Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/7990 —
Zunächst einmal behandeln wir den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht uns hier der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Herr Staatssekretär, die Abgeordnete Ingrid Köppe hat gebeten, die Frage 1 schriftlich zu beantworten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit kommen wir zur Frage 2 des Abgeordneten Steffen Kampeter:
Warum erfolgt der Versand des „Infodienstes Kommunal" vom Bundesministerium des Innern in einer Kunststoff-Folie und nicht in einem Briefumschlag oder — unter Verzicht von Verpackungsstoffen — als Streifbandzeitung?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident, die Antwort lautet wie folgt: Der „Infodienst Kommunal", der mit Ablauf des Jahres 1994 voraussichtlich entfallen wird, wird seit seinem Erscheinen Ende 1990 als „Brief" in einer Kunststoffolie versandt. Diese Folie ist zu 100 % aus Polyäthylen hergestellt und recyclingfähig. Seit Mai 1993 ist zusätzlich veranlaßt worden, daß der Versand im Rahmen des Dualen Systems mit „grünem Punkt" erfolgt.
Ein Versand per Briefumschlag aus Papier läßt sich nach Auskunft des beauftragten Unternehmens das ist der Deutsche Bundes-Verlag GmbH in Bonn — nur manuell bewerkstelligen, während die Folie maschinell handhabbar ist. Ein Papierversand ist damit entschieden teurer zu veranschlagen.
Die Möglichkeit eines Versands als Streifbandzeitung im Postzeitungsdienst ist seinerzeit bei Erscheinen des „Infodienstes Kommunal" selbstverständlich geprüft worden. Das zuständige Verlagspostamt hat dies jedoch mit Rücksicht auf bestehende postbetriebsrechtliche Bestimmungen abgelehnt.
Dabei war und ist zusätzlich zu beachten, daß ein postalischer Versand als „Brief", zumal in den neuen Ländern, gegenüber dem Versand als „Streifbandzeitung" eine höhere Sicherheit hinsichtlich einer zuverlässigen und schnellen Zustellung gewährleistet.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kampeter, bitte.
Herr Staatssekretär, die Antwort befriedigt mich noch nicht ganz. Ist im Hause des Bundesinnenministeriums denn geprüft worden, ob der „Infodienst Kommunal" von der Typographie her so ausgestaltet werden könnte, daß ein Versand als Streifbandzeitung mit den rechtlichen Vorschriften vereinbar wäre, oder ist umgekehrt geprüft worden, ob man die betreffenden postrechtlichen Vorschriften ändern könnte?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich möchte zunächst einmal auf die betreffende Vorschrift eingehen. Es handelt sich dabei um § 5 Abs. 5 der Postzeitungsordnung. Dort heißt es: Druckschriften sind Vervielfältigungen, die in einem Hochdruckverfahren oder gleichwertig in einem Flach- oder Tiefdruckverfahren hergestellt sind. Das Schriftbild darf nicht die Wiedergabe einer mit der Schreibmaschine geschriebenen Vorlage sein. Das ist derzeit der Fall.Prüfungen dahin gehend, ob die Erstellung in einer drucktechnisch anderen Form geschehen könnte, haben ergeben, daß das sehr viel aufwendiger und sehr viel teurer wäre. Deshalb hat sich das Bundesinnenministerium für dieses Verfahren hier entschieden.Wir haben seinerzeit im übrigen sehr intensive Bemühungen unternommen und zu dieser Thematik auch eine schriftliche Auskunft des Postamts Bonn bekommen, die ich auszugsweise kurz verlesen darf. Darin heißt es:In der vorliegenden Form ist eine Teilnahme am Postzeitungsdienst leider nicht möglich, da das Exemplar das Schriftbild einer Schreibmaschine aufweist.Dies widerspricht jedoch leider gemäß Abschnitt 4.3.1 Abs. 2 der Allg. Geschäftsbedingungen der Deutschen Bundespost POSTDIENST für den Postzeitungsdienst ... den Anforderungen an eine presseübliche Typographie.
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerEine Teilnahme am Postzeitungsdienst kann daher nicht erfolgen.Soweit dieser Sachverhalt.Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, daß wir uns wegen der Frage der umweltmäßigen Unbedenklichkeit mit dem Hersteller der Folie in Verbindung gesetzt und dabei folgende Auskunft erhalten haben:Die von uns gelieferten Produkte bestehen aus Polyethylen — das ist Kohlenstoff und Wasserstoff. Dieser Stoff verbrennt ohne Rückstände, ohne schädliche Gasentwicklung, mit dem Heizwert des Ausgangsstoffes Rohöl und verbindet sich mit dem Sauerstoff der Luft zu Wasser und Kohlendioxid — Stoffen, die in der Natur vorkommen.Das Umweltbundesamt in Berlin hat in mehreren Untersuchungen festgestellt, daß bei gesamtheitlicher Betrachtung von Herstellung, Benutzung und Entsorgung Folienverpackungen aus Polyethylen umweltverträglicher sind als Papier .. .Wir verwenden keine Weichmacher und Stabilisatoren, bei transparenten und weißen Folien keine schwermetallhaltigen Verbindungen. In gefärbten Folien werden Farbstoffe und Kreideverbindungen eingesetzt, die physiologisch unbedenklich sind. Als Gleitmittel oder Antiblockmittel werden tierische Fette eingesetzt, die ebenfalls unbedenklich sind.Soweit dieser Aspekt.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, Ihrer ersten Antwort konnte ich entnehmen, daß der „Infodienst Kommunal" nicht unbefristet weiterlaufen soll. Kann ich davon ausgehen, daß sich mit dem Auslaufen des „Infodienstes Kommunal" bei Publikationen des Bundesinnenministeriums die Versandform unter Verwendung von Plastikfolien auf ein Minimum reduziert?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich wäre in meiner aktuellen Fachkompetenz überfordert, wenn ich das für alle Publikationsformen des Innenministeriums für die Zukunft zusagen wollte. Ich verspreche Ihnen aber, daß wir ähnlich sorgfältig, wie wir es hier im Falle des „Infodienstes Kommunal" geprüft haben, auch bei anderen Publikationen vorgehen werden. Zu dem von Ihnen genannten Aspekt, möglicherweise eine andere Typographie zu verwenden, werde ich veranlassen, daß das im Hause zusätzlich überprüft wird.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen. Weitere Fragen für Ihren Bereich liegen nicht vor.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Der Abgeordnete Arne Fuhrmann hat gebeten, seine Fragen 3 und 4 schriftlich zu beantworten. Das Haus wird so verfahren. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie und Senioren auf. Hier steht uns sozusagen als Spezialist und Experte Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Michael Habermann auf:
Seit welchem Zeitpunkt liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, daß es zu „Wettbewerbsnachteilen" für Familien gegenüber Kinderlosen kommt, und welche familienpolitischen Initiativen, die nicht im Vollzug der Urteile des Bundesverfassungsgerichtes eingeleitet werden mußten, hat die Bundesregierung seit 1991 ergriffen, um die bestehenden „Wettbewerbsnachteile" zu minimieren?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Schönen Dank, Herr Präsident. Ich bin weniger Spezialist und Fachmann, sondern antworte mehr aus Kollegialität. Zu der Frage nach den sogenannten Wettbewerbsnachteilen für Familien gegenüber Kinderlosen möchte ich im Hinblick auf die morgige Debatte hier im Plenum, aber auch mit Sicht auf terminliche Schwierigkeiten im Hause des BMFuS aus kollegialen Gründen für das federführende Ressort die Antwort übernehmen dürfen.
Erkenntnisse, daß es für Familien gegenüber Kinderlosen zu sogenannten Wettbewerbsnachteilen kommt, lassen sich nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt hin festmachen. Die Bundesministerin für Familie und Senioren hat Aussagen des Fünften Familienberichts aufgegriffen, nach denen es die gesellschaftlichen Strukturen sind, „welche primär die Benachteiligung der Familien bedingen". Die in der Gesellschaft festgestellte „strukturelle Rücksichtslosigkeit" gegenüber Familien führt dazu, daß jungen Paaren, die sich Kinder wünschen, die Entscheidung für die Verwirklichung ihrer Kinderwünsche in Abwägung zu anderen Möglichkeiten der Lebensgestaltung schwerer gemacht wird.
Um diese Situation abzuändern sind alle Politiker und alle Verantwortlichen auch in anderen Bereichen aufgerufen, ihren Beitrag zu mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit zu leisten. Wichtig wäre auch, daß die Familien selbst ihre Anliegen stärker vertreten.
Die Bundesregierung hat seit 1991 über die Verbesserung beim Familienlastenausgleich hinaus eine Vielzahl von gesetzlichen wie auch von sonstigen Maßnahmen im Interesse der Familien ergriffen. Auf diese wird morgen in der Debatte sicherlich im einzelnen ausführlich eingegangen werden.
Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, stimmt die Bundesregierung mir zu, daß das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen die „Wettbewerbsnachteile" ebenfalls festgestellt hat, die Familien mit Kindern im Vergleich zu Kinderlosen erleiden, und stimmen Sie mir auch zu, daß die Maßnahmen in der laufenden Legislaturperiode, die zu weiteren Einsparungen bei Familien geführt haben, die
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Michael Habermann„Wettbewerbsnachteile" eher vergrößern, als daß diese Lücke geschlossen worden wäre?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Zunächst darf ich sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat an keiner Stelle von „Wettbewerbsnachteilen" gesprochen. Dieser Begriff ist vielmehr, wenn ich es richtig sehe, dem Familienbericht entnommen.Im übrigen darf ich denn doch im Vorgriff auf die morgige Debatte nur einige der wichtigsten gesetzlichen Maßnahmen nennen, die zu einer erheblichen Verbesserung der Lage der Familien geführt haben. Ich denke an die Verlängerung der Bezugsdauer des Erziehungsgeldes auf zwei Jahre, an die Verlängerung der Gewährung des Erziehungsurlaubs auf drei Jahre, an die Anerkennung von drei Erziehungsjahren in der gesetzlichen Rentenversicherung, an die Einführung von Kinderberücksichtigungszeiten bis zum vollendeten zehnten Lebensjahr des Kindes, an die Erweiterung der Freistellung von der Arbeit mit Ausgleich des Verdienstausfalls wegen Betreuung eines kranken Kindes durch die gesetzliche Krankenversicherung von fünf auf zehn Tage je Elternteil — für Alleinerziehende auf zwanzig Tage —, an die Verdoppelung der Leistungsdauer nach dem Unterhaltsvorschußgesetz von drei auf sechs Jahre, an die Heraufsetzung der Altersgrenze, die statt bei sechs nunmehr bei zwölf Jahren liegt, und auch an die Schaffung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz. Das sind allein die gesetzlichen Maßnahmen.Sonstige Maßnahmen, insbesondere im „Jahr der Familie", sind eine erhebliche Öffentlichkeitsarbeit, Modellversuche und alle möglichen anderen Dinge, die das Bewußtsein der Öffentlichkeit schärfen, sich mehr um die Lasten von großen Familien — ich weiß, wovon ich rede; ich selber habe vier erwachsene Kinder und drei Enkelkinder — zu kümmern. Das wird gleich auch in einer anderen Debatte eine Rolle spielen; das ist die Grundlage unseres steuerrechtlichen Konzepts für die nächste Legislaturperiode.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte schön.
Herr Staatssekretär, jetzt beklagen ja auch Abgeordnete aus der Regierungskoalition, daß die Leistungen bei weitem noch nicht ausreichen. Die Regierung selbst spricht davon, daß in dem Zusammenhang auch das verfassungsrechtlich zugesicherte Existenzminimum noch nicht steuerfrei gestellt ist, und es werden eine Reihe von Vorschlägen gemacht, wie die bestehenden Nachteile für Familien gemildert werden können.
Würden Sie mir bestätigen, daß es trotz der von Ihnen gerade geschilderten einzelnen Maßnahmen einen erheblichen Nachholbedarf gibt, und können Sie ausschließen, daß zum Ausgleich dieses Nachholbedarfs von den Bürgern in Zukunft eine sogenannte Zukunftsabgabe, „Kinderlosensteuer", erhoben wird?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Um es ganz konkret zu beantworten: Der Forderung auf Einführung dieser Zukunftsabgabe wird sich die Bundesregierung nicht öffnen. Wir sehen keinen „erheblichen" Nachholbedarf. Die Regierung strebt an, der Familie mit Kindern, insonderheit der mit vielen Kindern, auch im Steuerrecht einen gesicherten Platz einzuräumen. Ich will der Diskussion von nachher nicht vorgreifen, aber schon sagen: Wir werden in der nächsten Legislaturperiode den Familienlastenausgleich in einen Familienleistungsausgleich umwandeln. Wir werden die Kinderfreibeträge erhöhen, voraussichtlich zum 1. Januar 1996, und wir haben auch andere Maßnahmen, etwa bei den Ausbildungsleistungen, ins Auge gefaßt.
Weitere Fragen liegen nicht vor. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei dem Chef einer Fast-Großfamilie. Ich finde, daß die fachliche und kenntnisreiche Beantwortung beweist — jedenfalls mir —, daß die Vermutung nicht so unbegründet war, daß es sich um eine „Spezialisten"-Antwort handele. Herzlichen Dank.
Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Frauen und Jugend werden nicht aufgerufen, weil die Abgeordnete Petra Bläss ihre Fragen 6 und 7 schriftlich beantwortet sehen möchte. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme jetzt zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Klinkert zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf:
Treffen Meldungen zu, daß die ursprünglich für den Schnellen Brüter in Kalkar hergestellten 123 Plutonium-Brennelemente in den Schnellen Brüter Belojarsk in Rußland gebracht werden sollen, und falls ja, hält die Bundesregierung diese Anlage für sicherheitstechnisch geeignet?
Herr Kollege Kubatschka, Ihre Frage kann ich mit einem Satz beantworten: Die von Ihnen zitierten Meldungen treffen nicht zu.
Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, dann möchte ich Ihnen extra danken, daß Sie wegen der einen Frage in das Plenum gekommen sind.
Es ist seine Pflicht, Herr Abgeordneter.
Nein, in letzter Zeit ist es üblich geworden — ich habe es seit vielen Wochen erlebt —, daß die Ministerien um schriftliche Beantwortung bitten. Ich war da, und die Ministerien hatten um schriftliche Beantwortung gebeten. Hier wird immer so formuliert, als bitte der Abgeordnete darum. Mir ist es in den letzten Wochen immer wieder passiert, daß die Ministerien darum gebeten haben, die Fragen schriftlich beantworten zu dürfen. Das trifft auch für meine nächste Frage zu. Ich möchte das hier nur einmal klarstellen. Mir ist es schon passiert, daß
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Horst Kubatschkaich hier gesessen habe und es hieß, es wird schriftlich beantwortet. Darum noch einmal herzlichen Dank.
— Dem Staatssekretär. Herr Klinkert, damit Sie nicht nur zu diesem Nein hierher gekommen sind: Was hat die Bundesregierung vor, wie mit diesen Brennelementen vorgegangen wird?Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Die Brennelemente sind in Verwahrung und nicht im Eigentum der Bundesregierung. Der Eigentümer hat eine Verwertungsmöglichkeit für die Brennelemente zu finden. Dann wird er mit dieser Verwertungsmöglichkeit an die zuständigen Genehmigungsbehörden herantreten, und die Bundesregierung wird dieses Genehmigungsverfahren danach entsprechend den gesetzlichen Vorgaben begleiten.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wie kann sich die Bundesregierung diese — nach Ihrer Aussage — Fehlmeldung erklären, oder liegt nicht doch etwas im Busch?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Diese Fehlmeldung kommt dadurch zustande, daß es in der Tat seitens des Besitzers eine Reihe von Gesprächen mit verschiedenen Ländern gegeben hat. Darunter waren neben Rußland auch Japan, England und die USA. Bei dem Gespräch mit Rußland hat sich herausgestellt, daß ein Einsatz dieser Brennelemente im besagten russischen Kraftwerk schon aus technischen Gründen ganz und gar unmöglich ist.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, treffen Meldungen zu, nach denen diese Brennelemente nach einer Umarbeitung prinzipiell auch dafür geeignet wären, in der Hochenergieneutronenquelle, die in Garching bei München neu zu errichten ist, eingesetzt zu werden?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Brennelemente kann man nahezu beliebig technisch umarbeiten. Voraussetzung ist die Möglichkeit, eine solche Umarbeitung überhaupt vornehmen zu können. Ob diese technische Möglichkeit der Umarbeitung für den Einsatz in Garching gegeben ist, vermag ich aus jetziger Sicht nicht zu beurteilen.
Sie haben nur eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hollerith.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen sehr herzlich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf. Der Abgeordnete Dr. Klaus Kübler hat eine Frage gestellt, die schriftlich beantwortet wird. Ich unterstelle jetzt: auf dessen Wunsch.
Ich möchte in dem Zusammenhang und bezogen auf Ihre Bemerkung, Herr Abgeordneter Kubatschka, darauf hinweisen: Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, daß eine solche Bitte durch das Ministerium an einen Abgeordneten gerichtet wird. Das kann in Einzelfällen sinnvoll sein. Aber das kann und darf nicht der Normalfall sein. Ich möchte deswegen auch an dieser Stelle die Kolleginnen und Kollegen sehr nachdrücklich auffordern, dem nicht zuzustimmen, sonst wird die Fragestunde ihrer ureigenen Bedeutung, nämlich der Möglichkeit der Nachfrage, beraubt. Das sollte und kann nicht Sinn unserer parlamentarischen Arbeit sein. Ich bitte, das auch in den Häusern zur Kenntnis zu nehmen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Hier haben wir wiederum Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Der Abgeordnete Jürgen Koppelin hat die Fragen 10 und 11 gestellt. Auf dessen Wunsch — das unterstelle ich — werden sie schriftlich beantwortet.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Präsident, auf Wunsch des Kollegen Koppelin. Ich hätte seine Fragen sehr gern beantwortet.
Wir kommen zur Frage 12 des Abgeordneten Michael Habermann:
Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, daß durch die völlige Freistellung von steuerlichen Belastungen der Ausgaben für das Existenzminimum von Kindern bei gleichzeitiger bedarfsgerechter Gestaltung des Kindergeldes die bestehenden „Wettbewerbsnachteile" kompensiert werden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Habermann, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es ein Gebot der horizontalen Steuergerechtigkeit im Vergleich von Eltern und Kinderlosen, daß ein Einkommensbetrag, den die Eltern mindestens für Unterhalt und Berufsausbildung ihres Kindes ausgeben müssen, steuerfrei bleibt. Diesem Gebot kann auf einfachste Weise durch einen Kinderfreibetrag in Höhe des Existenzminimums eines Kindes entsprochen werden. Kindergeld, das gezahlt wird, wenn diese Steuerfreistellung sichergestellt ist, dient demgegenüber dem Zweck, die wirtschaftliche Belastung, die die Eltern je nach Einkommenshöhe und Kinderzahl unterschiedlich trifft, zu mindern.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß ein System, in dem die gebotene Steuerfreistellung durch den Kinderfreibetrag gewährleistet und die wirtschaftliche Belastung der Eltern darüber hinaus nach Bedarf durch Kindergeld gemindert wird, ein optimal gestaltetes System des Familienlastenausgleichs darstellt.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Kollege Habermann.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin bei der Beantwortung einer früheren Frage von mir selbst erwähnt, daß die Bundesregierung plant, ab 1996 das Existenzminimum von Kindern vollkommen steuerfrei zu stellen. Können Sie in diesem Zusammenhang ausschließen, daß beste-
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Michael Habermannhende Leistungsgesetze bzw. steuerrechtliche Vergünstigungen, die derzeit Familien in Anspruch nehmen können, zur Finanzierung dieser Steuerfreistellungen, die Sie beabsichtigen, gestrichen oder gekürzt werden?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Im vorhinein — wir reden ja zur Stunde erst über Eckwerte — zu sagen, es komme in anderen Bereichen nicht zu Kürzungen, wäre ich überfordert. Aber ich will noch einmal darstellen dürfen, um was es eigentlich geht.Es besteht in den Koalitionsfraktionen völlige Übereinstimmung, daß wir den Familien mit Kindern, insonderheit denen mit vielen Kindern, wieder einen gesicherten Platz im Steuerrecht einräumen müssen.Trotz aller Modelle, die da in der Welt sind — wie beispielsweise das SPD-Modell mit 250 DM Kindergeld für jeden, das im höchsten Maße familienfeindlich und unsozial wäre, weil es nach Ihrer Terminologie die sogenannten Besserverdienenden exorbitant begünstigen würde —, werden wir an dem bewährten dualen System, bestehend aus Kinderfreibetrag, Kindergeld und Kindergeldzuschlag, festhalten.Wenn das Existenzminimum endgültig voll steuerfrei ist — das ist ein dynamischer Prozeß; das errechnet sich natürlich von Jahr zu Jahr anders —, wollen wir das jetzige Kindergeld in einen sozialen Leistungstransfer umfunktionieren, der abhängig ist vom Einkommen — das heißt, daß die Höherverdienenden keinen Kindergeldanspruch mehr haben — und von der Zahl der Kinder, die ja — das ist ja ganz unbestreitbar — zu besonderen Belastungen der jeweiligen Familie führt.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Habermann.
Herr Staatssekretär, das, was Sie jetzt über die Perspektiven der Politik der Bundesregierung beim Familienlastenausgleich vorgetragen haben, findet sich ja fast wortgetreu in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers, die er 1991 hier im Hause abgegeben hat. Können Sie mir erklären, warum die Bevölkerung diesen Aussagen heute mehr Glauben schenken soll, obwohl Sie es von 1991 bis heute nicht geschafft haben, diese Zielsetzung zu erreichen, und nun sagen, das soll ab 1996 geschaffen werden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Habermann, jetzt bin ich sehr versucht, noch einmal entsprechend der nur stellvertretend von mir gegebenen Antwort auf Ihre Frage an Frau Rönsch Stellung zu nehmen. Ich habe Ihnen doch eben vorgetragen, was wir in den letzten Jahren ganz unleugbar und auch dankbar anerkannt von den Familien an umfänglichen gesetzlichen und sonstigen Maßnahmen im Hinblick auf eine Verbesserung im Familienlastenausgleich getan haben.
Zusatzfrage der Abgeordneten Uta Würfel.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen eben vom Existenzminimum bei der Ausbildung. In der Tat ist es ja so, wenn man zwei oder drei Kinder in der Ausbildung hat, denen BAföG nicht gewährt wird, und die in Universitätsstädten studieren, wo es nicht möglich ist, ein Zimmer unter 400 bis 500 DM pro Kind zu bekommen, daß Familien mit zwei Kindern, wenn diese außerhäusig studieren, mit Ausbildungskosten von 2 500 bis 3 000 DM netto belastet werden.
Ist es gerechtfertigt zu sagen, wir wollen in Zukunft das Existenzminimum bei der Ausbildung nicht mehr besteuern, wenn dieses Existenzminimum in vielen Fällen überhaupt nicht hinlangt, die Kosten zu dekken?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das ist völlig richtig. Deswegen flankieren wir ja schon heute den Kinderfreibetrag, das Kindergeld und den Kindergeldzuschlag durch den sogenannten Ausbildungsfreibetrag. Auch diesen Ausbildungsfreibetrag wird man in der dynamischen Entwicklung der Jahre — gerade mit Sicht auf den von Ihnen angesprochenen Personenkreis — zeitgerecht anpassen müssen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kubatschka.
Herr Staatssekretär, wie hoch, glauben Sie, wird im Jahre 1996 das Existenzminimum für Kinder sein, und wird dieses nicht auf jeden Fall höher sein als heuer?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich will mit dem Einfacheren beginnen: Es wird mit Sicherheit höher sein als zur Stunde. Die Berechnungen müssen natürlich aktuell vorgenommen werden. Das werden wir rechtzeitig tun und danach auch die Höhe des Kinderfreibetrages bestimmen.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Hollerith.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Einschätzung, daß sich während der Regierungsbeteiligung der SPD durch Untätigkeit in den Fragen des Familienlastenausgleichs ein gewaltiger Handlungsstau aufgebaut hat, an dem trotz intensiver Arbeit die gegenwärtige Bundesregierung jetzt noch zu arbeiten hat?
Herr Abgeordneter, erstens dokumentieren Sie dadurch, daß Sie sich schon setzen, daß Sie keine Antwort erwarten. Zweitens steht die Frage in keinem Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage. Ich lasse die Zusatzfrage also nicht zu, Herr Staatssekretär.Weitere Fragen liegen nicht vor. Herr Parlamentarischer Staatssekrektär, ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen.Ich stelle fest, daß die Frage 13 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard auf deren Wunsch schriftlich beantwortet wird. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergIch rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft auf. Die Beantwortung erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner. Ich rufe die Frage 14 des Abgeordneten Hollerith auf:Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie sich gesetzliche Regelungen des Gaststättenrechts in Österreich und der Schweiz, die eine Verpflichtung beinhalten, alkoholfreie Getränke nicht teurer anzubieten als das billigste alkoholhaltige Getränk in gleicher Menge, auf die Verkehrssicherheit auswirken?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Hollerith, der Bundesregierung liegen keinerlei Erkenntnisse darüber vor, wie sich eine entsprechende Regelung in Österreich und in der Schweiz auf die Verkehrssicherheit auswirkt. Ich gehe davon aus, daß diese Regelung der Absicht entspringt, generell den Alkoholkonsum vor allem bei jungen Menschen zu mindern, und kann mir daher sehr wohl vorstellen, daß es eine positive Auswirkung auf die Verkehrssicherheit geben kann.
Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Hollerith.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Frage eben mit dem gesunden Menschenverstand beantwortet, wonach offensichtlich ist, daß bei einem billigeren nichtalkoholischen Getränk als Bier davon auszugehen wäre, daß dieses Auswirkungen in der von mir gefragten Form hätte. Beabsichtigen Sie, diese Einschätzung nach dem gesunden Menschenverstand durch entsprechende Untersuchungen erhärten zu lassen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, die Bundesregierung beabsichtigt dieses nicht. Sie haben nach Erkenntnissen über die Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit in Österreich gefragt. Ich glaube nicht, daß es angemessen wäre, wenn die Bundesregierung in einem anderen Land solche Untersuchungen anstellen würde.
Herr Staatssekretär, glaubt die Bundesregierung nicht, daß durch Erkenntnisse in anderen Ländern auch Rückschlüsse auf Entscheidungen in unserem Land zu ziehen wären, zumal es sich bei diesen beiden von mir nachgefragten Ländern, Österreich und die Schweiz, um Länder handelt, die uns benachbart sind, die dem gleichen Kulturkreis angehören, die also ähnliche Verhaltensweisen beim Konsum von Alkohol erwarten lassen? Meinen Sie nicht auch, daß sich Erkenntnisse für Deutschland gewinnen ließen, wenn sich die Bundesregierung in der Lage sähe, diese Untersuchungen anzustellen, um sie dann gegebenenfalls auf Deutschland übertragen zu können?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, ich sehe die Notwendigkeit der Sammlung solcher Erkenntnisse nicht. Daß das Angebot eines nichtalkoholischen Getränkes zu einem Preis, der unter dem niedrigsten Preis eines alkoholischen Getränkes liegt, eine sinnvolle Maßnahme wäre, die
sich auch auf die Verkehrssicherheit auswirken würde, steht für mich außer Frage.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Skarpelis-Sperk.
Die Bundesregierung hat selbst in ihrem Vorschlag zur Änderung der Gewerbeordnung und speziell des Gaststättengesetzes einen derartigen Vorschlag gemacht, wie er in Österreich und in der Schweiz, wenn auch in anderer Konstellation, bereits umgesetzt ist. Zum ersten: Hat die Bundesregierung die Erfahrungen aus diesen Ländern denn nicht einbezogen? Zum zweiten: Sind Sie nicht auch der Meinung, daß dieser Vorschlag, den die Bundesregierung gemacht hat, weiterhin vernünftig ist, oder sind Sie mittlerweile zu anderen Überzeugungen gekommen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nein, Frau Kollegin, die Erwägungen der Bundesregierung, die dafür maßgeblich waren, diesen Vorschlag in den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufzunehmen, haben nach wie vor Bestand. Die Bundesregierung kann allerdings nicht mehr tun, als einen Gesetzentwurf im Parlament einzubringen. Dann liegt es in der Souveränität des Parlaments und seiner Ausschüsse, darüber zu entscheiden.
Es bedurfte für einen solchen gesetzgeberischen Vorschlag nicht zusätzlicher Untersuchungen über Auswirkungen einer speziellen Regelung auf die Verkehrssicherheit in einem bestimmten Land, weil die Bundesregierung davon ausgeht — ich wiederhole das —, daß das Angebot eines nichtalkoholischen Getränkes zu einem Preis, der niedriger ist als der für das billigste alkoholische Getränk, unter Gesichtspunkten des Jugendschutzes und unter jedwedem anderen Gesichtspunkt eine vernünftige Maßnahme wäre. Ob es dazu allerdings einer gesetzlichen Maßnahme bedarf, das ist in den Ausschüssen, in der parlamentarischen Beratung unterschiedlich betrachtet worden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kubatschka.
Herr Staatssekretär, da Ihre Erkenntnisse, die positiv sind, anscheinend nicht Allgemeingut der Regierung sind: Wäre es nicht hilfreich, Erkenntnisse aus der Schweiz und aus Österreich — der Herr Kollege Hollerith hat schon auf die Tatsache desselben Kulturkreises hingewiesen — mit vorzulegen, um die ersten Erkenntnisse der Bundesregierung, die ja nicht von allen geteilt werden, zu unterstützen?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das, was Sie als „Erkenntnisse" bezeichnet haben, die für eine solche Regelung sprechen, liegt natürlich der gesamten Bundesregierung vor. Deshalb hat sich die gesamte Bundesregierung für die Aufnahme dieses Vorschlags in den Gesetzentwurf ausgesprochen. Daß nicht alle Erwägungen und Erkenntnisse der Bundesregierung immer überall geteilt werden, ist wohl wahr. Aber das hat nichts mit der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20515
Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard GöhnerTatsache zu tun, daß es sich hier um einen Vorschlag der gesamten Bundesregierung handelt.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Hollerith auf:
Kann die Bundesregierung Angaben darüber machen, mit welchem Aufwand die Kontrollen der Einhaltung dieser Vorschriften in diesen Ländern verbunden sind und oh diese Regelungen von den Gastwirten in diesen Ländern als Eingriff in die Preisgestaltung angesehen werden?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hollerith, der Bundesregierung liegen keine Angaben darüber vor, mit welchem Aufwand die Kontrollen in den genannten Ländern verbunden sind. Auch über die Frage, wie die Gastwirte in diesen Ländern die Preisgestaltung bewerten, ob sie das als einen Eingriff ansehen, haben wir keine speziellen Erkenntnisse. Es gab nach unserer Kenntnis in der Schweiz eine Klage, eine staatsrechtliche Beschwerde wegen der Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, die aber inzwischen abgewiesen worden ist.
Zusatzfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Hollerith.
Nach Ihrer Antwort auf meine Frage darf ich annehmen, daß sich die Bundesregierung in der Lage sähe, die Erkenntnisse bezüglich des Aufwandes von Kontrollen zur Einhaltung dieser Vorschriften zu gewinnen, und daß die Bundesregierung die Absicht hat, dies zu tun.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege. Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, darüber besondere Erhebungen vorzunehmen. Wir gehen davon aus, daß eine solche gesetzliche Regelung einen begrenzten Kontroll- und Verwaltungsaufwand hat. Sonst hätte die Bundesregierung eine solche gesetzliche Regelung in dem Gesetzentwurf nicht vorgeschlagen.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie gehen also davon aus, daß durch bestehende Verwaltungen in den Ländern — etwa in der Form der Gewerbeaufsichtsämter oder der Jugendämter oder natürlich auch mit den Möglichkeiten der Polizei —diese Kontrollen ohne zusätzlichen Aufwand an Geld zu bewerkstelligen wären, wenn sich denn das Parlament dazu entscheiden könnte, eine solche Regelung zu beschließen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, zunächst geht die Bundesregierung davon aus, daß dann, wenn es eine solche gesetzliche Regelung gäbe, die Adressaten dieser Regelung sich auch daran halten würden. Etwas anderes würde ich dem Gaststättengewerbe in keinem Fall unterstellen wollen. Im übrigen wäre natürlich auch so etwas wie eine Selbstkontrolle durch Jugendverbände oder andere Organisationen denkbar, die auf die Einhaltung achten würden. Etwaige Mißstände würden sicherlich bekannt.
Ich sage noch einmal: Die Bundesregierung ist nicht davon ausgegangen, daß eine solche Regelung einen unverhältnismäßig großen bürokratischen Kontrollaufwand erfordern würde. Sonst hätte die Bundesregierung eine solche Regelung nicht vorgeschlagen.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Benno Zierer auf:
Kann die Bundesregierung Angaben darüber machen, ob in Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine gesetzliche Verpflichtung besteht, ein alkoholfreies Getränk zu einem Preis anzubieten, der nicht höher liegt als der Preis für das billigste alkoholische Getränk, wenn ja, in welchen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Zierer, nach Informationen der Bundesregierung besteht in Dänemark eine solche gesetzliche Regelung.
Zusatzfrage? — Bitte schön.
Konnte, Herr Staatssekretär, die Bundesregierung in Erfahrung bringen, wie Verstöße gegen diese Vorschrift geahndet werden? Ist das eine Geldbuße, oder geht das so weit, daß es zum Entzug der Gaststättenkonzession kommt?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, hier bin ich im Moment überfragt. Dazu müßte ich die Regelung genau analysieren. Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich Ihnen dies gern schriftlich nachreichen.
Wäre die Bundesregierung dann, wenn das der Fall wäre, bereit, ähnliche Regelungen zu übernehmen? Ich bitte Sie, auch diese Frage schriftlich zu beantworten.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Zierer, diese Frage kann ich Ihnen mündlich beantworten. Die Bereitschaft der Bundesregierung zu einer gesetzlichen Regelung zeigt sich in dem Gesetzentwurf, der dem Deutschen Bundestag vorliegt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hollerith.
Herr Staatssekretär, liegen Ihnen Erkenntnisse und Angaben darüber vor, ob sich der Bundesrat bei seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Erfahrungen anderer Länder der Europäischen Union hinsichtlich des Angebotes eines nichtalkoholischen Getränks, das billiger als ein Bier der gleichen Menge ist, gestützt hat?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ich bin im Moment überfragt und auch nicht zuständig dafür, Ihnen Auskunft darüber zu geben, welche Erwägungen in den Bundesländern, in den jeweiligen Landes- oder Staatsregierungen maßgeblich gewesen sind. Verschiedene Bundesländer, insbesondere Bayern, haben auf eine solche Regelung gedrängt.Die Überlegungen, die für den Vorschlag der Bundesregierung maßgeblich waren, lassen sich dahin ge-
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Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnerhend zusammenfassen — ich wiederhole dies —, daß wir aus verschiedenen Gesichtspunkten heraus der Überzeugung sind, daß es vernünftig ist, wenn in allen Gaststätten ein nichtalkoholisches Getränk zu einem günstigeren oder zumindest gleichgünstigen Preis angeboten wird wie das billigste alkoholische Getränk.Ob und inwieweit diese gesetzliche Regelung notwendig und sinnvoll ist, darüber gibt es — wie Sie wissen — im Parlament und in den federführenden Ausschüssen unterschiedliche Auffassungen.Unabhängig von der Diskussion und Entscheidung über die gesetzliche Regelung möchte ich hier sagen, daß es natürlich vernünftig wäre, wenn sich das Gaststättengewerbe freiwillig zu einer solchen Aktion bereit erklären würde.
Herr Abgeordneter Kubatschka, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß die Bundesländer im Bundesrat einstimmig für diese Regelung waren?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Da bin ich im Moment überfragt, sie haben aber ganz sicher mit großer Mehrheit dafür gestimmt. Ob alle zugestimmt haben, entzieht sich im Augenblick meiner Kenntnis.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hinsken.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß sich der Bundesrat mit diesem Thema noch einmal beschäftigen wird. Wird die Bundesregierung dann in absehbarer Zeit erneut einen Vorstoß unternehmen, um hier eine jugendfreundliche Lösung zu finden und einzubringen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß wir dies nicht tun werden. Die Bundesregierung hat im Rahmen der Novellierung der Gewerbeordnung einen Vorschlag gemacht. Darüber ist durch den Deutschen Bundestag zu entscheiden. Ich gehe davon aus, daß es wenig Sinn hätte, in dieser Legislaturperiode erneut ein solches Gesetzgebungsverfahren einzuleiten — schon aus zeitlichen Gründen.
Im übrigen ist es so, daß der federführende Ausschuß bisher lediglich für eine Abtrennung der Materie plädiert hat, so daß über diesen gesetzlichen Regelungsvorschlag der Bundesregierung noch zu entscheiden sein würde.
Zusatzfrage der Abgeordneten Skarpelis-Sperk.
Mein Kollege Kubatschka hat Sie gefragt, wie das Stimmverhalten im Bundesrat war. Ich würde Sie nun gern fragen, wie das Stimmverhalten innerhalb der Bundesregierung war, insbesondere wie das federführende Ministerium, der Bundesminister für Wirtschaft, zu diesem Gesetzentwurf gestanden hat.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Bundesregierung hat über diesen Gesetzentwurf selbstverständlich einmütig Beschluß gefaßt.
Dann kommen wir zu Frage 17 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer:
Kann die Bundesregierung Angaben darüber machen, wie hoch prozentual der Anteil der Gaststätten ist, die bereits heute ein alkoholfreies Getränk zu einem Preis anbieten, der nicht höher liegt als der Preis für das billigste alkoholische Getränk der gleichen Menge?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ramsauer, der Bundesregierung liegen keine exakten Angaben darüber vor, wie hoch der prozentuale Anteil der Gaststätten ist, die bereits heute ein alkoholfreies Getränk zu einem Preis anbieten, der nicht höher liegt als der Preis für das billigste alkoholische Getränk der gleichen Menge. Die Bundesregierung kann nur appellieren, bereits jetzt eine Umsetzung dieses Zieles auf freiwilliger Basis herbeizuführen, so wie das auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband seinen Mitgliedern empfiehlt. Ein nicht unerheblicher Anteil der Gastwirte trägt dem nach Informationen des Verbandes bereits Rechnung.
Diese Empfehlung hat jedoch nicht durchgängig gegriffen, so daß der eingangs erwähnte Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Novellierung der Gewerbeordnung — hier: des Gaststättengesetzes — mit dem Ziel eingebracht wurde, eine allgemeingültige Regelung zu schaffen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Ramsauer.
Herr Staatssekretär, können Sie beurteilen, welche Erfolge die Appelle der Bundesregierung und anderer politischer Organe an die Gastronomie gehabt haben, freiwillig ein nichtalkoholisches Getränk billiger als ein alkoholisches der gleichen Menge anzubieten?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nicht mit statistischen Zahlen auf Bundesebene, Herr Kollege, aber aus eigener Anschauung kann ich Ihnen das sagen. Ich habe schon vor zwanzig Jahren als Vorsitzender eines Jugendverbandes in meinem heutigen Wahlkreis eine Aktion unter dem Motto „Macht den Sprudel billig!" durchgeführt. Nach dieser Aktion gab es in meinem Wahlkreis keine Disco, keine Gaststätte mehr, die nicht ein nichtalkoholisches Getränk zu einem günstigeren Preis anbot als das billigste alkoholische Getränk.
Ich möchte uns allen empfehlen, vor Ort — nicht nur durch Empfehlungen von Parlament oder Regierung und über Spitzenverbände, bundesweit — eine solche Aktion durchzuführen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Ramsauer.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, nachdem diese Initiative zunächst gescheitert ist, durch ständige weitere Appelle an die Freiwilligkeit, durch entspre-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20517
Dr. Peter Ramsauerchende Maßnahmen das Thema der nichtalkoholischen Getränke in der öffentlichen Diskussion zu halten, um wenigstens mittel- und langfristig zu günstigeren Preisen bei nichtalkoholischen Getränken zu kommen?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Kollege Ramsauer, dem Deutschen Bundestag liegt der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, der einen Vorschlag für eine solche gesetzliche Regelung enthielt.
— Enthält, Entschuldigung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kubatschka.
Herr Staatssekretär, zur Zeit bleibt Ihnen bloß das Instrument des Appells. Gibt es aber nicht auch die Möglichkeit des beispielhaften Vorgehens, daß die Bundesregierung nur dort Veranstaltungen durchführt, wo der Veranstalter bereit ist, diese Regelung anzuwenden?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist eine interessante Überlegung, die auch wettbewerbsrechtlich mal geprüft werden müßte. Ich hätte größte Sympathien für eine solche Überlegung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hinsken.
Herr Staatssekretär, ich habe mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, daß Sie in Ihren jugendlichen Jahren so erfolgreich waren
und daß Sie durchgesetzt haben, daß sich die Gastwirte nach Ihren Wünschen richteten. Deshalb meine Frage: Haben Sie zwischenzeitlich nachgeprüft, ob das noch genauso ist, daß also zumindest ein alkolholfreies Getränk genauso billig abgegeben wird wie mengenmäßig das billigste alkoholische Getränk?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, ich muß Ihnen sagen: Ich muß dringend wieder eine Discotour in meinem Wahlkreis machen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Zierer.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, daß die Entscheidung der Bundesregierung in dieser Frage einmütig gewesen sei. Dies provoziert natürlich die Frage, warum Sie nicht „einstimmig" sagen konnten.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: War damit gemeint.
„Einstimmig" war gemeint?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ja, selbstverständlich.
Herzlichen Dank.
Die zweite Frage: Es gibt offensichtlich Widerstände im Bereich der Verbände.
Herr Staatssekretär, ich bin damit einverstanden, daß Sie die Frage beantworten. Aber, Frau Kollegin, ich hatte Herrn Abgeordneten Zierer aufgerufen, Sie noch nicht. Ich muß der Reihenfolge nach vorgehen; Herr Kollege Zierer beschwert sich sonst bei mir.
Herr Staatssekretär, beantworten Sie jetzt erst einmal die Frage von Frau Dr. Skarpelis-Sperk, sonst wird es noch komplizierter.
— Ach so, er hat sie beantwortet, Entschuldigung. Okay.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin erwähnt, daß Sie sich in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender eines Jugendverbandes dafür eingesetzt haben, daß verstärkt alkoholfreie Getränke verabreicht werden. Darf man erfahren, welcher Jugendverband das war?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Das war natürlich die Junge Union, Herr Kollege.
Benno Zierer (CDU/CSU): Vielen Dank!
Ich wäre dankbar, wenn Sie in Ihren Fragen ein bißchen mehr den Zusammenhang mit der Ausgangsfrage herstellen würden.
Herr Abgeordneter Hollerith.
Herr Staatssekretär, wir haben mehrfach in qualifizierter Antwort, die Sie uns soeben zu diesem Themenkomplex gegeben haben, gehört, daß die Bundesregierung einmütig dafür eintritt, daß das Problem des Angebotes eines nichtalkoholischen Getränks zu einem günstigeren Preis als Bier in gleicher Menge einer Lösung zugeführt wird.
Ich möchte Sie, Herr Staatssekretär, danach fragen, ob die Bundesregierung in ihrer eigenen Zuständigkeit dafür Sorge trägt, daß etwa in den Kantinen der Ministerien ein nichtalkoholisches Getränk billiger als Bier in gleicher Menge angeboten wird.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß das der Fall ist.
Ich möchte Sie, weil ich weitere Zusatzfragen in diesem Zusammenhang sonst nicht zulassen kann, eindringlich bitten, sich den Wortlaut der ursprünglichen
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergFrage des Kollegen Dr. Peter Ramsauer vor Augen zu führen, die lautet:Kann die Bundesregierung Angaben darüber machen, wie hoch prozentual der Anteil der Gaststätten ist, die bereits heute ein alkoholfreies Getränk zu einem Preis anbieten, der nicht höher liegt als der Preis für das billigste alkoholische Getränk der gleichen Menge?Es ist außerordentlich schwer, den Zusammenhang zu Ihrer letzten Frage herzustellen. Im äußersten Fall muß ich die Frage verbieten, Herr Kollege Hollerith, das möchte ich aber nicht. Doch Sie müssen sich bewußt machen, daß hier noch sehr viele Fragesteller sind, die mit Recht Antworten erwarten. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie auf diese Zusammenhänge ein wenig achten würden.Herr Professor Jens hat nun die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Aber, Herr Präsident, ich muß auch auf die Antworten des Staatssekretärs zurückgreifen. Es muß doch erlaubt sein, daß man sie auch mit einbezieht.
Nur dann, wenn wirklich der direkte Zusammenhang da ist.
Der Herr Staatssekretär hat soeben gesagt, daß im Kabinett einstimmig entschieden wurde. Mich würde aber schon interessieren, warum Herr Rexrodt dieser Bestimmung zustimmt und Herr Grünbeck sie im Parlament bekämpft. Vielleicht könnten Sie das noch ein wenig erklären.
Glauben Sie nicht, daß die Bundesregierung Schaden nimmt, wenn sie nicht einmal eine solche Frage lösen kann?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ich beantworte Ihre beiden unterschiedlichen Fragen gern, Herr Kollege Jens, und wundere mich über Ihr Parlamentsverständnis. Sie können doch nicht im Ernst von der Bundesregierung erwarten, daß wir die Haltung eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der selbst nicht Mitglied der Bundesregierung ist, zu einem solchen Gesetzentwurf bewerten.
