Gesamtes Protokol
Ich eröffne die Sitzung und wünsche Ihnen einen guten Morgen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung der Sammelübersicht 38 zu Petitionen auf Drucksache 13/1410 erweitert werden. Da die Petition die Wiederaufnahme eines Asylverfahrens betrifft, soll sie mit Tagesordnungspunkt 16 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir uns mit Aufsetzungsanträgen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befassen. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihrer Anträge zu einem Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge mit langem Aufenthalt, Drucksache 13/2550, und zu einem Abschiebestopp in den Sudan, Drucksache 13/2361, zu erweitern. Wird zu diesen Aufsetzungsanträgen das Wort gewünscht? - Das Wort hat die Abgeordnete Christa Nickels.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beantragen gemäß § 20 Abs. 2 der Geschäftsordnung die Aufsetzung ihrer Anträge Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge mit langem Aufenthalt und Abschiebestopp in den Sudan. Zusätzlich hatten wir beantragt, die Sammelübersicht 38 aufzusetzen. Nach einer Nacht- und Nebel-Aktion ist Gott sei Dank unserer GO-Auffassung dadurch gefolgt worden, daß man die Aufsetzungen doch noch einvernehmlich vornimmt. Trotzdem müssen wir uns jetzt allgemein zu dem GO-Gebaren der CDU/CSU-Fraktion verständigen.
Es ist seit einigen Monaten auf seiten der Koalitionsfraktionen Praxis, über die Geschäftsordnung alle politischen Anträge zur Asyl- und Ausländerdebatte von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf die lange Bank zu schieben. Das gilt auch für Asylpetitionen, die als Sammelübersicht nach § 75i GO eine eigenständige und keine abgeleitete Vorlage sind, wie Sie, Herr Hörster, uns immer glauben machen wollten.
Herr Hörster, Sie haben vor der Sommerpause im Ältestenrat ausdrücklich erklärt, daß Sie diese Sammelübersichten so lange hinausschieben werden, wie Sie können. Das ist erstens GO-widrig - Sie kennen anscheinend die eigene Geschäftsordnung nicht und haben den „Ritzel/Bücker" nicht gelesen, der klipp und klar besagt, daß diese Sammelübersichten nach § 112 Abs. 2 der Geschäftsordnung innerhalb von drei Sitzungswochen als eigenständige Vorlage aufgesetzt werden müssen -, und zweitens ist das ein eklatanter Angriff gegen das Petitionsrecht.
Wie Sie vielleicht wissen, können wir die Pflicht, die wir nach dem Grundgesetz haben, nämlich Petitionen zu bearbeiten und zu bescheiden, erst dann umsetzen, wenn das Plenum als Ganzes über eine Sammelübersicht beschlossen hat. Sie schieben seit fünf Monaten - nach Ihrer Aussage sind die Asylpetitionen doch eilbedürftig; wir wollen sie nicht auf die lange Bank schieben, wie Sie uns immer unterstellen, sondern wir wollen sie zügig bearbeiten - die Einzelpetition eines Asylbewerbers mit einer geschäftsordnungswidrigen Auslegung auf die lange Bank.
Ich bin dankbar, daß Herr Wiefelspütz gestern abend klare Worte dazu gesagt und Sie eines Besseren belehrt hat. Aber Sie haben damit das Petitionsrecht eklatant angegriffen. Ich weise das mit allem Nachdruck zurück und fordere Sie auf, in Zukunft nach der geltenden Geschäftsordnung diese Anträge, vor allen Dingen auch die Petitionssammelübersichten, zügig und sachgerecht zu bearbeiten.
Schönen Dank.
Ebenfalls zur Geschäftsordnung erhält der Abgeordnete Hörster das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Aufgeregtheiten und die Verdrehungen, die Frau Nikkels hier dargestellt hat, tragen zur sachlichen Aufhellung der Vorgänge überhaupt nicht bei.
Zunächst einmal will ich in aller Ruhe festhalten, daß wir in den Gesprächen, die regelmäßig zwischen den Fraktionen auf der Geschäftsführerebene geführt werden, die Frage einer Ausländerdebatte erörtert haben, in der möglichst alle anstehenden Probleme, Anträge, Überlegungen und Gesetzentwürfe zu diesem Thema behandelt werden.
Denn nicht nur die Grünen, sondern auch die Koalition ist an diesem Thema dran; die Sozialdemokraten sind es nach meiner Kenntnis auch.
Es dient dem Sachverhalt überhaupt nicht, hier mit wechselseitigen Unterstellungen in dieser schwierigen Materie das Klima zwischen den Fraktionen in diesem Haus zu vergiften.
Deswegen sind wir dafür, diese Debatte mit allergrößter Sachlichkeit, Ruhe und sorgfältiger Vorbereitung zu führen. Daher lehnen wir es ab, die beiden von Ihnen beantragten Punkte aufzusetzen.
Frau Nickels, was den anderen Sachverhalt anbetrifft, würde ich Ihnen dringend empfehlen, sich beim Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses, den Sie eben für Ihre Unterstellungen in Anspruch genommen haben, einmal zu erkundigen. Er wird Ihnen dann berichten, daß die Praxis des Deutschen Bundestages eine andere ist als die, die wir heute praktizieren. Der Deutsche Bundestag hat nämlich bei der Behandlung von solchen Petitionen bisher eine andere Übung an den Tag gelegt als die, die Sie jetzt praktisch überfallartig von uns verlangen. Das wissen Sie ganz genau. Ich kenne ja den Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses. Er wird Ihnen das gleiche berichtet haben, was er mir in dieser Angelegenheit berichtet hat.
Uns ist bekannt, daß Sie aus völlig anderen Erwägungen heraus diese Diskussion führen und dieses Klima in die Debatte bringen: weil Sie eine Scharte im Zusammenhang mit den Sudanesen auszuwetzen haben, wo Ihnen Ihr Parteitag furchtbar das Fell verhauen hat.
Weil Sie in dieser Sache nicht richtig durchgeblickt haben,
versuchen Sie jetzt, hier eine solche Diskussion mit diesen Unterstellungen zu führen.
Ich denke, das, was wir für die Tagesordnung heute vereinbart haben, ist sachlich begründet und bedarf keiner Änderung.
Ebenfalls zur Geschäftsordnung erhält der Kollege Körper das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich bin immer dafür, mit Ruhe und Sachlichkeit Themen zu diskutieren. Nur dürfen Ruhe und Sachlichkeit nicht dazu führen, daß man notwendigen Themen ausweicht und die Diskussionen scheut.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben zu diesem Themenbereich einige Anträge gestellt, die derzeit im Innenausschuß des Deutschen Bundestages anhängig sind. Ich sage dem Kollegen Hörster, daß ein Teil dieser Anträge sogar bis auf den Monat Februar dieses Jahres zurückgeht. Ich denke, es wäre in der Tat Zeit genug für die Koalition, sich in diesen Fragen ein bißchen beweglicher und diskussionsfreudiger zu zeigen.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion werden dem Aufsetzungsbegehren zustimmen,
mit dem Hinweis versehen, daß wir nicht jedem Spiegelstrich, der in diesen Anträgen vorkommt, inhaltlich zustimmen. Weil wir aber die Diskussion darüber wollen und - so sage ich - nicht scheuen, werden wir diesem Begehren zustimmen.
Im übrigen bin ich froh, daß die Problematik der Diskussion um den § 112 unserer Geschäftsordnung so gelöst worden ist, wie sich das heute morgen zeigt.
Wie gesagt: Wir werden dem zustimmen.
Zur Geschäftsordnung der Herr Kollege van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen zur Zeit mit unserem Koalitionspartner in Verhandlungen in bezug auf eine dringend notwendige Novellierung des Ausländer- und Staatsbürgerschaftsrechts. Von daher ist bereits jetzt vereinbart worden, daß wir in den nächsten Wochen in der Kernzeit - ich meine, daß das eine Debatte ist, die in der Tat am Donnerstag vormittag geführt werden muß - eine Debatte zu diesen Rechtsfragen führen werden. Deshalb wenden wir uns dagegen, einzelne vorgezogene Punkte - es soll nämlich dann eine Gesamtbestandsaufnahme dieses Feldes geben - heute bereits zu verhandeln.
Ich mache eine kleine Ausnahme, was die Petitionen anbelangt. Kollege Hörster hat hier zu Recht darauf hingewiesen, daß es eine bestimmte Praxis gegeben hat.
Ich habe mir das gestern noch einmal mit Sorgfalt angeschaut und neige dazu, daß die Auffassung, die der Kollege Wiefelspütz in dieser Frage vertritt, einen gewissen rechtlichen Hintergrund haben könnte.
- Sie sehen, ich könnte fast schon Außenminister werden; so diplomatisch habe ich das ausgedrückt.
Deshalb bin ich der Ansicht, daß wir die Diskussion über die Petitionen heute führen sollten.
Herzlichen Dank.
Zur Geschäftsordnung die Abgeordnete Jelpke. Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir sind dafür, daß die Anträge, deren Aufsetzung vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefordert wird, befürwortet werden. Ich möchte das kurz begründen.
Wir haben es erst vor wenigen Wochen erlebt, daß sieben Flüchtlinge aus dem Sudan abgeschoben wurden.
Wir haben jetzt erfahren können, daß die Ärzte bestätigt haben, daß drei von ihnen gefoltert wurden. Trotzdem wurden sie abgeschoben. Ich möchte auch noçh einmal daran erinnern, daß die Abschiebung erfolgte auf Grund einer lapidaren Zusage, einer Garantieerklärung des sudanesischen Regimes, eines Regimes, das zweifellos - das müßte ich eigentlich annehmen - von allen Fraktionen und Gruppen als
menschenfeindlich und diktatorisch eingeschätzt wird.
Ich denke, diese Tatsache muß dazu führen, daß man einsieht, daß eine Einzelfallprüfung nicht mehr ausreicht und daß deswegen die Notwendigkeit, hier und heute über einen Abschiebestopp zu diskutieren, eindeutig gegeben ist.
Zum zweiten Punkt, zu den Altasylfällen: Immer wieder werden Abgeordnete angerufen, und es wird mitgeteilt, daß Menschen fünf Jahre oder länger auf die Entscheidung warten müssen, ob ihr Asylantrag befürwortet wird oder nicht. Ich halte das für unzumutbar und denke, daß in diesen Fällen dringend eine Lösung herbeigeführt werden muß. Auch wenn der Bundesrat jetzt aktiv wird, ist es an der Zeit, hier und heute den Antrag der GRÜNEN zu diskutieren, der auch unsere Zustimmung finden würde.
Was die Petitionen angeht, möchte ich sagen, daß sich das weitgehend erledigt hat. Ich will dennoch daran erinnern, daß wir schon im Sommer einen Antrag eingebracht haben, mit dem wir auch einen Abschiebestopp in bezug auf Algerien fordern. Denn auch Algerien ist von islamisch-fundamentalistischen Auseinandersetzungen und von Menschenrechtsverletzungen auch durch die gegenwärtige Militärführung gezeichnet. Auch hier besteht die Notwendigkeit, von Einzelfallprüfungen abzusehen und zu einem generellen Abschiebestopp zu kommen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses, Herrn Abgeordneten Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil hier heute morgen mehrfach § 112 der Geschäftsordnung angesprochen worden ist, will ich ganz wenige Sätze sagen.Sie wissen, daß es mancherlei schwierige juristische Fragen gibt. An anderer Stelle wird heute über Verfassungsrecht, Verfassungspolitik, Verfassungsethik gesprochen.
Es gibt aber auch Fragen, die eindeutig sind. Im § 112 ist die Rede davon, daß nach drei Sitzungswochen eine Sammelübersicht aufgesetzt werden kann.
- Muß.
Die Übung des Hauses ist anders. Aber wenn darauf Wert gelegt wird, ist die diesbezügliche Regelung völlig klar. Deswegen war es richtig, daß wir
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5266 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995
Dieter Wiefelspützuns gestern abend bzw. heute morgen geeinigt haben. Wir haben es uns dadurch erleichtert, daß wir keinen großen Streit hatten.Die Auslegung der Geschäftsordnung hier ist völlig eindeutig. Durch die etwas andere Übung des Hauses ist kein neues Geschäftsordnungsrecht entstanden und wird auch in Zukunft keines entstehen.Schönen Dank.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag. Wer stimmt dafür, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einem Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge mit langem Aufenthalt auf Drucksache 13/2550 zu erweitern? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Aufsetzungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt dafür, die Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einem Abschiebestopp in den Sudan auf Drucksache 13/2361 zu erweitern? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Aufsetzungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung
- Drucksache 13/2490 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß mitberatend
und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes
- Drucksache 13/1829 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat das Wort für die Bundesregierung Herr Minister Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man muß Verständnis für die Kollegen haben, die jetzt den Saal verlassen. Sie wollen sicherlich alle bei ihrer Kreishandwerkerschaft anrufen und mitteilen, daß wir jetzt über das Meister-BAföG beraten.
Meine Damen und Herren, wenn wir über zukünftige Entwicklungen reden, wenn wir über das 21. Jahrhundert reden, dann weisen wir mit Recht darauf hin, daß unser Land vor großen Herausforderungen steht. Es ist wahr, daß man solche Herausforderungen nur bewältigen kann, wenn man darauf gut vorbereitet ist. Deshalb hat die Bildungspolitik auf diesem Weg in das 21. Jahrhundert einen so hohen Stellenwert.
Fit werden für das 21. Jahrhundert, das heißt für mich in der Bildungspolitik: mehr Qualität, mehr Leistung, mehr Wettbewerb, mehr Differenzierung, aber auch mehr Chancengerechtigkeit, mehr Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung. Gleichwertigkeit ist eben nicht Gleichartigkeit, sondern heißt: gleiche Behandlung. Deshalb geht die Bundesregierung mit diesem hier vorgelegten Gesetzentwurf entschlossen den Weg, die berufliche Bildung der akademischen Bildung gleichzustellen.
Berufliche Bildung darf von den Betroffenen nicht als Sackgasse empfunden werden. Ich finde, wir können die Leistung beruflich Qualifizierter gar nicht hoch genug einschätzen. Wenn wir in diesen Tagen stolz darauf sind, daß eine deutsche Professorin und ein Direktor am Max-Planck-Institut je einen Nobelpreis bekommen haben, dann zeigt das, daß wir in Deutschland eine exzellente Landschaft für Forschung, Technologie und Entwicklung haben.
Aber genauso stolz - ich sage dies bewußt und überlegt - können wir in Deutschland auf unsere Facharbeiter sein, auf unsere Handwerksmeister, die die Basis für solche Spitzenleistungen, die dann weltweit anerkannt werden, bilden.
Deshalb bin ich den Koalitionsfraktionen dankbar, daß sie den Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Bundesgesetz zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung unterstützen und als Fraktionsinitiative vorgelegt haben, weil wir damit den besonders leistungsbereiten und den besonders zielstrebigen Fachkräften in unserem Land einen Dienst erweisen. Für das weitere Verfahren sage ich hier: Wir erweisen ihnen einen besonders großen Dienst, wenn wir durch ein zügiges Gesetzgebungsverfah-
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
ren sicherstellen, daß dieses Gesetz zum 1. Januar 1996 im Gesetzblatt steht.
Ich sage dies mit einer Bitte an alle Fraktionen dieses Hauses. Wenn etwa die SPD eine Anhörung durchführen will, was ihr gutes Recht ist, sollten wir dies so terminieren, daß wir den November-Termin des Bundesrates noch erreichen können. Ich sage dies auch in Richtung Bundesrat, weil sichergestellt werden muß, daß sich nicht am 1. Januar 1996 junge Leute, die einen Meisterkursus besuchen wollen, dazu vielleicht nicht entscheiden, bloß weil wir irgendwo im Vermittlungsverfahren noch nicht mit den Beratungen fertig sind. Deshalb die herzliche Bitte, daß wir zu einem zügigen Verfahren kommen.
Bei der Regierungsbefragung am 21. September 1995 hat ein Abgeordneter gesagt, er würde seinem Sohn raten, die gesetzlichen Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen, sondern sich das Geld bei seiner Bank oder Sparkasse zu besorgen.
Jeder Abgeordnete kann jede Meinung in diesem Haus frei äußern. Er übernimmt allerdings die Verantwortung für die Richtigkeit und Plausibilität seiner Äußerungen. Ich möchte hier feststellen, daß die Meinung dieses Abgeordneten weder von den Verbänden noch vor allen Dingen von den angehenden Meistern geteilt wird, wie wir aus einer Vielzahl von Veröffentlichungen und von Briefen, die in diesen Tagen hier eingegangen sind, wissen, die gesagt haben: Wir wollen dieses Gesetz, und wir sind für die Verbesserung dankbar, die hier erzielt wird, weil wir damit erstmals einen eigenständigen Rechtsanspruch auf Förderung im Bereich der beruflichen Bildung bekommen.
Es ist der Entwurf eines eigenen Bundesgesetzes, der hier beraten wird. Die Kosten des Förderungsgesetzes werden aus Steuermitteln aufgebracht. Auf die Leistungen besteht ein umfassender Rechtsanspruch — statt einer Kann-Leistung wie bei früheren Förderungsmöglichkeiten, wo es zu den Maßnahmekosten auch nur einen Zuschuß gab. Künftig erhält der Geförderte die Mittel, die er für die Aufstiegsfortbildung tatsächlich braucht. Ich finde, das ist ein entscheidender Fortschritt. Deshalb, werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ist es mir völlig unerfindlich, daß Sie in den vergangenen Tagen die Rückkehr zu einer Förderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz vorgeschlagen haben. So etwas wäre kein Fortschritt. So etwas wäre Rückschritt.
Wie auch beim BAföG geplant, wird die Förderung teilweise in Form von verzinslichen Bankdarlehen geleistet. Die Leistungen zum Lebensunterhalt werden zum Teil als Zuschuß geleistet und je nach Familienstand und Familiengröße aufgestockt. Auch dies ist wichtig, weil wir damit berücksichtigt haben, daß es sich in der Regel um Menschen handelt, die bereits Familie haben, die zum Teil Kinder haben. Auch das ist eine wichtige Komponente in diesem Gesetzentwurf.
Im übrigen können die Maßnahmekosten auch im Wege des Vor- und Rücktrags in andere Jahre bei der Einkommen- und Lohnsteuer in voller Höhe als Werbungskosten berücksichtigt werden, und zwar unabhängig von der gewährten Darlehensförderung. Das ist ein wichtiger Punkt, der bisher in der Diskussion noch nicht so wahrgenommen worden ist. Allein dieser Steuervorteil kommt einem Zuschuß von 25 bis 30 % gleich. Das heißt, wenn ich jetzt einmal über die Beträge, die wir im Gesetzentwurf als Steuermittel ausgewiesen haben, rede, muß man diese Beträge, die sich aus der steuerlichen Absetzbarkeit ergeben, noch hinzurechnen. Allein die 1 Milliarde DM, die die Bundesregierung jetzt bis Ende des Jahrzehnts zur Verfügung stellt, zeigt auch, daß wir hiermit ein ganz ernsthaftes Vorhaben betreiben.
Es ist auch gut, daß es einen Darlehenserlaß für Existenzgründer und Betriebsübernehmer gibt, weil dadurch ein zusätzlicher Anreiz geschaffen wird, den Weg in die Selbständigkeit zu beschreiten. Das stärkt unsere Wettbewerbsfähigkeit. Das schafft zusätzliche Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Wer weiß, daß wir gerade im Bereich des Handwerks bis zum Ende des Jahrhunderts rund 200 000 Betriebsnachfolger brauchen, wer weiß, daß wir im Bereich kleinerer und mittlerer Unternehmen weitere 500 000 Betriebsnachfolger brauchen, der weiß auch, daß dieser Gesetzentwurf eine echte Hilfestellung ist. Denn nur diejenigen, die sich jetzt auf den Weg machen, werden bis zum Jahr 2000 auch die Betriebe übernehmen können und damit den stabilen Mittelstand in unserem Land weiter sichern und erhalten können.
Dieses Gesetz ist voraussichtlich das einzige neue Leistungsgesetz dieser Legislaturperiode. Es ist gut, daß damit deutlich gemacht wird, welchen Stellenwert die berufliche Bildung für die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen hat.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zum Gesetzentwurf zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes sagen, weil auch dies einer der Punkte ist, mit denen die Koalitionsfraktionen sehr, sehr deutlich machen, wie ernst es ihnen mit der Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Ausbildung ist. Nach den Vorstellungen der Koalitionsfraktionen sollen mit diesem Gesetz die hochschulrechtlichen Voraussetzungen für die bundesweite Gleichstellung der Abschlüsse von Berufsakademien nach dem Modell Baden-Württembergs mit Fachhochschulabschlüssen geschaffen werden.
Das muß man sich eigentlich einmal auf der Zunge zergehen lassen: In Baden-Württemberg bestehen die Berufsakademien seit fast 20 Jahren. Wir wissen aus der praktischen Erfahrung in Baden-Württemberg seit fast 20 Jahren, daß hiermit jungen Menschen eine tolle Chance eröffnet wird, gleichzeitig im Betrieb und durch ein Studium ihre Ausbildung zu vervollständigen, um damit eine gute Perspektive für ihre anschließende berufliche Tätigkeit zu bekommen.
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
Ich frage mich, welches Schlaglicht das auf die Bildungspolitik in Deutschland im Hinblick auf die Koordinierung der Länder wirft, wenn man für ein erfolgreiches Modell in Deutschland 20 Jahre um seine Anerkennung kämpfen muß.
Dieses Schlaglicht zeigt, meine Damen und Herren, was Sie in der Bildungspolitik ändern müssen. Es geht um junge Menschen. Da hat man nicht 20 Jahre Zeit,
um sich darüber zu verständigen, ob man ideologische Vorbehalte endlich abbaut oder nicht.
Gott sei Dank hat die Kultusministerkonferenz Ende September die Gleichstellung von Berufsakademieabschlüssen mit Fachhochschulabschlüssen mit Blick auf den Berufszugang zu reglementierten Berufen im europäischen Ausland geregelt. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Doch die Frage der hochschulrechtlichen Gleichstellung im Inland bleibt ausgeklammert. Das heißt, in den Ausschußberatungen wird zu prüfen sein, wie wir in dieser Frage weiterkommen.
Für mich steht eines fest: Wenn wir nicht endlich den Mut zu einem differenzierten, zu einem begabungsgerechten, zu einem offenen Bildungssystem haben, dann werden wir den jungen Menschen und ihren Zukunftschancen nicht gerecht.
Ich erteile dem Abgeordneten Franz Thönnes das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Friedrich Schiller lehrt uns in „Wilhelm Tell" : „Früh übt sich, was ein Meister werden will."
In einem anderen wichtigen Werk führt der große deutsche Dichter aus:
Von der Stirne heiß
rinnen muß der Schweiß,
soll das Werk den Meister loben doch der Segen kommt von oben.
Zum Lob, geschweige denn zum Segen, gibt der vorliegende Gesetzentwurf keinen Anlaß, Herr Hinsken, wahrhaftig nicht.
Er ist auch alles andere als ein revolutionärer Schritt, wie es der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion in der Mittelstandsdebatte letzten Monat meinte,
es sei denn, die Regierung und die Koalition legen sich durch die Abschaffung bewährter Förderinstrumente - wie der Aufstiegsfortbildung im AFG - jetzt selbst die Grundlage für Revolutionen. Das wäre ganz etwas Neues in diesem Hause.
Nein, der vorliegende Gesetzentwurf zur Aufstiegsfortbildungsförderung ist kein revolutionärer Schritt; er ist ein unbefriedigendes Reparaturgesetz.
Repariert werden soll der Schaden, der durch die Streichung im AFG angerichtet worden ist. Gab es zunächst Zuschüsse auf Darlehen, was umgestellt wurde, eine Maßnahmenbeteiligung, so wurde im Bereich der bewährten Regelungen des Jahres 1963 nach und nach ein Fördervolumen von 800 Millionen DM zurückgefahren. Der angerichtete Schaden ist verheerend. 30 % der möglichen Prüfkandidaten haben ihre Qualifikation zurückgestellt, so Hanns Peter Kuhfuhs, Berufsbildungsexperte des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks Mitte 1995.
Die Handwerkskammer Dortmund konstatiert, daß die Anmeldezahlen bei Meisterkursen um 30 % unter denen des Vorjahres liegen. Die Handwerkskammer Köln spricht gar von einer Gründerlücke und belegt, daß die Zahl der abgelegten Meisterprüfungen um 10 % zurückgegangen ist.
Die Wirtschaftsakademie in Schleswig-Holstein, getragen von den drei Industrie- und Handelskammern in Schleswig-Holstein, beschreibt einen 50%igen Rückgang der Teilnehmerzahlen für staatlich geprüfte Betriebswirte.
Bei den Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsrecht im Bereich der Betriebswirtschaft ist man von einer durchschnittlichen Zahl von 90 Teilnehmern auf vier Anmeldungen zurückgefallen. Die Deutsche Angestelltenakademie in Kiel mußte sogar ihren Fachschulbetrieb einstellen.
Daher muß mehr als deutlich gesagt werden, wie es auch die Handwerkskammer Dortmund zurückhaltend formuliert, die zur Einstellung der Förderung der zehnten AFG-Novelle schreibt: „Leider wurde diese unglückliche Maßnahme bisher nicht ausreichend korrigiert" , daß für diesen unmöglichen Zustand einzig und allein diese Koalition verantwortlich ist, die entgegen allen Warnungen der Verbände und der SPD unnötig großen Schaden angerichtet hat.
Nun teilen auch die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien die Kritik der Verbände, der Betroffenen und der SPD. Diese Einsicht kommt spät, aber immerhin: Sie kommt.
Franz Thönnes
So heißt es in der Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs treffend:
Derzeit fehlt ein geeignetes Förderinstrument, durch das die Heranbildung künftiger Meister und Techniker und mittlerer Führungskräfte stärker unterstützt werden kann.
Ich füge hinzu: Wenn der Gesetzentwurf so bleibt, wie er jetzt ist, dann fehlt auch zukünftig ein geeignetes Förderinstrument.
Der von uns geteilte Anspruch, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung herzustellen, bleibt ein Lippenbekenntnis. Den Anforderungen des Handwerks und des Mittelstands vor dem Hintergrund gerade der zu erwartenden ca. 700 000 Betriebsübergänge in den nächsten fünf Jahren wird der vorliegende Entwurf nicht gerecht.
Der Entwurf würdigt überhaupt nicht die Weiterbildungsbereitschaft der vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Vollzeit- oder Teilzeitmaßnahmen Weiterbildung absolvieren wollen. Er würdigt auch nicht die hervorragenden Leistungen des Handwerks und des Mittelstands für Arbeitsplatz und Ausbildung.
Der Entwurf ist mit heißer Nadel genäht, lückenhaft und ähnelt eher einer Flickschusterleistung als der eines Meisterwerks.
Er ist das Resultat - um einmal im Handwerksjargon zu bleiben - der Bäckergesellen Rüttgers und Rexrodt, die große Taten ankündigen und nun kleine Brötchen backen.
- Da ein Vertreter des Handwerks eine Frage hat, Herr Hinsken, lasse ich diese Frage gern zu.
Herr Kollege Thönnes, ich pflichte bei, wenn Sie feststellen, daß die Mittelansätze sehr niedrig sind. Mehr wäre natürlich auch mir lieber. Aber sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich speziell die tragenden Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, positiv darüber äußerten, daß Bundesminister Rüttgers überhaupt etwas auf die Beine gestellt und nach vorne getrieben hat,
um endlich eine neue, positive Weichenstellung für die beruflichen Ausbildungsnehmer usw. nach vorn zu bringen?
Werter Kollege Hinsken, ich möchte nicht, daß Sie so lange stehenbleiben müssen, bis ich in meiner Rede zu einer Antwort komme. Setzen Sie sich, hören Sie zu. Ich werde Ihnen dazu gleich einige Stellungnahmen aus Ihren Verbandsbereichen vorlesen. Die werden Sie sehr beeindrucken.
Am 19. März 1995 erklärte der Wirtschaftsminister in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", bei der neuen Regelung für die Aufstiegsfortbildung werde die Bundesregierung richtig Geld in die Hand nehmen.
Der Zukunftsminister erklärte zur gleichen Zeit bei der Mittelstandskundgebung des Bundes der Selbständigen: Was den Studenten recht ist, muß den Meisterschülern billig sein. Oder hat er vielleicht gemeint, die Meisterschüler müssen billig sein?
Ich denke, das ist der Grund gewesen. Gerade 100 Millionen DM will er 1996 in die Hand nehmen gegenüber 800 Millionen DM nach dem alten AFG, ganz zu schweigen von dem beabsichtigten Interesse, in die Kassen der Länder zu greifen, deren Mitfinanzierung man einfordert, um die eigene Koalitionsvereinbarung einzulösen. Und es kommt die beabsichtigte Refinanzierung durch die Zinszahlungen der BAföG-Empfänger in anderen Bereichen hinzu.
Wenn der Entwurf von Zukunftsminister Rüttgers schon als ein „Leistungsgesetz" bezeichnet wird, so wohl nur, weil sich die Regierung hier auf Kosten Dritter einen Scheinerfolg leisten will.
Auch fehlt die handwerkliche Zuverlässigkeit bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs. Hieß es am 8. März 1995 noch, daß man bei der Frage der Mitfinanzierung durch die Länder zum damaligen Zeitpunkt davon ausgehe, daß es sich um eine Maßnahme handle, die vom Bund durchgeführt werde, so sollen nun die Länder zur Mitfinanzierung herangezogen werden. Heißt es in der Drucksache 13/735 in der Unterrichtung durch die Bundesregierung noch, „daß die Förderung für Maßnahmekosten als Zuschuß geleistet werden" soll, so sollen nun die berufsbegleitenden Lehrgänge nur noch über Darlehen gefördert werden. Damit wird insbesondere der Teilnehmerkreis derjenigen Berufstätigen erheblich benachteiligt, die zusätzliche Anstrengungen und Aufwendungen einbringen und neben der beruflichen Tätigkeit Weiterbildung absolvieren. Hieß es am 15. Juni dieses Jahres von Zukunftsminister Rüttgers gar, daß der geplante Finanzrahmen mit Sicherheit in der Größenordnung von 400 Millionen DM liege, so wird beim Bund 1996 gerade ein Viertel dieser Größenordnung in den Haushalt eingestellt.
Nun kommt die Aussage des Zukunftsministers, daß alles mit allem zusammenhängt, immer wieder auf die Tagesordnung, und er meint auch, daß ein Spatz in der Hand besser ist als eine Taube auf dem Dach. Wenden wir uns nun also dem Spatzen zu! Der Schritt auf dem Weg zur Herstellung der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ist richtig, aber zu kurz. Der Rechtsanspruch ist zu begrüßen. Gleichwohl wären eine Rückbesinnung auf die AFG-Bedingungen sowie eine Orientierung in einem weiterentwickelten ASFG besser.
Das Aufgreifen von Qualitätsregelungen bei den Maßnahmen ist richtig und entspricht auch unseren Vorstellungen in unserem Antrag zur Weiterbildung, der in der 12. Legislaturperiode eingebracht wurde. Es ist aber zu fragen, ob es denn den Tatsachen ent-
Franz Thönnes
spricht - Herr Hinsken, aufgemerkt! -, wenn der Zukunftsminister am 21. September dieses Jahres hier im Hause erklärt, daß die großen Verbände, wie Zentralverband des Deutschen Handwerks und DIHT, die jetzt vorliegenden sogenannten Lösungen in vollem Umfang begrüßen. Zu fragen ist deswegen, weil erst am 28. September dieses Jahres der Bildungsausschuß des DIHT tagte und zu folgendem Ergebnis gekommen ist:
Die im Vergleich zur Studienförderung minimalen Finanzmittel des AFBG schaffen keine Gleichwertigkeit der Berufsbildung mit der Hochschulausbildung. Die bildungs-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch effektiveren Teilzeitmaßnahmen werden benachteiligt trotz ihrer eindeutigen Vorteile. Vollzeitmaßnahmen werden dagegen mit Zuschüssen zu den Unterhaltskosten bevorzugt, obwohl die Teilnehmer ihre Arbeitsplätze aufgeben müssen. Die Förderstruktur muß daher geändert werden. Zu den Lehrgangs- und Prüfungskosten sollte ein Zuschuß von 30 % geleistet werden. Der Unterhaltsbeitrag sollte analog zur angestrebten BAföG-Regelung nur als Darlehen gewährt werden. Die finanzielle Ausstattung muß insgesamt erhöht werden.
Diese Kritik, die die SPD teilt, setzt sich auch in anderen Bereichen fort.
So läuft derzeit - Herr Hinsken, das kennen Sie wahrscheinlich aus Ihrer Nähe - bei der IHK für München und Oberbayern in dem in Frage kommenden Teilnehmerkreis eine Unterschriftensammlung mit folgendem Text:
Der jetzt vorliegende Entwurf zu dem Gesetz hält nicht im entferntesten, was versprochen war, und muß fast als Zumutung insbesondere für die berufsbegleitenden Teilnehmer an den Lehrgängen der Aufstiegsfortbildung bezeichnet werden. Die Gleichwertigkeit der beruflichen und allgemeinen Bildung, die als Ziel angestrebt war, rückt mit dem Gesetzentwurf keinen Schritt näher.
Der Industriemeisterverband Deutschlands
schreibt gar, daß die im Juli bekanntgewordenen Vorstellungen der Bundesregierung zu der in der Regierungserklärung und danach immer wieder angekündigten finanziellen Förderung der beruflichen Weiterbildung, ganz besonders aber der nun vorliegende Entwurf ihn tief enttäuscht, ja, Verbitterung hervorgerufen hat.
Das setzt sich bis zur niederbayerischen Industrie- und Handelskammer in Passau fort, die schreibt:
Leider setzt der vorliegende Regierungsentwurf zum Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz ein falsches Signal in Richtung einer weiteren Verschulung der beruflichen Weiterbildung. Der Entwurf bevorzugt einseitig die Förderung des Vollzeitunterrichts und der damit verbundenen Lebenshaltungskosten. Teilnehmern, die sich neben ihrem Beruf fortbilden und selbst für ihren
Lebensunterhalt sorgen, sollen nach dem bisherigen Konzept im Gegensatz zu Vollzeitteilnehmern überhaupt keine Zuschüsse erhalten und können lediglich, wenn sehr strenge Voraussetzungen erfüllt sind, Darlehen für die Lehrgangs- und Prüfungskosten in Anspruch nehmen.
Die Wirtschaftsakademie in Schleswig-Holstein - Herr Hinsken, damit das über die ganze Republik auch schön von Süd bis Nord geht - beschreibt auch, daß diese Entwicklung nicht einsehbar sei, „da die staatlich geprüften Betriebswirte als Absolventen unserer Fachschule gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Mit der Rückführung der öffentlichen Förderung wird die berufliche Weiterbildung tendenziell benachteiligt. Der politischen Förderung nach Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung wird ein schlechter Dienst erwiesen." Ich glaube, Ihre Frage ist damit beantwortet.
Im übrigen sollte der Zukunftsminister damit aufhören, bei Handwerk, Mittelstand und Weiterbildungseinrichtungen sowie gegenüber den abwartenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den Eindruck zu erwecken, alles könne bereits am 1. Januar 1996 gelaufen sein.
Herr Rüttgers, wir sind an einer schnellen Beratung interessiert, aber streuen Sie den Menschen keinen Sand in die Augen. Sie kennen genau wie wir die Daten von Bundesrat und Bundestag. Wenn es nicht zu einer einvernehmlichen Regelung kommt, muß mit der Anrufung des Vermittlungsausschusses gerechnet werden.
So wie Sie es mit der Länderfinanzierung angelegt haben, laufen Sie Gefahr, daß diese Entwicklung eintritt. Selbst wenn in diesem Hause Mitte Dezember ein Gesetz verabschiedet werden sollte, sind die entsprechenden Umsetzungsbedingungen draußen im Lande nicht vorhanden.
Dennoch sind wir bereit, im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine zügige Beratung des Gesetzes vorzunehmen. Das heißt aber, daß wir eine Anhörung durchführen müssen, bei der geklärt werden muß, ob die Fördergrößen überhaupt ausreichend sind oder ob es nicht besser ist, am Unterhaltsgeld des Arbeitsförderungsgesetzes eine Orientierung vorzunehmen.
Es muß geklärt werden, ob die Teilzeitmaßnahmen, die berufsbegleitenden Maßnahmen im Sinne einer Gleichbehandlung nicht genauso zu unterstützen sind wie die Vollzeitmaßnahmen. Es muß geklärt werden, ob die 8,5 % Zinsen nicht zu hoch sind. Es muß geklärt werden, wie die sozialversicherungsrechtlichen Fragen bis hin zum Wohngeld geregelt werden müssen, damit sie keine Verschlechterung gegenüber den AFG-Bedingungen zur Folge haben.
Es muß geklärt werden, ob nicht auch Teilzeitarbeit und Weiterqualifikation gefördert werden müßten. Es ist darüber zu entscheiden, ob die Rückzah-
Franz Thönnes
lungs- und die Befreiungskriterien bei der Existenzgründung den eigentlichen Zweck erfüllen. Schließlich fehlt bislang eine Frauenförderkomponente im vorliegenden Gesetzentwurf.
Der Mangel an einer Übernahme von Kinderbetreuungskosten, die in dem von der SPD vorgelegten ASFG-Entwurf und teilweise auch im AFG geregelt sind, muß behoben werden. Es liegt an Ihnen, Herr Rüttgers, diese schwere Hürde, die Sie sich selbst gestellt haben, nämlich einen Konsens mit den Ländern herbeizuführen, zu überspringen.
So wie der Entwurf jetzt aussieht, kann er unsere Zustimmung nicht finden. Wir fühlen uns in all unseren Kritiken bestätigt. Mittlerweile, Herr Hinsken, soll es sich bis zur bayerischen Staatsregierung, so habe ich gehört, herumgesprochen haben, daß viele der Kriterien berechtigt sind und man versuchen will, im Bundesrat eine andere Regelung herbeizuführen.
Ein altes Sprichwort lehrt uns: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Ein weiteres weiß auch: Drei Dinge machen einen guten Meister aus, Wissen, Können und Wollen. Wissen unterstellen wir dem Zukunftsminister. Wollen hat er wahrscheinlich auch versucht, aber können hat er nicht gedurft. Das ist der wahre Grund, warum dieses Gesetz so aussieht.
Der Gesetzentwurf ist kein Meisterwerk. Dafür gibt es dann auch nicht den bewährten Meisterbrief. Es muß nachgearbeitet werden. Anhörung und Beratung im Ausschuß geben dazu Gelegenheit. Wir werden mit Ihnen an diesem Werk feilen.
Wir wollen ein wirksames und nicht unvollständiges Reparaturgesetz. Wir wollen den Interessen der Teilnehmerinnen und Teilnehmern der weiterbildungsbereiten Menschen, in diesem Land, den Notwendigkeiten und den Erfordernissen sowie den von Ihnen beschriebenen Herausforderungen, die sich uns für Handwerk und Mittelstand stellen, gerecht werden, indem wir ein Gesetz verabschieden, das wirklich den Namen Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz verdient.
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Matthias Berninger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Rüttgers! Wenn auf der einen Seite ein Rückgang von zum Teil über 30 % bei den Meisterschülerinnen und Meisterschülern in diesem Land zu verzeichnen ist, auf der anderen Seite in kleinen und mittleren Unternehmen immer lauter geklagt wird, daß die Kapazitäten für einen Generationenwechsel fehlen, dann ist es eine logische Konsequenz, daß wir uns darum kümmern müssen, daß es mehr Meisterschülerinnen und Meisterschüler gibt, damit letzten Endes das Potential für eine Frischzellenkur in kleinen und mittleren Unternehmen gegeben ist. Deswegen ist es grundsätzlich richtig, daß wir uns mit diesem Thema beschäftigen.
Die neuen Meister, diese neuen Führungskräfte in kleinen und mittleren Unternehmen, bieten für unser Land die Chance zu einem ökologischen Strukturwandel; sie sind die Chance für unser Land, endlich mit Innovationen zu beginnen und verkrustete Strukturen aufzubrechen.
Herr Minister Rüttgers, nun wollen Sie uns mit Ihrem Entwurf hier darstellen, Sie seien der Zukunftsminister, der uns zukunftsfähige Vorschläge präsentiert, obwohl Sie genau wissen, daß es nicht so ist.
Der entscheidende Grund, warum es nicht so ist, ist, daß der Handlungsdruck und die Krise, vor der wir im Moment stehen, von Ihnen verursacht worden sind. Das ist keine zwei Jahre her. Ohne irgend etwas Alternatives vorzulegen, haben Sie seinerzeit erst einmal die AFG-Förderung gestrichen. Heute aber argumentieren Sie hier mit einer Notsituation. Angesichts eines solchen Regierungshandelns wäre ich ganz still! Ich würde Ihnen empfehlen, statt dessen einmal zu überlegen, ob Sie jetzt allen Ernstes politisch seriös argumentieren können, wir befänden uns heute in einem unerhörten Handlungsdruck. Diesen Handlungsdruck haben Sie erzeugt; ich behaupte aber, Sie sind diesem Handlungsdruck nicht gewachsen.
