefern.
Auch das Land hat die Prüfung des Förderkonzepts vorgenommen. Die Prüfung des Förderkonzepts muß ergeben, daß der Zweck der Förderung, nämlich eine strukturelle Verbesserung und eine Effizienzsteigerung der Verarbeitung, erreicht wird. Diese Prüfung wird nicht durch das Bundeslandwirtschaftsministerium vorgenommen, sondern einerseits vom Land und andererseits von der EG.
Weitere Fragen?
Jetzt habe ich die Daten gefunden. Darf ich sie gerade noch nachliefern, Herr Präsident?
Bitte.
Die Europäische Kommission hat die erste Entscheidung am 24. November 1992, dann die Entscheidung für die Aufnahme des zweiten Bauabschnitts am 21. Dezember 1993 und für die Genehmigung der Fördermittel für die Phase 1994 bis 1999 im August 1994 getroffen. Das Konzept der Gesellschafter - das soll noch ergänzend gesagt werden - zielte von vornherein auf eine Konzentration der Milchverarbeitung in Upahl ab.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage? - Bitte sehr, Herr Kollege Küster.
Herr Staatssekretär, welches Land hat dieses Konzept geprüft?
Das jeweilige Bundesland.
Moment, Herr Staatssekretär. Diese Frage ist eine völlig neue Frage und steht nicht im Zusammenhang mit der Frage.
Nein, nein, das gehört genau dazu.
Entschuldigung, hier steht: „Ist der Bundesregierung bekannt und wenn ja, wie reagiert sie darauf, daß die HANSA-Milch aufgrund von Überkapazitäten ... schließen ... will ...?" Diese Frage hätten Sie zur vorhergehenden Frage stellen müssen.
Der Staatssekretär hat genau dazu geantwortet, und dazu frage ich.
Entschuldigung, die Zusatzfragen müssen sich auf die Fragen beziehen, nicht auf die Antworten. Das ist leider so. Das Thema läuft ja noch eine Weile weiter, Herr Kollege Küster.
Dann machen wir das bei der nächsten Frage geschickter.
Herr Präsident, wenn Sie die Frage zugelassen hätten - -
Nein, bitte.
Entschuldigung, die Sitzungsleitung findet hier statt, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe jetzt die Frage 33 auf, die der Kollege Franz Thönnes gestellt hat:
Wie reagiert die Bundesregierung auf die Arbeitsplatzverluste, die mit den Planungen der Geschäftsleitung der HANSAMilch Genossenschaft einhergehen, wonach zur Erhöhung der Rentabilität des mit Bundes- und Europamitteln in Höhe von 100 Mio. DM geförderten Werks in Upahl die bisherigen Produktionsstandorte in Leezen mit 100 Arbeitsplätzen und in Rendsburg nut 120 Arbeitsplätzen geschlossen werden sollen, im Hinblick auf die (weitere) mit Auflagen verbundene Förderung des Werks in Upahl?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Jeder Arbeitsplatzverlust ist bedauerlich und gleichzeitig eine Herausforderung für Wirtschaft und Politik - hier besonders der Landes- und Kommunalpolitik -, Initiativen für neue Arbeitsplätze zu ergreifen. Die Förderung von Vermarktungsunternehmen für landwirtschaftliche Erzeugnisse verfolgt das Ziel, effiziente und wettbewerbsfähige Strukturen zu schaffen.
Diesem Ziel dient auch die Förderung des Molkereineubaus in Upahl. Bei den erwogenen, aber offensichtlich noch nicht endgültig beschlossenen Schließungen handelt es sich um eine unternehmensinterne Entscheidung der HANSA-Milch. Das Unternehmen hat in der Zwischenzeit eine Bürgschaft beantragt. Hierüber ist noch nicht entschieden. Für die Vergabe von Bürgschaften ist das Vorliegen eines tragfähigen Unternehmenskonzepts maßgebend.
Zusatzfrage, Herr Kollege Thönnes.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß es sich bei den Mitteln, die vergeben worden sind, um Mittel handelt, deren Prüfung durch das Land Mecklenburg-Vorpommern erfolgt ist? Könnten Sie uns die in meiner Anfrage angegebene Höhe bestätigen bzw. wenn es sich nicht um diese Höhe handelt, sie Ihrerseits quantifizieren?
Zum ersten Teil: ja. Den zweiten Teil kann ich nicht bestätigen. Ich verweise auf meine Antwort auf die Frage von Herrn Koppelin.
Die Halbfrage war noch, ob Sie sie denn quantifizieren können und wenn ja, wie.
Das war der zweite Teil der Frage.
Ich habe schon geantwortet.
Herr Kollege Thönnes, ich weiß nicht, ob Sie vorhin anwesend waren.
Ich war dabei.
Der Herr Staatssekretär hat bereits dem Kollegen Koppelin diese Auskunft unter Hinweis auf das Unternehmenskonzept und die Geheimhaltungspflicht der Bundesregierung verweigert. Die Antwort ist also bereits einmal verweigert.
Gut.
Sie haben aber jetzt eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben aus Ihrer Antwort erkennen lassen und es vorhin in der Beantwortung etwas ähnlich formuliert, daß durch die Vergabe der Mittel beabsichtigt werde, neue Strukturen aufzubauen, überholte Strukturen zu verändern, und haben darauf hingewiesen, daß die Mittel von vornherein auf eine Konzentration angelegt seien. Wenn ich Ihre Zahl zugrunde lege, insgesamt 600 Millionen Kilogramm Milch, und zwar zwei Drittel aus Schleswig-Holstein - 370 Millionen Kilogramm - und ein Drittel aus Mecklenburg-Vorpommern - 230 Millionen Kilogramm -, heißt das dann, daß, wenn ich die intern vor Ort mit der Verlagerung der dortigen Milchkapazitäten von 240 Millionen Kilogramm begründete Schließung mit berücksichtige, dort Kapazitäten von 840 Millionen Kilogramm geschaffen worden sind und insofern von vornherein einkalkuliert worden ist, daß die beiden anderen Meiereien geschlossen werden?
Ich habe bereits in meiner Antwort an Herrn Koppelin darauf verwiesen, daß das Konzept der Gesellschafter von vornherein auf eine Konzentration der Milchverarbeitung ausgelegt war.
Herr Kollege Küster.
Ich möchte noch einmal nachfragen, wann die Mittel seitens der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern genehmigt worden sind und wann seitens der Bundesregierung die Mittel bereitgestellt worden sind.
Angaben über die Bewilligungsbescheide der Landesbehörden liegen mir nicht vor.
Herr Kollege Carstensen.
Herr Staatssekretär, der Kollege Thönnes hat gefragt, wie die Bundesregierung reagiert. Können Sie mir bitte sagen, wie denn die betroffene Landesregierung reagiert, denn die Arbeitsplätze, die eventuell verlustig gehen, sind im Lande Schleswig-Holstein. Können Sie bestätigen, daß der Herr Landwirtschaftsminister bei der Betriebsversammlung, die in Leezen stattfand, nicht erschienen ist mit dem Hinweis, daß er einen Termin bei der IG Metall in Hamburg habe?
Ich kann das nicht bestätigen und auch nicht dementieren. Aber natürlich gehört es in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Landwirtschaftsministers, sich um eine Genossenschaftsmolkerei, um entsprechende Arbeitsplätze und um die Effizienzsteigerung einer solchen Molkerei zu kümmern.
Herr Kollege Koppelin.
Herr Staatssekretär, wie kann man öffentliche Mittel bewilligen bzw. bekommen wie bei dem Werk in Upahl, wenn man ein Werk plant und baut, das viel zu groß ist, und von vornherein weiß, daß es die notwendige Milchmenge gar nicht gibt und dort bereits eine große Meierei stillgelegt worden ist? Ich rate Ihnen, sich dieses Werk anzuschauen. Das Inventar ist völlig neu. Das ist alles mit Steuergeldern bezahlt, und plötzlich kann kein Mensch mehr diese Meierei gebrauchen, weil es keine Zulieferer mehr gibt, da alles nach Upahl soll. Können Sie sich vorstellen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist, wenn sie sieht, was mit Steuergeldern bezahlt worden ist?
Ich kann mir die Stimmung durchaus vorstellen.
Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, wurde dieser neue Betrieb in den neuen Bundesländern nicht gleich unter dem Gesichtspunkt geplant, die alten Molkereien aufzulassen? Wurden mit öffentlichen Geldern nicht Arbeitsplätze vernichtet?
Die Zielsetzung der Förderung von Vermarktungseinrichtungen ist die Effizienzsteigerung und Strukturverbesserung. Diesem Ziel diente diese Förderung von Anfang an. Das hat sowohl die zuständige Landesregierung als auch die EU-Kommission gewußt, die in den von mir vorgetragenen drei Schritten die Genehmigung erteilt hat.