Ich muß Ihnen einmal etwas sagen: Ich finde es völlig normal, daß ein Gesetzentwurf der Bundesregierung, der eingebracht worden ist, nicht nur von der Opposition, sondern selbstverständlich auch von den Koalitionsfraktionen kritisch geprüft wird. Ich habe insbesondere auch bei der letzten Beratung im Wirtschaftsausschuß den berechtigten Eindruck gewonnen, daß alle Fraktionen das gleiche Ziel haben, nämlich daß in den Gaststätten ein nichtalkoholisches Getränk als das billigste Getränk angeboten wird.
Unterschiedlich sind die Auffassungen, ob es im Zuge allgemein notwendiger Deregulierungen nun in diesem Bereich einer zusätzlichen Regulierung durch den Gesetzgeber bedarf oder ob man nicht durch einen neuen Anlauf tatsächlich zur freiwilligen Selbstverpflichtung kommen könnte. Ich will diese Frage, die im Ausschuß aufgeworfen worden ist, gar nicht bewerten; das steht mir auch nicht zu. Insbesondere steht mir nicht zu, die Haltung einzelner Kollegen zu bewerten. Aber daß man in der Frage, ob es dazu jetzt einer gesetzlichen Regelung bedarf, unterschiedlicher Meinung und anderer Meinung als die Bundesregierung sein kann, finde ich absolut legitim; darüber hat sich die Regierung nicht zu beschweren.
Ich möchte eine zweite Erwägung ansprechen. Der Gesetzentwurf bestand aus mehreren Teilen. Wenn es zu der Frage, ob zu dem hier erörterten Komplex eine gesetzliche Regelung im Gaststättengesetz notwendig ist, Beratungsbedarf gibt, kann es natürlich aus Sicht derer, die diesen Beratungsbedarf sehen, durchaus zweckmäßig sein, das abzutrennen und den äußerst dringlichen Teil der Novellierung der Gewerbeordnung — und damit des überwiegenden Teils des Gesetzentwurfs — bereits zu verabschieden. Darauf warten nämlich alle Wirtschaftsorganisationen und die Wirtschaft selbst sehr dringend. Deshalb kam es offensichtlich zu einer solchen Abtrennung des Gesetzentwurfs.
Ich finde, daß das, was Sie erfragt und erbeten haben, nämlich eine Bewertung der Haltung eines bestimmten Kollegen, mir jedenfalls nicht zusteht.
Jetzt wiederholen Sie bitte Ihre zweite Frage; ich habe sie nämlich zwischenzeitlich vergessen. — Entschuldigung, Herr Präsident.
Herr Staatssekretär, ich finde, die Bundesregierung nimmt wirklich Schaden, wenn sie so etwas einstimmig beschließt und in dieser lächerlichen Angelegenheit nicht einmal in der Lage ist, ihren Willen im Parlament durchzusetzen.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich finde nicht, daß die Bundesregierung Schaden nimmt, wenn im Parlament, z. B. in den Koalitionsfraktionen, nach intensiven Beratungen neue Gesichtspunkte auftauchen, die dazu führen, daß man einen bestimmten Teil eines Gesetzentwurfs noch einmal überprüfen möchte und diesen deshalb vom übrigen Gesetzentwurf abtrennt.
Wir diskutieren zwar eine wichtige Frage, aber so wichtig, daß das wirtschaftspolitische Vorhaben der Novellierung der Gewerbeordnung deshalb auf der Strecke bleiben könnte, ist die Sache nun auch wieder nicht. Deshalb hat die Bundesregierung auch immer deutlich gemacht, daß der Kern dieses Gesetzentwurfes, die Novellierung der Gewerbeordnung, die Anpassung an datenschutzrechtliche Vorschriften, das wirtschaftspolitisch Prioritäre an diesem Gesetzentwurf ist.
Ich rufe nunmehr die Frage 18 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer auf:I lat die Bundesregierung Erkenntnis darüber, wie viele Verkehrsteilnehmer, insbesondere jüngere Kraftfahrer, nach Besuch einer Gaststätte im alkoholisierten Zustand einen Verkehrsunfall verursacht haben?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ramsauer, nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes ereigneten sich in Deutschland im Jahre 1992 41 000 Alkoholunfälle mit Personenschaden, wobei 55 000 Personen verletzt und 2 102 Personen getötet wurden. 10 % aller Personenschadensun-
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Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnerfälle waren Alkoholunfälle, und 20 % aller Verkehrstoten kamen bei Unfällen mit Alkoholeinfluß ums Leben. Besonders besorgniserregend ist, daß die Masse der Alkoholtäter relativ jung ist. 28 % sind zwischen 18 und 25 Jahre alt, weitere 34 % gehören zur Gruppe der 25- bis 34jährigen.Ob der Alkohol in Gaststätten getrunken wurde, ist natürlich statistisch nicht besonders erfaßt.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Ramsauer.
Herr Staatssekretär, ich darf gleich anschließen. Ich glaube, man kann schon überwiegend davon ausgehen, daß der Alkohol in Gaststätten getrunken wurde. Deswegen möchte ich die erste Zusatzfrage dahingehend an Sie richten, ob Sie — gerade auf Grund Ihrer reichen Erfahrungen von früher in der von Ihnen genannten Jugendorganisation sowie Ihrer Tätigkeit und Ihres Einsatzes für möglichst billige nichtalkoholische Getränke — auch der Meinung sind, daß es einen natürlichen Zusammenhang zwischen den Preisen von alkoholischen oder nichtalkoholischen Getränken einerseits und dem Konsumverhalten andererseits gibt, insbesondere bei jüngeren Leuten, deren verfügbares Einkommen in der Regel nicht so hoch ist wie bei älteren Bevölkerungsgruppen.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ob natürlicher Zusammenhang oder zwingender Zusammenhang, jedenfalls gibt es einen Zusammenhang, der auch maßgebend dafür war, daß die Bundesregierung den entsprechenden gesetzlichen Vorschlag unterbreitete.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte sehr, Herr Dr. Ramsauer.
Man kann also davon ausgehen, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung nach wie vor der Meinung ist, die Abgabe nichtalkoholischer Getränke gleicher Menge, die billiger sind als alkoholische Getränke, sei im hohen Maße geeignet, auch die Unfallzahlen — besonders bei jüngeren Menschen — zu senken?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Wir halten es nach wie vor für sinnvoll, daß ein nichtalkoholisches Getränk mindestens zum gleichen Preis — oder möglichst noch günstiger — wie ein alkoholisches Getränk angeboten wird. Wir sehen auch Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hollerith.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben aus einer Unfallstatistik zitiert. Weist diese Unfallstatistik in bezug auf alkoholisierte Unfallopfer und Unfallverursacher auch eine Unterscheidung hinsichtlich des Geschlechts, also männlich und weiblich, auf?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten. Ich gehe aber davon aus, daß das für diese Frage zuständige Verkehrsministerium Ihre Frage beantworten kann.
Weitere Zusatzfragen zur Frage 18 liegen nicht vor.
Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Ernst Hinsken auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der Preis, insbesondere für Jugendliche, ein wesentliches Kriterium für die Auswahl eines Getränkes in Gaststätten ist?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Verehrter Herr Kollege Hinsken, die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß der Preis, insbesondere für Jugendliche, ein Kriterium für die Auswahl eines Getränkes in Gaststätten ist. Aus diesem Grunde hatte sie die Änderung des Gaststättengesetzes in den hier besprochenen Gesetzentwurf aufgenommen. Ich kann mich hier nur wiederholen.
Eine Zusatzfrage? — Bitte, Herr Abgeordneter Hinsken.
Herr Staatssekretär, wenn man Diskussionen mit Jugendverbänden bestreitet, dann wird immer wieder beklagt, daß die Jugend keine Lobby habe. Können Sie es als Lobbyismus für die Jugend bezeichnen, wenn wir uns dafür stark machen, daß gesetzlich vorgeschrieben wird, was von ganz wenigen Prozent der Gastwirte nicht eingehalten wird?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ich finde, die Jugend hat eine Lobby, und zwar in der Bundesregierung.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, gesetzt den Fall, Sie gehören der nächsten Bundesregierung wieder an: Sind Sie dann bereit, nochmals in dem Sinne tätig zu werden, wie die Antragsteller das heute vorgetragen haben?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ich werde mich immer für das Ziel einsetzen, daß ein nichtalkoholisches Getränk in Gaststätten das billigste Getränk ist, billiger als ein alkoholisches.
Eine Zusatzfra ge der Abgeordneten Frau Skarpelis-Sperk.
Der Kollege Hinsken hat hier verdienstvoller Weise von der Lobby für die Jugend gesprochen. Da es offensichtlich erheblichen gesellschaftlichen Widerstand bestimmter Gruppen gegen diese jugendfreundliche Maßnahme gibt: Ist der Bundesregierung bekannt — auch aus den Vorbereitungen für dieses Gesetz —, welche Verbände sich gegen eine derartige Bestimmung ausgesprochen haben? Wären Sie bereit, uns diese Verbände hier im Parlament zu nennen?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ich bin dazu im Augenblick nicht in der Lage. Informationen hierzu sind aber bei uns im Hause sicher vorhanden.
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20520 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Ich möchte die Abgeordnete Frau Skarpelis-Sperk bitten, sich die Frage noch einmal durchzulesen. Der innere Zusammenhang mit der Ausgangsfrage war auch hier nicht gegeben.
Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Ernst Hinsken auf:
Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um zu bewirken, daß in jeder Gaststätte wenigstens ein alkoholfreies Getränk zu einem Preis angeboten wird, der nicht höher liegt als der Preis für das billigste alkoholische Getränk der gleichen Menge?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, wie soeben ausgeführt, wollte die Bundesregierung mit dem schon mehrfach erwähnten Gesetzentwurf die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um das billige alkoholfreie Getränk durchzusetzen. Der Wirtschaftsausschuß hat dieses Anliegen mit einer sehr knappen Mehrheit von einer Stimme abgelehnt. In gesetzlicher Hinsicht sind der Bundesregierung natürlich die Hände gebunden. Unsere Aufgabe war, den Gesetzentwurf im Parlament einzubringen. Das ist geschehen.
Ich denke aber, wir sollten die Möglichkeiten zum Appell an die freiwillige Selbstverpflichtung des Gaststättengewerbes ausschöpfen. Jeder von uns kann daran mitwirken.
Herr Abgeordneter Hinsken.
Herr Staatssekretär, die Regelung der Abgabe eines alkoholfreien Getränks war — wie Sie selbst gesagt haben — Teil der gewerberechtlichen Vorschriften, die geändert werden sollen. Ich pflichte Ihnen zwar bei, daß die anderen zwei Kapitel sehr wichtig sind, aber ich frage mich doch: Warum hat es denn seitens der Bundesregierung einen Sinneswandel gegeben? Zunächst stimmte man zu: Auch der Bundesrat stimmte einstimmig zu, die mitberatenden Ausschüsse stimmten fast einstimmig zu und der federführende Ausschuß stimmte ursprünglich auch zu, mußte jetzt aber eine Korrektur vornehmen.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, es gibt keinen Sinneswandel der Bundesregierung. Es gibt eine mehrheitliche Entscheidung des Wirtschaftsausschusses; wenn ich es richtig im Kopf habe, mit 13 : 12 bei einer Enthaltung.
Ich respektiere die Erwägungen derer, die gesagt haben: Der mit großem Abstand wichtigste Teil — auch aus meiner Sicht — dieses Gesetzentwurfes ist der wirtschaftspolitische, nämlich die Novellierung der Gewerbeordnung, die wir dringend brauchen. Die Erwägung zahlreicher Kolleginnen und Kollegen, man solle den anderen Teil abtrennen und darüber noch einmal beraten, will ich hier nicht bewerten. Ich meine, man muß sehr wohl berücksichtigen, daß diejenigen, die der Auffassung waren, wir wollen jetzt diese Novellierung der Gewerbeordnung, die Anpassung an datenschutzrechtliche Erfordernisse, einen
wirtschaftspolitisch richtigen, wichtigen und eilbedürftigen Schritt tun wollen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hinsken.
Staatssekretär, wir wissen alle, daß sich fast 99 % aller Gastwirte sowieso daran halten. — Vorhin ist bereits eine diesbezügliche Frage gestellt worden, wurde aber nicht ausreichend beantwortet. — Welche Möglichkeit sehen Sie, auf die „schwarzen Schafe " intensiv Einfluß zu nehmen— die gegebenenfalls 1 % oder noch weniger ausmachen —, damit sie sich auch an das halten, woran sich 99 % unserer Gastwirte sowieso seit eh und je halten?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Hinsken, das hilft alles nichts. Wir müssen durch die Discos: Sie in Ihrem Wahlkreis, ich in meinem.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kubatschka.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade bestätigt, daß sich 99 % der Gastwirte daran halten, ein alkoholfreies Getränk billiger anzubieten als ein alkoholhaltiges. Bleiben Sie bei dieser Aussage?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nach meinen persönlichen Lebenserfahrungen ist das so. Es sind ganz wenige Ausnahmen. Ich muß hier aber klar sagen: Ich kann keinen Prozentsatz nennen. Doch es entspricht wohl auch Ihrer Erfahrung und auch der Erfahrung derer, die eine solche gesetzliche Regelung befürworten, daß sich der ganz, ganz überwiegende Teil der Gastwirte an die Empfehlungen der eigenen Verbände hält. Es geht nur um die Frage: Was macht man mit den „schwarzen Schafen"? Danach hat der Kollege Hinsken gefragt. Ich glaube in der Tat, alle Beteiligten sollten das persönliche Gespräch mit denen suchen, die sich nicht an die Empfehlung ihrer Verbände halten.
Ich muß noch einmal sagen: Ich kann mich hier nicht auf einen genauen Prozentsatz festlegen.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Skarpelis-Sperk.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, uns die Stellungnahmen der Verbände, die in dieser Frage Negativvoten abgegeben haben, noch in dieser Woche schriftlich zugänglich zu machen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ich hoffe, daß das technisch möglich sein wird. An der Bereitschaft mangelt es nicht.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Fragestunde.Ich habe Ihnen zunächst einmal folgende Amtliche Mitteilung zur Kenntnis zu geben: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20521
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergI. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Renate Blank, Georg Brunnhuber, Gernot Erler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Manfred Richter , Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme der Beamten und Arbeitnehmer der Bundesanstalt für Flugsicherung — Drucksache 12/8038 —b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Maria Michalk, Michael Wonneberger, Udo Haschke , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg), Ulrich Heinrich und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld — Drucksache 12/8039 —c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski, Alfons Müller , Dr. Ursula Lehr, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg), Ulrich Heinrich und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI ÄndG) — Drucksache 12/8040 —d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz — Drucksache 12/8047 —2. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 22)Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Haungs, Dr. Karl-Heinz Hornhues, Friedhelm Ost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Weiermann, Dr. Uwe Jens, Hans Berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Längerfristige Perspektiven der Stahlindustrie - Drucksache 12/8065 -3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Diskussion über die Steuerpolitik4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Siegrun Klemmer, Rolf Schwanitz, Christoph Matschie, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sanierung der radioaktiven Altlasten in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Brandenburg — Drucksache 12/8030 —5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Weitere Behandlung der Altkredite der LPG-Rechtsnachfolger - Drucksachen 12/7557, 12/8073 -6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes — Drucksache 12/8066 —7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dietmar Keller, Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Gleichstellung von ostdeutschen Lehrerinnen und Lehrern - Drucksache 12/8029 -Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.Des weiteren ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 4 a bis 4 c, Beamtenbesoldung, und den Tagesordnungspunkt 15, Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, abzusetzen. Die Beratung des Abgeordneten- und Europaabgeordnetengesetzes soll am Freitag nach den Abstimmungen zu den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses bereits gegen 9.10 Uhr aufgerufen werden.Ist das Haus mit diesen Verfahrensvorschlägen einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Es ist so beschlossen.Ich mache nunmehr darauf aufmerksam, daß sogleich die beiden vorgesehenen Geschäftsordnungsdebatten aufgerufen werden. Dann werden sich die Beratungen ohne Aussprache anschließen. In diesem Zusammenhang sind eine Reihe von Abstimmungen erforderlich, so daß die von der Fraktion der SPD verlangte Aktuelle Stunde gegen 13.50 Uhr beginnen kann.Ich eröffne die Geschäftsordnungsdebatte und erteile dem Abgeordneten Rolf Schwanitz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD beantragt heute mit einem Geschäftsordnungsantrag die sofortige Aufsetzung des Gesetzentwurfes des Bundesrates zu den Leistungen an Vertriebene, zu den 4 000 DM für die Vertriebenen, die in Ostdeutschland nach ihrem Vertreibungsschicksal ihre Heimat gefunden haben.
Diese Leistung war ein Wahlversprechen des Bundeskanzlers aus dem Wahlkampf 1990.
Seitdem wurde dieses Thema systematisch zugedeckt, systematisch ausgesessen, ohne es einer Lösung zuzuführen. Wir haben den Versuch unternommen, im Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz eine Lösung zu schaffen. Dies ist nicht gelungen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag den Versuch gemacht, eine Lösung dieser Frage im Rahmen der Gesetzgebung zur Kriegsfolgenbereinigung zu finden. Auch dies war vergeblich. Wir haben dann beobachtet, daß dieses Thema mit dem komplizierten Entschädigungsgesetz bewußt verbunden worden ist, gegen das Votum der Sozialdemokraten.
Wir haben bei der abschließenden Beratung des Entschädigungsgesetzes beantragt, die 4 000-DM-Regelung sofort in Kraft zu setzen,
und dafür einen solide finanzierten Vorschlag gemacht, nämlich den Entschädigungsfonds heranzuziehen. Diese Problematik hätte gelöst werden können. Sie haben dies abgelehnt.
Dieses Problem wird bewußt nicht gelöst. Es soll instrumentalisiert werden: Die Vertriebenen sind ein Mittel, um die Interessen der konservativen Alteigentümer in der ostdeutschen Landwirtschaft zu exekutieren.
Die Sozialdemokraten werden sich diesem Votum nicht anschließen. Sie wissen ganz genau, daß die Leistungen für Vertriebene mit dem Entwurf eines Entschädigungsgesetzes verknüpft worden sind, das
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20522 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Rolf Schwanitzin seiner jetzigen Fassung ein totes Gesetz ist. Sie wissen sehr genau, daß das ein totes Gesetz ist. Deswegen haben Sie den Gruppenantrag zu den Vertriebenenleistungen,
der aus Ihren Reihen, von CDU- und F.D.P.-Abgeordneten aus den neuen Ländern, gestellt worden ist und der deckungsgleich mit Forderungen der Sozialdemokraten ist, in den Ausschußberatungen bewußt stehengelassen, quasi als Rückversicherung.
Sie wissen ganz genau, daß das ein kompliziertes und unhaltbares Gesetz ist. Die Bundesregierung hat es bei der abschließenden Beratung vor wenigen Wochen offensichtlich noch nicht einmal für nötig gehalten, hier mit einem Mitglied der Bundesregierung in die Debatte einzugreifen. Daß ein Gesetzentwurf der Bundesregierung in zweiter und dritter Beratung noch nicht einmal durch einen Staatssekretär inhaltlich vertreten worden ist, ist eine Situation, die wir in diesem Haus wahrscheinlich noch nicht hatten.
Meine Damen und Herren, wir rufen Sie heute auf: Beenden Sie diese Geiselnahme der Vertriebenenleistungen für Ihre Restaurationspolitik!
Hören Sie mit der Blockade dieser Leistungen auf! Setzen Sie diese Diskussion heute fort, ermöglichen Sie die Diskussion des Thüringer Gesetzentwurfes, hinter dem der Bundesrat steht, und stimmen Sie diesem Antrag zur Geschäftsordnung zu!
Nun hat der Kollege Jürgen Rüttgers das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wer wie die Parlamentarischen Geschäftsführer häufig die Ehre und das Vergnügen hat, hier im Plenum bei Debatten anwesend zu sein, der weiß, daß dann, wenn besonders starke Worte gebraucht werden, meist über eine Unsicherheit hinweggeredet wird.
Was ist eigentlich der Sachverhalt? Bei den Zuwendungen für die Vertriebenen hat dieser Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit dem Entschädigungsgesetz eine Regelung beschlossen. Diese Regelung wird seit Monaten vom Bundesrat blockiert.
Seit Monaten weigert sich die SPD, sich auf eine ernsthafte Debatte dieser schwierigen Gesetzesmaterie einzulassen.
Wir haben deshalb den Weg über den Vermittlungsausschuß nehmen müssen, um diese Debatte zu erzwingen. Jetzt kommt eigentlich das Bedenklichste und Wichtigste: Während wir hier tagen, während wir uns das hier anhören mußten, tagt wenige Meter von hier entfernt der Vermittlungsausschuß u. a. zu einem Verfahren, wie dieses schwierige Entschädigungsgesetz und damit auch die Zuwendungen für Vertriebene in dieser Legislaturperiode, wenn es geht sogar in der nächsten Woche, noch ins Gesetzblatt kommen können.
Wir haben gerade vor wenigen Minuten — ich breche jetzt nicht das Geheimnis der Beratungen des Vermittlungsausschusses — beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzusetzen. Es gibt gute Signale, daß es unter Zuhilfenahme der ostdeutschen Länder gelingen kann, die gesamte schwierige Gesetzesmaterie jetzt zu lösen.
Was hier jetzt eigentlich passieren soll, ist, daß dieses im Grundgesetz vorgesehene Verfahren zum Ausgleich von Interessen zwischen Bundestag und Bundesrat unterlaufen werden soll, weil man das, was man so schnell machen kann, hier schnell präsentieren und sagen will: Ich habe damit gar nichts zu tun, da hinten blockiere ich; aber nach außen will ich so tun, als ob ich jedem wohltun und niemandem wehe tun kann. Das ist die Realität.
Wenn es nur darum geht, daß es hier eine Mehrheit gibt: Die Mehrheit ist da, die dafür sorgt, daß das, was im Grundgesetz vorgesehen ist, eingelöst wird. Ich muß doch sagen, meine Damen und Herren von der SPD: Ich halte dieses Verfahren, das Sie hier und gleich beim nächsten Gesetz noch einmal — zweimal an einem Tag — vorzuführen versuchen, für verfassungspolitisch völlig unerträglich.
Was hier versucht wird, ist, die Mehrheitsmeinung des Gesetzgebers, des Deutschen Bundestages mit allen Tricks zu unterlaufen.
Meine Damen und Herren, die Koalition wird Ihnen zu einer solchen verfassungspolitisch bedenklichen Handlung ihre Hand nicht reichen.
Als nächster erhält der Kollege Manfred Richter das Wort zur Geschäftsordnung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sehen uns heute einem erneuten Versuch der SPD-Fraktion gegenüber, die Plenartagesordnung mit einem weite-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20523
Manfred Richter
ren von Wahlkampftaktik diktierten Tagesordnungspunkt zu überfrachten.
Denn die SPD-Fraktion verlangt die Aufsetzung des Gesetzentwurfs des Bundesrates zu einem Vertriebenenzuwendungsgesetz und versucht, ein längst geschlossenes Faß wieder aufzumachen. Die Sachfrage, die die SPD nun als Gesetz fassen will, wurde bereits im Rahmen des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes nicht nur ausgiebig in den verschiedenen Ausschüssen des Deutschen Bundestages verhandelt, sondern am 20. Mai hier in zweifacher namentlicher Abstimmung auch beschlossen.
Die gleichen Bedenken, die die SPD-Vertreter aus Bund und Ländern anläßlich dieser Debatte geäußert hatten, als es um Art. 9 des EALG ging, finden sich nun im vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrats wieder. Man hört deutlich das Schlagen der Wahlkampftrommel, wenn die SPD jetzt längst getroffene Abstimmungsergebnisse in Frage stellen will.
Alle Argumente sind im Vorfeld ausgetauscht worden. Die SPD hatte Gelegenheit, ihre Position hinreichend klarzumachen.Wenn man dazu noch betrachtet, daß die Abstimmungsergebnisse bei der dritten Lesung des EALG von großer Eindeutigkeit waren, so gibt es gewichtige Gründe, die gegen das hier geäußerte Begehren der SPD, den gleichen Punkt erneut zu verhandeln, sprechen:Erstens. Insgesamt betrachtet, ist der vorliegende Gesetzentwurf nichts anderes als ein Änderungsantrag zu Art. 9 EALG. Allerdings ist er nicht als ein solcher gekennzeichnet. Ich glaube nicht, daß es förderlich wäre, ein vor knapp fünf Wochen beschlossenes Gesetz auf diese Weise in Frage zu stellen.
Zweitens. Die SPD argumentiert, daß eine Abspaltung der Vertriebenenzuwendung vom EALG mangels Sachzusammenhangs notwendig sei. Auch dieser Punkt ist am 20. Mai kontrovers und durchaus fruchtbringend hier im Plenum diskutiert worden. Es sollte allen Beteiligten klar sein, daß es sich bei der Zuwendung aufgrund ihres Charakters nicht um eine Entschädigung handeln kann und soll. Der Sachzusammenhang entsteht vielmehr aus einer anderen Grundlage. Erst mit der Einbindung der Vertriebenenzuwendung im EALG ergibt sich die Möglichkeit einer haushaltsneutralen Finanzierungsgrundlage, nämlich der Finanzierung im Rahmen der Einnahmen aus dem Entschädigungsfonds, wie ja im EALG festgelegt ist.Drittens. Man muß gar nicht unbedingt auf die inhaltliche Seite abstellen, um die Notwendigkeit einer Beratung dieses Gesetzentwurfs in Frage zu stellen. Sehr erheblich ist die Tatsache, daß eine — dies möchte ich unterstellen — von der SPD angestrebte Beschleunigung der Zuwendungsvergabe auf diesem Wege nicht zu erreichen ist.Schließlich ist es die eine Sache, Vergabefristen für die Zuwendungen im Gesetz festzulegen, und zwar wesentlich gegenüber früheren Vorschriften vorzuziehen. Eine andere Sache ist es, ihre Finanzierung im selben Gesetz festzuschreiben und zu garantieren. An genau diesem Punkt hapert es jedoch in dem Gesetzentwurf des Bundesrates. Aufgrund der allseits bekannten Haushaltslage bestehen außerhalb der Vereinbarung des EALG keine Finanzierungsmöglichkeiten für die Vertriebenenzuwendung. Eine Abspaltung des Vertriebenenzuwendungsgesetzes würde diese Finanzierungsgrundlage zunichte machen.Die F.D.P.-Fraktion sieht in dem Gesetzentwurf des Bundesrates keine Möglichkeit, das Verfahren der Vertriebenenzuwendung zu beschleunigen, und spricht sich dagegen aus, diese Gesetzesinitiative auf die Tagesordnung zu setzen.
Nun erhält zur Geschäftsordnung die Kollegin Andrea Lederer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Rüttgers, wenn ich Ihre starken Worte nehme, dann spricht das, ehrlich gesagt, auch für ein wenig Verunsicherung auf seiten der Regierungskoalition. Sie waren jedenfalls um keinen Deut weniger Wahlkampfgetrommel als das, was der SPD vorgeworfen wurde.
Die PDS/Linke Liste unterstützt den Aufsetzungsantrag der Fraktion der SPD,
das Vertriebenenzuwendungsgesetz aus dem Paket der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen herauszulösen. Es besteht kein zwingender Zusammenhang, beides in einem Paket zu regeln. Das Argument z. B. der Bundesregierung, daß die Frage der Zuwendung für diese sogenannten Vertriebenen nicht gesondert geregelt werden könne, weil nur der. Entschädigungsfonds als Finanzierungsgrundlage in Frage komme, erscheint uns überhaupt nicht stichhaltig.Die Koalition will mit der Verquickung von Vertriebenenzuwendungen und Ausgleichsleistungsregelungen Druck ausüben, damit die Bodenreformenteigneten und ihre Nachkommen billig zu Lasten der Landwirte, die in LPG-Nachfolgeeinrichtungen tätig sind, zu Treuhandland kommen. Die Verknüpfung beider Regelungen mit der Verwertung der Treuhandflächen steht unserer Auffassung nach im Wider-
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Andrea Ledererspruch zum Einigungsvertrag und fortgeltenden DDR-Recht. Dennoch sollten die Zuwendungsempfänger darunter nicht leiden. Deshalb ist die gesonderte Behandlung des Vertriebenenzuwendungsgesetzes dringend geboten.Unser Plädoyer für die gesonderte Behandlung bedeutet allerdings nicht, daß wir diesem Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung vollinhaltlich zustimmen können. Wir sehen durchaus Änderungsbedarf. Das gilt z. B. für die Regelung, wonach mit der einmaligen Zuwendung nur die innerstaatliche Abgeltung aller materiellen Schäden und Verluste, die mit den Ereignissen und Folgen des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang stehen, verbunden ist, jedoch Ansprüche an sogenannte Schädiger, nämlich an unsere osteuropäischen Nachbarn, nicht ausgeschlossen sind. Das halten wir für unvertretbar.Dieses Offenhalten der Eigentumsfrage dient nämlich revanchistischen Verbänden seit Jahren als eine juristische Basis ihres Agierens. Wir sind der Meinung, daß im Rahmen von Beratungen und im Rahmen der eigentlichen Debatte hierüber neu befunden und eine bessere Regelung getroffen werden muß.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit kommen wir zur Abstimmung.
Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.
Es wurde ebenfalls fristgerecht von der Fraktion der SPD beantragt, die Tagesordnung um die erste Beratung des von der SPD eingebrachten Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes zu erweitern. Dieser Punkt soll heute ohne Debatte behandelt werden.
Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? — Frau Kollegin Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir bitten, auch dies auf die Tagesordnung zu setzen. In der Sache sind wir uns einig. Ich denke, daß es eine Chance gibt, miteinander so ins Gespräch zu kommen, daß wir alle sagen: Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf Rechtsextremismus bekämpfen, Rechtsextremismus ächten, und die strafrechtlichen Mittel sind dazu die Präzisierung des Verbots der Verwendung rechtsextremistischer Propagandamittel und der sogenannten Umgehungssymbole.
Und wir wollen endlich mit Ihnen zusammen die Auschwitz-Lüge unter Strafe stellen. Meine Damen und Herren, darin sind wir uns einig.
Wir unterscheiden uns aber darin, daß Sie auch dieses Gesetzesvorhaben in ein großes Paket eingeschnürt haben, nämlich das Verbrechensbekämpfungsgesetz. Ich bedauere sehr, daß Sie sich nicht in der Lage sehen, diesen Teil aus dem Gesetzesweg herauszunehmen. Denn ich denke, es wäre ein gutes Signal, wenn alle im Bundestag vertretenen Parteien dieses Vorhaben getrennt von dem übrigen Verbrechensbekämpfungsgesetz verabschieden würden, weil dann klar wäre: Der ganze Deutsche Bundestag will Rechtsextremismus bekämpfen. Meine Damen und Herren, dazu sollten Sie sich durchringen.
Auch hier bleiben Sie bei einer Paketlösung. Ich bedauere das sehr. Ich denke, daß die Gemeinsamkeit der Demokraten hier ein Signal geben könnte. Das würde uns allen guttun.
Aber, meine Damen und Herren, Sie wollen das nicht. Sie wollen nach Ihrem Motto verfahren: Wenn ihr der aus SPD-Sicht verfassungswidrigen Erweiterung des Bundesnachrichtendienstes zustimmt, dann sind wir bereit, die Auschwitz-Lüge unter Strafe zu stellen.
Solch ein Handel ist mit uns nicht zu machen, meine Damen und Herren.
Deswegen beantragen wir hier, daß wir die Gemeinsamkeit der Demokraten nutzen, um vom Deutschen Bundestag ausgehend das Signal zu geben: Gemeinsam wollen wir endlich die AuschwitzLüge unter Strafe stellen. Warum Sie dieses Vorhaben nicht losgelöst von anderen Vorhaben mit uns zusammen heute regeln können, das verstehe ich nicht. Wir beantragen, es jetzt auf die Tagesordnung zu setzen.
Zur Geschäftsordnung hat der Kollege Rüttgers das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Frau Kollegin Fuchs, ich will eines ausdrücklich bestätigen: Wir sind uns in der Sache einig, was wir im Kampf gegen den Rechtsextremismus in Deutschland tun wollen.
Deshalb hat dieser Bundestag nach ausführlichen Vorberatungen im Innenausschuß und im Rechtsausschuß auch zu diesen Passagen einvernehmlich Vorschläge gemacht.Aber anscheinend sind wir uns nicht darüber einig, daß ein Signal gegen den Rechtsradikalismus zu setzen, genauso wichtig ist, wie ein Signal im Kampf gegen das Verbrechen in Deutschland zu setzen.
Weil wir dies wollen, haben wir den schnellstmöglichen Weg gewählt, beide Komplexe in einem Gesetz in dieses Gesetzgebungsverfahren hineinzugeben. Es gibt eine ganz einfache Methode, noch viel schneller
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Dr. Jürgen Rüttgersals über den Weg, den Sie gerade vorgestellt haben, zu Resultaten zu kommen,
sowohl im Kampf gegen die Massenkriminalität, sowohl im Kampf gegen das organisierte Verbrechen als auch im Kampf gegen den Rechtsextremismus:
Stimmen Sie den Lösungen im Vermittlungsausschuß und am 8. Juli im Bundesrat zu! Dann ist das noch im kommenden Monat im Gesetzblatt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden diesen Antrag ablehnen, weil es hier nicht nur darum geht, Verbrechen zu bekämpfen, Rechtsextremismus zu bekämpfen, sondern weil es auch wichtig ist, daß klar wird, wie sich politische Kultur in Deutschland darstellt.Vor wenigen Tagen hat hier überall in Deutschland ein Plakat gehangen mit dem Slogan: „Die Mafia zerschlagen! " Jetzt kommen Sie und sagen: Einen Punkt wollen wir ganz schnell lösen; an das andere trauen wir uns nicht heran, da haben wir Bedenken, da wollen wir nichts tun.
Weil dies so ist und weil wir Sie nicht mit dieser Rhetorik durch Deutschland laufen lassen, deshalb werden wir Ihren Antrag heute hier ablehnen.
Nun hat der Kollege Manfred Richter das Wort zur Geschäftsordnung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD möchte mit diesem Gesetzentwurf einige Punkte aus dem Entwurf des Verbrechensbekämpfungsgesetzes herauslösen, das vom Bundestag in zweiter und dritter Lesung mit der Mehrheit der Regierungskoalition und gegen die Stimmen der Opposition verabschiedet wurde und das durch die Verweigerungshaltung der SPD und ihrer Bundesratsmehrheit jetzt im Vermittlungsausschuß liegt.
Dieses Verhalten und seine Bewertung ist der vorangegangenen Diskussion in diesem Hause zum Thema Vertriebenenzuwendungsgesetz durchaus vergleichbar. Die SPD-Länder betreiben im Bundesrat die schlagzeilenträchtige Ablehnung vom Bundestag verabschiedeter umfassender Gesetzentwürfe; die SPD-Fraktion greift sich dann einige Punkte heraus, hängt ihnen sozusagen ein rotes Mäntelchen um und versucht, diese Punkte unter eigener Flagge durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, gerade der Bereich der im Verbrechenbekämpfungsgesetz mitbehandelten§§ 86, 86a, 130, 131 StGB war ein wesentlicher Teil dieses Gesetzentwurfs. Wenn die SPD nun versucht, den Eindruck zu erwecken, ohne ihre Initiative sei eine positive Entscheidung für diesen Bereich nicht möglich, so ist dies schon eine bemerkenswerte Verdrehung der Tatsachen.
Über die Notwendigkeit der Eindämmung rechtsradikaler und neonazistischer Propaganda besteht Konsens,
und auch die Konkretisierung der Strafbarkeit des Leugnens von Nazi-Verbrechen, die sogenannte Auschwitz-Lüge, hat im Zuge der Beratungen zum Verbrechensbekämpfungsgesetz und zusätzlich im Wege einer Änderung durch den Rechtsausschuß die erforderliche Klarheit erreicht. Gerade über diesen Bereich einer Ausweitung der Strafbarkeit konnte im Rechtsausschuß eine alle Fraktionen und Gruppen übergreifende Übereinstimmung erzielt werden.
Meine Damen und Herren, das Vorhaben, rechtsextremistischen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln nachdrücklich und entschlossen zu begegnen, steht in einem notwendigen Sachzusammenhang mit den übrigen Vorschriften des Verbrechensbekämpfungsgesetzes.
Ich halte es nicht zuletzt für ein Signal, rechtsradikale Straftäter nicht noch durch eine Spezialbehandlung sozusagen zu adeln,
sondern sie in einen Gesetzgebungszusammenhang zu stellen, der den verbrecherischen Charakter ihrer Taten deutlich macht.
Dies, meine Damen und Herren, muß auch schon im Titel des Gesetzes herausgestellt werden. Der Entwurf des Verbrechensbekämpfungsgesetzes, dem die SPD insgesamt ihre Zustimmung verweigerte, ist nach unserer Auffassung ein Sicherheitsmosaik, dessen Gesamtbild daran leiden würde, wenn einzelne Steine aus ihm entfernt würden. Abgesehen von dieser inhaltlichen Seite gibt es funktionale Argumente, die gegen den nunmehr erstmals vorliegenden Gesetzentwurf der SPD sprechen.Es liegt auf der Hand, daß eine Verfahrensbeschleunigung und damit eine effektive Bekämpfung rechtsradikaler Auswüchse durch Kompromißbereitschaft und Konsensfähigkeit im Vermittlungsausschuß bei
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Manfred Richter
der Beratung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes erreicht werden können.
Welche Chancen die SPD sieht, ihren Gesetzentwurf in den Wirren des bevorstehenden Wahlkampfes schnellstmöglichst behandeln zu können, das bleibt der Phantasie der Sozialdemokraten überlassen.
Die F.D.P. wendet sich entschieden gegen die Aufsetzung des Gesetzentwurfs.
Nun zur Geschäftsordnung die Kollegin Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muß sagen, ich finde es skandalös, wie dieses Thema, dieser Antrag hier behandelt werden, nämlich in Form eines Handels, indem von der SPD eine Zustimmung — einmal dahingestellt, wie man das Verbrechensbekämpfungsgesetz beurteilt — verlangt wird und ihr andernfalls eine Regelung verweigert wird, über die offenkundig Konsens besteht.
Fakt ist, daß die Regelung zur sogenannten Auschwitz-Lüge identisch ist mit dem, was von der Regierungskoalition vorgeschlagen wurde. Sie aber weigern sich, und zwar ohne Debatte — sprich: ohne längere Debattenzeit —, die erste Lesung hier durchgehen zu lassen, nur um Ihre Wahlkampfvorstellungen durchzusetzen, obgleich alle hier wahlkampfartig behaupten, sie wollten möglichst schnell Regelungen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und von Antisemitismus verabschieden.
Ich finde es skandalös, daß in diesem Zusammenhang von Mosaiksteinen und ähnlichen Dingen geredet wird. Ich bin der Auffassung — vielleicht lassen sich einige Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition noch überzeugen —, daß im Interesse einer wirklichen Bekämpfung des Rechtsextremismus dieses Gesetz heute hier behandelt werden muß, weil dann nämlich möglich gemacht wird, daß der Deutsche Bundestag bereits in der nächsten Sitzungswoche dieses Gesetz, über das Konsens besteht, verabschiedet. Das verweigern Sie hier, indem Sie dem. Antrag nicht zustimmen.
Die PDS/Linke Liste stimmt dem Aufsetzungsantrag zu.
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung.Wer stimmt für diesen Aufsetzungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? Damit ist dieser Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 a bis g sowie den Zusatzpunkt 1 a bis d auf:21. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der finanziellen Voraussetzungen für die Neugliederung der Länder Berlin und Brandenburg— Drucksache 12/7818 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder
— Drucksache 12/7819 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Notenwechsel vom ... zur Änderung des Notenwechsels vom 25. September 1990 zum NATO-Truppenstatut— Drucksache 12/7980 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschußd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Mai 1994 zur Änderung des Unterzeichnungsprotokolls zum Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut— Drucksache 12/8018 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuße) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierseuchengesetzes— Drucksache 12/8007 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Gesundheitf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes— Drucksache 12/8008 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsteng) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der
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Vizepräsidentin Renate Schmidtbundeseigenen Liegenschaft Hohbergweg 2 in Lahr/Schwarzwald— Drucksache 12/7882 —Überweisungsvorschlag: HaushaltsausschußZP1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Renate Blank, Georg Brunnhuber, Gernot Erler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Manfred Richter , Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme der Beamten und Arbeitnehmer der Bundesanstalt für Flugsicherung— Drucksache 12/8038 — Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Innenausschuß Rechtsausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Maria Michalk, Michael Wonneberger, Udo Haschke , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Gisela Babel, DieterJulius Cronenberg (Arnsberg), Ulrich Heinrich und der Fraktion der F.D.P. eingbrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld— Drucksache 12/8039 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußRechtsausschußAusschuß für Familie und SeniorenHaushaltsausschußgemäß § 96 GOc) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski, Alfons Müller , Dr. Ursula Lehr, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU sowie den Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg), Ulrich Heinrich und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI ÄndG)— Drucksache 12/8040 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschußgemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz
— Drucksache 12/8047 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Auswärtiger AusschußRechtsausschußAusschuß für VerkehrHaushaltsausschußEs handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22a bis v sowie den Zusatzpunkt 2 auf:22. Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft— Drucksache 12/7770 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 12/8069 —Berichterstattung: Abgeordneter Horst Sielaffb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingegbrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 24. Juli 1992 über die Errichtung, den Bau und den Betrieb einer Urananreicherungsanlage in den Vereinigten Staaten von Amerika— Drucksache 12/7494 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
— Drucksache 12/8028 —Berichterstattung:Abgeordnete Heinrich Seesing Horst KubatschkaJürgen Timmc) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 4. Oktober 1993 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Tschechischen Republik— Drucksache 12/7621 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/8033 —Berichterstattung: Abgeordneter Erich Fritz
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20528 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate Schmidtd) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 4. Oktober 1993 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Slowakischen Republik— Drucksache 12/7622 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/8043 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Elke Leonharde) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. September 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kasachstan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 12/7502 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/8034 —Berichterstattung: Abgeordneter Erich Fritzf) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Albanien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 12/7503 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/8020 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter W. Reuschenbachg) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen— Drucksache 12/6838 —
Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 12/7881 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Ludwig Stieglerh) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung und sonstiger gewerberechtlicher Vorschriften— Drucksache 12/5826 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/8005 —Berichterstattung: Abgeordneter Josef Grünbecki) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare zweiunddreißigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/7187, 12/7789 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Elke Leonhardj) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare EinhundertvierundzwanzigsteVerordnung zur Änderung der Einfuhrliste— Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz— Drucksachen 12/7155, 12/7794 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmannk) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der Wiley-Kaserne in Neu-Ulm— Drucksachen 12/7349, 12/7949 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Adolf Roth
Werner Zywietz1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung des Schul- und Kindergartenareals in München, Perlacher Forst— Drucksachen 12/7535, 12/7950 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Adolf Roth
Werner Zywietzm) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20529
Vizepräsidentin Renate SchmidtEinwilligung gemäß § 65 Abs. 7 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der Lufthansa-Anteile des Bundes— Drucksachen 12/7970, 12/8080 —Berichterstattung:Abgeordnete Ernst Waltemathe Wilfried BohlsenWerner Zywietzn) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses
Übersicht 13über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht— Drucksache 12/7744 —Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmanno) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Antje-Marie Steen, Carl Ewen, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Antje-Marie Steen, Carl Ewen, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDReisemöglichkeiten für behinderte Menschenzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rolf Olderog, Wilfried Bohlsen, Wolfgang Börnsen , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Dr. Eva Pohl, Dr. Olaf Feldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Urlaubs- und Freizeitmöglichkeiten für behinderte Menschen— Drucksachen 12/5086, 12/6288, 12/6290, 12/7993 —Berichterstattung:Abgeordnete Wolfgang Börnsen Antje-Marie SteenJürgen Türkp) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Errichtung eines europäischen Schiffsmeldesystems in den Seegebieten der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft— Drucksachen 12/6902 Nr. 2.54, 12/7860 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Margrit Wetzelq) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung desRates zur Durchführung der IMO-Entschließung A. 747 über die Vermessung der Ballasträume in Öltankschiffen mit Tanks für getrennten Ballast— Drucksachen 12/6902 Nr. 2.53, 12/7861 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Margrit Wetzelr) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an EisenbahnunternehmenVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahnen und die Berechnung von Wegeentgelten— Drucksachen 12/6902 Nr. 2.55, 12/7862 —Berichterstattung: Abgeordneter Roland Kohns) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 155 zu Petitionen— Drucksache 12/7952 —t) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 156 zu Petitionen — Drucksache 12/7953 —u) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 157 zu Petitionen— Drucksache 12/7966 —v) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 158 zu Petitionen — Drucksache 12/7954 —ZP2 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Haungs, Dr. Karl-Heinz Hornhues, Friedhelm Ost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Weiermann, Dr. Uwe Jens, Hans Berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Längerfristige Perspektiven der Stahlindustrie— Drucksache 12/8065 —Dabei handelt es sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Darf ich zuvor darum bitten, daß diejenigen, die mit abstimmen wollen, Platz nehmen und die anderen den Saal verlassen. — Herzlichen Dank.Zum Gesetzentwurf zur Änderung der Gewerbeordnung, Tagesordnungspunkt 22h, liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
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20530 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate SchmidtWir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 22a, und zwar zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft auf den Drucksachen 12/7770 und 12/8069. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. —Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf auch in dritter Beratung angenommen.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 22b, und zwar zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Vereinbarung über die Errichtung, den Bau und den Betrieb einer Urananreicherungsanlage in den USA auf Drucksache 12/7494. Der Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 12/8028, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig bei einer großen Zahl von Stimmenthaltungen angenommen.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 22c, und zwar zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Europa abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Tschechischen Republik auf Drucksache 12/7621. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/8033, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf bei einer Gegenstimme angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22d, und zwar zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Europaabkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Slowakischen Republik auf Drucksache 12/7622. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/8043, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch dieser Gesetzentwurf bei einer Gegenstimme mit großer Mehrheit angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22 e. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag mit der Republik Kasachstan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen auf Drucksache 12/7502. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/8034, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmtdagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22f. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag mit der Republik Albanien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen auf der Drucksache 12/7503. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/8020, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22g. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen auf Drucksache 12/6838. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7881, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22 h. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung und sonstiger gewerberechtlicher Vorschriften auf den Drucksachen 12/5826 und 12/8005. Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/8049 und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/8055 vor.