Warum sind Sie diesem Handlungsdruck nicht gewachsen? Wir erleben hier wunderbare Taschenspielertricks von der Bundesregierung. Das, was Herr Rüttgers uns hier als die große Innovation im Bereich des Meister-BAföG verkaufen will, ist nichts anderes als eine Kürzung, eine Sparmaßnahme im Bereich der Bildung. Wir haben es gehört: Die AFG-Förderung hat ein wesentlich größeres Volumen gehabt, und sie war auch wesentlich erfolgreicher, als das sein wird, was Sie jetzt vorschlagen.
Herr Rüttgers, man kann als Parlamentarischer Geschäftsführer mit allerlei Taschenspielertricks und allerlei Finten große Erfolge erzielen. Wenn sich aber ein Bildungsminister auf solche Tricks einläßt, dann ist das Gift für die Zukunft unseres Landes. Ein Bildungsminister darf das nicht tun.
Ein Bildungsminister muß die Zukunftsfragen der Bildung stellen, und er muß versuchen, sie zu beantworten.
Es gibt ja andere Politiker in diesem Land, die das versuchen. In Nordrhein-Westfalen hat der Minister-
Matthias Berninger
präsident Johannes Rau eine Expertenkommission zusammengerufen, die sich um die Zukunft der Schule kümmert. Hier in Bonn aber erleben wir nichts anderes als Salamitaktik. Sie versuchen, uns irgendwelche Vorschläge als große Visionen zu verkaufen, und verkaufen doch nichts anderes als eine reine Sparpolitik.
Zu den Details Ihres Entwurfes ist auch schon sehr viel gesagt worden. Es gibt enorme Kritik an vielen Punkten. Ich möchte diese Kritik ergänzen. Herr Rüttgers zieht durchs Land und sagt, wir brauchten in Zukunft neue Berufsbilder und müßten sie fördern. Der Entwurf, den er hier vorlegt, ist lediglich am klassischen Handwerk orientiert. Ich finde es gut, daß er sich auch um das klassische Handwerk kümmert; denn es ist meines Wissens der einzige Wirtschaftszweig, der noch einigermaßen seiner Ausbildungsverpflichtung bei Lehrlingen gerecht wird und sich einigermaßen darin engagiert.
Aber es gibt viele neue Berufsbilder mit ganz neuen Qualifikationen und mit ganz neuen Überlegungen über das Wie dieser Qualifikationen fernab von der klassischen Meisterausbildung. Nur braucht man dafür keine 500-Stunden-Kurse. In Ihrem Gesetzentwurf jedoch heißt es lapidar, daß ein Kriterium für die Förderung diese 500-Stunden-Kurse sind. Wie wollen Sie dann beispielsweise im Pflegebereich allen Ernstes Fortbildung finanzieren, wenn Ihnen auf der anderen Seite der Bundesverband der Freien Berufe sagt, Herr Rüttgers, wir brauchen diese 500 Stunden da nicht? Das heißt, Sie grenzen sie aus, obwohl Sie hier sagen, Sie wollten sich gerade auch um diese kümmern. Auch das halte ich für skandalös.
Nun kommen wir zu dem Kern Ihres Modells, den Sie auch auf die studentische Ausbildungsförderung übertragen wollen. Im Kern wollen Sie diesen Meisterschülerinnen und -schülern und später auch den Studenten die Förderung ermöglichen - das ist in Ordnung -, Sie wollen, daß sie einen Teil zurückzahlen - darüber müssen wir gleich noch reden -, aber vor allem wollen Sie, daß die Darlehen verzinst werden. Nun haben Sie etwas ganz Abenteuerliches versucht. Vor der Sommerpause standen 8,5 % Zinsen im Raum. Dann hat die F.D.P. - ausnahmsweise einmal leise, aber offensichtlich sehr effizient - Sie dazu bewegt, diese 8,5 % zu vergessen und jetzt etwas ganz Interessantes zu machen: Nun orientieren Sie sich, was die Zinsen angeht, an der FIBOR-Rate. Das ist wunderbar. Die FIBOR-Rate steht. Das sind nach dem „Handelsblatt" im Moment ungefähr 4 %.
Aber, Herr Rüttgers, wo haben Sie denn gestanden, wenn selbst diese F.D.P. Sie dazu bringt, einen sozialverträglicheren Vorschlag zu machen als Sie? Sie müssen mit Ihren Vorschlägen doch sonstwo gewesen sein. Sie haben sich völlig versteuert. Ich kann es wirklich nicht nachvollziehen, wie Sie sich hier so selbstsicher hinstellen und so tun können, als hätten Sie einen wunderbaren Vorschlag unterbreitet.
Damit wir uns nicht mißverstehen: Auch die Verzinsung in Höhe von 4 % halte ich nicht für richtig. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn man als Meisterschüler später einen guten Job hat und der Staat einem vorher ermöglicht hat, die Meisterschule durch seine Transfers zu besuchen, dann kann man - da haben Sie recht, Herr Rüttgers - von ihm verlangen, daß er sich an den Kosten, die diese Ermöglichung von Chancen letzten Endes verursacht hat, angemessen beteiligt.
Sie machen aber etwas anderes: Sie lasten jedem Meisterschüler und später jedem Studenten - wir werden in ein paar Wochen darüber diskutieren; im Moment trauen Sie sich ja nicht, diese Sache mitanzusprechen - individuelle Schulden auf. Wenn einer nach dem Besuch der Meisterschule nicht erfolgreich ist, dann hat er bei Ihrer Individualisierung und bei Ihrer Privatisierung sozialer Risiken Schulden am Bein und hat überhaupt nichts von der Fortbildung. Das, finde ich, kann man unserem Bildungssystem nicht zumuten. Ich sage Ihnen auch, aus welchem Grund.
Es gibt Menschen in diesem Land, denen wir zusätzlich den Zugang zu höherer Bildung ermöglichen wollen. Wir wollen Chancengleichheit ermöglichen. Diese Menschen kommen in der Regel nicht aus den materiell abgesichertsten Verhältnissen. Sie lassen sich von solchen Fortbildungen abschrecken, wenn Sie sie mit enormen Schulden belasten wollen. Das ist der eigentliche Skandal Ihres Entwurfs.
Natürlich kann man ehemals Geförderte zu Solidarität mit den nächsten Geförderten bringen. Ich halte das für möglich. Man muß dann aber seriös argumentieren. Bei Ihnen gibt es eine reine Bankenförderung; denn das Geld, das die Meisterschüler zurückzahlen sollen, fließt nicht direkt in die Förderung der nächsten Generation. Das Geld fließt verzinst zur Deutschen Ausgleichsbank, und Sie zahlen, weil alles andere eine soziale Katastrophe und völlig grausam gewesen wäre, den Rest an Zinsverlust, der sich dabei ergibt. Das kann nicht die Lösung sein, mit der man Bildungspolitik der Zukunft macht.
Herr Rüttgers, in einigen Interviews haben Sie sich mit folgendem Aspekt auseinandergesetzt. Sie wissen, wir versuchen einerseits, Ihrem Anspruch - diesen haben Sie den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen in einem Schreiben dargestellt -, gerecht zu werden. Das heißt, wir versuchen einerseits, von den ehemals Geförderten Solidarität einzufordern. Andererseits wollen wir nicht die Individualisierung von Risiken. Deswegen arbeiten wir an einem neuen Vorschlag, von dem ich glaube, er kann Kern einer neuen bildungspolitischen Offensive in diesem Land werden.
Unser Vorschlag besteht aus einem einfachen Prinzip, das Sie alle von der Rentenversicherung und von anderen sozialen Sicherungssystemen kennen, über die man nicht immer schlecht reden darf, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., sondern die man fördern und stärken muß, weil sonst in
Matthias Berninger
diesem Land das Licht ausgeht. Wir wollen so etwas wie Rente andersherum. Wir wollen so etwas wie eine Kassenfinanzierung von Ausbildung. Das heißt, Menschen werden gefördert, und auf Grund der Förderung zahlen sie später einen Beitrag, aber abhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht abhängig davon, ob sie nachher eine entsprechende Stelle gefunden haben oder nicht.
Sie sind geschickt, Herr Rüttgers. Sie wissen, bei den Meistern ist die berufliche Situation wesentlich besser, als sie bei den Studierenden ist. Aber auch hier ist der typische Taschenspielertrick eines Parlamentarischen Geschäftsführers festzustellen, der bildungspolitisch in die Katastrophe führt. Ihnen ist bekannt: Die beruflichen Chancen für viele Studierende sind, auch wenn sie insgesamt gut sind, keineswegs bei allen gut. Deswegen glaube ich, den Pflock, den Sie hier einschlagen wollen, und den neuen Zungenschlag, der nichts anderes heißt, als die soziale Kälte in diesem Land und die individuellen Risiken zu erhöhen, statt Solidarität zu fördern, werden wir nicht mittragen.
Jetzt komme ich zu der Frage: Wie gehen wir mit dieser Situation pragmatisch um? Es ist völlig klar: Auf der einen Seite haben wir zuwenig Führungskräfte. Wir brauchen mehr. Auf der anderen Seite haben wir einen Rüttgers-Vorschlag. Ich enthalte mich eines noch näheren Kommentars zu dem, was Kern dieses Vorschlags ist. Ich bin fast versucht, zu sagen: Er ist zum Kotzen.
Ich bin der Meinung, daß wir einen pragmatischen Vorschlag machen müssen, der mit den Ländern vereinbar ist. Dieser pragmatische Vorschlag muß so aussehen, daß wir lieber erst einmal zur alten Lösung zurückkehren und dann eine bildungspolitische Debatte führen, und zwar nicht auf Grund einzelner Vorlagen, sondern insgesamt. Wir müssen die individuellen Probleme an den Universitäten bei der normalen Ausbildung und beim Meister-BAföG sehen, so daß wir, wenn wir es geschafft haben, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, eine Lösung vorschlagen, die den Erfordernissen in diesem Land gerecht wird.
Wir fahren in der Tat in die Sackgasse, weil wir es auf Grund eines parteipolitischen Streits nicht schaffen, die Fragen zu lösen, die uns das Bildungssystem stellt. Wir fahren in der Tat gegen die Wand, weil wir Gefahr laufen, unser hauptsächliches Standortkapital, nämlich die Qualifizierung unserer Menschen, zu verlieren und es nicht schaffen, ihnen nebenbei auch die individuellen Risiken einigermaßen zu ersparen.
Aber wenn wir es denn tun, dann lassen Sie uns nicht einzelne Entwürfe Schritt für Schritt diskutieren, sondern, Herr Rüttgers, dann werden Sie Ihrer Verantwortung als Bildungsminister gerecht, und führen Sie die gesamte Debatte! Spielen Sie hier nicht mit uns, als wären wir irgendwie kleine unwissende Parlamentarische Geschäftsführer. So läuft das bei der bildungspolitischen Debatte nicht.
Herr Abgeordneter Berninger, ich hoffe, „zum Kotzen" ist in diesem Hause weniges. Wenn es so wäre, dürften Sie es trotzdem nicht so nennen, denn das ist ein unparlamentarischer Ausdruck.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir bringen heute zwei Gesetzentwürfe ein, einmal den zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung und zum anderen ein Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes.
Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren, daß beide Gesetzentwürfe der Herstellung der Gleichwertigkeit der beruflichen und allgemeinen Ausbildung dienen. Ich halte es für ausgesprochen geboten - da komme ich auf Sie, Herr Berninger, zu sprechen - und wir stehen in der Pflicht, einen Generationsvertrag zu erfüllen. Deswegen hat die Koalition einen Gesetzentwurf eingebracht, der darauf abzielt, daß nach der beruflichen Erstausbildung die Betreffenden entsprechend ihren Begabungen und Fähigkeiten gefördert werden müssen, weil wir in den nächsten Jahren etwa 200 000 Nachwuchskräfte im Meisterhandwerk benötigen. Wir haben das ausgedehnt, nicht nur auf Handwerk und Gewerbe, sondern auch auf die Landwirtschaft, bis hin zum Gesundheitswesen und zur Sozialfürsorge.
Meine Damen und Herren, hier muß schnell gehandelt werden. Da macht es keinen Sinn, wenn man jetzt ein Maß anlegt und sagt, das könnte sozial nicht verträglich sein, sondern hier müssen wir uns ein Konzept überlegen und auch im Ausschuß diskutieren, das gewährleistet, sehr schnell eine Ausbildungsförderung auf den Weg zu bekommen.
Meine Damen und Herren, die Aufstiegsfortbildungsförderung verbindet die staatlichen Leistungen mit der Eigeninitiative, der Vorsorge und auch der Risikobereitschaft. Hierzu hat der Abgeordnete der SPD Herr Thönnes,
gesagt, diese Förderung, die die Risikobereitschaft und die Vorsorge des einzelnen mit staatlichen Leistungen verbindet, muß relativiert werden auf Grund der Struktur, die hier angelegt worden ist. Er sagte, daß die Vollzeitförderung wesentlich stärker ist als die Teilzeitförderung und die Vollzeitförderung dazu führen könnte - und das ist natürlich richtig -, daß einige Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz aufgeben, um sich in die Förderung zu begeben.
Natürlich - auch ich bin dieser Meinung - müssen wir uns noch einmal überlegen, ob bei der Teilzeitausbildung, so wie wir sie drin haben, wo wir nur die Ausbildungskosten finanzieren, ein Zuschuß mit ein-
Dr. Karlheinz Guttmacher
zusetzen ist, um die Attraktivität auch der Teilzeitausbildung zu erhöhen und die Proportionen von der Vollzeitausbildung zur Teilzeitausbildung zu verschieben. Da gehe ich mit Ihnen mit, darüber haben wir im Ausschuß neu zu befinden.
Meine Damen und Herren, das entbindet uns aber nicht von der Verantwortung, bei der Vollzeitausbildung, die wir derzeit auf bis zu 24 Monate festgelegt haben, auch darüber nachzudenken, eine minimale Ausbildung mit sechs Monaten festzulegen und festzustellen und zu fragen, ob dies tatsächlich alle Handwerksberufe erfaßt. Wir müßten prüfen, eine Förderung sowohl hinsichtlich der Unterhaltskosten als auch der Ausbildungskosten zu gewähren. Sie muß auch dann gezahlt werden, wenn eine Ausbildung zu einem Meisterberuf nicht sechs Monate in Anspruch nimmt. Dies halte ich für sehr wesentlich. Wir haben schon angesprochen, daß dies geprüft werden muß.
- Ich nenne beispielhaft die Bäcker- und Fleischermeister.
- Lieber Herr Rixe, hier werden heute 900 Stunden zugrunde gelegt. Wenn Sie 150 Stunden pro Monat ansetzen, dann kommen Sie bezüglich der Ausbildung der Fleischermeister nicht auf die geforderten 900 Stunden, wie es bei einer Halbjahresausbildung, die jetzt im Gesetzentwurf enthalten ist, vorgesehen werden müßte. Wir müssen prüfen, inwieweit eine solche Förderung - -
- Lieber Herr Kollege, es ist besser, einen Gesetzentwurf einzubringen, über den wir hier heute sprechen können, als nichts zu tun, wie es beispielsweise bei Ihnen der Fall ist. Sie machen immer nur kluge Sprüche.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich hier ausdrücklich bei den zwei Ministern bedanken,
die einen Regierungsentwurf vorgelegt haben, der es uns ermöglicht hat, heute über einen solchen Gesetzentwurf zu diskutieren. Es handelt sich um Herrn Rüttgers und Herrn Rexrodt.
Auch die Einbringung des zweiten Gesetzentwurfs, des Entwurfs zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes, die auf die Gleichwertigkeit der Abschlüsse von Berufsakademie und Fachhochschulen abzielt, halte ich für ausgesprochen wichtig und wertvoll. Wir haben mit der Berufsakademie am Beispiel Baden-Württembergs eine Musterausbildung, bei der theoretische Ausbildung und Praxisgebundenheit so gut verzahnt sind, daß diese Ausbildung von ihrem Niveau her sehr attraktiv ist. Dies ist an vielen Modellbeispielen in Baden-Württemberg deutlich geworden.
Wir haben es damit in der Hand - inzwischen haben wir dafür auch die Zustimmung von Wissenschaftsrat und Kultusministerkonferenz erhalten -, eine Gleichwertigkeit der Abschlüsse von Berufsakademie und Fachhochschule zu erzielen. Jetzt müssen wir als Gesetzgeber dafür Sorge tragen, dies auch so - -
- Wir haben dafür Sorge zu tragen, daß die Gleichwertigkeit über die Änderung des HRG hergestellt wird.
- Liebe Frau Odendahl, die Kultusminister haben die Gleichwertigkeit der Abschlüsse festgelegt. Wir aber haben die Gleichwertigkeit durch die Struktur der Ausbildung von Berufsakademie und Fachhochschule festzustellen.
Meine Damen und Herren, wir sollten den Mut dazu haben. Damit kämen wir bezüglich der Herstellung der Gleichwertigkeit der beruflichen und der allgemeinen Bildung ein gutes Stück weiter.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen die Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung, da sie jungen Leuten nach erfolgreichem Abschluß einer Berufsausbildung die Möglichkeit bietet, sich weiter zu qualifizieren, und zu Existenzgründungen motiviert. Begabte Handwerker und Kaufleute müssen so nicht mehr in der Ausbildung steckenbleiben, weil ihnen die Mittel fehlen.
Probleme haben wir allerdings mit der Quelle, aus der die Fördermittel kommen sollen. Die berufliche Aufstiegsfortbildung ist einer der Bereiche, in denen die mit der sogenannten BAföG-Strukturreform eingesparten Gelder ausgegeben werden. Meisterschüler- gegen Studenten- bzw. Studentinnenförderung heißt die Alternative, die hier als zukunftsfähig verkauft werden soll.
Das zweite Problem wurde bereits vom Zentralverband des Deutschen Handwerks angesprochen und bezieht sich auf Art und Höhe der Förderung. Nach den Verbesserungen gegenüber dem ursprünglichen Regierungsentwurf hat der Meisterschüler bzw. die Meisterschülerin zwar mehr Mittel zur Verfügung; diese setzen sich allerdings aus einem gesteigerten Darlehensanteil und einem abgesenkten Zuschußanteil zusammen.
Es sei auch ein Hinweis auf die Kritik gestattet, die der Bundesverband der Freien Berufe an der Kon-
Maritta Böttcher
zeption des Meister-BAföG geäußert hat; Herr Berninger ist schon kurz darauf eingegangen. Durch die im Gesetzentwurf vorgegebene Stundenzahl - „nicht weniger als 500" - werden Helferinnen und Helfer im Bereich der freien Berufe zu einem großen Teil von der finanziellen Förderung ausgeschlossen, da die meisten Lehrgänge in diesem Bereich bekanntlich eine Dauer von 300 bis 400 Stunden vorsehen. Ich habe sehr erfreut zur Kenntnis genommen, daß darüber nun noch einmal diskutiert werden soll.
Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang der Hinweis, daß über 80 % der Helferinnen und Helfer bei den freien Berufen Frauen sind. Schon aus diesem Grunde erscheinen Änderungen des Gesetzentwurfs hinsichtlich der förderungswürdigen Stundenzahl unbedingt angebracht.
Verehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zur sogenannten Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung. Entsprechend einer Erklärung der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Yzer sind dafür Veränderungen in mehreren Bereichen einzuleiten, zu denen u. a. der Zugang zu weiterführenden Bildungsgängen für qualifizierte Absolventen der beruflichen Bildung gehören soll. Ich meine, daß an diesem Punkt, wo es um den Hochschulzugang für qualifizierte Berufstätige geht, unbedingt auch noch einmal über die von der Bundesregierung anvisierten Einschränkungen der elternunabhängigen Förderung von Studierenden des zweiten Bildungsweges nachzudenken ist.
Eben dieser Bildungsgang ermöglicht unter den derzeitigen Bedingungen begabten und leistungsbereiten Berufstätigen ohne Abitur oder Fachhochschulreife, die Studienberechtigung zu erwerben. Einschränkungen der Finanzierung ihres Schulbesuchs an den Abendgymnasien oder Kollegs würden den ohnehin schwierigen Weg bildungsinteressierter Berufstätiger in ein Hochschulstudium weiter erschweren oder gänzlich unmöglich machen.
Wie die Entwicklung vor allem in den neuen Bundesländern zeigt, sind Umschulung und Weiterbildung bereits existenznotwendig geworden. Differenzierte Bildungsabschlüsse sind eine notwendige, aber keinesfalls mehr hinreichende Voraussetzung für entsprechende berufliche Laufbahnen. So stehen Jugendliche in den neuen Bundesländern heute mehrheitlich vor dem Dilemma, Bildungsentscheidungen treffen zu müssen, ohne ausreichende Informationen über die Verwertbarkeit der Abschlüsse auf dem Arbeitsmarkt zu besitzen.
Angesichts unsicherer ökonomischer Zukunftsperspektiven und verbreiteter Orientierungslosigkeit hinsichtlich künftiger Berufs- und Arbeitsmarktschancen ist das Streben nach höheren Bildungsabschlüssen nur zu verständlich. Hinzu kommt, daß insbesondere in Krisenzeiten die Zugänge zu Ausbildungsplätzen zusätzlich durch gesellschaftlich vermittelte Ungleichheiten begrenzt sind, so daß, wie der 9. Jugendbericht feststellt - ich zitiere -
als Auslesekriterien nicht ausschließlich persönliche Kompetenzen zum Tragen kommen. Vielmehr werden ... soziale Herkunft und Geschlechtszugehörigkeit zu entscheidenden Selektionsmerkmalen. So wirkt sich der gesellschaftliche Niedergang in den neuen Bundesländern beispielsweise in verstärktem Maße negativ auf die Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen von Frauen aus, die deutlich häufiger als Männer
- das wissen wir -
von Arbeitslosigkeit und Ausbildungsstellenmangel betroffen sind.
Auch der zweite Bildungsweg ermöglicht vor allem Frauen einen qualifizierten Wiedereinstieg ins Berufsleben. Die Streichung des elternunabhängigen BAföG für diesen Personenkreis würde den oben zitierten Selektionsmechanismus verstärken, statt ihn zu entschärfen, und die Betroffenen wieder in die wirtschaftliche Abhängigkeit von ihren Familien bringen. Vor einer solchen Entscheidung ist zumindest das Alter der Geförderten zu bedenken sowie die Tatsache, daß die meisten von ihnen im Rahmen einer vorangegangenen Erwerbstätigkeit in einem zum Teil erheblichen Umfang auch schon Steuern gezahlt haben.
Aber auch aus einem weiteren Grund erscheint mir eher eine Erweiterung der Förderung des zweiten Bildungsweges angezeigt. Zu den Voraussetzungen des Kollegbesuchs gehört eine abgeschlossene Berufsausbildung. Darüber hinaus können den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern praktische Erfahrungen aus einem vorangegangenen Berufsleben unterstellt werden, die für ein späteres Studium von ebenso grundlegender Bedeutung sein können wie die auf dem ersten Bildungsweg erworbene Hochschulreife.
Die These von der Aufwertung der beruflichen Bildung bleibt so lange eine Farce, wie durch restriktive Förderpolitik wiederum ganze Gruppen von den nur für Besserverdienende durchlässigen Bildungswegen ausgeschlossen werden. Insofern erscheint eine gewisse Skepsis gegenüber der heutigen Aufwertung beruflicher Bildung durchaus angebracht. Wollen doch hier eben jene Leute Berufsausbildung aufwerten, die seit Jahren eine abwertende Politik betreiben. Denn schließlich sorgten sie dafür, daß Schulabgänger keine oder wenig zukunftssichere Ausbildungsplätze fanden, daß immer mehr perspektivlose Aus- und Weiterbildungswege und -formen installiert und Disproportionen in den Bildungswegentscheidungen von Jugendlichen und Erwachsenen gefördert wurden und daß vor allem in den neuen Bundesländern wichtige Funktionszusammenhänge zwischen beruflicher Aus- und Weiterbildung einerseits und Berufsbildung Lind Arbeitsmarkt andererseits zerrissen wurden.
Insofern liegt der Verdacht nahe, daß diese Art von Bildungspolitik nichts anderes ist als Krisenmanagement.
Um keine Mißverständnisse zu provozieren: Wir sind nicht gegen das Konzept der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung, sondern
Maritta Böttcher
gegen seine Unterordnung unter die Kapitalverwertung mit der Tendenz der Privatisierung von Bildungsrisiken.
Wichtiges Kriterium für das Erreichen wirklicher Gleichwertigkeit ist doch die Frage, wie Studierfähigkeit durch berufliche Aus- und Weiterbildung gefördert werden kann. Dabei kann es nicht darum gehen, die Berufsschule dem Gymnasium anzugleichen und buchhalterisch die Defizite der Berufsausbildung gegen das Abitur aufzurechnen. Vielmehr ist der eigene Weg der Berufsausbildung, nämlich Gleichwertigkeit als Andersartigkeit, zu akzeptieren.
Ziel muß meines Erachtens also eine Berufsbildung sein, mit der man ohne Gegenprüfungen durch akademische Einrichtungen für ein Studium qualifiziert ist. Erst dann kann tatsächlich von Gleichwertigkeit die Rede sein.
Meine Damen und Herren, abschließend noch eine Bemerkung zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes; es wurde eben schon darauf eingegangen. Ich meine, er ist durch den Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 28./29. September in Halle ohnehin gegenstandslos geworden. Eigentlich war er es von Anfang an, denn die Anerkennung von Abschlüssen der Berufsakademien bedarf bekanntlich keiner bundesrechtlichen Regelungen. Das wußten auch die Gesetzentwerfer, wenn sie ihren Entwurf letztlich nur damit begründen, daß die Kultusministerkonferenz bislang keine Regelungen getroffen hatte.
Das ist nun geschehen, und deshalb sollte dieser unnütze Gesetzentwurf zurückgezogen werden.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. dafür danken, daß der Gesetzentwurf zur Förderung und Verbesserung der Aufstiegsfortbildung bereits heute in erster Lesung beraten werden kann. Ich glaube, diese Beschleunigung der parlamentarischen Beratung ist wichtig; denn viele junge Menschen warten auf diese Förderung.
Dieses Warten, diese Situation des Abwartens hemmt Leistungsbereitschaft. Sie schadet der Wirtschaft, der Konjunktur, dem Arbeitsmarkt. Deshalb ist es wichtig, daß wir diesen Attentismus noch in diesem Jahr durch ein neues Gesetz überwinden.
Wo liegen die Vorteile der neuen Förderung, die vom Bundesbildungs- und vom Bundeswirtschaftsminister gemeinsam erarbeitet worden sind und finanziert werden?
Erstens. Das Gesetz schafft Sicherheit über Umfang und Art der Förderung. Jeder, der gesetzlich festgelegte Kriterien erfüllt, kann mit dieser Förderung rechnen. Das heißt, es gibt einen Rechtsanspruch. Dieser Rechtsanspruch gibt Planungssicherheit, und er schafft auch feste Rahmenbedingungen für private Anbieter am Markt für Weiterbildung.
Zweitens. Mit der neuen gesetzlichen Regelung wird Fortbildung für den einzelnen wieder finanzierbar sein. Die Entscheidung, ob man sich fortbildet oder nicht, ist dann nicht mehr von Ersparnissen oder der Kreditwürdigkeit abhängig.
Besonders wichtig: Wer in jungen Jahren etwas erreichen will, kann durch diese Förderung früher an den Start. Der Staat übernimmt einen Teil der Kosten, und er trägt einen Teil der Risiken aus den Darlehensverträgen. Damit wird die Freiheit zur beruflichen Entfaltung gestärkt.
Drittens. Ein Schwerpunkt dieses Gesetzes liegt bei der Existenzgründungsförderung. Ich glaube, man kann zu Recht sagen, daß dies ein Baustein im Gesamtsystem der Mittelstandsförderung ist, eine zusätzliche Starthilfe für junge Unternehmerinnen und Unternehmer bei Gründung und Übernahme eines Betriebs.
Man kann also sagen: Dieses Gesetz bietet allen, deren Fortbildung dem Kriterienkatalog entspricht, eine zunächst zinslose, später zinsgünstige Finanzierung für Lehrgangs- und Prüfungsgebühren, unabhängig von der Höhe des Einkommens des Teilnehmers und seiner Familie. Es bietet zusätzlich einkommensabhängige Förderungen des Lebensunterhalts bei Fortbildung von mindestens sechs Monaten an.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die SPD- regierten Länder im Bundesrat, allen voran Niedersachsen, fordern deutlich mehr Geld. Sie fordern Zuschüsse und eine Ausweitung der förderfähigen Fortbildung, insgesamt 1,3 Milliarden DM pro Jahr.
Aber im gleichen Atemzug verweigern sie sich, wenn es um die finanziellen Konsequenzen geht. Hierzu kann ich nur sagen: Wer Luftschlösser baut, muß auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen.
Im Chor mit den Gewerkschaften fordert Niedersachsen ein Zurück zur alten AFG-Förderung. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich glaube, das ist ein durchsichtiges Manöver. Irgend jemand
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
hat hier das Wort „Taschenspielertrick" gebraucht; ich will das nicht tun.
Sie reklamieren hier Sachverstand bei den Arbeitsämtern, als ob es keinen Sachverstand bei den BAföG-Amtern der Länder gäbe. Sie wollen sich heimlich aus der Verantwortung schleichen.
Aber Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen: Wer nicht sät, kann auch nicht ernten. Die jungen Menschen werden das Täuschungsmanöver durchschauen und Ihnen diese Mogelpackung nicht abkaufen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Thönnes.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß für die Gewährung des BAföGs für Schüler die Kommunen zuständig sind, während für die Förderung der Studenten das Studentenwerk zuständig ist? Können Sie mir bitte einmal sagen, wo denn diejenigen hingehen sollen, die nach Ihrem Gesetzentwurf Förderungsmittel beantragen, und wer das finanziert?
Herr Kollege Thönnes, vorhin haben Sie den Zwischenruf gemacht, daß bestimmte Dinge noch zu regeln sein werden. Genau diese Frage der Zuständigkeit werden wir natürlich im Gesetz regeln müssen. Aber es ist klar, daß das irgendwo auf der Länderebene angesiedelt sein wird. Deswegen ist das, was ich hier gesagt habe, in der Perspektive zutreffend und richtig, wenn man auch die Regelungen im Konkreten noch nicht nennen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Solidarkasse der Arbeitnehmer, die Arbeitslosenversicherung, ist nicht der Bankier für den beruflichen Aufstieg. Wir reden hier immer über eine Senkung der Lohnnebenkosten. Aber dann müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, daß eine solche Finanzierung, wie sie von den SPD-Ländern vorgeschlagen worden ist, die Lohnnebenkosten erhöhen, der Wettbewerbsfähigkeit schaden und damit auch die Beschäftigung in unserem Lande gefährden würde. Deswegen kommt für die Bundesregierung nur eine steuerfinanzierte Lösung und eben keine Arbeitsamtslösung in Betracht.
Bildung ist kein öffentliches Gut, wie manche meinen. Dennoch ist es richtig - das sage auch ich -, daß der Staat die Bildung nicht nur den Gesetzen von Angebot und Nachfrage überläßt. Es ist aber auch sachgerecht, daß sich derjenige, dem der Nutzen von Bildungsleistungen zufließt, an den Kosten beteiligt. Deswegen brauchen wir eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Teilnehmern, den Unternehmen und dem Staat. Ganz ausdrücklich sage ich hier, daß die Unternehmen weiterhin ihren Teil zur Fortbildungsfinanzierung beitragen müssen, wo dies im eigenen unternehmerischen Interesse liegt.
Es ist auch sachgerecht, daß Betriebsgründungen und Betriebsübernahmen durch Darlehenserlaß besonders gefördert werden. Dies schafft neue Arbeitsplätze, und dies sichert Arbeitsplätze, die verlorengehen, wenn der Generationenwechsel nicht reibungslos verläuft. Die Existenzgründungsförderung ist an die Beschäftigung von mindestens zwei Mitarbeitern gekoppelt. Das heißt, daß wir mit diesem vorliegenden Gesetzentwurf, wenn er Gesetz wird, kurzfristig rund 60 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen bzw. sichern.
Das mag jetzt dem einen oder anderen hier im Hause relativ wenig erscheinen. Aber schon mittelfristig werden es deutlich mehr Arbeitsplätze sein, da junge Unternehmen in den ersten Jahren im Durchschnitt fünf bis zehn Arbeitsplätze neu schaffen. Das haben wir zuletzt sehr eindrucksvoll in den neuen Bundesländern gesehen, wo wir bei 500 000 mittelständischen Unternehmen, die zum ganz überwiegenden Teil neu entstanden sind, mittlerweile über drei Millionen Arbeitsplätze neu zu verzeichnen haben. Das heißt, wir sollten die Beschäftigungswirkung, die von der Beschäftigungsklausel im Gesetzentwurf ausgeht, nicht unterschätzen, ganz im Gegenteil.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Industrieland lebt von Talenten, von Leistungen, von Forschergeist und von Eigenverantwortung. Wir müssen begabte und leistungswillige junge Menschen fördern. Gerade die jungen Unternehmen schaffen Dynamik und sind damit ein wichtiges Element im Strukturwandel. Weil neue Unternehmer zum größten Teil aus der beruflichen Praxis kommen und weil Fachkenntnisse sowie kaufmännisches und organisatorisches Wissen notwendig sind, um am Markt zu bestehen, ist dieses neue Gesetz ein wichtiger Schritt für die Bildungspolitik und für eine breit angelegte Mittelstandspolitik.
Deswegen appelliere ich an alle, denen berufliche Bildung und Selbständigkeit sowie unternehmerische Verantwortung ein Anliegen sind: Setzen Sie sich mit der Bundesregierung und der Mehrheit dieses Hauses dafür ein, daß dieses neue Gesetz schon am 1. Januar 1996 in Kraft treten kann. Sie leisten damit einen wesentlichen Beitrag für junge Existenzen, für leistungswillige Menschen in unserem Lande und für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies kann nicht oft genug betont werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat der Abgeordnete Günter Rixe das Wort.
Herr Hinsken, das habe ich mir gedacht, daß Sie neugierig sind.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist das für eine Politik, die immer nur kurzfristig reagiert, aber es versäumt, Ausbildungsstrukturen zu unterstützen!
Mit diesen Worten kommentierte der Handwerkspräsident Heribert Späth den Gesetzentwurf zur beruflichen Aufstiegsfortbildung. Der Präsident sowie das Präsidium des Deutschen Handwerks hatten sich in den letzten Monaten heftig gegen die finanzielle Ausstattung des Meister-BAföGs ausgesprochen. Die ursprünglich vorgesehene unzulängliche Finanzierung der Lebenshaltungskosten bei der Teilnahme an Bildungsmaßnahmen sowie der fehlende Zuschuß zu den Maßnahmenkosten erregten den Zorn des Handwerks.
- Das werden wir bei der Anhörung hören.
Ebenso wie viele Kritiker hatte das Handwerk durch diese Unzulänglichkeit die positiven Ansätze der beruflichen Aufstiegsfortbildung gefährdet gesehen.
Es ist doch so, daß wir seit einiger Zeit feststellen können, daß immer weniger Gesellen und Gesellinnen die Belastung auf sich nehmen, sich zum Handwerksmeister weiterzuqualifizieren.
Herr Abgeordneter Rixe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scherhag?
Ja, bitte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Herr Kollege Rixe, würden Sie bestätigen, daß der Handwerkskammerpräsident Späth nicht das Gesetz, sondern lediglich die Ausstattung kritisiert hat und daß wir in dem Punkt natürlich einer Meinung sind, daß die Ausstattung des Gesetzes immer noch besser sein sollte? Handwerkspräsident Späth hat das Gesetz im Grundsatz begrüßt.
Ich habe gar nichts anderes gesagt. Ich habe gesagt: Insbesondere die finanzielle
Ausstattung hat er kritisiert. Sie müssen nur zuhören, was ich sage.
Die finanzielle Ausstattung kritisiert er heute noch, obwohl der Minister auf dem Handwerksfest 100 DM draufgelegt hat: von 945 DM auf 1 045 DM. Wir standen ja in der Nähe, als er das beim Bierchen besprochen hat. Dagegen habe ich aber nichts einzuwenden.
Ganz überwiegend verzichten die Gesellinnen und Gesellen im Handwerk deswegen auf eine Meisterausbildung, weil sie die finanziellen Belastungen nicht tragen können. Diese Finanzängste der jungen Menschen muß man ernst nehmen. Sie befinden sich im Lebensalter zwischen 25 und 30 Jahren und damit in einer Lebensphase, in der normalerweise eine Familie gegründet wird und eine gewisse Verfestigung der Situation eintritt. Dann ein durchschnittliches Geselleneinkommen von 2 500 bis 3 000 DM netto aufzugeben und für sich und die Familie mit den ursprünglich geplanten 945 DM, jetzt nach dem Fest mit 1 045 DM auskommen zu müssen, kann nur jemand fordern, der nicht mit beiden Füßen in der Wirklichkeit steht, und damit meine ich den Minister.
Kolleginnen und Kollegen, wer von drohender Meisterlücke redet, der muß wissen, woher das Phänomen kommt. Ich will Ihnen das gerne sagen. Solange es die Förderung der Meisterkurse im Arbeitsförderungsgesetz gegeben hat, hatten wir genügend Bewerberinnen und Bewerber. Als diese Bundesregierung Ende 1993 die AFG-Förderung abschaffte, stellten sich für viele potentielle Bewerber die Finanzierungsprobleme ein, die sie letztlich von der Fortbildung abhielten.
Was für Folgen diese Entscheidung für das Handwerk und die deutsche Wirtschaft nach sich zieht, können wir heute, gut zwei Jahre nach Auslaufen der AFG-Förderung, bereits feststellen. In sehr vielen kleinen und mittleren Handwerksbetrieben kann der erforderliche Generationswechsel nicht erfolgen. Es sind nicht genügend Meister vorhanden, die die Betriebe übernehmen und fortführen können. In den mittleren Betrieben sind nicht ausreichend Meister als Führungskräfte vorhanden, um diese Betriebe auf Dauer am Markt zu halten. Die Aufgabe und das Ende zahlreicher Betriebsstätten führt zum Ausfall von Teilen der volkswirtschaftlichen Produktion. Letztlich beeinträchtigt das die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Das haben nicht wir, sondern Sie verschuldet, weil Sie in der Tat auf diesem Felde zwei Jahre lang keine Förderung betrieben haben.
Günter Rixe
Tun Sie nicht heute so, als wenn dies etwas ganz Neues in dieser Republik wäre. Es ist ein Nachhaken nach zwei Jahren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Waldburg-Zeil?
Natürlich, gerne.
Herr Kollege Rixe, würden Sie ungeachtet der Auseinandersetzungen, die selbstverständlich immer zwischen einer Regierungskoalition und der Opposition über die Ausstattung eines Programms stattfinden müssen, nicht prinzipiell mit mir darin übereinstimmen, daß die Förderung eigentlich besser im Bildungsbereich angesiedelt ist, als sie es beim AFG war? Das Problem ist ja folgendes: Die Arbeitsförderung im Rahmen des AFG soll ja diejenigen in Arbeit bringen, die nicht in Arbeit sind. Deshalb sagt man, daß die Aufstiegsfortbildung in diesem Zusammenhang etwas Sekundäres ist.
Meinen Sie nicht unabhängig von der anderen Diskussion, daß diese Verlagerung im Prinzip richtig war? Zwischenzeitlich war die Förderung ja einmal im Bereich des Wirtschaftsministeriums angesiedelt.
Kollege Graf Waldburg-Zeil, natürlich bin ich wie Sie der Meinung,
daß ein solches Gesetz mit Rechtsanspruch richtig ist. Wir kritisieren das Gesetz ja nicht in dem Punkt, in dem von einem Rechtsanspruch auf die Weiterbildung die Rede ist. Wir kritisieren es, weil die finanzielle Ausstattung dieses Gesetzes, 100 Millionen DM, nicht ausreicht. Ich muß jetzt nicht all das wiederholen, was Herr Thönnes gesagt hat. Wir sagen grundsätzlich ja zum Gesetz; auch als Handwerksmeister bin ich dafür. Bloß bin ich dagegen, daß man es in der Art und Weise, wie in dem Gesetz vorgesehen, macht. Ich werde gleich noch ein paar Zahlen nennen, bei denen Sie sich fragen werden, ob es überhaupt jemanden gibt, der diese Weiterbildungsmöglichkeit nutzt.
Wenn in den Betrieben die Personen nicht mehr vorhanden sind, die eine ordentliche handwerkliche Ausbildung vermitteln können, dann fallen weitere Lehrstellen weg, und es droht Gefahr für ganze Berufszweige.
Die Erhaltung und Ausdehnung des Lehrstellenangebots im Handwerk ist eng verknüpft mit einer ausreichenden Zahl neuer Handwerksmeister, die für den Generationswechsel bereitstehen, die selber eine neue Existenz gründen oder die sich auf mittlerer Führungsebene um den Fortbestand des Betriebes kümmern. Vor diesem Hintergrund war der Protest gegen die ursprüngliche Finanzierungsausstattung des Meister-BAföGs berechtigt. Wir haben diese Kritik aufgenommen und hier im Deutschen Bundestag bereits in der Debatte am 16. März - der Minister hat ja eben in seiner Rede einige Worte aus meinem Beitrag in dieser Debatte aufgenommen - unsere Position verdeutlicht. Ich habe damals gesagt, daß wir besonders darauf achten werden, daß die Förderung der Aufstiegsfortbildung, wie sie von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen vorgeschlagen wird, nicht nur ein leeres Versprechen bleiben darf.