Frau Kollegin Peters.
Herr Staatssekretär, hat auch die vielleicht nicht zuständige Landesregierung von Schleswig-Holstein, als das Konzept genehmigt wurde, gewußt, daß damit mittelfristig die Schließung der beiden Werke in Schleswig-Holstein ein-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Februar 1996 7783
Lisa Petershergehen würde, oder ist das nur Sache der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern gewesen?
Ich kann Ihnen nicht sagen, ob die Landesregierung Schleswig-Holstein darüber informiert war oder nicht. Ich meine, daß in einem Land der Größenordnung Schleswig-Holsteins der zuständige Landwirtschaftsminister wissen muß, was in den drei wichtigsten Meiereien seines Landes vorgeht.
Weitere Fragen zur Frage 33 werden aus dem Haus nicht gestellt.
Dann rufe ich die Frage 34, die ebenfalls der Kollege Thönnes gestellt hat, auf:
Welche Möglichkeiten einer konkreten Hilfe zur Sicherung der bedrohten Arbeitsplätze an den schleswig-holsteinischen Produktionsstandorten sieht die Bundesregierung?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um die Beantwortung.
Herr Kollege Thönnes, es ist Aufgabe des Unternehmens, in voller Verantwortung für die Bauern als Eigentümer und Rohstofflieferanten und für die Arbeitskräfte, die zum Teil über viele Jahre hinweg durch ihr Können und ihren Fleiß den wirtschaftlichen Erfolg der Milchwerke in Leezen und Rendsburg begründet haben, die erwogenen Stillegungen der Produktionsstandorte auf ihre Notwendigkeit hin zu überprüfen und unvermeidbare Schließungen sozialverträglich zu gestalten.
Die Bundesregierung kann auf die Entscheidungen der Unternehmensführung keinen Einfluß nehmen und auch deren unternehmerische und menschliche Verantwortung nicht tragen, geschweige denn diese ersetzen. Die Bundesregierung ist gerne bereit, durch Herrn Professor Hülsemeyer, den anerkannten Leiter des Instituts für Betriebswirtschaft und Marktforschung der Lebensmittelverarbeitung der Bundesanstalt für Milchforschung in Kiel, einen fachlichen Beitrag zur Erarbeitung einer tragfähigen Konzeption zu erbringen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Thönnes.
Hat die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, Einfluß auf die Entwicklung der Förderkriterien gehabt, auf Grund deren öffentliche Mittel geflossen sind, und wenn ja, wie hat sie diesen Einfluß ausgeübt? Ist dabei der Komplex der Arbeitsplatzsicherheit berücksichtigt worden? Sind die Fördermittel mit Auflagen versehen worden?
Die Entwicklung dieser Förderkonzeption wird im PLANAK - das ist ein gemeinsamer Ausschuß der
Landwirtschaftsminister der Länder und des Bundes - dargestellt und innerhalb - -
- „PLANAK" sagt Ihnen nichts?
- Der Kollege gibt Ihnen noch den entsprechenden Unterricht. Agrarpolitik ist eben ein sehr spezialisiertes Gebiet.
- Ich habe Ihnen gerade erklärt, wie die Fördergrundsätze erarbeitet werden, nämlich innerhalb des PLANAK, und zwar von der Bundesregierung, vertreten durch den Bundeslandwirtschaftsminister, und von den Länderlandwirtschaftsministern. Diese Fördergrundsätze werden in sehr partnerschaftlicher Zusammenarbeit entwickelt. Dort gibt es kaum Kampfabstimmungen; vielmehr erfolgt die Zusammenarbeit ganz erfreulich.
Zweite Zusatzfrage.
Können Sie mir zustimmen, daß die Förderkriterien, die unter Einflußnahme der Bundesregierung im PLANAK entwickelt werden, es möglich machen, daß mit öffentlichen Mitteln Überkapazitäten aufgebaut werden, die am Ende dazu beitragen, daß Arbeitsplätze in anderen Bereichen vernichtet werden?
Ich muß wiederholen: Die entscheidende Zielsetzung unserer Förderkonzeption ist es, in diesem Bereich Vermarktungsstrukturen effizienter zu gestalten, um durch Kostensenkung die Position der Erzeuger, nämlich der Bauern, zu stärken und den Nutzen der Verbraucher zu mehren.
Kollege Koppelin.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, welche Auswirkungen es haben könnte, wenn die 200 Landwirte, die bisher den schleswig-holsteinischen Meiereien geliefert haben und zukünftig nach Upahl liefern sollen, von ihrem Genossenschaftsrecht Gebrauch machten und mit einer Frist von zwei Jahren kündigten. Dann käme diese Milchmenge nicht nach Upahl. Was bedeutete das? Welche Auswirkungen hätte das für Upahl?
Es sind 380 Milcherzeuger mit insgesamt 95 000 Tonnen. Ich weiß gar nicht, ob diese Zahl so bleibt oder ob sich diese Zahl noch erhöht. Das ist von hier aus weiß Gott nicht zu beurteilen.
Jedenfalls wird diese Milchmenge mit Sicherheit dem Werk in Upahl fehlen, zumindest aber den beiden Werken in Leezen und Rendsburg abgehen, für die, wenn die Pressemitteilung von HANSANO ernst zu nehmen ist, der Versuch gemacht wird, sie weiterhin in Betrieb zu halten.
Weitere Zusatzfragen? - Bitte, Herr Kollege Carstensen.
Herr Staatssekretär, ich knüpfe an meine erste Zusatzfrage an. Kann man nicht Verständnis für die Landwirte haben, die auf Grund der Situation, in der sie sich jetzt befinden, Verluste im Vergleich zu ihren Nachbarlandwirten haben, wenn die Milch an die eine oder an die andere Meierei verkauft wird? Kann man nicht Verständnis für die Landwirte haben, die jetzt auf die Barrikaden gehen und sagen, sie seien nicht bereit, diesen Plan, wie auch immer erstellt und von wem auch immer unterstützt oder gefördert, von Schleswig-Holstein aus mit ihrem Geld - ich habe gerade einmal ausgerechnet: 370 000 Tonnen Milch mal 5 Pfennig pro Liter weniger ergeben mehr als 15 Millionen DM - zu unterstützen?
Ich habe sehr wohl Verständnis für den Ärger der Bauern, die verfolgen, welch gewaltige Anlaufschwierigkeiten das Werk in Upahl gehabt hat. Wenn man die Betriebsstatistik etwas näher anschaut, dann stellt man fest, daß in den ersten sieben Monaten des Jahres 1995 die HANSA-Milch durchschnittlich einen Betrag von 48,52 Pfennig pro Kilogramm erwirtschaftet hat.
Das heißt, der Auszahlungspreis, den ich vorhin genannt habe, liegt über dem eigentlich erwirtschafteten Preis. Wenn diese Zahlen bekannt sind - sie sind ja bekannt -, dann überlegt sich natürlich der einzelne Landwirt sein privates Verhalten; das ist ihm auch nicht zu verdenken.
Nur, einen Hinweis möchte ich noch geben: Es ist kein Einzelfall, daß es Anlaufschwierigkeiten bei Molkereien gibt. Dort wird immer die neueste Technik eingesetzt, und diese neueste Technik bereitet oft auch Probleme. Diese Anlaufschwierigkeiten hat es auch bei anderen Molkereien im Norden gegeben; das ist nicht nur ein schleswig-holsteinisches oder Mecklenburger Problem, sondern das ist mehr oder weniger bei allen neuen Molkereien anzutreffen.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung auf. Die Fragen 35 bis 40, gestellt von den Kollegen Haack und Ostertag sowie der Kollegin Mascher, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger zur Verfügung.
Frau Kollegin Geiger, die Fragen 41 und 42, gestellt von der Kollegin Dr. Angelika Schwall-Düren, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 43 auf, die der Kollege Volker Beck gestellt hat:
Wie reagiert die Bundesregierung politisch und dienstrechtlich - auch im Hinblick auf eine eventuelle Strafbarkeit - vor dem Hintergrund von Joachim Hoffmanns ehemaliger Zugehörigkeit zum Militärgeschichtlichen Forschungsamt auf dessen Veröffentlichung „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" und die darin enthaltenen Äußerungen zum „Auschwitzproblem" und die Aussagen, er habe für die „Gasangelegenheit" keine Beweise finden können, bei der Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden handele es sich „um eine Zahl der Sowjetpropaganda" und „eigentlich sei Stalin genauso schuld gewesen am Rußlandfeldzug wie Hitler" ?
Ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege Beck, das im Verlag für Wehrwissenschaften in München erschienene Buch „Stalins Vernichtungskrieg 19411945" ist eine private Veröffentlichung. Die wissenschaftliche Verantwortung liegt allein beim Autor Joachim Hoffmann.