Diese beiden Änderungsanträge sind inhaltsgleich. Kann ich deshalb davon ausgehen, daß wir über beide Änderungsanträge gemeinsam abstimmen? — Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann wird so verfahren. Wer stimmt für diese Änderungsanträge? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit sind diese Änderungsanträge abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei einigen Stimmenthaltungen und einer großen Anzahl von Gegenstimmen angenommen.Wir kommen damit zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf bei vier Stimmenthaltungen einstimmig angenommen. Ich möchte darauf hinweisen, daß zu diesem Tagesordnungspunkt eine persönliche Erklärung des Kollegen Ernst Hinsken nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegt *).*) Anlage 4
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20531
Vizepräsidentin Renate SchmidtWir kommen zum Tagesordnungspunkt 22i. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf den Drucksachen 12/7187 und 12/7789. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einer Gegenstimme angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22j. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Einfuhrliste auf den Drucksachen 12/7155 und 12/7794. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung bei einer Gegenstimme angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 22k. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Veräußerung der Wiley-Kaserne in Neu-Ulm auf den Drucksachen 12/7349 und 12/7949. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen?— Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 221. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Veräußerung eines Schul- und Kindergartenareals in München, Perlacher Forst, auf den Drucksachen 12/7535 und 12/7950.
— Na selbstverständlich; alles, was aus Bayern kommt, ist wichtig, Herr Kollege Larcher.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 22m. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Einwilligung in die Veräußerung der Lufthansa-Anteile des Bundes auf den Drucksachen 12/7970 und 12/8080. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen?— Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einer Gegenstimme angenommen.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 22n, der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht auf der Drucksache 12/7744. Das ist die Übersicht 13. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei zwei Enthaltungen einstimmig angenommen.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 22 o. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu Reise-, Urlaubs- und Freizeitmöglichkeitenfür behinderte Menschen auf den Drucksachen 12/6288, 12/6290 und 12/7993. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22p. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Vorschlag für eine Richtlinie der Europäischen Union zur Errichtung eines Schiffsmeldesystems auf der Drucksache 12/7860. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 22 q. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Vorschlag für eine Verordnung der Europäischen Union über die Vermessung der Ballasträume in Öltankschiffen auf der Drucksache 12/7861. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22r. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu den Vorschlägen für Richtlinien der Europäischen Union zu Betriebsgenehmigungen an Eisenbahnunternehmen und zur Zuweisung von Fahrwegkapazitäten auf der Drucksache 12/7862. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer will dagegen stimmen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einer Enthaltung einstimmig angenommen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 s bis 22v. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/7952, 12/7953, 12/7966 und 12/7954. Das sind die Sammelübersichten 155 bis 158. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer möchte dagegen stimmen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei zwei Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu längerfristigen Perspektiven der Stahlindustrie auf der Drucksache 12/8065 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen.Ich bedanke mich für die Disziplin, und Sie bedanken sich, daß es so schnell gegangen ist.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf:Aktuelle StundeHaltung der Bundesregierung zur aktuellen Diskussion über die SteuerpolitikDie Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde verlangt.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
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20532 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Monaten hat die Bundesregierung angekündigt, sie werde bis zum Sommer ihr Steuerkonzept für die nächsten Jahre vorlegen. Der Sommer ist zwar da, aber die Bundesregierung weigert sich, ihr Konzept vorzulegen, und dieser Wortbruch kommt nicht von ungefähr. Was die Bundesregierung steuerpolitisch vorhat, soll nicht an das Licht der Öffentlichkeit; denn der Bürger würde dann merken, daß Sie von der Koalition eine Steuerpolitik fortsetzen wollen, die nicht nur ungerecht und unsolide, sondern auch familienfeindlich ist und die Bürger verfassungswidrig zu hoch besteuert.
Da entscheiden Sie sich doch lieber gleich wieder für die Unehrlichkeit.Steuererhöhungen wird es nicht geben, sagen Sie. In Ihrer mittelfristigen Finanzplanung aber haben Sie eine Mineralölsteuererhöhung bereits fest eingeplant, und das, nachdem Sie die Mineralölsteuer in den letzten fünf Jahren bereits um mehr als 50 Pfennig pro Liter erhöht haben, ohne dafür im Gegenzug die Lohnsteuer zu senken. Daß Sie außerdem vorhaben, die Mehrwertsteuer schon wieder zu erhöhen, pfeifen doch selbst in Regierungskreisen die Spatzen von den Dächern, meine Damen und Herren.
Der ganze Vorgang
erinnert peinlich an den Herbst 1990. „Keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit" haben Sie damals geschworen, und dann kam nach der Wahl das größte Steuer- und Abgabenerhöhungspaket aller Zeiten. Wir sagen Ihnen: Setzen Sie nicht schon wieder die nächste Steuerlüge in Gang, meine Damen und Herren!
Ihre Steuerpolitik ist sozial ungerecht. Auf der einen Seite: Arbeitnehmerfreibetrag gestrichen, Weihnachtsfreibetrag gestrichen, Essenzuschußfreibetrag gestrichen. Auf der anderen Seite: Senkung des Spitzensteuersatzes, Senkung der Vermögensteuer, Senkung der Gewerbekapitalsteuer. Das Ganze ist durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert. Da hat doch schon Ihr Herr Geißler gesagt, das sei schlimmer als der Flugbenzinskandal, meine Damen und Herren.Oder nehmen Sie nur das Kürzungspaket vom letzten Dezember: Bei Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Familien mit Kindern wurde gekürzt, Steuersubventionen aber blieben erhalten, wie z. B. die völlig unsinnige steuerliche Absetzbarkeit von Schmiergeldern. Da will der Herr Rexrodt den Privatleuten, die mehr als 240 000 DM im Jahr verdienen, gleich noch einmal den Spitzensteuersatz senken, als hätte Deutschland nicht andere Sorgen als die Senkung der Steuern für Einkommen oberhalb von 240 000 DM, meine Damen und Herren.
Handlungsbedarf besteht bei der Masse der Lohn- und Einkommensteuerzahler, die unter Ihrer Regierung mit Steuern und Abgaben so hoch zur Kasse gebeten werden wie nie zuvor in dieser Republik. Bis heute besteuern Sie — verfassungswidrig — das Existenzminimum, obwohl das Bundesverfassungsgericht Sie dazu verurteilt hat, diesen Zustand bis spätestens 1. Januar 1996 abzustellen.
Ihre Verfassungsverstöße in der Steuerpolitik sind langsam unerträglich, meine Damen und Herren.Solide ist das Ganze auch nicht. Zu Steuersenkungsversprechen bei 2 Billionen DM Staatsschulden — davon allein 1,4 Billionen DM beim Bund — sage ich Ihnen: Wie oft wollen Sie eigentlich noch die Staatsverschuldung weiter hochtreiben zu Lasten unserer Kinder und Enkel, deren Einkommen wir im Moment schon verfrühstücken, meine Damen und Herren?
Die Familien mit Kindern kommen bei Ihrer Steuerpolitik erst recht unter die Räder. Sie tun nicht nur zuwenig,
sondern das auch für die Falschen. 65 DM für das Kind von Kleinverdienern im Monat, 181 DM Steuerentlastung für das Kind von Spitzenverdienern im Monat: Das ist grob ungerecht, und diese Ungerechtigkeit wollen Sie noch verschärfen. Da sagen wir: So darf das nicht weitergehen.
Wir stellen Ihrer unehrlichen, ungerechten, unsoliden, familienfeindlichen und verfassungswidrigen Steuerpolitik unser Konzept entgegen.
Erstens. 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an.Zweitens. Das Existenzminimum muß endlich steuerfrei gestellt werden.
Drittens. Der Solidaritätszuschlag muß abgeschafft
und durch eine Ergänzungsabgabe ersetzt werden, die aber nur für Einkommen gilt, die höher liegen als 60 000 DM brutto bei Ledigen bzw. 120 000 DM brutto bei Verheirateten. Über 80 der Steuerzahler würden durch unser Konzept freigestellt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20533
Ingrid Matthäus-MaierMan kann für unser Steuerkonzept sein oder auch dagegen, aber im Unterschied zu Ihnen
können wir damit ehrlich vor die Menschen treten. Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Hansgeorg Hauser das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Ansetzung dieser Aktuellen Stunde erleben wir, daß offensichtlich die Fensterreden von seiten der SPD hier irgendwie fortgesetzt werden sollen.
Wir haben vorhin schon vollkommen unnütze Geschäftsordnungsdebatten führen müssen. Hier geht es offensichtlich weiter. Wir könnten diese Zeit sehr, sehr sinnvoll verwenden, indem wir im Finanzausschuß weiter unsere sachliche Arbeit machten.
Wir mußten unsere Anhörung abbrechen. Wir hätten das mit diesen hervorragenden Vorschlägen zur Steuervereinfachung noch sehr gern fortgesetzt.
Wir müssen nachher die Sitzung des Finanzausschusses ausdrücklich verschieben,
um diese unsinnige Debatte führen zu können.Allein Ihre Ausführungen, Frau Matthäus-Maier, haben schon gezeigt, daß es Ihnen nur darum geht, Ihre Fensterreden von früher einfach fortzusetzen.
Geben Sie das doch einfach zu Protokoll! Das wäre das Einfachste.Es stimmt einfach nicht, daß der Weihnachtsfreibetrag abgeschafft worden ist. Sie wissen natürlich, daß er in den Arbeitnehmerpauschbetrag eingebunden wurde.Sie wissen auch, daß Schmiergelder nur dann angesetzt und steuerlich abgezogen werden können, wenn der Empfänger benannt wird. Also auch hier verbreiten Sie die Unwahrheit, indem Sie sagen, es gebe steuerliche Vergünstigungen.
— Die Absetzung von Schmiergeldern ist nur dannmöglich, wenn der Empfänger benannt wird. Dasheißt, die Erhebung der Steuer ist damit gesichert. Dasist doch etwas, was Sie in Ihren Reden immer wieder weglassen.
Sie sprechen davon, daß es eine Ungerechtigkeit wäre, wenn der Spitzensteuersatz weiter abgesenkt würde. Wir haben bei der Anhörung zur Steuervereinfachung gerade ausdrücklich gehört, daß wir den gespreizten Steuersatz bei der Einkommensteuer beseitigen und auf einen niedrigeren Steuersatz senken müssen. Das ist uns von allen Experten ausdrücklich empfohlen worden.Sie sprechen sicherlich, wenn Sie von den Diskussionen über die Steuerpolitik der Koalition reden, auch den Disput zwischen F.D.P. und CDU/CSU zum Solidaritätszuschlag und zu dessen Abschaffung an. Wir haben eine Fülle von Gemeinsamkeiten mit der F.D.P. auf dem steuerpolitischen Gebiet. Wir brauchen hier nicht unbedingt auch noch ein gemeinsames Wahlprogramm. Es genügt, wenn wir diese Gemeinsamkeiten haben und wenn wir das auch nach draußen deutlich zum Ausdruck bringen.Es geht lediglich um die Überprüfung des Solidaritätszuschlages. Hier haben wir ganz klipp und klar gesagt, daß es sich um einen vorübergehenden Zuschlag handelt und daß dieser vorübergehende Zuschlag natürlich jedes Jahr auch auf den Prüfstand gehört. Wenn wir in der Lage sind, diesen Zuschlag abzuschaffen, dann werden wir es selbstverständlich tun.Ich darf Sie daran erinnern, warum wir diesen Zuschlag eingeführt haben, übrigens mit Ihrer Zustimmung im Bundesrat. Sie haben zugestimmt, daß für die Beseitigung der Folgen der sozialistischen Mißwirtschaft, deren Kosten wir jetzt in den Haushalt einbinden müssen, ein Solidaritätszuschlag erhoben wird.Was wollen Sie denn machen? Sie wollen eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende erheben. Allein das Wort „Besserverdienende" impliziert schon die Neidhaltung, die Sie damit ausdrücken wollen.
Es geht um die Bessergestellten. Reden Sie doch von denen, die höher mit Steuern belastet sind! Dann können wir uns wesentlich eher darüber verständigen.Außerdem: Ihre Ergänzungsabgabe hat ein wesentlich geringeres Aufkommen als der Solidaritätszuschlag, und Sie wollen das obendrein noch für ganz andere Zwecke verwenden. Ich frage Sie: Wie soll dieser Fonds in den künftigen Jahren finanziert werden? Das ist mit Ihrer Methode absolut nicht möglich.Ich kann nur wiederholen, was die „Süddeutsche Zeitung" geschrieben hat. Das, was Sie als Steuerprogramm bezeichnen, hat die „Süddeutsche Zeitung" so charakterisiert: Es sei ein Gemischtwarenladen ohne Preisschilder, bei dem sich jeder etwas aussuchen kann, nur bezahlt wird später.Meine Damen und Herren, das ist Ihr Steuerprogramm. Sie wollen der Bevölkerung weismachen, daß
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20534 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Hansgeorg Hauser
das die bessere Alternative ist. Das lehnen wir entschieden ab.
Als nächster hat Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden hier wohl über die Steuerpolitik der nächsten Legislaturperiode. Jedenfalls war das der Titel der Aktuellen Stunde: „Haltung der Bundesregierung ...". Offenbar erwartet die SPD nach dem 16. Oktober dieselbe Bundesregierung im Amt.
Damit, meine Damen und Herren, haben Sie natürlich recht. Von dem gestern in Halle erzeugten Kunststoff Zuversicht ist auf der Reise hierher wohl einiges schon wieder verdampft.Meine Damen und Herren, die F.D.P. stellt fest: Wir haben eigene steuerpolitische Vorstellungen. Wir führen keinen Koalitionswahlkampf. Herr Hauser hat völlig recht. Nach der Wahl ist es Zeit, Koalitionen zu bilden und deren Programme zu vereinbaren.
Wir sagen allerdings, welche Koalition wir wollen. Wir drücken uns nicht darum, wie Sie es tun.Unser Ziel ist eine solide Finanz- und Haushaltspolitik.
Unser Ziel ist Ausgabensenkung, und das in allen denkbaren Bereichen — dazu gehört auch die Kürzung von gesetzlichen und vertraglichen Leistungen, so unangenehm das manchem sein mag —, und natürlich Rückführung der Nettokreditaufnahme. Mehr Schulden bedeuten den endgültigen Krieg gegen die nächste Generation. Das kann nicht in Frage kommen.
Unser Ziel ist deswegen und nicht trotzdem Senkung der Steuer- und Abgabenlast. Das ist möglich. Wir haben das nach 1983 mit dieser Koalition bewiesen.
Wer die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen will, der muß Steuern senken. Steuersenkungen sind nicht die Krönung eines wirtschaftlichen Erholungsprozesses, sie sind seine Voraussetzung.
Deshalb sagen wir, die Liberalen: Die Ankündigung von SPD, Teilen der CDU/CSU und des Bundesfinanzministers, die Steuern und Abgaben nicht zu erhöhen, ist unzulänglich. Die Last muß herunter. Wir könnennoch so viel deregulieren, entstaatlichen, für mehr Wettbewerb sorgen — das ist alles für die Katz, wenn die Abgabenquote bei 48 % und die Staatsquote bei 54 % bleiben.Der Solidaritätszuschlag von 7,5 % muß sein. Frau Matthäus-Maier hat vorhin gesagt: Ergänzungsabgabe oder Solidaritätszuschlag, man kann dafür sein oder dagegen. Sie sind ja dafür und dagegen.
Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping haben der Einführung des Solidaritätszuschlages zugestimmt. Jetzt wollen sie nichts mehr davon wissen und liegen wie Hasen mit angelegten Löffeln in der Ackerfurche und hören weg.
Wir werden sie mit ihren populistischen Täuschungsversuchen in dieser Frage nicht davonkommen lassen.
Aber, meine Damen und Herren, wir fragen unseren Koalitionspartner — bei Herrn Hauser klang das jetzt schon ein bißchen anders; Einsicht macht sich also bemerkbar —:
Warum um alles in der Welt wehren Sie sich denn gegen eine Überprüfung des Solidaritätszuschlages mit dem Ziel der Abschaffung oder Eingrenzung nach drei Jahren? Wer das tut, der setzt sich natürlich dem Verdacht aus, daß er ihn klammheimlich zur Dauereinrichtung machen will, und das darf nicht stattfinden.
Wir wenden uns entschieden gegen immer neue Belastungsvorschläge, in welchem Gewande sie auch daherkommen: höhere Einheitswerte, höhere Erbschaftsteuer, höhere Vermögensteuer, Vermögensabgabe, höhere Besteuerung kinderloser Ehepaare. Das ist der sozialdemokratische Steuerangriff auf das Ersparte der Fleißigen, der Strebsamen im Lande.
Sparen wird bestraft, und wer sein Geld verjubelt hat, der war schlau.
Die SPD will genau wie die GRÜNEN die Kapitalbildung, die Sparergebnisse besteuern. „Ran an die Reichtumsspitzen": so GRÜNEN-Sprecher Volmer gestern. „Wir wollen eine Generation von Erben vermeiden, die nicht mehr produktiv ist" : so der grüne Koalitionspartner der SPD, Joschka Fischer. — Wir brauchen dringend investitionsbereites Kapital.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20535
Dr. Otto Graf LambsdorffWer Kapitalbildung behindert, der verhindert Investitionen und Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren, es ist richtig — Herr Hauser hat das gesagt; ich kann das wiederholen —: Die F.D.P. sieht in Teilen andere steuerpolitische Erfordernisse als CDU und CSU. Aber wir unterscheiden uns fundamental von der steuerpolitischen Raffke-Mentalität roter und grüner Abkassierer.
Es mag ja sein, daß Herr Scharping nach seinen steuerpolitischen Hochleistungen den Unterschied zwischen Bruttoeinkommen und zu versteuerndem Einkommen endlich kapiert hat. Aber trotzdem wird es ihm nicht gelingen, den steuerpolitischen Würgegriff der SPD zur Halsmassage zu erklären.
Als nächste hat die Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, das Thema dieser Aktuellen Stunde ist schlicht verfehlt. Ich frage mich, warum ausgerechnet die SPD sie beantragt hat; denn mittlerweile unterscheidet sie sich auch steuer- und finanzpolitisch von CDU/CSU und F.D.P. leider nur noch in einer kleinen Nuance.
— Ich werde darauf noch zurückkommen.Ich schenke mir und Ihnen deshalb Bemerkungen zum angekündigten, jedoch gescheiterten gemeinsamen Steuerkonzept der Koalition. Die SPD hat darauf hingewiesen und zu Recht vor einer neuen Steuerlüge gewarnt.Der wirtschafts- und finanzpolitische Sprecher der SPD, Oskar Lafontaine, hat der Bundesregierung vorgerechnet, die von ihr immer wieder angekündigte Unternehmensteuersenkung werde zu Steuerausfällen von mindestens 30 Milliarden DM führen. Weil das Mehrwertsteueraufkommen bereits verplant ist, hätte ein solches Konzept nach Ansicht der PDS eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Folge, wie schon vorhin gesagt wurde. Schon allein deshalb stößt die Steuerpolitik der Koalition auf unseren entschiedenen Widerstand.Es fragt sich nun allerdings: Wie sieht das Alternativkonzept der SPD aus? Ich denke, sie versucht sich an der Quadratur des Kreises und argumentiert dabei wie Waigel und Stihi: Die Steuer- und Abgabenquote soll nicht erhöht, die gesetzlichen Lohnnebenkosten sollen gesenkt, und selbstverständlich soll die Neuverschuldung mittelfristig zurückgeführt werden.Auch für die SPD sind beim Sparen Kürzungen sozialer Leistungen kein Tabu. Obwohl die SPD aus dem Windschatten der CDU heraustreten will, wirft ausgerechnet Oskar Lafontaine der Koalition in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „Finanzen" vor, eine Erhöhung der Vermögensteuer vorzubereiten. Dieserplatte Populismus steht in krassem Gegensatz zur vernünftigen Forderung der SPD-Linken um den Abgeordneten Detlev von Larcher, den Vermögensteuersatz zu verdreifachen.Nun komme ich wieder zu den steuerpolitischen Unterschieden zwischen Koalition und SPD. Die SPD verlangt von der Bundesregierung, die Steuerfreistellung des Existenzminimums unverzüglich sicherzustellen und den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, den sie jedoch zusammen mit der Koalition 1993 beschlossen hatte.
Aber die SPD hat erklärt, sie werde nicht umhin kommen, das steuerfreie Existenzminimum in mehreren Stufen, also verspätet, anzupassen. Statt den Solidaritätszuschlag sofort abzuschaffen, soll er frühestens zum 1. Januar 1996 gestrichen werden.Dies heißt im Klartext: Was Oskar Lafontaine bis vor kurzem noch als soziale Ungerechtigkeit und als „Anschlag auf Konjunktur und Arbeitsmarkt" gebrandmarkt hat, soll 1995 auch unter einem SPD-Kanzler noch rund 30 Milliarden DM einbringen.
Wer darauf setzt, daß die SPD wenigstens diese „Reförmchen" durchsetzt, der hat schon jetzt verloren. Alle geplanten Maßnahmen stehen nämlich unter einem strikten Finanzierungsvorbehalt. Damit ihr später niemand ein Umfallen vorwerfen kann, legt sie sich bereits heute auf nichts fest.Was macht nun die F.D.P.? Die spielt wie immer die Rolle der verfolgenden Unschuld. Sie will die Steuerpolitik zum zentralen Wahlkampfthema machen und bleibt dabei populistisch. Ihr Fraktionschef verlangt in einem Papier eine Senkung der „drückenden Steuer- und Abgabenlast für Bürger und Wirtschaft". Das ist schlicht unglaublich.
Nach 25 Jahren Regierungsbeteiligung schimpfen Sie über zu hohe Steuern und Abgaben. Hier frage ich mich: In welchen Steueroasen haben Sie bisher gelebt?
Während SPD und F.D.P. steuerpolitische Eiertänze aufführen,
ist die diesbezügliche Bilanz der Bundesregierung tatsächlich eindeutiger. Ihre Steuerpolitik hat auf der einen Seite die Kassen der Unternehmer seit 1982 um rund 170 Milliarden DM entlastet. Auf der anderen Seite hat sie seit der letzten Bundestagswahl Ver-
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20536 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Dr. Barbara Höllbrauchsteuer- und Abgabenerhöhungen von rund 116 Milliarden DM beschlossen.
Für die Unternehmer sind seitdem herrliche Zeiten angebrochen. Profite, die auch im rosa-grünen Lager nur noch verschämt neutral „Erträge" genannt werden, werden säckeweise eingefahren. Zwischen 1980 und 1992 stiegen die Unternehmensgewinne von 260 Milliarden DM auf 566 Milliarden DM. Ein Großteil dieser Gewinne wird jedoch nicht in produktive Investitionen, sondern in Geldkapital oder Geldvermögen angelegt und ins Ausland transferiert.Trotz dieser Fakten und Zusammenhänge fordern die Präsidenten der Unternehmerverbände weitere Steuersenkungen für ihre Lobby und einen verschärften Sozialabbau.
Daß die Koalition diese Forderungen teilt, erstaunt nicht. Hinter dem Lärm, mit dem jetzt noch gegen Stihl und Necker opponiert wird, hämmert man bereits eifrig am Auftragswerk. Doch eine SPD, die — wie zuletzt Lafontaine — angesichts der vagabundierenden Kapitalmassen ausgerechnet die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen vorschlägt, hat sich als Opposition bereits verabschiedet.Selbst die GRÜNEN sehen keinen Bedarf an zusätzlichen staatlichen Maßnahmen und Eingriffen bei Banken und Unternehmen. Damit sind sie zumindest auf diesem Gebiet als Ersatz-F.D.P. entbehrlich geworden. Ernsthafte steuerpolitische Differenzen gibt es also weder innerhalb der Bundesregierung noch auf der rosa-grünen Ersatzbank.
Frau Kollegin, dieses Licht leuchtet, weil Ihre Redezeit beendet ist.
Nur die PDS weigert sich und wird dann als einzige gegen diese herrschenden Verhältnisse auftreten.
Ich bedanke mich.
Nun hat die Frau Kollegin Vera Wollenberger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Streit in der Koalition offenbart, daß die F.D.P. mit allen Mitteln versucht, dem drohenden parlamentarischen Ende zu entgehen.
Die bisherigen Wählerinnen und Wähler dieser Partei lassen sich aber nicht mehr täuschen. Sie wissen, daß es der F.D.P. nur noch um die Erhaltung der politischen Macht geht. Die Inhalte von Politik sind beliebig geworden. Die Hauptsache ist nur noch, daß in Bonn mitregiert wird und daß den Besserverdienenden keine steuerlichen Privilegien genommen werden.Ich weiß nicht, Otto Graf Lambsdorff, was Halle für die SPD bedeuten wird, aber ich glaube, daß die F.D.P. heute in Halle ihren ostdeutschen Wählerinnen und Wählern demonstriert hat, daß sie ihr Kreuz lieber bei einer anderen Partei machen sollten.Der steuerpolitische Streit in der Koalition ist ein reines Ablenkungsmanöver. Die steuerpolitischen Aussagen und Festlegungen der Herren Solms und Rexrodt sind von ähnlicher Substanz und Verbindlichkeit wie Herrn Möllemanns Versprechungen zum Subventionsabbau. In der Koalitionsvereinbarung heißt es dazu: „Abbau der Subventionen sowie sonstiger Vorteile von Großunternehmen gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen".Tatsächlich ist es aber genau umgekehrt. Das jüngste Beispiel ist das Ende des Rabattgesetzes. Hier hat die F.D.P. geradezu selbstmörderischen Mut bewiesen. Mit ihrem ideologisch motivierten Hang zur unüberlegten Deregulierung hat sich die F.D.P. vielleicht beim „Kronberger Kreis" neue Freunde gemacht, sich selbst hat sie damit aber ihrem parlamentarischen Ende ein Stück näher gebracht. Hunderte von Einzelhändlern schreiben derzeit an BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Sie beklagen, daß die F.D.P. nur die Großen bedient und die Kleinen absaufen läßt.
Im Wahlprogramm der F.D.P. steht die Forderung nach einem einfachen und überschaubaren Steuersystem. Meine Damen und Herren, diese Partei ist seit Jahrzehnten in der Regierung und hatte seit Jahrzehnten Zeit, das Steuersystem übersichtlicher und gerechter zu machen.
Aber was haben Sie statt dessen getan? Die F.D.P. selbst hat doch das größte anzunehmende Chaos im Steuersystem angerichtet.
Jetzt wollen Sie Feuerwehr spielen und das System, das Sie selber geschaffen haben, vereinfachen. Sie können selber beurteilen, wie glaubwürdig das ist.
Dann fordert Ihre Partei auch noch, daß alle staatlichen Abgaben kritisch überprüft werden sollen, damit die Bürger wieder von Steuern und Abgaben entlastet werden. Wir wissen doch, daß solche Sprüche nur für einen sehr kleinen Personenkreis gelten. Für alle anderen geht es in die nächste Steuererhöhungsrunde, und dies, nachdem die Bundesregierung die Steuern und Abgaben seit 1991 bereits um 116 Milliarden DM jährlich erhöht hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20537
Vera WollenbergerDie Bundesregierung plant eine weitere Steuerlüge. Daß die Bundesregierung die geplante Steuererhöhung bisher abstreitet, ist ein bekanntes Vorgehen. Auch die Steuerlügen der vergangenen Jahre haben in einem Dementi ihren Anfang genommen.Der Streit in der Koalition offenbart die bekannte Arbeitsteilung: Die F.D.P. darf sich ein wenig mit ihrem alten Thema der Unternehmensteuersenkung profilieren, die CDU ziert sich noch, und schließlich werden dann doch die Steuern für die anderen, für die unteren und mittleren Einkommen, erhöht und die Steuern der Großverdienenden gesenkt.Meine Damen und Herren, der Grund für dieses Vorgehen ist einfach: Die Bundesregierung will es sich mit den mächtigen Interessengruppen nicht verderben. Sie nimmt bei den unteren Einkommen, was sie den Spitzenverdienern in die Tasche stecken will.
Bekanntlich ist dies für die F.D.P. die traditionelle Form der Wahlwerbung.
Es ist verständlich, daß unter solchen Umständen von dieser Regierung kein vernünftiger Vorschlag zu einem gerechten und überschaubaren Steuersystem zu erwarten ist. Die Bundesregierung will ihr „System der Steuergerechtigkeit" auch gar nicht ernsthaft ändern. Dies hat sogar Johannes Gross, der sonst nicht gerade ein Vertreter übertriebener Sozialreformen ist, festgestellt — ich zitiere —:Unser Steuersystem bietet eine im internationalen Vergleich nicht selbstverständliche Begünstigung. Realisierte Vermögensgewinne bleiben bei Privatleuten unbesteuert, wenn nur die erträglichen Fristen von sechs Monaten bei Aktien und zwei Jahren bei Immobilien eingehalten werden.Extreme Besteuerung der Einkünfte aus Arbeit einerseits und überhaupt keine bei Vermögensgewinnen andererseits — die F.D.P. und die CDU wollen offensichtlich dafür sorgen, daß dies auch weiterhin so bleibt.
Nun hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Hauser hat schon völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß Aktuelle Stunden einen erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand erfordern, also Güter, die gerade in diesen Tagen besonders kostbar sind.
— Da ich wie Sie, Herr Struck, aus dem Vermittlungsausschuß komme und eigentlich auch dort sein müßte, wird wohl keiner bestreiten wollen, daß ich nicht wüßte, wovon ich rede.
Ich tröste Sie und sage Ihnen: Dennoch bin ich gerne hierhin getreten, um Ihnen die steuerpolitischen Vorstellungen der Regierung vortragen zu dürfen. Um in der Fußballsprache dieser Tage zu sprechen: Sie haben hier eine hervorragende Vorlage geschossen. Dafür herzlichen Dank.
Denn wie Graf Lambsdorff sehe ich in dieser Aktuellen Stunde Ihr erfreuliches Interesse an unserer Steuerpolitik, Ihr Bekenntnis, daß Sie — aus guten Gründen, darf ich hinzufügen — davon ausgehen, daß wir die nächste Regierung wieder stellen werden. Für dieses Vertrauen schon an dieser Stelle herzlichen Dank.
— Herr von Larcher, wenn Sie so klar denken würden, wie Sie hier lautstarke Zwischenrufe machen, dann würden wir in der sachlichen Zusammenarbeit sicher manchen Schritt schneller vorankommen.
Ich kann Ihnen versichern, die Bundesregierung wird ihren erfolgreichen steuerpolitischen Kurs beibehalten. Zu Kurskorrekturen weder in der Steuerstrategie noch in der Steuerphilosophie besteht irgendein Anlaß. Leider wird das gelegentlich, Herr Struck, durch uns aufgezwungene Kompromisse im Vermittlungsverfahren verwässert.
Das belegt auch unser großer Erfolg in der Steuerpolitik. Ich erinnere an die Steueränderungsgesetze 1991 und 1992, an das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz, an das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms, an das wichtige Standortsicherungsgesetz und das Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz. Die Verwirklichung dieser Vorhaben legt doch ein ganz beredtes Zeugnis dafür ab, in welch einer guten Stimmung und Harmonie wir innerhalb der Bundesregierung unsere Steuerpolitik machen.
— Ich sage es Ihnen, meine Damen und Herren, noch einmal ganz deutlich: In den zentralen steuerpolitischen Fragen gibt es innerhalb der Bundesregierung keine Meinungsverschiedenheiten. In Teilbereichen gibt es natürlich unterschiedliche Akzente, aber das ist bei selbständigen und auch so selbstbewußten Koalitionspartnern wie CDU, CSU und F.D.P. doch wohl eine Selbstverständlichkeit und spricht eher für eine gute Zusammenarbeit, für ein Funktionieren innerhalb der Koalitionsregierung.
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20538 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldGegenstand der aktuellen Diskussion über die Steuerpolitik im weiteren Sinne sind natürlich auch die Eskapaden der Opposition auf diesem Gebiet.
Deshalb ist die heutige Aktuelle Stunde ein ganz untauglicher Versuch der SPD, von ihren eigenen Problemen abzulenken.
Ich darf Sie nur ganz freundlich und moderat daran erinnern, was wir im Zusammenhang mit der Diskussion über die 10 %ige SPD-Ergänzungsabgabe erlebt haben, an vorderster Stelle natürlich diese Brutto/ Netto-Odyssee. Wenn nun ein Bruttoeinkommen von 60 000 DM bzw. 120 000 DM maßgeblich sein soll, steht die SPD vor dem unlösbaren Problem einer Deckungslücke in einer Größenordnung von rund 7,5 Milliarden DM. Wenn Sie den Anspruch erheben, ehrlich vor die Menschen zu treten, sollten Sie, Frau Matthäus-Maier, sagen, wie Sie das finanzieren wollen, und Sie sollten sagen, wen Sie dann zusätzlich und mehr belasten möchten.
Ein anderes Beispiel: Sie geben immer wieder vor, die steuerlichen Rahmenbedingungen für dringend notwendige private Investitionen verbessern zu wollen. Jetzt einmal ein ganz aktuelles Beispiel aus der Alltagsarbeit. Der kürzliche Versuch bei der Änderung des Umwandlungsteuerrechts mit Sicht, Herr Kollege Poss, auf die Bildung der Rückstellungen, die Sie in Milliardenhöhe verschlechtern wollten, war doch zweifellos intensiv gegen unsere Politik für den Standort Bundesrepublik Deutschland gerichtet.Die Bundesregierung wird auch in Zukunft zum Nutzen aller eine wachstumsfreundliche, eine arbeitsplatzfördernde, eine leistungsgerechte sowie eine failimen- und mittelstandsfreundliche Steuerpolitik verwirklichen.
Die Höhe der Abgabenbelastung, so wie sie sich 1995 darstellt, kann und darf den Arbeitnehmern, aber auch den Unternehmen nicht weiter zugemutet werden.
Auch da stimmen wir grundsätzlich überein. Es gibt auch da eine kleine Differenz. Graf Lambsdorff hat eben gesagt, wir möchten nicht durch die Hintertür am Solidaritätszuschlag festhalten müssen. Das wollen auch wir nicht — völlige Übereinstimmung —, nur möchten wir abwarten, bis die Konsolidierungserfolge ein wenig fortgeschritten sind und klare Zeichen ob der konjunkturellen Entwicklung erkennbar sind. Denn die Zukunft Deutschlands hängt von diesen zu hoch belasteten Menschen ab, deren Leistungswillen, deren Innovations- und Investitionskraft wir unter keinen Umständen behindern dürfen.Frau Matthäus-Maier, Sie haben eben gefragt: Was haben wir denn nun konkret vor? Ich will es Ihnen gerne sagen.
Um die Grundlagen zur Sicherung bestehender und zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu stärken, werden wir in einer dritten Stufe der Unternehmensteuerreform die steuerlichen Standortbedingungen der Unternehmen weiter verbessern.
Hierbei soll die Senkung der Gewerbesteuerbelastung, die auch gar nicht ins internationale Konzept paßt, im Vordergrund stehen.Wir werden auch den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts für eine dauerhafte Neuregelung zur Steuerfreistellung des Existenzminimums zum 1. Januar 1996 umsetzen, und zwar im Rahmen eines leistungsgerechten Lohn- und Einkommensteuertarifs, tunlichst ohne große Tarifsprünge. Es ist nur einfach falsch, Frau Matthäus-Maier, wenn Sie sagen, wir hätten da schon jetzt Handlungsbedarf. Dabei verschweigen Sie, daß wir bis zum Ultimo 1995 entsprechend der verfassungsgerichtlichen Vorgaben für die niedrigen Einkommen diese Freibeträge schon erhöht haben.
— Keineswegs unzureichend.Wir werden drittens den Familienlastenausgleich zu einem Familienleistungsausgleich weiterentwikkeln, die steuerliche Förderung der Familien verbessern
und Geldleistungen für die Familien stärker auf Einkommen und auf die Kinderzahl in den Familien abstellen.
— Gerade in der vorangegangenen Fragestunde habe ich zu allen Details — schade, daß Sie nicht da waren — auf insistierende Fragen aus den Reihen der Opposition geantwortet.Wir werden schließlich und endlich das Steuerrecht zur Entlastung von Bürgern und Betrieben, zur Entlastung der steuerberatenden Berufe und natürlich auch der Steuerfinanzverwaltung ganz spürbar vereinfachen.Meine Damen und Herren, das sind die zentralen steuerpolitischen Ziele der Bundesregierung.
Niemand in diesem Hause wird es überraschen, wenn die die Bundesregierung tragenden Koalitionsparteien darüber hinaus im Rahmen ihrer eigenen Wahlaussagen ergänzende Vorschläge in die Diskussion einbringen. Ich darf hinzufügen: Dazu laden wir auch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20539
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldSie herzlich ein. Wenn die Vorschläge vernünftig sind, werden wir sie gerne gemeinsam aufgreifen.Schönen Dank.
Als nächster hat der Kollege Joachim Poß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff hat vorhin das Urteil über die Finanz- und Steuerpolitik selbst gesprochen, als er von dem Ziel sprach, das anzustreben ist. Das heißt, wir haben im Moment keine solide, sondern eine unsolide Finanzpolitik. So ist er ja wohl zu verstehen.
Dabei verschweigt er, daß er natürlich sozusagen Hauptverantwortlicher für unsolide Staatsfinanzen ist, weil er immer zu denen gehörte, die in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart Steuersenkungen zu Lasten der Staaatskasse und zugunsten seiner Klientel verlangen.
Im Januar, Herr Grünewald, haben Sie mir im Finanzausschuß zugesagt, daß die Bundesregierung im Juni ein steuerpolitisches Konzept vorlegen will. Ich frage Sie: Wo bleibt das Konzept? Wenn Sie nicht autorisiert sind, etwas dazu zu sagen: Wo ist eigentlich Ihr DiMiDo-Minister heute? Es ist doch Donnerstag, da müßte doch Herr Waigel noch da sein und hier zu der Frage Stellung nehmen.
Nach dieser plumpen Steuerlüge der Koalitionsparteien vor der Bundestagswahl 1990 haben wir es jetzt gewissermaßen mit einer Steuerlüge für Fortgeschrittene zu tun.
Der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesfinanzminister haben eine neue Form der Arbeitsteilung entwickelt. Während Rexrodt und die F.D.P. der Wirtschaft die eine Hälfte des steuerpolitischen Sternenhimmels versprechen, vermachen Waigel und die Unionsparteien den Bürgern die andere Hälfte. Gleichzeitig weisen beide aber immer wieder darauf hin, daß die jeweils von dem anderen versprochenen steuerpolitischen Sterne gar nicht zu haben sind.
Rexrodt versucht wieder einmal, sich bei den Unternehmensvorständen anzubiedern, indem er großspurig neue Unternehmen- und Spitzensteuersatzsenkungen ankündigt: Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes auf unter 45 %, Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, Halbierung der Gewerbeertragsteuer, Abschaffung der betrieblichen Vermögensteuer.Insgesamt summieren sich seine Steuersenkungsversprechen auf Steuerausfälle von über 30 Milliarden DM im Jahr. Diese losen Steuersenkungsversprechenkönnten nur auf zwei Wegen finanziert werden, entweder über eine deutliche Ausweitung der Verschuldung oder über eine Anhebung der Mehrwertsteuer. Dadurch wird aber der Koalitionspartner CDU/ CSU in allergrößte Schwierigkeiten gebracht, weil er — allen voran Bundesfinanzminister Waigel — hoch und heilig versprochen hat, die Verschuldung zurückzuführen und über die bereits beschlossenen und zum 1. Januar 1995 in Kraft tretenden Steuererhöhungen keine weitere Steuererhöhung vorzunehmen. Bundesfinanzminister Waigel hätte also nur die Wahl zwischen dem Bruch des einen und dem Bruch des anderen Versprechens.
Bei dem ganzen wahlkampfbedingten Steuerkrach innerhalb der Bundesregierung wird bezeichnenderweise die allerwichtigste steuerpolitische Aufgabe in der nächsten Legislaturperiode ganz bewußt verdrängt, weil sie der Bundesregierung schwer im Magen liegt: die verfassungsrechtlich gebotene Steuerfreistellung des Existenzminimums zum 1. Januar 1996.
— Das ist doch kein Konzept, was Herr Grünewald hier angekündigt hat. Er hat angekündigt, daß ein Konzept für die Zeit ab 1996 vorgelegt wird. In der Finanzplanung klammern Sie das, was dafür erforderlich wird, bisher aus, weil nach Ihren eigenen Angaben allein bei einem Grundfreibetrag von 12 000 bzw. 24 000 DM über 42 Milliarden DM — mit steigender Tendenz — Steuerausfälle zu verzeichnen sind. Wenn man 13 000 bzw. 26 000 DM zugrunde legt, steigert sich das entsprechend. Das Dilemma der Bundesregierung ist offensichtlich.Das heißt also: Sie halten an einem Tarif fest, der nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wegen seiner Gesamtwirkung im ganzen verfassungswidrig ist. So deutlich, wie das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle war, war es noch nie. Deswegen ist die Steuerfreistellung des Existenzminimums die wichtigste steuerpolitische Pflichtaufgabe der nächsten Legislaturperiode.
Dies muß die Bundesregierung endlich zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln.
Das tut sie nicht, weil Sie dafür noch keine Vorsorge in der Finanzplanung getroffen haben. Auf der anderen Seite versprechen Sie Steuergeschenke für Spitzenverdiener und Unternehmen, anstatt das Überfällige zu tun.Die Alternativen zu dieser Politik sind doch überdeutlich. Was bedeuten denn für die Mehrzahl der Bürger Ergänzungsabgabe statt Solidaritätszuschlag und einheitliches Kindergeld statt Kinderfreibeträge? Mit dem Solidaritätszuschlag der Bundesregierung, der keine Einkommensgrenzen hat, werden alle steuerpflichtigen Bürger zusätzlich belastet. Die von der
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20540 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Joachim PollSPD — übrigens auch in den Solidarpaktverhandlungen — geforderte Ergänzungsabgabe mit Einkommensgrenzen würde dagegen rund 80 % der steuerpflichtigen Bürger freistellen.Zusammen mit der Umstellung im Familienlastenausgleich würde dies z. B. bei einem Verheirateten mit einem Kind und einem Bruttogehalt von 5 000 DM im Monat bedeuten, daß nach unseren Vorstellungen jeden Monat 142 DM weniger Steuern zu zahlen wären als nach den Vorstellungen der Bundesregierung. Bei einem Verheirateten mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 6 000 DM im Monat wären das im Vergleich mit den Vorstellungen der Bundesregierung sogar rund 3 000 DM weniger Steuern im Jahr. Das sind die Alternativen, über die die Wähler am 16. Oktober entscheiden müssen.
Diese Unterschiede zwischen SPD und Bundesregierung könnten klarer nicht sein: Die SPD macht Steuerpolitik für die breite Mehrzahl der Bürger, während die Bundesregierung die breite Mehrzahl der Bürger mit immer neuen Steuererhöhungen dafür heranzieht, die Steuersenkung für wenige zu bezahlen.
Als nächster hat der Kollege Peter Harald Rauen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Poß, bevor noch weitere Kollegen von Ihnen die Anwesenheit von Finanzminister Waigel hier lauthals fordern, sollten Sie wissen, daß er sich zur Zeit im Untersuchungsausschuß Treuhandanstalt unter dem Vorsitzenden Otto Schily befindet. Ich möchte das hier deutlich gesagt haben.
Ich muß ohnehin gestehen: Ich habe bis zu dieser Aktuellen Stunde kaum verstanden, was ihr mit dieser Aktuellen Stunde hier wolltet.Nachdem die SPD — auch nach dem Parteitag in Halle — erkennbar kein steuer- und finanzpolitisches Konzept aufweisen kann, versucht sie an Hand unterschiedlicher Aussagen verschiedener Gruppen innerhalb der Koalitionsparteien Widersprüche in der Steuerpolitik auszumachen.
Meine Damen und Herren, das ist der untaugliche Versuch der SPD, eigene Perspektivlosigkeit zu vertuschen.