Heute müssen wir feststellen, daß zwar die ursprünglichen Beträge auf Grund des Protestes und des Widerspruchs heraufgesetzt worden sind, nämlich um die berühmten 100 DM, aber ein befriedigendes Ergebnis nicht vorgeschlagen wird. Ich will Ihnen an Beispielen vorrechnen, warum der vorliegende Gesetzentwurf unbefriedigend ist und wir ihn deshalb auch jetzt in dieser Form ablehnen müssen. Wir müssen ja heute nicht zustimmen; wir haben ja noch die Möglichkeit der Anhörung. Wir wollen einmal schauen, was man dann alles so sagt und ob die Leute den Mut haben, alles in der Form zu äußern, wie sie das immer hinter vorgehaltener Hand tun.
Sie wissen, daß ich selbst Handwerksmeister bin und einen Heizungs- und Sanitärbetrieb habe. Ich habe einige Leute beschäftigt. Ein lediger Geselle mit 23 Jahren hat bei durchschnittlich 160 Stunden im Monat und bei einem sehr hohen Stundenlohn von 27 DM ein Nettoeinkommen von 2 250 DM. Das macht also im Jahr 27 000 DM netto. Würde er sich jetzt entschließen, die Aufstiegsförderung in Anspruch zu nehmen, so könnte er maximal 1 045 DM netto monatlich und 12 540 DM im Jahr erhalten. Das bedeutet einen realen Verlust in Höhe von 14 460 DM. Ob er für den durchschnittlich zu kalkulierenden Jahreskurs die maximale Förderung erhält, ist bei dem Ledigen nicht sicher, da seine persönliche Situation und sein Vermögen Grundlage für die Bemessung sind. Ob er bei den Eltern wohnt oder nicht, spielt ebenfalls eine Rolle. Das werden Sie sehen, wenn Sie einmal in den diesbezüglichen Paragraphen schauen. Aber ich will hier nur einmal auf das maximal Mögliche abstellen.
Die 12 540 DM für das Meister-BAföG sind nun aber keineswegs als Geschenk des Staates zu sehen. Lediglich 373 DM monatlich, also 4 476 DM in einem Jahr, sind als Zuschuß gedacht. 672 DM im Monat, also 8 064 DM im Jahr, werden als Darlehen gegeben, das verzinst zurückgezahlt werden muß. Es müssen Einkommenseinbußen auf der einen Seite und Darlehensbelastungen auf der anderen Seite beachtet werden.
Für den 30 Jahre alten verheirateten Gesellen in meinem Betrieb mit einem Kind sieht die Situation folgendermaßen aus: Bei der gleichen Stundenzahl und dem gleichen Bruttostundenlohn erhält er rund 2 850 DM netto im Monat. Das sind im Jahr 34 200 DM netto. Will er nun das Meister-BAföG in An-
Günter Rixe
spruch nehmen, so muß er wie folgt rechnen: maximal 1 045 DM monatlich, zuzüglich 420 DM, weil er verheiratet ist, und 250 DM für das Kind. Er erhält also einen Unterhaltsbeitrag von monatlich 1 715 DM. Das macht 20 580 DM im Jahr. Gegenüber seinem sonstigen Jahreseinkommen ist das eine Einbuße von 13 620 DM. Der Zuschuß, den er erhält, ist genauso hoch wie bei dem ledigen Gesellen, also maximal 4 476 DM. Die Mehrleistungen für Ehefrau und Kind erhöhen aber seine Darlehensverschuldung. Er bekommt monatlich ein Darlehen in Höhe von 1 342 DM; auf das Jahr gerechnet sind das etwa 16 000 DM.
- Ja, das ist wirklich familienfeindlich.
Zu den Unterhaltsbeiträgen - also dem, was die Menschen für Nahrung, Kleidung, Wohnen usw. brauchen; ich muß das nicht aufzählen - hinzu kommen die Kosten für den Lehrgang und die Prüfungen sowie, was bei vielen Meisterkursen üblich ist, die Kosten für die auswärtige Unterbringung, im Internat oder wo auch immer. Die Spanne für die Maßnahmekosten ist recht groß und reicht von 8 000 DM bei der einen Meisterprüfung bis 15 000 DM bei der anderen. In meiner Branche, der Sanitär- und Heizungstechnik, ist der Betrag sehr hoch - da dauert die Meisterausbildung genau ein Jahr -, bei der Ausbildung zum Bäcker- oder Konditormeister wird er vielleicht ein bißchen niedriger liegen. Rechnet man die Unterbringung hinzu, so ist, glaube ich, ein Betrag von 20 000 DM im Jahr durchschnittlich vertretbar,
Ich will Ihnen jetzt noch sagen, mit welchen Belastungen die Bewerberinnen und Bewerber bei diesem Gesetzentwurf zu rechnen haben, wenn sie einen Meisterkursus mit einer durchschnittlichen Dauer von einem Jahr absolvieren.
Herr Kollege Rixe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ja, ich werde doch meinem Kollegen Handwerksmeister nicht die Zwischenfrage verwehren.
Herr Kollege Rixe, pflichten Sie mir bei, wenn ich feststelle, daß sich Bundesbildungsminister Rüttgers sehr wohl dieses Problems bewußt war; denn gerade Meistern, die für die Meisterprüfung dieses Darlehen in Anspruch genommen haben, will er dieses Darlehen nach einiger Zeit erlassen, wenn sie bereit sind, sich selbständig zu machen, mindestens zwei Arbeitsplätze schaffen und diese mindestens vier Monate vorhalten? Das ist doch ein Schritt in die richtige Richtung. Das haben Sie vergessen zu sagen. Daran wollte ich Sie nochmals erinnern.
Wie eben bei Herrn Thönnes fragen Sie zu früh, Herr Hinsken. Ich bin gerade dabei, diesen Punkt anzusprechen. Das haben wir schon alles registriert; das kommt gleich noch vor.
- Ach so, deswegen melden Sie sich immer so früh.
Der ledige Heizungs- und Sanitärgeselle ist mit einem Darlehen in Höhe von 8 064 DM und Kosten von 20 000 DM belastet und erleidet eine Einkommenseinbuße von rund 14 500 DM. Insgesamt macht das einen Betrag von 42 564 DM, zuzüglich der Darlehensverzinsung über maximal zehn Jahre bei banküblichen Bedingungen. Eben haben wir gehört: Auf Druck der F.D.P. werden die Zinsen jetzt ein bißchen niedriger, weil sie ein anderes System erfunden hat.
Der verheiratete Geselle mit einem Kind hat neben den Einkommenseinbußen in Höhe von rund 13 600 DM im Jahr ein Darlehen von 16 000 DM und Maßnahmekosten von 20 000 DM zu tragen, also einen Jahresbetrag von mehr als 49 000 DM. So teuer ist eine Meisterprüfung in meiner Branche, wenn man ein Jahr aus dem Betrieb heraus ist und eine Familie hat.
Ob dies die an einer Aufstiegsfortbildung Interessierten begeistern wird, wage ich in der Tat zu bezweifeln. Deswegen, Herr Rüttgers, wiederhole ich, was ich am 16. März gesagt habe: Bei einer Belastung von 49 000 DM werden viele Handwerksmeister ihren Söhnen, die den Betrieb irgendwann übernehmen, sagen: Junge, laß das mal sein. Wir regeln das anders, das machen wir schon! - Er braucht die 373 DM im Monat dann nicht; für ihn ist es besser, wenn er sich nicht soviel Schulden aufhalst, wenn er den Betrieb übernimmt. Für ihn ist das überflüssig.
Nun kommt von der Regierungsseite zwar sicher gleich der Einwand - da haben wir es, Herr Hinsken -, daß das Gesetz für bestimmte Situationen den Erlaß der Hälfte des Darlehens für die Lehrgangs- und Prüfungsgebühren vorsieht. Das ist zwar richtig, aber ich muß gleich gegenhalten: Das betrifft nur die Hälfte der Maßnahmekosten, d. h., bei meinem Beispiel verbleiben immer noch 10 000 DM verzinslich. Außerdem bleibt es bei einer vollen Darlehensregelung hinsichtlich der Unterhaltsbeiträge.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der überwiegende Teil der Absolventen der Meisterkurse wird gar nicht betroffen sein. Ich gehe davon aus, daß 60 bis 70 % eine Meisterprüfung ablegen wollen, weil sie in ihren Betrieben den Aufstieg beabsichtigen, ihre persönliche Situation verbessern wollen, um ihre Arbeitsfähigkeit in diesem Arbeitsmarkt durch Qualifikation abzusichern, also sich nicht selbständig machen wollen. Diese Mehrheit wird keine Existenz aufbauen. Also gibt es für sie keine Möglichkeit, ihre Darlehensverschuldung zu reduzieren.
Das Gesetzesvorhaben ist vom Grundsatz her richtig. Das habe ich immer wieder betont. Die vorgesehene Ausstattung kann unsere Zustimmung leider nicht finden. Die Förderung der Maßnahmekosten muß deutlich verbessert und die Unterhaltsbeiträge müssen deutlich höher als Zuschuß ausgewiesen
Günter Rixe
werden. Ich hoffe, Ihnen mit diesen konkreten Beispielen einmal gezeigt zu haben, wie teuer eine Meisterprüfung im Handwerk ist und was man aufbringen muß. Dazu dann 373 DM als Zuschuß für ein Jahr zu bekommen, Graf Waldburg, ist in der Tat bei einer Belastung von 49 000 DM lächerlich. Deswegen sagen wir - ich verweise auf Herrn Thönnes -, daß die Regelung im AFG eben besser war. Da bekam man noch 65 % Unterhaltsgeld. Der Auszubildende lebte im Grunde genommen mit seiner Familie weiterhin so, als wenn er arbeiten würde. Das wollten wir erreichen und nicht das, was Sie auf den Tisch gelegt haben.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Lensing.
Frau Präsidentin Vollmer! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beginne im Vorfeld mit einem Zitat von Herrn Thönnes, der es natürlich auch übernommen hat: „Meister sind noch nie vom Himmel gefallen". Wenn man einige Beiträge gerade aus der Opposition gehört hat, findet man sofort eine lebendige Bestätigung just dieser These.
- Hören Sie doch zu! In Wirklichkeit - das sage ich Ihnen doch mit aller Gelassenheit - haben Wortschwall und Phrasenflut bei Ihnen - das merke ich auch an den Zwischenrufen - wieder einmal die Hochwassermarke erreicht. Wenn Sie, Herr Rixe, jetzt mit den Rechenbeispielen kommen, dann sage ich zunächst ganz schlicht und einfach: Früher gab es gar nichts im Bereich eines Meister-BAföG.
Jetzt soll es etwas im Sinne dieser Förderung geben. Wir werden gleich noch auf die Beträge eingehen, Herr Rixe.
- Sie lachen hier. Doch wer zuletzt lacht, hat nicht eher begriffen. Das ist ganz eindeutig.
Ich will einmal versuchen, ohne Umschweife und directement von einer kurzen, aber deutlichen Beschreibung unserer gegenwärtigen bildungspolitischen Situation auszugehen, damit man erkennt, an welchen Stellen die Bundesregierung und damit auch die Koalitionsfraktionen akuten Handlungsbedarf erkannt haben.
Schließlich - das ist jedem von uns bekannt - hat die
Bundesregierung und die sie tragende Koalition mit
dem, was wir jetzt vorschlagen, den ihr gebotenen eigenen Sachverstand lebendig unter Beweis gestellt und auch eine begeisternde Befähigung zu kreativen Lösungsvorschlägen verantwortungsvoll aufgezeigt.
Ich denke, ein gesunder Mittelstand ist es, der unsere Marktwirtschaft retten wird. Ohne Marktwirtschaft wiederum gefährden wir Demokratie und Freiheit.
Aus diesem Grunde komme ich zu meinen Rahmenbedingungen, die jetzt unser Handeln bestimmt haben.
Faktum Numero eins: In den 50er Jahren zählten wir noch 9,2 Millionen Selbständige, heute gerade noch 3,6 Millionen im vereinigten Deutschland.
Dabei gilt es zu bedenken, daß rund 80 % aller Arbeitnehmer in mittelständischen Unternehmen beschäftigt sind, diese mittelständischen Unternehmen wiederum nicht von ungefähr zwei Drittel unserer Sozialsysteme mitfinanzieren. Sie zahlen 80 % aller Ertragsteuern unserer Wirtschaft. Allein im Handwerk arbeiten bei uns mehr Menschen als in der gesamten deutschen Großindustrie. Dies gilt es zu beachten. Dies machen wir mit unserem Entwurf.
Faktum Numero zwei: Andererseits sollten wir auch darauf hinweisen dürfen, daß die Handwerker in der Vielfalt ihrer Berufe auch heute nicht mehr von den Schwierigkeiten verschont sind, mit denen sich die deutsche Wirtschaft insgesamt herumzuschlagen hat.
So klagen Handwerker über erhebliche Belastungen durch Steuern und Abgaben. Sie leiden unter den hohen Lohnforderungen ihrer Mitarbeiter. Sie spüren immer stärker die Konkurrenz tüchtiger Handwerkskollegen aus dem europäischen Ausland. Ich meine, daher ist es um so wichtiger, den bedrükkenden Rückgang der Anmeldungen zu beruflichen Fortbildungskursen zu bremsen. Schließlich werden gerade junge Handwerksmeisterinnen und Handwerksmeister aus den Gründen, die wir eben schon gehört haben, dringender denn je gebraucht. Auch dieses gilt es zu beachten. Unsere Fraktion und die der F.D.P. werden das tun. .
Faktum Numero drei: Wir haben schon gehört, wo man in den nächsten Jahren mit einem Generationswechsel zu rechnen hat. In einem hohen Ausmaß ist diese Nachfolge - wir wissen es - bedauerlicherweise nicht gesichert, weil die hohe Arbeitsbelastung einer selbständigen Tätigkeit die eigenen Kinder abschreckt. Dies wiederum erschreckt mich; schließlich brauchen wir immer mehr Menschen in Deutschland, die bereit sind, mit Mut zum Risiko und mit dem ausgeprägten Willen selbst etwas auf die Beine zu stellen und eine eigene Existenz aufzubauen. Auch dies
Werner Lensing
gilt es zu beachten. Auch dies werden wir seitens der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung tun.
Faktum Numero vier: Es ist ein sehr ernster Sachverhalt, meine ich, daß an unseren Universitäten und Hochschulen viel zu viele junge Menschen am konkreten Bedarf vorbei ausgebildet werden.
Gleichzeitig fehlt in manchen Lehrberufen der dringend benötigte Nachwuchs.
Für neue Berufsfelder gibt es keine adäquate Ausbildung. Studienabbrecher und Arbeitslose belasten die Volkswirtschaft, ganz zu schweigen von den individuellen Schicksalen, die unser Bildungssystem hervorbringt. Gleichwohl reißt der Strom zu den Gymnasien und zu den Hochschulen nicht ab.
Natürlich bin ich für die Formeln „Bildung und Ausbildung für alle" und „Chancengleichheit", aber dies bitte möglichst nur in den Grenzen der individuellen Fähigkeiten. Die Binsenwahrheit, daß alle Menschen verschieden sind, muß Kern und Ausgangspunkt jeder Bildungspolitik bleiben.
- Jetzt werden Sie mal nicht so unruhig, mein lieber Kollege. Gleichheit mag vielleicht ein Recht sein; aber keine menschliche Macht kann sie in die Tat umsetzen. Wir müssen auf die verschiedenen Differenzierungen Rücksicht nehmen. Das werden wir bei diesem Gesetzentwurf beachten.
Faktum Numero fünf: An allen Ecken und Kanten
- das wissen wir - fehlt das Geld, das sich über Jahrzehnte mit einer Flut von Leistungsgesetzen über das Volk ergossen hat.
- Ich freue mich, daß Sie so unruhig sind; denn an sich sehe ich darin eine Bestätigung aller meiner Thesen: Die Wahrheit zu ertragen ist immer etwas schwierig. Das weiß wahrscheinlich ein jeder von uns.
Gleichzeitig hat dieser Staat Schleusen im Bildungssystem geöffnet und für Millionen junger Menschen Hürden beseitigt, so daß die Ausbildungs- und Bildungsströme die Hochschulen hemmungslos zuschwemmen,
mit der Folge einer gigantischen Verschiebung der Kosten von der Privatwirtschaft auf den Staat.
Hemmungslos, Herr Dr. Glotz, heißt für mich, daß wir zur Zeit beispielsweise 1,9 Millionen Studenten auf 900 000 Studienplätzen haben. Diese sollen u. a. in die berufliche Ausbildung gehen, weil wir die verkopfte Bildung in Deutschland nicht als einziges Kriterium für die Stabilisierung des Wirtschaftswachstums akzeptieren können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glotz?
Das freut mich richtig.
Herr Kollege Lensing, würden Sie mir sagen, wohin wir die Studierenden schikken sollen, wenn die Großindustrie gleichzeitig systematisch - gezwungen oder nicht - die Ausbildungsplätze abbaut. Was sollen wir mit den jungen Leuten machen? Sollen wir sie aus Deutschland wegschaffen? Oder was schlagen Sie vor, mit ihnen zu machen?
Ich habe heute wiederholt Zwischenfragen aus Ihrer Fraktion gehört. Wenn Sie die Geduld gehabt hätten, meine Ausführungen zu Ende anzuhören, hätten Sie bereits eine Antwort. Ich will es aber schon an dieser Stelle versuchen.
Ich bin sehr wohl der Auffassung, daß wir nicht allen, die meinen, zur Universität gehen zu sollen, den Zugang dorthin gewähren sollten, und dies zum Schutze des einzelnen. Wenn man mit 24 oder 25 Jahren erkennen muß, wie wenig man für den gewählten Beruf geeignet ist, dann ist das eine traurige Sache. Deswegen bin ich der Auffassung: Wir müssen die Ströme mehr in Richtung Fachhochschulen und auch in Richtung berufliche Ausbildung lenken. Vor diesem Hintergrund gehen wir hin - das ist unbestritten, wohl auch bei Ihnen, ganz egal, welches Gesetz Sie bemühen - und fördern beispielsweise den Erwerb des Meisterbriefs.
- Ich bin ganz gerührt, Herr Rixe, daß Sie daran so lebhaften Anteil nehmen. Meine vier Söhne - das will ich gern mit einigem Stolz im Bundestag verkünden - informieren sich in der Vielfalt der Möglichkeiten der Ausbildung. Dazu gehören u. a. auch die Fachhochschulen. Ist das nicht etwas Nettes, Herr Rixe? Ich freue mich, daß Sie diese Frage gestellt haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige Bemerkungen zum Ausbildungsförderungsgesetz machen. Wir haben bisher beklagt, daß wir zuwenig im Bereich der handwerklichen Ausbildung getan haben. Bund und Länder werden demnächst nach dieser Gesetzesvorlage etwa 1 Milliarde DM an Zuschüssen und Darlehen aufbringen. Deswegen sage ich sogleich, daß die Klage, für die außerbetriebli-
Werner Lensing
chen Ausbildungsplätze würden zum wiederholten Mal Mittel in der Größenordnung von 850 Millionen DM bereitgestellt, für die Aufstiegsfortbildung aber angeblich viel zuwenig, höchst unseriös ist - und jetzt komme ich auf Ihre Fragestellung zurück, Herr Dr. Glotz -, ist doch die Finanzierung überbetrieblicher Ausbildung nur deswegen notwendig geworden, weil nicht alle Bereiche der Wirtschaft, wie vorhin bereits erläutert, ihrer Verpflichtung zur Bereitstellung betrieblicher Ausbildungsplätze in ausreichendem Maße nachgekommen sind. Allein deswegen ist eine Auffangfinanzierung des Bundes nötig geworden. Das muß man den Kritikern an dieser Stelle einmal sagen.
Ein nächster Gedanke: Wir sollten mit dem Begriff Meister-BAföG etwas vorsichtiger umgehen.
- Aber aus anderen Gründen, Herr Rixe. - Da unser Gesetzentwurf nicht nur auf die künftigen Industrie- und Handwerksmeister bezogen ist, sondern auch Techniker, Fachkaufleute, Betriebswirte und Kräfte aus dem Gesundheitswesen, aus dem sozialpflegerischen und pädagogischen Bereich erreichen möchte, sollten wir, Herr Thönnes, mit der Verwendung des zu einseitig auf das Handwerk fixierten Begriffs des Meister-BAföG etwas vorsichtiger sein
und tatsächlich mehr von einem Gesetz zur Förderung beruflicher Fortbildung sprechen.
- Na klar, warum sollen nicht auch Sie zur Einsicht befähigt sein? Denn ein Katarakt der Empörung allein hilft uns auch nicht weiter.
Meine Damen und Herren, es wird behauptet, Studenten würden nach wie vor einseitig bevorteilt. Das mag in Teilaspekten der Fall sein. Ich will deshalb auch nicht behaupten, daß wir mit dieser Gesetzesvorlage bereits alles getan haben, um sagen zu können: Wir haben nunmehr die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Ausbildung voll erreicht. Wenn allerdings behauptet wird, Studenten erhielten zu günstigeren Konditionen die notwendige Krankenversicherung, so ist auch dies zu beachten: Die Zeit der Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen wird bereits nach geltendem Recht bei Teilnahme an Vollzeitbildungsmaßnahmen als Anrechnungszeit anerkannt. Unsere Förderung für die Krankenkassen beträgt nach dem Vorschlag konkret etwa 75 DM, und auch zum Pflegebeitrag haben wir einen Zuschuß in Höhe von 10 DM vorgesehen.
Wenn nun gesagt wird, daß die Lebenshaltungskosten für Studenten mit 50 % bezuschußt, bei unserer Maßnahme für die berufliche Fortbildung aber lediglich 35 % angesetzt würden, so ist zu bedenken, daß man sich ursprünglich an dem BAföG-Höchstsatz von 945 DM orientieren wollte, von dem bekanntlich 50 % als Zuschuß und 50 % als Darlehen gewährt werden. Wenn nunmehr der Höchstsatz auf 1 045 DM festgesetzt und dazu noch - das wird mir heute viel zuwenig betont - die Familienkomponente eingeführt wird, dann muß der Zuschuß gesenkt werden. Das ist eine mathematische Aufgabe, die ein jeder lösen kann.
Da hier so oft Verbände und andere Institutionen zitiert wurden, möchte ich zum Schluß eine Resolution des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks vom 5. September 1995 zitieren dürfen:
Das Präsidium begrüßt die Vorlage des Gesetzentwurfs zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung. Damit wird einer dringenden Forderung des Handwerks entsprochen, durch eine finanzielle Förderung der Aufstiegsfortbildung einen Beitrag zur angestrebten Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung zu leisten. Auch die vorgesehene arbeitsmarktpolitische Komponente für Existenzgründungen stellt eine wichtige Maßnahme dar, berufliche Bildung und Arbeitsmarkt wieder stärker zusammenzuführen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, vertrauen wir darauf, daß die mit dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz verknüpften Erwartungen eintreten werden, daß also die ca. 90 000 Teilnehmer pro Jahr anschließend ca. 20 000 Unternehmen gründen, durch die allein im Gründungsjahr - wir haben das heute schon gehört - rund 60 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können. Na bitte, sage ich. Wenn das kein Beitrag zur Stabilisierung des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist!
Vielen Dank.
Gestatten Sie noch. eine Zwischenfrage? Da Sie noch Zeit hätten, könnte ich sie, wenn Sie wollen, zulassen.
Ich will immer, wenn Herr Thönnes mit einer Frage kommt.
Herr Kollege Lensing, unter Bezugnahme auf Ihre Erklärung, daß es nun an der Zeit sei, den Begriff nicht auf das Meister-BAföG einzugrenzen: Darf ich dies auch als Kritik verstanden wissen - die wir bei den Beratungen immer geäußert haben - an der Pressemitteilung des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie z. B. vom 21. September dieses Jahres - das ist noch gar nicht so lange her - mit der Überschrift „Bundeskabinett beschließt Meister-BAföG" und gleichfalls an der Mitteilung vom 23. Juni 1995 aus dem Bundeswirtschaftsministerium „Förderung der Aufstiegsfortbildung - Meister-BAföG "? Kritisieren Sie auch diese Pressemitteilungen jetzt aufs heftigste?
Davon können Sie nicht ausgehen, weil ich andere Presseerklärungen
Werner Lensing
habe; ich habe sie allerdings jetzt nicht bei mir, da ich nicht um Ihre Fragestellung wußte.
Aus ihnen gehen beide Begriffe, von denen ich eben gesprochen habe, immer wieder eindeutig hervor. Ich kann Ihnen diese Presseerklärungen aber gern nachreichen, wenn Sie das wünschen.
- Auch die hätten Sie dann, finde ich, zitieren können.
Jetzt hat die Abgeordnete Doris Odendahl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn die Regierungskoalition endlich versucht, den Flurschaden, den sie mit der Streichung der - ich will bei der Wortschöpfung einmal etwas kreativ sein - Meisterinnen-Förderung im AFG angerichtet hat, wiedergutzumachen, ist dagegen nichts einzuwenden, im Gegenteil. Die SPD-Fraktion hat Sie seit der von Ihnen in namentlicher Abstimmung getroffenen Fehlentscheidung immer wieder dazu aufgefordert. Daß der heute vorgelegte Gesetzentwurf zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung diese notwendige Wiedergutmachung nicht leistet, haben meine beiden Kollegen Franz Thönnes und Günter Rixe schon zum Ausdruck gebracht. Offenbar waren auch Sie selbst der Meinung, daß Ihr Reformvorhaben als Signal für den Stellenwert der beruflichen Bildung noch etwas verziert oder aufgemotzt werden müßte, verziert mit Ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Hochschulrahmengesetzes, um durch eine bundesrechtliche Regelung die Anerkennung von Abschlüssen der Berufsakademien zu erreichen.
Seit Mitte der 80er Jahre hat sich vor allem das Land Baden-Württemberg - mit gutem Grund, Herr Minister Trotha - um eine Regelung im HRG bemüht, was innerhalb der KMK ganz heftig umstritten war. Nun hat sich zum Glück die KMK auf der letzten Sitzung am 23. September dieses Jahres in Halle geeinigt und einen Beschluß gefaßt, der vorsieht: Es gibt den Diplomtitel und die berufsrechtliche Gleichstellung mit dem Ziel, Absolventinnen und Absolventen von Berufsakademien unter die Hochschulrichtlinie der EG fallen zu lassen. Somit ist von seiten der KMK - ich empfinde das als Glück - der Streit beigelegt und die HRG-Novelle nach Einschätzung von Experten gar nicht mehr notwendig. Wenn überhaupt eine solche Notwendigkeit bestünde, müßte bei Ihrer nun überflüssigen Miniaturnovelle noch „Butter bei die Fische". Es müßte geklärt werden, ob die vorliegenden Kriterien ausreichen; denn der Entwurf ist auf die baden-württembergischen Berufsakademien ausgerichtet, während es in anderen Bundesländern ganz unterschiedliche Einrichtungen gibt. Hier empfiehlt sich auf jeden Fall eine Anhörung, gemeinsam mit dem Wirtschaftsausschuß.
Ferner wäre die Frage des Zugangs von Absolventen der Berufsakademien zu weiterführenden Studien, z. B. an Universitäten oder Technischen Hochschulen, und der Anrechnung von Studiensemestern zu klären sowie die Frage, ob die BA-Absolventen den Fachhochschulabsolventen bei der Promotionszulassung gleichgestellt werden sollten.
Für die Fachhochschulen stellt sich mit einer solchen Novelle die berechtigte Frage, warum es ermöglicht werden soll, diese mit den Berufsakademien vergleichbar zu machen, während ihnen die Vergleichbarkeit mit den Universitäten weiter vorenthalten wird, und ob es etwa auch noch zu einer Aufteilung der für die Fachhochschulen ohnehin knappen Finanzmittel zugunsten der Berufsakademien kommen wird. Gerade die Fachhochschulen haben in letzter Zeit zusammen mit der Wirtschaft Pläne zu einer stärkeren Dualisierung ihrer Ausbildung gefaßt, die durch eine solche Regelung nicht unterlaufen werden dürfen.
Wenn Sie dennoch der Meinung sein sollten, das HRG sei reformbedürftig, dann will ich Ihnen gerne ein paar Punkte aufzeigen, bei denen wir Regelungsbedarf sehen: Wo bleibt denn Ihre HRG-Novelle zum Hochschulzugang für qualifizierte Berufstätige? Wo bleibt Ihr Vorschlag zur Verankerung der Frauenförderung im HRG? Wo bleibt Ihr Beitrag zu einer modernen Personalstruktur mit einer Rücknahme Ihrer längst überholten Oberassistenten-Hierarchie? Wie regeln Sie die Forderung nach mehr Autonomie der Hochschulen, verbunden mit der Notwendigkeit von mehr Mitbestimmung?
Meine Damen und Herren, anstatt mit einer solchen Bonsai-Novelle Reformfähigkeit vorzutäuschen, sollten Sie sich den notwendigen Hochschulfragen stellen. Wir helfen Ihnen gern dabei.
Noch eine letzte Bemerkung zu dieser verbundenen Debatte: Wenn zum HRG eine Bonsai-Novelle vorgelegt wird, dann sollten Sie die Kritik der Handwerkskammer Osnabrück-Emsland an Ihrem Gesetzentwurf zur Aufstiegsfortbildung ernst nehmen. Sie spricht in einem Beitrag von einer kosmetischen Korrektur am Meister-BAföG und führt weiter aus:
Wenn nicht eine Erhöhung des Gesamtvolumens über die bisher insgesamt vorgesehenen 200 Millionen hinaus - die Sie auch nicht haben, Herr Rüttgers - erfolgt, werde der Anschub zu neuen Existenzgründungen nicht erreicht. Schließlich habe die frühere AFG-Förderung 800 Millionen DM betragen. - Ein Glück, daß die Handwerker auf jeden Fall besser rechnen können als die Bundesregierung.
Für den Bundesrat erhält jetzt der Herr Landesminister für Wissenschaft und Forschung des Landes Baden-Württemberg, Klaus von Trotha, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Sehr geehrte Herren! Wenn ein Landesminister - noch dazu in der ureigenen Kompetenzmaterie des Bil-
Minister Klaus von Trotha
dungswesens - im Deutschen Bundestag die Gelegenheit erhält, das Wort zu ergreifen, dann muß es sich schon um ein besonderes Anliegen handeln.
Ich danke den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. für ihre Initiative zur Ergänzung des Hochschulrahmenrechts mit dem Ziel, die Gleichstellung der Abschlußexamina der Berufsakademien nach baden-württembergischem Muster mit den Abschlüssen der Fachhochschulen herbeizuführen. Wenn heute nicht mehr, wie noch in den 60er Jahren, 6 % eines Alterjahrgangs, sondern bald 40 % der jungen Menschen irgendwann im Verlauf ihres Lebens eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben, dann muß die politische Antwort darauf sein, unsere Bildungslandschaft so zu gestalten, daß sie den vielfältigen Neigungen sowie den unterschiedlichen Begabungen und Erwartungen der jungen Menschen und des Arbeitsmarktes gerecht wird.
Der weltweit in engster Verbindung stehende Arbeitsmarkt, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und die Leistungskraft unseres Bildungssystems erfordern nicht gleichmacherische Modelle, sondern eine Diversifizierung der Angebote. BadenWürttemberg hat sich deshalb konsequent für ein differenziertes tertiäres Bildungssystem entschieden. Universitäten, Fachhochschulen und Berufsakademien unterscheiden sich dabei nach ihrem Theorieanteil, dem Grad ihres Anwendungsbezugs und dem Ausmaß der Einbeziehung der Berufspraxis. In diesem System haben die Berufsakademien ihren festen Platz. Als einzige setzt die Berufsakademie das bewährte duale System der Wechselausbildung zwischen Betrieb und Staat in den tertiären Bereich hinein fort. Sie realisiert damit die immer wieder eingeforderte Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung - das durchgehende Thema unserer Debatte heute morgen.
Die Berufsakademie lebt aus der gemeinsamen Verantwortung von Staat und Wirtschaft. Sie hat ihre Stärken dort, wo die Hochschulen ihre Schwächen haben: bei der Kenntnisnahme der Arbeitswelt, bei dem Erwerb von Sozial- und Handlungskompetenzen. Die Absolventen der Berufsakademien sind nach ihrem Studium unmittelbar und ohne Traineephase in den Betrieben einsatzfähig. Qualität ist freilich nie Zufall. Gütesiegel der Berufsakademien ist die integrierte Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und berufspraktischer Erfahrungen.
Von einem solchermaßen gegliederten Bildungssystem gehen Wettbewerbsimpulse aus, die für alle beteiligten Institutionen heilsam sind. So hat auch die Existenz der Berufsakademien in Baden-Württemberg den Fachhochschulen überhaupt nicht geschadet. Im Gegenteil, Fachhochschulen und Berufsakademien haben ein je ausgeprägtes eigenes Profil entwickelt. Beide bilden berufsfähige junge Menschen aus, aber mit unterschiedlicher Methode. Den Nachweis für das Gelingen dieser Zielsetzung hat der Wissenschaftsrat in seiner Evaluation der badenwürttembergischen Berufsakademien überzeugend dargetan, als er schrieb,
daß die an den Berufsakademien des Landes Baden-Württemberg ausgebildeten Ingenieure, Betriebswirte und Sozialpädagogen aus der Sicht der Berufspraxis eine von den entsprechenden Fachhochschulabsolventen in einzelnen Qualifikationsmerkmalen unterschiedliche, im Gesamtbild jedoch gleichwertige Ausbildung erhalten.
Meine Damen und Herren, es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die Kultusministerkonferenz am 28./29. September ohne Gegenstimme die Anerkennung der Berufsakademien beschlossen hat. Wenn dieser Beschluß auch nicht so weit geht wie der vorliegende Gesetzentwurf, weil er noch in hochschul- und berufsrechtliche Regelungen bei Bund und Ländern umgesetzt werden muß, so freue ich mich doch, daß die Länder ihre Kompetenz in Bildungsangelegenheiten wahrzunehmen imstande waren.
Allerdings, Frau Böttcher und Frau Odendahl, irren Sie sich, wenn Sie daraus die Folgerung ziehen, § 70 a Hochschulrahmengesetz sei überflüssig. In Wirklichkeit wäre dies ein Rückfall in alte Ablehnungen der Berufsakademie. Ich will das nachweisen: Durch die Verweisung auf § 70 Abs. 3 Satz 2 HRG gilt damit die Ausbildung als abgeschlossenes Hochschulstudium im Sinne des Hochschulrahmenrechts, und diese Bestimmung gilt nach § 72 Abs. 1 Satz 5 HRG unmittelbar und bedarf nicht der Umsetzung in das jeweilige Landesrecht. Das ist der Vorzug des Gesetzentwurfes der beiden Koalitionsfraktionen.
Der für die Länder getroffene Beschluß gilt zugleich europaweit, da die Kultusministerkonferenz festgestellt hat, daß die baden-württembergischen Berufsakademieabschlüsse unter die Hochschuldiplomrichtlinie der EU fallen, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung voraussetzt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich gem.
Herr Minister, können Sie bestätigen, daß es Bestandteil dieser Vereinbarung der Kultusminister war, die wir gemeinsam begrüßen - wir sind ja sehr froh darüber -, daß eben dadurch eine Regelung im Hochschulrahmenrecht überflüssig wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, das kann ich nicht bestätigen, weil ich gerade durch Textexegese darzulegen versucht habe, daß der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, weiterführt als der Beschluß der Kultusministerkonferenz.
Gestatten Sie eine weitere Frage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön.
Anschlußfrage: Herr Minister von Trotha, müssen sich denn nach dem Inhalt der Vereinbarung der KMK und angesichts der Tatsache, daß ein Gesetzentwurf vorliegt, die Kultusminister nicht noch einmal darüber unterhalten, ob jetzt diese weitergehende Regelung auch einhellig so getragen wird? Ich habe ganz gegenteilige Äußerungen gehört.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Odendahl, ich weiß, daß Sie positiv zur Berufsakademie stehen. Damit sind Sie aber nicht unbedingt repräsentativ für Ihre politischen Freunde. Es wird in der Tat unser Problem sein, ob im Bundesrat von seiten der A-regierten Bundesländer die Neigung besteht, diesem erweiterten Wunsch der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. Rechnung zu tragen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf folgendes hinweisen: Die Berufsakademien sind nicht nur eine qualitativ, sondern auch eine quantitativ erfolgreiche Bildungseinrichtung. 34 000 Absolventen haben inzwischen ihren Arbeitsplatz als Diplom-Ingenieur, als Diplom-Betriebswirt oder Diplom-Sozialpädagoge gefunden. Daß dies keine quantité négligeable ist, soll Ihnen eine Zahl verdeutlichen: 1992 kamen 43 % der Abgänger aus wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen in BadenWürttemberg von den Berufsakademien gegenüber 26 % von den Fachhochschulen und 31 % von den Universitäten. Das Durchschnittsalter der Absolventen liegt im langjährigen Mittel unter 24 Jahren. Rund 90 % der Studienanfänger erhalten einen Diplom-Abschluß. Vergleichen Sie das mit der Zahl der Studienabbrecher an den anderen Hochschulen. Das Skandalon des deutschen Bildungswesens, nämlich die durchschnittliche Studiendauer von sieben Jahren, beträgt bei den Berufsakademien nur 3,1 Jahre. Das ist, wenn man will, also machbar.
Die Berufsaussichten der Absolventen sind auch in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession aus guten Gründen überaus günstig. Rund 85 % erhalten bereits unmittelbar nach Studienabschluß einen Arbeitsvertrag. Welche andere Bildungseinrichtung kann dies für sich in Anspruch nehmen? Nirgends läuft die Schere zwischen Angebot und Arbeitsmarkterfordernissen so wenig auseinander wie bei den Berufsakademien.
Daß dieses erfolgreiche System überdies staatliche Ressourcen zu schonen vermag, macht folgender Vergleich deutlich: Um ebenso viele Diplomabschlüsse wie auf 10 000 Berufsakademie-Studienplätzen pro Jahr zu erreichen, müßte man eine Universität mit 30 000 Studienplätzen errichten. Beruf sakademien entlasten also den Hochschulbereich in einer für alle vorteilhaften Weise.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß die Mehrheit dieses Hauses die Arbeit der Berufsakademien kennt, sie schätzt und ihnen die bundesweite Anerkennung nicht vorenthalten will. An die, die sich dem noch nicht anschließen konnten, appelliere ich, ihre bisherige Haltung zu überprüfen. Mit Ihrer Unterstützung würden Sie nicht nur endlich eine vorzügliche Ausbildung anerkennen, die sich in der Praxis hervorragend bewährt hat, sondern auch eine Einrichtung fördern, die zu den erfolgreichsten Innovationen des Bildungswesens der Nachkriegszeit gehört.
Herzlichen Dank.
Herr Kollege Ernst Hinsken, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Thönnes, wenn auch nicht alle Wünsche, die zum Teil berechtigt sind, sofort erfüllt werden können, so meine ich doch, die heutige Debatte und den Einstieg in den Umbau des Bildungssystems mit der Überschrift „Der Spatz in der Hand ist mir lieber als die Taube auf dem Dach" versehen zu können. Es wird hier ein großartiger, vernünftiger Umbau vorgenommen, durchgeführt von unserem Bundesbildungsminister, Dr. Rüttgers.
Unser Bundespräsident Herzog hatte recht, als er vor circa einem Jahr den Bundessiegern der Handwerksjugend zurief:
Wir brauchen nicht mehr Doktortitel, sondern mehr Meistertitel.
Er führte weiter aus:
Es kann daher nicht richtig sein, daß die öffentliche Hand, wie eine Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft gezeigt hat, für die Hochschulausbildung eines Akademikers angeblich achtmal soviel ausgibt wie für die Erstausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf.
- Ich komme noch darauf, Frau Kollegin Odendahl.
Heute wird ein Gesetz eingebracht, mit dem eine langjährige berechtigte Forderung der Wirtschaft, insbesondere des Handwerks, erfüllt werden soll. Ich meine, auch heute, bei der Einbringung des Gesetzes, ein großes Kompliment unserem Bundesbildungsminister und seinen Staatssekretären, Frau Yzer und Herrn Schaumann, sowie auch Ihnen, Herr Staatssekretär Dr. Kolb, seitens des Wirtschaftsministeriums meinen Dank dafür aussprechen zu dürfen, daß Sie nicht nur geredet haben, sondern daß Sie das, was Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung bereits im vergangenen Jahr hier versprochen hatte, ganz schnell umgesetzt haben.
Ernst Hinsken
Meine Damen und Herren, diese Reform ist längst überfällig.
Es geht darum, daß unser Bildungssystem vom Kopf wieder auf die Füße gestellt wird. Es ist doch frustrierend, wenn wir feststellen müssen, daß z. B. in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit 202 000 voll ausgebildete Akademiker arbeitslos sind. Eine Ausbildung kostet - niedrig gegriffen - 60 000 DM. Bei über 200 000 sind das über 12 Milliarden D-Mark, die - lassen Sie es mich lax formulieren - in den Sand gesetzt wurden. Andererseits müssen wir feststellen, daß viele kleine und mittlere Betriebe keine Nachfolger mehr finden. Ich meine, daß gerade mit diesem Gesetz auch die Grundlage dafür geschaffen wird, eine Trendumkehr herbeizuführen.