Das Bundesministerium der Verteidigung prüft derzeit, ob im Buch Aussagen enthalten sind, die eine dienstrechtliche Relevanz haben könnten. Erf orderlich ist eine sehr genaue Analyse des 336 Seiten umfassenden Textes.
Zusatzfrage, Herr Kollege Beck.
Hat die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auch geprüft, ob dieses Buch strafbare Inhalte enthält, insbesondere im Hinblick auf die neue Fassung des § 130 StGB, Volksverhetzung, und wie ist die Rechtsauffassung der Bundesregierung hierzu?
Herr Kollege Beck, ich wiederhole: Das Buch ist eine private Veröffentlichung, und die wissenschaftliche Verantwortung liegt allein beim Autor. Wir prüfen aber derzeit, ob im Buch Aussagen enthalten sind, die dienstrechtliche Relevanz haben könnten. Ich habe Ihnen schon ge-
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Buch ist sehr dick; die Analyse dauert noch an.
Zweite Zusatzfrage.
Es tut mir leid, Herr Präsident, aber das war nicht die Beantwortung meiner Frage. Ich habe auch nach dem Strafrecht gefragt. Das war in meiner Eingangsfrage schon enthalten, und das spielt auch bei der Prüfung der dienstrechtlichen Relevanz eine Rolle. Deshalb erbitte ich schon eine Aussage zur Rechtsauffassung der Bundesregierung im Hinblick auf § 130 StGB.
Die strafrechtliche Beurteilung würde sich aus einer dienstrechtlichen Beurteilung ergeben. Erst das eine, dann das andere.
Dann habe ich eine Frage zu Ihrer Bewertung, es handele sich um eine private Veröffentlichung. Das ist im formaljuristischen Sinne richtig. Wie bewerten Sie denn in diesem Zusammenhang - -
Entschuldigung, das waren schon zwei Fragen.
Nein, das war eine Entgegnung darauf, daß sie meine Frage nicht beantwortet hat. An sich wäre es, glaube ich, an Ihnen, Herr Präsident, darauf zu achten - -
Das ist Ihre Interpretation gewesen, was die Frage betrifft. - Aber bitte, stellen Sie eine weitere Frage.
Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß Herr Kehrig, der Leiter des Militärarchivs Freiburg, eine dem Bundesarchiv in Koblenz unterstellte Behörde, ein Geleitwort geschrieben und in diesem Geleitwort unter anderem allen Antifaschisten in Deutschland eine Moskau-Hörigkeit nahegelegt hat?
Herr Kollege, der Leitende Archivdirektor Dr. Manfred Kehrig, Abteilungsleiter im Bundesarchiv, das zum Geschäftsbereich des BMI gehört, hat zur Veröffentlichung von Dr. Hoffmanns „Stalins Vernichtungskrieg 19411945" einen sogenannten Waschzettel verfaßt, der nach seinen Angaben ohne sein Wissen als Geleitwort unter Nennung seiner dienstlichen Funktion veröffentlicht worden ist.
Seine Aussagen zur Bewertung der historischen Ereignisse sowie zur zeitgeschichtlichen Forschung der zurückliegenden Jahre werden weder vom Bundesarchiv noch von der Bundesregierung geteilt.
Im übrigen bitte ich Sie, weitere Fragen an das BMI zu richten, weil ich als Vertreterin des Bundesverteidigungsministeriums natürlich schlecht über jemanden sprechen kann, der nicht dem Geschäftsbereich angehört.
Frau Kollegin Buntenbach.
Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, daß es sich um eine private Arbeit handele. Nun ist es aber so, daß sich Herr Hoffmann im Vorwort - das ist nicht 336 Seiten unlesbar lang - für die großzügig gewährten Freiheiten bedankt, die ihm während seines Dienstes von seinem Vorgesetzten für Recherchearbeiten gewährt worden sind, die von anderer Seite aus dem Institut für ihn übernommen worden sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, ob Sie die Auffassung aufrechterhalten wollen, daß es sich hier um eine private Arbeit handele.
Das möchte ich aufrechterhalten. Das ist übrigens Gegenstand einer Antwort auf eine spätere Frage. Trotzdem möchte ich noch einmal auf diese Freiheiten eingehen.
Die Möglichkeit der Nutzung von dienstlich erarbeitetem historischen Quellenmaterial für private Publikationen stellt eine wesentliche Erleichterung für Historiker dar. Das wird überall so gehandhabt. Darüber hinausgehende Freiheiten gab es nicht.
Weitere Zusatzfragen sind nicht gewünscht.
Ich rufe die Frage 44 auf, die ebenfalls der Kollege Volker Beck gestellt hat:
Welche „Freiheiten", für die Joachim Hoffmann im Vorwort seines Buches „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" „seinen besonderen Dank" ausspricht, sind dem ehemaligen Wissenschaftlichen Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr von dessen Amtschef, Brigadegeneral Dr. G. R., gewährt worden?
Herr Kollege, Dr. Hoffmann hatte in den letzten vier Jahren seiner Zugehörigkeit zum Militärgeschichtlichen Forschungsamt den dienstlichen Auftrag, eine Untersuchung zum Thema „Stalin und die Rote Armee" zu erarbeiten. Dabei waren die Forschungsergebnisse des russischen Historikers Generaloberst Professor Dmitrij Wolkogonow, der als Autor einer international beachteten Stalin-Biographie bekannt wurde, auszuwerten. Im Rahmen seines Arbeitsauftrages konnte Dr. Hoffmann wie auch die anderen Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes historisches Quellenmaterial für sein thematisch ver-
Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger
wandtes außerdienstliches Publikationsvorhaben nutzen.
Zusatzfrage.
In welcher Form wird die Bundesregierung ihre Distanz zu den Äußerungen in diesem zitierten Werk deutlich machen? Wird sie hierbei unter anderem verlangen, daß entsprechende Dankesworte an Mitglieder der Bundeswehr oder Vorgesetzte in weiteren Auflagen dieses Buches, wenn es nicht ohnehin strafrechtlich verboten werden muß, zukünftig unterbleiben?
Herr Kollege, ich habe Ihnen schon gesagt: Die dienstrechtliche Prüfung ist im Gange. Darüber hinaus ist es natürlich nicht Aufgabe der Bundesregierung, private Veröffentlichungen zu bewerten.
Zweite Zusatzfrage.
Ich möchte noch einmal an dem Punkt nachhaken, in welcher Form die Bundesregierung ihre Distanz zum Ausdruck bringen wird. Ich meine, daß es keine Lappalie ist, wenn Mitgliedern von Bundesbehörden, wenn Personen mit Dienstgrad - hier ist es der erwähnte Brigadegeneral - gedankt wird und damit vom Autor suggeriert werden soll - das geschieht ja nicht unbedacht -, die Bundesregierung und die entsprechenden Institutionen hätten zu dieser ungeheuren Veröffentlichung eine gewisse Nähe.
Meinen Sie nicht, daß man nicht nur mit dienstrechtlichen, sondern auch mit presserechtlichen Schritten darauf dringen sollte, daß Nennungen von Bundesbehörden und Bundesbediensteten in diesem Buch in dieser Form unterbleiben?
Herr Kollege, ich kann Ihnen immer wieder nur sagen: Das ist in der Prüfung. Natürlich wird sich die Bundesregierung mit den verschiedenen Äußerungen nicht identifizieren.
Frau Kollegin Buntenbach.
Wann gedenkt die Bundesregierung diese Prüfung abgeschlossen zu haben? Ich frage das vor dem Hintergrund, daß es jetzt schon die zweite durchgesehene Auflage ist, in der im Vorwort genau dieselben Äußerungen wieder auftauchen; auch Herr Kehrig taucht auf dem „Waschzettel" wieder auf. Das Buch ist ja nicht erst seit gestern auf dem Markt. Meine Frage ist, wann die Bundesregierung handeln will, um sich abzugrenzen und damit auch Schaden abzuwenden, der genau darin bestehen würde, daß
die Identifizierung der Position der Bundesregierung mit diesem Buch von Hoffmann geschehen könnte.
Frau Kollegin, sobald Vorwürfe dienstrechtlicher Art gegen einen Angehörigen oder einen ehemaligen Angehörigen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung erhoben werden, gehen wir solchen Vorwürfen nach. Ich kann Ihnen aber heute nicht sagen, wie lange unsere Abteilung Verwaltung und Recht, die das macht, brauchen wird, bis sie dies eingehend geprüft hat. Es ist, wie gesagt, ein sehr dickes Buch. Das muß sorgfältig geprüft werden. Ich kann Ihnen heute keinen Zeitpunkt nennen.
Herr Kollege Erler.