Meiner Überzeugung nach hat die Regierung mit dem Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung ein klares Ziel formuliert, an dem die Steuer- und Finanzpolitik zukünftig ausgerichtet wird. Es heißt dort unter Punkt 1:Die Staatsquote soll, wie bereits im Standortbericht der Bundesregierung angekündigt, bis zum Jahr 2000 schrittweise wieder auf das Niveau vor der Wiedervereinigung gesenkt werden. Der Bund wird dies zur Richtschnur aller seiner ausgabewirksamen Entscheidungen und zur Grundlage der mittelfristigen Finanzplanung machen. Auch die anderen öffentlichen Haushalte— Länder, Kommunen, Sozialversicherungen — müssen ihren Beitrag leisten.Meine Damen und Herren, für den Wirtschaftsstandort Deutschland, die Erhaltung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, ist diese politische Zielbestimmung von überragender Bedeutung.Die Rückführung der Staatsquote und damit einhergehend eine Rückführung der Abgabenquote hatte diese Regierung schon in den 80er Jahren erfolgreich durchgesetzt. Dadurch hat sie in den alten Bundesländern die Voraussetzung zur Schaffung von über 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen möglich gemacht und auch die Basis gelegt, die deutsche Wiedervereinigung überhaupt finanzieren zu können.
Im Gegensatz zur SPD, die, wie auf dem Parteitag in Halle beschlossen, im Rahmen der Steuer- und Abgabenquote lediglich umverteilen will,
ist die klare Aussage zur Rückführung der Staatsquote auch ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit — wie es Graf Lambsdorff schon formuliert hat —, Steuern und Abgaben in Deutschland wieder zu senken.
Dies geht nur über härtesten Konsolidierungskurs aller staatlichen Ebenen und der Sozialversicherungen, über Subventionsabbau und letztendlich über Steuerreformen, die Arbeitnehmern und Arbeitgebern nach Steuern wieder mehr Geld in ihren Taschen belassen.
Die deutsche Wiedervereinigung hat es erforderlich gemacht, daß die Staatsquote von 45,3 % in 1989 auf 51,2 % in 1993 angestiegen ist,
weil vorübergehend zwangsläufig mehr staatliches Handeln erforderlich war. Das war auch kaum zu vermeiden.
Dennoch sollte jedem klar sein, Kollege Struck, daß unsere Soziale Marktwirtschaft eine Staatswirtschaft — ausgedrückt durch die Staatsquote — in Höhe von 50 % und mehr nicht verträgt.
— Zu Ihnen komme ich noch, Frau Matthäus-Maier.Eine Rückführung auf das Maß vor der Wiedervereinigung heißt im Klartext und in Zahlen ausgedrückt,
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Peter Harald Rauendaß die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik Rahmendaten setzen muß, die es ermöglichen, daß Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungsträger jährlich mit ca. 230 Milliarden DM weniger auskommen. Die SPD wird diesen Schritt nicht mitgehen, weil sie im Zweifelsfall immer für eine Ausweitung staatlichen Handelns ist,
so wie sie dies in den 70er Jahren bewiesen hat. Die Staatsquote ist von 39,1 % in 1970 auf 49,8 % in 1982 — mit allen Nachteilen für Wirtschaft und Beschäftigung — unter Ihrer Führung hochgetrieben worden.
Am Ende standen Inflation, Arbeitslosigkeit und höchste Kapitalmarktzinsen.
— Aber wir hatten die historisch einmalige Aufgabe der deutschen Wiedervereinigung zu bewältigen, die wir in den 70er Jahren nicht gehabt haben.
Nachdem die größten Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung bewältigt und finanziert sind, wird diese Regierung die Staatsquote wieder zurückführen und damit umfassende Steuerreformen durchführen. Mit Blick auf Entbürokratisierung und mehr Transparenz sind dabei Reformen zu bevorzugen, bei denen ganze Steuerarten ersatzlos wegfallen, insbesondere die Steuern — wie z. B. die Gewerbesteuern nach Kapital und Ertrag und die Vermögensteuer —,
deren Erfassung die Ermittlung von Einheitswerten erfordern und mit denen somit erheblicher Bürokratieaufwand verbunden ist.All dies wird eine Regierung Kohl nach dem 16. Oktober mit Vernunft und Augenmaß leisten, weil Neid, Mißgunst und Miesmacherei kein guter Ratgeber für eine erfolgreiche Steuerpolitik sein werden und die Menschen in Deutschland einer Regierung Scharping deshalb erst gar nicht die Gelegenheit geben werden, die Steuer- und Finanzpolitik der Zukunft zu bestimmen.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich dem Kollegen Detlev von Larcher das Wort gebe, habe ich die Freude, eine Delegation des slowakischen Parlaments unter der Leitung von Dr. Ivan Laluha bei uns begrüßen zu dürfen. Ich freue mich, daß Sie unseren Beratungen folgen können.
Nun hat der Kollege Detlev von Larcher das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Hauser, wir wollten von euch gar kein gemeinsames Wahlprogramm hören, sondern wir fordern das Steuerkonzept der Bundesregierung ein, wie uns das Herr Grünewald im Finanzausschuß versprochen hat. Herr Grünewald tut mir eigentlich leid; denn ihm glaube ich, daß er das wirklich vorlegen wollte, es aber nun nicht darf. Weil er es nicht darf, geht er zum Angriff über und überspielt damit sein schlechtes Gewissen.
Was Graf Lambsdorff hier vorgetragen hat, war nun wirklich der Höhepunkt der Unsolidität. Das ging nach dem Motto: Was schert mich mein Tun, wenn ich am Rednerpult stehe?
Daß das Steuerkonzept nicht vorliegt, ist übrigens auch ein Versagen des Bundeskanzlers. Denn der Bundeskanzler sagt, er sei imstande, seinen Terminplan einzuhalten. Nun sehen wir zum wiederholten Male, daß er dazu nicht in der Lage ist. Insofern liegt hier auch ganz klar ein Versagen des Bundeskanzlers vor.
Nun wollen wir einmal gucken, Herr Grünewald, was die „hervorragende Steuerpolitik" dieser Bundesregierung für die Arbeitnehmer bedeutet. Die sind nämlich die Gekniffenen Ihrer Steuerpolitik. Die Steuer- und Abgabenbelastungen für den Durchschnittsverdiener haben eine ungeahnte Rekordhöhe erreicht. Der Durchschnittsverdiener bezahlt heute 45,7 % Steuern und Abgaben. Das sind fünf Prozentpunkte mehr als 1990. Diese Zahlen sind Berechnungen des Bundes der Steuerzahler, deren Präsidentin versucht, demnächst in Ihren Reihen zu sitzen.Der Belastungsanstieg bewegt sich hauptsächlich im Bereich der Lohnsteuer. In den letzten fünf Jahren haben Sie die sogenannten inflationsbedingten heimlichen Steuererhöhungen einkassiert. Inzwischen ist jeder Arbeitnehmer in der Progressionszone. Das heißt, bei jeder Lohnerhöhung ist Ihr Griff in seine Tasche noch ein bißchen tiefer.Andererseits verweigern Sie die Steuerfreistellung des Existenzminimums. Mein Kollege Poß hat schon darauf hingewiesen. Sie kassieren Jahr für Jahr verfassungswidrig Milliarden an Steuern.
1993 haben Sie die Umsatzsteuer und die indirekten Steuern, Mineralölsteuer, Tabak- und Versicherungssteuer, erhöht. Einige haben Sie mehrfach erhöht. Sie
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20542 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Detlev von Larcherhaben wiederholt die Sozialversicherungsbeiträge angehoben. Inzwischen sprechen deswegen die finanzwissenschaftlichen Institute wie das RWI von einer Gerechtigkeitslücke. Das heißt, Arbeitnehmer, Verbraucher und — was fast noch schlimmer ist — die nicht einkommensteuerpflichtigen Rentner, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger sind die Opfer Ihrer Steuerpolitik. Sie werden immer höher belastet.Dafür senken Sie natürlich den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte und machen die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer. Das ist Ihre „erfolgreiche Politik" , Herr Grünewald, die endlich aufhören muß.
Dazu muß man auch sagen, daß die Spitzenverdiener große Möglichkeiten zur Steuervermeidung haben, die die Arbeitnehmer nicht haben. Im nächsten Jahr wird es für die Arbeitnehmer noch schlimmer, weil sie den Solidaritätszuschlag von 7,5 % bezahlen müssen. Dann wird es so sein, daß sie von jeder Mark fast die Hälfte an Steuern und Abgaben zu bezahlen haben. Ihr Marsch in den Lohnsteuerstaat ist gnadenlos und wird fortgesetzt.
Das wird natürlich vernebelt. Auf entsprechende Fragen sagt der Kollege Hauser in der „WAZ" : „Ja, bis 1990 war das doch alles ganz anders. " Er glaubt, wenn er 1990 sagt, kommt man nicht darauf, daß wir über die jetzige Bundesregierung reden.
— Ja, aber das war gar nicht die Frage, sondern die Frage war: Was habt Ihr zwischen 1990 und 1994 gemacht? Da haben Sie geantwortet: 1990. Das ist eine Vernebelung.
Wenn das mehrfach im Finanzausschuß versprochene Finanzkonzept der Bundesregierung vorgelegt worden wäre, dann wäre das ein Offenbarungseid dieser Bundesregierung geworden.
Der Kollege Poß hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Sie für die vom Verfassungsgericht geforderte Steuerbefreiung des Existenzminimums überhaupt keine Vorsorge in der mittelfristigen Finanzplanung getroffen haben.Nein, meine Damen und Herren, wir haben von Ihnen Steuerlügen gehört. Sie setzen sie ohne Hemmungen fort. In Sie kann man kein Vertrauen setzen. Ihnen ist nicht zu trauen.
Nun hat der Kollege Gerhard Schulz das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch nach dem gestrigen Parteitag der SPD in Halle steht fest: Auf dem Gebiet der Steuerpolitik sucht die SPD immer noch nach einer Linie.Da wird als Kernelement eines SPD-Regierungsprogramms eine ökologische Steuerreform zur Verbesserung der Umwelt und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft angekündigt. Finanziert werden soll das durch Steuererhöhungen bei Energie- und Materialverbrauch, was zu höheren Preisen führt und damit nicht zur Wettbewerbsstärkung beiträgt.Sie will eine 10%ige Ergänzungsabgabe für Besserverdienende. Wer ist das? Das ist noch lange nicht klar.An der Verbesserung der Umwelt arbeitet diese Regierungskoalition seit 1982 so erfolgreich wie keine andere zuvor. Stellt man den Vergleich mit anderen Industrienationen an, dann wird man das feststellen.Was die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Unternehmen anbelangt, so sind wir auf diesem Gebiet durch unsere Steuerpolitik schon seit langem tätig. Ich erinnere nur noch einmal an die Steuersenkung bei Kapitalgesellschaften für einbehaltene Gewinne von 50 % auf 45 % und bei gewerblichen Einkünften von 53 % auf 47 %, die wir im Rahmen des Standortsicherungsgesetzes durchgesetzt haben. Aber auch hier muß ich daran erinnern, daß wir als Koalition eigentlich beschlossen hatten, beide Steuern auf 44 % abzusenken. Das jedoch hat der SPD-dominierte Bundesrat zuungunsten der Wirtschaft wieder verändert.
Angst und bange wird mir, wenn ich die steuerpolitischen Anträge auf Ihrem gestrigen Parteitag genauer betrachte. Eine drastische Erhöhung der Vermögen- und Erbschaftsteuer fordern die Jusos. Das heißt, jeder, der sich in den letzten 30 bis 40 Jahren mühsam mit Hilfe eines Bausparvertrages ein Stückchen Grün und ein Häuschen erarbeitet hat, soll nun auf das Vermögen höher belastet werden.
Wenn diese Anträge auf so einem Parteitag gestellt werden, dann steckt schon etwas dahinter. Daß der Parteitag nichts beschlossen hat, ist mir schon klar. Aber die Grundhaltung ist ja das Entscheidende dabei.
Die Jusos fordern dies habe ich schon genannt — eine drastische Erhöhung der Vermögen- und Erbschaftsteuer sowie eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Steuerprogression. Sie fordern ferner eine Zwangsanleihe für Geldvermögen ab 200 000 DM für Verheiratete und ab 500 000 DM für juristische Personen in Höhe von 10 % bis 25 %. Zwangsanleihe,
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Gerhard Schulz
so heißt es da. Leben wir denn in Kriegszeiten, daß wir eine Zwangsanleihe machen sollen?
- Das sind Forderungen der SPD-Basis, die öffentlich gemacht worden sind.
— Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, daß dies eine Forderung der Jusos zu Ihrem Parteitag ist.Hessen-Süd beantragt — auch zu Ihrem Parteitag — ein Programm zur Schaffung von 3 Millionen Vollzeitstellen im öffentlichen Dienst. Das kostet 150 Milliarden DM jährlich. Als Krönung schlägt der Landesverband Schleswig-Holstein eine Vermögensabgabe für die oberen 10 % der Vermögensbesitzer vor. Also, das Konzept, das hinter diesen Anträgen steht, ist schon furchtbar.
Ernüchternd sind aber die geplanten Sofortmaßnahmen der SPD für Ostdeutschland für den Fall einer Regierungsübernahme nach der Bundestagswahl. Da sollen im Rahmen eines Zukunftsinvestitionsprogramms „Arbeit und Umwelt" in Ostdeutschland Umwelt- und Infrastrukturinvestitionen erleichtert werden. Da werden Modernisierungs- und Liquiditätskredite für mittelständische Betriebe angekündigt. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß wir das alles schon veranlaßt haben. Kredite als Liquiditätshilfen werden durch das KfW-Mittelstandsprogramm Ost bereits gewährt. Die Deutsche Ausgleichsbank als Förderinstitut des Bundes für Mittelstand, Umwelt und soziale Aufgaben hat in den neuen Ländern von 1990 bis 1993 Darlehen und Bürgschaftsübernahmen von insgesamt 13,4 Milliarden DM, davon rund 8 Milliarden DM für Existenzgründungen von Klein- und Mittelbetrieben, vergeben. Dies bedeutet den Erhalt von 1,3 Millionen Arbeitsplätzen. Das, was Sie jetzt als Sofortmaßnahmen nach der Bundestagswahl ankündigen, wird, wie gesagt, von dieser Regierungskoalition schon seit der Wiedervereinigung erfolgreich praktiziert.Für den Bereich der Steuerpolitik für die neuen Länder kann ich im Programm der SPD überhaupt nichts erkennen.
Da stelle ich nach Ihrem Parteitag folgendes fest: Das steuerpolitische Programm der SPD für die neuen Bundesländer ist ein schwarzes Loch. Eine Steuerpolitik, die sich an den wirtschaftlichen Bedürfnissen Ostdeutschlands orientiert, hat für die SPD offensichtlich keine Bedeutung, ganz im Gegensatz zur Koalition. Lassen Sie mich dafür einige Beispiele nennen.Steuerpflichtige mit Wohnsitz in den neuen Bundesländern haben für die Jahre 1991 bis 1993 einen einkommensteuerlichen Tariffreibetrag in Höhe von 600 DM für Alleinstehende und 1 200 DM für Verheiratete pro Jahr erhalten. Es gibt die 50prozentige Sonderabschreibung für Investitionen in das betriebliche Anlagevermögen und für private Investitionen in Mietsgebäude. Ferner sind zu nennen: Erweiterung der steuerlichen Förderung des eigengenutzten Wohnungsbaus nach § 10e Einkommensteuergesetz für die neuen Bundesländer einschließlich Schuldzinsenabzug von maximal 12 000 DM jährlich für 3 Jahre; Einführung einer 20prozentigen, allerdings jetzt aus EG-Gründen ab 1. Januar 1995 auf 10 % abgesenkte Investitionszulage.
Darüber hinaus erfolgt für die Jahre 1991 bis 1996 keine Erhebung der Gewerbekapital- und Vermögensteuer. — Dies sind nur einige wenige Beispiele; mehr kann ich aus Zeitgründen nicht nennen.Die Früchte sind schon jetzt zu erkennen. Insgesamt wird in den neuen Bundesländern je Erwerbstätigen mehr investiert als im Westen; das wissen Sie alles. Es ist also unübersehbar: Die Steuerpolitik der Regierungskoalition hat durch ihre gezielte Investitions- und Förderpolitik einen wesentlichen Beitrag zum Aufschwung Ost geleistet.
Das setzen wir auch in Zukunft fort.Ihre Botschaft haben Sie hier, auf Ihrem Parteitag und in Ihren Programmentwürfen oder -vorschlägen des Parteitags deutlich gemacht. Unsere Botschaft ist: Absenkung der Steuerbelastung so bald wie möglich.
Das, hoffe ich, ist für die Wähler von entscheidender Bedeutung.
Nun spricht der Kollege Dr. Karl Fell.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einen einzigen Punkt, den ich aus der Fülle der steuerpolitischen Vorstellungen der SPD herausgepickt habe, mit dem sich auseinanderzusetzen aber naheliegt: einheitliches Kindergeld, mit der Begründung, Frau Matthäus-Maier, das sei doch die gerechtere Lösung.Ich will Ihnen von vornherein sagen, was das ist: Es ist ungerecht, es ist nicht verfassungskonform, und es ist auch irreführend.
Erster Punkt. Der Steuerfreibetrag hat den Zweck, bei gleich hohem Einkommen die Minderung der Leistungsfähigkeit dessen, der Kinder hat, auszugleichen. Dessen Leistungsfähigkeit wird durch den notwendigen Aufwand far Kinder gemindert, und der Freibetrag soll deshalb seine steuerliche Belastung wegnehmen. Das sagt übrigens auch das Verfas-
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Dr. Karl H. Fellsungsgericht: Der notwendige Aufwand soll belastungsfrei verbleiben.Ich gebe Ihnen zu: Da wir progressiv besteuern, wirkt der Freibetrag auch progressiv entlastend. Das hat aber etwas mit dem horizontalen Vergleich zu tun.
Ich muß die Einkommens- und Steuersituation derjenigen, die das gleiche Einkommen haben, miteinander vergleichen und dann sehen: Was hat derjenige, der Kinder hat, und was hat derjenige, der keine Kinder hat?
Da ich selber sechs Kinder habe, weiß ich, wovon ich rede.Deshalb gilt: Wir wollen den Kinderfreibetrag auf die volle Höhe des für das Großziehen von Kindern notwendigen Betrages bringen; das allein ist steuergerecht.
— Es ist steuerlich gerecht, weil dann gleiche Leistungsfähigkeit hergestellt und berücksichtigt ist.
Zweiter Punkt. Wenn Sie nur ein Kindergeld zahlen, dann werden auch die Väter, die Mütter, die Familien mit Kindern zunächst steuerlich genauso veranlagt, genauso belastet wie diejenigen, die keine Kinder haben.
Sie nehmen zunächst die gleiche Steuer von allen.
Wer nur eine Mark Steuer zahlt, Frau Kollegin Matthäus-Maier, zahlt damit zugleich in Höhe des Eingangssteuersatzes erst einmal an den Staat, was er anschließend als Kindergeld zurückbekommen soll. Damit haben Sie schon beim Eingangssteuersatz eine Mitfinanzierung in Höhe von 19 % des zu zahlenden einheitlichen Kindergeldes.
Dritter Punkt. Die tollste Auswirkung erreicht dieses Geschäft, wenn man es so machen würde, bei denjenigen, die mit dem Grenzsteuersatz von 53 % belastet werden. Bei denen gilt nämlich — 120 000 DM Einkommen pro Jahr —: Sie zahlen erst einmal 6 460 DM mehr Steuern — bei 53 % von dem Einkommen — nur, um anschließend 12 mal 250 gleich 3 000 DM Kindergeld nach den gnadenvollen Vorstellungen der SPD zurückzubekommen. In Wahrheit bekommen sie also keine Entlastung, sondern sie bekommen sogar eine Mehrbelastung an die Hose geklebt. Damit wird der Verfassungsauftrag völlig verfehlt.
Natürlich, Frau Matthäus-Maier, das gestehe ich Ihnen ja zu: Das einheitliche Kindergeld läßt sich prima verkaufen, darüber läßt sich prima reden, dasklingt so schön. Nur, die Auswirkung ist genau das Gegenteil von dem, was Sie immer verkünden: Die Auswirkung ist ungerecht, nicht verfassungskonform.Es gibt zwei Erklärungsmöglichkeiten — darin stimmen wir, Graf Lambsdorff, sicher sofort wieder überein.
Die eine Erklärungsmöglichkeit ist: Sie haben die Wirkungen nicht gesehen. Das belegt einmal mehr nur steuer- und finanzpolitische Inkompetenz. Oder: Sie haben die Wirkung zwar gesehen, aber machen es trotzdem. Dann kann ich nur sagen: Sie täuschen die Bürgerinnen und Bürger über die Gesamtzusammenhänge. Abzug von der Steuerschuld ist nur eine Form der Durchführung; die vorhergehende zu hohe Steuerbelastung bleibt.
Sie führen die Wählerinnen und Wähler an der Nase herum.Wir jedenfalls bleiben bei unserer dualen Lösung: Steuerfreiheit für den notwendigen Aufwand für Kinder, Kindergeldergänzung für Mehrkinderfamilien und Familien mit geringeren Einkünften.Wir sagen nein zu Ihrer alten, uralten Idee der Umverteilungsbürokratie.
Die Familienverbände sind inzwischen alle auf diesem Gleis, Herr Poß. Auch Sie sollten den Familien besser das Geld direkt in der Tasche lassen, als es ihnen erst abzunehmen und nachher mit hohem Verwaltungsaufwand zurückzuzahlen.
Nun spricht noch einmal unsere Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich wollte Herr Struck auf die Bemerkung von Staatssekretär Grünewald antworten. Er mußte aber in die Parlamentarische Kontrollkommission.Außerdem paßt es gut, daß ich an seiner Stelle rede, weil Herr Fell das Konzept der CDU zur Familienförderung vorgetragen hat. Ich bin Herrn Fell dankbar dafür; denn wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, um Sie zu zwingen, den Menschen vor der Wahl zu sagen, was Sie wollen.
Bisher haben Sie dies nicht getan. Das war allesallgemein, auch bezüglich der Steuersenkung. Hier
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Ingrid Matthäus-Maierwurde ein konkretes Konzept vorgestellt. Deswegen werde ich konkret unser Gegenkonzept darstellen.
Sie haben gesagt, die SPD wolle diese 250 DM Kindergeld nicht über die Steuer abwickeln. Das ist unwahr. Herr Fell, Sie wissen es vielleicht nicht, weil Sie kein Finanz-, sondern ein Familienpolitiker sind.
— Wenn Sie auch Finanzpolitiker sind und dann solchen Unfug erzählen, ist das noch viel schlimmer, Herr Fell.
Wir als SPD sagen — das zeigt für die Bürgerinnen und Bürger und die Zuhörer ganz deutlich den Unterschied —: 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an, gleich von der Steuerschuld abgezogen. Das heißt: Menschen, die Kinder haben, zahlen weniger Steuern.
Ich habe hier schon vorgetragen: An einem Fließband arbeiten zwei Automobilfacharbeiter. Der eine hat zwei Kinder, der andere hat keine. Dann würde der mit den zwei Kindern gleich 500 DM Lohnsteuer im Monat weniger zahlen. Wir wollen also nicht erst einkassieren und dann austeilen. Man zahlt pro Kind gleich 250 DM weniger an Steuern.
Der entscheidende Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren, ist, daß wir als Sozialdemokraten sagen: Dem Staat muß jedes Kind gleich lieb und damit auch gleich viel wert sein. Ob es das Kind kleiner Leute oder das Kind von reichen Leuten ist, für jeden gibt es 250 DM. Ihr Konzept des Kinderfreibetrages besagt: Der Steuerfreibetrag beträgt 4 100 DM im Jahr. Die Auswirkungen für die Familien aber sind sehr unterschiedlich. Eine Familie mit niedrigem Einkommen und einem Kind erhält eine monatliche Entlastung von 65 DM. Eine Familie, die mehr als 240 000 DM im Jahr verdient, erhält aus dem gleichen Kinderfreibetrag eine monatliche steuerliche Entlastung von 181 DM. Wir meinen, daß den Familien mit Kindern und kleinem Einkommen, die es eh schon schwerer haben, ihre Kinder durchs Leben zu bringen, nicht soviel weniger gegeben werden kann als den Spitzenverdienern.
Hier haben wir die Alternativen sehr schön nebeneinander. Sie wollen demjenigen, der mehr verdient, eine um so größere Entlastung für sein Kind geben. Wir sagen: 250 DM vom ersten Kind an, direkt bei der Steuerschuld gemindert. Selbstverständlich zahlen diese Leute dann weniger Steuern. Wenn sie gar keine Steuern zahlen, dann bekommen sie dieses Geld als Kindergeld ausgezahlt.Nun zu Ihnen, Herr Staatssekretär Grünewald. Sie haben gesagt, eine Aktuelle Stunde verursache erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand. Da haben Sie recht. Warum aber haben wir sie denn beantragt? Weil Sie außer in diesem Punkt in allen anderen Punkten die ehrliche Antwort heute mittag verweigern.
Graf Lambsdorff stellt sich hin und sagt: Die Steuerbelastung ist zu hoch! Sie stellen sich hin: Die Verschuldung ist zu hoch! Wer regiert denn hier seit zwölf Jahren? Wer stellt seit 20 Jahren den Wirtschaftsminister?
Wollen Sie denn uns Sozialdemokraten in die Schuhe schieben, daß Sie die höchste Steuer- und Abgabenbelastung gerade der Lohnsteuerzahler herbeigeführt haben, die es je in dieser Republik gab? Wollen Sie denn den Sozialdemokraten in die Schuhe schieben, daß wir eine Staatsverschuldung allein beim Bund von 1,4 Billionen DM haben? Nein, meine Damen und I lerren, Sie müssen schon für das geradestehen, was Sie in diesen zwölf Jahren angerichtet haben.
Wir haben die Aktuelle Stunde beantragt, damit die Bürger die Alternative sehen. Auch Sozialdemokraten machen nicht alles besser. Aber unser Steuerkonzept ist gerechter, ist solide und vor allem ehrlich, meine Damen und Herren.
Nun hat Herr Kollege Gunnar Uldall das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Frau Matthäus-Maier, Ihre Reden sind im Grunde genommen seit fünf Jahren die gleichen.
Die Zeit ist über Sie hinweggegangen. Die Argumente, die Sie bringen, sind nicht mit der Zeit gegangen; denn in der Zwischenzeit hat sich viel in der deutschen Politik geändert.Sie übersehen völlig, daß wir nicht allein im Jahre 1994 leben, sondern wir leben auch im Jahre 4 nach der deutschen Wiedervereinigung.
Das Jahr 1994, das vierte Jahr seit der deutschen Wiedervereinigung, bedeutet: Wir haben vier sehr schwere Jahre in der Finanzpolitik hinter uns.Wir haben — um die Größenordnung einmal zu verdeutlichen — Jahr für Jahr 130 Milliarden DM bis 160 Milliarden DM von Westdeutschland nach Ostdeutschland transferiert. Nun werden Sie sagen: „Dafür habt ihr ja auch Schulden gemacht." Auch Frau Matthäus-Maier kritisierte, daß wir zu hohe Schulden aufgehäuft hätten. Natürlich haben wir hohe Schul-
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Gunnar Uldallden gemacht. Aber, Frau Matthäus-Maier, setzen Sie diese bitte in Relation zu dem, was transferiert worden ist.Die Hilfe für Ostdeutschland betrug 130 Milliarden DM bis 160 Milliarden DM pro Jahr. Die Kreditaufnahme betrug etwa 70 Milliarden DM. Die Differenz von 60 Milliarden DM — die werden Sie selber ausrechnen können — ist der Nettobetrag, der von uns erbracht worden ist. Dies ist eine große Leistung, die wir gar nicht genügend herausstellen können und die auch eine Opposition ruhig einmal würdigen könnte, Frau Matthäus-Maier.
Meine Damen und Herren, der außerordentlich geschätzte Kollege Poß packt die Finanzpolitik immer mit großem Sachverstand und mit Solidität an. Lieber Herr Kollege Poß, für mich ist es einfach unverständlich, wenn Sie sich hier hinstellen und im Nachklappen zum Parteitag in Halle fordern, daß jetzt Steuersenkungen der und der Größenordnung durchgeführt werden, ohne daß Sie gleichzeitig sagen, wie denn diese Steuersenkungen finanziert werden sollen.
Ich möchte mich aber in den verbleibenden zwei Minuten einem Thema zuwenden, das im Grunde genommen eine sehr viel tiefer gehende Behandlung verdient hätte, gerade an dem heutigen Tag. Wir haben heute morgen die Anhörung zur Steuervereinfachung gehabt. Es wäre gut gewesen, wenn wir uns etwas ruhiger mit diesem Thema hätten beschäftigen können.Hauptursache für das unüberschaubare Steuersystem bei uns sind die absolut überzogenen Steuersätze. Hohe Steuersätze erfordern immer Ausnahmen, um Ungerechtigkeiten ausgleichen zu können. Wer ein vereinfachtes Steuersystem nachhaltig einführen will, der muß die Steuersätze senken. Da aber der Staat in der heutigen Situation nicht auf Einnahmen verzichten kann, muß gleichzeitig die Bemessungsgrundlage erweitert werden.Mit der SPD ist eine solche Politik zur Steuervereinfachung nicht zu machen.
Schon vom Grundsatz her wollen Sozialdemokraten möglichst weitgehend in die Wirtschafts- und in die Finanzpolitik sowie in die gesellschaftspolitischen Prozesse eingreifen. Ein Blick in das Programm der SPD zeigt, daß sie sich das Instrumentarium der Steuerpolitik auch zukünftig nicht aus der Hand nehmen lassen möchte und sich weiterhin in alle Lebensbereiche einmischen möchte.Wenn man sich jetzt die SPD-Beschlüsse richtig anschaut, stellt man fest, daß sogar noch eine weitere Verkomplizierung in den nächsten Jahren die Folge sein wird. Im Programmentwurf ist festgehalten, daß die unteren und mittleren Einkommen entlastet werden sollen, wobei die Steuerquote die gleiche bleibensoll, und daß die höheren Einkommensgruppen deswegen natürlich stärker belastet werden sollen. Die Steuersätze werden damit steigen. Der Zwang zu Ausnahmen wird größer. Die Verkomplizierung wird weiter zunehmen.Scharping hat deutlich gesagt, daß bereits ab 50 000 DM netto Jahreseinkommen — das sind bei 13 Gehältern 3 800 DM im Monat — eine zehnprozentige Ergänzungsabgabe eingeführt werden soll.
Hieran erkennen wir, daß schon der Facharbeiter und der tüchtige Sachbearbeiter als Besserverdienende im Sinne der SPD bezeichnet werden.
Da diese Politik ohne die breite Gruppe der Leistungsträger so nicht durchgesetzt werden kann, müßte man dieses System schon sehr schnell modifizieren, d. h. auf deutsch: verkomplizieren. Aber der deutsche Steuerzahler kann beruhigt sein; denn Scharping und die SPD werden nicht die Gelegenheit bekommen, ihre Steuerpolitik zur Belastung der Bürger und zur weiteren Verkomplizierung des Systems durchzusetzen.
Und nun hat der Kollege Hermann Rind das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob die Sitzung, zu der Herr Struck mußte, sehr kurzfristig einberufen wurde. Wenn dies nicht der Fall wäre, fände ich es schon erstaunlich. Wir haben, weil Herr Struck sagte, er wolle in dieser Debatte auftreten, unter Zurückstellung all unserer Termine bei Änderung des Beginns der Sitzung des Finanzausschusses, den Termin extra so gelegt, daß Herr Struck teilnehmen kann.
— Ich habe gesagt: Nur wenn es kurzfristig ist, ist es verständlich.
Frau Matthäus-Maier, ich darf nur ganz kurz auf das eingehen, was Sie hier als Erwiderung auf Herrn Dr. Fell gesagt haben. Sie haben — das war eigentlich das Verräterische — vom Geben und Nehmen bei der Besteuerung gesprochen.
— Sie sprachen vom „Geben und Nehmen"; ich habe mir das mitgeschrieben.
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Hermann RindGenau darum geht es nämlich nicht. Wenn Sie das System des horizontalen Kinderlastenausgleichs begriffen hätten, wie es Herr Dr. Fell geschildert hat, dann hätten Sie eben nicht von „Geben und Nehmen" reden können. Hier geht es um Steuergerechtigkeit und nicht darum, etwas zu nehmen oder zu geben. Aber mit dem Nehmen haben es die Sozialdemokraten ja immer ganz besonders.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, machen sich hier Gedanken über einen Streit bezüglich der Steuerpolitik innerhalb der Koalition. Die F.D.P. hat auf ihrem Parteitag eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU/CSU verabschiedet, nicht weil wir nahtlos in allen Bereichen, auch nicht in der Steuerpolitik, übereinstimmen, sondern weil wir in den Grundgedanken, insbesondere in der Steuerpolitik, mit der CDU/CSU übereinstimmen. Das heißt nicht, daß wir, wenn es zu Koalitionsverhandlungen kommt, uns nicht bei einzelnen Sachpunkten sehr wohl über unterschiedliche Positionen unterhalten werden müssen. Dazu gehört z. B. die Frage, ob der Solidaritätszuschlag nach drei Jahren nur überprüft wird oder ob eine Befristung in das Gesetz hineingeschrieben wird. Aber daraus machen Sie nun bitte keinen Glaubenskrieg. Wir unterscheiden uns hier zweifellos.
— Mein lieber Herr Poß, Sie wissen genau, daß der nächste Bundestag Herr des Verfahrens ist und ein Gesetz verabschieden kann, in dem eine Befristung vorgesehen ist. Dies ist unser Ziel. Sie wissen genau, daß die Koalitionsparteien dies bereits bei der Verabschiedung des FKPG wollten, und aus welchen Gründen es damals noch nicht schon in dieses Gesetz hineingeschrieben worden ist.Nun haben wir eine Koalitionsaussage gemacht, und Sie sind gestern auf Ihrem Parteitag vergattert worden, keine Koalitionsaussage zu machen. Nachdem niemand in deutschen Landen eigentlich davon ausgeht, daß Sie alleine die absolute Mehrheit erreichen, werden Sie ja doch wohl auf eine Koalition mit den GRÜNEN angewiesen sein, wenn Sie es denn schaffen sollten, was der Herr verhüten möge. Weil aber dies so ist, muß man natürlich schon feststellen— da hat Herr Schulz vorhin recht gehabt -: Was Teile der SPD fordern -- er hat genannt: Hessen-Süd, die Jusos, Schleswig-Holstein , stimmt fast lückenlos mit den Plänen der GRÜNEN überein. Wenn es dazu käme, kann ich mir den Verlauf der Koalitionsverhandlungen und das, was dabei herauskommen sollte, vorstellen.
— Ich will Ihnen nur ganz kurz einmal vorlesen, was hier fast unisono gefordert wird: Erhöhung der Mineralölsteuer, zehnprozentiger Solidaritätszuschlag, Investitionshilfeabgabe für Aufbau Ost, Erhöhung der Erbschaftsteuer, Verkehrswerte von Grundstückenstatt Einheitswerte bei der Erbschaftsteuer und bei der Vermögensteuer.
Das sind die Positionen der GRÜNEN, deren Vertreter leider nicht mehr da sind, und das sind Positionen weiter Teile der SPD, von welchem Flügel auch immer. Das ist die Alternative, vor die der Wähler gestellt wird.
Ich weiß, daß Ihnen diese Koalitionsdebatte nicht nur verboten worden ist, sondern auch nicht schmeckt. Aber ich sage Ihnen: Wir werden Sie in dieser Frage stellen. Denn niemand wird Ihnen abnehmen, daß Sie es alleine schaffen werden. Wenn Sie mit diesem Anspruch antreten sollten, dann haben Sie von vorneherein verloren. Angesichts der Anträge zu steuerpolitischen Problemen, die in Halle zwar vorlagen, aber nicht verabschiedet wurden,
und angesichts dessen, was auf Sie zukäme, wenn Sie überhaupt die Chance erhielten, in Koalitionsverhandlungen einzutreten, kann ich nur sagen: Brieftasche festhalten, wenn Sozialdemokraten und GRÜNE kommen.
Dies erfolgt alles zu Lasten von Arbeitsplätzen, die nur geschaffen werden können, wenn die Steuerbelastung gesenkt wird. Dies gilt für den Grundfreibetrag ebenso —(Detlev von Larcher [SPD]: Warum kann mandas nicht?)— das machen wir doch ab 1996, wie es uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat — wie im Bereich der Unternehmensbesteuerung. Das ist die Philosophie, mit der wir 50 Milliarden DM Steuerentlastungen in den Jahren 1986, 1988, 1990 durchgeführt haben mit dem Erfolg, daß die Wirtschaft geblüht hat und Steuermehreinnahmen geflossen sind. Das ist das Konzept, hinter dem wir Freie Demokraten stehen und das wir mit der Union gemeinsam verwirklichen werden, wobei wir es nicht versäumen werden, unsere Akzente zu setzen und in den Koalitionsverhandlungen zu vereinbaren.Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde angelangt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2a bis o sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:2. Debatte Neue Ländera) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungMaterialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern— Drucksachen 12/6854, 12/7055 —
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20548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate SchmidtÜberweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Post und TelekommunikationAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologieund TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß Treuhandanstaltb) — Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung schuldrechtlicher Bestimmungen im Beitrittsgebiet
— Drucksache 12/7135 —
— Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der vertraglichen Nutzungen von Erholungsgrundstücken— Drucksache 12/7229 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/8035 —Berichterstattung:Abgeordnete Jörg van Essen Hans-Joachim HackerDr. Uwe-Jens HeuerDr. Michael LutherDr. Wolfgang UllmannDr. Eckhart Pickc) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erhalt und zur Schaffung dauerhaft gebundener kommunaler Mietwohnungen in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/4932 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 12/6599 — Berichterstattung:Abgeordnete Rolf Rau Iris Gleickebb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/6666 —Berichterstattung:Abgeordnete Dieter Pützhofen Carl-Ludwig ThieleThea Bockd) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Werner Schulz , Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Investitionshilfe der westdeutschen gewerblichen Wirtschaft zur Sanierung der Unternehmen in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/6239 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/6891 —Berichterstattung:Abgeordneter Ernst Schwanholde) Erste Beratung des von der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes— Drucksache 12/7460 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Familie und Senioren RechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauf) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Michael Müller , Rolf Schwanitz, Reinhard Weis (Stendal), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUmweltschutzinvestitionen in den neuen Ländern— Drucksachen 12/4813, 12/6143 —g) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann und der Gruppe der PDS/Linke ListeErneuerung industrieller Kerne— Drucksachen 12/6069, 12/7745 —h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Fritz Schumann und der Gruppe der PDS/Linke ListeErstattung eines Berichts der Bundesregierung zur Lage der Nation im vereinigten Deutschland und zur Durchsetzung des Einigungsvertrages anläßlich des 3. Jahrestages der staatlichen Vereinigung am 3. Oktober 1993— Drucksache 12/5652 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Rechtsausschuß
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20549
Vizepräsidentin Renate Schmidti) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDzur Abwicklung der Kartoffelexporte landwirtschaftlicher Betriebe in den neuen Ländern nach Rumänien im Herbst 1990— Drucksache 12/7022 —j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Susanne Kastner, Klaus Lennartz, Reinhard Weis (Stendal), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGrundwasserverseuchung durch GUS-Standorte offenlegen und Standorte sanieren— Drucksachen 12/4789, 12/6337 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Harald Kahl Susanne KastnerJosef Grünbeckk) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Michael Müller (Düsseldorf), Wolfgang Roth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunftsinvestitionsprogramm ,,ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit" für die neuen Bundesländer— Drucksachen 12/4293, 12/6709 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold
Michael Müller
Gerhart Rudolf Baum1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses Treuhandanstalt zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Gruppe der PDS/ Linke ListePrivatisierungskriminalität- Drucksachen 12/5734, 12/6917 -Berichterstattung:Abgeordnete Arnulf Kriedner Wieland Sorgem) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Millier (Zittau), Hinrich Kuessner, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDÜberbrückungs- und Modernisierungsdarlehen für Industrieunternehmen in den neuen Bundesländern— Drucksachen 12/4680, 12/6940 —Berichterstattung: Abgeordneter Jürgen Türkn) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Fritz Schumann , Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur teilweisen Erstattung des bei der Währungsumstellung 1990 zwei zu eins reduzierten Betrages für ältere Bürgerinnen und Bürger sowie Alleinerziehende— Drucksache 12/6050 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
- Drucksache 12/7056 -Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)o) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS/Linke ListeEntwurf eines Verfahrensgesetzes zu Artikel 44 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertrag — vom 31. August 1990— Drucksachen 12/4955, 12/8009 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Joachim Hacker Dr. Michael LutherZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Siegrun Klemmer, Rolf Schwanitz, Christoph Matschie, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSanierung der radioaktiven Altlasten in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Brandenburg— Drucksache 12/8030 —ZP5 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeWeitere Behandlung der Altkredite der LPG-Rechtsnachfolger— Drucksachen 12/7557, 12/8073 —Berichterstattung: Abgeordneter Egon SussetZum Schuldrechtsänderungsgesetz liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich erteile als erstem in dieser Aussprache dem Kollegen Johannes Nitsch das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die „Materialien
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20550 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Johannes Nitschzur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern" sind eine umfassende Bestandsaufnahme der Lage in Ostdeutschland. Der Bundesregierung und insbesondere dem Bundesminister des Innern ist für diese wichtige Dokumentation des Weges zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in Ost und West herzlich zu danken. Wir unterstützen die Absicht der Bundesregierung, diesen Bericht fortzuschreiben.Die Dokumentation macht deutlich, wie umfangreich der komplizierte Umgestaltungsprozeß ist. Kein Bereich des wirtschaftlichen, sozialen und öffentlichen Lebens konnte ausgespart bleiben. Die gewaltigsten Anstrengungen wurden und werden bei der Herstellung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Einheit erbracht. Hieran sind alle Deutschen beteiligt. Allen voran sind dabei die Finanzhilfen in Höhe von 175 Milliarden DM allein im Jahre 1994 zu nennen.Wer sich seine Informationen unmittelbar vor Ort holt und mit den Menschen spricht, kann sich mit Augen und Ohren davon überzeugen, daß das Geld gut angelegt ist.
Diese Mittel sind eine Investition in die Zukunft Deutschlands. Ich möchte daher den Menschen in den alten Bundesländern für diese finanzielle Leistung danken und sie bitten, sich auch nicht durch Wahlergebnisse irritieren zu lassen.Grund solcher Irritation ist die Nachfolgerin der SED. Die PDS verfügt besser als jede andere Partei über Strukturen, die noch voll funktionsfähig sind, und hat es leider verstanden, vorhandene diffuse soziale Ängste zu instrumentalisieren und zu verstärken. Getreu ihrem alten sozialistischen Konzept über Strategie und Taktik stellt sie sich im Moment als „Partei des sozialen Gewissens" dar.
Die SED hat sich durch Umbenennung in PDS in einer einzigartigen Weise aus der Verantwortung gestohlen. Nicht ihre Politik aus 40 Jahren DDR, Mißwirtschaft, Mauerbau, Schießbefehl, Bautzen sind verantwortlich für den wirtschaftlichen und sozialen Rückstand in den neuen Bundesländern, sondern Demokratie, Marktwirtschaft und natürlich die Bundesregierung. Das ist Geschichtsfälschung pur, meine Damen und Herren. Zuerst Gewaltherrschaft und Lüge und jetzt Demagogie.Erinnern wir uns: Im Oktober 1989 wird in dem sogenannten Schürer-Papier, das im Auftrag des Generalsekretärs der SED als Geheime Verschlußsache vorgelegt wurde, wesentlich mehr über die katastrophale Lage der Ökonomie in der DDR zugegeben. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, darf ich zitieren:Die Konsequenz der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit wäre ein Moratorium , bei der der Internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat. Solche Auflagen setzen Untersuchungen des IWF in den betreffenden Ländern zu Fragen der Kostenentwicklung, der Geldstabilität u. ä. voraus. Sie sind mit der Forderung auf den Verzicht des Staates, in die Wirtschaft einzugreifen, der Reprivatisierung von Unternehmen usw. verbunden.An anderer Stelle in diesem Papier heißt es:Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 % erfordern und die DDR unregierbar machen.
Selbst wenn das der Bevölkerung zugemutet würde, ist das erforderliche exportfähige Endprodukt in dieser Größenordnung nicht aufzubringen.Diese Einschätzung erfolgte noch unter den Voraussetzungen eines voll funktionierenden Exports in das RGW und insbesondere in die SU.Die Betrachtung der Entwicklung unseres Lebensniveaus sollte ab und zu auch einmal vor diesem Hintergrund erfolgen. Die Absenkung des Lebensstandards konnte durch die Wiedervereinigung in einen Anstieg verwandelt werden. Das verfügbare Einkommen je Einwohner ist um 73 % gestiegen. Die Richtung zeigt weiter nach oben.Als Vergleichsmaßstab gilt heute nur noch das Niveau in den alten Ländern. Niemand will an eine mögliche Entwicklung entsprechend dem Schürer-Bericht erinnert werden. Das ist allzu menschlich. Niemand erwächst daraus ein Vorwurf. Aber die positive Entwicklung muß zumindest benannt werden.