Es war doch nicht richtig, meine Damen und Herren, daß vor etwa 20 Jahren Willy Brandt und Frau Hamm-Brücher gesagt haben, das bildungspolitische Ziel in Deutschland sei dann erreicht, wenn mehr als die Hälfte aller Schüler das Abitur in der Tasche habe. Meine Damen und Herren, das war eine Fehlentwicklung, die damals eingeleitet wurde, und wir müssen sie jetzt korrigieren. Es ist doch völlig unverständlich, wenn in Deutschland 25 bis 27 % der jungen Menschen ihr Studium abbrechen, um dann als 25- oder 30jährige ohne beruflichen Abschluß dastehen zu müssen.
Meine Damen und Herren, alle zusammen müssen wir einräumen: Das war eine falsche Bildungspolitik in den letzten 20 Jahren, und jetzt ist es höchste Zeit, hier umzusteuern;
denn was wir brauchen, ist ein gesunder und vernünftiger Mix von Akademikern einerseits und Facharbeitern und Meistern andererseits.
Beide Wege müssen gleichmäßig und gleichwertig gefördert werden.
Das setzt aber auch ein Umdenken in vielen Familien voraus. Sie müssen sich vom Standesdünkel befreien. Wir müssen den Mitbürgern klarmachen: Einem qualifizierten Handwerker eröffnen sich bessere Zukunftsperspektiven als einem Akademiker, der sich mühsam durch Gymnasium und Hochschule geschleppt hat.
Angesichts der großen Welle von Betriebsübergaben in den nächsten fünf bis zehn Jahren an Existenzgründer, an junge Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen und Verantwortung übernehmen, kommt diese Reform gerade noch richtig. Die Flucht aus der Selbständigkeit muß gestoppt werden. Wir müssen junge Menschen ermutigen, den Sprung in die Selbständigkeit zu wagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mut zur Selbständigkeit sei nicht zuletzt eine Frage von Erziehung und Bildung. Diese seien bisher zu einseitig am Leitbild des Angestellten orientiert. Hier müsse ein Umdenken stattfinden. Selbständigkeit müsse wieder mehr Anerkennung in unserer Gesellschaft erfahren. - Deshalb ist es meiner Meinung nach richtig, daß jedem Meister-BAföG-Empfänger
ein 50%iger Erlaß des auf die Lehrgangs- und Prüfungsgebühren entfallenden Darlehens gewährt werden kann, wenn er sich innerhalb von zwei Jahren selbständig macht und mindestens zwei neue Arbeitsplätze schafft. Das war eine langjährige Forderung, die hier speziell von der CSU eingebracht wurde. Ich möchte natürlich Wert darauf legen, dies heute sagen zu dürfen.
- Es kommt so vieles von der CSU. Sie brauchen nur nach Bayern zu schauen. Dort wurde das Meister-BAföG eingeführt; zwischenzeitlich macht es ein Land dem anderen bundesweit nach. Aber der Anfang wurde bravourös in Bayern gemacht.
Nach der Einbringung heute folgt nun die Gesetzesberatung. Dabei, so meine ich, muß überprüft werden, ob bei Vollzeitform die Fortbildungsmaßnahme mindestens sechs Monate dauern muß. Ich pflichte hier einigen Vorrednern ausdrücklich bei und meine auch, daß bei einer Maßnahme in Teilzeitform auch vorbereitende Stunden, die nachgewiesen werden, angerechnet werden können. Kollege Scherhag, Sie als Handwerkskammerpräsident wissen hier bestens Bescheid. Ihnen ist genauso wie mir bewußt, daß dies eine zwingende und dringende Notwendigkeit ist.
Ich darf deshalb abschließend festhalten, daß gilt, was ich eingangs gesagt habe: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, daß wir mit dem Gesetz eine Trendumkehr herbeiführen wollen und herbeiführen werden. Es muß unser aller Anliegen sein, in diese Richtung zu marschieren; denn wir brauchen mehr Selbständige, wir brauchen mehr, die bereit sind, Verantwortung in diesem Bereich zu übernehmen. Es sind jetzt viel zu wenige. Deshalb muß, wie ich schon gesagt habe, diese Umkehr erfolgen.
Ich möchte Sie daher bitten, mit uns gemeinsam an einem Strang zu ziehen, damit dies möglich wird. Im Laufe der nächsten Zeit werden wir dann versuchen, finanziell nach- und aufzubessern, was dringend notwendig ist, damit eine tatsächliche Gleichwertigkeit zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung hergestellt werden kann.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/2490 und 13/ 1829 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 13/1826, 13/2446 -
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/2589 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Pfaff
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/2594 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Oswald Metzger Roland Sauer
Uta Titze-Stecher
Dr. Wolfgang Weng
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch im Haus. Dann ist das so beschlossen.
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache die Schlußabstimmung namentlich durchführen werden.
Erlauben Sie mir bitte noch folgenden Hinweis: Wenn Sie nachher die Abstimmungskarten Ihrem Schließfach entnehmen, achten Sie bitte unbedingt darauf, daß die von Ihnen benutzte Karte auch wirklich Ihren Namen trägt. Bei namentlichen Abstimmungen ist es gelegentlich zu Verwechslungen gekommen. Vergewissern Sie sich also bitte sorgfältig, daß Sie die richtige Karte verwenden.
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile dem Kollegen Wolfgang Lohmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Förderung der hausärztlichen Versorgung, um die es heute morgen in zweiter und dritter Beratung des Entwurfs eines 4. SGB-V-Änderungsgesetzes geht, beschäftigt die Gesundheitspolitik nicht erst seit Wochen, sondern im Grunde schon seit Jahren.
Ich möchte deshalb meinen Beitrag mit einem Zitat eines Sachverständigen aus der Anhörung vor dem Gesundheitsausschuß, Herrn Dr. Bausch, beginnen.
Er hat folgendes gesagt: Ich kann die Diskussion in der Politik über die Förderung der Hausärzte gar nicht mehr hören; denn eine Förderung der Hausärzte findet nicht statt. Die Politik hätte jetzt die Chance, eine Förderung durchzusetzen, sie müßte nur handeln. Das, was uns immer aus dem parteipolitischen Programm zugewunken wird, sind reine Schalmeienklänge ohne inhaltliche Substanz. - So der Sachverständige Dr. Bausch in der Anhörung am 20. September.
Ich muß sagen: Herr Dr. Bausch hat sowohl mit der Diagnose als auch mit der Therapieempfehlung recht.
Wenn ich mir nämlich das Konzept der SPD zur Weiterentwicklung der Gesundheitsreform unter diesem Gesichtspunkt anschaue, müßte ich eigentlich zu dem Ergebnis kommen,
die SPD meine es mit den Hausärzten gut. Ich lese da nämlich beispielsweise, Frau Schmidt-Zadel - ich zitiere -: „Stärkung der hausärztlichen Versorgung und Förderung kooperativer Praxisformen". So steht es in der Presseerklärung vom 29. August dieses Jahres.
Ich bin sicher, daß ich, wenn ich mir die Mühe machte, die wesentlichen programmatischen Äußerungen bzw. Ankündigungen aller im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen anzuschauen, zu dem Ergebnis käme, daß alle Parteien schon immer für die Stärkung der hausärztlichen Versorgung eingetreten sind. Woran liegt es also, daß nichts passiert, obwohl alle Fraktionen darin einig sind, daß etwas passieren muß?
Die Verantwortung dafür, daß die Honorarsituation im hausärztlichen Bereich so ist, wie sie heute ist, nämlich miserabel, trägt die SPD in Bundestag und Bundesrat. Die Verantwortung dafür, daß die Hausärzteschaft es schlicht und ergreifend satt hat, das ständige Gerede von der Förderung der hausärztlichen Grundversorgung zu hören, ohne daß dem irgendwelche Taten folgen, tragen Sie von der SPD - Herr Kollege Kirschner ist im Moment erstaunlicherweise bei diesem Thema nicht im Raum; deshalb spreche ich Herrn Kollegen Schmidbauer an - durch die Blockadepolitik Ihrer Partei hier und vor allen Dingen im Bundesrat.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 1994 mit dem Gesetz zur Anpassung krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften - so kompliziert hieß das damals - einen Vorschlag zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung mit einem Volumen von rund 600 Millionen DM gemacht und gegen Ihre Stimmen auch beschlossen. Aber im Bundesrat
Wolfgang Lohmann
wurde dies abgelehnt - wie ich meine, lediglich aus wahltaktischen, ideologischen Gründen.
Damals hat die SPD als Begründung angeführt, daß sie zwar für die Stärkung des Hausarztprinzips sei, daß sie aber zusätzliche finanzielle Mittel der Krankenversicherung zu diesem Zweck nicht bereitstellen könne. Diese Mittel - sprich: die 600 Millionen DM - sollten nicht die Krankenkassen, also die Beitragszahler, sondern vielmehr die Ärzteschaft durch weitere interne Umschichtung erbringen.
Herr Kollege Lohmann, der Kollege Schmidbauer würde gerne eine Frage stellen.
Ich weiß, daß die Frage und die Antwort nicht auf die Zeit angerechnet werden. Aber ich nehme Rücksicht auf unsere vielen Kollegen, die jetzt schon wieder unter unserer starken Verspätung leiden, und möchte jetzt im Zusammenhang vortragen, Herr Schmidbauer. Die Fragen sind ja übrigens in der öffentlichen Anhörung in ausreichendem Maße gestellt und beantwortet worden.
Nun ist die Frage der finanziellen Auswirkungen bei einem derartigen Gesetzesvorhaben natürlich nicht ohne Bedeutung. Immerhin bedürfen rund 840 Millionen DM zusätzlich zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1995 für das Hausärztehonorar und das ärztliche Honorarbudget in den neuen Ländern einer Begründung. Denn wir wissen ja alle, daß die GKV bereits im ersten Halbjahr 1995 ein Defizit von rund 5 Milliarden DM aufzuweisen hatte.
Auch hier ein Zitat aus dem Beschluß eines, wie ich meine sagen zu können, sachverständigen und neutralen Gremiums:
Sollte durch ein 4. SGB-V-Änderungsgesetz in 1995
- das, was wir jetzt vorhaben -
die hausärztliche Grundvergütung nicht entsprechend angehoben werden, sollen sich die Gesamtvergütungen in 1996 um zusätzlich 2 v. H. erhöhen, wobei sichergestellt werden muß, daß ein Betrag von 600 Millionen DM insgesamt zur Besserung der hausärztlichen Grundversorgung bereitgestellt wird.
So die Empfehlung der Konzertierten Aktion vom 14. September diesen Jahres zur angemessenen Veränderung der Gesamtvergütung für die vertragsärztliche Versorgung. Diese Empfehlung tragen die gesetzlichen Krankenkassen, also die Kostenträger, einstimmig mit.
Über die Finanzierung der Stärkung der hausärztlichen Grundversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung besteht also in diesem Gremium Einverständnis und auch keinerlei Zweifel. In diesen Empfehlungen steht allerdings nichts davon, daß die Förderung der Hausärzte, wie die SPD vorschlägt, durch eine weitere Umverteilung zu Lasten der gesamten Ärzteschaft erfolgen muß. Warum auch?
Die Ärzteschaft hat ja in konsequenter Umsetzung des Gesundheits-Strukturgesetzes bereits 600 Millionen DM insbesondere zu Lasten der ärztlichen Labors in den hausärztlichen Bereich umgeschichtet. Außerdem hat die Ärzteschaft zusammen mit den Krankenkassen eine EBM-Reform vereinbart, die am 1. Januar 1996 in Kraft treten wird und die das Hausarztprinzip in der ärztlichen Versorgung konsequent weiterentwickelt.
Gerade die Ärzteschaft - das kann man nun wirklich nicht bestreiten - hält sich seit Jahren mit ihrer Honorarentwicklung im Rahmen der Grundlohnsummenentwicklung. Gerade das ärztliche Honorar ist seit Jahren beitragssatzstabil, was wir ja immer gefordert haben, und das bei steigender Arztzahlentwicklung. Wer nur ein wenig rechnen kann, muß doch sagen, das heißt: Die Honorarsituation insbesondere im hausärztlichen Bereich hat sich letztendlich ständig weiter verschlechtert. Und da wollen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt weiter umverteilen? Ich glaube, Sie machen es sich wirklich zu einfach mit einer solchen Lösung.
Wenn man das alles summiert, bleibt unter dem Strich bei der Diskussion um diese vierte SGB-V-Novelle nur die Frage, ob eine Aufbesserung noch 1995 oder erst 1996 erfolgen soll. Über mehr wird nicht gestritten. Es geht also um den sogenannten Basiseffekt der heute von uns zur Beschlußfassung vorgeschlagenen Maßnahme.
Vor dem Hintergrund der von mir vorgetragenen Argumente und insbesondere wegen der Honorarsituation der Hausärzte scheint mir dieser Schritt im Jahre 1995 und nicht erst 1996 mehr als überfällig.
Ich kann Ihnen daher auf der Grundlage der Ausschußberatungen nur die Zustimmung zum Gesetzentwurf - und das bitte in namentlicher Abstimmung; dann sind daran auch mehr beteiligt, als zur Zeit in diesem Raum sitzen - empfehlen.
Der Forderung der SPD bzw. von Ihnen, Herr Kollege Schmidbauer, Herr Professor Pfaff, auf diesen Gesetzentwurf zu verzichten, werden wir genausowenig nachkommen wie Ihrer Forderung, die Streichung der Positivliste zurückzunehmen. Beide Forderungen sind für uns nicht akzeptabel.
Wenn es wirklich richtig sein sollte, daß die SPD im Bundestag und Bundesrat die Rücknahme dieser beiden Gesetze zur Vorbedingung, wie ich lese, für die Aufnahme von Gesprächen machen sollte, wird es eben derartige Gespräche nicht geben.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird vielmehr entschlossen den in der Gesundheitspolitik eingeschlagenen Weg fortsetzen. Wir werden daher bereits in der nächsten Sitzungswoche - Sie haben sich vielleicht schon daran gewöhnt, daß ich Ihnen in je-
Wolfgang Lohmann
dem meiner Beiträge ankündige, was in den darauffolgenden Wochen passiert, so daß Sie immer viel nachzudenken und zu schreiben haben - Sofortmaßnahmen vorschlagen, die eine Konsolidierung der Krankenhausausgaben im Jahr 1996 gewährleisten sollen.
Das ist erstens die Aussetzung der Pflegepersonalregelung für das Jahr 1996, mit dem Ziel, das Erreichte erst einmal in Ruhe zu überprüfen.
Das ist zweitens die Korrektur der Bundespflegesatzverordnung in zwei wichtigen Bereichen, mit dem Ziel, das Entgeltsystem bereits ab 1. Januar 1996 noch effizienter zu gestalten, als es in der gegenwärtigen Bundespflegesatzverordnung möglich erscheint.
Das ist drittens die Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, mit dem Ziel, für eine Übergangsfrist von drei Jahren, d. h. bis zum Ende 1998, die Finanzierungslast für die Instandhaltungsinvestitionen im Krankenhaus in der Verantwortung der Länder zu belassen.
Sie alle wissen: Dieser Teil hängt - auch nach einem entsprechenden Urteil - völlig in der Luft. Die Krankenhäuser bekommen ihre Instandhaltungsinvestitionen im Moment von niemandem refinanziert. Die Länder sagen nein, auch die Krankenkassen sagen nein. In diesem Bereich muß unbedingt etwas geschehen. Unsere Koalition ist gewillt und auch dazu in der Lage, ihrer gesundheitspolitischen Verantwortung für die Finanzentwicklung im Krankenhaus nachzukommen.
Meine Damen und Herren von der SPD, freuen Sie sich nicht zu früh, weil die Erarbeitung eines gemeinsamen Konzeptes am vergangenen Freitag nicht so recht vorangekommen ist. Die Koalition und die Union werden - davon bin ich überzeugt - Anfang November dieses Jahres ein gemeinsames Konzept vorlegen, mit dem die dritte Reformstufe im Gesundheitswesen erfolgreich gestaltet werden kann.
- Wir arbeiten intensiv; deswegen müssen wir uns häufiger treffen.
Wir werden dann sehen - auch Sie, Herr Catenhusen -, ob Sie den Mut haben, mit Hilfe von Blockadepolitik all das zunichte zu machen, was an Vertrauen und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung durch alle - ich betone: durch alle! - am Gesundheitswesen Beteiligten in einer Reihe von Monaten in diesem Jahr aufgebaut worden ist. Dann werden wir sehen, Ob Sie den Mut dazu haben, das durch Blokkadepolitik kaputt zu machen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit allerdings eins klarstellen: Es kann keine Rede davon sein, daß die
Union mit dem Maßnahmepaket für das Krankenhaus gegenüber der F.D.P. - wie Herr Dreßler veröffentlicht hat - „in die Knie gegangen sei, um einen koalitionsinternen Streit zu entschärfen." Das ist mit Sicherheit falsch. Dieses gerade genannte Vorabmaßnahmepaket ist der Beitrag der Koalition, um die Ausgabenentwicklung im Krankenhaus bereits im Jahre 1996 zu konsolidieren - nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Die eigentlichen Fragen einer Krankenhausreform sind damit keineswegs vom Tisch. Im Gegenteil, nach wie vor gilt für die Union: Ohne eine Krankenhausreform, die diesen Namen auch wirklich verdient, ist eine weitere Stufe der Gesundheitsreform nicht erfolgreich zu realisieren.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Martin Pfaff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu sagen, heute geht es nicht um das Ob, sondern nur um das Wie, nicht um das Ziel, sondern nur um den Weg oder das Verfahren, wäre weniger als die halbe Botschaft, weniger als die halbe Wahrheit. Es ist zwar richtig, daß wir alle in diesem Haus die Position der Hausärzte aufwerten wollen, und es ist ebenfalls richtig, daß wir, die Vertragspartner von Lahnstein, dies teilweise durch Umschichtungen im Laborbereich, aber darüber hinaus auch durch die Reform des einheitlichen Bewertungsmaßstabes realisieren wollten.
Das ist richtig; aber das reicht nicht aus. Denn mittlerweile ist noch einiges geschehen. Das ist in Ihren Worten, Herr Kollege Lohmann, nur am Rande erwähnt worden. Erstens haben die Spitzenverbände der Kassen und auch der Ärzte zusammen eine Empfehlung abgegeben, nach der die Gesamtvergütung für die Hausärzte im Jahre 1996 auf jeden Fall um 600 Millionen DM angehoben werden soll. Da fragt man sich natürlich als erstes: Warum eine Anhebung zu diesem Zeitpunkt? Denn sie würde ja dann nicht noch einmal im nächsten Jahr erfolgen.
Das zweite, was geschehen ist - auch das haben Sie zu lässig behandelt -: Die EBM-Reform ist in ihren wesentlichen Grundzügen beschlossene Sache. Auch das haben Sie ignoriert.
Ich meine, es geht heute um mehr. Es geht auch um die Frage, ob ein Bundesminister statt über die Mittel seines Hauses schlicht und einfach über die Gelder der Versicherten verfügen kann, ohne die Vertreter der Versicherten, die Kassen, überhaupt gefragt zu haben.
Das ist die erste Frage.
Dr. Martin Pfaff
Die zweite Frage ist, ob es angeht, daß ein Bundesminister, der die Wörter Beitragssatzstabilität und Lohnnebenkosten so oft im Munde führt,
durch diese Maßnahme die Beitragssatzstabilität aushebelt, damit Signale für alle anderen Leistungserbringer gibt und damit auch die vielzitierten Lohnnebenkosten in die Höhe treibt. Das muß wohl wie ein Hohn klingen. Gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem die Defizite des Jahres 1995 7 Milliarden DM bis 8 Milliarden DM und des Jahres 1996 10, 11, 12 oder 14 Milliarden DM - niemand kann das genau sagen - ausmachen, paßt dies wie die Faust aufs Auge.
Daß damit schließlich auch ein wesentlicher Punkt des Gesundheitsstrukturgesetzes in seinen Einkommenswirkungen ausgehebelt wird, soll heute ebenfalls beleuchtet werden.
Was wollten wir eigentlich in Lahnstein? Was wollten wir mit dem Gesundheits-Strukturgesetz erreichen? Einmal wollten wir eine Umschichtung aus dem Laborbereich zugunsten der Hausärzte erreichen: 657 Millionen DM Einsparungen, davon 259 Millionen DM im Speziallabor und 398 Millionen DM im allgemeinen Labor. Aber von diesen Einsparungen sind 38,4 % von den Hausärzten selbst und nicht zu ihren Gunsten finanziert worden. Dieses Ziel ist also bestenfalls teilweise erreicht worden.
Das zweite Ziel der Umschichtung: Bei den Einkommen der Ärzte gibt es sehr drastische Unterschiede. Auch dazu haben wir von Herrn Lohmann überhaupt nichts gehört. Wir haben nicht einmal gehört, wie der einzelne Hausarzt durch dieses Gesetz in seiner Einkommenssituation betroffen würde - Fehlanzeige -, und wir haben nicht gehört, wie der Gebietsarzt, also der Spezialarzt, der Facharzt, in den neuen Ländern betroffen würde. Ich will dazu einiges sagen.
Was auch nicht gewürdigt wurde, ist die Reform des einheitlichen Bewertungsmaßstabes. Er soll nichts anderes bewirken, als u. a. die hausärztliche Vergütung zu verbessern. Das betrifft die Hausärzte. Es ist eine eigene Grundvergütung vorgesehen, es ist eine Aufwertung der zeitintensiven Tätigkeiten vorgesehen.
- Nein, das reicht nicht, aber die Frage ist, ob es richtig ist, jetzt, zu diesem Zeitpunkt, 600 Millionen DM und weitere 240 Millionen DM dorthin zu schaufeln.
Diese Frage muß man sehr wohl vor dem Hintergrund der Entwicklung beantworten. Denn die EBM-sollen und daß zusätzlich eine Aufwertung der hausärztlichen Vergütung um 2 % und eine Aufwertung des ambulanten Operierens und neuer Leistungen um 1 % erfolgen sollen. Das ist eigentlich beschlossene Sache. Da fragt man sich: Warum stellt sich ein Bundesminister, warum stellt sich eine Regierungskoalition hin und sagt: Schaut, was wir alles für die Hausärzte tun. Und warum machen Sie das in einer Art und Weise, die die Zielsetzung des EBM geradezu konterkariert?
Reform verändert nicht nur Strukturen, sondern sie wurde politisch erkauft. Wodurch? Durch eine Empfehlung, daß im nächsten Jahr die Gesamtausgaben für die vertragsärztliche Honorierung um 3 % steigen
Denn die Selbstverwaltung, die Sie zu stärken vorgeben, wird dadurch ausgehebelt. Das ist eine Mißachtung, eine Desavouierung der Selbstverwaltung.
Die Mechanik des EBM wird dadurch nicht befördert; denn Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wollen doch jetzt, am Ende eines Jahres, aber rückwirkend für das Jahr 1995, d. h. im Klartext: in einer Situation, wo sich Defizite abzeichnen, die Defizite um 600 plus 240 Millionen DM verändern, ohne daß dies auch nur die geringste strukturgestaltende Wirkung hätte. Das heißt, Sie hebeln durch diese Maßnahme die EBM-Reform aus.
Ich will das noch einmal verdeutlichen: Angenommen, diese Initiative würde scheitern, wie sie es verdient. Was würde dann im Jahre 1996 geschehen, wenn die vielbeschworene Selbstverwaltung der Verbände zum Tragen käme? Nehmen wir doch einmal die Ausgaben des Jahres 1995 mit 100 Punkten. Dann würden im Jahre 1996 zu diesen 100 Ausgabenpunkten drei Prozentpunkte auf Grund der Lohnentwicklung, zwei Prozentpunkte durch die Aufwertung der hausärztlichen Vergütung und ein Prozentpunkt auf Grund neuer Leistungen dazukommen. Das ergibt 106 plus 100, also insgesamt 206 Prozentpunkte.
Was aber geschieht jetzt durch Ihre Initiative? Durch Ihre Initiative werden die Ausgaben dieses Jahres von 100 auf 102 erhöht. Im nächsten Jahr kommen drei Prozentpunkte auf Grund der Lohnentwicklung hinzu. Dann kommt noch ein Prozentpunkt für die neuen Leistungen. Im Klartext: Statt 106 werden es 108 Punkte sein.
Da frage ich: Ist das ein Weihnachtsgeschenk für die Hausärzte? Sehr wohl, aber nur ein vordergründiges. Ich werde nämlich gleich aufzeigen, daß dies eine Milchmädchenrechnung ist. Dieses Geschenk mag wohl für die Hausärzte willkommen sein. Es Nebelt aber die Beschlußlage der Selbstverwaltung aus und setzt sich auch über die Beschlüsse der Konzertierten Aktion vom September hinweg.
Herr Kollege Pfaff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seehofer?
Sehr gerne, Herr Abgeordneter Seehofer.
Lieber Herr Professor Pfaff, nachdem Sie gerade wieder von einem Geschenk an die Hausärzte und mangelnder Rücksichtnahme gegenüber der Konzertierten Aktion oder gegenüber der Selbstverwaltung gesprochen haben, frage ich Sie: Wie erklären Sie sich, daß diese Initiative, die wir heute dem Parlament zur Beschlußfassung vorlegen, im Kern von der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen als Empfehlung beschlossen worden ist - Sie wissen sicher, daß in dieser Konzertierten Aktion die Bundesländer, die Gewerkschaften, die Arbeitgeber sowie die Krankenkassen und nicht nur die Ärzte sitzen; die Ärzte sind dort in der Minderheit - und daß diese Empfehlung zustande gekommen ist, obwohl die gesamte Gesellschaft spiegelbildlich in dieser Konzertierten Aktion vertreten ist und obwohl eine einzige Gegenstimme in der Konzertierten Aktion dazu geführt hätte, daß eine Empfehlung nicht zustande gekommen wäre?
Herr Abgeordneter Seehofer, die Konzertierte Aktion hat empfohlen, daß diese Aufwertung im Jahre 1996 und nicht im Jahr 1995 - -
- Ich habe mich gestern wieder mit Vertretern der Kassen ausgetauscht. Die haben mir das bestätigt.
- Aber es steht doch eindeutig in dieser Beschlußempfehlung: daß, wenn es nicht kommt - -
- Es ist ja beschlossene Sache. Sie hat sich nicht für die Aufhebung in diesem Jahr ausgesprochen. Im Gegenteil, über die Kassen hinweg haben alle gesagt: Dieses Gesetz ist nicht mehr notwendig; dieses Gesetz ist hinfällig. Ich füge hinzu: Es ist zum jetzigen Zeitpunkt so sinnvoll wie ein Kropf.
Wie sieht es tatsächlich mit der Entwicklung der Einkommen der Ärzte aus? Warum ist eine Anhebung für die Hausärzte sinnvoll? Es ist richtig, daß die Laborumschichtungen nicht ausreichen und übrigens auch die EBM-Reform in der jetzigen Form nicht ausreichen wird. Aber betrachten wir einmal die Situation - ich bedaure, daß keine Fragen zugelassen worden sind -, fragen wir uns doch einmal: Wie würde sich dieses Gesetz auf den einzelnen Hausarzt, auf den einzelnen Facharzt im Osten auswirken? Ich habe ausgerechnet - im Gegensatz zur Regierungskoalition, liebe Kolleginnen und Kollegen -, was das auf Heller und Pfennig ergibt.
Wenn wir die Kostenstrukturanalyse des Jahres 1993 zugrunde legen, dann wissen wir, daß die Gesamteinnahmen aller Fachärzte im Durchschnitt 532 000 DM, die der allgemeinen Ärzte 360 000 DM
- jawohl; die Überschüsse in der ersten Kategorie betragen 215 000 DM - und die der Hausärzte 152 000 DM ausmachen; wohlgemerkt: vor Betriebskosten. Es besteht also ein deutlicher Unterschied. Eine Umstrukturierung jeglicher Art muß also zu Lasten der Fachärzte gehen.
Jetzt fragen wir uns doch: Um welche Größenordnungen geht es denn? Wenn wir diese 600 Millionen DM zugunsten der Hausärzte umlegen, dann würden sich deren Einkommen in diesem Jahr oder auch im nächsten, gerechnet auf der Basis 1993, um 13 700 DM je Arzt verbessern. Das sind 4,1 % mehr. Wenn man es in bezug auf die Überschüsse berechnet, sind es fast 10 %. Das ist ja intendiert.
Wie sieht es denn bei den Fachärzten aus? - Für jeden Facharzt in den neuen Ländern, der von der Regelung bezüglich der 240 Millionen DM betroffen ist, würde sich das Einkommen um 27 618 DM in diesem Jahr erhöhen. Das sind 9,5 % mehr oder, gemessen an den Überschüssen, 27,7 % mehr.
Jetzt frage ich Sie, Herr Bundesminister: Ist uns denn klar, was dies eigentlich bedeutet, beispielsweise in den neuen Ländern? In den neuen Ländern muß ein Arbeitnehmer, der ein Durchschnittseinkommen hat, acht Monate lang arbeiten, um diese Zuwächse finanzieren zu können. In den neuen Ländern würde eine große Zahl der Arbeitslosen nicht einmal so viel bekommen, wie hier als Einkommenszuwachs finanziert werden soll. Haben Sie sich das auch schon einmal auf der Zunge zergehen lassen?
- Nein, ich will jetzt keine Neiddiskussion führen.
Die Frage stellt sich doch: Wären diese Zuwächse auch durch Umschichtungen finanzierbar gewesen? Die Antwort lautet: Sehr wohl. Wenn nämlich die Fachärzte im Westen - deshalb habe ich diese Statistiken zitiert - auf 4 600 DM von ihren 532 000 DM verzichten würden - das sind neun Zehntel der Gesamteinkommen -, könnten sie die Einkommensaufbesserung in dieser Höhe, nämlich von 27 000 DM, für ihre Kollegen im Osten finanzieren.
Oder ist das nicht zumutbar, frage ich Sie.
Wenn sie darüber hinaus auf 11 500 DM verzichten würden - das sind 2,2 % ihres Umsatzes oder 5,3 % ihrer Überschüsse -, dann könnten sie auch die Umschichtung zugunsten der Hausärzte finanzieren, die wir ja alle wollen. Es soll einmal einer sagen, daß eine solche Umschichtung nicht machbar ist. Ich finde, daß sie zumutbar, machbar und sogar erforderlich ist,
Dr. Martin Pfaff
wenn wir das erreichen wollen, was wir immer angestrebt haben, nämlich die Zahl der Fachärzte auf 40 % der Gesamtheit der Ärzte zu reduzieren und die Zahl der Hausärzte auf 60 % anzuheben.
Aber auf die Art und Weise, wie Sie das machen, werden Sie es niemals erreichen.
Jetzt noch ein Wort an die Ärztinnen und Ärzte, die sich ja fragen: Will uns Herr Seehofer etwas Gutes tun, und die SPD sagt nein? Ich habe das, Herr Bundesminister, zwar als Weihnachtsgeschenk tituliert, aber eigentlich ist es ein Danaergeschenk. Warum ist es ein Danaergeschenk? Es mögen doch alle Ärztinnen und Ärzte, die jetzt zuhören, zur Kenntnis nehmen, daß diese Beträge im nächsten Jahr sowieso gekommen wären, daß sie aber in der jetzigen Situation, bei diesen Defiziten, unausweichlich nur zu einer Konsequenz führen können, wenn wir das ernst nehmen, was der Herr Minister an anderer Stelle gesagt hat.
Schauen wir doch einmal in die Eckpunkte des Programmes der CDU/CSU. Da steht, daß durch den Gesetzgeber ein Beitragssatz vorgegeben werden soll. Was heißt das denn auf deutsch? Das heißt, daß, wenn die Defizite so steigen, wie es absehbar ist, im nächsten Jahr das, was jetzt mit der einen Hand geschenkt wird, über die Punktwertabsenkungen wieder, zumindest größtenteils, kompensiert werden wird. Das ist die Realität. Es ist ein eigenartiges Weihnachtsgeschenk.
- Ja, der Punktwertverfall wird bei anhaltenden Defiziten und bei Budgeteinschränkungen einen wesentlichen Teil dieser Erhöhungen wieder auffressen.
Das ist doch das Dilemma einer solchen Regelung, sozusagen eines einmaligen Schusses. Was notwendig wäre, wäre eine Umstrukturierung, die über die jetzigen Strukturen des EBM hinausgeht.
Wenn ich das alles zusammenfasse, Herr Bundesminister, dann komme ich zu dem Schluß, daß es hier um eine falsche Maßnahme zu einem falschen Zeitpunkt geht. Die Maßnahme als solche war für nächstes Jahr programmiert. Zu diesem Zeitpunkt ist sie ein absolut falsches Signal.
Was denken denn die anderen Leistungserbringer in anderen Bereichen, im Pharmabereich, im Krankenhausbereich, bei den Herstellern von Heil- und Hilfsmitteln, wenn der Herr Bundesminister, ohne lange zu fackeln, fast 1 Milliarde DM in einer Situation drauflegt, in der er selber zugestehen muß, daß die Defizite 7 bis 8 Milliarden DM erreichen werden,
in der er selber schon von einem Defizit von 10 Milliarden DM im nächsten Jahr spricht?
Ein letzter Punkt. Herr Bundesminister, nach Informationen auch der Kostenstrukturanalyse werden die Gesamtumsätze aller Ärzte als Konsequenz des Gesundheitsstrukturgesetzes um ungefähr 2 % zurückgehen. Was machen Sie jetzt? Sie kompensieren mit dieser Maßnahme den Einkommensausfall, neutralisieren damit jede Strukturwirkung, die eigentlich als eine Rationalisierungsreserve geplant war.
Was soll das Ganze: Sie schießen die Positivliste ab; im Krankenhausbereich gibt es enorme Defizite - eine Lösung dieses Problems aus Ihrer Sicht habe ich noch nicht gehört -;
im Pharmabereich wollen Sie die Festbeträge, zusätzlich zur Positivliste, über die Patentregelung aushebeln,
und jetzt neutralisieren Sie den Einkommenseffekt der Steuerung im ambulantärztlichen Bereich?
Im Klartext: Wenn Sie alle strukturgestaltenden Maßnahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes aushebeln, dann bleibt am Ende nicht viel mehr als das fragwürdige Kostendämpfungsgesetz. Sie dürfen sich wirklich nicht wundern, wenn die bekannten Muster wiederkommen: Vorwegnahmeeffekt, Senkung der Beitragssätze und - so geht die Reise weiter - Beitragssteigerungen, die höher sind als vorher.
Deshalb, Herr Minister: Tun Sie uns allen einen Gefallen. Tun Sie sich selbst und Ihrem Ruf einen Gefallen: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf schleunigst, hier und heute, zurück!
Frau Kollegin Monika Knoche, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Nun sind sie wieder zusammengekommen, die koalitionären Streithähne. Doch weiß derzeit niemand so genau, welche im Dreibund der Freidemokraten die authentische gesundheitspolitische Stimme ist. Gewiß ist
Monika Knoche
allerdings: Die Regierung wird heute wie aus einem Munde sprechen.
Der Herr Bundesgesundheitsminister gefällt sich derzeit einmal wieder als Fels in der Brandung, als Garant des sozialen Gesundheitswesens. Alle schauen auf das böse Krankenhaus, und keine/keiner soll sehen: Die Regierung gibt mal eben locker 840 Millionen DM Versicherungsgelder aus.
Gestern noch war der Pflegenotstand Anzeiger für gesundheits- und vor allem frauenpolitischen Reformstau. Alle wußten, daß ohne hochqualifizierte, hochmotivierte Krankenschwestern die apparatintensive Hochleistungsmedizin nicht funktioniert, daß die Funktionspflege die Zuwendung zur Strecke bringt. Heute werden diese Pflegenden als Kostentreiberinnen angeschmiert.
Wer sprechende Medizin fördern will, muß auch Lobby für Pflegeberufstätige sein, ihren Dienstleistungsberuf nicht nur wertschätzen, sondern auch als wertvolle Arbeit bezahlen. Das kostet dann eben auch etwas.
Wenn sich Wettbewerbs- und Marktfachmänner des Gesundheitswesens der Wirtschaftsbranche bemächtigen, gehen Reform und Qualität, nicht nur im Krankenhaus, verloren, laufen kranke Menschen Gefahr, zu Patientengut zu werden. Das können auch die ambulanten Versorgungseinrichtungen nicht auffangen. Es geht also um sprechende Medizin. Wer die primärärztliche Versorgung positiv bewertet, muß das Krankenhaus zum Gesundheitsdienstleistungszentrum mit ambulanter Versorgung aufwerten.
Zum Thema: Zum reinen Nutzen einer ganzheitlichen Medizin ist es sicher nicht, wenn kassenärztliche Versorgungspraxen wie Kleinunternehmen geführt werden müssen. Mit dem neuen einheitlichen Bewertungsmaßstab wird die sprechende Medizin aufgewertet. Das ist unstrittig. Aber er bedeutet auch einen geschätzten Mehraufwand von mehr als 1 Milliarde DM für die Versicherten für eine eigentlich nicht zusätzliche neue Leistung.
Da auf ihn bei der vierten Novelle immer wieder verwiesen wird, muß man dazusagen, daß, da er erst 1996 wirksam werden wird, noch niemand weiß, ob er die strukturverändernde Wirkung entfalten wird - und wenn ja, in welcher Dimension. Als Leitungs-
und Lenkungsinstrument für die sprechende Medizin bleibt er so lange fraglich, wie die Einzelleistungsvergütung weiterhin Basisfinanzierung für die Praxen bleiben wird. Was wir jetzt schon wissen, ist, daß die beiden Änderungen der Novelle und der einheitliche Bewertungsmaßstab eine Steigerung des
Beitragsatzes mit sich bringen werden. Aber mehr wissen wir sicher nicht.
Zum Postulat der Beitragsstabilität. In der Tat: Es gibt ein objektives Interesse; denn 90 % der Menschen in unserem Land sind als in gesetzlichen Krankenkassen und Ersatzkassen Versicherte an einem gesunden Verhältnis von Kosten und allgemein zugänglichen qualitativ hochstehenden Leistungen interessiert. Beitragsstabilität abhängig zu machen von Indikatoren wie Lohnsummenentwicklung und Bruttoinlandsprodukt, die von den Kostenträgerinnen und -trägern gar nicht beeinflußbar sind, bleibt ohne Leistungsausgrenzung die Quadratur des Kreises oder die hohe Kunst befähigter Sozialstandortspolitikerinnen und -politiker. Jedenfalls ist Beitragsstabilität das Ziel des GSG. Daran ist die heutige Entscheidung zu messen. Es wird von Arbeitgebern und Kassen gleichermaßen abgelehnt. Wir teilen diese Haltung.
Permanent propagiert unser Herr Minister die demokratiepolitisch wohlfeile Option: Vorfahrt für die Selbstverwaltung. Meist meinen Sie nichts anderes als Deregulierung und das Sich-Herausschleichen des Staates aus der Daseinsvorsorge. Hier stellen Sie ein Gesetz vor, das der propagierten Vorfahrt geradezu entgegenläuft.
Durch das GSG sind objektiv z. B. Radiologinnen und Radiologen reicher und Hausärztinnen und Hausärzte ärmer geworden. Aber arm sind sie deshalb noch nicht. Ich habe noch nicht erlebt, daß es einen Solidaritätszuschlag für Armutsbedrohte in dieser gigantischen Höhe von dem Minister gab.
Nur als Vergleichsgröße sei angemerkt: Das Geld für diesen Nachschlag kommt aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese zahlt eigentlich nur für Leistungen. Aber die hier nachgetragenen Arzthonorare sind nicht als solche verdient worden.
Ein absurdes Argument ist im nachhinein für bis jetzt erst einmal nur imaginierte, künftig wirkende strukturverändernde Impulse einer Diskussion der Ärzteschaft, als Gesetzgeber das Geld anderer ausgeben zu müssen. Es ist - auch wenn das Wort Sie nicht sehr erfreuen mag - in gewissem Sinne doch Klientelpolitik, die unserem Minister neuerdings dann leichtfällt, wenn die Heilberufe ärztliche und nicht pflegerische oder psychotherapeutische Ausbildungen haben.
Sie dürfen und werden von uns Grünen nicht erwarten, daß wir, meine Herren und Damen von der Regierung, Ihrem speziellen Wählerpotential gefällige Hilfe zur Überbrückung von Einkommenseinbußen leisten. Mich hat es sehr gefreut, in einer Ärztezeitung zu lesen, daß jeder fünfte Arzt oder Apotheker die F.D.P. wählt. Knapp 60 % der freiberuflichen Ärzte und Apotheker wählen die CDU.
Monika Knoche
Zum Schluß noch ein paar Zahlen zur Verteilung. Die Summe ist 840 Millionen DM. Die Hausärzte im Westen sollen davon 510 Millionen DM, die im Osten 90 Millionen DM bekommen. Für Fachärzte und Vertragsärzte in den neuen Ländern gibt es 240 Millionen DM extra. Es ist doch wirklich interessant: Zwar nehmen die Menschen im Osten aus alter Gewohnheit primärärztliche Versorgung häufiger in Anspruch als Kranke im Westen. Dennoch bekommen die Fachärzte, die bekanntlich nicht die sprechende Medizin im originären Sinne repräsentieren, über zwei Drittel der 330 Millionen DM für die angegebene Hausarztförderung in Ostdeutschland. Welche Struktur denn nun eigentlich gefördert werden soll, die haus- oder die gebietsärztliche, wird aus diesem Gesetzentwurf wahrlich nicht klar.