Frau Staatssekretärin, Sie heben in Ihren Antworten immer auf die dienstrechtliche Frage ab. Ich möchte Ihnen eine politische Frage stellen: Ist die Bundesregierung besorgt darüber, daß mit dem Namen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes - früher Freiburg, heute Potsdam -, das international ein erhebliches Renommee hat und das zu dem guten Ruf der deutschen Militärgeschichte beigetragen hat, nunmehr ein Werk verbunden wird, auch in der öffentlichen Wahrnehmung, das von den Inhalten der Präventivkriegsthesen her eindeutig eher einem rechtsradikalen Denkspektrum zuzuordnen ist? Ist die Bundesregierung besorgt über die mögliche Rufschädigung, die damit verbunden ist?
Herr Abgeordneter, ich habe gesagt, daß das Militärgeschichtliche Forschungsamt durchaus nicht dieser Meinung ist, sondern daß es andere Veröffentlichungen gibt, die andere Meinungen vertreten, wobei ich immer wieder betone, daß dies eine private Veröffentlichung ist. Ich selbst habe das Werk nicht gelesen. Ich habe allerdings Buchbesprechungen in der „Zeit", in der „FAZ" und im „Rheinischen Merkur" gelesen, die durchaus unterschiedlich im Urteil waren. Auch das möchte ich Ihnen an dieser Stelle sagen.
Werden weitere Zusatzfragen aus dem Hause gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 45 auf, die die Kollegin Annelie Buntenbach gestellt hat.
Welche Verhandlungen, für die Joachim Hoffmann im Vorwort seiner Veröffentlichung „Stalins Vernichtungskrieg 19411945" der Amtskollegin im Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Frau K. H., dankt, hat diese für ihn im Zusammenhang mit der o. g. Veröffentlichung in Moskau geführt?
Ich bitte die Frau Parlamentarische Staatssekretärin um Beantwortung.
Die von Ihnen zitierte Kollegin des Herrn Dr. Hoffmann hat zwei Historiker
Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger
des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, die im Forschungsprojekt „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" eingesetzt waren, als Dolmetscherin und Übersetzerin zu einem Archivaufenthalt in das Moskauer Sonderarchiv begleitet. In dieser Eigenschaft hat sie keinerlei Verhandlungen geführt. Von der Archivreise hat sie für das damalige dienstliche Forschungsvorhaben von Dr. Hoffmann „Stalin und die Rote Armee" ein Schlüsseldokument in Kopie mitgebracht, nämlich die Niederschrift zu Stalins Rede am 5. Mai 1941 vor Absolventen der Militärakademien. Dieses historische Quellenmaterial wurde vom Autor für seine private Veröffentlichung mit herangezogen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Ja. - Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, daß es zu den privaten Freiheiten eines Historikers, der im Archivbereich arbeitet, gehört, für solche Veröffentlichungen auch auf Material des Archivs zurückgreifen zu können. Haben Sie, da sich Herr Hoffmann speziell in seinem Vorwort für Verhandlungen bedankt, nicht das Bedenken, daß Herr Hoffmann die Kollegin auch im dienstlichen Bereich für die von Ihnen vorhin als privat gekennzeichneten Belange eingesetzt hat?
Frau Kollegin, wir haben die genannte Mitarbeiterin befragt, und sie hat uns das geantwortet, was ich Ihnen gerade vorgetragen habe. Ich kann also davon ausgehen, daß das nicht der Fall war.
Zweite Zusatzfrage.
Ich möchte gern wissen, inwieweit sich im Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Neubesetzung des Amtschefs, jetzt aus dem militärischen Bereich, in den letzten Jahren die Zielsetzung und die Aufgaben des Forschungsamtes geändert haben.
Ich kann hier keinen Zusammenhang erkennen. Dadurch, daß jetzt ein Soldat an der Spitze dieses Amtes steht, ändert sich an seiner Zielsetzung nichts.
Herr Kollege Beck.
Ich will anknüpfen an die Ausführungen von Herrn Kollegen Erler. Otto Köhler sieht diesen Vorgang in „konkret" insgesamt nicht als Problem eines Einzeltäters, sondern sieht darin eine geistige Strömung der militärgeschichtlichen Forschung am Werk - -
Entschuldigung, Herr Kollege Beck. Zusatzfragen müssen sich auf die jeweilige Frage beziehen.
Ja, das tut sie. Wir haben die Situation im Militärgeschichtlichen Forschungsamt angesprochen.
Zusatzfragen müssen sich auf die Ausgangsfrage beziehen. Sie haben eine Zusatzfrage zur Frage 45 gestellt. Dort heißt es: „Welche Verhandlungen", nicht „Strömungen".
Damit verblüffen Sie mich, Herr Präsident, weil die Verhandlungen sicherlich auch einen geistigen Hintergrund haben. Auf diesen wollte ich abheben.
Herr Kollege Beck, in der Fragestunde werden Fragen an die Bundesregierung gestellt, und die werden beantwortet. Sie ist keine Debatte.
Wenn Sie also eine Zusatzfrage zu dieser Frage haben, dann stellen Sie sie bitte.
Meine Zusatzfrage lautet: Sehen Sie Zusammenhänge zwischen den genannten Verhandlungen der in der Frage mit Großbuchstaben bezeichneten Person und dem Personalwechsel im Militärgeschichtlichen Forschungsamt? Wie sehen Sie insbesondere in diesem Zusammenhang die These von Herrn Köhler, in diesem Amt sei eine neue geistige Strömung am Werk, es handele sich nicht um Einzelfälle?
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich sehe da keine Zusammenhänge.
Weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Ich darf, Herr Kollege Beck, einmal am Rande des Protokolls sagen: Wenn es außerdem jemandem noch gelingt, im Rahmen des Regelwerks sein Anliegen unterzubringen, dann kann man doch nur sagen: Respekt. Es ist aber mein Geschäft, auf die Einhaltung des Regelwerkes zu dringen.
Ich rufe die Frage 46 auf, die ebenfalls die Kollegin Annelie Buntenbach gestellt hat:
Welche Bundesbeamten oder Angestellten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes waren in jeweils welcher Weise an der Veröffentlichung „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" beteiligt?
Ich bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, um Beantwortung.
Frau Kollegin, das Buch von Joachim Hoffmann „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" ist als private Veröffentlichung im Rahmen des von ihm dienstlich bearbeiteten Generalthemas „Stalin und die Rote Armee" entstanden. Weder Bundesbeamte noch Angestellte des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes waren dienstlich an der Veröffentlichung beteiligt.
Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Ich möchte gerne, Frau Staatssekretärin, genauer wissen, in welcher Beziehung das Militärgeschichtliche Forschungsamt zum Bundesarchiv steht im Hinblick auf die Tatsache, daß der Leitende Archivdirektor des Bundesarchivs (Militärarchivs), Manfred Kehrig, das Geleitwort, auf das sich vorhin der Kollege Beck bezogen hat, unter voller Nennung seiner dienstlichen Funktionen verfaßt hat.
Ich habe Ihnen diese Frage schon beantwortet. Ich habe gesagt, daß uns Herr Dr. Kehrig, der dem Geschäftsbereich des BMI angehört, gesagt hat, daß es sich um einen „Waschzettel" gehandelt hat, der ohne sein Wissen als Geleitwort unter Nennung seiner dienstlichen Funktionen veröffentlicht worden ist. Im Rahmen der Amtshilfe werden die beiden Institutionen natürlich zusammenarbeiten.
Zweite Zusatzfrage.
Sie haben gesagt, daß die Bundesregierung dieses Buch liest und überprüft. Es gibt darüber eine öffentliche Diskussion. Es gab zum Beispiel den „Spiegel"-Titel, es gab verschiedene Rezensionen. In all diesen Dingen wird transportiert, daß Herr Hoffmann im Rahmen seiner dienstlichen Funktionen die jetzige Veröffentlichung hat bearbeiten können und daß Herr Kehrig als anderer Bundesbeamter beteiligt ist. Das heißt, es besteht dringender Handlungsbedarf. Mir ist aus Ihren bisherigen Äußerungen unklar, welche direkten Schritte der Schadensbegrenzung die Bundesregierung zu unternehmen gedenkt.
Ich habe Ihnen gesagt: Das ganze ist in der Prüfung. Bevor die Sache nicht zu Ende geprüft ist, kann ich Ihnen darüber keine Auskunft geben.
Herr Kollege Beck.
Ich hoffe, ich bekomme es diesmal gleich auf Anhieb hin.
Entschuldigung, Herr Kollege Beck. Da hilft sehr die Lektüre der Anlage 4, Richtlinien für die Fragestunde und für die schriftlichen Einzelfragen.
Die werde ich mir heute nacht unter das Kopfkissen legen.
Gegen welche Bundesbeamten prüft die Bundesregierung gegenwärtig dienstrechtliche Schritte, wenn sie uns gleichzeitig in der Fragestunde zu dieser Frage, Herr Präsident, erzählt, daß keine Bundesbeamten an dieser Veröffentlichung beteiligt seien?