Vordringlichste Aufgabe ist die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Bis genügend Arbeitsplätze für alle zur Verfügung stehen, kommt der aktiven Arbeitsmarktpolitik eine besondere Bedeutung zu. Lohnkostenzuschüsse, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Weiterbildungsmaßnahmen, Altersübergangsgeld und Vorruhestand dienen der sozialen Abfederung des wirtschaftlichen Umbruchs, der Weiterbeschäftigung und Qualifizierung von Arbeitnehmern.Durch den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente wurde der Arbeitsmarkt in den neuen Ländern 1993 um 1,7 Millionen Personen entlastet. CDU und CSU werden auch in Zukunft die arbeitsmarktpolitischen Instrumente flexibel einsetzen und der aktuellen Arbeitsmarktlage anpassen.Unser politisches Ziel bleibt die Herstellung der inneren Einheit. Die wirkliche Einheit wird uns aber nur dann gelingen, wenn alle Menschen guten Willens die Lasten aus 40 Jahren Sozialismus solidarisch zu tragen bereit sind.In dem Bericht der Bundesregierung heißt es:Die Spuren der langen SED-Zwangsherrschaft sind tief — in allen öffentlichen und privaten Bereichen. Viele Wunden verheilen nur langsam. Die Aufgabe, schlimme Folgen des Überwachungsstaates von politischer Unterdrückung, ökonomischer Fehlentwicklung und ökologischer Ausbeutung zu überwinden, wird noch längere Zeit die solidarische Anstrengung unseres ganzen Volkes erfordern.
Eine Miesmacherei des bisher Erreichten spaltet die Menschen, weil kaum jemand im Westen bereit sein
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20551
Johannes Nitschwird, persönliche Opfer zu bringen, wenn das angeblich in den neuen Ländern doch nichts bringt.
Ganz besonders bedenklich ist es für mich, wenn SPD-Opposition und PDS in das gleiche Horn blasen. Als Ostdeutscher verstehe ich manchen Politiker der SPD nicht mehr, wenn es nun mit der PDS zusammengehen soll.
Das ist hoffentlich reiner Opportunismus, und das ist schon schlimm genug. Nur um Mehrheiten zu erreichen, scheint man bereit zu sein, Bündnisse einzugehen, die der Demokratie nur schaden können.
Für mich ist auch völlig unerheblich, ob das Bündnis nur in den Kommunen — vielleicht auch im Land, das weiß man noch nicht so genau — gelten soll. Es ist die Politik der kleinen Schritte, die mir Angst macht.
— Nein, die CDU/CSU kann diesen Weg der zweitgrößten demokratischen Partei nur mit Entsetzen verfolgen und hoffen, daß die breite Mitgliederschaft der SPD ihrer Führung Einhalt gebietet.
Herr Kollege Nitsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte meine Rede erst zu Ende bringen.
Für die CDU/CSU ist der Linksradikalismus ebenso konsequent wie der Rechtsradikalismus zu bekämpfen. Meine Damen und Herren, lesen Sie im Parteiprogramm der PDS nach! Dort erfahren Sie, wohin die Reise gehen soll.Das Scheitern des Sozialismus im Osten wird mit der Unfähigkeit begründet, es sei nur nicht gelungen, das Eigentum an Produktionsmitteln in einer für den Produzenten spürbaren Weise zu vergesellschaften. Gleichzeitig fordert das Programm weiterhin, die Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums zu überwinden. Für die PDS bleibt nur die Frage, ob die Vergesellschaftung von Eigentum primär durch die Vergesellschaftung der Verfügung über das Eigentum erreichbar ist oder ob der Umwandlung in Gemeineigentum, insbesondere in gesamtgesellschaftliches Eigentum, sprich: Volkseigentum, die bestimmende Rolle zukommen muß. Das heißt doch im Klartext: Zurück zu VEBs und Kombinaten; die Treuhandanstalt gewissermaßen linksherum drehen. Das Ende vom Lied hatten wir schon: Planwirtschaft und Diktatur.Meine Damen und Herren, merkt niemand, daß dies genau das SED-Programm ist? Mit Kollegen Schmieder kann ich nur sagen: Wehret den Anfängen! Niemand soll sagen können: Das konnten wir nicht voraussehen.Der Bericht der Bundesregierung zeigt die gewaltigen Anstrengungen in Ost und West, die auf dem Wege zu den blühenden Landschaften erforderlichsind, und wie weit wir auf diesem Weg vorangekommen sind.Der Aufbau einer hochmodernen Industrie hat begonnen. Es sind nicht nur das Opel-Werk in Eisenach und VW in Zwickau, es sind Unternehmen mit europäischer Bedeutung im Aufbau. Ich erinnere an die Chipfabrik in Dresden und an Leuna 2000. Der Investitionsquotient pro Kopf hat das Niveau der alten Länder bereits überschritten.Schon heute gibt es in den neuen Bundesländern 400 000 mittelständische Unternehmen, die ca. 3 Millionen Arbeitnehmer beschäftigen.Die Attraktivität der neuen Bundesländer hängt auch von guten Verkehrswegen und einer umfassenden Versorgung mit Kommunikationseinrichtungen ab. Deshalb wurde das Schienennetz der Bahn in den neuen Ländern zwischen 1990 und 1993 mit 21 Milliarden DM modernisiert und ausgebaut.Die Deutsche Bundespost/Telekom investiert in das Telefonnetz der neuen Bundesländer bis 1997 etwa 60 Milliarden DM. Seit 1990 wurden zwei Millionen Telefonanschlüsse installiert. Bis 1997 werden 95 % aller Haushalte einen Telefonanschluß haben. Damit wird in den neuen Ländern das modernste Telekommunikationsnetz Europas bestehen.Zu den anderen Fragen der sozialen Entwicklung und der Umweltpolitik werden noch Kollegen aus meiner Fraktion sprechen. Aber ich möchte noch die Landwirtschaft anführen. Auch die Landwirtschaft hat in den neuen Ländern Zukunft. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe hat sich seit 1989 von 4 700 auf 25 500 verfünffacht.Die Bundesregierung hat den Anpassungsprozeß seit 1990 mit 16 Milliarden DM gefördert. Darüber hinaus werden im Rahmen des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes ortsansässige Neu- und Wiedereinrichter die von der BVVG gepachteten Flächen preisgünstig erwerben können.Die wesentlich größere Flächenausstattung der Betriebe trug entscheidend dazu bei, daß in den neuen Bundesländern in der Landwirtschaft bereits eine doppelt so hohe Produktivität herrscht.Meine Damen und Herren, dieser Bericht zeigt, wie der Aufbau trotz aller Schwierigkeiten in den neuen Ländern vorangekommen ist. Die neuen Länder gehören wirtschaftlich zu den Regionen mit der stärksten Wachstumsdynamik in Europa. Die Zuwachsraten sind nur mit denen in Südostasien vergleichbar. Wer das leugnet, der ist böswillig und verfolgt durchsichtige politische Ziele, die nicht dem Zusammenwachsen in Deutschland dienen.
Wir haben allen Grund, uns über die erreichten Erfolge zu freuen. Wir wissen aber auch, daß noch viele Aufgaben zu lösen sind und daß insbesondere noch viel Geduld und Kraft gefordert wird, aufeinander zuzugehen und sich zu verstehen. Wir werden diese Herausforderung mit Energie, Zuversicht und solidarischem Handeln angehen. Alle Deutschen sind aufgerufen, daran mitzuwirken. Ich sehe genügend Bereitschaft dazu. Packen wir es also gemeinsam, wie bisher mit Optimismus an!
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20552 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Johannes Nitsch Danke.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nun blühen sie also wieder, die Landschaften in Ostdeutschland,
mit eingestandener Verspätung zwar, Hauptsache aber, sie blühen. Ein Schelm, wer einen Zusammenhang zwischen dem heranrückenden Wahltermin und der regierungsamtlich verordneten Blütenpracht in den Landen zwischen Werra und Oder vermuten würde.
Es könnte mir ja gleichgültig sein, mit welchen Stilmitteln Sie die Wirklichkeit und die Ergebnisse Ihrer vierjährigen Regierungsarbeit verkleistern, beschönigen, verdrehen, ob mit kitschig verklärender Naturlyrik oder mit gestanzten Aufschwungsparolen. Schlimm ist es, daß Sie es tun. Denn damit mißbrauchen Sie genau wie vor vier Jahren das Vertrauen der Menschen, das man damals in Sie gesetzt hat.
Sie mißbrauchen den drängenden und nur allzu berechtigten Wunsch der Ostdeutschen auf Zuversicht. Ich verstehe diesen Wunsch. Indem Sie die sanften, ziemlich vorsichtig zu behandelnden Anzeichen für eine wirtschaftliche Verschnaufpause und Besserung in Ostdeutschland in das Trugbild eines endlich mit viel Getöse über uns hereinbrechenden allgemeinen Aufschwungs verwandeln, mißbrauchen Sie von neuem die Hoffnungen vieler Millionen Menschen.
Darüber hinaus: 40 Jahre lang mußten wir ehemaligen DDR-Bürger diese unerträgliche Soße des notorischen Optimismus über uns ergehen lassen,
40 Jahre lang, in denen Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr eine Wirklichkeit inszeniert wurde, die mit der Wirklichkeit eben nichts zu tun hatte. Der reale Sozialismus war wahrlich ein Werk des sozialistischen Realismus. Ich sage Ihnen: Diese Optimismussoße steht uns bis hier oben hin.
Ich sage Ihnen weiter: Auf Dauer wird sich der Versuch, den eigenen Landsleuten unentwegt Sand in die Augen zu streuen, nicht bezahlt machen für Sie nicht und erst recht nicht für die Stabilität der Demokratie. Denn was Sie damit provozieren, ist nichts anderes als eine zornige Abwehrhaltung und in derenGefolge neuerlich die Gefahr von PDS-Wahlerfolgen.
Je stärker Sie den differenzierten Blick auf die Wirklichkeit verweigern, desto stärker und wahrscheinlicher machen Sie die Wahlerfolge der PDS.
Ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Wer so viel verspricht, muß sich nicht wundern, daß die Enttäuschung so heftig ist und daß sie woandershin getragen wird als zu demokratischen Parteien.Ich will Ihnen ausdrücklich sagen:Ich freue mich aus tiefstem Herzen über jeden noch so kleinen Schritt nach vorne, über jeden Arbeitsplatz, der nicht verlorengeht oder der neu gewonnen wird, über jedes Quentchen Wachstum, das uns hilft, aus der Talsohle herauszukommen.
Aber hören Sie endlich mit dieser unerträglichen, albernen Kulissenschieberei auf! Wie aus dem Munde des Herrn Bundeskanzler zu vernehmen ist, haben sich die Landschaften in Bewegung gesetzt. Da sich Landschaften gewöhnlich aber nicht bewegen, kann es sich dabei nur um Kulissen handeln, die in das Polittheater dieses Jahres zur staunenden Betrachtung durch das ostdeutsche Publikum geschoben werden.
Ich bitte Sie, mit dieser Kulissenschieberei aufzuhören. Eignen Sie sich ein wenig — wenigstens ein kleines Stück — die Fähigkeit an, die Lage bei uns in Ostdeutschland so wiederzugeben, wie sie tatsächlich ist: nicht katastrophal schlecht, aber auch nicht besoffen-rosig, wie Sie sie darstellen! Erklären Sie Ihren Mut zur Aufrichtigkeit und zum Realismus!Die Chancen für einen Aufbau mit Verstand und System für eine anhaltende Erholungsphase jener Betriebe, die die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung übriggelassen hat, für eine spürbare Eindämmung der Arbeitslosigkeit und für die Wiederherstellung einer lebenswerten, natürlichen, kulturellen und sozialen Umwelt sind durchaus vorhanden. Solange diese Chancen zur Veränderung bestehen, hat niemand einen Grund zur Schwarzmalerei und zum Defätismus. Die Ausgangslage für eine Aufbaupolitik, die diesen Namen tatsächlich verdient, ist zwar längst nicht so gut, wie die Bundesregierung vorgibt, zu unser aller Glück aber bei weitem nicht so verheerend, wie uns die PDS immer glauben machen will.
Nebenbei bemerkt: Werte Kolleginnen und Kollegen von der PDS, wer diese Chancen zur Veränderung zu nutzen gedenkt, der muß regieren wollen. Veränderung beginnt eben nicht mit Opposition, sie beginnt mit dem Willen zum Regieren.
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Wolfgang ThierseAn dieser Stelle will ich mir eine Bemerkung zum Verhältnis von SPD und PDS erlauben, weil das angesprochen worden ist. Lieber Kollege Johannes Nitsch, Sie sind nicht direkt gemeint, aber ich will Ihnen sagen: Mir reicht es. Mir reicht es, mich von Vertretern einer Partei über das Verhältnis zur PDS belehren zu lassen, die schließlich mit zwei Blockparteien — der Ost-CDU und der Bauernpartei — fusioniert hat, die 40 Jahre lang aufs engste mit der SED im Rahmen der Nationalen Front zusammengearbeitet haben.
Ich lasse mich von Vertretern einer solchen Partei nicht über mein oder unser Verhältnis zur PDS belehren. Das ist ganz klar eine offensive politische Auseinandersetzung. Ich möchte aber, daß sie auf einem gewissen Niveau geführt wird und daß diese Art der Auseinandersetzung mit politischem Anstand zu tun hat.
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, das wirtschaftliche Wachstum in Ostdeutschland liegt zur Zeit zwischen 7 und 8 %. Dies ist eine gute Zahl, die von der Leistungsbereitschaft der Ostdeutschen und von der Unterstützung aus dem Westen Deutschlands zeugt.Es ist aber auch eine Zahl, die veranschaulicht, daß die überkommene Gleichung „mehr Wachstum gleich mehr Arbeitsplätze" ihre Gültigkeit eingebüßt zu haben scheint. Denn der Abbau von Arbeitsplätzen geht weiter. Wir wissen, daß allein im Osten über viele Jahre hinweg ein Wirtschaftswachstum zwischen 10 und 15 % per anno notwendig wäre, um die Beschäftigungsprobleme tatsächlich lösen zu können.
Nein, die populäre Formel von arbeitsplätzeschaffendem Wirtschaftswachstum funktioniert nicht mehr, nicht einmal mehr im weitaus leistungsstärkeren westlichen Teil Deutschlands.
Bei der Beurteilung des Wirtschaftswachstums in Ostdeutschland muß man sich immer wieder in Erinnerung rufen, welches Ausgangsniveau diese Wachstumsrate hatte. Eine Wirtschaft, die in einem solchen Maße ruiniert wurde wie die ostdeutsche, kann im Grunde gar nichts anderes als wachsen. Wohin sollte sie nach Jahren der Deindustrialisierung eigentlich noch schrumpfen?53 % aller Arbeitsplätze in Ostdeutschland sind unter der Regentschaft dieser Bundesregierung innerhalb von nur vier Jahren vernichtet worden.
Es gibt kaum mehr eine Familie, die nicht direkt oder indirekt von Arbeitslosigkeit betroffen wäre.
Der Generalsekretär der CDU meinte neulich erklären zu müssen, der Bundesregierung sei es mit ihrer Politik gelungen, den — so wörtlich — völligen Einbruch auf dem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland zu verhindern.
Die deutsche Sprache stellt eine Steigerung des Wortes völlig — dem Himmel sei Dank — nicht zur Verfügung. Völligst, völliger, am völligsten oder so ähnlich gibt es nicht. Selbst wenn ein solches Wortungetüm in nächster Zeit erfunden werden sollte — man weiß ja nie , bleibt es schon ein starkes Stück, daß eine Regierung das eigene Scheitern auch noch als Erfolg verkauft.
Es waren in erster Linie Frauen, die den Gang zum Arbeitsamt haben antreten müssen. Die Arbeitslosenquote der Frauen ist doppelt so hoch wie die der Männer, die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit doppelt so lang. Vielleicht interessiert es den einen oder anderen Vertreter der Regierungsparteien zu erfahren, daß 91 % aller Frauen in Ostdeutschland berufstätig waren; 94 % hatten einen Schulabschluß. Die überproportional hohe Arbeitslosigkeit von Frauen hat ihre Ursache also nicht in geringerer Bildung, sondern hängt u. a. mit der diskriminierenden Neueinstellungspraxis der Treuhand zusammen. Diese Erkenntnis stammt übrigens nicht von mir, sondern geht urheberrechtlich auf das Arbeitsministerium zurück.Ich muß mich bei Herrn Blüm für diesen Hinweis bedanken, weil die Materialien der Bundesregierung zur deutschen Einheit, die Anlaß für die heutige Debatte sind, diesen Sachverhalt unterschlagen.Die willkürliche Benachteiligung und Zurücksetzung von Frauen muß ein Ende haben. Sie müssen in gleichem Maße an den Ergebnissen einer reformpolitischen Offensive teilhaben wie Männer.
Meine Damen und Herren, knapp 90 000 Männer und Frauen waren bis 1990 in der Forschung in der ehemaligen DDR tätig. Davon sind nicht mehr viele als in der Forschung Tätige übriggeblieben. Im Mai 1994 waren es nicht einmal mehr 10 000. Ich beklage in diesem Zusammenhang nicht nur den dramatischen Verlust von Arbeitsplätzen, ich beklage den Verlust der nahezu kompletten industrienahen Forschung in Ostdeutschland. Forschung und Entwicklung haben aber für die Reindustrialisierung Ostdeutschlands eine geradezu strategische Bedeutung. Das gesteht sogar das Bundesforschungsministerium ein. Und was geschieht? Der Forschungsetat stagniert, gerade auch für Ostdeutschland. Aber ohne die Wiedereinrichtung ausreichender auch industrienaher Forschungskapazitäten wird Ostdeutschland auf Dauer eine Region ohne Industrie werden. Es wird eine der ersten Maßnahmen einer hoffentlich sozial-
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20554 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Wolfgang Thiersedemokratisch geführten Bundesregierung sein, diesem Erosionsprozeß Einhalt zu gebieten.
Die Förderung der Industrieforschung in Ostdeutschland, das Werben um den Elan der Wissenschaftler und Studenten und die Erneuerungsbereitschaft der mittelständischen Industrie müssen zum Merkmal der politischen und wirtschaftlichen Zeitenwende in Deutschland werden. Forschung, Entwicklung, Innovation, Ökologie — das ist der Stoff, aus dem die Zukunft ist. Abriß, Abbau und Entlassung — das ist die Vergangenheit.
Wer einen Aufschwung erreichen will, der den Menschen, Frauen und Männern gleichermaßen, Nutzen bringt, kommt mit einer Politik, die nur auf Wachstum setzt und ansonsten kaum etwas anzubieten hat, nicht mehr aus. Da muß man sich schon etwas Intelligenteres einfallen lassen. Was Deutschland in allen seinen Teilen braucht, ist eine aktive Arbeits- und Beschäftigungspolitik, eine Politik, die nützliche Arbeit finanziert statt zerstörerischer Arbeitslosigkeit, die die mittelständische Industrie mit ihren kreativen Potentialen und ihrem Einfallsreichtum fordert und fördert und die mit der ökologischen Modernisierung die ökonomische Zukunft unseres Landes sichert. Zu einer solchen Politik ist diese Regierung weder willens noch in der Lage.Die Bundesregierung, allen voran die Chefideologen der Partei der Besserverdiener und Leistungsträger, scheut die intelligente Verknüpfung von Wirtschafts-, Umwelt-, Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik wie der Teufel das Weihwasser.
Und wohin ideologische Betriebsblindheit führen kann, wissen wir Ostdeutschen am besten.
— Man kann es, wie Sie sehen.
Eine andere, eine vernünftige wirtschaftspolitische Strategie für Ostdeutschland nutzt die Möglichkeiten einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. Denn Beschäftigungspolitik ist Wirtschaftspolitik. Die alte These von der Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, ist Unfug. Überall gäbe es genug zu tun, wenn man den politischen Willen aufbrächte, sinnvolle Arbeit, nützliche Arbeit zu organisieren, Arbeit, die soziale und ökonomische Schäden beseitigt, Arbeit, die Infrastruktur schafft.
Ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt wird ein Scharnier zu neuen wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen bilden. Allen, die arbeitslos geworden sind, muß durch gezielte Maßnahmen geholfen werden, diese Zeit zu überbrücken, durch Existenzgründungshilfen, durch Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüsse, Frauenförderungspläne usw.
— Aber, Herr Solms, wer polemisiert denn am heftigsten gegen den öffentlich geförderten Arbeitsmarkt? Das ist doch Ihre Partei. Jetzt tun Sie so, als täten Sie all dies. Es ist ja nicht so.
Arbeitslosigkeit darf und muß kein Dauerschicksal sein, und eine zupackende, auf den Bedarf der Regionen zugeschnittene Arbeitsmarktpolitik spekuliert nicht auf das Prinzip Hoffnung, sondern setzt Veränderungen durch.Eine andere, eine vernünftige wirtschaftspolitische Strategie für Ostdeutschland ist Umweltpolitik. Die Innovationsträgheit der deutschen Wirtschaft ist inzwischen schon fast sprichwörtlich. Das wirkt sich im Westen mehr aus als im Osten, weil im Osten kaum noch Industrie vorhanden ist, die träge sein könnte. Der Wiederaufbau der ostdeutschen Industrie wird auf hohem technologischen Niveau stattfinden müssen. Warum um alles in der Welt sollten wir im Osten die Fehler, die in- Westdeutschland gemacht wurden, wiederholen? Moderne ökologische Produktionsverfahren machen die Wirtschaft weltweit wettbewerbsfähig, schaffen zukunftsträchtige Arbeitsplätze und tragen entscheidend zum Erhalt unserer Umwelt bei.Wenn das verquaste Geschwätz von den blühenden Landschaften einen Sinn haben soll, dann doch in diesem Zusammenhang: Naturschutz, ökologische Verbesserungen im Verkehrssystem, rationelle und umweltfreundliche Energieverwendung und vor allem Energieeinsparung, Gewässerschutz und Abfallvermeidung usw. usf. Das könnte wirklich blühende Landschaften bringen.
Eine andere, eine vernünftige wirtschaftspolitische Strategie für Ostdeutschland fördert den Mittelstand, erleichtert die Rahmenbedingungen für Investitionen, stärkt die Investitionskraft der Unternehmen, beteiligt die Arbeitnehmer am Produktivvermögen. All dies wollen wir.Eine andere, eine vernünftige wirtschaftspolitische Strategie für Ostdeutschland wird den Kommunen in Ostdeutschland mit einer Investitionspauschale unter die Arme greifen müssen, damit die erforderlichen Verbesserungen der Infrastruktur in Angriff genommen werden können
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Wolfgang Thierseund über sie vor Ort möglichst nah an den Problemgebieten so demokratisch wie möglich und so effektiv wie möglich entschieden werden kann.
Eine andere, eine vernünftige wirtschaftspolitische Strategie für Ostdeutschland wird die verbleibenden Unternehmen der Treuhand sanieren statt planieren. Sie sollen eine faire Chance bekommen. Dazu muß man ihnen Zeit geben, auch durch finanzielle Unterstützung.
Eine andere, eine vernünftige wirtschaftspolitische Strategie für Ostdeutschland verbessert schließlich den Marktzugang für die längst hochwertigen Produkte auch ostdeutscher Herkunft. Das Krisengebiet Ostdeutschland in ein wirkliches Aufschwunggebiet zu verwandeln ist eine Aufgabe, bei der die ganze Gesellschaft mit anpacken muß. Es ist eine klassische Gemeinschaftsaufgabe. Deshalb wird fairer Ausgleich der Lasten zu einem Gebot der Gerechtigkeit. All jenen, die heute schon jeden Pfennig zweimal umdrehen müssen, können keine weiteren Abgaben und Steuern aufgebürdet werden. Das gilt für Ostdeutsche und Westdeutsche gleichermaßen. Lastenausgleich heißt deshalb Schluß mit der Doppelbelastung der Beitragszahler. Jetzt muß die Solidarität jener eingefordert werden, die mehr Solidarität zu leisten in der Lage sind.
Miesmacher — weil Sie uns das immer vorwerfen — sind für mich welche, die ihren Job miesmachen. Solcherlei Zeitgenossen gibt es einige. Statt die wirkliche Lage ungeschminkt zu skizzieren und die Aufgaben zu beschreiben und zu erklären, wie es sich den weiteren Gang der Dinge vorstellt, flüchtet sich das Regierungslager entweder in die romantische Poesie oder beschwört zur Abwechslung die nationale Schicksalsgemeinschaft. Das sind Ausflüchte, Ersatzhandlungen, Manöver zur Ablenkung von der Tatsache, daß diese Regierung in Ostdeutschland nicht wirklich erfolgreich ist. Keine einzige programmatische Aussage ist in den zurückliegenden Wochen von Bundeskanzler Kohl zu hören gewesen. Die einzige Botschaft dieser Regierung lautet: Schau'n mer mal, und machen wir dabei die Augen zu und sind ganz furchtbar optimistisch!
Meine Damen und Herren, es ist Zeit für einen Wechsel.
Herr Kollege Jürgen Türk, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute geht es um die neuen Bundesländer, und das ist gut so; denn die Einheit ist trotz aller erkennbaren Fortschritte noch nicht erreicht. Für den Aufbau in den neuen Bundesländern bedarf es im gesamtdeutschen Interesse noch großer gemeinsamer Anstrengungen an Stelle ständiger Blockade, Herr Thierse. Auch der Wahlkampf rechtfertigt das ständige Verweigern nicht. Die Menschen wollen, daß Entscheidungen getroffen werden; sie merken schon, wer hier blockiert, meine Damen und Herren von der SPD.
Es sind Verkrustungen gewachsen. Es hat keinen Zweck, sich haarspalterisch vorzuwerfen, wer daran den größeren Anteil hat. Vielleicht ist es eine Illusion: Aber wie wäre es denn mit einem Wettbewerb miteinander an Stelle prinzipiell gegeneinander? Der Wähler verteilt dann Punkte entsprechend erbrachter Leistungen.
Ich glaube, hier hilft kein Jammern, aber auch kein Beschönigen. Es hilft nur, daß die Dinge beim Namen genannt werden, sowohl das Erreichte als auch das noch zu Erreichende.Wenn man also von weggebrochenen Arbeitsplätzen spricht das sind tatsächlich sehr viele —, muß man auch die vielen tausend neu geschaffenen erwähnen, und dann muß man auch die Ursache dafür nennen, warum so viele weggebrochen sind.
Der Zeitpunkt, daß mehr geschaffen werden, als wegbrechen, ist erreicht. Das ist kein Beschönigen, das ist nachweisbar.Was ist zu tun, um über Investitionen die Arbeitslosenquote weiter schrittweise zu reduzieren?Nach einem Forum mit selbständigen Handwerkern und Mittelständlern am gestrigen Tage in Forst, also nahe an der neuen EU-Grenze, bin ich in folgendem bestärkt:Erstens. Wir brauchen unbedingt eine Vereinfachung der Fördermittelinstrumente, insbesondere für regionale Infrastrukturen. Das ist in Arbeit.Zweitens. Wir müssen die Ausschreibungsvorschriften für öffentliche Aufträge vereinfachen und die Bearbeitungszeit im Interesse regionaler Anbieter verkürzen. Wir haben gestern vor Ort eine solche Anhörung vereinbart.Drittens. Nach den Gebietsreformen, d. h. den Großkreisbildungen, haben die Kommunen und Kreise Voraussetzungen für die Bildung von Standortentwicklungsgesellschaften mit optimaler Größe. Ich empfehle immer wieder, daß man dort über die Standortentwicklungsgesellschaften den Rahmen schafft, den die Investoren brauchen. Diese Chance sollte umgehend genutzt werden.Viertens. Nach wie vor ist es erforderlich, die zügige Verwertung bundeseigener Liegenschaften — einschließlich Treuhandliegenschaften — für alternative Gewerbe und Industrieansiedlung voranzutreiben. Das gilt auch und gerade für das EKO Eisenhüttenstadt.Fünftens. Um Daueranreize für Investoren zu schaffen, brauchen wir in Ostdeutschland eine Mehrwertsteuerpräferenz — wir haben es auf unserem Partei-
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Jürgen Türktag beschlossen -, insbesondere in den strukturschwachen EU-Grenzregionen zu Polen und Tschechien.Nun zum Schuldrechtsänderungsgesetz, zu den ostdeutschen Datschen. Ich freue mich, daß nach der CDU/CSU nun auch die SPD dem Vorschlag der Liberalen gefolgt ist,
gewachsenen Besitzstand weitestgehend zu sichern und damit zur Eigentumsbildung in den neuen Bundesländern beizutragen.
— Dann hätten Sie es nicht auf dem Parteitag noch einmal zu beschließen brauchen.
Gleichwohl müßte der SPD trotz der Versprechungen auf ihrem Hallenser Parteitag klar sein, daß ein grundsätzlich lebenslanges Nutzungsrecht aus der Sicht der Datschenbesitzer zwar wünschenswert ist, aber verfassungsrechtlich kaum haltbar sein dürfte. Damit dürfte die ganze Lösung in Frage gestellt werden. Das wollen wir nicht. Deswegen unser Kompromißvorschlag.Noch froher bin ich, daß diesen Rostocker Beschluß der F.D.P. fast alle Delegierten aus Ost und West mitgetragen haben. Ganz rekordverdächtig ist auch die Geschwindigkeit der Umsetzung dieses Beschlusses.
Das setzt natürlich Maßstäbe für die Zukunft. Damit wird den in 40 Jahren gewachsenen Strukturen und damit den schutzwürdigen Interessen der Pächter von Datschengrundstücken Rechnung getragen, zumal sie vom Nutzungsrecht auf Dauer ausgehen durften. Es war nicht leicht, aber letztlich konnten wir unseren westdeutschen Kollegen die Datschenphilosophie nahebringen — wie man sieht, mit Erfolg.Mit einer Sicherung von 25 Jahren, bei 60jährigen bis zum Lebensende, kann man schon leben, zumal für die Nutzungsentgelte nur eine schrittweise Anhebung zugesichert wird.Über die Kündigungsgründe ab den Jahren 2000 bis 2005 in eng geregelten Härtefällen kann man sich natürlich streiten. Aber ich glaube, daß man auch an die Grundstückseigentümer denken muß und damit wieder an Folgen für die Datschenbesitzer. Im übrigen verbietet das Gesetz nicht, daß sich Datschenbesitzer mit Grundstückseigentümern über die Verlängerung des Pachtvertrages einigen, auf den Kauf des Grundstücks bzw. der Datsche.Aber wer alles will, bekommt meistens nichts. Ich glaube, daß das Verfassungsgericht im Anrufungsfall diesen Kompromiß nachvollziehen kann. Auf jeden Fall muß gelten: Altes Unrecht darf tatsächlich nicht mit neuem beseitigt werden.
Wichtig und richtig ist meines Erachtens die Sonderregelung für bewohnte Wochenendhäuser, wonach der Grundstücksnutzer auch nach Ablauf der Fristen der Kündigung widersprechen kann, wenn die Kündigung eine unzumutbare Härte für ihn bedeutet.Alles in allem ist es ein Kompromiß, mit dem man leben kann, weil er auch hier zumindest den Versuch eines Interessenausgleichs darstellt.Und um Gleichstellung bei gleicher Leistung muß es z. B. auch bei Grundschullehrern der neuen Bundesländer gehen. Es ist völlig unverständlich, wie der SPD-dominierte Bundesrat dem sächsischen Antrag auf dauerhafte Unterbewertung der ostdeutschen Lehrer bei gleichwertiger Leistung folgen konnte.
Das ist Tatsache, das können Sie nachlesen.
Das ist in der Tat nicht ausreichende Sensibilität für ostdeutsche Probleme. Das sieht übrigens Ihr ostdeutscher Kollege Ringstorff ähnlich.Um so mehr freue ich mich, daß sich die F.D.P. auch hier mit Ihrem Rostocker Parteitagsbeschluß durchgesetzt hat, die Bundesratsinitiative abgelehnt wurde und daß den ostdeutschen Ländern die Möglichkeit der Gleichstellung eröffnet wird.
Meine Damen und Herren, wir sollten in Zukunft mehr aufeinander zugehen und aufeinander hören; dann kann das noch zusammenwachsen, was wirklich zusammengehört.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Nitsch, ich wundere mich doch sehr über Ihre Aussagen hier zu möglichen Koalitionen — sogar auf Kommunalebene. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, daß es so viele Kandidaten und Kandidatinnen für die Ämter von CDU-Landräten und Bürgermeistern gibt, die an unsere Türen klopfen, um Stimmen von uns zu bekommen,
finde ich, daß Ihr Vorwurf nicht gerechtfertigt ist. Ja, sicher! Bloß weil Sie das nicht wissen, ändert das ja nichts an den Tatsachen.Das zweite — darauf hat Herr Thierse hier schon zu Recht hingewiesen —: Wissen Sie, wenn man unsere beiden Mittäter wegfusinoiert, sollte man sich in seinen Vorwürfen uns gegenüber etwas zurückhalten. Das finde ich auch.Ich will noch zu Ihnen, Herr Thierse, etwas sagen. Sie haben gesagt: Veränderung beginnt genau nicht mit Opposition, sondern Veränderung beginnt mit
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Dr. Gregor Gysidem Willen zum Regieren. Dazu hätte ich gern zwei Bemerkungen gemacht:Erstens ist das, glaube ich, durch die Geschichte Ihrer Partei widerlegt. In der 130jährigen Existenz haben Sie 16 Jahre lang den Regierungschef gestellt; aber Sie werden doch nicht ernsthaft bestreiten wollen, daß Sie in den übrigen 114 Jahren ganz wesentliche gesellschaftliche Veränderungen und Strukturen mitgeprägt haben. Das heißt, auf das Mitregieren kommt es in erster Linie gar nicht an.
Dann gibt es ein noch viel aktuelleres Beispiel: Das sind die GRÜNEN, von denen ich behaupte, daß sie diese Gesellschaft in der alten Bundesrepublik in der Zeit, in der sie noch nicht an Landesregierungen beteiligt waren, stärker verändert haben als in der Zeit, in der sie mitregieren.
Ich erinnere an das ökologische Bewußtsein, an die Stellung der Frauen, an Quotierungsfragen und ähnliche Dinge.Das dritte: Wissen Sie, es ist ja albern: Überall kreischen alle etablierten Parteien bei der Idee auf, daß man mit der PDS irgend etwas zu tun haben könnte. Dann werfen Sie uns vor, nicht regieren zu wollen. Wie würden Sie denn erst reagieren, wenn wir anfangen würden, Minister aufstellen zu wollen? Dann würden Sie, glaube ich, noch viel hysterischer reagieren.Also seien Sie ganz froh darüber, daß wir eine Oppositionsrolle spielen wollen und die auch ernst nehmen, nämlich um zu verhindern, daß bestimmte Themen von der Tagesordnung verschwinden. Daß die verschwinden sollen — zumindest eine bestimmte Sichtweise , sieht man auch an der heutigen Debatte.Ihr Bundeskanzler reist derzeit durch die neuen Bundesländer und hat sich überlegt, daß er nach vier Jahren wieder einmal die „blühenden Landschaften" versprechen muß, diesmal mit dem Hinweis, er habe sich bloß in der Zeit geirrt, ab 1995 kämen sie dann. Ich weiß gar nicht, für wie einfältig er die Ostdeutschen eigentlich hält, wenn er sich solche Auftritte leistet. Inzwischen weiht er jede Mülltonne im Osten persönlich ein, geht auf grüne Wiesen, schneidet Strippen durch und erklärt: Hier wird einmal ein großes Werk entstehen — und das gleich zweimal. Ich denke, das kennen wir alles aus 40 Jahren DDR — übrigens zur Genüge. Wir haben es nicht nötig, uns wieder diese Art von Schönfärberei bieten zu lassen.
Das ist einfach eine Tatsache.Sie können das Ganze drehen und wenden, wie Sie wollen: Sie haben die Industrie in den neuen Bundesländern zerstört, nachdem nämlich der — —
— Passen Sie auf, ich werde Ihnen das gleich beweisen. Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß die Industrie in den anderen — —
— Ich habe überhaupt keine Chance mehr; die sind zu laut hier.Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß die Industrie in den anderen osteuropäischen Ländern besser war als die in der früheren DDR. Trotzdem ist sie längst nicht in diesem Umfang eingestellt worden wie in der früheren DDR. Das hing mit dem Währungsumstellungsschock zusammen. Sie haben privatisiert, nachdem Sie dafür gesorgt haben, daß die Betriebe überhaupt keine Chance mehr hatten, rentabel zu werden. Das heißt, Sie haben sie zur Billigware erklärt.
Auf die Art und Weise haben Sie im übrigen eines erreicht: daß nämlich ein Vermögen von 500 Milliarden DM letztlich den westdeutschen Unternehmen zugeflossen ist, und zwar fast zum Nulltarif. Das ist einmalig in der Geschichte von Volkswirtschaften.Sie haben auf diese Art und Weise erreicht, daß 4,5 Millionen Arbeitsplätze beseitigt wurden, davon allein 3,9 Millionen in der verarbeitenden Industrie. Und nun sagen Sie, Herr Türk, man müsse aber auch sehen, wie viele Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Haben wir diesen statistischen Trick wirklich nötig?Da gibt es einen Betrieb mit 3 000 Beschäftigten. Er wird verkauft, und man vereinbart, daß wenigstens 300 Menschen beschäftigt bleiben müssen. Dann nennt die Treuhandanstalt das die Schaffung von 300 Arbeitsplätzen. In Wirklichkeit ist es die Reduzierung um 2 700 Arbeitsplätze. Ich finde, mit solchen statistischen Tricks sollte man nicht operieren.Hinzu kommt noch folgendes: Die Verträge der Treuhandanstalt müssen, trotz der teuersten Rechtsanwälte und Juristen, offensichtlich so schlecht sein, daß die Treuhandanstalt jeden Prozeß verliert, den sie führt, wenn sich ein neuer Eigentümer eines verkauften Betriebes dagegen wehrt, diesen wieder zurückgeben zu müssen, weil er die Arbeitsplatzgarantie oder die Investitionsgarantie nicht einhält. Ich frage mich, wie man so schlechte Verträge abschließen kann, es sei denn — und diesen Verdacht habe ich —, man will solch schlechte Verträge abschließen.Fakt ist, daß diese Art der Privatisierung zu einer Deindustrialisierung geführt hat. Die verarbeitende Industrie der DDR hatte im Vergleich zur BRD einen Anteil von 40 %, die der neuen Bundesländer hat heute noch einen Anteil von 4 %. Sie müssen sich einmal überlegen, was diese Reduzierung in der Konsequenz für die Zukunft bedeutet.Herr Thierse wies schon auf die Zahl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hin. Wissen Sie, daß es in der ehemaligen DDR einmal 87 000 von ihnen gab? Jetzt sind noch 15 000 beschäftigt. Ihr ganzes Standortgerede ist deshalb auch nicht sehr überzeugend, wenn Sie gleichzeitig einen solchen
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Dr. Gregor GysiWissenschaftsstandort zerstören. Im Westen kommen auf 1 000 Einwohner im Durchschnitt 4,4 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, im Osten inzwischen gerade einmal eine Wissenschaftlerin bzw. ein Wissenschaftler. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.Sie haben sehr viele soziale und kulturelle Einrichtungen abgewickelt, von denen viele vernünftig waren — nicht nur Kulturhäuser und Jugendklubs, sondern auch die Kinderferienlager. Ich war einverstanden, dort den Fahnenappell abzuschaffen. Aber weshalb man abschaffen muß, daß auch die sozial Schwächsten in der Lage sind, ihre Kinder für zwei oder drei Wochen zur Erholung in die Ferien zu schicken — und das Ganze für 50 oder 100 DM —, überzeugt mich nicht. Und wenn schon die schwache DDR in der Lage war, das zu finanzieren, dann müssen Sie mir einmal erklären, warum sich die reiche Bundesrepublik außerstande sieht, solche Dinge zu finanzieren.
Ich sage Ihnen, warum: weil Sie die Reichen, Vermögenden und Besserverdienenden fördern und die sozial Schwachen auf der Strecke lassen. Das ist das Ziel Ihrer Politik, und die betreiben Sie ja auch seit vier Jahren konsequent.Sie haben die Zeit genutzt, die Stellung der Frauen in der Gesellschaft wesentlich zu verändern. Sie reden hier immer vom Schutz des ungeborenen Lebens und sind nicht bereit, etwas für das geborene Leben zu tun,
nämlich für Kindereinrichtungen, für die Versorgung der Kinder und die Unterstützung von Müttern und Vätern, die ihre Kinder aufziehen möchten.
Das ist doch die Tatsache.
Auch Kultur und Bildung in den neuen Bundesländern haben Sie abgebaut, nicht aufgebaut. Es gibt weniger kulturelle Einrichtungen als früher. Dort war eine eigenständige Kultur gewachsen. Im Bereich der Bildung gibt es inzwischen weniger Lehrerinnen und Lehrer und höhere Klassenfrequenzen. Warum konnte man denn nicht die kleineren Klassenfrequenzen aufrechterhalten und sie in die alten Bundesländer überführen?Ich sage Ihnen, warum Sie dies, einschließlich der Kinderferienlager, alles so schnell abgeschafft haben: weil Sie nicht wollten, daß die Westdeutschen das kennenlernen; sonst hätten sie auf dumme Gedanken kommen können.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die die Geschichte der DDR unkritisch sehen. Ich bin z. B. froh, daß die ideologische Schere in der Kultur und Bildung aus der Zeit der DDR beseitigt ist. Aber Sie können mir nicht einreden, daß statt dessen eine soziale Schere notwendig ist, wie Sie sie jetzt einführen. Ich bin für einSystem, in dem es in Kultur und Bildung weder eine ideologische noch eine soziale Schere gibt.
Meinetwegen kann sich das Mobiliar und die Kleidung eines Millionärs vom Mobiliar und der Kleidung einer Sozialhilfeempfängerin unterscheiden. Aber der Zugang zu Oper, zu Theater, zu Kino, zu Büchern und zur Bildung insgesamt darf sich um keinen Millimeter unterscheiden. Aber Sie schließen immer mehr soziale Gruppen von Bildung und vom Genuß der Kultur aus. Damit provozieren Sie eine verheerende gesellschaftliche Entwicklung.Lassen Sie mich noch etwas zu den Wohnungen und zu den Eigentums- und Nutzungsverhältnissen der Grundstücke sagen. Wieso waren Sie eigentlich nicht bereit, den Wohnungsbestand der DDR in Sozialwohnungen zu überführen? Sicherlich kann man am DDR-Wohnungsbauprogramm viel Kritik äußern. Aber weshalb mußte man den Wohnungsneubau fast völlig einstellen?
— Er ist drastisch zurückgegangen.
Weshalb erklären Sie auf der einen Seite täglich, daß die Wohnungen in der DDR völlig marode sind, und heben auf der anderen Seite permanent die Mieten an?
Können Sie mir einmal erklären, warum Sie Neubauwohnungen für einen Quadratmeterpreis von 2 000 DM privatisieren wollen, warum Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern für einen Quadratmeter 2 000 DM bezahlen sollen, wenn Sie selber immer wieder behaupten, das alles sei völlig marode, wenn die Treuhandanstalt für marode Gebäude einen festen Preis verlangt, nämlich eine Mark plus 1 Million DM für die Sanierung? So sieht das in der Wirtschaft aus.
Geben Sie die Wohnungen den Bürgerinnen und Bürgern doch umsonst, wenn sie angeblich so ma rode sind!
Nein, nein, erst erzählen Sie vier Jahre lang, das seien marode Wohnungen, und jetzt sollen diese weit mehr als 100 000 DM kosten! Plötzlich ist das wieder viel wert. Sie drehen die Dinge nämlich so, wie Sie sie haben wollen.Mit dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" haben Sie sich entschlossen, das Grundgesetz, nämlich Art. 14, für Eigentümerinnen und Eigentümer aus den neuen Bundesländern nicht zu akzeptieren. Auch das Schuldrechtsänderungsgesetz, das Sie jetzt vorschlagen, reicht zur Sicherung der Nutzungsrechte
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Dr. Gregor Gysider Betroffenen in den neuen Bundesländern überhaupt nicht aus.Sie wissen ganz genau, daß Nutzerinnen und Nutzer in der früheren DDR fast die Stellung hatten wie Eigentümerinnen und Eigentümer. Warum gewähren Sie ihnen diese Stellung nicht auch für die Zukunft?
Das ist das Entscheidende. Diese Frage können Sie nicht beantworten.Ich sage Ihnen als letztes: Man kann eine andere Politik in den alten und in den neuen Bundesländern machen. Bekämpfen Sie doch die Massenarbeitslosigkeit! Führen Sie die 35-Stunden-Woche ein! Reduzieren Sie die Zahl der zulässigen Überstunden! Entprivilegieren Sie endlich das Finanzkapital, damit es sich wieder lohnt, Geld in die Wirtschaft zu stecken und es nicht ausschließlich auf die Banken zu bringen! Führen Sie ein anderes Steuersystem ein! Zwingen Sie die Reichen, Vermögenden und Besserverdienenden zur Solidarität und nicht immer die sozial Schwachen in dieser Gesellschaft, wie Sie es tun! Deshalb bleibe ich dabei: Veränderung beginnt mit Opposition gegen Sie.
Zu einer Kurzintervention, der Kollege Solms.
Herr Präsident! Ich glaube, wir haben hier eine der übelsten Brandstifterreden seit langem gehört.
Es ist eine unglaubliche Unverfrorenheit, mit der Sie, Herr Gysi, als der erklärte Erbe der SED jetzt die Schuld auf andere schieben. Ich bin von dieser Sauerei, die hier geschehen ist, wirklich tief betroffen.