Es geht bei diesem Gesetzentwurf gar nicht wirklich um die unstrittig sinnvolle Stärkung der sprechenden Medizin oder gar um einen solidarreformerischen Beitrag der künftigen Beitragsstabilität. Es geht um schlichte Nachsubventionierung ambulanter Niederlassungsstrukturen im Osten und ein Versöhnungsgutsel für die gebeutelten Hausärzte im Westen Deutschlands.
Das Wort hat der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, alle, die hier versammelt sind, behaupten seit Jahren, im hausärztlichen Bereich müssen Verbesserungen finanziert werden. Aber die Wege dorthin sind unterschiedlich. Ich bin der Meinung: Es wäre dringend notwendig, im hausärztlichen Bereich Verbesserungen zu erreichen. Wir sehen die großen Nachteile. Wir sehen den Nachteil, daß Hausärzte auf Grund ihrer Honorare manchen Hausbesuch aufschieben müssen. Wir sehen auch den Nachteil, daß Überweisungen ins Krankenhaus gerade am Wochenende erfolgen und dadurch nennenswerte Kosten auf das System zukommen.
Es kann doch wohl nicht sinnvoll sein, daß wir diesen Weg weiter beschreiten. Wir von der Koalition haben den Mut und wissen das. Wir wollen die Situation umkehren: Wir wollen die Verlagerung vom Krankenhaus in den ambulanten Bereich, soweit es eben geht. Deshalb wollen wir die Honorierung der Hausärzte verbessern.
Nach unserer Auffassung ist das der erste Schritt in die richtige Richtung. Das wird sicherlich nicht der letzte Schritt sein.
Außerdem wollen wir ganz ruhig festhalten: Die Ärzteschaft, gerade der hausärztliche Bereich, hat in den letzten Jahren bei ihren Honoraren - das wurde auch von Professor Pfaff gesagt - Abstriche machen müssen. Dies muß geändert werden.
Wenn ich die Gesetzgebungswerke nenne - auch die, an denen die SPD beteiligt war; ich nenne nur das Stichwort Renten-Überleitungsgesetz -, bei denen die Basis verringert wurde, dann ist festzustellen, daß die verantwortliche Politik die Aufgabe hat, eine Änderung herbeizuführen.
- Herr Kirschner, wir machen nicht nur Kostendämpfung. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht. Wir müssen den Mut haben, Veränderungen herbeizuführen, wenn es dringend notwendig ist, d. h. auch: Erhöhung der Honorare in den Bereichen, in denen wir dringenden Reformbedarf sehen. Das ist im Bereich der Hausärzte der Fall. Dazu stehen wir, und das werden wir fortführen.
Weil wir so dringenden Handlungsbedarf sehen, bin ich froh, daß die Koalition diese Woche entschieden hat: Wir machen ein Vorschaltgesetz im Krankenhausbereich, um finanzielle Mittel umzuschichten. Die Ausgaben im Krankenhaus sollen gestoppt werden.
Ich sage Ihnen, Frau Knoche: Da müssen Sie schon ein bißchen fair sein. Ausgangsbasis war, 13 000 Pflegekräfte weiterhin im Krankenhaus zu beschäftigen.
- Zusätzlich. Das sind mittlerweile 23 000, ganz bescheiden ausgedrückt.
- In zwei Jahren, zusätzlich. Alle Fachleute sagen uns: Der Pflegenotstand ist jetzt beseitigt. Sogar von SPD-Ländern und von Ländern, in denen es Koalitionen aus SPD und Grünen gibt, wird das bestätigt.
Herr Kollege, Verzeihung, daß ich Sie unterbreche. Der Kollege Schmidbauer möchte gern eine Frage stellen.
Ich habe es gesehen. Er kommt sofort dran. Bitte schön.
Herr Kollege Thomae, wir haben in der Anhörung erfahren können, daß der BDA, also der Arbeitgeberverband, diesen Gesetzentwurf ablehnt. Ich frage mich, wieso Sie der Argumentation des Arbeitgeberverbandes nicht zustimmen können. Der Verband schreibt:
In dem Gesetzentwurf sehen wir das Problem eines einfachen Aufsattelns auf ein Leistungsniveau in der Höhe von nahezu 1 Milliarde DM ohne strukturelle Änderungen.
Horst Schmidbauer
Weiter heißt es:
Da ist ein solches Draufsatteln aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar.
Wieso können Sie dieser Argumentation der Arbeitgeber nicht folgen?
Herr Schmidbauer, wenn Sie genau zugehört haben, haben Sie die Antwort schon bekommen. Wir wollen eine strukturelle Veränderung. Wir wollen soweit wie möglich vom Krankenhaus in den ambulanten Bereich verlagern. Dafür müssen wir den ambulanten Bereich stärken. Dazu gehört auch eine Verbesserung der Honorare;
denn die Gelder, die wir im Krankenhaus sparen, sollen für den ambulanten Bereich verwendet werden.
Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Beiträge im Krankenhaus sparen; denn wenn eine gute ärztliche Versorgung auch am Wochenende gesichert ist, werden nicht mehr so viele Einweisungen erfolgen, wie es zur Zeit der Fall ist. Das wollen wir mit diesem Konzept erreichen. Darum sind wir entschlossen, das durchzuführen.
Zu den Pflegekräften. Alle Experten, auch die konzertierte Aktion, sagen: Der Pflegenotstand ist beseitigt. Das ist in der Tat der Fall.
Darum hat sich die Koalition entschieden, in diesem Bereich die vierte Stufe nicht mehr in Kraft treten zu lassen. Das muß vor dem 1. Januar 1996 passieren, andernfalls würden Ausgaben in Höhe von 500 Millionen DM jährlich erfolgen.
Von daher bin ich froh, daß wir nicht nur diesen Punkt, sondern endlich auch das Thema der Opposition „Ersatzinvestitionen" wirklich klären - Sie kennen die Problematik und die Haltung der einzelnen Länder
- mit Ausnahme von Bayern, füge ich hinzu - und das Thema Bundespflegesatzverordnung, bei dem wir Korrekturen sehen.
Der Gesetzentwurf ist notwendig, um ein Signal nach draußen zu geben. Er ist notwendig, um den jungen Medizinern zu zeigen, daß es sich lohnt, in den hausärztlichen Bereich einzusteigen und nicht Facharzt zu werden. Diese Umkehrung, Herr Professor Pfaff, kann ich nur unterstützen. Wir unterstützen sie aber nicht mit Gesetzen, sondern wir wollen es mit Anreizen unterstützen. Das ist nach unserer Auffassung der richtige Weg.
Frau Kollegin Dr. Ruth Fuchs, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Gesetz wird mit der Notwendigkeit begründet, nun endlich auch die hausärztliche Versorgung konkret und spürbar stärken zu müssen. Gegen eine solche Absicht kann und wird niemand - nach allem bisher Gehörten auch nicht in diesem Hohen Haus - etwas einzuwenden haben.
Ganz im Gegenteil: Die Stärkung der hausärztlichen Versorgung ist dringend notwendig. Die Schwäche dieses Gesetzesvorhabens liegt darin, daß es - so wie es beschaffen ist - seine richtige und öffentlich verkündete Zielstellung mit Sicherheit nicht erreichen kann, und dies deshalb, weil es nicht auf eine wirkliche strukturelle Verbesserung der Stellung der Hausärzte im Gefüge der medizinischen Versorgung zielt und damit von vornherein kaum eine Chance hat, dauerhaft Wirkung zu erreichen.
Auf das Prädikat einer durchdachten und vorausschauenden Gesundheitspolitik kann es so auf keinen Fall Anspruch erheben. Eher handelt es sich wohl von seiten der in Sachen Gesundheitspolitik inzwischen mächtig durcheinandergeschüttelten und wenig überzeugenden Koalition um eine Art finanzieller Beruhigungspille oder Gutwetter-Signal in Richtung Ärzteschaft.
Dabei ist es gar keine Frage, daß eine echte Stärkung der Hausärzte letztlich auch mit einer deutlichen, aber vor allem dauerhaften Verbesserung ihrer Vergütung einhergehen muß. Hierfür notwendig wäre jedoch zunächst einmal, daß die gravierenden und durch nichts gerechtfertigten Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Facharztgruppen in der vertragsärztlichen Versorgung wenigstens einigermaßen ausgeglichen würden. Hier liegt bekanntlich der Schlüssel zu einer beachtlichen Umverteilungssumme innerhalb der Ärzteschaft und damit zu einer richtigen und gerechten Lösung des Problems. Diese Umverteilung ist bisher aber über bescheidenste Anfänge noch nicht hinausgekommen.
Die Hausärzte sind in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend aus dem Zentrum der medizinischen Versorgung - wohin sie zweifellos auch heute, und zwar mehr denn je gehören - an die Peripherie verdrängt worden. Noch immer ist der Anteil der Allgemeinmediziner in der Ambulanz rückläufig. Das ist einer der schwerwiegendsten Strukturfehler dieses Gesundheitswesens und zugleich eine der wesentlichen Ursachen dafür, daß in diesem System riesige Mittel verschwendet werden und seine Kosten ständig aus dem Ruder laufen.
Wem es wirklich um die Verbesserung der hausärztlichen Versorgung ernst ist, der muß sich entschieden mehr einfallen lassen als lediglich eine Finanzspritze. Der Rolle der Hausärzte muß angefangen vom Medizinstudium über eine durchgreifend verbesserte Weiter- und Fortbildung bis hin zur Förderung wissenschaftlicher Arbeit wieder jene Attraktivität gegeben werden, die sie verdient und die ihr natürlicherweise auch innewohnt.
Es wäre übrigens schon einmal ein wichtiger und konkreter Schritt in diese Richtung, wirklich gut aus-
Dr. Ruth Fuchs
gestattete Lehrstühle für Allgemeinmedizin an allen medizinischen Ausbildungsstätten zu etablieren. Zum weiteren gehört dazu die Herstellung eines allseits anerkannten Grundkonsenses innerhalb der Ärzteschaft und in der Öffentlichkeit über die besondere und zentrale integrierende und koordinierende Funktion der Hausärzte im gesamten System der gesundheitlichen Versorgung.
Davon aber sind wir weit entfernt. Weiteres wäre zu nennen. Selbstverständlich muß in einem solchen Kontext auch die Aufhebung der gegenwärtig bestehenden Unterbezahlung der Hausärzte ihren Platz finden.
Was nun das Problem der Vertragsärzte in Ostdeutschland betrifft, so geht es unserem Verständnis nach anders als beim bisher besprochenen Teil letztendlich um die Korrektur eines Fehlers, der bei der Konzipierung des Gesundheitsstrukturgesetzes unterlaufen ist. Mit dem ersten Halbjahr 1992 wurde ein Ausgangszeitraum für die Budgetanpassungen der nachfolgenden Jahre gewählt, der entgegen allen zwischenzeitlichen Beteuerungen der Bundesregierung eben doch nicht der sich nachfolgend noch stärker verändernden Situation der ambulanten Versorgung in den neuen Ländern adäquat Rechnung trug. Bereits nach kurzer Zeit erwies sich diese Ausgangsbasis als zu gering veranschlagt und führte im Ergebnis zu einer sich systematisch fortschreibenden Benachteiligung der ostdeutschen Vertragsärzte. Wir betrachten diesen Teil des Gesetzes deshalb zumindest partiell als einen Akt nachholender Gerechtigkeit.
Hinzu kommt, daß gewissermaßen vom Grundsatz her die Situation der niedergelassenen Ärzte in Ostdeutschland - bei aller Differenziertheit, die es durchaus zwischen Ihnen auch schon gibt - gegenwärtig noch nicht mit derjenigen der Ärzte in den alten Ländern verglichen werden kann. So ist ein großer Teil von ihnen erst mit über 40 oder gar mit über 50 Jahren in die Niederlassung gegangen, in der Regel auch ohne jedes finanzielle Polster, also ohne Eigenkapital, dafür aber mit beträchtlichen Krediten belastet, deren Rückzahlung meist jetzt erst richtig einsetzt. Zusätzlich schlagen die innerhalb weniger Jahre zum Teil beträchtlich angestiegenen Betriebskosten zu Buche. Ich will nur die Mieten erwähnen.
Fazit: Der erste Teil dieses Gesetzes schreibt die zunehmend konzeptionslose Gesundheitspolitik der Koalition konsequent fort. Er ist so durchsichtig und unsolide, daß man ihm auf keinen Fall zustimmen kann. Der zweite Teil läuft auf die Abmilderung einer beträchtlichen Ungerechtigkeit hinaus, unter der die in Ostdeutschland niedergelassenen Ärzte seit 1993 zu leiden haben. Diesen Teil wollen und werden wir nicht ablehnen. Dadurch ist unsere Stimmenthaltung begründet.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob die SPD heute hier im Deutschen Bundestag für ihre ganze Partei gesprochen hat. Wir haben derzeit einige wichtige gesundheitspolitische Anliegen im Bundestag und Bundesrat. Mir wird gerade mitgeteilt, daß die von der SPD beantragte Ablehnung der Streichung der Positivliste für Arzneimittel im Bundesrat keine Mehrheit gefunden hat.
Das ist eine ganz interessante Geschichte, und sie freut uns.
Hier stelle ich fest, wir haben eine völlige Übereinstimmung, daß die Rolle der Hausärzte gestärkt werden soll und muß. Es macht medizinisch Sinn und nutzt auch den Patienten. Der Hausarzt ist häufig der erste Ansprechpartner für seine Patienten. Er soll alle diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen seiner Patienten koordinieren, und diese gesundheitspolitisch wichtige Aufgabe müssen wir auch honorieren. Die Stärkung des Hausarztes nutzt den Patienten, aber sie ist auch Voraussetzung für mehr Wirtschaftlichkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung. Unnötige Wege zum Facharzt, unnötige Krankenhauseinweisungen und unnötige Medikamenteneinnahmen werden vermieden, wenn wir den Hausarzt stärken.
Hier immer wieder zu sagen, wir sind gemeinsam für die Stärkung des Hausarztes, weil es medizinisch und ökonomisch sinnvoll ist, aber diesen allgemein gehaltenen Aussagen keine Taten folgen zu lassen, ist nicht glaubwürdig.
Wir müssen diesen Worten auch Taten folgen lassen.
Es wird immer gesagt, dies sei kostenmäßig in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zu leisten. Wir reden heute über ein Kostenvolumen in der gesetzlichen Krankenversicherung, gemessen an den Gesamtausgaben, von 0,3 %. Betroffen davon sind Ärzte, die insbesondere in den letzten drei Jahren - das ist unbestritten - sinkende Honorareinnahmen zu verzeichnen hatten und in den letzten Jahren ihren Teil zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung beigetragen haben.
Die Ärzte haben gewaltige Anstrengungen unternommen, um Mittel umzuschichten, weg von den Fachärzten hin zu den Allgemeinärzten, durch die Änderung des einheitlichen Bewertungsmaßstabes. Wir sprechen über die Honorare von Ärzten, die ihrerseits gewaltige Einsparvolumen im Laborbereich von über 600 Millionen DM erwirtschaftet haben, um diese Einsparungen für die Hausärztevergütung primär und konzentriert zur Verfügung zu stellen.
Bundesminister Horst Seehofer
Eines konnten wir nicht machen, meine Damen und Herren, nämlich 1992 im übergreifenden Konsens im Deutschen Bundestag den Auftrag an die Ärzte zu erteilen: Stärkt das Hausarztprinzip durch Umstrukturierung des einheitlichen Bewertungsmaßstabes, durch Einsparungen im Labor und durch Umschichtung der Mittel hin zum Hausarzt. Die Ärzte erfüllen diesen Auftrag. Der Deutsche Bundestag und die deutsche Politik erfüllen ihren Auftrag aber nicht.
Auch wir müssen unseren Beitrag dazu liefern.
Das Allerschlimmste ist, daß genau die gleichen politischen Kräfte, die im Moment alleine für den Kostenanstieg in der gesetzlichen Krankenversicherung mitverantwortlich sind
- nämlich die Länder und Kommunen -, das Unvermögen gewissermaßen durch eine Bestrafung der Unbeteiligten an der Kostenentwicklung, nämlich der Ärzte, beantworten. Das darf nicht sein.
Die momentane Kostenentwicklung, Herr Professor Pfaff, die Defizite in der gesetzlichen Krankenversicherung hat alleine die öffentliche Hand zu verantworten. Es begann bei der von uns gemeinsam beschlossenen Rentenreform. Sie kostet der Krankenversicherung heuer 6 Milliarden DM Einnahmeausfall
dadurch, daß für Arbeitslose geringere Beiträge gezahlt werden.
Das setzt sich mit dem Krankenhaus fort. Die Krankenhausausgaben steigen doppelt so stark wie die Einnahmen der Krankenversicherungen. Das liegt daran, daß die Länder und die Kommunen ihre Aufgaben, die sie aus Haushalten und aus Steuermitteln zu finanzieren hätten, zunehmend in die gesetzliche Krankenversicherung hineingeschoben haben.
Das setzt sich bei den Fahrtkosten fort. Sie sind in drei Jahren bei Taxikosten im Rettungsdienst um 45 % gestiegen. Der Hauptgrund liegt darin, daß Kommunen und Länder ihre Aufgaben bisher aus Steuern finanziert und jetzt in die Krankenversicherungen verschoben haben.
Nun können wir nicht ein Defizit, das alleine durch die öffentliche Hand entstanden ist, damit beantworten, daß wir sagen: Das Sinnvolle tun wir bei den Ärzten deshalb nicht. Das ist die falsche Antwort.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, keine Zwischenfrage.
Herr Professor Pfaff, wenn wir die Mittel wirklich zur Verfügung stellen wollen - Sie glauben, das ist eine unzumutbare Belastung für die gesetzliche
Krankenversicherung -, dann lautete die richtige Antwort: Dort, wo die öffentliche Hand zur Ausgabenexplosion beigetragen hat, muß sie die Sparmaßnahmen durchführen, damit wir die 600 Millionen DM zur Stärkung den Hausärzten zur Verfügung stellen können.
Herr Professor Pfaff, jetzt möchte ich mich entschuldigen. Sie haben eine Zwischenfrage von mir zugelassen, deshalb möchte ich Ihre Frage selbstverständlich auch zulassen, wenn Sie einverstanden sind.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Bundesminister, Sie haben gerade beklagt, daß die öffentliche Hand zum Defizit in der GKV beigetragen hat. Was würde denn der Gesetzesentwurf, wenn er beschlossen würde, tun? Würde er das Defizit durch die öffentliche Hand erhöhen, oder würde er es verringern? Was sagen sie dazu?
Diese Frage hat doch Dieter Thomae hier sehr genau erklärt. Wir haben in dieser Woche ein Sofortprogramm zur Kosteneinsparung in den Krankenhäusern beschlossen, nämlich Einsparungen bei der öffentlichen Hand, damit solche Dinge, die wir heute verabschieden, gegenfinanziert werden.
Ich denke, meine Damen und Herren, die Geschichte mit den Hausärzten - ich sage noch einmal: 0,3 % des gesamten Ausgabevolumens ist medizinisch geboten - wird sich zum Teil sogar selbst finanzieren, weil die Stärkung des Hausarztprinzips zu mehr Wirtschaftlichkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung führt.
Jetzt ein Wort zu den anderen 240 Millionen DM der Ostärzte. Wir haben in dieser Woche über fünf Jahre deutsche Einheit gesprochen. Eine der größten Erfolgsgeschichten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit ist die Entwicklung des Gesundheitssystems in den neuen Ländern.
Wir können heute nach fünf Jahren sagen: Wir haben in den neuen Ländern in der Qualität der medizinischen Versorgung der Bevölkerung den gleichen Standard wie in den alten Ländern. Dazu haben die Mediziner in den neuen Ländern ganz wesentlich beigetragen.
- Ja, gemeinsam mit vielen anderen, Frau Knoche: natürlich mit den Schwestern, mit den Pflegern, mit den Krankengymnasten, mit den Apothekern, mit den Zahnärzten und vielen anderen mehr. Aber es war ganz entscheidend die Arbeit der Mediziner in
Bundesminister Horst Seehofer
den neuen Ländern, die den Strukturwandel von einem zentralistisch geführten System hin zu einem selbstverwalteten System in ihren Praxen umgesetzt haben.
Nach einigen Jahren müssen wir nun feststellen, daß der Anteil der Honorare für die Ärzte in den neuen Bundesländern, gemessen an den Honoraren in den alten Bundesländern, ein Niveau von nur etwa zwei Dritteln, von etwa 66, 67 %, erreicht hat, während die allermeisten anderen Bereiche in den neuen Ländern bei 70 %, bei 80 %, bei 90 % oder sogar bei 100 % des Westniveaus liegen.
Wir können nicht auf der einen Seite von den Medizinern in den neuen Ländern die gleiche Spitzenleistung wie in den alten Bundesländern erwarten und sie auf der anderen Seite bei der Honorierung nur mit zwei Dritteln des Westniveaus bedenken. Deshalb müssen die 240 Millionen DM zugunsten der Osthonorare verabschiedet werden.
Herr Bundesminister, Herr Kollege Dr. Wodarg würde gern eine Zwischenfrage stellen. - Bitte.
Herr Minister Seehofer, Sie haben eben davon gesprochen, daß sich die Qualität der gesundheitlichen Versorgung in den neuen Ländern so stark verbessert habe. Ich möchte von Ihnen wissen, nach welchen Kriterien Sie die Qualität der gesundheitlichen Versorgung beurteilen.
Da gibt es mehrere Kriterien. Ich habe jede Woche in Krankenhäusern und durch Besuche von Arztpraxen Kontakt mit der Bevölkerung in den neuen Bundesländern. Ich frage die Bevölkerung, und die Bevölkerung ist dort heute schon so mutig, daß sie uns sagt, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ich höre von der Bevölkerung in den neuen Ländern bei der Beurteilung des Systems nur Bestnoten.
Sie sagt: Eines hat sich geändert, nämlich daß die Bonzen und Funktionäre nicht mehr die erste Qualität bekommen und die Normalbevölkerung nur die dritte Qualtität bekommt, heute bekommt die Spitzenmedizin jeder in der Bevölkerung ohne Ansehen des Standes, des Einkommens und der Herkunft. Das ist ein Riesenfortschritt.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Wir reden über ein Finanzvolumen bei der gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 0,3 %.
Wir haben einen ersten Dissens: Die SPD möchte, daß dies erst 1996 in Kraft tritt, wir wollen, daß es bereits 1995 in Kraft tritt. Wir haben einen zweiten Dissens: Die SPD will, daß die Ärzte das selbst finanzieren - dieselben Ärzte, die in den letzten drei Jahren weder zur Kostenexplosion beigetragen noch Zuwächse in den Honoraren gehabt haben. Sie haben schrumpfende Honorare gehabt.
Meine Damen und Herren, im dritten Punkt sind wir uns einig, nämlich daß die Stärkung des Hausarztprinzips, die stärkere finanzielle Ausstattung der Ärzte in den neuen Bundesländern medizinisch und auch ökonomisch Sinn macht. Deshalb möchte ich Sie heute noch einmal auffordern, endlich diese Neidpolitik abzulegen und hier nicht bei jeder Diskussion zu sagen, es gebe Arbeitslose, die weniger als die Ärzte hätten, und solange keine Nivellierung der Einkommen von Arbeitslosen und Ärzten gegeben sei, könne man solchen Dingen nicht zustimmen. Was ist das für eine Diskussion, meine Damen und Herren?
Beenden Sie diese Neiddiskussion, sonst passiert Ihnen das gleiche wie bei der Positivliste: daß Sie hier als SPD in der Öffentlichkeit gegen ein Gesetz marschieren und Ihre Kollegen und Genossen im Bundesrat die von der Koalition eingebrachten Gesetzentwürfe passieren lassen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Professor Pfaff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister, was wir gerade erlebt haben, war eine absolute Verschleierung der Tatsachen.
Es geht doch gar nicht darum, ob die Hausärzte diese 600 Millionen DM bekommen sollen; denn die Kassenverbände und die Ärzte haben das ohnehin schon für das nächste Jahr beschlossen. Es geht eigentlich auch nicht darum, ob die Fachärztinnen und Fachärzte in den neuen Ländern 240 Millionen DM bekommen sollen.
Nein, es geht darum, ob angesichts dieser Beschlußlage der Ärzteverbände und der Kassenverbände der Gesetzgeber jetzt in die Selbstverwaltung eingreift, der Selbstverwaltung in den Rücken fällt, sie desavouiert und etwas vorzieht, was sowieso geschehen wäre, wenn auch mit gewissen Konsequenzen.
Es ist deshalb völlig unangebracht, Herr Minister, in diesem Zusammenhang von einer Neidkampagne zu sprechen.
Herr Kollege, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Kollege Professor Pfaff ist der letzte Redner in dieser Runde. Bringen Sie vor der Abstimmung doch bitte noch ein paar Minuten Geduld auf, damit auch dem letzten Redner noch zugehört werden kann.
Bitte fahren Sie fort.
Ich bedanke mich; aber ich glaube, daß ich mich vielleicht auch sonst hätte durchsetzen können - oder auch nicht. Die Qualität der Argumente sollte eigentlich jeden und jede hier überzeugen; denn jeder und jede von uns wird im eigenen Wahlkreis mit Ärzten und Ärztinnen konfrontiert werden. Wir wollen dann die Tatsachen und nicht Verschleierungsargumente kennen.
Deshalb zitiere ich, Herr Bundesminister, was die Kassenverbände gesagt haben: Wir sind einhellig der Meinung, daß sich mit der Bundesempfehlung der Spitzenverbände und der Kassenärztlichen Vereinigung für das nächste Jahr dieser Gesetzentwurf erübrigt hat.
Was haben die Arbeitgeberverbände gesagt? - Sie haben gesagt: Dies ist nur ein bloßes Draufsatteln, es ist aus unserer Sicht nicht nachzuvollziehen.
Für diejenigen, die natürlich keine Ahnung haben können, weil sie mit dieser Materie nicht befaßt sind: Es geht schlicht und einfach darum, daß in den neuen Bundesländern die Hausärzte 13 700 DM mehr bekommen sollen - das beklagen wir nicht - und daß die Fachärzte ca. 27 000 DM zusätzlich bekommen sollen. Auch das beklagen wir nicht. Es geht darum, daß es rückwirkend für das Jahr 1995 geplant ist, wodurch die strukturgestaltenden Effekte einer Verbesserung der hausärztlichen Vergütung schlicht und einfach verpuffen.
Herr Bundesminister, sehen Sie denn nicht, daß Sie nicht nur die Selbstverwaltung desavouieren, indem sie ihr in den Rücken fallen? Sehen Sie denn nicht, daß Sie in dieser Zeit - in der gesetzlichen Krankenversicherung werden allein in diesem Jahr die Defizite 6, 7 oder 8 Milliarden DM und im nächsten Jahr 10, 12 oder 14 Milliarden DM ausmachen - selbst das denkbar schlechteste Zeichen setzen?
Sehen Sie nicht, daß Sie eigentlich Ihre eigene Zielvorgabe der Beitragssatzstabilität aushebeln? Sehen Sie nicht, daß das Gerede von den hohen Lohnnebenkosten gerade aus Ihrem Munde nie und nimmermehr in diesem Hause ertönen darf? Denn Sie erhöhen zu diesem Zeitpunkt die Lohnnebenkosten.
Sehen Sie denn nicht, daß dies eigentlich ein vordergründiges Argument ist? Wenn es wirklich darum ginge, ob man den Hausärzten etwas geben will oder nicht, dann könnte ich verstehen, daß Sie jetzt bei bestimmten Klientelen sozusagen Punkte sammeln wollen. Darum geht es aber gar nicht. Denn auch die Ärztinnen und Ärzte wissen ganz genau, daß jede Ausweitung des Defizits in einer Phase, in der auch im nächsten Jahr eine Begrenzung, eine Beitragssatzstabilität geboten ist, letztlich zum Punktwertverfall führen wird. Was mit einer Hand gegeben wird, Herr Seehofer, wird mit der anderen Hand genommen. Auch das muß man den Ärztinnen und Ärzten im Wahlkreis sagen.
Letztlich, Herr Minister Seehofer, ist dies ein durchsichtiges Manöver, ein Stück Klientelpolitik. Ich frage Sie: Meinen Sie denn wirklich, daß Sie ein Rennen um die Gunst von bestimmten Klientelen mit dem bekannten Gesundheitspolitiker Möllemann gewinnen können?
Da fragt man sich: Wer wird denn dann der Hase, wer wird denn dann der Igel sein? Sie können als Mitglied einer Volkspartei überhaupt nie die Klientelen mehr befriedigen als andere. Deshalb sage ich nochmals, Herr Seehofer: Tun Sie den Versicherten einen Gefallen, tun Sie den Patienten einen Gefallen, tun Sie sich selbst einen Gefallen, und ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück!
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/2589, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Die Koalitionsfraktionen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.Sind alle Urnen besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Offensichtlich haben alle ihre Stimme abgegeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekanntgegeben. *)Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a und 16b sowie den Zusatzpunkt 12 auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes- Drucksache 13/1426 - Überweisungsvorschlag:Innenauschuß Rechtsausschuß*) Seite 5305A
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5301
Vizepräsident Hans Kleinb) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes- Drucksache 13/2577 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußBeratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 38 zu Petitionen - Drucksache 13/1410 -Zur Sammelübersicht 38 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Minuten erhalten soll. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Kerstin Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 12. September 1995 hat Innenminister Kanther sieben Menschen in den Folterstaat Sudan abgeschoben. Jetzt sitzen schon wieder neue Flüchtlinge aus dem Sudan zusammengepfercht in den Transiträumen am Frankfurter Flughafen. Was wird mit ihnen geschehen?
- Gestern ist einer abgeschoben worden.
Die Absetzung der Aktuellen Stunde war aus unserer Sicht ein Fehler. Bei Ihnen wurde dadurch nämlich offensichtlich der Eindruck erweckt, wir hätten in der Sache etwas zurückzunehmen. Meine Damen und Herren von der Regierung und auch von der Koalition, ich versichere Ihnen: Das ist mitnichten der Fall.
An unserer Kritik hat sich nichts geändert. Nein, sie ist in diesen Wochen sogar noch aktueller und dringlicher geworden; denn aus Recht ist Unrecht geworden in diesem Land. Am 1. Juli 1993 hat der Rechtsstaat seine Würde verloren. An diesem Tag wurde das Grundrecht auf Asyl in Deutschland abgeschafft.
Das Grundgesetz verspricht einen Schutz, den es im Nachsatz verwehrt. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht; nur berufen können sich die Flüchtlinge nicht mehr darauf. Nicht Verantwortung und Menschlichkeit, nein Abschottung und Abschreckung diktieren seither die deutsche Flüchtlingspolitik.
Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, was dieses Parlament mit dem neuen Asylrecht angerichtet hat? Wissen Sie, was Menschen droht, die sich in ihrer Not nach Deutschland retten wollen - -
Herr Präsident, können Sie da etwas tun?
Was meinen Sie, Frau Kollegin? Die Unruhe, oder?
Zum Beispiel.
Bleiben wir ruhig bei dem Fall, der einige von Ihnen zu so markigen Worten veranlaßt hat. Da kommt ein Mensch aus dem berüchtigten Folterstaat Sudan auf einem deutschen Flughafen an. Er wird in einen überfüllten Transitraum gepfercht. Dann soll er in wenigen Minuten einem dürftig ausgebildeten Beamten seinen Fall schildern, meist ohne Anwalt und ohne Kenntnis seiner Rechte. Hält jener Beamte den Antrag dann für offensichtlich unbegründet, weil vielleicht der Flüchtling nicht in der Lage ist, Datum und Uhrzeit seiner Folter zu nennen, dann wird diesem Menschen die Einreise verweigert. Er wird abgeschoben. Selbst wenn er sich mit einem Eilantrag vor Gericht vor der Abschiebung zu retten versucht, gibt es nur wenig Hoffnung. Das Gericht prüft nämlich nur summarisch, ob der Antrag in einem richtigen Verfahren Aussicht auf Erfolg hätte, und zwar meist ohne den Flüchtling je gesehen oder angehört zu haben.
Ich frage Sie: Ist es eines Rechtsstaates würdig, wenn Rechtsanwälte mit Schriftsätzen zwischen Rollfeld und Kanzlei hin und her rennen, während das Abschiebeflugzeug schon wartet? Sind überfüllte Transiträume und Abschiebegefängnisse für Menschen, deren einziges „Verbrechen" es ist, nach Deutschland gekommen zu sein, einem Rechtsstaat angemesssen? Ist es eines Rechtsstaates würdig, wenn das Bundesverfassungsgericht das Tempo seiner Entscheidungen von Flugplänen abhängig macht?
Meine Damen und Herren, dieses Verfahren verhöhnt den Rechtsstaat, und es verstößt gegen die Menschenrechte. Was zählt, ist die schnelle Abschiebung und nicht eine sorgfältige Prüfung.
Ich spreche hier nicht nur von jenen Flüchtlingen aus dem Sudan. Auch der Petitionsfall Touda aus Algerien oder die enorme Zunahme von Asylpetitionen überhaupt zeigt, daß es im Asylrecht eklatante Lücken gibt. Ich spreche auch von all den Menschen, die hier Hilfe suchen und statt Hilfe ein Schnellverfahren erhalten. Ich spreche von einem Rechtsstaat, in dem nicht mehr Gerichte, sondern Reporter einer Illustrierten überprüfen, ob Flüchtlinge politisch verfolgt sind, und das im Heimatland.
Frau Kollegin, darf ich Sie darauf hinweisen, daß Sie zu einem Punkt reden, der nicht auf der Tagesordnung steht.
Doch, ich komme jetzt zu den Anträgen.
Entschuldigen Sie, dies heißt in der Geschäftsordnung: „ruft zur Sache",
und wenn Sie es nicht befolgen, entziehe ich Ihnen das Wort.
Ich habe z. B. gerade zu den Petitionen geredet, die behandelt werden. Ich komme auch noch auf den § 54.
Meine Damen und Herren, wir hoffen inständig, daß den abgeschobenen Flüchtlingen im Sudan nichts passiert.
Frau Kollegin, ich entziehe Ihnen das Wort.
- Nein, das war nicht zur Sache.
- Frau Kollegin, der Sudan-Punkt ist heute früh eigens abgesetzt worden.
- Nein, Sie haben ausschließlich zum Sudan geredet, und als ich Sie darauf hingewiesen habe - -
- Bitte, streiten Sie sich nicht mit mir! Ihre Wortmeldung ist beendet.
Ich erteile der Kollegin Erika Steinbach das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Fairneß innerhalb einer Diskussion gehört es, daß man akzeptiert, wenn in einer Geschäftsordnungsdebatte Entscheidungen getroffen worden sind. Das, was eben vorgetragen worden ist, ist heute früh in der Geschäftsordnungsdiskussion nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden.
Ich möchte es ganz kurz machen. Auf der Tagesordnung steht die Frage: Wie wird mit dem generellen Abschiebestopp seitens der Bundesländer umgegangen, und wie ist das Verhalten des Bundesinnenministers in dieser Frage? Wir glauben, daß die Regelungen, die derzeit vorhanden sind, die richtigen Regelungen sind. Es muß eine bundeseinheitliche Regelung geben, nach der der Bundesinnenminister hier das letzte Wort hat.
Beim Ausländerrecht ist eine bundeseinheitliche Handhabung der Abschiebung geboten.
Vor diesem Hintergrund werden wir den Antrag der Grünen selbstverständlich nicht annehmen. Damit ist alles gesagt, was in dieser Frage zu sagen ist.
Das Wort hat die Kollegin Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Auch wenn wir heute nur einen speziellen Problempunkt des Asylrechts ansprechen, möchte ich mir doch eine Vorbemerkung an dem Tag erlauben, an dem die Urteile zu der Tat in Solingen gesprochen worden sind. Ich muß sagen: Ich habe eben mit ein wenig Unverständnis darauf reagiert, daß einer Kollegin nicht gestattet wurde, umfassende Aspekte mit einzubringen.
Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten alle erleichtert darüber sein, daß es nach einem schwierigen, einem langwierigen und streckenweise verwirrenden Prozeß dem Gericht doch gelungen ist, die Täterschaft der vier Angeklagten ausreichend zu belegen. Die langjährigen Haftstrafen sind der Schwere dieses menschenverachtenden Verbrechens
angemessen.
Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Ich finde den Zusammenhang, den Sie hier hergestellt haben, unzulässig,
und Sie haben die Entscheidung des Präsidenten auf diese Weise nicht zu kritisieren.
Bitte fahren Sie in Ihrem Text fort.
Ich habe die Entscheidung des Präsidenten expressis verbis nicht kritisiert. Aber ich habe mir gestattet, an einem ungewöhnlichen Tag, an dem ein langerwartetes Urteil gesprochen worden ist, das für die Szene der hier lebenden Migranten und Migrantinnen und für den inneren Frieden in diesem Land wichtig ist, einige we-
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
nige Anmerkungen zu machen. Ich nehme mir als Rednerin das Recht, zu dieser Thematik einige wenige Sätze zu verlieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu dem Antrag, der § 54 des Ausländergesetzes berührt; das ist unser Thema. Es gibt schon lange Zweifel daran, ob das Einvernehmen des Bundesinnenministers zwingend vorliegen muß, wenn Abschiebestopps über sechs Monate hinaus verlängert werden sollen.
Die Diskussion hatte sich im vergangenen November besonders zugespitzt, als es darum ging, daß abgelehnte Asylbewerber kurdischer Abstammung abgeschoben und in ihr Heimatland zurückgeschickt werden sollten. Der Innenminister hat in den Wochen und Monaten danach in einem peinlichen Hangeln zwischen Verschiebungen und dann wieder erfolgten Aufhebungen von Entscheidungen keine glückliche Figur gemacht. Es war peinlich für den politisch Verantwortlichen, es war verwirrend für die Länder und kaum noch zumutbar für die unmittelbar Betroffenen.
: Er hat
sich nur an das Gesetz gehalten! Das war
nicht peinlich, das war Gesetz!)
Ich will noch einmal rekapitulieren: Im Dezember sollte zunächst abgeschoben werden. Es gab dann die berechtigte öffentliche Empörung angesichts des Urteils gegen acht kurdische Parlamentarier. Daraufhin gab es eine zweimalige Verlängerung.
Wir hatten im März - wie Sie sich wohl noch erinnern - im Innenausschuß ein Anhörverfahren, das aus meiner Sicht, wie die Regierungsvertreter und auch der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion damit umgingen, leider nur noch Alibicharakter hatte. Denn kaum war das Anhörverfahren beendet, war schon das Urteil da: eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung zur Abschiebung dieser Menschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es jetzt ein halbes Jahr zurückliegt, lohnt noch eine Anmerkung dazu, weil wir über dieses Thema heute debattieren. Das war und ist eine Mißachtung des Parlaments. Wer so handelt, muß sich nicht wundern, wenn der Grundsatz der Bundeseinheitlichkeit bei Entscheidungen über längerfristige, generelle Abschiebestopps massiv angezweifelt wird.
Eigentlich hat dieser Grundsatz der Bundeseinheitlichkeit seine überzeugenden Gründe. Wenn man vermeiden möchte, daß über das künftige Schicksal von Asylsuchenden in Baden-Württemberg anders entschieden wird als vielleicht in Bayern, in Hamburg anders als in Mecklenburg-Vorpommern, dann ist ein breites Einvernehmen in einer so sensiblen Angelegenheit in der Bundesrepublik schon nötig.
Der Fehler des Bundesinnenministers besteht aber darin, daß er sein Einvernehmen zur Verlängerung eines Abschiebestopps auch dann nicht erteilt, wenn auch nur ein einziges Land ausschert. Dieser Mechanismus ist in der Tat oft nicht mehr nachvollziehbar.
Aus den Ländern Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt kommen Gesetzesinitiativen für eine Änderung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben mit dem Antrag, über den wir heute hier reden, die Anregung aufgegriffen. Sie unterscheiden sich aber im Ziel. Darauf möchte ich nun zu sprechen kommen.
Die beiden Länder, die ich erwähnt habe, wollen grundsätzlich am Prinzip der Bundeseinheitlichkeit festhalten und schlagen künftig als Vorbedingung eines Abschiebestopps eine Zweidrittelmehrheit vor. Sie aber sprechen in Ihrem Antrag von einer einfachen Mehrheit. Dem werden wir uns nicht anschließen, weil damit keine ausreichend breite Basis vorhanden wäre.
Aber auf der anderen Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen: So, wie der Bundesinnenminister bisher seine Kompetenz oft versteht und auslegt, meinen wir, geht es nicht weiter. Die Idee der Bundeseinheitlichkeit wird dann ad absurdum geführt, wenn der zuständige Minister ein überwältigendes Votum aus den Ländern einfach in den Wind schlägt und es mit Hinweis auf die abweichende Position eines Landes oder zweier Länder aushebelt.
Hier gilt, wie in anderen Bereichen der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch: Prinzipienstarre ist im Umgang mit Fragen der Menschenrechte ein ganz schlechter Ratgeber. „Korrektes" Handeln ist noch längst nicht politisch angemessen und richtig.