Sie prüft im Moment allein dieses Buch.
Sie haben vorhin, auf die erste Frage, etwas anderes geantwortet. Aber das gehört ja nicht mehr hierher.
Weitere Zusatzfragen zur Frage 46 werden nicht gestellt.
Ich rufe die Frage 47 auf, die der Kollege Winfried Nachtwei an die Bundesregierung richtet:
Wie will die Bundesregierung angesichts der großen Öffentlichkeitswirkung der Veröffentlichung „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" von Joachim Hoffmann und der Beteiligung mehrerer Bundesbeamter dem Eindruck entgegenwirken, es handele sich bei den Ansichten von Joachim Hoffmann nicht nur um die Meinung eines einzelnen, sondern um eine im Militärgeschichtlichen Forschungsamt vorhandene geistige Strömung?
Ich bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, um Beantwortung.
Herr Kollege Nachtwei, für das Buch „Stalins Vernichtungskrieg 1941 bis 1945" trägt allein der Autor Joachim Hoffmann die wissenschaftliche Verantwortung. Die umstrittenen Thesen seines Buches werden durch die jedermann öffentlich zugänglichen Forschungsergebnisse anderer Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes nicht bestätigt. Der Eindruck, es handele sich bei Hoffmanns Ansichten nicht nur um die Meinung eines einzelnen, sondern um eine im Militärgeschichtlichen Forschungsamt vorhandene geistige Strömung, ist daher unzutreffend, und ich lehne ihn ab.
Zusatzfrage, Herr Kollege Nachtwei?
Ja. - Damit ich also auch mit der Zusatzfrage genau den Inhalt meiner Ausgangsfrage treffe - meine Frage ging ja darum, ob es sich hier um einen Einzelfall handelt oder ob hier eine gewisse geistige Strömung repräsentiert wird -: Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage des doch sehr renommierten Historikers Hans-Ulrich Wehler, der schon 1988 fest-
Winfried Nachtwei
gestellt hat, daß sich um Herrn Joachim Hoffmann eine Gruppe von Historikern gebildet hat, die die Präventivkrieg-These vertreten?
Das hat die Bundesregierung im Moment nicht zu beurteilen.
Zweite Zusatzfrage?
Ja. - Wie steht die Bundesregierung zu der Feststellung - sie stammt ebenfalls vom Historiker Wehler -, daß der Erste Beirat des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes im bekannten Historikerstreit zum überwiegenden Teil die Position von Nolte vertreten habe? Die Position von Nolte - ich sage das für die, die es nicht mehr wissen sollten - war ja eine gewisse Vorläuferposition in dieser Richtung.
Ich möchte das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Schutz nehmen. Es vertritt keine einseitigen Positionen, sondern versucht, ausgewogen zu urteilen. Daß das so ist, zeigt sich schon daran, daß die Vorwürfe sowohl von links als auch von rechts kommen.
Frau Kollegin Buntenbach.
Frau Staatssekretärin, das Zitat von Herrn Professor Wehler, das vorhin mein Kollege Nachtwei gebracht hat, stammt ja aus dem Jahr 1988. Das heißt: Es handelt sich ja bei der geschichtlichen und politischen Sicht, die Herr Hoffmann in seinen Werken vertritt, nicht um etwas Neues. Vielmehr hat sich Herr Hoffmann in dieser Richtung auch damals schon geäußert. Von daher ist diese jetzige Veröffentlichung ja keineswegs verblüffend. Ich möchte gern wissen, wie sich die Bundesregierung mit der Präventivkrieg-These, die Herr Hoffmann schon seit Jahren vertritt, auseinandergesetzt hat und welche Schritte unternommen worden sind, um dieser These, die Herr Hoffmann vertreten hat, zu widersprechen und um deutlich zu machen, daß es sich nicht um eine These handelt, die die Bundesregierung vertritt. Die Gelegenheit dazu gab es seit 1988.
Frau Kollegin, ich sage Ihnen noch einmal: Das Buch wurde privat veröffentlicht, und die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, sich mit den privaten Meinungen eines Autors auseinanderzusetzen.
Herr Kollege Erler.
Frau Staatssekretärin, hier ist nach der Öffentlichkeitswirkung gefragt worden. Vorhin haben Sie uns mitgeteilt, daß die Bundesregierung, das heißt: Ihr Ministerium und das BMI, die Auffassungen des zunächst als „Waschzettel" verfaßten und dann als Vorwort gedruckten Teils nicht teilt. Können Sie sagen, welche Punkte der Meinung des Vorwortschreibers Sie nicht teilen? Denn das wäre ja auch eine wesentliche Antwort auf die hier gestellte Frage nach der Öffentlichkeitswirkung.
Herr Kollege Erler, dazu müßte ich das Vorwort ganz genau kennen; ich kenne es nicht.
Herr Kollege Beck, wenn ich Ihre Gestik richtig verstehe: Bitte.
Ja, vielen Dank. - Wenn die Bundesregierung so wenige Befürchtungen hat: Wie beurteilt sie denn in diesem Zusammenhang die Äußerungen des ehemaligen Leitenden Historikers beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Manfred Messerschmidt, und seine Befürchtung, daß sich auf Kehrig, also den vorhin schon zitierten Leiter des Militärarchivs Freiburg, künftig die rechtslastigen Propagandisten berufen werden und daß er ihre Zentralfigur sein wird? Er hat ja nun das Geleitwort zu diesem Buch geschrieben.
Herr Kollege, auch zu dieser Hypothese kann die Bundesregierung nichts sagen.
Ich rufe die Frage 48 auf, die ebenfalls vom Kollegen Winfried Nachtwei gestellt wurde:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die unter Beteiligung von Bundesbeamten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zustande gekommene Veröffentlichung „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" eine bestärkende Wirkung auf die rechtsextreme Szene haben wird, wenn ja, wie will sie dieser Wirkung entgegenwirken, und wenn nein, aus welchen Gründen teilt sie diese Auffassung nicht?
Ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege Nachtwei, die Bundesregierung stellt noch einmal fest, daß an der privaten Veröffentlichung von Dr. Joachim Hoffmann „Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" Bundesbeamte des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes nicht dienstlich mitgewirkt haben.
Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, die politische Wirkung von privaten Veröffentlichungen vorherzusagen.
Zusatzfrage.
Entschuldigen Sie trotzdem, Frau Staatssekretärin.
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Aber gern.
Sind der Bundesregierung vielleicht im Rahmen genauerer Ermittlungen Rezensionen oder Besprechungen dieses Buches, zum Beispiel in der „Deutschen Nationalzeitung" und anderen rechtsextremen Publikationen, bekanntgeworden?
Ich habe Ihnen gesagt: Ich kenne die Rezensionen in der „Zeit", in der „FAZ" und im „Rheinischen Merkur". Die sind durchaus unterschiedlich. Andere Rezensionen sind mir nicht bekannt.
Eine Zusatzfrage von Frau Kollegin Buntenbach.
Ich habe noch eine Nachfrage, und zwar möchte ich gern wissen, inwieweit die Bundesregierung den Thesen des Präventivkriegs, die Hoffmann vertritt - das war eine These, die bereits von der NS-Führung als Kriegspropaganda eingesetzt worden ist -, im Rahmen der geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus öffentlich entgegentreten will. - Sagen Sie nicht „Das war eine private Äußerung"; denn das ist jetzt nicht die Frage.
Ich weiß.
Frau Kollegin Buntenbach, Sie haben nicht zu befehlen, wie geantwortet wird.
Sonst stehe ich gleich stramm.
Die Bundesregierung teilt diese Auffassung nicht. Sie wissen, daß es bei der Bundeswehr politischen Unterricht, die politische Bildung, gibt. Selbstverständlich werden in diesem Rahmen solche Dinge immer wieder diskutiert, und zwar in einem guten, demokratischen Sinn.
Weitere Zusatzfragen dazu werden offensichtlich nicht gestellt. Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich bedanke mich sehr für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Johannes Nitsch zur Verfügung.
Die Frage 49, gestellt vom Kollegen Michael Teiser, und die Fragen 50 und 51, gestellt von der Kollegin Brunhilde Irber, sollen bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 52 auf, die der Kollege Horst Kubatschka gestellt hat:
Welche Folgerungen für ihre Pläne zum Ausbau der Donau zieht die Bundesregierung aus dem Ergebnis der von Dr. Hans Bernhart durchgeführten Computersi- mulation, wonach auch mittels flußbaulicher Maßnahmen eine Abladetiefe von zumindest 2,50 m gewährleistet werden kann?
Ich bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zu antworten.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter, Rechenergebnisse von Computersimulationen zu flußbaulichen Lösungen hängen maßgeblich davon ab, welche Eingangsgrößen den Berechnungen zugrunde gelegt werden. Die den Berechnungen von Dr. Bernhart zugrunde gelegten Eingangsgrößen sind der Bundesregierung nicht bekannt.