Wer ist denn dafür zuständig gewesen, daß die Wirtschaft in diesem heruntergekommenen Zustand war? Wer ist denn dafür zuständig gewesen, daß die Umwelt überall ruiniert worden ist, daß breite Landschaften vergiftet waren? Wer ist denn dafür zuständig gewesen, daß die alten Menschen mit Kummerrenten auskommen mußten?
Wer ist denn dafür zuständig gewesen, daß die Forscher dort an einer echten, weltweiten Forschung nicht teilhaben konnten, weil sie von allen Informationen ausgeschlossen waren? Deswegen war die Forschung doch nach dem Fall der Mauer gar nicht mehr in der Lage, wettbewerbsfähig zu sein. Wer ist denn für all das zuständig?
Wenn jetzt andere darangehen, das zu bereinigen und langsam eine wettbewerbsfähige wirtschaftliche Ordnung und ein gesundes Sozialsystem aufzubauen, dann sind sie jetzt nicht daran schuld, daß der Zustand so eingetreten ist, wie er ist.
Was ich besonders bedauere, Herr Thierse, ist, daß Sie sich teilweise auf dieselbe Argumentation wie Herr Gysi eingelassen haben.
Ich sage das einmal ganz ruhig: teilweise darauf eingelassen haben. So werden Sie den Umgang und die Auseinandersetzungen mit der PDS nicht erfolgreich bestehen. Ich erwarte hier, daß sich die demokratischen Parteien so mit der PDS auseinandersetzen, wie es sich gehört.
Solange Sie selbst erklären, daß Sie die Erben der SED sind, daß Sie die Erbschaft der SED übernommen haben, sind Sie für all das verantwortlich. Aus dieser Verantwortung werden wir Sie gemeinsam nicht entlassen. Es ist nicht die Bundesregierung, es sind nicht die Landesregierungen in den fünf neuen Ländern zusammen, und es sind auch nicht die Kommunalverwaltungen, die an den Zuständen schuld sind, sondern das waren Sie ganz alleine.
Zur kurzen Replik Herr Kollege Gysi.
Sie haben mich zunächst gefragt, wer an der Situation der Wirtschaft in der DDR schuld sei. Dann haben Sie selbst die Antwort gegeben. Ich dachte, Sie geben mir auch noch eine Chance zu antworten. Ich will es Ihnen sagen:Das war erstens die SED, das waren darüber hinaus vier Blockparteien, die aktiv mitgewirkt haben.
Zwei davon haben Sie übernommen. Damit haben Sie das DDR-Erbe mit angetreten. Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Sie stehen damit mitten in der Verantwortung und in dieser Geschichte. Versuchen Sie nicht immer, sich aus dieser Geschichte zu lösen!Zweitens. Ich habe überhaupt nichts an der DDR-Wirtschaft beschönigt, sondern ich habe darauf hingewiesen, daß es reale Chancen gegeben hätte, sie mit Übergangsregelungen schrittweise in die entsprechenden marktwirtschaftlichen Strukturen einzuführen. Genau das haben Sie nicht zugelassen, indem Sie sie mittels Schocktherapie in die Illiquidität gezwungen haben und sie damit zur Billigware zum Aufkauf für westdeutsche Unternehmen erklärt haben. So ist es dann auch von der Treuhandanstalt praktiziert worden.Es gibt einen Bereich, über den ich gar nicht gesprochen habe, wo das aber ganz deutlich wird. Das ist die Landwirtschaft. Die ostdeutsche Landwirtschaft war nicht weniger rentabel als die westdeutsche Landwirtschaft.
Sie haben sie zerstört, obwohl sie marktwirtschaftlich hätte bestehen können.Sie benachteiligen sie bis heute täglich, indem Sie den Kooperativen kein Land geben oder wieder
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Dr. Gregor Gysientziehen und ihnen jetzt sogar das Bodenreformland wegnehmen wollen.
Das ist Tatsache. Zumindest erschweren Sie es den Kooperativen enorm, Land zu erwerben.Was ich zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesagt habe: Sie haben recht, wenn Sie sagen, sie waren zum größten Teil vom internationalen Austausch ausgeschlossen. Das ist wahr. Können Sie mir mal erklären, warum das ein Grund ist, die Zahl der beschäftigten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von 87 000 auf 15 000 zu reduzieren? Das wäre doch nur ein Grund gewesen, sie zu fördern, nicht aber ein Grund dafür, sie abzuwickeln. Das ist doch meine Kritik daran.
Ebenfalls zur Replik Herr Kollege Thierse.
Ich will ausdrücklich noch einmal darauf hinweisen, daß natürlich das Dilemma in Ostdeutschland, die dramatischen Probleme ökonomischer, sozialer Art, die wir dort haben, vor allem eine 40jährige Vorgeschichte hat. Aber der Hinweis darauf darf doch nicht dazu führen, daß man erkennbare Fehler der letzten vier Jahre verdrängt, verschweigt, verkleinert
oder aus dem Kontrast zur DDR jetzt Beschönigungen massivster Art betreibt.
Ich will noch einmal, weil ich das selber auch angesprochen habe, auf das Stichwort Forschung zurückkommen. Ich weiß, wie es war, daß man ausgeschlossen war von internationaler Kommunikation. Ich habe ziemlich lange in der Akademie der Wissenschaften gearbeitet.
Da waren ungefähr 25 000 Menschen beschäftigt. Das war, wie Sie wissen, die größte Nische, die es in der DDR gab.
Ich gehörte zu denen, die bis zum Herbst 1989 nicht in den Westen reisen durften, noch nicht einmal in die West-Berliner Bibliothek durften. Ich weiß also, worum es geht. Aber wenn man daran erinnert, dann darf das kein Grund sein, an der Qualität der Forscher zu zweifeln, die gerade unter höchst widrigen Umständen in einer ganzen Reihe von Fachbereichen ziemlich Beträchtliches geleistet haben. Die Vergeudung dieser Art von Intelligenz, von wirklichen Potenzen ist Vernichtung möglicher Zukunft. Das beklage ich.
Da reicht es nicht, auf die DDR-Vergangenheit hinzuweisen.
Herr Kollege Werner Schulz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe Ihre Aufregung gar nicht. Die Rede von Gregor Gysi hat doch bewiesen: Die PDS hat Gespür für berechtigten Protest — das haben die Wahlergebnisse gezeigt —, aber kein Gefühl für Verantwortung und schon gar keine Kompetenz, allenfalls für Agitation und Propaganda. Gregor Gysi, das haben Sie schon früher beherrscht.
Wenn in Neubrandenburg, Dessau, Sangerhausen, Annaberg, Altenburg oder Nordhausen die Menschen diese Debatte verfolgen könnten, dann würden sie sich verblüfft fragen, ob da wirklich von ihrem Land die Rede ist; denn all diese Orte Ostdeutschlands haben eines gemeinsam: Sie sind mit einer offiziell ausgewiesenen Arbeitslosenquote von mehr als 20 % der schlagende Beweis für die vernichtende Wirkung der Deutschlandpolitik dieser Koalition. Schlimmer noch: Wir alle wissen: 20 % in der Statistik bedeuten, daß in der Realität 40 % bis 60 % ohne Arbeit sind.Machen wir uns nichts vor: Die öffentliche Aufführung, die unter dem Motto Aufschwung derzeit von Bundesregierung und Wirtschaftsverbänden gegeben wird, hat mit der Wirklichkeit in Deutschland, vor allem im Osten Deutschlands, herzlich wenig zu tun.
Das Szenario für dieses „Auf" ohne „Schwung" wurde bereits vor Jahren geschrieben. Halten wir fest: Im Westen gibt es schwache Anzeichen einer importierten konjunkturellen Belebung, die Inlandsnachfrage dagegen stagniert. Im Osten gibt es einen vollständig von den öffentlichen Finanztransfers genährten Wachstumsprozeß, der ohne die Dauerinfusion sofort in sich zusammenfallen würde. Der schwarze Zweckoptimismus läuft darauf hinaus, daß der am Tropf hängende Patient ein guter Esser geworden ist und die Augen aufgeschlagen hat.
Indessen steigt im Osten wie im Westen die Zahl der Arbeitslosen unaufhaltsam. Ein Beispiel für viele: In Rostock sind von 55 000 Arbeitsplätzen, die es im Jahre 1990 in Werften, Schiffahrt und Hafenwirtschaft noch gab, nach vier Jahren ganze 16 000 übriggeblieben. Was ist aus den 40 000 geworden? Nur 40 % haben woanders eine Beschäftigung gefunden. Die restlichen 60 % sind arbeitslos oder in den diversen Warteschleifen der Bundesanstalt für Arbeit zwischengeparkt.
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Werner Schulz
So sieht es überall aus, wo vormals Großunternehmen die Menschen beschäftigten. Von industriellen Kernen sind nicht einmal Samenkörner übriggeblieben.Die Politik der Treuhandanstalt hat dazu geführt, daß es heute kaum noch industrielle Großunternehmen in Ostdeutschland gibt. Entschlossene Ansätze zur Sanierung hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben.Wenn heute der frühere Direktor „Abwicklung" der Treuhand und seine Mitarbeiter als skrupellose Absahner dastehen, dann bestätigt das nur die Befürchtung, daß der undurchschaubare Moloch Treuhand nicht der ostdeutschen Wirtschaft nützlich und zu Diensten, sondern zuallererst eine Goldgrube für Glücksritter und Beutelschneider war. Mal saßen die Absahner in der Treuhand selbst, mal waren sie ihre besten Kunden. Sie kamen oft voller Versprechungen, mit leeren Händen, und gingen meist mit vollen Taschen.Die Treuhand und die für sie verantwortliche Regierung hinterlassen ein industrielles Brachland. Was ist aus den vielen mit großem Pomp angekündigten Großprojekten eigentlich geworden? Was hat die Politik der Spatenstiche und Hammerschläge bewirkt? Das Daimler-Benz-Werk in Ludwigsfelde ist nie über einen symbolischen Spatenstich hinausgekommen. Die Produktion von VWs in Mosel bleibt ebenfalls weit hinter den Erwartungen zurück. Die angekündigte Chipproduktion in Dresden bringt bestenfalls in mittlerer Zukunft Ausstrahlungseffekte und neue Arbeitsplätze, doch dies zu einem horrenden Preis pro Arbeitsplatz.Wir haben aus der Investitionsmüdigkeit der deutschen Wirtschaft den Schluß gezogen, daß wir die gewerbliche Wirtschaft mit einer Investitionshilfeabgabe auf die Notwendigkeit verstärkter Investitionen im Osten hinweisen müssen. Der entsprechende Gesetzentwurf liegt Ihnen heute zur abschließenden Entscheidung vor. Sie können also heute etwas für den Aufbau Ost dringend Notwendiges tun. Machen Sie dem Aufbau Ost Dampf, stimmen Sie unserem Vorschlag zu!Auch vom Neuaufbau und der Erhaltung des bestehenden Mittelstandes gibt es trotz beeindruckenden Förderwirrwarrs wenig Gutes zu berichten. So stehen viele der erst in den 80er Jahren verstaatlichten und jetzt an die alten Besitzer rückübereigneten mittelständischen Unternehmen wegen mangelnder Unterstützung, wegen mangelnder Einbringung von Risikokapital und notwendigem Know-how vor dem Ruin. Unternehmen und Unternehmerfamilien, die 40 Jahre DDR-Staatswirtschaft überlebt haben, stehen vier Jahre nach der verordneten Wirtschaftsunion vor dem Aus. Das haben diese Unternehmen wahrlich nicht verdient. Die privatisierten HO-Geschäfte werden jetzt durch die Abschaffung des Rabattgesetzes durch die F.D.P. erledigt.Erhaltung und Ausbau der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sind für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Ostdeutschland von entscheidender Bedeutung. Doch tatsächlich findet ein Abbau dieser Kapazitäten in dramatischem Umfang statt. Hier werden erhebliche Chancen zunichte gemacht und Entwicklungspotentiale beschnitten. Die ostdeutschenLänder bilden heute unbestritten das forschungs- und entwicklungspolitische Schlußlicht unter den Bundesländern.Daß das nicht immer so war, zeigt die Statistik: Von den 89 000 Forschungs- und Entwicklungsbeschäftigten, die es 1989 im Osten noch gab, sind nunmehr nur noch 15 000 bis 20 000 übriggeblieben. So kommt die Abwärtsspirale in Schwung.Dasselbe traurige Bild zeigt sich in der für die Zukunft so wichtigen Berufsausbildung. Rund 100 000 Jugendliche unter 20 Jahren suchen derzeit einen Arbeitsplatz. Im Herbst 1993 blieben allein in den neuen Bundesländern mehr als 23 000 Bewerber und Bewerberinnen um Ausbildungsstellen unvermittelt.
Die vielen Datschenbesitzer in Ostdeutschland waren lange Zeit die Stiefkinder und Opfer der rigiden Eigentumsregelung des Einigungsvertrages. Jetzt erst, nachdem die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, in dem die Ansprüche dieser Menschen gesichert werden, sind die Datschenbesitzer auch der Bundesregierung, namentlich der Partei der Besserverdienenden, eine Initiative wert. Schließlich besitzen 53 % aller ostdeutschen Haushalte ein solches Grundstück.Zynischer Beigeschmack: Frau Schwaetzer möchte, daß die Datschen verstärkt als Hauptwohnsitz genutzt werden, um so das Wohnungsproblem in liberaler Manier zu lösen.
Wie ist das nur möglich? Es ist noch nicht ein Jahr her, da beherrschte die Frage nach der Qualität des Standorts Deutschland die öffentliche Debatte. Die Wirtschaftsverbände konnten nur mühsam ihren Abscheu angesichts der Inkompetenz und Stümperei der Regierung Kohl verbergen. Das Klima zwischen Regierung und Wirtschaft war eisig.Und heute? — Heute ist das alles nicht mehr wahr. Pünktlich zum Wahlkampfauftakt wurde der Streit zwischen konservativer Regierung und Großindustrie beigelegt, wird der Aufschwung von hochsubventionierten Wirtschaftsclaqueuren herbeiventiliert. Nicht „Hurra!", sondern „Wir für Deutschland!" heißen die versetzten Winde. Doch der Kanzler trifft nicht die Stimmung im Osten, der Kanzler macht Stimmung. Er baut darauf, daß die DDR-Bürger es gelernt haben, sich an Hoffnungen zu klammern. Jetzt versuchen sie, den Strohhalm zu greifen, durch den der Kanzler seine neuen Seifenblasen aufsteigen läßt.
Es ist schon eine verblüffende Botanik: Ohne blühende Landschaften ist ein rotes Früchtchen entstanden. Jetzt, da viele ostdeutsche Kinder im Brunnen liegen, wird gefragt: Was treibt die Wähler scharenweise zur PDS? Ist es diese offenkundige Diskrepanz zwischen Regierungsverlautbarungen und sozialer Realität? Oder ist es das bittere Gefühl, erneut getäuscht und in den Hoffnungen enttäuscht zu sein? An beidem ist wohl etwas Wahres.
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Werner Schulz
Eines ist aber doch unverkennbar: Ostdeutschland hat bei den vergangenen Europa- und Kommunalwahlen die Extreme gewählt. Der sozialen Deklassierung und der ökonomischen Entwurzelung folgt die politische Polarisierung. Man mag über den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten denken, was man will. Zumindest in einem Punkt hat er recht: Die Erfolge der PDS sind eine Konsequenz der haltlosen Versprechungen und der zerstörerischen Politik dieser Bundesregierung.
Ihre bisherige Stärke hängt natürlich auch mit der Schwäche der SPD zusammen. Ich hoffe, das wird sich nach dem Parteitag in Halle ändern.Es wäre ein schlechter, ein sehr übler Witz, wenn der Wiedereinzug der PDS in den Deutschen Bundestag diese abgewirtschaftete Union mangels mehrheitsfähiger Alternative, diesmal mit der SPD im Beiboot, erneut an die Regierungsmacht hievt.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister Friedrich Bohl, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube sagen zu können, daß die neuen Bundesländer Europas Wachstumsregion Nr. 1 sind. Sie sind unbestreitbar an der Spitze.
Das bestätigen uns alle europäischen und außereuropäischen Besucher, die die neuen Bundesländer aufgesucht und sich selbst einen Eindruck verschafft haben.
Es ist ja so, daß die vernünftigen Köpfe innerhalb der SPD durchaus auch dieser Meinung sind. Ich lese in einem Interview von Roland Issen, dem Vorsitzenden der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, vom 22. Juni in der „Bonner Rundschau" unter der Überschrift „Es geht doch aufwärts":Manchmal scheinen mir in der Auseinandersetzung Ursache und Wirkung vertauscht zu werden. Die eigentlich Verantwortlichen in der DDR stehen nicht in der Kritik. Wer heute die Kärrnerarbeit leistet, wird mitunter zum Prügelknaben. Das habe ich auch bei der Treuhand-Arbeit oft erlebt.Wo der Mann recht hat, hat er recht.
Meine Damen und Herren, es ist doch so: Wenn Herr Gysi sich hier hinstellt und uns verkündet,in der damaligen DDR sei doch alles großartig gewesen — —
— Herr Gysi, Sie haben die Dialektik natürlich noch nicht ganz abgelegt. Sie tun so, als wollten Sie sich verbal davon distanzieren, gleichzeitig glorifizieren Sie das. Das ist doch die Wirklichkeit.
Nun wollen wir einmal zur Sache kommen. In dem Geheimbericht der SED vom 27. Oktober hat Gerhard Schürer — das war damals der Planungschef der SED, sozusagen Ihr Vorgänger — geschrieben:Es ist eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik der DDR verbunden mit einer Wirtschaftsreform erforderlich.
Welche wollen Sie denn eigentlich machen?
Sie sagen doch gerade, es solle alles so bleiben, wie es war. Sie wollen doch die alten Instrumente, den alten Sozialismus so weiterfahren.
Dann machen wir das à la Nordkorea.So ist das halt. Sie müssen sich schon mit diesem Bericht auseinandersetzen; ich stelle ihn Ihnen gern einmal zur Verfügung.Sie haben hier erzählt, wie schön das alles mit den Häusern und Wohnungen ist. Hier steht:... wurden zur gleichen Zeit dringendste Reparaturmaßnahmen nicht durchgeführt und in solchen Städten wie Leipzig, und besonders in Mittelstädten wie Görlitz u. a. gibt es tausende von Wohnungen, die nicht mehr bewohnbar sind.Das war die Wirklichkeit der DDR.Jetzt bauen wir hunderttausend pro Jahr. Das ist die Wirklichkeit. Diese hunderttausend, die wir bauen, sind qualitativ erheblich besser als der marode Schrott der SED und der DDR.
— Sie können eine Kurzintervention machen. Ich habe nur wenige Minuten Zeit.Geradezu absurd wird es doch, wenn Sie sagen, ein solcher Arbeitsplatzabbau im Bereich der Industrie hätte nicht stattfinden müssen, wie man an den and eren ehemaligen Ostblockländern sehe. Mein Gott, wo leben Sie denn? Fahren Sie doch bitte einmal dorthin! Wie sieht es denn dort aus? Was dort an Industrie ist, ist doch zum großen Teil immer noch Schrott. Dort gibt es Umweltzerstörungen übelsten
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Bundesminister Friedrich BohlAusmaßes, und die Menschen werden ihrer Zukunft beraubt. Die Wirtschaftskapitäne kommen dann zu uns, und wir als Bundesrepublik Deutschland sollen das bezahlen. Das ist die Wirklichkeit. Das wollen Sie uns als Ideal anpreisen?
Mein Gott, lassen wir die PDS wirklich in der Rumpelkammer der Geschichte. Das ist die Wirklichkeit.
Meine Damen und Herren, pro Jahr gehen 140 Milliarden DM Nettotransfer in die neuen Lander.
— Das sage ich doch gerade, Herr Lambinus. Gut, daß Sie aufgewacht sind.
Private und öffentliche Investoren werden nach Einschätzung der Forschungsinstitute in diesem Jahr 160 Milliarden DM in Gebäude, Anlagen und Maschinen investieren. Die Nettoinvestitionen je Erwerbstätigen sind inzwischen in Ostdeutschland dreimal so hoch wie in den alten Ländern. Mein Gott, was wollen Sie eigentlich noch? Seien Sie doch wenigstens bereit und in der Lage, zu sagen, daß wir vorankommen. Es mögen noch nicht alle Wünsche erfüllt sein. Es dauert auch länger, und es wird auch teurer, als wir selbst gedacht haben.
Aber daß es vorangeht, und das vor dem Hintergrund der maroden SED-Hinterlassenschaft, das wird doch keiner bestreiten können.
Wir haben seit 1990 21 Milliarden DM in das Schienennetz der neuen Lander investiert. Sie hätten dafür gar kein Geld mehr gehabt. Sie würden heute vielleicht 10 km statt früher 30 km mit der Eisenbahn fahren. Jetzt haben wir 21 Milliarden DM investiert. Damit wurden beispielsweise 4 000 km Schienen und 8 000 Weichen erneuert sowie 800 Brücken saniert bzw. neu gebaut.Die Deutsche Reichsbahn gehörte zu den größten Investoren in den neuen Bundesländern. Diese Investitionstätigkeit wird fortgesetzt. Bis zum Jahre 2002 werden wir als Bund 33 Milliarden DM für die Angleichung der technischen Standards und die Beseitigung ökologischer Schäden im Bereich der Eisenbahn zahlen. Ist das nichts?Als die DDR das Licht ausgeknipst hat, hatten Sie gerade 1,8 Millionen Telefonanschlüsse, zum Teil noch aus den 30er Jahren. Wie sieht es heute aus? Fast 4,5 Millionen Telefonanschlüsse gibt es dort. Sie hatten früher Wartezeiten von zehn bis 20 Jahren. Wenn Sie telefonieren wollten, mußten Sie zehn, zwölf Stunden warten. Heute ist das alles anders. Pro Jahr kommen wir jetzt auf 800 000 bis 900 000 neue Telefonanschlüsse. Ist das eigentlich nichts? Sollten wir uns dafür schämen? Müssen wir uns das von Herrn Thierse miesmachen lassen? Das Gegenteil ist derFall, meine Damen und Herren. Das ist die Leistung von allen.
Wenn wir in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 7 % bis 9 % erwarten, dann ist das keine Prognose irgendeiner konservativen, reaktionären Bundesregierung, sondern das sind die Prognosen der OECD und renommierter Wirtschaftsinstitute. Das brauchen Sie nicht mieszumachen. Ich gebe gerne zu: Wenn ich Sie und Frau Hildebrandt angucke, dann kann auch keine Freude aufkommen. Das ist wahr.
— Den Schönheitspreis gebe ich Ihnen gerne ab. Nur habe ich die Eigenschaft, hin und wieder zu lachen. Bei Ihnen habe ich den Eindruck, Sie gehen sogar erst in den Keller, um lachen zu können.
Herr Thierse, Sie haben gestern wieder gesagt, Sie und die SPD würden sich an dem erbarmungslosen Aufschwunggerede, an der Schönfärberei stoßen. Nun muß ich Sie ganz ehrlich fragen: Wieso eigentlich? Was ist denn an dem, was wir an Fakten bringen, falsch? Wenn Sie durch die Städte — Sie können jede Stadt nehmen — fahren, sehen Sie dort die Kräne.
Sie sehen dort, was gebaut wird. Sie sehen, was sich dort bewegt. Ich kann Ihnen ein ganz konkretes Beispiel nennen, weil wir jeden Tag etwas Neues machen: das Hydrierwerk Zeitz im Chemiedreieck Sachsen-Anhalt. Dort wird jetzt ein Verwertungszentrum entstehen, das Kunststoffabfälle wieder in den Stoffkreislauf einführen wird. Wir bemühen uns als Bundesregierung jeden Tag. Während wir hier diskutieren, sind die Chefs der Staatskanzleien der neuen Länder im Bundeskanzleramt. Wir haben ständig neue Projekte. Wir treiben sie ständig voran. Sie reden nur; Sie haben nur Sprechblasen zu bieten. Wo haben Sie denn in Brandenburg, dort, wo Sie Verantwortung tragen, tatsächlich etwas bewirkt? Wo ist denn Ihre auf Tatsachen gegründete Erfolgsbilanz? Ich muß sagen: Ich höre von Ihnen immer nur schöne Worte; in der Sache haben Sie bisher wenig bewirkt.
Wollen wir uns doch nichts vormachen: Wer den Menschen nur ein Zerrbild der Wirklichkeit und der Wahrheit anbietet, der stellt sich dem Aufbau in den neuen Ländern in den Weg.
Irreführung war schon immer die Spezialität der kommunistischen SED-Propaganda. Das haben Sie 40 Jahre lang gekonnt.
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20564 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Bundesminister Friedrich BohlDiesmal werden wir Ihnen das nicht durchgehen lassen; diesmal werden wir den Menschen die Wahrheit sagen. Gott sei Dank haben ja die Wahlen gezeigt, daß auch die Menschen in den neuen Bundesländern das sehen; noch nicht alle, aber viele sehen es.
Es wird uns auch gelingen, den übrigen die Wahrheit zu sagen.
Lassen Sie mich feststellen: Die Menschen in den neuen Ländern gestalten, wie ich finde, mit großer Energie den Umstrukturierungsprozeß mit. Überall ist ja auch der entschlossene Wille zum Neuaufbau zu spüren. Was Sie hier zum besten geben, ist im Grunde genommen eine Beleidigung der Menschen, die diesen Neuaufbau gestalten wollen.
— Das ist es, genau das ist es.Wenn ich höre, die Semper-Oper sei etwas Tolles gewesen: Natürlich war die Semper-Oper etwas Tolles. Aber ich frage: Wer durfte denn in die SemperOper hinein? Dort hinein durften doch nur die Privilegierten und allenfalls die Devisenbeschaffer. Das war die Wirklichkeit.
— Es war Herr Gysi. So war es. Das ist die Wirklichkeit gewesen.Ich komme zur Zwischenbilanz zurück. Der Einsatz der Menschen in den neuen Ländern hat sich, wie ich finde, gerade für sie selbst gelohnt und wird sich zunehmend für sie auszahlen. Es mag sein, Herr Thierse, daß Sie die blühenden Landschaften in den neuen Ländern nicht immer sehen, aber ich sehe sie immer öfter.Vielen Dank.
Herr Bundesminister, Sie haben mir ja schon einen Teil der Arbeit abgenommen, indem Sie dem Kollegen Gysi bereits für eine Zwischenbemerkung das Wort erteilt haben. Aber erlauben Sie mir noch einen kleinen Hinweis: Der Kollege Lambinus — ich kann es bezeugen — war vorher schon wach.
Herr Kollege Gysi, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Ich will auf folgendes hinweisen.Zunächst haben Sie mir vorgeworfen, ich hätte mich nur verbal von der Geschichte abgesetzt und würde dann über die Hintertür versuchen, alles wieder schönzufärben. Ich kann nur sagen: Diesen Vorwurfkann ich sofort an Ihre Adresse zurückgeben. Sie haben mit einem kleinen kritischen Satz, daß vielleicht noch nicht alle Wünsche erfüllt sind, begonnen und danach eine reine Schönfärberei und Lobhudelei geboten.
Sie haben sich auf Aussagen von Gerhard Schürer gestützt, immerhin Mitglied des Politbüros der SED — ich wundere mich schon, daß die Bundesregierung inzwischen die SED-Dokumente als die reine Wahrheit ansieht —, wobei er mit der Feststellung, die Sie vorgelesen haben, sicherlich Recht hatte. Würden Sie, Herr Bundesminister, auch zur Kenntnis nehmen, daß meine Kritik sich nicht daran entzündete, daß Sie gesagt haben, daß Neubauwohnungen oder andere marode waren? Meine Kritik besteht darin, daß Sie erst sagen, daß sie marode sind, und dann für sie horrende Mieten verlangen bzw. riesige Kaufpreise im Falle der Privatisierung.
Daß das nicht zusammengeht, das war meine eigentliche Kritik.Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß das Kommunikationssystem in den neuen Bundesländern erheblich entwickelt wurde. Das ist wahr. Es ist auch übrigens eine ziemlich beispiellose Leistung, die im Bereich von Telefon, Kommunikation etc. in den neuen Bundesländern erbracht wurde. Das würde ich nie bestreiten. Nur weise ich in diesem Zusammenhang darauf hin, daß deshalb unsere Kritik in die Richtung geht, daß Sie die Post privatisieren wollen. Denn ich sage Ihnen, daß eine private Telekom das niemals geleistet hätte, was eine bundeseigene Telekom geleistet hat. Das ist einfach eine Tatsache.
Das letzte: Sie haben mich hinsichtlich der osteuropäischen Staaten mißverstanden. Selbstverständlich kann sich die Bundesrepublik einen ganz anderen Transfer leisten, als das in den osteuropäischen Staaten möglich ist. Ich habe nur darauf hingewiesen, daß sie den Beweis dafür angetreten haben, daß es auch schrittweise Übergänge gibt, um Arbeitsplätze zu erhalten, während Sie in den neuen Bundesländern einen Crash-Kurs gefahren sind. Das ist eine Tatsache, wenn man 4,5 Millionen Arbeitsplätze beseitigt.Lassen Sie mich noch als letztes dazu sagen: Es nutzt auch nichts, wenn Sie hier immer mit falschen Transfersummen operieren, indem Sie ganz normale Zahlungen, auf die jede Bürgerin und jeder Bürger in West und Ost gleichermaßen Anspruch hat, wie Kindergeld usw., einbeziehen; denn damit spalten Sie, weil Sie den Westdeutschen jeden Tag sagen, wie teuer die Ostdeutschen für sie sind. Das ist das eigentliche Problem.
Und als letztes: Die Theaterkarten und die Opernkarten
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Herr Kollege Gysi — -
— in der DDR waren nun wirklich bezahlbar. Wenn überhaupt, dann bestand das Problem darin, daß es sehr gute Inszenierungen gab, für die Sie keine Karten bekommen haben, weil sie so billig waren und man Beziehungen brauchte, um an die Karten heranzukommen. Sie haben wirklich keine Ahnung von der DDR! Die Bezahlung der Karten war nie das Problem. Aber das ist heute das Problem, und deshalb sind die Opern inzwischen zum Teil leer. Das ist die Tatsache!
Einen Moment, meine Damen und Herren! Kurzinterventionen sollen zwei Minuten nicht überschreiten.
Herr Kollege Thierse, Sie wollten auch eine Kurzintervention machen.
Herr Bohl, Sie haben beklagt, daß ich so wenig lachen könnte. Nun kennen wir uns schlecht, aber ich will Ihnen zugestehen: Bei Ihrer Rede ist mir schon das Lachen vergangen. Das will ich zugestehen.
Ich finde es schon fast ehrabschneidend, wenn Sie mir sagen, was ich gesagt hätte, sei eine Beleidigung für die Menschen der DDR.
Eine Beleidigung der Menschen in der DDR sind die faktische Arbeitslosigkeit von 17 % und die Tatsache, daß 50 % der Arbeitsplätze verlorengegangen sind.
Wenn man dieses benennt — —
— Entschuldigen Sie, ich habe ziemlich präzise gesagt, was gemacht worden ist und was fehlt. Ich habe Fehler beschrieben und gesagt, daß das Selbstlob der Bundesregierung mir sehr nach Schönfärberei aussieht.
Die dramatische Arbeitslosigkeit, der Umstand, daß 75 % der industriellen Arbeitsplätze im Osten Deutschlands verlorengegangen sind, ist ein Faktum. Darüber kann ich allerdings nicht lachen.
Ich will im übrigen auch noch einmal sagen, Herr Bohl: Ich bin, glaube ich — ich sage das nicht als Vorwurf gegen Sie —, etwas mehr in Ostdeutschland unterwegs. Selbstverständlich haben Sie hier in Bonn als Minister noch anderes zu tun. Ich bin ziemlich viel unterwegs und sehe genau, was in den Städten los ist, was im Bereich der Dienstleistungen, des Bauwesens,
des Handwerks passiert und was in der Industrie alles schiefgegangen ist. Es wird keine ostdeutsche Zukunft geben, wenn der Kern einer gesunden Volkswirtschaft, der industrielle Bereich, nicht endlich aufgebaut wird. Darüber habe ich geredet, und ich habe beklagt, daß genau dies durch die Fehler der Bundesregierung bisher nicht passiert ist.
Im übrigen — letzte Bemerkung —: Finden Sie nicht, daß es ein bißchen viel verlangt ist von der Opposition, daß sie sich in den Chor der Anbeter der Leistungen der Bundesregierung einreihen sollte?
Herr Bundesminister Bohl, Sie haben das Wort zur Replik.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Thierse, das ist in der Tat nicht angezeigt, und wenn Sie das tun würden, müßten wir wahrscheinlich überlegen, was wir falsch gemacht haben.
Insofern sind wir uns da sicherlich schnell einig.Ich will versuchen, wieder auf das notwendige sachliche Niveau zurückzuführen. Ich habe hier den Text einer Tickermeldung über eine Ihrer Reden, in dem es heißt, „ihn widere aber das Aufschwunggerede und die erbarmungslose Schönfärberei des Bundeskanzlers an, mit der dieser Ostdeutschland überziehe". Und jetzt kommt der Satz, der mich wirklich empört:Das erinnert mich auf schlimme Weise an den von oben verordneten notorischen Optimismus der SED-Machthaber.
Ich muß ganz ehrlich sagen, Herr Thierse: Ich mache auch Fehler. Sie sollten einfach sagen: Das habe ich hier nicht in die richtige Perspektive gebracht. Das kann man doch zugeben.
Es ist ja natürlich, daß Sie die Dinge sozusagen herunterreden wollen. Das ist ja vielleicht zu einem Stück auch Ihre Aufgabe als Opposition.
Es ist doch wahr, daß Sie nicht all das, was wir auch an Verlust an industriellen Arbeitsplätzen in den neuen Ländern haben, dieser Bundesregierung vorwerfen können.Wie sieht denn unser Alltag aus, Herr Thierse? Ich nehme z. B. das Engagement von Elf-Aquitaine: Wie sind wir in ganz Deutschland und Europa unterwegs gewesen, damit das zur Wirklichkeit wurde! Wenn der Bundeskanzler dort den ersten Spatenstich tut, dann ist das doch nicht sozusagen zu seinem höheren
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20566 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Bundesminister Friedrich BohlRuhme, sondern zunächst einmal das Ergebnis eines langen und schwierigen Planungsprozesses, den wir durchgesetzt haben.
— Das ist die Wirklichkeit. Damit beginnt nun die Realisierungsphase.Oder nehmen Sie Dresden. Sie von der SPD — oder war es Herr Schulz? — sagen, wir wüßten gar nicht, was in Dresden passiert. Es geht um die MikrochipFabrik, die von Siemens dort für 1,7 Milliarden DM aufgebaut wird.
Meinen Sie denn, das kommt vom Himmel?
Oder nehmen Sie das Thema der Werften. Wie viele Verhandlungen haben wir geführt, damit überhaupt dieser Kernbestand der Werften von der EG-Kommission gebilligt wurde? Wie viele Verhandlungen gab es darüber auch mit dem Ihrer Partei angehörenden Kommissar!Wissen Sie — ich bin da zwar nicht empfindlich —, aber es ist wirklich auch schon ein Stück ehrverletzend, das alles herunterzureden. Es ist wirklich beachtlich, was auch die Beamten — nicht immer nur die Minister — dieser Regierung geleistet haben. Das muß man auch einmal anerkennen.Jetzt geht es um die Menschen. Die Menschen haben sich doch dort eingebracht. Wie viele Betriebsräte, vor denen ich hohe Achtung habe, haben einen Personalabbau mitgetragen und mitgemacht? Das wäre bei uns im Westen vielleicht gar nicht möglich gewesen.
Das muß man auch einmal anerkennen und respektieren. Man muß den Menschen auch wieder Mut machen, daß es nun auf dieser Basis aufwärts geht, statt sie noch weiter mutlos zu machen und die Dinge herunterzureden. Ich finde, das muß man eigentlich auch von einer verantwortungsbewußten Opposition verlangen können. Das meine ich, und dazu möchte ich Sie auffordern.
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Luther.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ganz nebenbei werden wir heute auch noch das Schuldrechtsänderungsgesetz verabschieden. Wir schließen damit den Kreis der Rechtsangleichungserfordernisse auf eigentumsrechtlichem Gebiet, die durch die Teilung Deutschlands entstanden sind. Es zeigt sich ganz deutlich, wie Eigentumspolitik in der DDR fehlgeschlagen ist. Es zeigt, daß der Versuch, eine selbständige sozialistische Gesetzesmaterie zu schaffen, unausgegoren und unvollständig blieb und damit diskriminierend für den einzelnen ist.Wer mit dem ZGB umgehen mußte, weiß, daß die formale Einfachheit des ZGB nur dadurch zu erklären ist, daß es erhebliche Lücken aufweist. Genau das haben wir bei der Diskussion zum Schuldrechtsänderungsgesetz festgestellt.Es geht in diesem Gesetz um die Überführung der Nutzungsverhältnisse dort, wo land- und forstwirtschaftlich nicht genutzte Bodenflächen Bürgern zur Erholung und Freizeitgestaltung überlassen wurden, in bürgerliches Recht. Auf den ersten Blick zieht man den Schluß, daß diese Nutzungsverträge recht einfach auf bürgerliches Recht umzumünzen sind. So konnte auch nach dem ZGB jährlich auf Grund gesellschaftlich gerechtfertigter Gründe gekündigt werden. Auch der Kündigungsgrund Eigenbedarf war bekannt und wurde praktiziert.Es werden jedoch Unterschiede deutlich, die nicht so leicht behebbar sind:Erstens. Der DDR-Staat konnte Grund und Boden so in Anspruch nehmen, daß der Eigentümer an Grund und Boden darüber nicht mehr verfügen konnte. Wenn der Grundstückseigentümer heute feststellt, daß ohne seinen Willen auf seinem Grund und Boden Gebäude, Garagen oder Wochenendhäuser entstanden sind, ist es verständlich, wenn er das Bedürfnis hat, sich von diesen Pachtverhältnissen zu befreien.Gäbe es also heute die Möglichkeit einer jährlichen Kündigungsfrist, käme es zu einer großen Anzahl von Kündigungen, die aus der Sicht der Grundstückseigentümer zwar verständlich sind, für die Nutzer jedoch unter Würdigung ihrer individuellen Lebensverläufe und Lebenssituationen eine unzumutbare Härte bedeuten würden. Deshalb mußten wir Sonderbedingungen schaffen, und wir haben diese durch das Schuldrechtsanpassungsgesetz und durch besondere Kündigungsschutzfristen geschaffen.Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf Kündigungsschutzfristen bis zum Jahre 2002 vorgeschlagen. Der Bundesrat hat das Ende auf 2005 festgesetzt. Die Koalition hat im parlamentarischen Raum lange über diese Vorschläge diskutiert, und insbesondere die Koalitionsabgeordneten aus den neuen Bundesländern stellten fest, daß der angedachte Weg, Kündigungsschutzfristen einzuräumen, zwar in die richtige Richtung weist, jedoch so noch keinen gerechten Interessenausgleich schafft.Für mich war in diesem Zusammenhang sehr interessant, daß die SPD im Berichterstattergespräch, aber auch im Ausschuß keinen einzigen sachdienlichen Vorschlag unterbreitet hat.Nun zu unseren Vorschlägen. Der Grundstückseigentümer kann jetzt den Vertrag bis zum Jahre 2000 nicht kündigen. Nach dem Jahre 2000 kann er nur kündigen, wenn er im Sinne des Eigenbedarfs ein Einoder Zweifamilienhaus für sich oder für seine zum Hausstand gehörenden Personen errichten will und benötigt oder wenn es im Bebauungsplan einer anderen Nutzung zugeführt werden soll. Vom Jahre 2005 ab kann der Grundstückseigentümer zusätzlich kündigen, wenn er einen eigenen besonderen Erholungsbedarf — in Abwägung zu dem Erholungsbedarf des jetzigen Nutzers — nachweisen kann. Erst ab dem 4. Oktober 2015, also 25 Jahre nach der deutschen
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20567
Dr. Michael LutherEinheit, gelten die allgemeinen Bestimmungen des BGB.Für Nutzer, die am 3. Oktober 1990 das 60. Lebensjahr vollendet hatten, ist eine Kündigung durch den Grundstückseigentümer zu Lebzeiten dieses Nutzers nicht zulässig.Für Garagen gilt der besondere Kündigungsschutz nur bis zum 31. Dezember 2002.Der zweite Unterschied zum BGB-Pachtrecht ist, daß es nach dem ZGB ein selbständiges, wenn auch nicht dinglich gesichertes Gebäudeeigentum gab. Deshalb gab es im ZGB eine komfortable Entschädigungslösung bei Kündigung durch den Grundstückseigentümer. Deshalb erhält der Nutzer jetzt bis zum Jahre 2022 als spätestem Termin bei einer Kündigung durch den Grundstückseigentümer die Zeitwertentschädigung für das Gebäude und eine Entschädigung für Vermögensnachteile, die ihm durch die vorzeitige Beendigung des Vertragsverhältnisses entstehen. Ebenso haben wir ein Vorkaufsrecht eingeführt.Meine Damen und Herren, damit wurde eine sehr komfortable Lösung im Sinne der Nutzer gefunden.Das Gesetz ist aus rechtlicher Sicht ein wichtiger Baustein für die Gestaltung der deutschen Einheit. Wir haben viele Bausteine für die Zukunft Deutschlands auf diese Art und Weise in den letzten vier Jahren hier gesetzt: im Rechtsbereich das Hemmnisbeseitigungsgesetz, das Erste und Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das Registerverfahrensbeschleunigungsgesetz , das Schuldrechtsänderungsgesetz, das Sachenrechtsbereinigungsgesetz und jetzt auch noch das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz.Das ist eine große Leistung, die wir, das Bundesjustizministerium, der Rechtsausschuß und die Kommission „Wiederaufbau neue Bundesländer" unter Leitung unseres Kollegen Johannes Nitsch erbracht haben. Kurz: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.Bei diesem Resümee -- das sage ich auch ganz deutlich — habe ich verzweifelt nachgesucht, welche Vorschläge die SPD unterbreitet hat, die nicht nur populistisch waren, sondern von Gesamtverantwortung gekennzeichnet sind.Im Gegenteil, die SPD hatte sich im Europa-Wahlkampf entschlossen, die Angst zum Thema zu machen und damit Angst zu verbreiten. Sie, Herr Thierse — und das enttäuscht mich besonders —, haben beschlossen, dieses Thema Angst auch für den Bundestagswahlkampf einzusetzen.
Das ist schade für die deutsche Demokratie.
Schlimmer noch sind die Anmaßungen der SED-Nachfolgepartei in diesem Haus. Sie, die den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Konkurs der DDR verursacht haben, die die Verwerfungen, die persönlichen Härten, die Probleme und die Schwierigkeiten von heute zu verantworten haben, stellen sich jetzt hin, verunsichern die Leute und behauptendabei, ihnen zu helfen. Ich halte das für schlimm und gefährlich.Die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. und unser Bundeskanzler Helmut Kohl haben sich der Aufgabe der Gestaltung der deutschen Einheit gestellt. Wir haben viel erreicht. Wir machen den Menschen Mut. Wir werden uns auch in Zukunft nicht scheuen, verantwortlich zu handeln.Recht herzlichen Dank.
Herr Kollege Rolf Schwanitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kanzleramtsminister Bohl, ich glaube, wir von der SPD müssen uns hier in diesem Haus von Ihnen nicht sagen lassen, daß wir in den neuen Bundesländern und auch hier in Debatten nicht über die Fortschritte und auch über den Mut, den die Ostdeutschen haben, reden würden. Das haben wir überhaupt nicht nötig.
Aber es ist sehr wohl nötig, daß wir, wenn Sie und auch Kollegen aus der Koalition eine Debatte beginnen, in der Probleme vollständig ausgeblendet werden, diesem Gedächtnisverlust nicht Vorschub leisten und daß wir hier Aufarbeitung betreiben.
Meine Damen und Herren, ich möchte gern noch eine zweite Bemerkung zu den Ausführungen von Herrn Türk machen. Herr Türk, Ihre Darstellung zu den erstaunlichen Erleuchtungen, die die F.D.P. in Rostock zu dem Thema Datschengrundstücke hatte, zeugt von einer besonderen Art von Kaltschnäuzigkeit. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie wenige Wochen vor diesem Parteitag aus Ihrer Fraktion hier ganz andere Töne zu hören waren. Da hieß es, man sei die einzige Partei gewesen, die 1990 darauf gedrängt habe, im Einigungsvertrag den Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung zu regeln. Auch das ist eine Lüge; denn da gab es noch andere Parteien, die das massiv gemacht haben, aber aus einer anderen Geisteshaltung heraus. Im übrigen gab es in Ihrer Fraktion auch die Meinung, man bedaure es, daß man nicht auch für den Zeitraum von 1945 bis 1949 das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung festgeschrieben habe. Ich sage Ihnen: Mit diesen Taschenspielertricks kommen Sie bei den Wählern nicht durch. Die wissen sehr genau, welche Klientel Sie politisch vertreten.
Meine Damen und Herren, wir haben in Ostdeutschland seit 1990 mehrere wirtschaftliche Phasen durchlebt und durchlitten: zuerst das Wegbrechen der Exportmärkte durch die Einführung der D-Mark im Juli 1990, dann die Expansion westdeutscher Unternehmen in den ostdeutschen Markt hinein, was zum fast vollständigen Wegbrechen des Inlandsmarktes für die ostdeutschen Unternehmen geführt hat. Eine Welle westdeutscher Investitionen in die ostdeutsche Industrie hat es nicht gegeben.