Das hätte ich Ihnen gerne auch im Rahmen der leider abgesagten Aktuellen Stunde über die abgeschobenen sieben Sudanesen einmal ins Stammbuch geschrieben. Ich nutze jetzt diese Gelegenheit dazu, wo wir eine verwandte Problematik debattieren.
Zurück zum § 54 des Ausländergesetzes. Ich fordere den Bundesinnenminister auf, bei der Entscheidung über Abschiebestopps von seiner engen Auslegung und der starren Praxis abzurücken und den breiten Konsens zu suchen. Dazu gehört es, Rat und Meinung der Länder, der Ausländerbehörden, auch der Menschenrechtsorganisationen und der Kirchen einzuholen und zu respektieren
sowie das Auswärtige Amt in die Pflicht zu nehmen. Nur so kann Einvernehmen in des Wortes eigentlicher Bedeutung entstehen.
Wir beraten außerdem einen Antrag, der Konsequenzen aus der Schließung von Außenstellen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zieht. Dort, wo eine dezentrale Stelle nicht mehr vorhanden ist, sollen Asylbewerber bei der Zentrale des Bundesamtes schriftlich einen Folgeantrag einreichen. Ich halte diese Lösung dann für unproblematisch, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden. Zum einen muß gewährleistet sein, daß das Anliegen der Asylsuchenden genauso intensiv und eingehend behandelt wird, wie es bei einer Außenstelle der Fall gewesen wäre oder hätte sein müssen, und zum anderen muß das Verfahren natürlich eng mit den praktizierenden Ländern abgestimmt werden.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Wenn wir heute auf den Antrag hinsichtlich des Petitums an den Petitionsausschuß im Fall des algerischen Asylsuchenden positiv reagieren, dann auch deshalb, weil die Sorgfalt im Umgang mit dem Verfahren immer wieder neu überprüft werden und gewährleistet sein muß. Wir unterstützen also diesen Antrag.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, noch eine kurze Schlußbemerkung. Wir bewegen uns auf die Diskussion im Vorfeld des Karlsruher Urteils zur Asylrechtsreform zu. Wir Sozialdemokraten stehen zu dieser Reform. Gleichwohl sind innerhalb des Gesamtkonzeptes Korrekturen und Ergänzungen nötig. Eines ist schon jetzt klar, unabhängig davon, ob und welche Änderungen uns die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auferlegt - daran will ich noch einmal erinnern -: Wir brauchen die humane Altfallregelung für Asylbewerber, die wir beantragt haben,
wir brauchen das ebenfalls von uns geforderte asylunabhängige Bleiberecht für bestimmte Gruppen von Asylsuchenden,
wir brauchen die stärkere Berücksichtigung der Rechte von Folteropfern und von sexuell verfolgten Frauen, und wir brauchen - um das noch einmal zu betonen - den besonderen Aufenthaltsstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, der endlich wirklich praktiziert und mit Leben erfüllt werden muß.
Es gehört zum Kern des Asylkompromisses, die Zuwanderung zu begrenzen und dabei jedoch das Grundrecht auf Schutz für politisch Verfolgte abzusichern, ein ordentliches Verfahren zu ermöglichen und die Behandlung der Anträge deutlich zu beschleunigen. Es war und ist aber nicht Kern des Asylkompromisses - so habe ich ihn nie verstanden -, den Gesetzesvollzug mit der Aura von Gnadenlosigkeit zu umgeben.
Wer sich nur auf das Instrumentarium von Regeln beruft und diese Regeln auch noch einseitig im Sinne einer Politik der bloßen Abwehr befolgt, der gefährdet das, was er eigentlich zu retten vorgibt, nämlich den mühsam errungenen Konsens in der Gesellschaft beim Umgang mit Menschen, die Zuflucht suchen.
Wer da nicht großzügig, flexibel und dialogfähig agiert, der reitet unseren Ruf als toleranter Staat zuschanden. Eine Innenpolitik, die sich nur der Kälte und dem bloßen Formalismus verschreibt, leistet dem inneren Frieden in unserer Gesellschaft einen Bärendienst.
Es gibt ja in diesem Lande nicht nur die eine Sorte von Bürgern, die alle Flüchtlinge und alle Zuwanderer ohne Rücksicht auf deren Schicksal schnurstracks zurückweisen und wieder wegschicken wollen. Es gibt zum Glück auf der anderen Seite auch eine sehr kritische, aufmerksame Öffentlichkeit, die manchmal vielen unbequem sein mag, die aber uns in Sachen Menschenrechte genau auf die Finger schaut und die man nicht diffamieren sollte. Ich jedenfalls bin froh darüber, daß es dieses Engagement gibt. Ich wünschte, die Bundesregierung sähe das ebenso.
Ich danke Ihnen.
Zur Geschäftsordnung erteile ich der Kollegin Christa Nickels das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beantragen gemäß § 6 der Geschäftsordnung die Unterbrechung der Sitzung und die Einberufung des Ältestenrates. Unsere Fraktion hat Bedarf danach; unsere Geschäftsführung hat Bedarf nach einer Erörterung im Ältestenrat. Ich brauche das nicht weiter auszuführen; nach der Geschäftsordnung ist es mir auch nicht gestattet. Auf Antrag einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages muß der Ältestenrat sofort einberufen werden.
Die Unterbrechung ist auch deshalb nötig, weil unsere Fraktion Bedarf nach einer Sondersitzung hat.
Danke schön.
Ich darf diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Ältestenrat angehören, jetzt sofort zu einer Sitzung des Ältestenrats einladen.
Ich unterbreche die Sitzung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich möchte zunächst das Ergebnis der namentlichen Schlußabstimmung über den Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch auf den Drucksachen 13/1826 und 13/2589 bekanntgeben. Abgegebene Stimmen: 564. Mit Ja haben gestimmt: 301. Mit Nein haben gestimmt: 240. Enthaltungen: 23. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Vizepräsident Hans Klein
Endgültiges Ergebnis Peter Götz Dr. Klaus W. Lippold Roland Sauer
Dr. Wolfgang Götzer Ortrun Schätzle
Abgegebene Stimmen: 563 Joachim Gres Dr. Manfred Lischewski Dr. Wolfgang Schäuble
davon Kurt-Dieter Grill Wolfgang Lohmann Hartmut Schauerte
300 Hermann Gröhe Heinz Schemken
ja:
Claus-Peter Grotz Julius Louven Karl-Heinz Scherhag
nein: 240 Manfred Grund Sigrun Löwisch Gerhard Scheu
enthalten: 23 Horst Günther Heinrich Lummer Norbert Schindler
Carl-Detlev Freiherr von Dr. Michael Luther Dietmar Schlee
Hammerstein Erich Maaß Ulrich Schmalz
Ja Gottfried Haschke Dr. Dietrich Mahlo Bernd Schmidbauer
Erwin Marschewski Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Gerda Hasselfeldt Günter Marten
CDU/CSU Rainer Haungs Dr. Martin Mayer Andreas Schmidt
Otto Hauser (Siegertsbrunn) Hans-Otto Schmiedeberg
Ulrich Adam Hansgeorg Hauser Wolfgang Meckelburg Hans Peter Schmitz
Peter Altmaier Rudolf Meinl (Baesweiler)
Jürgen Augustinowitz Klaus-Jürgen Hedrich Dr. Michael Meister Birgit Schnieber-Jastram
Dietrich Austermann Manfred Heise Dr. Angela Merkel Dr. Rupert Scholz
Heinz-Günter Bargfrede Dr. Renate Hellwig Friedrich Merz Dr. Erika Schuchardt
Franz Peter Basten Ernst Hinsken Rudolf Meyer Wolfgang Schulhoff
Dr. Wolf Bauer Peter Hintze Hans Michelbach Dr. Dieter Schulte
Brigitte Baumeister Josef Hollerith Meinolf Michels Gerhard Schulz
Meinrad Belle Dr. Karl-Heinz Hornhues Dr. Gerd Müller Frederick Schulze
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Siegfried Hornung Elmar Müller Diethard Schütze (Berlin)
Hans-Dirk Bierling Joachim Hörster Engelbert Nelle Clemens Schwalbe
Dr. Joseph-Theodor Blank P Hubert Hüppe Bernd Neumann Dr. Christian Schwarz-
Renate Blank Peter Jacoby Johannes Nitsch g
Heribert Blens Schilling Susanne Jaffke Claudia Nolte Wilhelm-Josef Sebastian
Peter Bleser Georg Janovsky Dr. Rolf Olderog Horst Seehofer
Dr. Norbert Blüm Helmut Jawurek Friedhelm Ost Wilfried Seibel
Friedrich Bohl Dr. Dionys Jobst Eduard Oswald Heinz-Georg Seiffert
Dr. Maria Böhmer Michael Jung Norbert Otto (Erfurt) Bernd Siebert
Jochen Borchert Dr. Egon Jüttner Dr. Gerhard Päselt Jürgen Sikora
Wolfgang Börnsen Bönstru Dr. Harald Kahl Dr. Peter Paziorek Johannes Singhammer
g g
Wolfgang Bosbach Bartholomäus Kalb Hans-Wilhelm Pesch Bärbel Sothmann
Dr. Wolfgang Bötsch Steffen Kampeter Ulrich Petzold Margarete Späte
Klaus Brähmig Dr.-Ing. Dietmar Kansy Anton Pfeifer Wolfgang Steiger
Dr. Gero Pfennig
Rudolf Braun Irmgard Karwatzki Dr. Friedbert Pflüger Erika Steinbach
Paul Breuer Volker Kauder Beatrix Philipp Dr. Wolfgang Freiherr von
Georg Brunnhuber Peter Keller Dr. Winfried Pinger Stetten
Klaus Bühler Eckart von Klaeden Ronald Pofalla Dr. Gerhard Stoltenberg
Dankward Buwitt Dr. Bernd Klaußner Dr. Hermann Pohler Andreas Storm
Manfred Carstens Hans Klein (München) Ruprecht Polenz Max Straubinger
Peter Harry Carstensen Ulrich Klinkert Marlies Pretzlaff Michael Stübgen
Hans-Ulrich Köhler Dr. Bernd Protzner Egon Susset
Hubert Deittert Thomas Rachel Dr. Rita Süssmuth
Gertrud Dempwolf Manfred Kolbe Hans Raidel Dr. Susanne Tiemann
Albert Deß Norbert Königshofen Dr. Peter Ramsauer Dr. Klaus Töpfer
Gottfried Tröger
Renate Diemers Eva Maria Kors Rolf Rau Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
ilhelm Dietzel Manfred Koslowski Helmut Rauber Gunnar Uldall
Werner Dörflinger Thomas Kossendey Peter Harald Rauen Dr. Horst Waffenschmidt
Hansjörgen Doss Rudolf Kraus Otto Regenspurger Alois Graf von Waldburg-Zeil
Dr. Alfred Dregger Wolfgang g g Krause ) Christa Reichard (Dresden) Dr. Jürgen Warnke
Maria Eichhorn Andreas Krautscheid Klaus Dieter Reichardt Kersten Wetzel
Wolfgang Engelmann Arnulf Kriedner Hans-Os-O tto Wilhelm (Mainz)
Heinz Dieter Eßmann Heinz-Jürgen Kronberg Erika Reinhardt Gert Willner
9 g
Horst Eylmann Reiner Krziskewitz Hans-Peter Repnik Bernd Wilz
Ilse Falk Dr. Hermann Kues Roland Richter Willy Wimmer
Dr. Kurt Faltlhauser Werner Kuhn Roland Richwien Matthias Wissmann
Dr. Karl H. Fell Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Rieder Simon Wittmann
Ulf Fink Dr. Erich Riedl (München) (Tännesberg)
Dirk Fischer Dr. Norbert Lammert Klaus Riegert Dagmar Wöhrl
Klaus Francke Helmut Lamp Dr. Heinz Riesenhuber Michael Wonneberger
Herbert Frankenhauser Armin Laschet Hannelore Rönsch Elke Wülfing
Dr. Gerhard Friedrich Herbert Lattmann Cornelia Yzer
Erich G. Fritz Dr. Paul Laufs Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Wolfgang Zeitlmann
Hans-Joachim Fuchtel Karl -Josef Laumann Dr. Klaus Rose Benno Zierer
Michaela Geiger Werner Lensing Kurt J. Rossmanith Wolfgang Zöller
Norbert Geis Christian Lenzer Adolf Roth
Dr. Heiner Geißler Peter Letzgus Norbert Röttgen
Michael Glos Editha Limbach Dr. Christian Ruck SPD
Wilma Glücklich Walter Link Volker Rühe
Dr. Reinhard Göhner Eduard Lintner Dr. Jürgen Rüttgers Monika Heubaum
Vizepräsident Hans Klein
F.D.P. Peter Enders Ulrike Mehl Dietmar Thieser
Gernot Erler Herbert Meißner Franz Thönnes
Ina Albowitz Petra Ernstberger Angelika Mertens Uta Titze-Stecher
Dr. Gisela Babel Annette Faße Dr. Jürgen Meyer Adelheid Tröscher
Günther Bredehorn Elke Ferner Ursula Mogg Hans-Eberhard Urbaniak
Jörg van Essen Lothar Fischer Siegmar Mosdorf Ute Vogt (Pforzheim)
Dr. Olaf Feldmann Iris Follak Michael Müller Karsten D. Voigt (Frankfurt)
Gisela Frick Norbert Formanski Jutta Müller Josef Vosen
Paul K. Friedhoff Dagmar Freitag Christian Müller Hans Georg Wagner
Horst Friedrich Anke Fuchs Kurt Neumann (Berlin) Hans Wallow
Dr. Wolfgang Gerhardt Katrin Fuchs Volker Neumann (Bramsche) Dr. Konstanze Wegner
Joachim Günther Arne Fuhrmann Gerhard Neumann (Gotha) Wolfgang Weiermann
Dr. Karlheinz Guttmacher Monika Ganseforth Dr. Edith Niehuis Reinhard Weis
Dr. Helmut Haussmann Norbert Gansel Dr. Rolf Niese Matthias Weisheit
Ulrich Heinrich Konrad Gilges Doris Odendahl Gunter Weißgerber
Walter Hirche Günter Gloser Leyla Onur Gert Weisskirchen
Dr. Burkhard Hirsch Angelika Graf Manfred Opel Jochen Welt
Birgit Homburger Achim Großmann Adolf Ostertag Hildegard Wester
Dr. Werner Hoyer Karl Hermann Haack Kurt Palis Lydia Westrich
Ulrich Irmer Albrecht Papenroth Helmut Wieczorek (Duisburg)
Detlef Kleinert Hans-Joachim Hacker Dr. Wilfried Penner Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Heinrich L. Kolb Klaus Hagemann Dr. Martin Pfaff Dieter Wiefelspütz
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Manfred Hampel Georg Pfannenstein Berthold Wittich
Heinz Lanfermann Christel Hanewinckel Dr. Eckhart Pick Dr. Wolfgang Wodarg
Sabine Leutheusser- Alfred Hartenbach Joachim Poß Verena Wohlleben
Schnarrenberger Dr. Liesel Hartenstein Margot von Renesse Hanna Wolf
Uwe Lühr Klaus Hasenfratz Renate Rennebach Heidi Wright
Jürgen W. Möllemann Dr. Ingomar Hauchler Bernd Reuter Uta Zapf
Günther Friedrich Nolting Dieter Heistermann Dr. Edelbert Richter Dr. Christoph Zöpel
Lisa Peters Rolf Hempelmann Günter Rixe Peter Zumkley
Dr. Günter Rexrodt Dr. Barbara Hendricks Dr. Hansjörg Schäfer
Dr. Klaus Röhl Uwe Hiksch Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Helmut Schäfer Reinhold Hiller (Lübeck)
Cornelia Schmalz-Jacobsen Gerd Höfer Rudolf Scharping
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Jelena Hoffmann Bernd Scheelen Gila Altmann (Aurich)
Dr. Hermann Otto Solms Frank Hofmann Dr. Hermann Scheer Elisabeth Altmann
Carl-Ludwig Thiele Ingrid Holzhüter Horst Schild
Dr. Dieter Thomae Erwin Horn Otto Schily Marieluise Beck
Jürgen Türk Eike Hovermann Günter Schluckebier Volker Beck
Dr. Wolfgang Weng Lothar Ibrügger Horst Schmidbauer Angelika Beer
Wolfgang Ilte (Nürnberg) Matthias Berninger
Brunhilde Irber Dagmar Schmidt Annelie Buntenbach
Gabriele Iwersen Wilhelm Schmidt Amke Dietert-Scheuer
Nein Jann-Peter Janssen Regina Schmidt-Zadel Andrea Fischer
Dr. Uwe Jens Heinz Schmitt Rita Grießhaber Antje Hermenau
Sabine Kaspereit Dr. Emil Schnell Monika Knoche
SPD Susanne Kastner Walter Schöler Dr. Angelika Köster-Loßack
Ernst Kastning Ottmar Schreiner Steffi Lemke
Brigitte Adler Klaus Kirschner Gisela Schröter Vera Lengsfeld
Gerd Andres Marianne Klappert Richard Schuhmann Oswald Metzger
Hermann Bachmaier Siegrun Klemmer Kerstin Müller (Köln)
Ernst Bahr Dr. Hans-Hinrich Knaape Brigitte Schulte Winfried Nachtwei
Doris Barnett Walter Kolbow Volkmar Schultz Christa Nickels
Klaus Barthel Fritz Rudolf Körper Ilse Schumann Simone Probst
Ingrid Becker-Inglau Nicolette Kressl Dr. R. Werner Schuster Christine Scheel
Wolfgang Behrendt Thomas Krüger Dietmar Schütz Irmingard Schewe-Gerigk
Hans-Werner Bertl Horst Kubatschka Dr. Angelica Schwall-Düren Rezzo Schlauch
Friedhelm Julius Beucher Eckart Kuhlwein Ernst Schwanhold Albert Schmidt
Lilo Blunck Konrad Kunick Rolf Schwanitz Wolfgang Schmitt
Dr. Ulrich Böhme Christine Kurzhals Bodo Seidenthal (Langenfeld)
Arne Börnsen Werner Labsch Lisa Seuster Rainder Steenblock
Anni Brandt-Elsweier Brigitte Lange Horst Sielaff Marina Steindor
Edelgard Bulmahn Detlev von Larcher Erika Simm Christian Sterzing
Hans Martin Bury Waltraud Lehn Johannes Singer Manfred Such
Hans Büttner Klaus Lennartz Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Antje Vollmer
Marion Caspers-Merk Dr. Elke Leonhard Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Ludger Volmer
Wolf-Michael Catenhusen Klaus Lohmann Wieland Sorge Helmut Wilhelm (Amberg)
Peter Conradi Christa Lörcher Wolfgang Spanier Margareta Wolf
Christel Deichmann Erika Lotz Dr. Dietrich Sperling
Karl Diller Dr. Christine Lucyga Ludwig Stiegler
Dr. Marliese Dobberthien Winfried Mante Dr. Peter Struck PDS
Peter Dreßen Dorle Marx Joachim Tappe
Rudolf Dreßler Christoph Matschie Jörg Tauss Heinrich Graf von Einsiedel
Freimut Duve Ingrid Matthäus-Maier Dr. Bodo Teichmann Christina Schenk
Ludwig Eich Heide Mattischeck Dr. Gerald Thalheim Gerhard Zwerenz
Vizepräsident Hans Klein
Enthalten Dr. Ruth Fuchs
Dr. Gregor Gysi
Dr. Uwe-Jens Heuer
SPD Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Eberhard Brecht Dr. Heidi Knake-Werner
Renate Jäger Rolf Köhne
Dr. Uwe Küster Andrea Lederer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
PDS Manfred Müller
Rosel Neuhäuser
Wolfgang Bierstedt Dr. Uwe-Jens Rössel
Maritta Böttcher Steffen Tippach
Eva Bulling-Schröter Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Winfried Wolf
Kann ich davon ausgehen, daß damit der inhaltsgleiche Gesetzentwurf der Bundesregierung, wie vom Ausschuß für Gesundheit empfohlen, erledigt ist? - Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
In Fortsetzung der Aussprache über Tagesordnungspunkt 16 erteile ich der Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte den Faden wieder aufnehmen: Es geht um Abschiebestopps, dabei um bestimmte Länder und darum, wer das Sagen hat.
Ich will sozusagen kurz in die Geschichte zurückblenden: Vor Verabschiedung des neuen Ausländergesetzes hatte jedes Bundesland sein eigenes Moratorium. Das hatte dazu geführt, daß die Dinge ziemlich wild durcheinandergegangen sind. Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern hatten unterschiedliche Chancen bei der Aufnahme in den verschiedenen Bundesländern. Das konnte so nicht weitergehen. Es war also Bundeseinheitlichkeit geboten, und sie ist es auch heute noch. Auch im Zusammenhang mit der Quotierung der Flüchtlinge auf verschiedene Bundesländer ist diese Einheitlichkeit geboten.
Allerdings gab es seinerzeit bei der Beratung des § 54 die Linie, daß man sich in der Innenministerkonferenz ein Meinungsbild schaffte und dann gemeinsam entschied. Genau das ist in Wahrheit kooperativer Föderalismus.
Die Praxis hat sich nun etwas anders entwickelt. Tatsächlich kann heute ein Land eine Art Vetorecht geltend machen. Das ist von unserer Seite im Innenausschuß immer wieder moniert worden; so war das bei der Neuformulierung nicht gedacht. Wenn so etwas beabsichtigt gewesen wäre, hätte die F.D.P. dem nicht zugestimmt.
Nun stehen hierzu zwei Anträge im Raum; einer davon steht jetzt auf der Tagesordnung. Dieser sieht vor, daß eine einfache Mehrheit der Bundesländer ausreicht. Wir werden diesen Antrag ablehnen.
Zum anderen gibt es die Bundesratsinitiative, die hier schon angesprochen worden ist, die uns, mit
Verlaub, seriöser erscheint. Dort ist die Bundeseinheitlichkeit in jedem Fall gewahrt. Es ist eine Zweidrittelmehrheit der Länder vorgesehen. Darüber müssen wir uns unserer Meinung nach schon unterhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich umsieht, wird deutlich, daß ein gewisses Unbehagen und ein gewisses Bedürfnis nach Änderungen besteht. Pauschale Abschiebestopps sind von Hause aus sehr problematisch, und man sollte mit diesem Instrument außerordentlich vorsichtig umgehen.
Nur eine Nebenbemerkung: Ein genereller Abschiebestopp nach Algerien ist unserer Meinung nach nicht möglich.
Pauschale Abschiebestopps berücksichtigen keine Einzelfälle. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß es in unserem Land eine Debatte darüber gibt, daß das Thema Kirchenasyl stärker in den Mittelpunkt gerückt ist - obwohl damit sehr umsichtig umgegangen wird - und daß der bayerische Innenminister, der in keinster Weise im Geruch steht, der Gefühlsduselei anheimzufallen, den Vorschlag gemacht hat, den Kirchen ein Kontingent einzuräumen.
Ob das machbar ist oder nicht, will ich hier gar nicht ansprechen. Ich will damit nur sagen: Unser Recht führt zu Härten. Das ist angesichts der großen Zahl derer, die unser Land so attraktiv finden, wahrscheinlich auch unvermeidbar. Aber die Zeichen, daß man auf Auswege sinnt, und zwar in ganz verschiedenen Gruppierungen, sind doch überdeutlich.
Wir wünschen uns, daß man mit etwas mehr Gelassenheit und mit etwas mehr innerer Souveränität über Ausnahmen diskutieren kann.
Warum z. B. könnte nicht tatsächlich - wie Innenminister Beckstein das einmal angedacht hat - den einzelnen Ländern ein gewisses Kontingent gegeben werden? Ich meine jedenfalls, daß man in diese Richtung denken sollte.
Eine bestimmte Vox populi sagt gerne: Jeder soll hinausgeschmissen werden, aber Härtefälle sollen dabei bitte nicht entstehen. - Das kann man nicht haben.
Wir sind der Meinung, daß man dann, wenn man am Asylrecht festhalten will, wenn man dafür sorgen will, daß es Bestand hat, über Altfälle und über Härtefälle neu nachdenken muß. In der Tat gibt es viele Menschen in diesem Land, die der humanitären Tradition, die sich in Deutschland inzwischen ausgeprägt hat, gerecht werden wollen und die das auch von uns erwarten.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden dem Antrag der Grünen auf Änderung des § 54 des Ausländergesetzes zustimmen.
Die derzeitige, von der Bundesregierung geschaffene Rechtslage räumt jedem Bundesland ein faktisches Vetorecht bei der Verlängerung eines Abschiebestopps ein. Dieser Umstand orientiert sich zuallerletzt an den Interessen der Menschen, die bei uns Zuflucht vor politischer Verfolgung, Krieg und Völkermord suchen. Auch hat diese Regelung nichts mit Föderalismus zu tun. Im Gegenteil, sie dient allein dazu, selbst eine qualifizierte Mehrheit der Bundesländer, die aus humanitären Erwägungen willens ist, einen Abschiebestopp zu verhängen oder zu verlängern, zu blockieren, wenn dies den Interessen auch nur eines Landes oder des Bundesinnenministers widersprechen sollte.
Diese gerade auch aus Gründen des Föderalismus unhaltbare Regelung zu reformieren ist bitter notwendig. Dies wird an dem Trauerspiel deutlich, das die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge in diesem Jahr geboten hat.
In der Anhörung des Innenausschusses über die Lage der Menschenrechte in der Türkei wurde von den geladenen Menschenrechtsorganisationen wie z. B. amnesty international, aber auch anderen, dokumentiert, daß in der Türkei allein im Jahr 1994 mehr als 460 Menschen aus politischen Gründen ermordet wurden, daß über 1 000 Menschen Opfer von Folterungen waren und mehr als 50 Menschen an den Folgen von Folterungen gestorben sind und daß 328 Personen aus Polizeigewahrsam heraus verschleppt sowie 380 Menschen von der türkischen Polizei oder von deren Todesschwadronen außergerichtlich hingerichtet wurden.
Um diese unwiderlegbaren Tatsachenberichte kümmert sich Innenminister Kanther einen feuchten Kehricht. Er vertraut lieber auf Männer wie den Generaldirektor der türkischen Polizei, der offen dazu steht:
Wir foltern nicht jeden - nur diejenigen, die mit dem Terrorismus der PKK zu tun haben.
Auf Grund der grauenhaften Menschenrechtslage in der Türkei erließ der hessische Innenminister erneut einen Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge. Bei der Union kam es zu wüsten Beschimpfungen in Richtung des Landesinnenministers Bökel. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hob diesen Erlaß schließlich auf Grund des § 54 des Ausländergesetzes wieder auf.
Innenminister Bökel interpretierte dieses Urteil folgendermaßen: Er könne einen neuen Abschiebestopp bzw. dessen Verlängerung nur anordnen, wenn sich die tatsächlichen Begebenheiten in dem Aufnahmeland verändert hätten. Wenn aber die Menschenrechtslage wie in der Türkei unverändert schlecht bleiben würde, wären ihm die Hände gebunden.
Der abschiebewütige Bundesinnenminister Kanther und sein Kollege aus Bayern, Herr Beckstein, würden so jede humanitäre Lösung wider besseres Wissen blockieren.
Die Lage speziell für Kurdinnen und Kurden hat sich auch in der Westtürkei tatsächlich noch weiter verschlechtert. Ich zitiere aus einem Artikel, der anläßlich der Verleihung des Menschenrechtspreises des Deutschen Richtertages an den Mitbegründer des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, Hüsnü Öndül, in der honorigen „Deutschen Richterzeitung" im September 1995 erschienen ist:
Auch in der Westtürkei haben Verfolgungen gegen Kurden erheblich zugenommen. Es kommt dort immer häufiger zu Übergriffen der türkischen Sicherheitskräfte. Von Kurden bewohnte Stadtteile werden abgeriegelt. Personen werden willkürlich festgenommen. Die Festgenommenen berichten danach vielfach von Mißhandlungen und Folterungen in der Polizeihaft.
Zudem ist zumindest einem führenden Vertreter der jetzigen Regierungskoalition, dem Kollegen Burkhard Hirsch, bei seiner Septemberreise in die Türkei eine Veränderung der dortigen Situation aufgefallen. Während er sich hier noch im März vehement für eine Aufhebung des Abschiebestopps einsetzte, fordert er nun die Bundesregierung sogar auf, kurdische Straftäter nicht dorthin abzuschieben.
Wenn, wie im Falle der Türkei, trotz dem von der dortigen Regierung geführten schmutzigen Krieg gegen das kurdische Volk der Abschiebestopp aufgehoben wurde, dann ermöglicht § 54 Ausländergesetz dem Innenminister oder einem Bundesland, den Erlaß bzw. die Verlängerung eines Abschiebestopps zu blockieren, wenn die Menschenrechtssituation dort unverändert grausam bleibt.
Ich frage mich: Muß es in der Türkei denn wirklich erst zum offenen Völkermord an den Kurden kommen, bis hier von veränderten Voraussetzungen in dem Aufnahmeland ausgegangen und nachfolgend ein neuer Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge erlassen werden kann?
Ich möchte noch zwei Sätze zu der Petition sagen. Wir haben heute morgen schon kurz darüber gesprochen: Die Menschenrechtslage in Algerien ist meines Erachtens auf Grund der mörderischen Aktivitäten der islamischen fundamentalistischen Gruppen wie auch des brutalen Vorgehens der Militärführung derart besorgniserregend, daß auch hier eine Einzelfallprüfung für algerische Flüchtlinge eigentlich keinen Schutz mehr bietet. Ich habe heute morgen schon bekanntgegeben, daß wir einen Antrag eingebracht haben, auch für Algerien einen Abschiebestopp auszusprechen. Ich möchte Sie bitten: Unterstützen Sie die Wiederaufnahme des Verfahrens von Touda, dem Algerier, der hier Asyl beantragt hat! Unterstützen Sie dieses erneute Ver-
Ulla Jelpke
fahren! Denn ich denke, es geht hier um Leben und Tod.
Danke.
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jelpke, das Zerrbild von unserer Ausländerpolitik, das Sie hier wieder einmal entworfen haben, spricht für sich. Es disqualifiziert sich selbst. Deshalb will ich es gar nicht weiter kommentieren.
Meine Damen und Herren, die beiden Gesetzentwürfe, die heute beraten werden, geben der Bundesregierung Anlaß, ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Ausländerpolitik zu machen. Es muß in Erinnerung gerufen werden, daß das geltende Ausländerrecht in der Bundesrepublik Deutschland, wie wir alle wissen, insbesondere drei Aufgaben zu erfüllen hat, nämlich erstens die Zuwanderung von Ausländern aus Staaten zu begrenzen, die nicht zur Europäischen Union gehören, zweitens die Integration der Ausländer zu sichern, die auf Dauer im Bundesgebiet leben und hier auch bleiben wollen, und drittens die grenzüberschreitende internationale Zusammenarbeit zu fördern.
Zur Begrenzung der Zuwanderung gehören nicht nur Regelungen zu ihrer Einschränkung, sondern als logisches Gegenstück auch die konsequente Durchsetzung der Ausreisepflicht von Ausländern. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen wie Ausweisung oder Abschiebung sind daher das unverzichtbare Mittel zur Unterbindung der illegalen Zuwanderung und auch zur Bekämpfung von Ausländerkriminalität und -extremismus. Meine Damen und Herren, ohne diese Möglichkeiten sind Zuwanderungsbegrenzungen letztlich wirkungslos, weil man bekanntermaßen nie alle Schlupflöcher für Zuwanderung tatsächlich verstopfen kann.
Der von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegte Gesetzentwurf zu § 54 des Ausländergesetzes verfolgt aber genau das Ziel, Abschiebestopps zu erleichtern und zu vermehren, indem der Spielraum der Länder beim Erlaß von Abschiebestopps erheblich erweitert werden soll, um damit die tatsächliche Aufenthaltsbeendigung bei Ausländern, insbesondere auch bei nicht anerkannten Asylbewerbern, längerfristig zu erschweren.
Herr Kollege Lintner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Bitte schön.
Bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade geltend gemacht, daß ein Ziel des Ausländergesetzes sei, konsequent dafür zu sorgen, daß auch abgeschoben wird. Meine Frage ist, ob Ihrer Meinung nach der Wortlaut des Ausländergesetzes es ebenfalls hergibt, daß diesbezügliche Verhandlungen mit weltweit berüchtigten Folterregimen geführt werden und daß schriftliche Auskünfte von Folterregimen für die Bundesregierung eine verbindliche Wirkung entfalten können.
Frau Kollegin Nickels, Sie sprechen eine Wertung an, die das Bundesverfassungsgericht vorgenommen hat. Es steht der Bundesregierung nicht zu, diese Wertung jetzt zu kommentieren.
Meine Damen und Herren, da die Anordnung von Abschiebestopps eine weitreichende Bedeutung für alle Länder hat, muß es sinnvollerweise beim zwingenden Einvernehmen bleiben.
Schon die bislang oft zögerliche Haltung bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber hat in hohem Maße die illegale Zuwanderung gefördert - mit allen Konsequenzen; ich nenne z. B. die zusätzliche Beanspruchung unserer ohnehin stark beanspruchten sozialen Sicherungssysteme und unseres angespannten Arbeitsmarkts. Die beabsichtigte Änderung würde den Ländern darüber hinaus faktisch die Möglichkeit eröffnen, Ausländerpolitik und damit auch Abschiebepolitik an der Bundesregierung vorbei oder sogar gegen sie zu machen. Entsprechende Versuche sind auch bislang ja schon immer wieder gemacht worden.
Noch einige erläuternde Sätze zur notwendigen Strukturanpassung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Als die Asylrechtsänderung vor zweieinhalb Jahren in Kraft trat, hat keiner von uns eigentlich damit rechnen können, daß wir uns infolge des Rückgangs der Asylbewerberzugänge in absehbarer Zeit mit der Frage von Schließungen von Außenstellen des Bundesamtes beschäftigen müßten. Die derzeitigen Zugänge an Asylbewerbern in einer Größenordnung von monatlich ca. 12 000 Personen erfordern jetzt eine Straffung der Außenstellenstruktur. Dabei soll die dezentrale Bearbeitung der Asylanträge in den Außenstellen beibehalten werden. Sie hat sich bewährt und ist im übrigen ein wesentlicher Garant für die Beschleunigung des Asylverfahrens.
Herr Kollege Lintner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Bitte schön.
Danke schön, Herr Staatssekretär. Daß Sie Zwischenfragen entgegen den Zurufen aus Ihren Reihen zulassen, spricht dafür, daß Sie mit einer Plenardebatte souverän umgehen können. Ich möchte das ausdrücklich begrüßen. Ich finde, es ist nicht mehr üblich. Deswegen danke ich Ihnen.
Ich habe eine zweite Frage. Sie haben eben gesagt, es sei Sache des Bundesverfassungsgerichts, dies entsprechend zu würdigen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie diese Wertung aufrechterhalten wollen, wenn Sie folgendes Zitat auf Seite 14 des Urteils mit berücksichtigen. Dort heißt es wörtlich:
Die Einschätzung und Beurteilung, daß gleichwohl völkerrechtlich Absprachen mit der sudanesischen Regierung ein geeignetes und Effektivität versprechendes Mittel darstellen, ... fällt in den Kompetenzbereich der Bundesregierung im Rahmen der auswärtigen Gewalt.
Frau Kollegin Nickels, natürlich stimmt die Bundesregierung mit der Meinung des Verfassungsgerichts überein. Aber das schließt nicht aus, daß das Bundesverfassungsgericht auf Grund der Informationen seitens der Bundesregierung natürlich - das entspricht schon der Würde dieses Gremiums - eigene Wertungen vorzunehmen hat und nicht einfach notarielle Funktionen übernimmt.
Ich komme zurück zur Schließung von Außenstellen beim Bundesamt: Auf die enge Verzahnung von Ausländerbehörden, Verwaltungsgerichten und Außenstellen des Bundesamtes kann nach Auffassung der Bundesregierung nicht verzichtet werden.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Dr. Lippelt?
Ja.
Bitte.
Herr Staatsminister, könnte es nicht sein, daß meine Kollegin eben weniger das Urteil des Bundesverfassungsgerichts angesprochen hat als vielmehr das Verhalten Ihres Hauses, das, um festzustellen, ob Nachfluchtgründe vorlagen, aus eigenen Stücken Mitarbeiter zum Folterregime geschickt hat und sich eine Auskunft besorgt hat, die völlig in Widerspruch zu dem stand, was Sie dem asylrelevanten Lagebericht des Auswärtigen Amtes entnehmen konnten? Warum haben Sie denn hier plötzlich bei dem Folterregime noch einmal nachgefragt?
Herr Kollege Dr. Lippelt, Sie wissen, daß das Bundesverfassungsgericht an die Bundesregierung die Frage gerichtet hat, zu klären, wie denn nun die tatsächlichen Verhältnisse bewertet werden müßten. Auftragsgemäß hat das dafür zuständige Ministerium, nämlich das Auswärtige Amt, diese erbetenen Auskünfte eingeholt und sie an das Gericht weitergegeben. Das ist der nackte Sachverhalt. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Herr Kollege Lintner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
- Ich bitte um Nachsicht. Wir verfahren nach der Geschäftsordnung. Es meldet sich jemand, und ich frage.
Ich lasse eine letzte Frage zu. Bitte schön.
Herr Lintner, ich frage mich und Sie, ob es Ihnen entgangen ist, daß die Behauptung, die sudanesische Regierung habe zugesichert, den betroffenen Flüchtlingen drohe im Sudan keine Verfolgung, zunächst einmal von Ihrem Ministerium in den Raum gestellt wurde und das Bundesverfassungsgericht dafür lediglich eine schriftliche Bestätigung verlangt hat.
Ist Ihnen ferner bekannt, daß diese Zusicherung der sudanesischen Regierung lediglich beinhaltete, daß den Betroffenen wegen ihres Verhaltens in Deutschland und der Asylantragstellung hier keine Verfolgung drohe, dagegen keinerlei Auskunft darüber gegeben wurde, ob ihnen aus anderen Gründen, z. B. auf Grund vorangegangener Aktivitäten, Verfolgung droht?
Frau Kollegin, ich muß jetzt einfach darauf verweisen, daß wir diesen Sachverhalt heute hier nicht zu diskutieren haben. Ich habe den Eindruck, Sie wollen die Aktuelle Stunde, die Sie ja selber abgeblasen haben, jetzt nachholen.
Der Sachverhalt ist ja in allen Einzelheiten hin und her erörtert worden. Deshalb ersparen Sie es mir bitte, das jetzt zu wiederholen. Dem, was wir damals zu diesem Sachverhalt gesagt haben, ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Was wir damals gesagt haben, war immerhin so überzeugend, daß Sie selber von dem Ansinnen, eine Aktuelle Stunde durchzuführen, Abstand genommen haben.
Meine Damen und Herren, zurück zum Debattengegenstand. Vor diesem Hintergrund, den ich geschildert habe, muß jedoch nach unserer Auffassung in einem ersten behutsamen Schritt die Anzahl der Außenstellen reduziert werden. Zur Erläuterung: Die hierzu notwendigen Maßnahmen erfordern eine Reihe von Veränderungen. Die von den Koalitions-
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
fraktionen eingebrachte Änderung des § 71 des Asylverfahrensgesetzes ist eben eine sich aus dieser Situation ergebende Veränderung, also eine notwendige Gesetzesanpassung.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hirsch, F.D.P.
Herr Staatssekretär, Ihre Ausführungen zwingen mich zu einer kurzen Bemerkung.
Häufig entsteht der Wunsch nach einer Gesetzgebung dann, wenn in der Praxis mit einem Gesetz anders verfahren wird, als man sich das vorgestellt hat. Als der § 54 des Ausländergesetzes formuliert wurde, war es unser gemeinsamer Wille, daß die Abschiebepraxis der Länder, das Aussetzen der Regelung über mehr als sechs Monate, harmonisiert wird.
Wir hatten nicht die Vorstellung, daß jedes Land ein Vetorecht bekommen sollte. Ich halte ein Vetorecht im kooperativen Föderalismus für ein völliges Unding. Das ist der Grund dafür, daß wir die Praxis der Innenminister, keine Genehmigung zu erteilen, wenn auch nur ein einziges Land widerspricht, immer für falsch, zumindest für problematisch, jedenfalls nicht im Einklang stehend mit dem, was wir bei der Gesetzgebung gewollt haben, gehalten haben. Wir haben das im Innenausschuß ja mehrfach erörtert.
Deshalb muß das Schicksal dieses Gesetzentwurfes - auch des Gesetzentwurfes, der vom Bundesrat eingebracht worden ist und in dem von einer qualifizierten Mehrheit gesprochen wird - natürlich damit zusammenhängen, daß die Frage geklärt wird, ob wir davon ausgehen müssen, daß der Innenminister auch weiter jedem einzelnen Land, dem Saarland, Bayern oder wem auch immer, ein Vetorecht einräumen will oder nicht. Diese Frage muß im Laufe der Beratungen so eindeutig geklärt werden, daß wir wissen, woran wir in der Praxis, bei der Anwendung des § 54 des Ausländergesetzes in der jetzigen Fassung, sind.
Herr Kollege Wiefelspütz, Sie haben Ihre Wortmeldung zurückgezogen. Ich bin jetzt etwas unsicher, wie ich weiter verfahren soll. Ich möchte das kleine Problem hier darlegen, damit nicht Unruhe aufkommt.