Die Bundesregierung hat mit ihrer Pressemitteilung vom 21. Februar 1996 aber erneut deutlich gemacht, daß mit ergänzenden Untersuchungen geprüft wird, ob eine flußbauliche Alternative für den oberen Bereich in das Raumordnungsverfahren eingebracht werden soll. Diese Untersuchungen werden von der Bundesanstalt für Wasserbau koordiniert. Die Fahrrinnenbreiten werden, ausgehend vom tatsächlich vorhandenen Fahrrinnenband und den hydraulisch wirksamen Gegebenheiten, nach dem Knappheitsprinzip gewählt, so daß den ökonomischen und sicherheitstechnischen Anforderungen der Schiffahrt sowie der Schonung ökologisch sensibler Bereiche gleichermaßen Rechnung getragen wird.
Daneben werden flußbauliche Elemente unterschiedlicher Art berücksichtigt. Diese Punkte beabsichtigt die Bundesanstalt für Wasserbau in einem hydronumerischen Modell zu einer Computersimulationsrechnung zusammenzuführen.
Unter Berücksichtigung der dynamischen Wechselwirkungen zwischen dem fahrenden Schiff und dem Gewässer wird sich zeigen, welche Abladetiefen für die Schiffahrt zu erzielen sind. Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß die Vorgehensweise der Bundesanstalt für Wasserbau der Komplexität der flußbaulichen und schiffahrtlichen Fragestellungen gerecht wird. Sie hat schon wegen dieser Komplexität, die vereinfachenden Annahmen gewisse Grenzen setzt, Zweifel, daß die von Dr. Bernhart laut Presseberichten gewonnenen Ergebnisse Relevanz haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, wie Sie sicher wissen, geht Dr. Bernhart von drei Varianten aus und hat diese untersucht. Er hat den Einsatz von Buhnen geprüft. Wenn sein Ergebnis stimmt, daß selbst „ohne Berücksichtigung derBuhnenwirkung .. . eine Wassertiefe von 2,80 m ... im gesamten Flußabschnitt bereits bei Abflüssen erreicht" wird, „die unter den im Gutachten der Bundesanstalt für Wasserbau angegebenen Regulierungswasserstand-Abflüs-
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Horst Kubatschkasen liegen", könnte man dann nicht wirklich auf den Ausbau mit Staustufen verzichten?
Herr Abgeordneter, wir haben - das habe ich soeben erklärt - die Zielstellung, möglicherweise auf die Staustufe Waltendorf zu verzichten, wenn unsere Ausbauziele - diese haben wir ja in der Fragestunde am 31. Januar 1996 hier ausgiebig behandelt - erreicht werden.
Daß die Computersimulation möglich ist, habe ich soeben ausgeführt, allerdings mit Hilfe eines komplexen Modells. Denn es ist nicht so, daß wir nur zwei Tiefen - Abladetiefe und Fahrrinnentiefe - im hydraulischen Bereich haben, über die wir sprechen. Die Zusammenhänge sind wesentlich komplexer. Ich könnte, wenn der Präsident zustimmt, die Elemente der hydraulischen Tiefe einmal darstellen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich würde es bevorzugen, wenn Sie diese sehr in die Breite gehenden Details dem Kollegen Kubatschka, der offensichtlich fachkundig ist, zusätzlich schriftlich zur Verfügung stellten.
Das werde ich gerne tun, obwohl es mir auch Spaß macht, solche technischen Details vorzutragen.
Der Spaß ist möglicherweise einseitig.
Herr Staatssekretär, ich will Ihnen den Spaß nicht verderben. Darum stelle ich eine zweite Zusatzfrage. Werden die Ergebnisse von Dr. Bernhart nicht dadurch bestätigt, daß von der Bundesanstalt für Wasserbau im „Flußmorphologischen Gutachten zum Raumordnungsverfahren" vom November 1992 festgestellt wurde, daß in
der Strecke von Pleinting bis Vilshofen ... die erforderlichen Fahrrinnenquerschnitte durch Vertiefung der Sohle und Regelungsbauwerke, wie z. B. Parallelwerke, hergestellt werden
können?
Ich hatte gesagt, daß wir Untersuchungen mit flußbaulichen Methoden in Auftrag gegeben haben. Herr Dr. Bernhart ist in den Auftrag, den Herr Dr. Nestmann durchführt, mit einbezogen, so daß seine Erkenntnisse und Ergebnisse in die Gesamtbetrachtung mit einfließen. Wir haben ja das Raumordnungsverfahren bis zum Sommer hin eröffnet. Ich denke, daß die Ergebnisse von Herrn Dr. Bernhart im Rahmen des Auftrags von Herrn Dr. Nestmann Beachtung finden werden.
Wir können allerdings eine - wie aus der Presse bekanntgeworden ist - Simulation, die unter vereinfachenden Bedingungen abläuft, nicht einbeziehen.
Wir brauchen schon die gesamte Komplexität der wirklichen Fahrrinnenbreite mit ihren tatsächlichen Eingangsdaten.
Werden dazu von weiteren Mitgliedern dieses Hauses Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Ich rufe die Frage 53 - ebenfalls eine Frage des Kollegen Horst Kubatschka - auf:
Beinhalten die von der Bundesregierung bisher in Auftrag gegebenen und von der Bundesanstalt für Wasserbau koordinierten ergänzenden Untersuchungen zum Ausbau der Donau auch eine Computersimulation der mittels der von Dr. Hans Bernhart zugrunde gelegten flußbaulichen Maßnahmen erreichbaren Fahrrinnentiefe, und, falls nein, ist die Bundesregierung bereit, die von Dr. Hans Bernhart gewonnenen Ergebnisse in die ergänzenden Untersuchungen einfließen zu lassen, indem Dr. Hans Bernhart als neutraler Fachgutachter an den Untersuchungen beteiligt wird?
Ich bitte Herrn Parlamentarischen Staatssekretär um Beantwortung.
Die von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen und von der Bundesanstalt für Wasserbau koordinierten Untersuchungen beinhalten ebenfalls Computersimulationen zur Errechnung der mit der flußbaulichen Lösung erreichbaren Wassertiefen. Die Bundesregierung hält die der Presse entnommenen Ergebnisse einer Computersimulation durch Dr. Bernhart nicht für geeignet, seriöse Folgerungen für den Ausbau der Donau zu ziehen, und sieht deshalb keine Veranlassung, Dr. Bernhart als Gutachter über das hinaus zu beteiligen, was ich bereits im Zusammenhang mit dem Auftrag des Herrn Dr. Nestmann gesagt habe.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, heißt das, daß die Bundesregierung ein so geringes Interesse an den Möglichkeiten eines flußbaulichen Ausbaus hat, daß sie nicht einmal dann, wenn eine entsprechende Frage durch die Computersimulation des Herrn Bernhart aufgeworfen ist, darüber informiert, welche Art der Untersuchung von der Bundesanstalt geplant und dann auch durchgeführt wird?
Herr Abgeordneter, ich muß zurückweisen, daß Sie der Bundesregierung geringes Interesse an einer flußbaulichen Lösung unterstellen. Ich habe in früheren Fragestunden und auch heute wiederholt darauf hingewiesen, daß wir ein eminent großes Interesse daran haben, unsere Ausbauziele auch mit flußbaulichen Lösungen zu erreichen. Dazu habe ich auch auf die Pressemitteilung vom 21. Februar, die Sie sicherlich kennen, hingewiesen, in der diese Zusammenhänge noch einmal ausführlich dargestellt werden.
Zusatzfrage.
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Herr Staatssekretär, es geht immerhin um eine Summe von mindestens 1,3 Milliarden DM. Wäre es bei dieser großen Investitionssumme nicht vernünftig, die notwendigen Mittel für die Beteiligung eines kritischen Wissenschaftlers bereitzustellen, dessen Untersuchungen den Weg zu einer deutlich geringeren Bausumme und zu einer größeren Umweltverträglichkeit aufzeigen könnten?
Herr Abgeordneter, ich bin überzeugt, daß die von mir dargestellten komplexen Computersimulationsmodelle - ich habe das hydronumerische Modell genannt - genau den Effekt, den Sie einfordern, bringen werden.
Werden dazu noch aus dem Haus Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die ausführliche Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Klinkert zur Verfügung.