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20568 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Rolf SchwanitzHatten die Ostdeutschen 1990 noch Angst, verlängerte Werkbank des Westens zu werden, müssen sie mancherorts heute dankbar dafür sein, wenn sie wenigstens diese Funktion noch ausüben dürfen. Trotz des großen Fleißes und des Willens vieler ostdeutscher Unternehmer, Manager, Arbeiter und Angestellter, sich an die neue Situation anzupassen und in Betriebswirtschaft, Recht und Verwaltung auch gegenüber den westdeutschen Konkurrenten und den neuen Konkurrenten aus dem EU-Raum zu bestehen, hat es drei Jahre gebraucht, bis die Unternehmensinvestitionen je Einwohner in den neuen Bundesländern Westniveau erreicht haben. Bis dahin hat sich der Abstand zum Westen nicht verkleinert, sondern vergrößert.Viele Unternehmen, die zum Ende der DDR noch Vorzeigebetriebe waren, sind dabei auf der Strecke geblieben. Über 3,5 Millionen Arbeitsplätze wurden dabei zerstört. Die Bundesregierung hat einseitig und blind auf die Heilungskräfte des Marktes gesetzt.
Die Möglichkeiten, die sie wirtschafts- und strukturpolitisch dabei gehabt hätte, hat sie sträflich vernachlässigt.
Die Bundesregierung ist deshalb mitverantwortlich für die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen vor allen Dingen in der ostdeutschen Industrie.Zu den gravierendsten Fehlentscheidungen im deutschen Einigungsprozeß gehört zweifellos das Grundprinzip Rückgabe vor Entschädigung bei den offenen Vermögensfragen,
nicht nur, weil dadurch das Gerechtigkeitsprinzip bei in Ostdeutschland erlittenen Schädigungen irreparabel beschädigt worden ist. Nur bei einer einzigen Schädigungsart, bei erlittenen Eigentumsschäden, soll dadurch ein fast vollständiger Schadensausgleich organisiert werden, was bei Freiheitsschäden oder bei Schädigungen an Leib und Leben natürlich nicht in gleicher Art und Weise erfolgt.
Nein, dieses Prinzip hat — wir haben es oft betont — den Aufbau in den neuen Bundesländern massiv verzögert. Dieses Investitionshemmnis wird sich auch in der Zukunft nur partiell vermindern lassen.
Die Bundesregierung hingegen drückt ihre Augen zu in ihrer Bilanz, aber auch heute hier in der Debatte, und versucht — wie bei allen anderen Problemen in Ostdeutschland —, Probleme klein- und Erfolge großzureden.
Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Norbert Geis?
Bitte schön.
Herr Kollege Schwanitz, geben Sie mir zu, daß die SPD damals in der Volkskammer und wir hier im Deutschen Bundestag dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung zugestimmt haben, und geben Sie weiter zu, daß dann, wenn dieses Prinzip später umgekehrt worden wäre, nicht nur erhebliche verfassungsrechtliche Probleme aufgetaucht wären, sondern wir Ausnahmen von der Regel hätten machen müssen, die uns in genau dieselben rechtlichen Abwägungsprobleme hineingebracht hätten wie jetzt bei der Beibehaltung dieses Prinzips?
Herr Kollege Geis, dafür, daß es bei einer Umkehr des Prinzips Rückgabe vor Entschädigung Umkehr nicht mehr verfassungsrechtliche Probleme geben würde, sind nicht wir verantwortlich, sondern Sie, die Sie dieses Prinzip geschaffen haben.
— Dazu sage ich gleich noch was.In Anlehnung an Ihre zweite Frage sage ich: Selbstverständlich wären bei einem anderen Prinzip auch Ausnahmeregelungen möglich gewesen. Nie hat jemand behauptet, daß es eine solche Regelung ohne Ausnahmen hätte geben müssen.Aber ich sage Ihnen auch einiges zu dieser Zustimmung: Sie wissen sehr wohl, daß darüber in der Fraktion hier im Bundestag — damals hatten wir noch kein einheitliches Parlament für Ost- und Westdeutschland — sehr kritisch debattiert worden ist und es in den Ausschußberatungen keine Zustimmung gegeben hat.Was den Osten, die Volkskammer, betrifft, muß ich Ihnen sagen, daß es einer der härtesten Punkte für die Volkskammerfraktion war. Wer sich noch daran erinnern kann, wie es 1990 war, der weiß, daß es de facto fast keine Möglichkeit gegeben hat, den Beitritt nach Art. 23 des Grundgesetzes zum Oktober zu verhindern.
— Meine Damen und Herren, selbstverständlich haben wir dem Einigungsvertrag zugestimmt. Aber wir lassen uns nicht in Haftung nehmen für jeden Webfehler, den Sie auf Grund Ihrer politischen Zielrichtung in den Einigungsvertrag hineingeschrieben haben.
Ich komme zurück zu den offenen Vermögensfragen. Sehen wir uns einmal einige Daten zu den offenen Vermögensfragen an, die auch in den „Materialien zur deutschen Einheit ..." eine Rolle spielen und die Sie in den Statistiken stehen haben.Im Bericht der Bundesregierung über die Situation und die Fortschritte bei der Beseitigung der Investitionshemmnisse im eigentumsrechtlichen Bereich der neuen Länder — Drucksache 12/6866 vom März dieses Jahres — verbreitet die Bundesregierung ihre Einschätzung darüber, welche Fortschritte die Abarbeitung der ca. 1,2 Millionen Anträge für fast 2,6 Millionen Vermögenswerte seit 1990 genommen hat. Bis zum 30. September letzten Jahres sollen danach
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Rolf Schwanitz31,7 % der unternehmensbezogenen Anträge und fast 28 % der Anträge auf sonstige Vermögenswerte erledigt worden sein. In Sachsen soll die Abarbeitungsquote bei Anträgen bezüglich Immobilien, Grundstücken und Grundstücksanteilen sogar bei 36 % liegen.Wirft man einen tieferen Blick auf diese Statistik, wird offenkundig, wie die Bundesregierung die Folgen ihres Handelns mit statistischen Instrumenten zu verschleiern versucht. Als Erledigungen von vermögensrechtlichen Anträgen werden u. a. die Rücknahme von Anträgen — übrigens auch, wenn diese nur teilweise erfolgte — und die Aufhebung der staatlichen Verwaltung bei einzelnen Vermögenswerten angerechnet. Letzteres, die Aufhebung der staatlichen Verwaltung, wurde jedoch durch Gesetz zum 31. Dezember 1992 quasi automatisch vollzogen. Hier liegt überhaupt kein Verwaltungshandeln vor.Klammert man diese Selbsterledigungen aus, um die Anzahl der tatsächlichen Erledigungen durch Verwaltungshandeln zu ermitteln, so schmelzen die rund 610 000 Erledigungen im Immobilienbereich auf 417 000 Erledigungen zusammen. Das heißt, daß ca. ein Drittel aller angeblich gelösten offenen Vermögensfragen im Immobilienbereich auf andere Erledigungsgründe zurückgeht. Ihnen liegt kein Verwaltungshandeln durch die Vermögensämter zugrunde. Die Abarbeitungsgeschwindigkeit bezüglich der Vermögensanträge und damit das gesamte Ausmaß der Hemmnisse für die offenen Vermögensfragen werden statistisch verschleiert. Situationen wie beispielsweise in Leipzig oder Halle, wo auf jedes Grundstück fast zwei Restitutionsanträge entfallen, sollen in der Leistungsbilanz der Bundesregierung möglichst nicht auftauchen.Bereinigt man die Zahl der insgesamt gestellten Anträge und die Zahl der Erledigungen um die Erledigungen ohne Verwaltungshandeln, so beträgt die durchschnittliche Erledigungsquote bei Immobilienanträgen nicht mehr 28,3 %, sondern nur noch 21 %. Ein Blick auf die Länder wirkt noch ernüchternder. Die reale Erledigungsquote bei Immobilienanträgen fällt in Thüringen von angeblich 21 % auf 15 % und in Berlin von angeblich 31,5 % auf 8 % zurück. Dies ist der tatsächliche verwaltungsseitige Bearbeitungsstand bei den offenen Vermögensfragen. Ganze 21 % im Immobilienbereich in den letzten drei Jahren! Wird mit dieser Intensität weitergearbeitet, dann würde der letzte Antrag erst im November des Jahres 2004 erledigt sein. Da hier noch nicht einmal die noch ausstehenden Entschädigungsbescheide eingerechnet worden sind, ist das keine utopische Rechnung, meine Damen und Herren. Das ist die Leistungsbilanz der Bundesregierung: zusätzlicher Verwaltungsaufwand über rund 15 Jahre hinweg, massive Behinderung notwendiger Investitionen und tiefe soziale Verunsicherung derer, die in Ostdeutschland von Restitutionsmaßnahmen betroffen sind — ein „stolzer" Erfolg!
Meine Damen und Herren, eine besondere Bemerkung muß zur Arbeit der Treuhandanstalt gemacht werden, nicht nur wegen ihrer einschneidenden Auswirkungen auf die Menschen in Ostdeutschland,sondern auch deshalb, weil in den „Materialien zur deutschen Einheit ... ", in der 610 Seiten starken Unterrichtung durch die Bundesregierung, nur ein einziger Unterpunkt mit einem Umfang von zweieinhalb Seiten der Treuhandanstalt selbst gewidmet ist. Ansonsten wird sie versteckt und unter anderen Überschriften geführt, ganz so, als handele es sich hier um einen untergeordneten Teilaspekt der deutschen Einheit. So hätten Sie es gerne, meine Damen und Herren. Nicht mit uns!
Im Juni 1990 verabschiedete die Volkskammer der DDR das Treuhandgesetz, das in den Einigungsvertrag übernommen wurde. Die Treuhandanstalt erhielt den Auftrag — ich zitiere , „insbesondere auf die Entwicklung sanierungsfähiger Unternehmen und deren Privatisierung Einfluß zu nehmen" . Der später durchgesetzte Vorrang der Privatisierung vor der Sanierung von Betrieben ist eine Entscheidung der Koalitionsparteien, wie die Anhörung des damaligen Chefjuristen der Treuhandanstalt im Ausschuß ergab.Die SPD hat seit 1990 immer wieder Vorschläge im Bundestag unterbreitet, um den Unternehmen eine gewisse Atempause und eine intensivere Begleitung durch die Treuhandanstalt zu sichern. Wir wollten Zeit kaufen, damit die Unternehmen den Wechsel in die Marktwirtschaft bestehen und Arbeitsplätze dabei erhalten bleiben können. Das Bundesfinanzministerium kam 1990 zu einer ähnlichen Einschätzung. In einer Leitungsvorlage aus dem Ministerium heißt es: Es... zeichnet sich die Gefahr ab, daß bei einem rein betriebswirtschaftlichen Vorgehen der Treuhandanstalt lediglich rund 20 % der industriellen Arbeitsplätze überleben .. .Bedenken aus den eigenen Reihen wurden von der Bundesregierung weggewischt. Sie sollten das Handeln der Bundesregierung nicht störend beeinflussen.Im September 1993, als immer mehr Fälle von Korruption bekannt wurden und die Koalition eine ausreichende parlamentarische Kontrolle verweigerte, beantragte die SPD-Fraktion die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Die Notwendigkeit eines solchen Untersuchungsausschusses wird durch ein internes Papier des Bundeswirtschaftsministeriums an den Staatssekretär Dr. von Würzen zur Vorbereitung der Sitzung des erweiterten Präsidiums des Verwaltungsrates am 10. Juli 1993 in Frankfurt belegt. In dem Papier wird auf die folgenden grundlegenden Mängel hingewiesen : unzureichende Bonitätsprüfung, unzureichende Absicherung von Pönalen und finanziellen Zusagen, keine ordnungsgemäße Bieterauswahl, keine nachvollziehbaren Preis- und Wertermittlungen, keine schriftlichen Unternehmenskonzepte, keine Dokumentationen, geschäftliche oder private Verquickungen, also Insiderprobleme.
Trotz dieser Kenntnis versuchte die Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit der Treuhandan-
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Rolf Schwanitzstalt, das Parlament an der Untersuchung der Vorgänge mit aller Macht zu hindern. So weigern sich Treuhandanstalt und Regierung, die Protokolle der Verwaltungsratssitzungen an den Untersuchungsausschuß weiterzuleiten. Der Untersuchungsausschuß hat deshalb auf Antrag der SPD-Fraktion beim Bundesverfassungsgericht Klage auf Herausgabe eingereicht. Des weiteren werden 80 % des Aktenmaterials als VS eingestuft und sind somit für eine öffentliche Beweiserhebung nicht zu verwenden.Das bisherige Ergebnis des Untersuchungsausschusses nach einer Analyse von ca. 30 Privatisierungen, deren Behandlung jedesmal einstimmig auf die Tagesordnung in diesem Ausschuß gesetzt wurde, bestätigt eine repräsentative Querschnittsprüfung der Treuarbeit-AG über die Privatisierung der Treuhandanstalt aus dem Jahr 1991. Danach fehlten in 35 % der überprüften Fälle hinreichende Begründungen für geringe Vermarktungsaktivitäten. In nur 29 % der Fälle existierte eine echte Bieterkonkurrenz. In 46 % der Fälle fehlte eine Bonitätsprüfung. Bei 33 % wurde keine Eignung des Käufers zur Fortführung des Unternehmens dokumentiert. In 46 % der Fälle waren Wertermittlungen und Kaufpreisfindungen nicht plausibel. In 60 % waren keine Verkaufsverhandlungen dokumentiert, und 75 % der auch durch den Vorstand genehmigungspflichtigen Verträge erhielten nicht den entsprechenden Vorbehalt.Die Vermarktung der ostdeutschen Betriebe durch den verlängerten Arm der Bundesregierung gehört zu den düstersten Kapiteln der Kohl-Regierung. Bedenkenträger in den eigenen Reihen wurden ignoriert, parlamentarische Kontrolle wurde gezielt verhindert, und die politische Verantwortung wurde optisch an eine Behörde delegiert, die durch das Auftragshandeln stellvertretend zum Prügelknaben der Nation geworden ist.
Meine Damen und Herren, zum Schluß noch einige Bemerkungen zur Sanierung radioaktiver Altlasten in den neuen Bundesländern, aber vor allem zu den Wismut-Nachfolgeunternehmen. Der Uranbergbau in Thüringen und Sachsen stellt nicht nur hinsichtlich der politischen Verquickung mit der früheren UdSSR eines der dunkelsten Kapitel der DDR-Vergangenheit dar. Er symbolisiert gleichzeitig eine in dieser Form weltweit einmalige Umweltzerstörung. Bei allen in den neuen Bundesländern sonst bestehenden Umweltbelastungen stellt die Bewältigung der radioaktiven Altlasten eine Aufgabe in bisher unbekannter Dimension dar: umweltpolitisch, technologisch und finanzpolitisch.Es entsprach deshalb der Bedeutung und der Schwierigkeit dieser Aufgabe, daß der Deutsche Bundestag im Oktober 1991 mit dem Wismut-NachfolgeGesetz einvernehmlich beschloß, die Gesamtverantwortung für die Sanierung der radioaktiven Altlasten im unmittelbaren Hoheitsbereich des Bundes zu verankern. Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion war mitentscheidend, daß nur durch die unmittelbare Übernahme der politischen Verantwortung durch die Bundesregierung dem tiefverwurzelten Mißtrauen der dortigen Bevölkerung mit Erfolg begegnet werden konnte. Dieses politische Zeichen war unverzichtbare Voraussetzung für die Herausbildung klarer Verantwortlichkeiten, denen die Bürger mit Vertrauen begegnen können. Sie sollten die Grundlage bilden für eine geordnete Stillegung der Bergbaubetriebe, für Sanierung und Rekultivierung der Betriebsflächen und nicht zuletzt für die soziale Absicherung der neuen Unternehmensstruktur durch Sozialpläne. Wegen der Einzigartigkeit des WismutKomplexes war der Deutsche Bundestag darüber hinaus einhellig der Auffassung, daß — unbeschadet der im Einigungsvertrag getroffenen Regelungen der Vermögenszuordnung — den Kommunen ihr entzogenes Grundvermögen unter bestimmten Bedingungen unentgeltlich zurückgegeben werden sollte.Wir Sozialdemokraten müssen heute feststellen, daß die Hoffnungen, die mit der Übernahme der politischen Verantwortung des Bundes in den Augen der Bürger und auch der kommunalen Gebietskörperschaften verbunden gewesen sind, herb enttäuscht, nicht erfüllt oder sogar mißbraucht und mißachtet worden sind. Das ist der Grund, weswegen wir heute den vorliegenden Antrag haben einbringen müssen.Angesichts unserer politischen Bestandsaufnahme heute kommen aktuelle Bestrebungen der Bundesregierung — ich nenne hier in erster Linie den Bundeswirtschaftsminister und den Bundesfinanzminister —, sich der vom Parlament vor zwei Jahren übertragenen Verantwortung zu entledigen, zwar nicht überraschend, aber dieser Versuch ist absolut verwerflich. Ich garantiere Ihnen: Er wird, wenn nicht am Widerstand des gesamten Parlamentes, so am Widerstand der Sozialdemokraten scheitern — vor der Wahl oder nach der Wahl.
Ich fordere die Bundesregierung deshalb auf, heute eindeutig dazu Stellung zu nehmen, ob sie die Wismut-Unternehmen aus der unmittelbaren Bundesverantwortung herauslösen und in Treuhandbetriebe umwandeln will. Die Vorgespräche dazu sind dem Vernehmen nach weit fortgeschritten. Ebenso ist bekannt, daß sich die Ministerpräsidenten der Länder Thüringen und Sachsen bereits mit allem Nachdruck gegen diese Absicht ausgesprochen haben.Eine solche Umwandlung in Treuhandbetriebe würde in den betroffenen Regionen ein politisches Erdbeben auslösen und das ohnehin von der Bundesregierung mißbrauchte Grundvertrauen in politische Versprechungen unheilbar zerstören. Dies wäre ein politischer Anschlag, der von den betroffenen Regionen — unabhängig von der Parteizugehörigkeit — auf das schärfste verurteilt werden wird. Gleiches erwarte ich hier im Bundestag.
Die Redezeit ist um, Herr Kollege.
Das Vertrauen der Menschen ist durch die Tätigkeit der Treuhandanstalt in den zurückliegenden drei Jahren erschöpft. Die Treuhandanstalt hat ein Image, das für Abwicklung, für Arbeitsplatzbeseitigung, aber nicht für ein verantwor-
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Rolf Schwanitztungsvolles Umgehen mit diesen Problemen ausreicht.
Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Stellen Sie klar, daß Sie nicht die Absicht haben, diese komplizierte atomare Sanierungsarbeit, bei der auch noch atomare Potentiale eine entsprechende Rolle spielen, einer treuhandbetrieblichen Organisation zuzuordnen! Hiergegen kündigen wir Ihnen schon heute unseren massiven Widerstand an.
Herr Kollege Stockhausen, wollten Sie eine Kurzintervention machen?
— Da war die Redezeit schon um, das ging nicht mehr.
Ich erteile jetzt der Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort. Frau Kollegin, ich biete Ihnen an, mit Rücksicht auf Ihre Beinverletzung im Sitzen zu sprechen.
Recht herzlichen Dank. — Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, daß jetzt mit vielen verkürzten und nicht korrekten Darstellungen etwas aufgeräumt werden kann, gerade wenn es um die offenen Vermögens- und Eigentumsfragen in den neuen Bundesländern geht; denn das ist ja ein Thema, das uns seit Anfang dieser Legislaturperiode zu Recht intensiv beschäftigt, weil es uns um die Anliegen der Menschen in den neuen Bundesländern geht, weil wir für sie Rechtssicherheit schaffen wollen. Wir haben unübersichtliche, komplizierte Verhältnisse vorgefunden, um es einmal ganz vorsichtig auszudrücken, die nicht von heute auf morgen in das Recht, das in der alten Bundesrepublik galt, nämlich in das Miet- und Pachtrecht und in das Eigentumsrecht, übergeführt werden konnten. Dieser schwierigen Aufgabe haben wir uns gestellt, und zwar erfolgreich.
Das haben wir einmal durch das Vermögensrechtsänderungsgesetz getan, das 1992 nach langen Verhandlungen und unter Beteiligung der Opposition mit einem Kompromiß verabschiedet wurde. Das war die Grundlage dafür, daß Investitionsvorrangentscheidungen getroffen werden konnten. Erst ab diesem Zeitpunkt gab es in vielen Bereichen rechtliche Grundlagen, erst ab diesem Zeitpunkt waren auch die Ämter zur Regelung der offenen Vermögensfragen in der Lage, auf Grund der rechtlichen Bestimmungen und auf Grund der Ausbildung und Qualifikation der Mitarbeiter mit diesen schwierigen Einzelfragen umzugehen.
Das mußte einmal gesagt werden. Ich lasse es hier nicht zu, daß unterschwellig immer gesagt wird, die Mitarbeiter in diesen wichtigen Ämtern in den neuen Ländern seien nicht in der Lage, diese Aufgaben zu bewältigen. Im Gegenteil, sie leisten ganz Hervorragendes. Das sollte man an dieser Stelle auch einmal sagen.
Herr Schwanitz, Sie brauchen keine Angst zu haben, daß wir Sie hier mit in die Verpflichtung nehmen, wenn es um Rechtssicherheit und Bestandsschutz für die Nutzer von Erholungsgrundstücken und von Datschen geht. Sie haben ja bis zum heutigen Tag nichts dazu beigetragen, diese Diskussion konstruktiv voranzutreiben. Wir haben das gemacht, weil wir uns — das zeigt auch, wie ernst wir die Situation in den neuen Ländern nehmen — sehr wohl intensiv mit dem auseinandergesetzt haben, was auch in der Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung dargestellt worden ist. Wir haben uns sehr gründlich überlegt, wie wir auch hier den schwierigen Interessenausgleich zwischen Eigentümern und Nutzungsberechtigten finden können. Das hat dann im Rechtsausschuß zu diesem Beschluß geführt, der heute vorliegt.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanitz?
Ja.
Frau Ministerin, da Sie die Sozialdemokraten hier so rügen, will ich Sie fragen, ob Sie die Art und Weise, wie das Problem der Rechtssicherheit der Nutzer von Datschen monatelang ausgesessen wird — Vorlagen, die vorher nicht auf dem Tisch waren und somit auch nicht beratungsreif sind, werden in die Beratung im Rechtsausschuß einbezogen —, als eine solide, fundierte Arbeit an diesem Problem empfinden.
Zunächst einmal muß man hier wohl mit einer lückenhaften Darstellung der rechtlichen Situation aufräumen. Anscheinend ist Ihnen nicht bekannt, daß wir ein Vertragsmoratorium bis Ende dieses Jahres haben, um der Gesetzgebung in dieser schwierigen Frage den nötigen Spielraum zu geben und hier zu vernünftigen Regelungen zu kommen.Ich halte es für richtig, wenn man — ausgehend von Anhörungen, von sehr vielen Eingaben von Verbänden, von Einzelbetroffenen — hier wirklich um jede Regelung ringt: um Kündigungsschutz, um Bestandsschutz, um Entschädigung, um Vorkaufsrecht. Es ist richtig, daß man das macht. Ich glaube, jeder Zeitpunkt ist richtig, diese Vorschläge in den Rechtsausschuß zur Beratung einzubringen. Sie hätten es vorher tun können.
Die Beratung über das Schuldrechtsänderungsgesetz ist ein ganz wichtiger Schritt zur Regelung der offenen Vermögens- und Eigentumsfragen. Das Sachenrechtsänderungsgesetz — genauso wichtig, auch sehr kompliziert, weil die Umstände so schwierig und unübersichtlich sind ist inzwischen im Bundestag verabschiedet worden. Wir beraten es derzeit im Vermittlungsausschuß. Ich hoffe, daß dieses Gesetz
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger möglichst schnell verabschiedet werden kann; denn wir wollen den Häuslebauern wirklich die Möglichkeit geben, Eigentum zu erwerben. Es ist also ein Gesetz, das dazu beitragen soll, Menschen in den neuen Ländern Eigentumserwerb zu eröffnen.
Frau Bundesministerin, jetzt möchte gern der Kollege Hacker eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte.
Die Polemik von Herrn Dr. Luther, der behauptet, die SPD-Bundestagsfraktion habe keine Vorschläge unterbreitet — —
Entschuldigung, ich denke, Sie wollen der Ministerin eine Zwischenfrage stellen?
Ja, dazu komme ich jetzt. — Frau Ministerin, daran anknüpfend frage ich Sie, warum gerade von Ihrem Haus die Vorschläge der Opposition, Regelungen mit längeren Fristen zu treffen, wochenlang mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Probleme abgelehnt worden sind.
Herr Hacker, zunächst einmal hat sich Herr Luther hier nicht polemisch geäußert, sondern er hat sich in einer sehr sachlichen und nüchternen Art und Weise mit diesen schwierigen Fragen auseinandergesetzt.
Er hat entscheidend mit dazu beigetragen — ich denke hier auch an das Sachenrechtsänderungsgesetz daß wir zu wesentlichen Kompromissen gekommen sind.
Sie sehen an den Beratungen über Kündigungsschutzfristen, wie schwer man um einen Weg, der noch gangbar erscheint, ringt. Auf der einen Seite stehen die Eigentümer dieser Erholungsgrundstücke. — Dazu gehört auch eine ältere Person, die in Westberlin lebt und fragt: Warum darf ich mein Erholungsgrundstück erst im Jahre 2015 nutzen? Warum muß ich hier auf dem Balkan sitzen und kann es nicht schon jetzt in Anspruch nehmen? — Auf der anderen Seite stehen die Menschen in den neuen Bundesländern, die darauf vertraut haben, daß sie unbefristet — vielleicht sogar unentgeltlich — diese Grundstücke nutzen und dort ihr Leben individuell gestalten können.
Hier einen Ausgleich zu finden ist schwierig. Darum wird gerungen; das haben wir in den letzten Monaten getan. Um uns dafür Luft zu verschaffen, haben wir vorher ein Vertragsmoratorium beschlossen. So können wir das in Ruhe tun. Die Menschen in den neuen Ländern befinden sich im Moment nicht in Rechtsunsicherheit.
Auch der Kollege Dr. Ullmann möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Ja.
Bitte, Herr Kollege.
Frau Ministerin, es liegt mir völlig fern, die Verdienste Ihrer Partei in irgendeiner Weise zu verkleinern. Aber können wir uns vielleicht so einigen, daß der rechtliche Grundgedanke des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes, nämlich die Erbpachtregelung, in einem Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1991 vorgeschlagen worden ist?
Die Änderungsvorschläge, die Herr Kollege van Essen dankenswerterweise unterbreitet hat, kamen, als der Entwurf von BÜNDNIS 90 zum Nießbrauch schon längst vorlag, nämlich vor der Anhörung in Berlin. Ich glaube, darüber müßte Einigkeit herzustellen sein. Darf ich das mit Recht voraussetzen?
Herr Ullmann, ich bin immer froh, wenn möglichst viele gemeinsam um die Lösung schwieriger Fragen ringen und wenn man dann zu guten Ergebnissen kommt. Ich bin sehr froh, daß gerade auch Sie uns in sehr vielen konstruktiven Beratungen im Rechtsausschuß dabei immer unterstützt haben, uns manchmal auch mit mehr Informationen dienen konnten, als wir beizubringen in der Lage gewesen wären, weil wir uns erst in den letzten zwei, drei Jahren intensiv mit den Bedingungen in den neuen Bundesländern auseinandersetzen mußten.Ich freue mich, daß Sie — den Nießbrauch haben wir nicht übernommen; wir haben uns für andere Regelungen entschieden — vom Gedankenansatz her genau auf der Linie liegen, wie sie hier jetzt verankert ist. Ich sage ganz offen: Es ist gut, daß auch Sie diese Regelungen so vorgeschlagen haben. Ich nehme Sie gern mit in die Pflicht.Wir haben hier heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der uns alle in die Situation versetzen wird, die schwierigen Fragen überzeugend zu beantworten, die uns zum einen die Nutzungsberechtigten in den neuen Ländern, die uns aber zum anderen selbstverständlich auch die Eigentümer stellen werden. Diese sind bei diesem Gesetz in den zweiten Rang gekommen, weil wir die Priorität ausdrücklich auf die Interessen der Menschen in den neuen Bundesländern gelegt haben.
Wir haben uns so entschieden, weil wir wissen, welch hohen sozialen Stellenwert gerade die Erholungsgrundstücke und die Datschen für die Menschen in den neuen Ländern haben. Deshalb paßt dieses Gesetz so hervorragend zu den anderen gesetzlichen Regelungen, die hoffentlich bald in Kraft treten und in dem Sachenrechtsänderungsgesetz ihren Niederschlag finden. Deshalb möchte ich ausdrücklich den Vorwurf zurückweisen, wir hätten nichts anderes im Sinn, als darauf zu achten, daß Alteigentümer wieder zu ihrem Eigentum kommen können. Genauso inten-
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenbergersiv beschäftigt uns die Frage, wie die Menschen in den neuen Bundesländern Eigentum erwerben können. Sonst hätten wir im Sachenrechtsänderungsgesetz nicht das Teilungsmodell gewählt.Ich hoffe jetzt, daß wir diesen vernünftigen Kompromiß, der sich im Vermittlungsausschuß anbahnt, durchsetzen werden. Denn ich glaube, niemand darf ein Interesse daran haben, diese wichtigen Regelungen, die überall in den neuen Ländern akzeptiert werden, mit Fragen, die dieses Gesetz vielleicht gar nicht betreffen, zu behindern und damit dazu beizutragen, daß ab Januar 1995 keine sichere Rechtsgrundlage geschaffen ist.Wir müssen uns alle klarmachen, was das bedeuten würde. Dann nämlich käme das BGB in den neuen Ländern sofort zur Anwendung. Das hieße, dieser Bestandsschutz, dieser Kündigungsschutz könnte nicht so wirksam werden, wie wir das in diesem ausgewogenen Konzept wollen. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ein guter Abschluß dieser sehr verantwortungsbewußten Gesetzgebung der Bundesregierung mit der Unterstützung der Koalitionsfraktionen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Heinz-Jürgen Kronberg.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Diskussion über die neuen Länder können wir das ganze Feld der Sozialpolitik und der Arbeitsmarktpolitik nicht auslassen. Es ist zum Teil schon angesprochen worden, wenn auch teilweise ziemlich verzerrt und pointiert.Ich möchte mit der Rentenproblematik beginnen; denn das ist ein wichtiges Thema für uns in den neuen Ländern. Für einen Großteil der Rentner hat sich die Situation wesentlich verbessert. Während die Eckrente in der DDR am 30. Juni 1990, d. h. am Tage vor der Sozialunion, noch bei 602 Mark lag, liegt sie heute bei 1 451 DM. Von damals 33 % der Westrenten haben wir zum 1. Januar eine Angleichung auf 75 % geschafft. Dies ist eine Steigerung um fast das Zweieinhalbfache. Auch die Einführung der Hinterbliebenenrenten und der KOV war ein wesentlicher Bestandteil dieser Reform.Leider hat uns der Kollege Gysi schon verlassen. Ich wäre gerne in seinem Beisein auf einiges aus seiner Rede eingegangen. Er hat den Niedergang der rentablen Betriebe stark gerügt. Dazu muß ich sagen: Diejenigen, die aus der DDR kommen, die die DDR miterleben mußten und dort mit leiden mußten, wissen: Es gab keine rentablen Betriebe. Es konnte sie gar nicht geben, weil jeder Betrieb seine Gewinne, wenn er sie überhaupt gemacht hat, sogleich an den Staatshaushalt abführen mußte.
Das war der Grund dafür, daß die Betriebe bei derUmstellung von der DDR-Wirtschaft auf die bundesdeutsche Wirtschaft total unfähig zum Wettbewerb waren. Sie hatten gar nicht das Eigenkapital für den Wettbewerb.
— Vielleicht mehr Ahnung als Sie.
Ich habe mich gefreut, daß sich Herr Thierse dahin gehend revidiert hat, daß der Wegfall von vielen, vielen Arbeitsplätzen — das ist bei den Vertretern aller Parteien hier unbestritten -- nicht Folge von vier Jahren Politik dieser Bundesregierung ist, sondern daß die 40 Jahre DDR-Wirtschaft ursächlich waren. 40 Jahre DDR-Wirtschaft haben dazu geführt, daß die VEBs und die ganzen Handwerksbetriebe innerlich und äußerlich so marode und ausgehöhlt waren, daß sie mit der Wende in sich zusammengeklappt sind.Unsere Aufgabe war es doch, mit den Folgen klarzukommen. Unsere Aufgabe war es, mit den Arbeitslosen klarzukommen. Wir haben uns deswegen eindeutig entschieden: Wir machen aktive Arbeitsmarktpolitik.Wir haben ABM in großem Maße und auch völlig neue Instrumente initiiert. Ich will beispielhaft nur eines nennen: den § 249h AfG.
Dieser hat Erfolg gezeigt. Bis zum Monat Mai haben wir damit 87 000 Menschen in Arbeit gebracht.Der Arbeitsmarkt spricht aber auch eine deutliche eigene Sprache. Es ist unübersehbar, daß die Arbeitslosenzahlen seit geraumer Zeit sinken und die offenen Stellen, die von den Betrieben gemeldet werden, weiter steigen. Bei mir in Weimar z. B. ist die Arbeitslosigkeit im letzten Monat um 0,6 % auf 13,4 % gesunken.In den gesamten neuen Bundesländern ist die Zahl der Arbeitslosen um 150 000 gesunken. Das heißt, 150 000 Menschen haben wieder Arbeit gefunden,
und zwar nicht in irgendwelchen Brückenmaßnahmen, nicht in Fortbildung und Umschulung, sondern direkt im ersten Arbeitsmarkt.Eine weitere wichtige Rolle spielt natürlich die Frage der beruflichen Ausbildung. Während wir die duale Ausbildung eingeführt haben, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik bewährt hat, hat seit 1991 die gemeinsame Aktion der Arbeitsämter und der IHK in den neuen Ländern dazu geführt, daß die Anzahl der Ausbildungsstellen trotz vieler Unkenrufe quer durch die Republik am Jahresende immer wieder einen positiven Abschluß gezeigt hat. Das heißt, durch telefonische, aber auch durch sehr viele persönliche Kontakte zu den Betrieben haben wir erreicht, daß im Jahre 1992 eine Steigerung um 20 % und im Jahre 1993 eine Steigerung um weitere 11 % stattgefunden hat.Natürlich konnte mit dieser Ausbildungsplatzanzahl nicht die gesamte Anforderung erfüllt werden. Deswegen ist der Rest auch mit überbetrieblicher
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Heinz-Jürgen KronbergAusbildung abgedeckt worden. Der Rest beträgt in diesem Jahr ca. 15 000. Es ging uns aber nicht nur um die Anzahl der Ausbildungsplätze, sondern es ging uns auch um die Qualitätssteigerung unserer beruflichen Ausbildung.Auf Grund dessen hat der Bund im Zeitraum von 1990 bis 1996 eine Summe von 115 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Unsere oberste Aufgabe war und ist die Schaffung von Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern.Daß unsere Entscheidungen richtig waren und richtig sind, zeigt die Investitionsquote. Sie ist in diesem Jahr so hoch wie nie zuvor. Sie ist auch höher als in den goldenen 50er Jahren des großen Wirtschaftsaufschwunges in den alten Bundesländern. Als Beispiel mag hier die Regelung der Altschulden im Wohnungsbau gelten. Sie hat dazu geführt, daß in diesem Jahr mehr als 100 000 Baugenehmigungen ausgesprochen werden. Das ist die vierfache Anzahl von 1992. Das sind Zahlen, die ihre eigene Sprache haben.Die Investitionsförderung von 20 %, die wir initiiert haben, ist auf Grund Brüsseler Bedenken vor kurzem hier in diesem Hause umstrukturiert worden. Statt dessen gilt für das verarbeitende Gewerbe und das Handwerk mit bis zu 250 Arbeitnehmern eine 10 %ige Förderquote. Das ist das Doppelte der geltenden normalen Fördersätze.Ein besonderes Gewicht fällt dabei auf die Gemeinschaftsaufgabe Ost. Die bisherigen 31 Milliarden DM, die bewilligt wurden, haben zu 850 000 Arbeitsplätzen in den neuen Ländern und zur Ausrüstung von ca. 1 000 Gewerbegebieten geführt.Allein im laufenden Jahr stehen 9 Milliarden DM in einem Bewilligungsrahmen von ca. 14 Milliarden DM zur Verfügung. Um die Größenordnung zu verdeutlichen: Der Haushaltsansatz der alten Bundesländer für die Gemeinschaftsaufgabe beträgt 0,7 Milliarden DM. Das ist ein Bruchteil dessen, was in den neuen Ländern investiert wird.All das, was ich soeben ausgeführt habe, schlägt sich natürlich inzwischen sichtbar in den neuen Bundesländern nieder. So lagen die Aufträge im Bereich des verarbeitenden Gewerbes um 25 % über dem Vorjahresstand. Die Inlandsbestellungen stiegen um 34 %.Dies beweist, daß der von uns beschrittene Weg für viele Bürgerinnen und Bürger zwar nicht der einfachste und auch nicht ohne Probleme, aber insgesamt gesehen der richtige war. Das wird immer offenbarer, wie es nicht zuletzt unsere Wahlergebnisse vor eineinhalb Wochen jedem gezeigt haben. Die zornige Abwehr, Herr Thierse, die Sie vorhin beschrieben haben, hat dazu geführt, daß bei mir im Landkreis Erfurt 45 % der Stimmen auf die CDU entfielen; so zornig ist die Abwehr.Vielen Dank.
Nun hat Herr Abgeordneter Rudolf Krause das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wirtschaftsentwicklung in Mitteldeutschland beträgt wirklich 7 % bis 9 %. Aber wovon? Andererseits lesen wir, daß wir eine industrielle Produktion von 28 % des EG-Durchschnitts haben. Das heißt, wir haben nicht einmal 2,1 % Wachstum im Vergleich zum EG-Durchschnitt. Das bedeutet, daß wir nach 50 Jahren den Durchschnitt des gegenwärtigen Stands erreicht hätten. Das muß dazugesagt werden, wenn man von Prozenten spricht.Einiges blüht in Mitteldeutschland; das sehen wir. Es blüht der Handel. Es blühen Banken, Tankstellen, Verwaltungen, und es blüht vor allem das Unkraut auf 80 % der ungenutzten Flächen neuer Gewerbegebiete.
Die Handelsbilanz der neuen Länder als Wirtschaftsregion ist katastrophal. Nur 2 % der Exporte Deutschlands kommen aus den neuen Ländern. Das ist nur ein Bruchteil dessen, was die DDR einmal exportiert hat.
— Ich habe mir einen Volkswagen, teuren Volkswagen, aus deutscher Produktion gekauft, weil bei Volkswagen die meisten Altmärker arbeiten.Es bleibt ein Tabuthema, daß die Mehrheit der Westdeutschen für die Zerstörung der mitteldeutschen Industrie zahlt und der Handel, vor allem der internationale Handel, daran verdient. Es gibt heute in der Bevölkerung soziale Notlagen, die es so in der DDR nicht gegeben hat.Ich will nur zwei Beispiele nennen. Es stehen Kraftfahrzeuge still, weil die Besitzer die Reparaturen nicht bezahlen können. Das hat es früher nicht gegeben.
— Bezahlen konnte die Reparaturen jeder. — Es stehen Fahrzeuge herum, die nicht verkauft werden können, weil sie einen Marktwert von 2 000 DM haben, aber noch 7 000 DM oder 11 000 DM an Banken abzuzahlen sind. Der Besitzer kann sein Auto nicht verkaufen, weil er noch ein Mehrfaches des Wertes abbezahlen muß.Die Soziallast des arbeitslosen Mitteldeutschlands belastet gemeinsam mit der Masseneinwanderung neuer Arbeitsloser den Standort Deutschland. Die deutsche Wirtschaft entwickelt sich quasi im Selbstlauf in dreierlei Richtungen, wenn die Freihandelspolitik bleibt.Erstens. Was importiert werden kann, wird im Ausland produziert und eingeführt werden. Die heute verabschiedeten Assoziierungsverträge der EU mit osteuropäischen Ländern werden zu weiterer Arbeitslosigkeit führen.Zweitens. Hochtechnologie wird exportfähig bleiben. Aber sie schafft im Inland wenige Arbeitsplätze
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Dr. Rudolf Karl Krause
und wenige Sozialabgaben. Auf der anderen Seite wird importiert werden, ohne daß eine Sozialpflicht der Importeure besteht, so daß die Hochtechnologie das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen wird.Drittens. Kommerzielle Dienstleistungen werden immer mehr auf einen hochqualifizierten grauen Arbeitsmarkt verlagert.Ich habe in der letzten Zeit mit vielen hundert Arbeitslosen gesprochen. Wir waren ja verpflichtet, Unterschriften zu sammeln. Das war sehr gut. Die einen resignieren und geben sich der Illusion hin, daß in unserem Hochlohnland, möglichst vor ihrer Haustür, irgendwann irgendein Arbeitsplatz entsteht. Daran wird begierig geglaubt. An diesen Mantel der Geschichte und seinen Träger klammern sich in der Tat 20 % der wahlberechtigten Bevölkerung z. B. in Sachsen-Anhalt.Aber andere gehen weiter. Sie haben begriffen, daß sie selbst etwas tun müssen. Was können sie tun? — Es kommt zu einer kollektiven Selbstversorgung auf Gegenseitigkeit am kommerziellen Markt vorbei: Man schlachtet wieder selbst, die Dienstleistungen werden gegenseitig erbracht, Baubetriebe bleiben außen vor, die Gastronomie macht pleite. Warum?Man kann den rechtschaffenden, fleißigen, anständigen und treusorgenden Familienvater und seine fleißigen Angehörigen nicht zu lebenslanger Untätigkeit verurteilen. Er wird sich — das zeigt sich gerade bei uns in der fleißigen Altmark — Arbeit suchen, und Arbeit ist genug da. Das Millionenheer der Ausgegrenzten wird sich untereinander wieder Arbeit geben. Was nationalökonomisch erforderlich ist und nicht passiert, das wird sich in einer kollektiven Selbstversorgung durchsetzen.
Herr Abgeordneter, würden Sie bitte zum Ende kommen.
Ich bin am Schluß. — Das ist kein Ausweg für unsere nationale Volkswirtschaft. Dieser Gruppenprotektionismus — wir geben uns Arbeit auf Gegenseitigkeit — ist eine Notlösung, an der der Sozialstaat aber zugrunde gehen kann.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster hat der Kollege Ulrich Klinkert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der Rede von Herrn Krause kann man eigentlich nur hoffen, daß dem künftigen Bundestag keine radikalen Parteien mehr angehören werden.
Meine Damen und Herren, es ist ein legitimes Mittel jeder Opposition, durch parlamentarische Anträge die Regierung auf vermeintliche oder tatsächliche Fehleraufmerksam zu machen und, wenn vorhanden, eigene Ideen einzubringen. Aber solche Anträge wie der heute zur Abstimmung stehende SPD-Antrag: „ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit", die nur davon leben, daß sie fein säuberlich die laufenden Aktivitäten der Bundesregierung abschreiben und eventuell noch mit etwas illusionistischem Wunschdenken garnieren, zeigen, daß a) entweder die Regierungsarbeit nicht besser gemacht werden kann oder b) die Opposition einfallslos ist oder c) beides, a und b, zusammentrifft.Die Umweltpolitik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern hatte von Anfang an klar umrissene Ziele. Dazu gehörte erstens, die Emissionen zu reduzieren und damit die Umweltverschmutzung einzuschränken, zweitens, die Altlasten zu beseitigen, drittens, eine Infrastruktur aufzubauen, des weiteren, die vorhandene Industrie, soweit das noch machbar war, ökologisch nachzurüsten und — als Wichtigstes — durch Umweltschutz neue Arbeitsplätze zu schaffen.Zu dem traurigen Erbe von der SED, bei der angeblich der Mensch immer im Mittelpunkt des Handelns stand, gehört, daß nur 3 % der Wasserläufe und 1 % der stehenden Gewässer ökologisch intakt waren, daß nur 36 % der Einwohner an eine biologische Kläranlage angeschlossen waren — im Westen sind es 90 % —, daß 60 bis 70 % aller Abwasserkanäle erhebliche Schäden aufweisen, daß auf Grund fehlender Rückhalteeinrichtungen jährlich 5 bis 6 Millionen t Schwefeldioxid und 2,2 Millionen t Staub ausgestoßen wurden, daß die Wirkungsgrade ostdeutscher Kraftwerke um 10 % niedriger lagen als die der westdeutschen, daß von 11 000 Hausmülldeponien nur 120 den Status einer geordneten Deponie hatten — und so weiter, und so weiter.Die SED ist nicht nur mit der Umwelt verantwortungslos umgegangen, sondern auch mit der Wirtschaft. Sie hat eine auf Jahre, teilweise Jahrzehnte veraltete Industrie hinterlassen.Da Herr Gysi heute hier — er ist leider nicht mehr da — den Vergleich mit Osteuropa anstrebt und dies als möglichen Weg für die DDR-Wirtschaft aufgezeigt hat, hätte ich ihn gerne gefragt, ob er am 1. Juli 1990 als Zahlungsmittel der DDR lieber den Rubel als die D-Mark eingeführt hätte.