Es hat hier vorhin einen Streit zum Stichwort „Wortentziehung" gegeben. Für eine Wortentziehung müssen nach der Geschäftsordnung gewisse Voraussetzungen vorliegen, nämlich daß der Redner „während einer Rede dreimal zur Sache oder dreimal zur Ordnung gerufen und beim zweiten Male auf die Folgen eines dritten Rufes zur Sache oder zur Ordnung hingewiesen worden" sein muß. Dieser dreimalige Hinweis ist nicht gegeben worden, so daß die
Sanktion, die in § 37 der Geschäftsordnung steht, daß der gleichen Rednerin das Wort zu diesem Verhandlungsgegenstand nicht noch einmal erteilt werden kann, nicht erfüllt ist.
Die Kollegin Kerstin Müller hat sich zu Wort gemeldet. Nach meiner Interpretation der Geschäftsordnung, so wie ich sie im Augenblick vornehmen muß - ich habe das Protokoll nicht vorliegen -, muß ich ihr das Wort erteilen. Wenn es dazu keinen Widerspruch gibt, dann verfahre ich so.
Bitte.
Meine Damen und Herren! Ich finde es sehr schade, daß Sie der Ansicht waren, daß die Punkte, die ich zum Sudan genannt habe, nicht in diese Debatte gehören. Aber ich möchte gerne etwas zum § 54 des Ausländergesetzes sagen.
Der Kern unserer heutigen Gesetzesinitiative ermöglicht durch eine Änderung des § 54 des Ausländergesetzes den Ländern, künftig mit Mehrheit einen Abschiebestopp zu verlängern. Jetzt verlangt der § 54 des Ausländergesetzes Einstimmigkeit zur Verlängerung eines Abschiebestopps. Damit kann einzig und allein das negative Votum des bayerischen Innenministers Beckstein einen Abschiebestopp verhindern. Das ist in der Vergangenheit des öfteren vorgekommen.
Das bedeutet, die Ländermehrheit hängt am Gängelband eines einzelnen Ministers oder des Bundesinnenministers.
Diese absurde Situation wollen wir mit unserem Antrag ändern. Wir hoffen, daß dies eben auch auf Zustimmung der SPD stößt;
denn die SPD-regierten Länder wollen das auf jeden Fall, wie ich aus Gesprächen weiß.
Das Beispiel der Kurden aus der Türkei - die Kollegin hat es schon angesprochen - ist ein gutes Beispiel. Im März wurde hierzu der Abschiebestopp aufgehoben, und zwar unmittelbar nach einer Anhörung des Bundestages, bevor diese hier überhaupt ausgewertet werden konnte. Eigentlich ist in der Türkei Bürgerkrieg. Heute ist es noch nicht einmal möglich, daß einzelne Länder sozusagen human handeln und einen Abschiebestopp für Kurden aufrechterhalten. Das finde ich einen Skandal.
Der Fall Touda aus Algerien, um den es heute auch geht, zeigt meiner Meinung nach ebenfalls eklatante Lücken im Asylrecht. Beim Fall Touda wurde
Kerstin Müller
rüde von den Entscheidern des Bundesamtes über das eigentliche Asylbegehren hinweggegangen. Beispielsweise wurde noch nicht einmal seine Aussage, er sei gefoltert worden, berücksichtigt, obwohl entsprechende Gutachten vorlagen. Das wirft ein entsprechendes Licht auf die Leute, die dort als Entscheider sitzen. Auch die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde verweigert. Es wurde also bis zum heutigen Tag nicht ein einziges Mal inhaltlich auf die Asylgründe des Herrn Touda eingegangen. Das zeigt die Lücken. Das zeigt, wie weit es mit dem Asylrecht in diesem Land gekommen ist.
Auch hier kann ich nur noch einmal sagen: In Algerien ist eigentlich Bürgerkrieg. Es gibt nach dem sogenannten Asylkompromiß hierzu eine Vorschrift, nämlich den § 32 des Ausländergesetzes. Aber weil die Länder und die Regierung sich nicht über die Kosten einigen können, bleibt dieser § 32 des Ausländergesetzes nicht mehr als nacktes Papier. Hier muß endlich auch gehandelt werden. Wir fordern, daß sich Länder und Bund über die Kosten einigen. Wir fordern, daß im umfassenden Sinne Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen werden. Dann könnte man sich viele Verfahren, die jetzt noch über das Asyl geführt werden, sparen.
Der § 54 des Ausländergesetzes, die Tatsache, daß es keine Regelung gibt, die eklatante Zunahme von Asylpetitionen und das Fehlen einer Vorschrift zum § 32 des Ausländergesetzes zeigen, daß das Asylrecht nur noch rudimentär vorhanden ist. Es gibt nur noch ganz, ganz wenige Schlupflöcher, über die Menschen hier überhaupt noch Asyl begehren können.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie sind auf diesen Asylkompromiß stolz. Sie sagen, um 70 % sei die Zahl der Asylsuchenden zurückgegangen. Herr Kanther, der bei einer so wichtigen Debatte noch nicht einmal anwesend ist, hat damit gedroht: Wer den mit der SPD ausgehandelten Kompromiß in Frage stellt, muß mit schwerwiegenden Konsequenzen für das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern rechnen. Ich frage Sie: Was ist das für ein innerer Frieden, der sich auf Abschottung gründet, der sich nur durch Unmenschlichkeit und Menschenrechtsverletzungen erhalten läßt? Wir haben eine andere Vorstellung von einer friedlichen Gesellschaft.
Dann kann es nicht verwundern, daß immer mehr Menschen, wie im Fall Sudan, die Initiative ergreifen und Kirchengemeinden Widerstand gegen dieses inhumane Asylrecht leisten. Sie wehren sich gegen eine Politik der Bundesregierung, die sich weltweit an Menschenrechtsverletzungen beteiligt, Rechtsstaatlichkeit aushebelt,
um den Stammtischen zu gefallen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hören Sie doch einmal auf die Kirchen! Nehmen Sie doch ernst, daß da wirklich ziviler Ungehorsam gegen ein Recht, das in diesem Lande kein Recht mehr ist, praktiziert wird!
Frau Kollegin Müller, es tut mir leid: Ich will wirklich keine Schärfe in die Debatte bringen. Aber der Vorwurf, bewußt Menschenrechtsverletzungen zu begehen, ist so ziemlich das Schlimmste, was man jemandem vorwerfen kann.
Das kann ich nicht akzeptieren. Sie sollten das korrigieren, am besten jetzt gleich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe das so. Ich sehe das so, daß die Bundesregierung durch ihre Politik, auch durch ihre Wirtschaftspolitik, durch Waffenlieferungen beispielsweise - - Was ist in Kurdistan passiert?
- Dann machen wir das doch zu einem weiteren Thema. Ich bin sehr wohl der Meinung, daß sich die Bundesregierung durch Waffenexporte etc. etc. daran beteiligt. Auch das sind Menschenrechtsverletzungen, die in aller Welt passieren. Ich empfinde, daß man das auch im Bundestag sagen können muß.
Frau Kollegin, ich finde, Sie können sagen, daß Sie den subjektiven Eindruck haben, daß der Verdacht bestehe. Aber den objektiven Vorwurf können Sie nicht aufrechterhalten. Das kann ich nicht durchgehen lassen. Es tut mir leid.
Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir die Amtsführung nicht erschweren würden; ich finde, die Debatte war aufgeregt genug. Ich wäre sonst gezwungen, Ihnen einen Ordnungsruf zu erteilen. Wir sollten das vermeiden.
Ich habe angeboten, hierzu eine ausführliche Debatte zu führen.
Kerstin Müller
Lassen Sie uns das tun: über Menschenrechtsverletzungen, über Waffenexporte. Dann können wir das gern erläutern.
Wie viele Brükken muß man Ihnen eigentlich bauen?
Sie wollen offensichtlich nicht über dieses Thema reden.
Lassen Sie uns über dieses Thema in aller Ruhe hier im Bundestag diskutieren. Lassen Sie uns das tun. Mein Eindruck ist: Sie wollen das nicht. Ich glaube ganz ehrlich nicht, daß Sie Ihre Blockadehaltung gegenüber dem, was sich im Lande tut, gegenüber den Menschen, die sich Sorgen machen, gegenüber dem zivilen Ungehorsam auf Dauer werden durchhalten können.
Ich kann wirklich nur noch einmal appellieren, mir nicht schon wieder über die Geschäftsordnung das Wort abzuschneiden, nur weil Sie über diese Asylgeschichte offensichtlich nicht wirklich diskutieren wollen. Wir sind dazu bereit.
Kommen Sie jetzt am besten zum Schluß.
Gut. - Wir werden in nächster Zeit ein Flüchtlingsgesetz vorlegen, das die Eckpunkte einer humanen Flüchtlingspolitik skizzieren wird. Die Drittstaatenregelung muß verändert werden. Das Flughafenverfahren muß abgeschafft werden. Das sind für uns Mindeststandards eines humanen Asylrechts. Ich hoffe, daß hierüber in diesem Hause eine sachliche Debatte möglich sein wird.
Danke schön.
Der Kollege Wiefelspütz hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte wegen der unglücklichen Gesamtkonstellation, unter der diese Debatte begonnen worden ist, an sich auf meinen Redebeitrag verzichten wollen. Der Beitrag von Frau Müller bewegt mich aber so stark, daß ich meine, doch noch ein paar Sätze sagen zu sollen.
Wir stehen unmittelbar vor einer sehr grundsätzlichen Auseinandersetzung im Rahmen einer Zwischenbilanz über das neue Asylrecht, wenn das Bundesverfassungsgericht in wenigen Monaten entschieden haben wird. Diese Debatte werden wir nicht scheuen; diese Debatte müssen wir führen und selbstkritisch unser Recht, aber auch die Praxis auf den Prüfstand stellen.
Frau Müller, was mich immer ganz besonders betroffen macht und was mich bewegt, ist: Wenn wir über den humanen Konsens in Deutschland reden - wie wir mit Menschen umgehen, die aus Not, wegen Hunger, wegen politischer Verfolgung oder auch „nur" deshalb zu uns kommen, weil sie glauben, in Deutschland eine bessere Lebensperspektive zu haben -, frage ich mich, warum wir das so verletzend machen,
warum wir eine Sprache führen, deren Inhalt wir selber kritisieren. Wir müssen uns doch auf der Höhe des Problems bewegen, auch mit unserer Sprache.
Wir werden diese Grundsatzdebatte führen und über viele Fragen sprechen müssen: über die Abschiebehaft, über das Recht, über die Praxis unseres Asylrechts, über den Zustand in unserem Lande. Da wird auch manches Kritische zu sagen sein, aber, Frau Müller, bitte nicht in dieser Sprache und bitte immer unter dem Grundsatz, daß wir über Menschlichkeit reden. Das müßte in der ganzen Art und Weise unserer Auseinandersetzung erkennbar bleiben.
Frau Müller, Sie haben das Recht zur Gegenrede.
Herr Wiefelspütz, ich habe selber zahlreiche Verfahren erlebt. Mir ist dieses Thema wirklich sehr ernst. Sie wissen - ich will es trotzdem noch einmal sagen -; Für viele Menschen geht es dabei um Leben und Tod. Das ist auch in der Sudanesengeschichte der Fall gewesen.
Ich finde, daß es angesichts dessen wichtig ist, auch hart und klar zu formulieren. Es ist meine innere Überzeugung, daß das Asylrecht mit dem Asylkompromiß abgeschafft wurde, daß es nur noch wenige Möglichkeiten gibt, das Asylbegehren überprüfen zu lassen.
Man muß die Anliegen der Menschen, die sich dagegen wehren und sich dafür engagieren, ernst nehmen und zu einer ernsthaften Debatte kommen. Dabei muß man auch scharf sagen können, daß das Asylrecht abgeschafft wurde und was das für die Menschen bedeutet.
Wenn wir diese Diskussion nicht führen, wenn wir hier nicht schonungslos darüber reden, was das im Einzelfall für die Leute bedeutet, dann können wir
Kerstin Müller
auch nicht zur Sache kommen und nicht über Lösungen reden. Das ist meine Überzeugung.
Zu einer Kurzintervention erteile ich Christa Nickels das Wort.
Herr Wiefelspütz, ich beziehe mich auf Ihren Beitrag. Sie sprachen die Schärfe der Diskussion an. Diese Schärfe berührt mich sehr stark; denn ich bin der Meinung, daß diese Schärfe an den Grundkonsens unserer Gesellschaft geht, und zwar dahin gehend, daß wir alle auf dem Boden des Grundgesetzes in der Forderung nach der Unantastbarkeit der Menschenwürde stehen.
Der Asylkompromiß läßt so gut wie keine Härtefallmöglichkeit mehr zu. Daneben ist ein gewisses Pontius-Pilatus-Prinzip gesetzlich institutionalisiert: Der eine entscheidet, der andere muß exekutieren; derjenige, der exekutieren muß, ist näher an der Angelegenheit dran und hat daher mehr Gefühl dafür und weiß eher, ob es sich um einen Härtefall handelt oder nicht. Er darf aber nicht mehr diesen bestimmten Härtefall entscheiden.
Die Menschen, die aus christlicher Grundhaltung oder deshalb, weil ihnen der Grundgesetzartikel zum Schutz der Menschenwürde so wichtig ist, noch nicht völlig verhärtet sind und sich darum kümmern, geraten zwischen zwei Mahlsteine. Dazu kommen die kurzen Fristen. Ein Mensch, der nicht völlig versteinert ist und mit den persönlichen Schicksalen zu tun hat, ist unglaublich betroffen.
Wenn Sie sich für einen Asylbewerber einsetzen, dann müssen Sie einen unglaublichen Hürdenlauf durch die Instanzen absolvieren. Die Menschen wissen meist nicht, wohin sie zuerst gehen sollen; und alle diese Schwierigkeiten sind ja neben dem persönlichen alltäglichen Leben zu bewältigen. Gerade auf diese Menschen ist unsere Demokratie existentiell angewiesen, wenn sie die humane Substanz behalten will.
Ich finde es nicht richtig, wenn man immer nur über die Asylbewerberinnen und Asylbewerber redet, wir müssen auch darüber reden, wie dieses so ausgestaltete Recht mit seinen nicht mehr vorhandenen Härtefallmöglichkeiten mit der humanen Substanz im Land, mit den Menschen umgeht, denen das Schicksal von Flüchtlingen ein Herzensanliegen ist und die wir brauchen, damit wir eine humane Demokratie bleiben.
Es ist ein ganz wichtiger innenpolitischer Grund, endlich mindestens - das sage ich zur Regierung - Härtefallmöglichkeiten zu schaffen; denn diese Konfrontation und diese Schärfe in der Sprache und diese persönliche Betroffenheit halten wir auf Dauer nicht aus, wenn wir eine Demokratie bleiben wollen, die sich auf die Menschenwürde stützt.
Nun muß ich der guten Ordnung halber den Kollegen Wiefelspütz fragen, ob er darauf antworten will. - Das ist nicht der Fall.
Zu einer Kurzintervention hat jetzt die Kollegin Steinbach das Wort.
Frau Kollegin, bei dem Thema Asylrecht und Ausländerpolitik insgesamt scheint es mir unabdingbar notwendig zu sein, daß wir eine ganz sorgfältige und abgewogene Diskussion führen. Wir brauchen die Zustimmung unserer Bürger im Lande, wenn das Asylrecht, das wir alle bejahen, tragfähig bleiben soll.
Ich glaube nicht, daß es dazu beiträgt, daß die Bürger im Lande dafür Verständnis aufbringen, wenn auf der anderen Seite diese Tonart angeschlagen wird, im Gegenteil. Ich habe schon Verständnis für das, was Sie empfinden und was Sie an Emotionen äußern. Aber es gibt ein Vielfaches an Emotionen auch auf einer anderen Seite. Wir müssen sehen, daß wir Politiker diese Thematik wirklich abgewogen und nicht in diesen aggressiven Tönen behandeln.
Wir sind damit am Schluß der Rednerliste. Die Kollegin Amke Dietert-Scheuer hat gebeten, als Berichterstatterin zur Sammelübersicht 38 gemäß § 28 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung das Wort ergreifen zu dürfen. Sie hat es.
Als Berichterstatterin zu Sammelübersicht 38 möchte ich kurz den Hintergrund des vorliegenden Petitionsfalles erläutern.
Es geht um den abgelehnten Asylantrag eines Flüchtlings aus Algerien. Nach seinen Angaben hat der junge Mann eine religiöse, d. h. islamische Grundüberzeugung, ohne allerdings einer Organisation oder Partei anzugehören oder gar an Gewalttaten beteiligt gewesen zu sein. Auf Grund seiner Überzeugung hat er sich während seines Wehrdienstes aus Gewissensgründen geweigert, an einem Einsatz gegen die FIS teilzunehmen. Deshalb wurde er in Haft genommen und mißhandelt. Da er sich als Regimegegner zu erkennen gegeben hatte, mußte er mit weiterer politischer Verfolgung rechnen.
Während der Anhörung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wurde der Asylbewerber von der Entscheiderin so rüde abgekanzelt, daß er seine Fluchtgründe nicht angemessen vorbringen konnte. Wie aus dem vorliegenden Protokoll des Bundesamtes hervorgeht, hatte es bei der Anhörung offensichtlich auch sprachliche Mißverständnisse gegeben.
Anträge seines Prozeßvertreters auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens blieben sowohl vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als auch vor dem Verwaltungsgericht ohne Erfolg. In den ablehnenden Entscheidungen
Amke Dietert-Scheuer
wurde ausschließlich formalrechtlich argumentiert. Die inhaltlichen Asylgründe des Flüchtlings wurden nirgends angemessen geprüft und berücksichtigt, obwohl ein ärztliches Gutachten über Traumatisierung durch Folter vorliegt.
Als Berichterstatterin muß ich dazu erklären, daß angesichts dieser Lage das Mehrheitsvotum des Ausschusses für mich nicht akzeptabel ist. Gerade in Kenntnis der Situation in Algerien, wo neben den Greueltaten der bewaffneten islamischen Gruppierungen auch schwere Menschenrechtsverletzungen der Regierungsseite an der Tagesordnung sind, wäre eine Abschiebung des Petenten unverantwortlich.
Es geht mir nicht darum, wie uns immer wieder vorgeworfen wird, daß der Bundestag asylrechtliche Einzelentscheidungen treffen soll. Wir müssen aber eine korrekte Behandlung von Asylanträgen fordern. Dies ist in dem vorliegenden Fall nur durch eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu gewährleisten. Ich möchte Sie daher bitten, auch angesichts der vorherigen Diskussion, in der Sie sich vehement gegen den Vorwurf zur Wehr gesetzt haben, Sie würden sich durch die Asyl- und Abschiebepraxis an Menschenrechtsverletzungen beteiligen, in diesem Fall zu beweisen, daß Sie das nicht tun wollen, und unserem Änderungsantrag zuzustimmen.
Wir sind damit am Schluß der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/1426 und 13/2577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist offenbar nicht der Fall. Dann sind die Oberweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/1410. Das ist die Sammelübersicht 38. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/2642 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Joachim Poß, Jörg-Otto Spiller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern für ein Jahr
- Drucksache 13/1856 - Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache, sobald es etwas ruhiger geworden ist. Damit wir dies erreichen, bitte ich jene, die der Debatte nicht beiwohnen wollen, das Plenum möglichst schnell und geräuschlos zu verlassen. - Darf ich die anderen Kolleginnen und Kollegen bitten, Platz zu nehmen, auch auf der halblinken Seite in der Mitte, Herr Kollege Wiefelspütz.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege Horst Schild, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, um die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern weiter auszusetzen.
Dieser Antrag steht für uns in engem Zusammenhang mit der Diskussion der Gewerbesteuerreform, die im ersten Halbjahr dieses Jahres geführt wurde. Im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zum Jahressteuergesetz wurde vereinbart, daß über die Gewerbekapitalsteuer in Verbindung mit einer Gemeindefinanzreform im Herbst dieses Jahres weitere Beratungen gemeinsam mit allen Beteiligten geführt werden sollen.
Meine Damen und Herren, in den Beratungen zu den Entwürfen zum Jahressteuergesetz zeigte sich, daß die Koalition und die Bundesregierung die Gewerbekapitalsteuer im Schnellverfahren abschaffen wollten. Das ist aber nicht gelungen.
Mit einer Grundgesetzänderung hatte man den Gemeinden eine Finanzierungsalternative versprochen. Nachdem die Koalition bereits im Mai mit der Verfassungsänderung gescheitert war, zeichnete sich im Juni ein weiteres Scheitern ab.
Die Koalition zog daraufhin ihre Pläne zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zurück. Sie wurden aus dem Jahressteuergesetz herausgenommen. Das entsprach sowohl der Forderung der SPD als auch der der kommunalen Spitzenverbände. Schon in der Expertenanhörung des Finanzausschusses im April wurde deutlich, daß bis zu einer allgemein akzeptablen Gemeindefinanzreform noch erheblicher Aufklärungs- und Beratungsbedarf besteht. Völlig unklar waren die finanziellen Folgen der geplanten Regelung für die Gemeinden und die Folgen für das kommunale Hebesatzrecht.
Vor allem bei der augenblicklich prekären Finanzsituation der Kommunen wäre eine Fahrt ins finan-
Horst Schild
ziell Ungewisse gefährlich und unverantwortlich gewesen.
Wer die finanzielle Substanz der kommunalen Selbstverwaltung in Frage stellt, gefährdet die Lebensfähigkeit unserer Gemeinden. Die in Art. 28 des Grundgesetzes gewährleistete kommunale Selbstverwaltung und die finanzielle Eigenverwaltung verlangen eine solide vorbereitete Reform, die den Kommunen finanzielle Planungssicherheit garantiert.
Eine solide Neuregelung wird uns aber nicht gelingen, wenn wir uns einem hohen Zeitdruck aussetzen. Das Scheitern der Koalition und der Bundesregierung mit ihren bisherigen Entwürfen zur Ablösung der Gewerbekapitalsteuer hat gezeigt, wohin ein solches Schnellverfahren führt: zu Protesten und Unsicherheit bei den betroffenen Städten und Gemeinden.
Daß die Gewerbekapitalsteuerbefreiung für die neuen Länder Ende 1995 abläuft, sollte kein Grund sein, die wichtigen Fragen unter extremem Zeitdruck zu regeln.
Was spricht dagegen, die Erhebung dieser Steuer in den neuen Ländern vorläufig weiter auszusetzen? Das brächte uns die notwendige Zeit für die Reform der Gemeindefinanzen.
Die SPD-Fraktion hat bereits im Juni dieses Jahres einen entsprechenden Antrag gestellt. Wir brauchen diese Zeit, um mit allen Beteiligten die Gespräche über eine Gemeindefinanzreform zu führen, wie das im Vermittlungsausschuß vereinbart wurde.
Es ist verschiedentlich auf mögliche Probleme auf europäischer Ebene bei einer weiteren Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer verwiesen worden. Wir haben kürzlich bei Gesprächen in Brüssel den Eindruck gewonnen, daß dem von europäischer Seite keine unüberwindbaren Probleme entgegenstehen, wenn wir die Erhebung dieser Steuer etwas länger aussetzen. Auch hier sollte eigentlich niemand ein Problem sehen. Ich hoffe, wir werden Einigkeit erzielen.
Wichtig ist doch, daß wir dann die vereinbarten Gespräche zur Gemeindefinanzreform gründlich führen können. Wir sind durchaus bereit, auch über die Gewerbekapitalsteuer zu sprechen. Bedingung dafür ist allerdings, daß wir endlich Klarheit darüber bekommen, was die Koalition endgültig will.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition - obwohl kaum noch jemand da ist -, was gilt denn eigentlich? Die Koalitionsvereinbarung, die Sie abgeschlossen haben, nach der die Gewerbesteuer ganz abgeschafft werden soll, oder die verfassungsrechtliche Bestandsgarantie für die Gewerbeertragsteuer, die der Bundesfinanzminister Waigel den kommunalen Spitzenverbänden gegenüber abgegeben hat?
Der Parlamentarische Staatssekretär hat neulich im
Bundesrat noch eine weitere Version angeboten und
gesagt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt gebe es dafür keine Voraussetzungen.
Wir müssen also, meine Damen und Herren, schon wissen, woran wir sind. Nur wenn die Koalition offenlegt, was sie will, wird erkennbar, wieweit Übereinstimmung besteht und worüber noch diskutiert werden muß.
Einige Eckpunkte für diese Gespräche von unserer Seite möchte ich allerdings deutlich machen. Eine umfassende Neuregelung im Bereich der Gewerbesteuer und damit der Gemeindefinanzen kann nur im Rahmen einer neuen Gemeindefinanzreform erreicht werden, und zwar insbesondere im Konsens mit Ländern und Kommunen.
Die finanziellen Folgen der vorgeschlagenen Regelung für Länder und Gemeinden müssen an Hand gemeindescharfer Modellrechnungen umfassend dargelegt werden. Es darf keine Verschiebung zu Lasten der Länder und Gemeinden geben. Die verbleibende Gewerbeertragsteuer muß gegen eine weitere Aushöhlung wirksam geschützt werden, um die finanzielle Eigenverantwortung der Gemeinden zu gewährleisten. Der bisher vom Bundesfinanzminister erwogene Vorschlag, Art. 106 des Grundgesetzes zu ändern, reicht allein nicht aus.
Doch zunächst gilt es, entsprechend unserem Antrag eine Regelung zu verabschieden, wonach in den neuen Ländern die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer vorerst weiter ausgesetzt bleibt. Die SPD-Fraktion hat in dieser Woche im Finanzausschuß die Bundesregierung gebeten, hierzu eine entsprechende Gesetzesformulierung vorzulegen. Übrigens sind zwischenzeitlich aus einzelnen Bundesländern auch Initiativen in dieser Richtung ergriffen worden.
Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, den Weg für eine weitere Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern frei zu machen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Faltlhauser.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schild, Sie haben gerade gesagt, wir sollen den Weg für die weitere Aussetzung frei machen. Lassen Sie mich Ihre Worte aufnehmen: Machen Sie den Weg frei für eine schnelle Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in den alten Bundesländern. Das ist das einzige, was wir jetzt wirklich brauchen.
Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser
Dies ist unser Ziel seit vielen Monaten und Jahren, und wir haben Ihnen ja die Alternative hier in diesem Haus vorgestellt und Sie aufgefordert, eine solide Gegenfinanzierung durch eine Grundgesetzänderung zu fundieren. Sie haben sich damals verweigert, und jetzt haben Sie die Möglichkeit, gemeinsam mit uns tatsächlich das einzig Vernünftige zu machen, nämlich die Gewerbekapitalsteuer in den alten Bundesländern abzuschaffen, und zwar schnell: zum 1. Januar 1996. Die rechtlichen Möglichkeiten haben wir dafür. Machen Sie das zusammen mit uns; dann haben wir keine weiteren Probleme.
Warum wir diese Gewerbekapitalsteuer abschaffen wollen, ist eindeutig. Drei Gründe: Sie ist erstens eine Substanzsteuer, ein Fossil, einmalig im internationalen Steuerlastvergleich, eine Doppelbelastung und schwächt den Standort Bundesrepublik Deutschland. Das ist bei allen Gutachtern unbestritten; ich kenne keinen, der ein gegenteiliges Urteil abgibt.
Zweitens ist es eine komplizierte Steuer. Nicht zuletzt deshalb haben wir sie in den neuen Bundesländern nicht eingeführt.
Drittens. Wir wollen dieses Fossil natürlich nicht in den neuen Bundesländern einführen. Das wäre das steuerpolitisch Katastrophalste, was diesem Land passieren könnte. Es wäre der Frost über der Plantage aufblühender wirtschaftlicher Entwicklungen in den neuen Bundesländern.
Heute haben Sie die Möglichkeit, meine Damen und Herren, hier etwas zu machen, und ich hoffe, daß wir im Finanzausschuß vorankommen können.
Wir haben den Kommunen nicht nur einen fairen, sondern einen vollen Ausgleich zugesichert; das Gesamtvolumen ist dabei sehr satt bemessen, so daß man Spitzen in der einen oder anderen Gemeinde ausgleichen kann. Wir haben den Kommunen angeboten, daß sie auf der Berechnungsbasis der Jahre 1992 und 1993 bis zum Jahre 1999 einen fixen Ausgleich haben. Das nenne ich Sicherheit, das nenne ich Berechenbarkeit. Darüber hinaus werden wir einen orts- und wirtschaftsnahen Schlüssel finden, für den wir die statistischen Grundlagen bereits im Jahressteuergesetz bereitgelegt haben.
Die Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden laufen, um ihre Ängste über das Jahr 2000 hinaus abzubauen. Am Montag spricht der Finanzminister mit dem neuen Präsidenten des Städtetags, Herrn Seiler. Die Gespräche haben bisher nie eine Unterbrechung gefunden. Ich bin zuversichtlich, daß die Kommunen sehen, welche Chance sie haben, neben der Einkommensteuer, der Grundsteuer und der Gewerbeertragsteuer eine weitere große, ertragskräftige, zukunftsträchtige und dynamische Steuer in ihrem Budget zu haben. Das ist eine große Chance, die sie eigentlich immer haben wollten. Finanzminister Waigel hat das erstmals angeboten. Ich habe mich immer gewundert, warum das nicht schon früher aufgegriffen wurde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sehen keine Chance, die Gewerbeertragsteuer durch irgend etwas anderes zu ersetzen. Es gibt kein Angebot, keine Möglichkeit, diese Steuer von über 30 Milliarden DM, verbunden mit dem Hebesatzrecht der Kommunen, mit dieser Gestaltungsform der Kommunen, einem Symbol der Eigenständigkeit, zu ersetzen. Also ist diese Furcht völlig unbegründet.
Wir haben die Chance, die Gewerbekapitalsteuer bis zum 1. Januar 1996 abzuschaffen. Die gesamten Wirtschaftsverbände, Herr Kollege Poß, die sogenannte Achterbande, haben noch einmal einen Brandbrief an die Bundesregierung geschickt: Uns ist die Abschaffung zum 1. Januar 1996 besonders wichtig. - Dies wäre auch ein konjunkturpolitisches Signal, das wir für das nächste Jahr dringend brauchen. Ich bitte Sie, hier nicht irgendwelche Anträge zu stellen, sondern konstruktiv mit uns zu arbeiten. In Brüssel brauchen wir dann nicht vorstellig zu werden.
Das Gespräch mit der Kommission in Brüssel in dieser Frage ist nie abgerissen. Aber sie will klare Signale von uns. Durch Ihre Interventionen sind klare Signale nicht gegeben worden. Machen Sie uns das Geschäft leichter!
Das Wort hat der Kollege Reiner Krziskewitz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst einmal beinhaltet der Antrag die Anerkenntnis, daß die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern für die wirtschaftliche Entwicklung und Konsolidierung schädlich sei und deshalb ausgesetzt werden müsse. Das darf ich erst einmal feststellen.
- Meine Damen und Herren, wieso schlagen Sie es dann vor? Wer von uns in der Union sollte sich ob dieses Erkenntniszuwachses der Opposition nicht freuen? Ich sage das ohne Häme, sondern getragen von der Zuversicht, daß es in diesem Hause durchaus möglich ist, aufeinander zuzugehen und dann die Dinge ihrer ideologischen Form zu entkleiden.
Nun ist nicht nur die Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern für die dortige Wirtschaft als negativ einzustufen, sondern das Gesamtproblem Gewerbekapitalsteuer als Standortnachteil für die deutsche Wirtschaft ist hier schon beschrieben worden. Zugegeben, in den neuen Bundesländern kulminiert dieses Problem zur Groteske.
Reiner Krziskewitz
Da sind sich Opposition - wer das in den einzelnen Bundesländern auch immer sein mag -, Regierung, Gewerkschaften, Verbände, Wirtschaftsforschungsinstitute und Betroffene einig.
Die Eigenkapitalsituation in der ostdeutschen Wirtschaft ist beklagenswert, die Verschuldung mitunter gigantisch, die Liquiditätsengpässe sind beängstigend. Alle sind sich einig - hier schließe ich jedwede Opposition ein -: Es muß geholfen werden, mit Zinsverbilligungen, Eigenkapitalhilfsprogrammen, Liquiditätshilfen, Investitionszulagen usw. Dann droht eine Steuer, die diese Eigenkapitalhilfsprogramme, zinsgünstigen Kredite und Fördermaßnahmen noch besteuert.
Meine Damen und Herren, das kann doch keinen Sinn in sich geben. Besser als auf diesem Bewährungsfeld „neue Bundesländer" kann man die volkswirtschaftliche Unsinnigkeit einer Steuer, die auch noch Kredite und Darlehen einbezieht, nicht demonstrieren.
Im Grunde genommen erkennen Sie dies, meine Damen und Herren von der SPD, in dem vorliegenden Antrag an, haben jedoch Scheu, die Folgerungen zu ziehen.
Der zur gleichen Thematik vom Land Thüringen eingebrachte Bundesratsantrag ist hier in seiner Beweisführung präziser. Ich zitiere:
Die Einführung dieser substanzverzehrenden Steuer zum jetzigen Zeitpunkt würde den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern gefährden und wäre auch deshalb nicht vertretbar, weil zu erwarten ist, daß im Zuge der Unternehmenssteuerreform die Gewerbekapitalsteuer auch in den alten Ländern entfällt.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren, macht also nur Sinn, wenn man entschlossen ist, der Initiative oder der Intention des Freistaates Thüringen folgend, nächstes Jahr die Gewerbekapitalsteuer überhaupt abzuschaffen.
Die Alternative wäre, daß wir uns dann etwa zur gleichen Zeit Jahr für Jahr mit der gleichen Problematik befassen und Jahr für Jahr die Aussetzung verlängern, also statt 1996 dann 1997, statt 1997 dann 1998 sagen.
Lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt bringen. Für mich als Abgeordneten aus den neuen Bundesländern gibt es noch ein anderes Phänomen. Selbst wenn die Gewerbekapitalsteuer als volkswirtschaftlicher Unsinn erkannt wird: Die westdeutschen Kommunen erheben sie, und sie profitieren davon.
Meine Damen und Herren, wie lange wollen wir eigentlich den ostdeutschen Kommunen einreden: Ihr müßt volkswirtschaftlich vernünftiger handeln, ihr müßt auf diese Einnahmen verzichten, und es gibt auch keinen Ausgleich dafür? Ich glaube, daß man diese Position ernsthaft nicht vertreten kann.
Die ostdeutschen Kommunen müssen in die gleiche Lage versetzt werden, Einnahmen zu tätigen, wie es die westdeutschen Kommunen auch tun. Der Vorschlag der Koalition sieht vor, bei Wegfall der Gewerbekapitalsteuer nicht nur die westdeutschen Kommunen für den Ausfall der Gewerbekapitalsteuer zu entschädigen, sondern auch den ostdeutschen Kommunen einen Ausgleich für die bisher nicht erhobene Gewerbekapitalsteuer zu gewähren. Damit erhielten die ostdeutschen Kommunen eine sofortige zusätzliche finanzielle Hilfe.
Der vorliegende Antrag, meine Damen und Herren, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es kommt darauf an, hier nicht stehenzubleiben, sondern weiterzugehen. Das Ziel der Union ist klar: Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in ganz Deutschland und Ausgleichsleistungen auch für die ostdeutschen Kommunen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Oswald Metzger, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Meine Damen und Herren! Zu dieser Stunde ein paar kurze Anmerkungen zum Thema Gewerbekapitalsteuer aus der Sicht unserer Fraktion. Sie wissen ja, wir haben uns inzwischen auf allen Ebenen, auch mit den Landtagsfraktionen, abgestimmt und mit unseren Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern auch für die Abschaffung dieser Substanzbesteuerung ausgesprochen.
Die Mehrheiten sind vorhanden, aber wir wollen natürlich - wenn wir der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer das Wort reden - auch darauf hinweisen, daß Sie im Schnellschußverfahren bis zum 1. Januar 1996 die Abschaffung nicht hinkriegen.
Das wissen auch die Finanzpolitikerinnen und Finanzpolitiker der Koalitionsfraktionen.
Vielleicht noch ein Wort zu meinem Kollegen Vorredner. Die ostdeutschen Bundesländer sollten ihre bessere Finanzausstattung als Folge des Föderalen Konsolidierungsprogramms vielleicht zunächst einmal nutzen, um Mittel an die ostdeutschen Kommunen weiterzugeben, bevor man jetzt von einem Ausgleich für die noch nicht erhobene Gewerbekapitalsteuer redet. Da liegen Probleme auch im kommunalen Finanzausgleich der Bundesländer. Es ist teilweise dramatisch, wie Bundesländer zu Lasten ihrer Kommunen die Finanzausstattung zurückhalten.
Ein paar Eckpunkte für eine Gemeindefinanzreform aus unserer Sicht: Wir brauchen auf jeden Fall Klarheit. Der Parlamentarische Staatssekretär hat zumindest ein Stück weit heute noch einmal auch für seinen Finanzminister gesagt, daß die Gewerbeertragsteuer nicht, wie im Koalitionsvertrag vorgese-
Oswald Metzger
hen, mit dem Ziel der Abschaffung versehen wird, sondern erhalten bleibt. Sie wissen natürlich genau, daß ein Volumen von rund 30 Milliarden Mark seitens des Bundes nie und nimmer durch eine andere Steuer ersetzt werden kann.
Der entscheidende Punkt ist, daß auf jeden Fall die Aussage so getroffen wurde, auch gegenüber den kommunalen Spitzenverbänden. Ich meine, Theo Waigel kann es sich nicht erlauben, den CDU-Präsidenten des Städtetages bei seinem Gespräch am Montag zu brüskieren, indem er sich von dieser Zusage zurückzieht. Da brauchen wir nicht herumzudiskutieren.
Ein anderer Punkt ist die Ausgestaltung der Gewerbeertragsteuer, wenn man sich für den Erhalt dieser einsetzt. Natürlich ist auch die Gewerbeertragsteuer zu einer Großbetriebssteuer degeneriert; das ist keine Frage. Ein relativ kleiner Prozentsatz der Betriebe zahlt diese.
Zu diesem Thema werden auch in der Fachöffentlichkeit Diskussionen geführt. Die Wissenschaftler, teilweise auch die kommunalen Spitzenverbände, hätten am liebsten eine Wertschöpfungssteuer. Wir sind für eine Revitalisierung der Gewerbeertragsteuer, indem man die Bemessungsgrundlage verbreitert und somit z. B. auch freie Berufe und Anbieter öffentlicher Dienstleistungen einbezieht. Dann hätten die Gemeinden auf Grund der Entwicklung, daß die Gewerbeertragsteuer einen breiteren Kreis erfaßt, Spielräume.
Wir hätten dann auf jeden Fall die Situation, daß auch bei den bisher allein zahlenden Unternehmen in der Wirtschaft, den größeren Betrieben, Entlastungswirkungen entstünden und die Gemeinden nicht als Profiteure aufträten. Wir sehen also durchaus den wirtschaftlichen Zusammenhang in diesem Bereich.
Wichtig ist uns also, die Gewerbeertragsteuer durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zu revitalisieren.
Ein weiteres wichtiges Stichwort in der Debatte um die Gemeindefinanzreform, die sich nicht nur als Anhängsel der Unternehmensteuerreform entpuppen darf, wäre ein klares Wort der Bundesregierung zum Thema Soziallastenausgleich für die Kommunen. Das größte Problem in Deutschland ist doch derzeit, daß von den deutschen Kommunen und Landkreisen auf Grund der Langzeitarbeitslosigkeit - und natürlich auch auf Grund der Maßnahmen, die im Haushaltsgesetz 1996 vorgesehen sind, zusätzlich Mittel aus der Arbeitslosenhilfe in den Bereich der Sozialhilfe zu übertragen; in den letzten Jahren gab es in diesem Bereich ein Wachstum mit Raten zwischen 8 % und 15 % - inzwischen Volumina von über 54 Milliarden DM an Sozialhilfekosten geschultert werden müssen. An dieser Last muß sich der Bund beteiligen. Das ist ein Eckpunkt, wenn man eine umfassende Gemeindefinanzreform durchführen will.
Dazu gibt es überhaupt keine Vorstellungen. Es ist außerordentlich schwierig - das sage ich selbstkritisch als jemand, der gestern an dieser Stelle bei der Diskussion um die Haushaltslöcher im Etat 1996 geredet hat -, in dieser Situation Umschichtungsspielräume zu entwickeln, die die Finanzausstattung der Kommunen tatsächlich verbessern. Dies wird nur dann gehen, wenn der Bund, genauso wie die Länder und natürlich auch die Kommunen, seine Hausaufgaben macht und seine Ausgabeansätze zurückfährt und sparsamer mit öffentlichen Mitteln umgeht. Sonst bekommen wir kein vernünftiges Gemeindefinanzsystem hin.
Soviel noch heute nachmittag kurz vor der Abreise nach Hause.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Sinneswandel bei der Opposition ist schon erstaunlich. Man kann aber immer dazulernen.
Sie wissen, daß wir mit dem Jahressteuergesetz 1996 und der dazugehörigen Grundgesetzänderung in Art. 106 die Gewerbekapitalsteuer in ganz Deutschland abschaffen und die Gewerbeertragsteuer senken wollten. Den entstehenden Finanzausfall für die Kommunen - daran darf man noch einmal erinnern - wollten wir nicht nur durch eine Beteiligung an der Umsatzsteuer kompensieren. Nein, wir wollten sogar noch 2 Milliarden DM draufsatteln.