Die Frage 54, die der Kollege Manfred Such gestellt hat, soll bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 55 auf, gestellt von unserem Kollegen Wolfgang Behrendt:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, auf die Stillegung des nach einhelliger Expertenauffassung besonders gefährlichen Atomkraftwerks Kozloduj in Bulgarien hinzuwirken und Anstöße zu einer umweltfreundlichen Energieversorgung Bulgariens zu geben?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Behrendt, das bulgarische Kernkraftwerk Kozloduj umfaßt vier Blöcke des alten sowjetischen Typs WWER-440/230 und 2 Blöcke des neuesten sowjetischen Typs WWER-1000/320. Während der neueste Reaktortyp WWER-1000/320 als zu wirtschaftlichen Bedingungen nachrüstbar gilt, ist das für den alten Typ WWER-440/230 nach Auffassung westlicher Experten nicht der Fall. Deshalb sollten die Reaktoren des alten Typs zum frühestmöglichen Zeitpunkt endgültig abgeschaltet werden. Für deren Restlaufzeit sind kurzfristig betriebliche und technische Verbesserungen unverzichtbar. Die Bundesregierung hat deshalb stets darauf hingewirkt, die vier alten Blöcke von Kozloduj möglichst bald außer Betrieb zu nehmen und für die Restlaufzeit kurzfristig sicherheitstechnische Verbesserungsmaßnahmen durchzuführen,
Die westliche Hilfe für Bulgarien umfaßt neben der Unterstützung beim Aufbau einer unabhängigen und kompetenten Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde auch Maßnahmen zur Modernisierung im konventionellen Energiesektor, zur Umstrukturierung der Energiewirtschaft allgemein und zur Energieeinsparung im besonderen, um einen baldigen Verzicht auf die Blöcke Kozloduj 1 bis 4 zu ermöglichen. Die Möglichkeiten zur Einflußnahme auf die bulgarischen Regierungs- bzw. Behördenentscheidungen sind allerdings dadurch begrenzt, daß die bulgarische Seite ihre Entscheidungen zu Kozloduj letztlich in eigenverantwortlicher Zuständigkeit trifft.
Zusatzfrage, Herr Kollege Behrendt.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wie die bulgarische Regierung auf die Forderung der G7-Staaten reagiert hat, mindestens einen der sechs Blöcke des Atomkraftwerks zu schließen, und welche Möglichkeiten die Bundesregierung sieht, um dieser Forderung der G7-Staaten Nachdruck zu verleihen?
Die bulgarische Seite hat zumindest zugesagt, den Block 1 des Kernkraftwerkes zum 16. Mai dieses Jahres zu Untersuchungs- und Revisionsarbeiten außer Betrieb zu nehmen.
Es ist in einem Memorandum der Europäischen Union in Aussicht gestellt worden, das Unterstützung für die Ertüchtigung der Blöcke 5 und 6, also der moderneren Blöcke, beinhaltet, wenn die bulgarische Regierung für den Fall, daß gravierende Mängel in Block 1 festgestellt werden, darauf verzichtet, diesen Block wieder in Betrieb zu nehmen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wieviel Prozent der Energieversorgung würde durch das Abschalten eines Reaktorblockes verlorengehen, und gibt es Kompensationsmöglichkeiten, bzw. würden diese angesichts der enorm schlechten Energieeffizienz in Bulgarien überhaupt benötigt?
Ich bitte um Entschuldigung, daß ich nicht so schnell rechnen kann, aber der Block 1 hat eine installierte Leistung von 440 MW. Es gibt vier Blöcke dieses Typs im Kernkraftwerk Kozloduj plus zwei Blöcke à 1 000 MW. Das heißt, daß 440 MW verlorengehen. Der prozentuale Anteil läßt sich mittels eines Taschenrechners leicht ausrechnen.
Die Kompensationsmöglichkeiten bestehen darin, daß es bereits im kommenden Winter möglich wäre, über Kohlelieferungen das konventionelle Kohlekraftwerk Warna zu ertüchtigen und in Betrieb zu nehmen,
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
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Vizepräsident Hans KleinIch rufe die Frage 56 des Kollegen Wolfgang Behrendt auf:Ist der Bundesregierung bekannt, ob die Kernreaktoren von Tschernobyl durch ein neues Gaskraftwerk ersetzt werden, und ist die Bundesregierung bereit, dieses Verfahren als Modell für die Stillegung osteuropäischer Atomkraftwerke sowjetischer Bauart zu unterstützen?Ich bitte um Beantwortung.
Nach langen und schwierigen Verhandlungen konnten die Regierungen der G7-Staaten und die ukrainische Regierung eine politische Einigung über die Schließung des Kernkraftwerks Tschernobyl bis zum Jahre 2000 und die hierfür erforderlichen Maßnahmen erzielen.
Die Ergebnisse sind in einem Memorandum of Understanding festgehalten. Ein wichtiger Punkt in dem vereinbarten Zusatzarbeitsprogramm sind die notwendigen Investitionsmaßnahmen, um hierdurch die Stromversorgung in der Ukraine sicherzustellen.
Dies soll auf der Grundlage eines von der Weltbank und der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung aufgestellten Least-Cost-Investitionsplans geschehen. Danach stellen die Fertigstellungen der im Bau befindlichen Kernkraftwerke Chmelnizkij Block 2 und Rovno Block 4 sowie die schrittweise Rehabilitierung von vorhandenen konventionellen Anlagen die kostengünstigen Investitionsalternativen dar. Neue Kernkraftkapazitäten sind danach bis etwa zum Jahr 2010 nicht erforderlich.
Die Studie kommt hinsichtlich der von der ukrainischen Seite in einem früheren Verhandlungsstadium erhobenen Forderung nach einem neuen Gaskraftwerk als Ersatz für Tschernobyl zu dem eindeutigen Ergebnis, daß dies schon im Hinblick auf die sich daraus ergebende höhere Abhängigkeit von Erdgaseinfuhren für die Ukraine keine Least-Cost-Investition darstellen würde. Im Einvernehmen mit der Ukraine ist diese Überlegung deshalb auch nicht in das Zusammenarbeitsprogramm aufgenommen worden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Behrendt.
Darf ich Sie fragen, Herr Staatssekretär, in welcher Form die Bundesregierung politisch und finanziell diese Lösung in Tschernobyl unterstützt?
Die Bundesregierung arbeitet mit der Europäischen Union sehr eng zusammen, beispielsweise im TACIS-Programm, dessen Finanzierung zu 30 Prozent auf Geldern aus der Bundesrepublik Deutschland basiert. Zum anderen arbeitet die Bundesregierung auf bilateraler Ebene sehr eng mit der ukrainischen Seite zusammen. Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen:
Wir unterstützen die Ukraine beim Aufbau einer atomrechtlichen Aufsichts- und Genehmigungsbehörde einschließlich der dafür notwendigen technischen Kommunikationsmittel. Wir unterstützen sie weiterhin bei sicherheitserhöhenden Maßnahmen in einzelnen Kernkraftwerken, zum Beispiel bei der Erstellung von Dokumentationen, Brandschutzsystemen, aber auch bei der Durchführung von Materialprüfungen.
Wir haben uns bereit erklärt, das Personal ukrainischer Kernkraftwerke in Deutschland zu schulen, zum Beispiel am Simulator in Greifswald. Es werden aber auch in direkter Zusammenarbeit mittels unterschiedlicher Partnerschaften deutscher und ukrainischer Kernkraftwerke Sicherheitstrainings durchgeführt. Eine ebenfalls nicht zu unterschätzende Hilfestellung der deutschen Seite besteht darin, daß nach der Katastrophe von Tschernobyl mehr als 40 000 Menschen auf mögliche Strahlenschäden durch deutsche Technik und Ärzte untersucht wurden.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, gehen Sie persönlich davon aus, daß sich die Ukraine, wenn die Planung so realisiert wird, wie Sie es hier vorgetragen haben, keine Option auf den Weiterbetrieb der Reaktorblöcke vorbehält?
Es gibt für uns keinen Grund, an der Aussage der ukrainischen Regierung zu zweifeln.
Weitere Zusatzfragen aus dem Hause werden nicht gestellt.
Die Fragen 57 und 58, die von dem Kollegen Christian Müller gestellt wurden, mögen bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 59 auf, die der Kollege Michael Wonneberger gestellt hat:
Gibt es nach Meinung der Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen dem SPIEGEL-Artikel „Sprengen und rütteln" vom 8. Februar 1996 zum Thema „Sanierung der Braunkohlefolgelandschaften" in Deutschland und dem Brief des Naturschutzbundes Deutschland vom 13. Januar 1996 an die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel, und kann sie die Aussagen in den genannten Verlautbarungen bestätigen?
Ich bitte um Beantwortung.
Herr Präsident, Herr Kollege Wonneberger, ich bitte um Verständnis, wenn ich die Fragen 59 und 60, die in einem unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang stehen, hintereinander beantworte.
Ein kleiner formaler Hinweis, Herr Parlamentarischer Staatssekretär: Man muß die Zustimmung des Fragestellers einholen. Das
Vizepräsident Hans Klein
tue ich hiermit: Sind Sie einverstanden, daß die Fragen gemeinsam beantwortet werden?
Ich hatte schüchtern genickt. Ich möchte das noch einmal mit einem deutlichen Ja bekräftigen.