Das hätte man, wie gesagt, definitiv im Bundesrat klären können, wenn man es gewollt hätte.
Zum Schaden der Kommunen gerade in den neuen Ländern verweigerten SPD und Bündnis 90 die Zustimmung zur erforderlichen Grundgesetzänderung. Die Koalitionsparteien wiesen schon damals sehr eindringlich auf die verheerenden Auswirkungen durch die unsinnige Verweigerung der Opposition - damals jedenfalls war das so -
für die neuen Länder hin.
Im Mai dieses Jahres wollten Sie der Regierung ein Bein stellen - das war offensichtlich - und nahmen
Jürgen Türk
dafür eiskalt die Verunsicherung von vielen tausend Unternehmen in Ost und West in Kauf.
- Ich sagte gerade, daß man das im Bundesrat noch hätte klären können.
Jetzt, nur fünf Monate später, merken Sie selbst, was Sie mit Ihrer Verweigerung von Arbeitsplätzen, so sehe ich das, angerichtet haben. Mit Ihrem Antrag „Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern für ein Jahr" wollen Sie nun das Schlimmste verhüten; das ist offensichtlich.
Dazu sage ich Ihnen: Wenn Sie endlich zur Einsicht gekommen sind, daß die Gewerbekapitalsteuer ein ökonomisches Hemmnis darstellt, warum schaffen Sie dann nicht mit uns gemeinsam diese Steuer einfach ab und stimmen unserem fairen Ausgleich für die Kommunen zu?
Was soll auch dieser ökonomische Blödsinn der befristeten Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer für ein Jahr? Ich frage mich wirklich: Was soll das: ein Jahr? Diese Befristung ist ein genauso großes Hemmnis für Investitionen, als wenn wir die Gewerbekapitalsteuer in Ostdeutschland einführen würden. Kein Investor trifft seine Entscheidungen auf der Grundlage von wirtschaftlichen Bedingungen, die nur für ein Jahr gelten, und schon gar nicht auf ein Versprechen von Ihnen hin, die Sie erst vor fünf Monaten den Unternehmen bei der Gewerbesteuer in den Rücken gefallen sind; das muß man schon einmal so klar sagen.
Die Unternehmen brauchen für ihre Investitionsentscheidungen langfristige Rahmenbedingungen. Das ist eigentlich, glaube ich, unser sinnvoller Ansatz. Wir wollen die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in Ost und West; denn sie besteuert jede Kapitalsubstanz, ob nun Fremd- oder Eigenkapital, und vernichtet damit natürlich Investitionspotentiale.
In den neuen Bundesländern, wo wir durch Eigenkapitalprogramme, Eigenkapitalfonds und verbilligte Investitionskredite versuchen, erst einmal eine Kapitalsubstanz aufzubauen, wäre die Einführung einer Substanzsteuer tatsächlich kontraproduktiv.
Aber auch in Westdeutschland schadet diese Steuer der Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Denn egal, ob ein Unternehmen Gewinne macht oder nicht, diese Steuer wird ab einem Gewerbekapital von 120 000 DM erhoben. Dabei setzt sich die Steuerbemessungsgrundlage aus Gewerbekapital und der Hälfte der Dauerschulden zusammen. Hier werden also sogar Schulden besteuert, und das kann ja wohl nicht wahr sein. Damit schadet diese Steuer gerade Unternehmen in schwierigen finanziellen Situationen. Diese Belastung ist auch für Westdeutschland ein Standortproblem und muß deshalb abgeschafft werden.
Ich fordere daher SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf, unseren Vorschlägen zum Jahressteuergesetz 1996 zu folgen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe-Jens Rössel, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ostdeutschland ist die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer bis 1995 ausgesetzt; eine Entscheidung, die im Hinblick auf den gravierenden wirtschaftlichen Umgestaltungsprozeß sowie die damit verbundenen Ertragsprobleme ostdeutscher Unternehmen gerechtfertigt war und gerechtfertigt ist.Zugleich muß aber darauf hingewiesen werden, daß die dadurch den ostdeutschen Städten und Gemeinden entstandenen Einnahmeverluste weder vom Bund noch von den Ländern erstattet worden sind. Damit gibt es bereits seit fünf Jahren eine Schlechterstellung der Ostkommunen im Vergleich zu den Westkommunen, die tatsächlich so nicht länger hingenommen werden kann.Schätzungen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes zufolge würde, bezogen auf das Jahr 1995, das Gewerbekapitalsteueraufkommen in Ostdeutschland brutto etwa 500 Millionen DM betragen.Der vorliegende Antrag der SPD will angesichts der bisherigen Nichtverabschiedung der Gewerbesteuerpläne der Koalition die Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in Ostdeutschland auf das Jahr 1996 ausdehnen. Mit Blick auf die weiterhin schwierige Ertragslage der meisten ostdeutschen Unternehmen, speziell des produzierenden Gewerbes - nicht der Banken und Versicherungen; auf diese trifft das nicht annähernd zu -, würden wir diesen Weg mitgehen. Die Zustimmung der EU scheint mir möglich.Angesichts der vielerorts dramatischen Finanzsituation der Kommunen darf dieser Weg allerdings nicht - das ist unsere Kritik an dem Antrag - ohne angemessenen, fairen Ausgleich für die Kommunen beschritten werden. Ein Hinweis darauf findet sich in dem Antragstext überhaupt nicht; ich bedaure das sehr.
Im SPD-Antrag fehlt eine Verknüpfung kommunaler und wirtschaftlicher Interessen. Das ist unsere Kritik, Herr Poß. Ich habe das so festgestellt; es war uns sehr aufgefallen.Die Finanzsituation der meisten ostdeutschen Kommunen ist in der Tat kritisch. Das Finanzierungsdefizit beträgt in diesem Jahr rund 3 Milliarden DM.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5321
Dr. Uwe-Jens RösselAn eigenen Steuereinnahmen hat eine Gemeinde in Ostdeutschland pro Kopf nur etwa ein Drittel dessen, was eine Gemeinde in Westdeutschland zur Verfügung hat. Sie hängt daher in besonders hohem Maße am Tropf von Bund und Ländern. Auch die Einbeziehung in den Länderfinanzausgleich 1995 - Herr Metzger hat das angesprochen - hat nicht zu einer Entspannung geführt. Die Länder haben die Mehreinnahmen überwiegend zur Sanierung der Landeshaushalte und nicht zur Verbesserung der kommunalen Finanzausstattung genutzt. Eine deutliche Kritik an den ostdeutschen Ländern ist angebracht.Darüber hinaus schweben die sogenannten Altschulden auf kommunale gesellschaftliche Einrichtungen wie ein Damoklesschwert über zumindest 1 400 ostdeutschen Städten und Gemeinden. Nach unserer Auffassung - ich hoffe, daß das am Dienstag in Berlin verfassungsrechtlich bestätigt wird - sind das keine kommunalen Schulden, sondern Posten aus dem Staatshaushalt der DDR.
Die Finanznot der Kommunen in Ostdeutschland hat gravierende soziale und ökonomische Folgen: Der Bestand kommunaler Einrichtungen ist gefährdet; kommunale Investitionen stagnieren in Ostdeutschland - und das bei einem riesigen Bedarf. Das ist eine unhaltbare Situation. Der Mittelstand leidet darunter; seine Ertragssituation verschlechtert sich.Aus all den genannten Gründen kann die Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in Ostdeutschland für das Jahr 1996 - die wir mittragen würden, Herr Poß; ich will das noch einmal klar und deutlich sagen - nur mit einem angemessenen Ausgleich für die Kommunen erfolgen. Der Bund und die Länder - das ist unser Vorschlag - müßten dazu unverzüglich in Verhandlungen treten.
Zeit!
Zugleich fordern wir die Bundesregierung auf, endlich ihr angekündigtes Konzept auf den Tisch zu legen, damit wir darüber sprechen können.
Wir jedenfalls haben unsere Vorschläge für die Reform der Kommunalfinanzierung und die Lösung des Altschuldenproblems in den Deutschen Bundestag eingebracht und bitten, darüber in der nächsten Zeit weiter zu debattieren. Wir sollten im Bundestag endlich Nägel mit Köpfen machen!
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/1856 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung
- Drucksache 13/2576 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Innenausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSU.
Herr Präsident! Der Entwurf der Strafprozeßordnung, den wir heute beraten, betrifft speziell den Bereich des Haftrechtes und will gezielt auf Notwendigkeiten reagieren, die sich bei der praktischen Durchsetzung des vor einem Jahr verabschiedeten Verbrechensbekämpfungsgesetzes ergeben haben.
Mit dem vorliegenden Entwurf kommen die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. hiermit auf ihre Initiative zurück, die bereits bei den Beratungen zum Verbrechensbekämpfungsgesetz Bestandteil ihres Gesetzentwurfes war, dann jedoch im Vermittlungsausschuß gescheitert ist. Von daher ist die Bedeutung des vorliegenden Entwurfes genau in diesem Zusammenhang zu beurteilen, nämlich auf der Basis der Beratungen des am 28. Oktober 1994 verabschiedeten Verbrechensbekämpfungsgesetzes.
Auf Grund dieses Gesetzes wurde im Rahmen der Strafprozeßordnung u. a. das dort zuvor bereits in den §§ 417 ff. StPO geregelte beschleunigte Verfahren fortentwickelt. Dies geschah in der gebotenen Absicht, seinem Hauptanliegen, nämlich der Koordinierung, Vereinfachung und Beschleunigung von Strafverfahren, gerecht zu werden. Das Erfordernis, dieses beschleunigte Verfahren auch durch dringende Änderungen im Haftrecht zu ergänzen, wurde von den Fraktionen der CDU/CSU sowie der F.D.P. bereits in ihrem Entwurf zum Verbrechensbekämpfungsgesetz gesehen und behandelt. Zwar ist unser damaliger Entwurf genau in dem heute zur Debatte stehenden Punkt im Vermittlungsausschuß gescheitert, jedoch hat gerade die Praxis gezeigt, daß man sich unseren Argumenten nicht verschließen kann, wenn man Verbrechensbekämpfung wirklich effektiv gestalten will.
So muß man sich gleich zu Beginn unserer Überlegungen die Frage stellen: Was hat das beschleunigte Verfahren bzw. seine Fortentwicklung auf Grund des Verbrechensbekämpfungsgesetzes in der Praxis gebracht? Hierbei wird man sehr schnell feststellen müssen: Es hat sich noch nicht sonderlich bewährt. Die Anwendungsakzeptanz des beschleunigten Verfahrens im Justizalltag ist steigerungsfähig. Dies liegt aber gerade daran, daß dieses Verfahren ohne das hier in Rede stehende Gesetz kaum durchführbar ist.
Ronald Pofalla
Ich gehe sogar so weit, zu sagen, daß der ursprüngliche Zweck einer Fortentwicklung des beschleunigten Verfahrens auf Grund des Verbrechensbekämpfungsgesetzes erheblich gefährdet wäre, würde dieser Teil, der heute hier zur Debatte steht, letztendlich nicht in die Strafprozeßordnung aufgenommen werden. Das Institut des beschleunigten Verfahrens als solches ist nämlich nur dann sinnvoll, wenn der Beginn seiner Durchführung, also die Anwesenheit des Beschuldigten, sichergestellt ist. Sollten bereits hierbei gravierende Verzögerungen auftreten, so verdient das Verfahren seinen Namen nicht mehr, hat es nach meiner Überzeugung sein Klassenziel verfehlt und wird folglich im Justizalltag mit Recht schlichtweg ignoriert.
Der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens und seines von uns favorisierten Haftinstrumentariums erstreckt sich in erster Linie auf Bagatelldelikte, bei denen die Voraussetzungen tatsächlicher oder rechtlicher Überschaubarkeit derart evident sind, daß es andernfalls nicht zu einem beschleunigten Verfahren kommen würde.
Ein weiterer Anwendungsbereich betrifft die sogenannten reisenden Straftäter, sowohl aus links- als auch aus rechtsextremistischer Ecke. Gerade die aktuelle Berichterstattung der letzten Monate hat gezeigt, daß sich hier ein regelrechter Tourismus entwickelt hat. Ich denke hierbei neben den „Chaostagen" in Hannover - die Urheber selbst haben diese Bezeichnung gewählt - auch an zweifelhafte Gedenkveranstaltungen und Aktionen aus dem rechtsradikalen Milieu.
Ferner sind die sich häufenden Heimsuchungen harmloser Sportveranstaltungen durch Hooligans aus dem ganzen Land zu nennen, die sich allesamt durch eine ähnliche Reisefreudigkeit auszeichnen. Man reist an, um Chaos zu verbreiten, und man reist, nachdem - vielleicht - polizeiliche Feststellungen erfolgt sind, sofort wieder ab. Welcher Zeuge kann da schon Monate später, wenn die eigentliche Hauptverhandlung stattfindet, eine gesicherte Aussage darüber treffen, ob es sich bei dem Beschuldigten bzw. Angeklagten wirklich um den handelt, den man vor Monaten anläßlich eines möglichen Strafdeliktes erkannt zu haben glaubte? Hier tun sich nach meiner Überzeugung wahre Abgründe auf.
Der Handlungsbedarf ist auch in generalpräventiver Hinsicht enorm. Unserer Ansicht nach kann nur die Sicherstellung der Anwesenheit eines Beschuldigten zwecks wirklich schneller Durchführung eines Strafverfahrens eine echte Abschreckung für solche Täter bringen, die sich regelmäßig hinter der Anonymität ihres Aussehens sowie ihrer Herkunft verstecken. Sie vereiteln ihre Verfolgung dadurch, daß sie sich nach Beendigung ihrer Reise sicher fühlen dürfen. Unser Rechtsstaat ist nämlich da in Gefahr, wo Sanktionen nicht mehr ernstgenommen werden, bloß weil die Justiz sie wegen fehlender Befugnisse nicht durchzusetzen vermag.
Der vorhandene und vielzitierte Haftgrund der Fluchtgefahr ist hierbei eben nicht ausreichend - wie manche behaupten -, weil er andere Fälle betrifft. Vorwiegend geht es doch bloß um eine Gefährdung des schnellen Ablaufs der Strafverhandlung durch Nichterscheinen zum beschleunigten Verfahren und nicht um eine generelle Vereitelung. Daß der Grund der Fluchtgefahr sicherlich vielfach gleichzeitig vorliegen wird, macht jedoch die Hauptverhandlungshaft nicht etwa überflüssig. Immerhin gibt es doch auch Straftäter, die durchaus einen festen Wohnsitz sowie einen Arbeitsplatz haben und denen dann mit den vorhandenen Mitteln der Strafprozeßordnung nicht in dem gebotenen Maße begegnet werden könnte.
Eine etwaige Gefahr der Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze wird durch den vorliegenden Entwurf nicht eröffnet; denn auch beim Haftbefehl zur Hauptverhandlung gelten natürlich die allgemeinen Vorschriften. Hierbei bleiben insbesondere die in § 112 Abs. 1 StPO postulierte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die allgemeinen Anforderungen an Form und Inhalt eines Haftbefehles nach § 114 StPO sowie schließlich auch die Möglichkeit der Aussetzung des Vollzuges durch den Richter nach § 116 StPO unabdingbar. Geradezu selbstverständlich steht dem Beschuldigten daneben die Ergreifung des üblichen Rechtsbehelfs, der Haftprüfung, und der Haftbeschwerde frei.
Ich erwähne dies nur deshalb ausdrücklich, weil Gegner der Hauptverhandlungshaft - wir werden es gleich hier hören - gerne so tun, als gäbe man durch Einführung derselben sämtliche Standards auf,
die unsere mitteleuropäische Rechtskultur gerade im Bereich der Strafprozeßordnung auszeichnen. Die Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls obliegt schließlich gemäß § 127b Abs. 3 unseres Entwurfes demjenigen Richter, der für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zuständig ist.
Wir glauben, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Lücke schließen zu müssen, die durch das Ergebnis des damaligen Vermittlungsverfahrens entstanden ist. Wir glauben, daß die Verbrechensbekämpfung mit der Einführung der §§ 417 StPO ff. von der Praxis nur dann wirksam wahrgenommen werden kann, wenn das Institut, das ich darzustellen versucht habe, nunmehr über eine Ergänzung der Strafprozeßordnung aufgenommen wird.
Das Wort hat der Kollege Alfred Hartenbach, SPD.
Alfred Hartenbach SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Man könnte Sie schon beinahe persönlich begrüßen, aber damit ginge mir zuviel von meiner Redezeit verloren. Deswegen nehmen Sie bitte diese pauschale Anrede an.
Herr Pofalla, mein Rechtsempfinden wird heute auf eine harte Probe gestellt. Konservative und Liberale schlachten - ich sage: schlachten - ein kostbares Gut unserer Verfassung: das verbriefte Recht des Menschen auf Freiheit. Nach Ihrer Vorschrift, die Sie
Alfred Hartenbach
eben so bewegt vorgetragen haben, meine Herren aus der Koalition, kann künftig jeder auf frischer Tat Betroffene vorläufig festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt werden, wenn eine Gerichtsentscheidung binnen Wochenfrist möglich ist und die Befürchtung besteht, die festgenommene Person werde die Hauptverhandlung schwänzen.
Ich prophezeie Ihnen: Die Gewahrsamszellen der Polizei und die Untersuchungshaftanstalten werden künftig eine Übervölkerung mit Eierdieben erleben. Wohnsitzlose Ladendiebe, Schwarzfahrer oder Zechpreller werden es sein, die man erwischt. Der Beifall der Stammtische dürfte Ihnen gewiß sein, da Sie doch für Ordnung sorgen und die Tippelbrüder von der Straße sind. Aber, meine Herren, das ist ein teures Sozialprogramm. Denn die Kosten für einen U-
Haft-Platz sind genauso hoch wie die für eine Übernachtung in einem Mittelklassehotel.
- Mein lieber Herr Lanferman, ich spreche Sie noch direkt an.
Nachdenklich muß es aber stimmen, wenn man begreift - das ist bereits gesagt worden -: Beim Verhaften dieser Eierdiebe kommt es künftig nicht mehr auf den festen Wohnsitz an; den darf der Eierdieb ruhig haben. Die Koalition schafft hier einen völlig neuen Haftgrund. Ich bezeichne ihn als den Haftgrund der Befürchtung.
Ich will das gerne einmal für die, die es noch nicht verstanden haben, etwas näher erläutern. Da gibt es die Hausfrau, die zum dritten oder vierten Mal beim Ladendiebstahl erwischt wird. Da gibt es den Autofahrer, der zum wiederholten Mal betrunken am Steuer seines Pkw ertappt worden ist. Beide haben schon einmal einen Gerichtstermin geschwänzt - vielleicht nur aus Angst. Aber diese Tatsache läßt befürchten, daß sie auch zum nächsten Hauptverhandlungstermin nicht kommen - und schwupp sie sind im Kasten. So einfach ist das.
Ich will einmal ein bißchen überspitzen, weil Übertreibung anschaulich macht. Da gibt es den Studenten, der den Bundeskanzler mit Farbeiern bewirft. Weil man befürchten muß, daß Studenten morgens lange schlafen - das tun, davon abgesehen, auch Abgeordnete manchmal -, packt man ihn ein: sieben Tage U-Haft, damit man sicher ist, daß er kommt. Bei diesem Haftgrund der Befürchtung kann man das Fürchten bekommen.
Das bisher gültige Haftrecht stellt ganz andere Anforderungen. Wir haben die klaren Feststellungen bei flüchtigen Tätern. Beim Haftgrund der Fluchtgefahr müssen dringende Gründe vorliegen. Selbst beim Haftgrund der Verdunkelungsgefahr erwartet man, daß der Verdacht einer Einwirkung auf andere begründet ist. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr erfordert einen begründeten Verdacht. Was Sie mit dem Haftgrund der Befürchtung wollen, ist der unmittelbare Ausstieg aus einem rechtsstaatlichen Verfahren. Die Beschränkungen der U-Haft nach § 113 StPO haben Sie überhaupt nicht erwähnt; Sie haben sie sogar ausdrücklich ausgeschlossen.
Sie wollen, meine Herren von der Koalition, die reisenden Straftäter packen, also die wirklich Kriminellen. Für diesen Personenkreis reicht auch das geltende Haftrecht mit all seinen Tatbeständen und Facetten völlig aus. Für reisende Straftäter, die ja in aller Regel bandenmäßig auftreten und schweren wirtschaftlichen oder körperlichen Schaden verursachen, ist das Verfahren, das nach der Verhaftung anzuwenden ist, also das beschleunigte Verfahren, nach meiner Auffassung und nach meiner Erfahrung als langjähriger Praktiker ohnehin absolut ungeeignet. Ich gehe einmal davon aus, Sie kennen die Bestimmungen der §§ 417 ff. StPO, das beschleunigte Verfahren. Dann wissen Sie auch, daß die Höchststrafe ein Jahr ist. Sie wissen auch, daß der Sachverhalt einfach und die Beweislage klar sein muß. Sie wissen, daß beim reisenden Straftäter, den Sie eben angesprochen haben, weder der Sachverhalt einfach noch die Beweislage klar sein wird. Sie wissen ebenfalls, daß das Höchstmaß der Strafe vermutlich nicht ausreichen wird. Gerade Ihre Hinweise, Herr Pofalla, auf die Chaostage in Hannover sind der schlagende Beweis dafür, daß diese Gruppe mit dem beschleunigten Verfahren einfach nicht zu bedienen ist.
Lassen Sie mich auch einmal ein paar ganz praktische Probleme bei der Hauptverhandlungshaft aufzeigen. Sie beklagen, daß die Gerichte nur in wenigen Fällen im beschleunigten Verfahren verhandeln. Richtig. Warum? - Weil der Terminkalender bis obenhin voll ist und es sich kein Gericht erlauben kann, nur im Hinblick darauf, daß vielleicht möglicherweise irgendwann einmal ein beschleunigtes Verfahren verhandelt wird, einen Gerichtstag nicht voll auszuterminieren. Das gleiche gilt in bezug auf die Frage: Wie weiß der Richter, ob jemand verhaftet wird? - Er kann seinen Terminkalender nicht offenlassen, und da, wo es ebenfalls um festgelegte Gerichtstage geht, nämlich bei den Schöffengerichten, bei denen man ja auch anklagen kann, droht die Gefahr, daß auf Grund Ihres Gesetzentwurfs dem Angeklagten der gesetzliche Richter entzogen wird.
Wir sind bisher ganz gut und vor allen Dingen rechtsstaatlich korrekt mit dem geltenden Recht gefahren. Wenn Sie es nicht wissen, sage ich es Ihnen: Auch nach dem geltenden Recht konnte man ohne den Angeklagten in der Hauptverhandlung verhandeln, wenn er darauf hingewiesen wurde und wenn eine Geldstrafe in Betracht kam. Wenn man ihn brauchte, konnte man ihn mit einem Haftbefehl oder einem Vorführungsbefehl holen. Auch die diesbezüglichen Regelungen nach § 230 StPO haben hundertprozentig hingehauen. Ich denke, daß Ihnen jeder Richter sagen wird: Eine nennenswerte Verzögerung hat es bei diesem Verfahren nicht gegeben.
Ich denke, wir kommen mit diesem Gesetzentwurf nicht weiter. Sie werden den knappen Haftraum mit Eierdieben belegen und dann keinen Platz mehr für die eigentlichen Straftäter haben, die wir in Untersuchungshaft nehmen müssen, um aufzuklären. Sie werden auch Ihr ehrgeiziges Ziel nicht erreichen, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken, wenn Sie nur gegen Kleinkriminelle die Keule der drohenden Haft schwingen. Ich denke, wir stärken das Vertrauen in den Rechtsstaat eher, wenn wir gegen das
Alfred Hartenbach
organisierte Verbrechen in der Wirtschaft und auch in den Verwaltungen vorgehen.
Wenn Sie glauben, Sie schrecken mit diesem Hauruckverfahren irgendjemanden ab, dann kennen Sie sich in der Psyche eines Täters nicht aus.
Ich muß noch einmal etwas ansprechen, was mir auf der Seele liegt und mich sehr verärgert hat. Ich möchte hier ein wenig die Richterinnen und Richter und die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte gegen Sie aufbringen. Sie schreiben in Ihrer Begründung:
Das Mittel der Hauptverhandlungshaft soll auch ein Anreiz für die Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte sein, insgesamt auf eine möglichst zügige Anberaumung der Hauptverhandlung zu achten.
Meine Herren, dieser Satz ist eine Beleidigung für alle Richterinnen und Richter und für alle Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die ohnehin bereit sind, so sachgerecht und so zügig wie möglich zu verhandeln.
Nein, Ihr knapper Gesetzentwurf - besser: Ihre Drohschrift - taugt zu nichts. Er taugt nicht zur Beschleunigung von Verfahren, aber stellt die Unabhängigkeit der Richter in Frage. Er taugt nicht zur Abschreckung, aber greift das Recht auf Freiheit der Person an. Er taugt nicht zur Stärkung des Vertrauens in den Rechtsstaat, aber ist ein Schlag gegen ein rechtsstaatliches Verfahren.
Zum Schluß stelle ich noch eine Frage nach dem politischen Anstand in den Raum, eine Frage, die auch Sie, Herr Pofalla - aber aus Ihrer Sicht -, angesprochen haben. Wir beide waren damals noch nicht im Bundestag, aber wir wissen beide, daß die Koalition die SPD nur deshalb beim Verbrechensbekämpfungsgesetz auf ihre Seite gezogen und letztendlich zur Zustimmung bewogen hat, weil man erklärt hat, daß die Hauptverhandlungshaft vom Tisch ist. Nun frage ich: Warum bringen Sie diesen Gesetzentwurf heute in einem Hauruckverfahren, in einem Eilverfahren ein? Ist es Wahltaktik für Berlin? - Brauchen Sie doch gar nicht.
Ich sage: Das ist Wortbruch, Freunde! Auch deshalb rufe ich Ihnen zu: Ziehen Sie diesen gräßlichen Antrag zurück, im Namen des Volkes!
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht ist das eben von Herrn Hartenbach Gesagte der SPD ja eine Lehre, in Zukunft etwas weniger auf eine Große Koalition und etwas mehr auf Kooperation in der Opposition zu setzen. Es würde mich freuen.
Dem Rechtsstaat wird in den letzten Tagen einiges zugemutet, getreu dem Motto: Stell dir vor, es wird die Strafprozeßordnung umgekrempelt und keiner schaut hin. Letzte Nacht galt es, die Kronzeugenregelung zu verhandeln. Es war nach zwei Uhr, die Redebeiträge wurden zu Protokoll gegeben. Für heute wurde eilig die Einführung der Hauptverhandlungshaft unter „ferner liefen" auf die Tagesordnung gesetzt. Da darf man doch wohl gespannt sein auf die Rechtfertigung für den angeblich dringenden Handlungsbedarf.
Die Begründung Ihres Gesetzentwurfes allerdings ist enttäuschend, heißt es doch lediglich, das durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 modifizierte beschleunigte Verfahren werde von den Gerichten nur in geringem Maße genutzt, dem wolle man Abhilfe schaffen. Sie wollen suggerieren, Staatsanwaltschaften und Richter hätten es massenhaft mit Fällen zu tun, die sich zur Aburteilung in einem grob verkürzten Verfahren eignen, und könnten den gesetzgeberischen Wunschvorstellungen bloß deshalb nicht entsprechen, weil sich die Angeklagten regelmäßig vor der Hauptverhandlung aus dem Staub machten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfange die Staatsanwaltschaften der Länder von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, einen Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren zu stellen.
Und in der Antwort auf eine Frage meines Fraktionskollegen Manfred Such für die Fragestunde vom 11. Oktober 1995, vom Mittwoch dieser Woche, heißt es:
Erkenntnisse über die Zahl nicht zur Hauptverhandlung erschienener Angeklagter und über die durchschnittliche Dauer von einer Tatentdekkung bis zur Hauptverhandlung lassen sich den amtlichen Statistiken nicht entnehmen.
Aus „Erfahrungsberichten" sei jedoch bekannt, daß eine sofortige Verhandlung im beschleunigten Verfahren „nicht selten" daran scheitere, daß der Beschuldigte für die Durchführung der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung stehe.
Voker Beck
Meine Herren, ist es wirklich Ihr Ernst, einen derart gravierenden Einschnitt in Freiheitsrechte von Menschen auf Grund einer solchen vagen Annahme vorzunehmen? Immerhin sprechen wir hier über das Wegsperren von Menschen für die Dauer von bis zu einer Woche. Einzelne „Erfahrungsberichte" wollen Sie zur Grundlage machen? Das ist Gesetzgebung nach dem Hörensagen. So geht das nicht!
Aber selbst wenn man einmal unterstellt, Sie hätten sorgfältig gearbeitet und es gebe umfassende Untersuchungen, die die von Ihnen aufgestellten Thesen stützen würden: Eine Zustimmung zu Ihrem erneuten Vorstoß wäre trotzdem absolut indiskutabel.
Um die Brisanz des geplanten Eingriffs in die Freiheitsrechte der Bürger zu ermessen, muß man sich einmal die Reichweite der geltenden Regelungen bewußt machen. Schon nach geltendem Recht kann gegen den Angeklagten, der ohne genügende Entschuldigung der Hauptverhandlung fernbleibt, Haftbefehl erlassen werden, § 230 Abs. 2 StPO. Bei Fluchtgefahr greift ohnehin die Regelung des § 112 Abs. 2 StPO. Die vorgeschlagene Regelung besagt also: Auch ohne Fluchtgefahr kann der Beschuldigte sozusagen „auf Vorrat" inhaftiert werden. Mit rechtsstaatlichen Verfahrensregeln hat das nichts mehr zu tun.
Dieses Gesetz ist schlicht und ergreifend verfassungswidrig. Ersparen Sie sich die Peinlichkeit, daß Karlsruhe wieder einmal eine offenkundige gesetzgeberische Fehlleistung korrigieren muß! Sie können die entsprechende Entscheidung nachlesen, in der die Kriterien für solche Maßnahmen benannt sind. Dem werden Ihre Begründung und das gesetzgeberische Motiv auf keinen Fall gerecht.
Ich kann nur an alle rechtsstaatlich Denkenden in diesem Hause appellieren - dazu zähle ich auch Sie noch -: Verweigern Sie sich dem Ansinnen dieses Gesetzentwurfes!
Vielen Dank und schönes Wochenende!
Das Wort hat der Kollege Kleinert, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wenn man das so hört, wie der Rechtsstaat untergeht, dann muß man denken, daß Ihr Wahrnehmungsvermögen ein klein wenig gegenüber dem beeinträchtigt ist, was sich tatsächlich abspielt. Wir kennen die von Ihnen zitierten Bestimmungen, wonach man einen Haftbefehl erlassen kann, wenn jemand nicht zur Hauptverhandlung erscheint, und wonach man den Betroffenen „auf Vorrat" - wie Sie das so schön ausgedrückt haben, obwohl es mir gar nicht gefällt, weil ich nämlich die Freiheitsrechte des einzelnen so sehr schätze -
in Haft nehmen kann. Das findet dann aber im Rahmen von Hauptverhandlungen statt, für deren Terminierung es heute schon bei kleinsten Delikten etwa sechs bis acht Monate braucht.
Dabei kommt es vor, daß niemand mehr weiß, was gewesen ist, daß sich selbst der Täter - von den Zeugen ganz zu schweigen - so weit von der Tat entfernt hat, daß ihn die anschließende Strafe völlig überrascht, ihm diese irgendwie ungerecht, jedenfalls nicht im Einklang mit seiner eigenen Persönlichkeit erscheint, während er einige Tage nach der Tat noch ganz genau weiß, wie das mit dem Stein war, den er gegen die Frau oder das Kind geworfen hat; oder wie das mit den Schüssen war, die kürzlich aus einem gewissen Haus in Hannovers Nordstadt auf harmlose Passanten abgegeben worden sind, weil man dort Freiräume braucht: nicht nur, um zu wohnen, sondern auch, um aus den Fenstern auf Leute zu schießen. Inzwischen ist es auch Ihren sozialdemokratischen Genossen unheimlich geworden. Sie haben jetzt - das wechselt da sehr abrupt in den Verhaltensweisen - das Haus abgerissen, gleich sofort das ganze Haus. Na, gut. Wir wollen da keine Häuser in größerem Stil abreißen, sondern wir sagen: Wenn es nicht um Eierdiebe geht - von Eierdieben steht in diesem Gesetzentwurf nichts -, sondern um Ausschreitungen bei Demonstrationsstraftaten, dann möchten wir gerne, daß die Betreffenden, solange ihre Erinnerung an die Tat noch so frisch ist, daß man auch auf ihr Unrechtsbewußtsein hoffen kann, wenn sie durch den Richter entsprechend darauf hingewiesen werden, auch zur Hauptverhandlung kommen.
Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte sehr.
Herr Kollege Kleinert, stimmen Sie mit mir überein, daß bei den Delikten, die Sie eben angesprochen haben, eine vernünftige, saubere Aufklärung durch die Polizei, die nicht unter Zeitdruck steht, ein sauberes Verfahren in der ersten Hauptverhandlung, also vor dem Eingangsgericht, viel besser ist als eine schnelle, aber in aller Regel unsaubere Aufklärung, viel besser ist als eine schnelle, aber in aller Regel nicht tiefgehende erste Hauptverhandlung mit der Folge, daß man in einer zweiten Instanz dieses Verfahren wieder aufgreift und exakt dann das erreicht, was Sie anprangern, daß nämlich dieses zweite Verfahren im Sinne des Staates schiefgeht, daß nämlich dann wegen mangelnder Aufklärung ein Freispruch erfolgt?
Bei den Fällen, die uns vor Augen stehen, glauben wir, daß es sich eben anders verhält, als Sie es darstellen. Wir glauben, daß es gar nicht zur Berufung kommt, weil der Betreffende so kurz nach der Tat bei voller Erinnerungsfähigkeit - ich wiederhole mich: nicht nur des Zeugen, sondern auch seiner selbst; das ist straf-
Detlef Kleinert
rechtspolitisch der wichtigere Punkt - einsieht, daß er zu Recht bestraft worden ist. Das wird er viel eher binnen einer Woche - nicht in jedem Fall erst nach einer Woche - einsehen als nach acht Monaten. Das lehrt nun einmal unser aller Einblick in die Wirklichkeit.
Deshalb glauben wir, daß sich der Polizeibeamte in den Fällen, in denen er den Mann gesehen hat, auch noch nach drei Tagen an ihn erinnern und sagen kann: Er hat den Stein geworfen. Es wird selbst bei der neuerdings eingerissenen Gewohnheit unserer Strafgerichte, zum schriftlichen Verfahren überzugehen, obwohl wir nach den Vorstellungen der Strafprozeßordnung von der Mündlichkeit der Hauptverhandlung und von der Gesamtheit der Hauptverhandlung ausgehen sollten, dazu reichen, daß der Richter mit dem nötigen soliden strafrechtlichen Grundwissen und mit der nötigen Lebenserfahrung ein sauberes und auch dem Angeklagten einleuchtendes Urteil wird sprechen können, wenn er den Angeklagten so kurz nach der Tat befragen kann.
Es ist nicht so, daß Sie Ihre Kollegen, Herr Richter Hartenbach, irgendwie gegen uns einnehmen müssen. Wir haben die Sache vorher z. B. mit dem Präsidium des Deutschen Richterbundes in aller Ausführlichkeit erörtert. Bei einer Gelegenheit hat das die CDU gemacht, bei einer anderen Gelegenheit die F.D.P. Dort haben wir Zustimmung zu unserem Gedanken gefunden, einen Hinweis auf die Möglichkeiten des Richters zu geben, diese Hauptverhandlung mit wachen, mit präsenten Zeugen kurz nach der Tat stattfinden zu lassen.
Erklären Sie doch bitte, bevor Sie darstellen, was daran alles rechtsstaatswidrig ist, wie vorsichtig wir an die Sache herangegangen sind. Der gesetzliche Richter soll nach diesem Text, den zu lesen sich offenbar lohnt, für die Entscheidung zuständig sein, ob er selbst die Haft anordnet und sich damit selbst in die Pflicht nimmt, die Hauptverhandlung binnen einer Woche, möglichst schneller, durchzuführen.
Nur wenn dieses Angebot von dem Richter, der das selbst entscheidet, für sich angenommen wird, wenn er sich das zutraut, dann findet dieses Verfahren statt. Fairer und genauer am gesetzlichen Richter orientiert geht es beim besten Willen nicht.
Wir möchten aber darauf hinweisen - im krassen Gegensatz zu manchem, was man sich in den letzten Tagen an Gedanken über den amerikanischen Gerichtsaufbau und die amerikanische Justizpolitik machen konnte -, daß die Angloamerikaner in einem Punkt recht haben: Wenn man in der Lage ist, einen Täter auf frischer Tat zu ertappen, dann soll man ihn kurz danach im Beisein der entsprechenden Zeugen in einer Hauptverhandlung, die diesen Namen verdient, seinem Freispruch oder seiner Verurteilung zuführen können. Das entspricht einem Richterbild - das ist für uns der Hauptpunkt, nicht das Einkasteln -, das wir uns mehr wünschen würden. Deshalb legen wir diesen Entwurf vor. Wir wollen den Richtern zusätzliche Möglichkeiten erschließen. Wir hoffen, daß das zu vernünftigen Ergebnissen im Gesamtrahmen unseres Rechtswesens führt.
Erfunden wurde dieser Vorschlag als Gegenvorschlag zu dem, was zum Landfriedensbruch in Vorahnungen auf Wackersdorf vorgetragen ist. Das ist einige Jahre her. So lange - und nicht etwa über Nacht - diskutieren wir über dieses Thema. Wir halten das für eine vernünftige Lösung.
Das Wort hat der Kollege Dr. Heuer, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kleinert, Sie bezogen sich - das sagten Sie - auf das Richterbild. Ich möchte mich mit denjenigen beschäftigen, die eingesperrt werden sollen.
Hier wird eine neue Institution eingeführt, nämlich die Hauptverhandlungshaft. In meinen Augen wird damit die Möglichkeit für schwere Eingriffe in Menschenrechte geschaffen. Wenn der Herr Bundeskanzler heute hier wäre, würde er wahrscheinlich wieder einmal erklären, daß ich eigentlich nicht das Recht habe, zu diesen Dingen Stellung zu nehmen, weil ich in der DDR tätig war. Ich muß sagen: Ich habe damals an der Gesetzgebung nicht mitgewirkt, und damals wie heute hätte ich gegen so etwas schwere Einwände gehabt.
Die ersten Sätze des allgemeinen Teils der Begründung deuten das Motiv an: Es ist ein Schnellverfahren geschaffen worden, und die Gerichte, verstockt in ihren rechtsstaatlichen Traditionen oder warum auch immer, wenden es einfach nicht an. Offenbar sollen nun die Staatsanwaltschaften mit Hilfe dieses neuen Paragraphen die Amtsgerichte zwingen, solche Schnellverfahren durchzuführen. Ist den Verfassern nicht aufgefallen, daß sie damit einen rechtsstaatlichen Grundsatz, nämlich das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, verletzen? Haben Sie die §§ 417 ff. StPO wirklich gelesen?
Herr Kleinert hat gesagt, gemeint seien die Demonstrationstäter; aber das ist gar nicht wahr. Das gilt auch beim Führerscheinentzug und für den Eierdieb. Es steht ja nicht im Gesetz, wer gemeint ist. Das wissen Sie wie ich. Sie haben gesagt, es handelt sich um Bagatelldelikte,
aber bei all diesen Bagatelldelikten soll jetzt - -
- Dann hat Ihr geschätzter Vorredner aus der Koalitionspartei das gesagt.
- Er hat Bagatelldelikte gesagt. Ich erinnere mich daran sehr deutlich.
Dr. Uwe-Jens Heuer
Bei all denen soll jetzt die Möglichkeit gegeben werden, Untersuchungshaft durchzuführen.
Mich hat ein Satz außerordentlich erschreckt. In der Begründung steht:
Gerade bei reisenden Straftätern kann das Mittel der Hauptverhandlungshaft seine Wirkung entfalten. Die unmittelbar auf die Tat folgende Konfrontation des Täters mit den strafrechtlichen Folgen kann eine erhebliche erzieherische Wirkung haben und dadurch auch abschreckend wirken.
Es handelt sich hier um U-Haft, und die Untersuchungshaft hat in meinen Augen nicht die Aufgabe, eine erzieherische Wirkung zu entfalten und abschreckend zu wirken. Die Untersuchungshaft hat ganz bestimmte Voraussetzungen. Was man auch immer über Erziehung und Abschreckung denken mag - darüber kann man diskutieren -, die Untersuchungshaft hat aber nicht die Aufgabe, zu erziehen und abzuschrecken. Die Untersuchungshaft hat andere Ziele; das wissen auch Sie.
Jetzt soll eine neue Art von Strafe eingeführt werden, nämlich die Hauptverhandlungshaft. Das halte ich wirklich für schlimm. Wo bleibt die Präsumtion
der Unschuld bei Ihnen? Meine Damen und Herren von der Koalition, ich schließe mich all jenen an, die gesagt haben: Denken Sie nach, befreien Sie uns von diesem Monstrum!
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 13/2576 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. Oktober 1995, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.