Sehr gut! Dann rufe ich jetzt auch die Frage 60 des Kollegen Wonneberger auf:
Hat die Bundesregierung den Brief des Naturschutzbundes Deutschland vom 13. Januar 1996 beantwortet, und wenn ja, mit welcher inhaltlichen Aussage?
Herr Staatssekretär, ich bitte, die Fragen gemeinsam zu beantworten.
Ich danke für das Verständnis des gesamten Hauses.
Der Inhalt des „Spiegel"-Artikels „Sprengen und Rütteln" vom 8. Februar 1996 deckt sich in weiten Teilen mit den Aussagen in dem Schreiben von Herrn Jochen Flasbarth, Präsident des Naturschutzbundes Deutschland e. V., NABU, vom 13. Januar dieses Jahres. Ob hier ein direkter Zusammenhang besteht, kann nicht beurteilt werden. Die Aussagen in den genannten Verlautbarungen können nicht bestätigt werden.
Frau Ministerin Merkel hat den Brief von Herrn Flasbarth beantwortet und seiner Auffassung entschieden widersprochen, daß es bei der Braunkohlesanierung, insbesondere in der Lausitz, zu gravierenden Fehlentwicklungen gekommen sei und daß die von Bund und Ländern bereitgestellten Finanzmittel ineffektiv und ohne ausreichende fachliche Prüfung und Kontrolle durch die zuständigen Behörden eingesetzt würden. Die zuständigen Behörden sowie Gewerkschaften und Verbände, darunter auch der NABU, sind vielmehr in vielfältiger Weise in den Sanierungsplan eingebunden. So ist beispielsweise der NABU stimmberechtigtes Mitglied des Braunkohleausschusses in Brandenburg und damit direkt in die Sanierungsplanung einbezogen. Bislang wurden alle Sanierungspläne in Brandenburg ohne Gegenstimme beschlossen.
Es wurde ferner deutlich gemacht, daß es bei der Braunkohlesanierung keineswegs nur um Rekultivierung und Wiedernutzbarmachung der für den Braunkohletagebau in Anspruch genommenen Flächen, sondern vor allem auch um Maßnahmen der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit geht, wie sie beispielsweise vom Setzungsfließen der Böschungen und von der Kontamination des Grundwassers durch Altlasten ausgehen können.
Das Ziel einer hohen ökologischen Wirksamkeit der Maßnahmen soll dabei so weit wie möglich berücksichtigt werden. Die Selbstheilungskräfte der Natur können jedoch nur insoweit genutzt werden, wie damit für die Allgemeinheit und insbesondere für die unmittelbar betroffene Bevölkerung keine
Gefahren oder unzumutbaren Belastungen verbunden sind.
Es wurde Herrn Flasbarth daher mitgeteilt, daß seiner Auffassung, daß der natürlichen Sukzession generell der Vorrang vor Renaturierungsmaßnahmen einzuräumen sei, nicht gefolgt werden könne.
Es wurde Herrn Flasbarth gegenüber das Bedauern zum Ausdruck gebracht, daß er im Vorfeld seines Schreibens keinen Kontakt mit den für die Braunkohlesanierung Zuständigen aufgenommen hatte. Es wäre auf diese Weise sicherlich möglich gewesen, einiges richtigzustellen und damit einen falschen Eindruck in der Öffentlichkeit zu vermeiden.
Herr Kollege Wonneberger, Sie haben jetzt vier Zusatzfragen, das heißt das Recht auf vier Zusatzfragen, aber nicht die Pflicht. Bitte sehr.
Da Sie immer recht kritisch sind, stelle ich drei Zusatzfragen. Ich hätte sonst zwei davon zu einer verbunden, aber Sie unterbrechen dann und sagen: Junger Freund, das war schon die zweite Frage.
Nein, bei vier Zusatzfragen nehmen wir das nicht so ernst.
Ich behalte mir das Recht vor, eventuell drei Zusatzfragen zu stellen.
Herr Staatssekretär, gibt es nach bisherigen Erkenntnissen der Bundesregierung überhaupt die Chance, daß sich Tagebaurestlöcher in einer vertretbaren Zeit von selbst regenerieren?
Herr Wonneberger, dies ist in der Regel nicht der Fall. Ich möchte dies kurz begründen. Die Tagebaurestlöcher sind zum großen Teil durch gekippte Böschungen gekennzeichnet. Diese gekippten Böschungen unterliegen dem Phänomen, daß sie bei einem Wiederanstieg des Grundwassers nach Anhalten der Pumpen zu sogenanntem Setzungsfließen neigen. Setzungsfließen ist ein Vorgang, bei dem in wenigen Sekunden Hunderttausende Kubikmeter Boden in Bewegung geraten können. Zum Auslösen eines Setzungsfließens reicht zum Beispiel das Initial eines Kinderfußes. Wir hatten in der Lausitz solche traurigen Ereignisse. Erst vor wenigen Jahren sind zwei Kinder durch ein solches Setzungsfließen verschüttet worden und dabei ums Leben gekommen. Es ist also zumindest sehr weit weg von den Realitäten, auf die Selbstheilungskräfte der Natur zu hoffen.
Zum anderen muß man wissen, daß Bodenschichten aus Tiefen von 20 Metern bis 60 Metern durch das Umbaggern und Verkippen an die Oberfläche gebracht werden und daß diese Bodenschichten einen hohen Säuregrad haben, wodurch selbst nach 10, 20 und mehr Jahren eine Selbstheilung der Natur dahin gehend, daß auf diesen Schichten etwas wach-
Parl. Staatssekretär Ulrich Klinkert
sen könnte, nicht stattfindet. Auch dies ist also eine Illusion.
Last, not least möchte ich darauf hinweisen, daß der von selbst eintretende Wiederanstieg des Grundwassers, also eine Flutung durch das Deckgebirge, wenn sie nicht durch den Menschen kontrolliert erfolgt, dazu führt, daß in den Restlöchern Wässer mit einem sehr niedrigen pH-Wert, also sehr saure Wässer, entstehen, die zum Effekt haben könnten, daß ein möglicherweise ausgesetzter Fisch innerhalb kurzer Zeit völlig zersetzt würde. Auch hier ist es also wirklich fern von jeder Realität, auf Selbstheilungskräfte der Natur zu hoffen.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Wonneberger.
Teilt die Bundesregierung oder teilen Sie, Herr Staatssekretär, meine Auffassung, daß der besagte und von mir hinterfragte Artikel ein großes Stück Zynismus erkennen läßt, wenn ich den Schutz von Brachpiepern über den Schutz von Menschen stelle?
Der Schreiber dieses Artikels und diejenigen Menschen, die auf die Selbstheilungskräfte der Natur hoffen, weil man damit möglicherweise Brach-pieper schützen kann, verstehen eventuell etwas von dieser Vogelart, aber absolut nichts vom Bergbau und von den damit verbundenen Gefahren für den Menschen und die Natur.
Dritte Zusatzfrage.
Welche Pläne hat die Bundesregierung in Anbetracht der auch von Ihnen geschilderten Gefahren, die Kraterlandschaften in der Lausitz und anderswo in den neuen Bundesländern auch nach 1997 zu regenerieren, und welche finanziellen Mittel stehen dafür zur Verfügung?
Sie müssen wissen, daß mehr als 100 000 Hektar Landes durch den Braunkohlebergbau der ehemaligen DDR in Angriff genommen wurden. Von mehr als 36 Tagebauen, die bis zur politischen Wende einmal in Betrieb waren, werden nur sieben dauerhaft weiterbetrieben werden können. Das heißt, daß die anderen Tagebaue meist vorfristig außer Betrieb genommen werden mußten. Hinzu kommen eine ganze Reihe von Altlasten aus der ehemaligen DDR.
Das heißt, hier steht vor dem vereinten Deutschland eine Aufgabe, die nur längerfristig zu realisieren sein wird. Bis zum Jahre 1997 stellen der Bund und die Länder jährlich 1,5 Milliarden DM für die Sanierung zur Verfügung. Bund und Länder haben sich darauf verständigt, die Sanierung auch nach 1997, zunächst bis zum Jahr 2002, weiterzuführen. Allerdings ist die Höhe der dafür auszugebenden Mittel noch nicht letztendlich beschlossen, genauso wie zur Zeit noch darüber nachgedacht wird, wie der in Kürze auslaufende § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes so ersetzt oder weitergeführt werden kann, daß auch der Beschäftigungseffekt, der durch diese Maßnahmen gegeben ist - es geht um weit mehr als 10 000 ehemalige Bergarbeiter, die heute in der Sanierung beschäftigt sind - ebenfalls weitergeführt werden kann.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich sehr für die ebenfalls umfassende Beantwortung der Fragen.
Die Fragestunde ist damit beendet, ebenso unsere heutige Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 29. Februar 1996, 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.