Eine der ersten Aufgaben der Bundesregierung nach der Einheit Deutschlands war die ökologische Sanierung zum einen durch die Altlastenbeseitigung, zum anderen durch die Schaffung von Infrastruktur als Voraussetzung für neue, moderne Industriezweige, gleichzeitig aber auch als eine der Möglichkeiten für sinnvolle Beschäftigung von motivierten und qualifizierten Menschen.Die von der Bundesregierung ins Leben gerufene und maßgeblich finanzierte Altlastenbeseitigung ist bereits Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit. 17 000 Menschen in der Braunkohlensanierung, 15 000 in der Chemiesanierung, 12 000 bei Stahl und Elektro, weitere 1 000 in der Wismut haben dazu geführt, daß Bund und Länder insgesamt mehr als 30 Milliarden DM in einem Zeitraum von ca. fünf
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Ulrich KlinkertJahren für die ökologische Altlastensanierung zur Verfügung stellen. Diese gewaltige Finanzleistung, meine Damen und Herren, ist ein Ausdruck von Solidarität der westdeutschen Steuerzahler auch für das, was in den neuen Bundesländern passiert. Für diese einmalige historische Leistung gebührt ihnen ausdrücklicher Dank.Die Altlastenbeseitigung ist nicht die einzige Voraussetzung, eine moderne Wirtschaft aufzubauen. Mindestens genauso wichtig ist die Schaffung von Infrastruktur. Schienen, Straßen, Telefon sind einige davon. Aber auch die Wasserver- und die Abwasserentsorgung müssen in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft werden. Rund 200 Milliarden DM werden in zehn Jahren erforderlich sein, um Menschen und Natur intakte Wasserläufe und infrastrukturelle Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen. Das ist ein Ergebnis dessen, daß die SED dafür gesorgt hatte, daß die nunmehrigen neuen Bundesländer ökologisch hinter dem Mond gelebt haben.Diese gewaltige Aufgabe wird ohne das Beschreiten auch im Westen bisher unbekannter Wege nicht zu lösen sein. Notwendig ist hier vor allem die Mobilisierung privaten Kapitals, damit darauf basierend unkonventionelle und kostensparende Ideen entwikkelt werden können.Die Kommunen der neuen Bundesländer dürfen einige Fehler westdeutscher Kommunen nicht wiederholen, daß beispielsweise die Verwaltungsgebäude der Kläranlagen nach dem Rathaus einer Kommune unbedingt zu den protzigsten Gebäuden gehören müssen.Neben Kläranlagen werden weitere Anlagen, z. B. Müllverbrennungs- und Recyclinganlagen, aufgebaut werden müssen. All dies schafft bereits in der Phase des Baus Arbeitsplätze. Ich möchte an Tausende Arbeitsplätze erinnern, die beim Aufbau von ökologisch besseren Braunkohlenkraftwerken entstehen.Das hier angesprochene Wachstum von 6 % bis 8 % jährlich ist ein Zeichen von Optimismus in den neuen Bundesländern.
Herr Kollege, würden Sie bitte zum Ende kommen. Die Lampe blinkt, weil Ihre Redezeit bereits überschritten ist.
Frau Präsidentin, ich danke für den Hinweis. Ich war bereits beim Schlußsatz.
Ein weiteres Zeichen für den Optimismus ist der beginnende Boom des Baus privater Wohnungen. Die Menschen in den neuen Bundesländern wissen, daß es sich auch wegen einer inzwischen zunehmend intakt werdenden Umwelt lohnt, in den neuen Bundesländern zu bleiben.
Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fünf Jahre nach der wirtschaftlichen Wiedervereinigung muß man sagen: Die wirtschaftliche und in der Folge auch die soziale Lage im Osten Deutschlands sind völlig verfahren. Schuld daran ist sicherlich auch die konzeptionell fehlangelegte und erstaunlich dilettantische Wirtschaftspolitik der Führung der früheren DDR. Schuld daran ist aber vor allem die plan- und konzeptionslose Politik dieser Bundesregierung bei der Überleitung der maroden DDR-Wirtschaft auf die harten Bedingungen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs.Dabei ist dennoch anzuerkennen, daß riesige Transfers von West nach Ost geleistet wurden und weiterhin geleistet werden. Inzwischen sind das weit über 500 Milliarden DM, weit über eine halbe Billion DM, die aus dem Westen in den Osten geflossen sind. Jeder Einwohner aus dem Westen hat in den letzten fünf Jahren mehr als 10 000 DM für die wirtschaftliche Entwicklung im Osten zur Verfügung gestellt — trotz riesiger und weiter wachsender sozialer Probleme auch im Westen.Nicht ganz unschuldig an der Misere im Osten ist aber auch die Bevölkerung dort selbst. Immerhin hat sie am 18. März 1990 und dann am 2. Dezember 1990 zum Sieg der herrschenden Koalition entscheidend beigetragen, vor allem wohl aus Unkenntnis und mangelnder Vertrautheit mit unserem politischen System. Sie hat damit z. B. für den Einigungsvertrag die klassische Konstellation des Selbstkontrahierens geschaffen: Auf beiden Seiten saß dieselbe Partei. Zum Dank dafür ist sie von den hier herrschenden Kräften erbarmungslos zwischen die Räder des marktwirtschaftlichen Getriebes gestoßen worden. Dort ist sie noch, und dort wird sie sich wohl auch in Zukunft befinden.Der entscheidende ökonomische Grund für die Misere im Osten sind die Überkapazitäten im Westen, ist die hochpotente, hochmoderne und entsprechend erfolgreiche und durchsetzungsfähige Ökonomie im Westen. Die Wiedervereinigung kam zunächst wie gerufen, um die seit den 70er Jahren in allen Wirtschaftszweigen bestehenden Überkapazitäten im Westen vorübergehend halbwegs vernünftig auszulasten. Wie immer im marktwirtschaftlichen Prozeß führte das jedoch schnell zu einem erheblichen zusätzlichen Kapazitätsaufbau.Ein paar harte Zahlen, an denen man nicht vorbeigehen kann: 1990 stiegen die Ausrüstungsinvestitionen um 14,5 %; sie stiegen im ersten Quartal 1991 um 17,4 %, im zweiten Quartal um 18 %, im dritten Quartal um 13,5 %; investiert wurde allein im Westen. Das waren die höchsten Wachstumsraten der Ausrüstungsinvestitionen seit den stürmischen Boomjahren 1969 bis 1972.Die Folge: Die Bundesrepublik ging mit erheblichen zusätzlichen modernen und entsprechend kostspieligen Kapazitäten in den größten konjunkturellen Abschwung in der Nachkriegszeit überhaupt, der wiederum nach fast zehn Jahren ununterbrochenen Wachstums mit Wucht kommen mußte. Das wußte eigentlich auch jeder.Angesichts dieser Entwicklung verwundert es dann nicht, daß die Wirtschaft im Osten kaum investiert. Sie
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Dr. Ulrich Briefshat ja die hochmodernen, inzwischen wieder hochgradig unterausgelasteten Kapazitäten im Westen. Das erklärt auch, warum der Staat, d. h. wir alle, im Osten die Hauptlast des Aufbaus trägt. Doch der Staat kann keine Fabriken bauen. Die nüchterne ökonomische Analyse muß zu der Schlußfolgerung führen, daß es bei der Misere im Osten bleibt, wenn nicht endlich — darum geht es — in das Investitionsverhalten der Wirtschaft intelligent steuernd eingegriffen wird. Das heißt z. B. eine konzertierte Aufbauaktion im Osten mit Unternehmern, Gewerkschaften, Staat, Verbraucher- und Umweltverbänden, Wissenschaft, Arbeitslosenverband und vielen anderen berechtigten und berufenen Interessen. Eine solche konzertierte Aktion Aufbau Ost heißt, verbindliche Verpflichtungserklärungen der Wirtschaft abzuverlangen, heißt Zurverfügungstellung von Prämien und Anreizen für Investitionen im mittelkapitalintensiven Bereich, heißt Sanktionen — es ist richtig, was BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in ihrem Gesetzentwurf hier vorschlagen — ins Auge fassen, heißt Umlenkung von Finanzströmen, heißt z. B. die Umlenkung von zumindest kleineren Teilen der riesigen vagabundierenden Kapitalien in den Kassen der Unternehmen, heißt insbesondere auch z. B. Auflagen zur Standortvergabe.Der Gesetzentwurf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN packt das Problem nach meiner Auffassung im Prinzip richtig an. Wäre es aber vielleicht nicht doch besser, das im Rahmen einer politischen Institution als politischen Prozeß zu organisieren statt im Rahmen eines punktuellen abstrakten Gesetzes? Darin scheint mir ein bißchen das Problem zu liegen. Dazu muß man ein bißchen mehr tun, als schlicht und einfach nur ein paar Gesetzesformulierungen zu entwickeln und vorzuschlagen.Ansätze für eine derartige intelligent steuernde Industriepolitik sind übrigens bereits vielfach da. Es fehlt der politische Wille, sie so zu ergänzen und zu nutzen, daß sie den Menschen im Osten wirklich zugute kommen.Ein besonderes Kapitel ist das Wirken der Treuhandanstalt. Die Folgen ihrer weitgehend verfehlten Politik werden die Bedingungen im neuen Deutschland wohl noch auf Jahrzehnte bestimmen, mit verheerenden politischen Folgen nach innen und nach außen. Auch um damit besser umgehen zu können, sind wirksame demokratische industriepolitische Konzepte im Osten unerläßlich. Sie sind im Grunde auch im Westen schon seit langem erforderlich. — Frau Präsidentin, ich komme zum Schluß.Dagegen hilft es nicht — das sage ich ausdrücklich im Hinblick auf die augenblickliche Stimmung und Situation in den östlichen Bundesländern -, wenn auf der einen Seite der Vorsitzende der PDS auf dem Parteitag sagt: „Wir werden den großen Lauschangriff auf die Treuhandanstalt machen", und zugleich im Haushaltsausschuß und im Unterausschuß Treuhandanstalt der Vertreter der PDS nie auch nur eine einzige Minute da war, wenn es darum ging, die Vertreter der Treuhandanstalt in die Mangel zu nehmen. Das ist eine durch und durch unsolide, unzuverlässige Politik. Das ist auch — das finde ich besondersschlimm daran — ein Beispiel für linken Populismus. So etwas hilft nicht; so etwas schadet nur.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Dr. Hermann Pohler das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den neuen Ländern sind die persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der 40jährigen SED-Herrschaft nach wie vor sehr groß. Wir wissen heute, daß die Beseitigung der Erblasten länger dauern wird als erwartet. Die ruinierten Stadtbilder, das veraltete Telephon- und Verkehrsnetz, die Umweltzerstörungen größten Ausmaßes und die zerrüttete Wirtschaft sind Hinterlassenschaften des SED-Regimes, an deren Beseitigung mit Erfolg gearbeitet wird. Es sind massive finanzielle Hilfen und sehr viel persönlicher Einsatz vor allem auch von den Menschen vor Ort in den Kommunen und in der Landespolitik geleistet worden. Natürlich sind auch Fehler gemacht worden, Fehler, die auf Fehleinschätzungen wirtschaftlicher Daten beruhten, weil Daten von der DDR entweder gefälscht oder geheimgehalten wurden.Heute wissen wir, wie grotesk es war, noch im Oktober 1990 von einem Industrievermögen von 600 Milliarden DM auszugehen. Auch das Wegbrechen der Ostmärkte in diesem Umfang hat wohl niemand vorausgesehen. Das Ende der Sowjetunion kam überraschend schnell. Schließlich wurden deshalb Fehler gemacht, weil es für die Bewältigung der historischen Aufgaben der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse weder erprobte Rezepte noch Vorbilder gab.Trotz aller Schwierigkeiten haben wir viel auf den Weg gebracht. Auch die SPD kann sich doch nicht dem Faktum verschließen, daß die vollständige Umstrukturierung der Volkswirtschaft in den neuen Ländern den Grundstein dafür gelegt hat, daß die jungen Bundesländer heute die wachstumsstärksten Regionen in Europa sind. Die Regierungskoalition ist sich von Anfang an der Schwere der Umbruchsituation in den neuen Ländern bewußt gewesen. Es ist ebenfalls richtig, daß im industriellen Bereich in den jungen Bundesländern noch viel bewegt werden muß. Anders als die SPD gingen wir in der Regierungskoalition aber davon aus, daß eine dauerhafte Sicherung von Industriestandorten nur auf der Basis marktwirtschaftlich orientierter Politik erfolgen kann. Wettbewerbsfähige Arbeitsplätze können auf Dauer nur durch private Investoren und durch ein hohes Interesse, aber auch ein hohes eigenes Risiko getragen und gesichert werden.Mit dem Konzept der Sicherung und Erneuerung industrieller Kerne wurden Akzente für mehr Sanierung durch die Treuhandanstalt gesetzt und der hierfür maßgebliche Finanzansatz der Treuhandanstalt aufgestockt. So ist in diesem Jahr vorgesehen, die Ausgaben für diesen Bereich noch einmal um ca. 7 Milliarden DM auf 34 Milliarden DM zu steigern.
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Dr. Hermann PohlerSelbstverständlich ist auch mir bewußt, daß der massive Arbeitsplatzverlust vor allem im industriellen Bereich für alle Betroffenen sehr schmerzhaft ist.
Unsere ganzen Bemühungen gelten daher der Schaffung sicherer, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Dieses Ziel kann aber nicht mit dauerhaft subventionierten Unternehmen erreicht werden. Daher haben wir die Weichen für die Entwicklung einer gesunden Marktwirtschaft gestellt. Wir können durchaus feststellen: Der Arbeitsmarkt beginnt sich zu stabilisieren und läßt einen positiven Trend erkennen.
— Ich habe gesagt: Er läßt einen Trend erkennen. Sicherlich muß man einen Anfang machen. Es ist in meinen Augen zumindest ein Lichtblick, wenn die Abwärtsbewegung in diese Richtung zu Ende ist.
Es gibt also keinen Grund zur Miesmacherei oder zum dauernden Gejammere, Gemeinsames kaputtzureden. Aktuelles Beispiel ist das Chemiedreieck in Sachsen-Anhalt, das in seinem wettbewerbsfähigen Kern erhalten bleiben kann und eine neue Zukunft erhält. Der Einsatz hat sich gelohnt. Schon jetzt zeigt sich, daß der Beginn des Raffineriebaus in Leuna von fundamentaler Bedeutung für den Aufschwung der gesamten Region sein wird. Auch für den Chemiepark Bitterfeld gibt es gute Perspektiven. Schließlich konnte jetzt auch für den Standort Zeitz eine positive Lösung erreicht werden. Zeitz wird Zentrum für die Verwertung von Kunststoffabfällen; 2 000 Arbeitsplätze können so gesichert werden. Ich bin sicher: Die Probleme im ökonomischen und auch im sozialen Bereich können gemeistert werden.Durch viele Gespräche mit den Menschen vor Ort und auch durch die Erfahrungen, die ich hier in Bonn sammeln konnte, ist mir heute, nach fast vier Jahren Einheit, aber sehr bewußt, wie schwer und wie lang der Weg zur inneren Einheit noch ist. Was wir brauchen, ist der gemeinsame Wille, die Kraft und das Stehvermögen zum einig Vaterland in Frieden, Freiheit und sozialer Sicherheit. Ich bin überzeugt, daß wir dieses Ziel erreichen werden.Recht schönen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen, und zwar zuerst zum Tagesordnungspunkt 2 a. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6854 und 12/7055 — das sind die Materialien zur deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern — an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2 b. Hier liegt mir eine Wortmeldung des Kollegen Lüder nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann dem Regierungsentwurf und der Empfehlung der Koalitionsfraktionen aus dem Rechtsausschuß nicht folgen. Die Empfehlung mißachtet wesentliche Grundsätze des Eigentumsrechts, wie es in Art. 14 des Grundgesetzes verankert ist. Ich weiß, daß ich mich damit in Gegensatz zur Mehrheit meiner Partei auf dem Parteitag in Rostock stelle.Trotzdem, der Entwurf geht einen eigentumspolitisch gefährlichen Weg. Anders als bei den Grundstücksfragen, die im Vermögensgesetz, im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz und im Sachenrechtsbereinigungsgesetz geregelt worden sind, geht es hier ja nicht darum, Folgeentscheidungen zu Enteignungen zu treffen, guten Glauben in Enteignungen oder Zwangsverkäufe aus den Zeiten der beiden deutschen Diktaturen zu schützen und dazu Regelungen zu erarbeiten — nein, hier und jetzt geht es allein um schuldrechtliche Konsequenzen aus der Nutzung bestehengebliebenen, für jedermann sichtbaren fremden Eigentums. Es geht um die Rechte der Grundeigentümer und die Erwartungshaltungen der Nutzer fremden Grundeigentums.Es geht insbesondere um die Datschengrundstücke. Hier war und ist ein Kompromiß angezeigt. Ich kenne die Sorgen der Bürger in Ostdeutschland, aber ich kenne auch die Sorgen derer, die insbesondere im Westteil Berlins auch zu meinen Wählern gehörten.Es geht darum, daß der heute gefundene Weg den Eigentümern ihr Eigentum in meinen Augen für zu lange Zeit vorenthält. Mit anderen Worten: Grundeigentümern, denen die Mauer bis zur Wiedervereinigung den Zutritt zu ihrem Grundstück verwehrte, bleibt noch für zu lange Zeit der Zutritt versperrt. Der Kompromiß, den Erwartungen der ostdeutschen Datschenbesitzer eine angemessene Übergangsfrist zur Nutzung zu geben und trotzdem dem Eigentümer in zumutbarer Zeit wieder Verfügungsbefugnisse über sein Eigentum einzuräumen, ist mißlungen. Hier geht es nicht um Großgrundbesitzer — vielleicht war deswegen hier so wenig davon die Rede —, sondern hier geht es um den Eigentümer der kleine Laube.Mir hat ein Rentner aus Berlin-Mariendorf, Mieter einer Altbauwohnung an einer vielbefahrenen Straße, die Frage vorgelegt:Warum muß ich bis zum Ende meiner Tage auf meinem Wohnungsbalkon sitzen, obwohl ich Eigentümer eines Laubengrundstücks am Müggelsee bin, das mein Vater schon erworben hatte? Warum darf ich nicht Laubenpieper auf meinem Grundstück sein, während der Datschenbesitzer aus Berlin-Mitte, dessen Balkon genauso schön oder schlecht ist wie meiner, auf meinem Grundstück Laubenpieper, Datschenbesitzer bleiben darf?
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Wolfgang LüderIch kann die Frage nicht beantworten, ich füge nur eine weitere Frage hinzu: Können wir wirklich in Anbetracht der Grundwerte unserer Verfassung verantworten, die Konsequenzen der Mauer den Nutzern noch so lange Zeit zukommen zu lassen, wie es der Gesetzentwurf will? Ich meine, nein. Deswegen stimme ich dagegen.
Es liegt eine weitere Erklärung zur Geschäftsordnung nach § 31 vor, und zwar vom Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz.*)Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung schuldrechtlicher Bestimmungen im Beitrittsgebiet auf den Drucksachen 12/7135 und 12/8035 Buchstabe a. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/8036 vor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? —Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf bei Gegenstimmen von der PDS/Linke Liste und einer Enthaltung in zweiter Beratung so angenommen.Wir kommen nun zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Gesetzentwurf mit großer Mehrheit bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen in dritter Beratung angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Schutz der vertraglichen Nutzungen von Erholungsgrundstücken auf Drucksache 12/7229. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8035 unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/7229 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt, und es entfällt nach unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2 c und zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Erhalt und zur Schaffung dauerhaft gebundener kommunaler Mietwohnungen auf Drucksache 12/4932. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt auf Drucksache 12/6599, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/4932 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-*) Anlage 5chen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt, und es entfällt jede weitere Beratung.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2 d und zur Abstimmung über den von der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Investitionshilfegesetzes auf Drucksache 12/6239. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/6891, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6239 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit abgelehnt, und es entfällt jede weitere Beratung.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2 e. Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs eines Gesetzes der Gruppe PDS/Linke Liste zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes auf Drucksache 12/7460 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht damit Einverständnis? — Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2 h. Hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5652 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Es handelt sich um den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Erstattung eines Berichts der Bundesregierung zur Lage der Nation im vereinigten Deutschland und zur Durchsetzung des Einigungsvertrages. Sind Sie mit dieser Vorgehensweise einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2 i und der Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD zur Abwicklung der Kartoffelexporte nach Rumänien auf der Drucksache 12/7022. Wer stimmt für den Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2j. Dieses ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Offenlegung der Grundwasserverseuchung durch die GUS-Standorte auf der Drucksache 12/6337. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/4789 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2 k. Dieses ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem Zukunftsinvestitionsprogramm „ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit" auf der Drucksache 12/6709. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/4293 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer enthält sich der
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20580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate SchmidtStimme? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 21, der Beschlußempfehlung des Ausschusses Treuhandanstalt zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Privatisierungskriminalität auf der Drucksache 12/6917. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/5734 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2m. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Überbrückungs- und Modernisierungsdarlehen für Industrieunternehmen auf der Drucksache 12/6940. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/4680 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2 n und der Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Gruppe PDS/Linke Liste zur teilweisen Erstattung der bei der Währungsumstellung 1990 entstandenen finanziellen Verluste auf der Drucksache 12/6050. Der Haushaltsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7056, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/ Linke Liste auf der Drucksache 12/6050 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit abgelehnt, und es entfällt nach unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2 o und der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zu einem Verfahrensgesetz zu Artikel 44 des Einigungsvertrages auf der Drucksache 12/8009. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4955 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 4 und stimmen über den Antrag der Fraktion der SPD zur Sanierung der radioaktiven Altlasten in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Brandenburg auf der Drucksache 12/8030 ab. Wer stimmt für den Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 5, der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur weiteren Behandlung der Altkredite der LPG-Rechtsnachfolger auf der Drucksache 12/8073. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/7557 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie den Zusatzpunkt 6 auf:3. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes— Drucksachen 12/7600, 12/7650,12/7725 —Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Gres Dr. Andreas von Bülow Arno Schmidt Andrea LedererIngrid Köppeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Gerd Poppe, Werner Schulz , weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVeröffentlichung des Minderheitenvotumsdes 1. Untersuchungsausschusses— Drucksache 12/7743 —ZP6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P.Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes— Drucksache 12/8066 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Besteht darüber Einverständnis? — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen dringend, sich an Ihre Redezeiten zu halten. So wie die Geschäftslage aussieht, werden wir hier noch bis ca. 2 Uhr früh zusammen sein. Ich bitte also wirklich, die Redezeiten zugunsten der nachfolgenden Redner einzuhalten.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Dr. Andreas von Bülow das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich in wenigen Worten einige Bemerkungen aus der Sicht der SPD-Fraktion zum vorliegenden 9,3 Kilo schweren Bericht des Ersten Untersuchungsausschusses machen.Wir Sozialdemokraten haben an dem Abschlußbericht intensiv mitgearbeitet, teilen die dort getroffenen Feststellung en, weichen jedoch im Bewertungsteil von der Mehrheit ab. Dies gilt insbesondere für die Beurteilung des Umgangs mit dem Erbe, das die DDR in Sachen Kommerzielle Koordinierung der Bundesregierung hinterlassen hat.Die Öffentlichkeit hat den Ausschuß nicht selten mit unerfüllbaren Erwartungen begleitet. Doch ein Untersuchungsausschuß kann und soll nicht hinter Gitter bringen, er kann auch nicht Geldern rund um den Globus nachjagen. Dafür sind staatliche Organe
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Dr. Andreas von Bülowaußerhalb des Parlaments da, die sich mit ihren Verantwortlichen für ihre Arbeit gesondert rechtfertigen müssen.Wir haben einen Teil DDR- und bundesrepublikanischer Geschichte aufarbeiten können. Was denn dabei herausgekommen sei, ob sich der Aufwand denn gelohnt habe, fragen die meisten. Sehr viel ist herausgekommen, meine ich. Nur fällt vielen nicht auf, daß die Hauptergebnisse bereits fortwährend durch eine kleine Schar sachkundiger Journalisten veröffentlicht worden sind, die unsere Arbeit und unsere Dokumentationen begleiteten und zum Teil mit wertvollen zusätzlichen Recherchen ergänzten.
Ich nenne hier nur die Themen Müllhandel der DDR, Fleischhandel mit bayerischen Firmen, Waffenhandel allgemein, DKP-Finanzierung, Handel mit COCOM- und Embargogütern, die Stasi-Jagd nach Kunst und Antiquitäten.Das bringt alles nichts mehr, sagen einige. Mag sein. Doch wenn das Thema Schalck-Golodkowski unter den Tisch gekehrt worden wäre, würde eine Eiterbeule weiter schwären und das politische Klima zusätzlich vergiften.
Wir sind uns heute einig, was der Bereich Kommerzielle Koordinierung des Alexander Schalck und seines Stellvertreters Manfred Seidel im System der DDR und des Ost-West-Handels darstellte: eine Sonderabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit im Ministerium für Außenhandel der DDR. Diese KoKo genannte Abteilung war in allen leitenden Funktionen mit Offizieren des MfS im besonderen Einsatz besetzt. Gedanklich aus den Erfahrungen der KGB- und später Stasi-gestützten Schwarzmarkt- und Schmuggelszene der Nachkriegszeit entwickelt, war ihr Ziel die Erwirtschaftung westlicher Hartwährungen, wenn erforderlich, auch mit den schmutzigsten Geschäften, wie es ein Informant des BND zum Ausdruck brachte.Mit dem Geld wurden die Westagenten ebenso wie die Beschaffung westlicher Technik für MfS und NVA bezahlt. Die Auslandstätigkeit der SED wurde finanziert, die DKP und die SEW wurden unterhalten. Für die Größen des Systems und deren Kinder ermöglichte KoKo ein Leben zu westlichen Konsumbedingungen. Das Korrumpieren der Amtsträger reichte von der Siedlung in Wandlitz mit Häusern auch für die Familienangehörigen Günter Mittags bis hin zur Datsche des sowjetischen Botschafters in Ost-Berlin in den Wäldern um Moskau.Der Bereich Kommerzielle Koordinierung zog seine Macht aus der Verschmelzung mafiatypischer Wirtschaftskriminalität mit Methoden eines rechtsungebundenen Geheimdienstes und den Möglichkeiten einer zentralen Kommandowirtschaft. Bei krummen Geschäften galt das Geheimdienstprinzip des „need to know". Es galt, keine schriftlichen Unterlagen zu produzieren. Es fehlte jede zusammenhängende Buchführung und damit auch jede Kontrolle. Bargeld wurde in Millionenbeträgen transportiert. Oft sind auch Quittungen nicht erwünscht gewesen. Außerdem: falsche Warenbezeichnungen, Scheinfirmen, Strohmänner. Nummernkonten rund um den Globus bei über 200 Banken wurden festgestellt, dazu für Geldflüsse ein auf KoKo zugeschnittenes eigenes DDR-Bankensystem.Schalck und dessen Stellvertreter Seidel konnten auf Zuruf jede Grenz- und Zollkontrolle an den Übergangsstellen und in Flughäfen unterbinden. Die staatlichen Transportapparate standen zu Luft, zur See und zu Lande, ebenfalls mit Stasi-Personal wenn notwendig bemannt, jederzeit zu Diensten. Kuriere waren mit Diplomatenpässen ausgestattet, dazu Sondereinheiten des MfS für Transporte von und zu den Grenzen und zur Abschirmung der Umschlaghäfen. Fälschung von Pässen, Frachtdokumenten, Qualitätszertifikaten waren für KoKo kein Thema. Die westlichen Partner wurden nach allen Regeln geheimdienstlicher Kunst abgehört, beschattet und fotografiert. Sonderservice konnte in KoKo zugehörigen Hotels des In- und westlichen Auslands arrangiert werden.Mit einem derartigen Verschnitt von Mafia und Geheimdienst konnte jedes legale, aber auch jedes noch so schmutzige Geschäft bewerkstelligt werden. Die Struktur erlaubte Geld- und Warentransaktionen, ohne verfolgbare Spuren zu hinterlassen.Der Ausschuß hat nur die Spitzen einiger ausgewählter Eisberge aus höchst lückenhaften Aktenbeständen rekonstruieren oder erahnen können. Nicht einer der Beteiligten hat vollständig ausgepackt. Die meisten bis hin zu Frau Schalck-Golodkowski haben von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Von einer Rückführung von Vermögenswerten, wie immer wieder behauptet, kann nur in bezug auf die nicht mehr abzuleugnenden oder wenigen offiziellen Konten des Bereichs KoKo gesprochen werden, nicht jedoch in bezug auf die unzähligen Bargeldbewegungen, die zu keiner Zeit lückenlos erfaßt gewesen sind.Es bleibt hier nicht die Zeit, auf die Geschichte des Müllexports, der Ergaunerung und Verscherbelung von Kunst- und Antiquitätensammlungen, auf Einzelheiten des Schmuggels mit Alkohol, Zigaretten, Textilien, Gold oder Agrarprodukten in die Bundesrepublik Deutschland oder andere EG-Länder oder auf den Verkauf wertvollen Fleisches als Tierfutter oder hochwertigen sowjetischen Rohöls als angeblich minderwertiger Ware an die östlichen Ölgesellschaften näher einzugehen.Um jede Ecke lauert der Verdacht der Manipulation von Preisen und Handelsbedingungen, meist übrigens zu Lasten der DDR-Volkswirtschaft, vielleicht zugunsten der Einnahmen der Staatssicherheit, mit Sicherheit aber auch zugunsten privater Tangenten auf Nummernkonten in der Schweiz und sonstigen Fluchtorten für scheue Geldvermögen.Schalck wuchs zum Staatsmann auf, als ihm die DDR-Führung die Verhandlung um Geldleistungen der Bundesrepublik anvertraute. Er verkaufte unter Ausnutzung der Teilung Deutschlands Häftlinge aus Zuchthäusern ebenso wie die Zugangswege von und nach Berlin und die Hilfsleistung für das Überleben
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20582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Dr. Andreas von Bülowder Kirchen in der sozialistischen Diktatur. Hinzu kam das Abkassieren westlicher Währungen in den Intershop- und Genex-Läden und an den Tankstellen der Intertank, dazu die Zwangsprovisionen im innerdeutschen Handel, die die Ein- und Ausfuhr der DDR künstlich verteuerten. Eine große volkswirtschaftliche Leistung steckte nicht dahinter. Im Gegenteil: Die Blütezeit von KoKo geht zeitlich exakt einher mit dem rasanten Verfall der Leistungs- und Exportfähigkeit der DDR-Volkswirtschaft. Dies war mit Sicherheit kein Zufall.Die Dienste der Bundesrepublik wußten in den 70er Jahren in Umrissen und in den 80er Jahren durch Überläufer recht detailliert über den Bereich Kommerzielle Koordinierung, dessen Eingliederung ins System und dessen personelle Besetzung Bescheid. Daraus allerdings auf eine Steuerung oder auch nur auf die Möglichkeiten der Steuerung des östlichen Systems durch westliche Dienste zu schließen geht mit Sicherheit zu weit.Die Bundesregierung hatte als oberste Priorität der letzten vier Jahrzehnte die Lebensfähigkeit WestBerlins seelisch wie wirtschaftlich zu sichern und die Bindungen unter den Deutschen erhalten zu helfen. Dafür wurden Augen zugedrückt, z. B. bei den Verstößen gegen das Militärregierungsgesetz Nr. 53.Es wäre jedoch eine Illusion, zu glauben, es habe in unserer Macht gestanden, vor dem Auftreten Gorbatschows die Blockgrenzen anzutasten und die DDR aus den innerdeutschen Verhältnissen heraus destabilisieren zu wollen. Für alle auch illegalen Geschäfte fand KoKo Westpartner. Sie beteiligten sich nicht selten an Korruptionshandlungen, zahlten Schweigeprämien halbe-halbe an die Staatssicherheit und an KoKo, hinterzogen mit illegalen Geschäften Steuern und brachten ihre Gewinne auf KoKo zugeordneten Banken. Das gilt auch für den Embargohandel jenes F.D.P.-Kreisvorsitzenden aus dem Rheinischen, der zehn Jahre lang mit seiner Familie nahezu wöchentlich mit einem Campingbus Mikroelektronik nach Ost-Berlin schmuggelte.Auf der anderen Seite muß im Bereich des HighTech- und des Waffenschmuggels jeder vor dem Werfen mit Steinen bedenken, daß hinter jedem Stein potentiell ein oder zwei Leute westlicher Geheimdienste saßen, aber auch handfeste Handelskonkurrenten in Verbindung mit den Geheimdiensten.Der Ausschuß hinterläßt unaufgeklärte Merkwürdigkeiten: Es fehlen die Akten des Kanzleramts zu den Kreditverhandlungen Jenningers, die aus München mit dem von Strauß, März und Schalck verhandelten Kredit gezielt torpediert worden sind. Es fehlen die drei in der Leitungsetage des Innenministeriums abgegebenen und dort regelwidrig nicht registrierten, angeblich rein privaten Briefe Schalcks an Schäuble.Da bleibt mysteriös, wie nach der Vereinigung eine der rechten Hände Schalcks noch anderthalb Jahre in der Treuhand bei der Auflösung von KoKo-Firmen mitwirken kann. Als diese Person dort ausscheiden mußte, fand sie — oh Wunder — bei einem der Liquidatoren von KoKo-Unternehmen Unterschlupf.Ihr Vorgesetzter durfte seinerseits für die Treuhand nach einem Vertrag arbeiten, der jegliche Haftung auch für grobe Fahrlässigkeit ausschloß. Als dieser Vorgesetzte wiederum auf Druck der Berliner Kripo und der Fachbeamten des BMF die Treuhand verläßt, erhält er einen Beratervertrag für werktäglich 2 000 DM.Es werden die für die Beaufsichtigung der Treuhand zuständigen Referenten im Bundesministerium der Finanzen auf Druck der Treuhandchefin abgelöst. Bei der Erarbeitung des Vermögensstatus von KoKo herrscht nach der Vereinigung zunächst blankes Chaos. Die Sachverständigen im BND und im Bundesamt für Verfassungsschutz werden nicht herangezogen. Aus den Akten der Kripo ergeben sich Hohn und Spott über die Ahnungslosigkeit der Vertreter aus Bonn.Die strafrechtliche Aufarbeitung dieses Bereichs stößt sich an wundersamen Hindernissen. Die frei gewählte letzte Volkskammer schafft die DDR-Strafbestimmungen gegen Veruntreuung sozialistischen Eigentums ersatzlos ab und verschafft so den KoKoSeilschaften einen schon strategisch zu nennenden Schutz vor Strafverfolgung. Die Anregung zur Streichung soll angeblich über das Bundesjustizministerium gelaufen sein.Es folgt auf westlicher Seite die Weigerung der neuen Bundesländer, eine Strafverfolgungsbehörde nach Muster der Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts einzuführen.
Herr Kollege, auch wenn man nicht immer auf dieses Lämpchen schaut, bedeutet es doch, daß die Redezeit um ist.
Ich bin gleich fertig.
In Berlin wiederum teilen die Staatsanwaltschaften die Zuständigkeit irrwitzigerweise und angeblich nur aus Gründen des Personalmangels nach Regierungskriminalität und Vereinigungskriminalität ein, als ob nicht die regierungskriminellen Seilschaften der KoKo-Zeit die optimalen Währungsumstellungsbetrüger bei der Einführung der D-Mark gewesen wären.
Die Beispiele wären unendlich fortzuführen. Hier bleibt keine Zeit mehr. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, dem Antrag, der jetzt zur Weiterarbeit des Ausschusses in bezug auf bestimmte Themen, die festgelegt worden sind, interfraktionell vorgelegt worden ist, zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Friedrich Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Unser Kollege Rainer Eppelmann hat in der letzten Woche die Arbeit der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" mit dem Bild einer Hausbe-
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Friedrich Vogel
sichtigung beschrieben. Die Mitglieder der Enquete-Kommission hat er mit einem Suchtrupp verglichen. Ich möchte dieses Bild aufgreifen.Auch der 1. Untersuchungsausschuß „Kommerzielle Koordinierung " hat sich an dieser Hausbesichtigung beteiligt und vor allem einen der besonders repräsentativen Räume als Suchtrupp genauer untersucht. Das Ergebnis liegt Ihnen auf den rund 5 000 Seiten des jetzt vorliegenden Berichts samt Anhang und Anlagen vor. Mit den schon früher veröffentlichten drei Teilberichten schlägt sich die Ausschußarbeit auf rund 8 000 Seiten nieder.Dahinter verbirgt sich ein ungewöhnliches Ausmaß an Arbeit sowohl der Mitglieder des Ausschusses als auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußsekretariates, der Fraktionen und der Gruppen.
Ich möchte mich bei allen als der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses für diese Mitarbeit bedanken.
Ich möchte mich besonders bei meinem Vorgänger im Vorsitz, dem Kollegen Eylmann bedanken. Ich möchte auch besonders den Ausschußsekretär Dr. Heymer, seinen Stellvertreter Hotter und meine Mitarbeiterin Frau Spehr erwähnen. Ohne diese Mitarbeiter würde der Bericht nicht die Übersicht und die Qualität aufweisen, die es mir als dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses erlaubt, zu sagen: Es ist ein guter und ein nachlesenswerter Bericht.
Wenn ich schon beim Danken bin, möchte ich mich auch bei den Vertretern der Bundesregierung bedanken. Ich darf hier ganz besonders den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Grünewald nennen. Ich möchte mich aber auch bei den Mitarbeitern der Nachrichtendienste, der Gauck-Behörde, der Staatsanwaltschaften, all denen bedanken, die uns in sehr mühevoller Arbeit sehr viel Material herbeigeschafft haben, das wir unserer Untersuchung zugrunde legen konnten. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundeskanzleramtes und der Bundesministerien, die unsere Arbeit im Ausschuß in den Sitzungen ständig begleitet haben.Wundern, meine Damen und Herren, kann ich mich nur über Äußerungen vor allem in der publizistischen Berichterstattung, trotz des erheblichen Zeit-, Personal- und Kostenaufwands habe der Untersuchungsausschuß wenig Neues hervorgebracht, was wohl sagen soll, dieser Aufwand habe sich eigentlich gar nicht gelohnt. Ich will dabei nicht an solche hämischen Kommentare etwa nach Art der Bednarzschen arroganten Ignoranz denken; das kann man vergessen. Es gibt andere. Ich kann nur sagen: Wer meint, den Ausschußbericht als mehr oder weniger belanglos abtun zu können, der setzt sich zunächst einmal dem Vorwurf aus, ihn gar nicht gelesen zu haben.
Wer erwartet hat, daß der Ausschuß mit sensationellen Enthüllungen aufwarten würde, hat den Untersuchungsauftrag, den das Plenum des Deutschen Bundestages erteilt hat und der den Rahmen für die Arbeit des Untersuchungsausschusses abgesteckt hat, nicht eigentlich begriffen. Der Auftrag betraf die Aufhellung eines wichtigen Stücks Zeitgeschichte mit den Möglichkeiten, die die Strafprozeßordnung zur Verfügung stellt, und ging nicht dahin, Schalck-Golodkowski oder andere Größen hinter Schloß und Riegel zu bringen. Auch Dr. Schalck-Golodkowski war bei seinen Vernehmungen vor dem Ausschuß Zeuge und nicht Angeklagter, und wie einen Zeugen haben wir ihn auch behandelt.
— Sie sollten sich einmal überlegen, ob der Zwischenruf „Leider!" bei der Bemerkung, die ich gemacht habe, wirklich angebracht ist
oder ob sich dahinter bei Ihnen nicht ein kräftiges Mißverständnis verbirgt.
Das, was Ihnen jetzt vorliegt, ist also kein Sensationsbericht, sondern ein wichtiges und ausführliches zeitgeschichtliches Dokument, das der Ausschuß einmütig, nach bestem Wissen und Gewissen und keineswegs mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und Endgültigkeit vorlegt. Wen dieses Stück Zeitgeschichte interessiert, wird — davon bin ich überzeugt — den Bericht mit Gewinn lesen. Er stellt eine solide und seriöse Beschreibung eines bedeutsamen Teiles des Unrechtsstaats DDR dar. Er zeigt insbesondere auch die Skrupellosigkeit des SED-Herrschaftssystems bei der Verfolgung seiner politischen Ziele deutlich auf.Als Kampfinstrument gegen die Bundesregierung oder etwa als Instrument zu parteipolitischer Profilierung hat sich der Untersuchungsausschuß von seinem Auftrag her nicht geeignet. Es ist wohl einige Male versucht worden, aber gebracht hat es außer einigen Blamagen nichts.Auch der abweichende Bericht eines Ausschußmitglieds, den manche mit unreflektierter Bewunderung bestaunen, gibt bei näherer Betrachtung nicht die Sensation her, die mit der Art und Weise, wie er erstellt und unter die Leute gebracht worden ist, vorgetäuscht werden sollte.
Betrachtet man die Fakten, die dieser Bericht belegt, wird man feststellen, daß alle diese Fakten bereits im Feststellungsteil des einmütig vom Ausschuß verabschiedeten Berichts dargestellt sind.
Das hat die Verfasserin nicht gehindert, sie als Belege für den abenteuerlichen Vorwurf einer Kumpanei von MfS, BND, SED und Bundesregierung zu
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Friedrich Vogel
mißbrauchen. Diese Art der Bewertung ist unseriös, und — was viel wichtiger ist — sie ist ganz und gar unberechtigt.
Einiges möchte ich zum Thema Geheimunterlagen sagen. Zwangsläufig hat der Untersuchungsausschuß Unterlagen beiziehen müssen, die von „VS-vertraulich" bis hin zu „geheim" eingestuft waren. Die Tatsache, daß diese Unterlagen allen Mitgliedern des Ausschusses und den Mitarbeitern der Fraktionen und Gruppen zugänglich gewesen sind, hat in zahlreichen Fällen dazu verleitet, eingestufte Unterlagen durch Indiskretion an die Öffentlichkeit zu spielen. Abgesehen von der Strafbarkeit solchen Verhaltens gefährdet es in unvertretbarem Maße die Zusammenarbeit zwischen dem Parlament und denjenigen Stellen, die über die Einstufungen verfügen.
Vor allem aber wende ich mich dagegen, daß solches Verhalten dann noch als mutig und verantwortungsvoll gewertet wird.
Ein solches Verhalten ist angesichts der rechtsstaatlichen Garantien, die eine Überführung des Täters erschweren oder gar unmöglich machen, nicht mutig, sondern es setzt sich über die für alle allgemein geltenden Regelungen hinweg. Es ist nicht verantwortungsvoll, sondern es zeugt von Unverfrorenheit und Hemmungslosigkeit. Dies möchte ich sehr deutlich sagen.
Das gilt um so mehr, als sich vor allem die Bundesregierung sehr kooperativ gegenüber Bitten des Ausschusses um Herabstufung von eingestuften Unterlagen gezeigt hat, damit diese für den offenen Ausschußbericht verwertet werden können.
Herr Kollege Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?
Ja, bitte, Herr Ullmann.
Sie haben eben schwere Vorwürfe erhoben, Herr Kollege Vogel, haben aber vorher das sehr allgemeine Wort „solches Verhalten" gebraucht. Könnten Sie bitte ganz deutlich sagen, was Sie mit „solches Verhalten" gemeint haben?
Ich meinte das, was ich vorher beschrieben habe, Herr Kollege Ullmann. Jedermann hier im Saal weiß, was damit gemeint ist.
— Sehen Sie, Herr Kollege Schulz, hier wird ja ein Spielchen getrieben,
das diejenigen, die sich damit beschäftigen, sehr leicht durchschauen. Mit diesem Spielchen haben wir uns beschäftigt.
Wenn sich die Verfasserin dieses abweichenden Berichts an das gehalten hätte, was alle miteinander vereinbart hatten, nämlich daß jeder die Unterlagen, die er herabgestuft haben wollte, benennt, dann hätten wir möglicherweise dieses Problem nicht. Aber da sie nun Unterlagen verwendet hat, die in einer großen Zahl von Fällen nicht nur Quellenangaben, sondern auch persönlich Betroffene benennen, hätten wir — wenn das richtig zugegangen wäre und wir die Regeln eingehalten hätten, die wir sonst eingehalten haben — an die hundert Personen die Möglichkeit des rechtlichen Gehörs gewähren müssen. All das ist nicht möglich gewesen.
Sie sollten sich auch als Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einmal damit befassen, daß diese Demokratie dafür, wie Entscheidungen zustande kommen, Verfahrensregeln aufstellt, und daß sie nur funktionieren kann, wenn sich auch jeder an diese Regeln hält.
Meine Damen und Herren, ein letzter Gedanke. Ich halte eine Überarbeitung der Geheimschutzordnung des Bundestages angesichts dessen, was hier vorgegangen ist und was wir ja wiederholt im Ausschuß erlebt haben, für dringend geboten, weil ich fürchte, daß sonst die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und anderen Behörden erheblich erschwert wird. Ich möchte Präsidium und Ältestenrat sehr dringlich auffordern, sich mit dieser Frage einer entsprechenden Änderung der Geheimschutzordnung zu befassen.
Danke sehr.
Nun hat der Kollege Arno Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leider ist ja, wie die Präsenz hier zeigt — ich will es nicht kritisieren, sondern einfach nur konstatieren —, das Interesse der Öffentlichkeit nicht so sehr hoch.
— Ja, das ist richtig.Herr von Bülow, wenn ich eines sagen darf: Ich wußte gar nicht, daß man bei kriminellen Delikten auch die Parteizugehörigkeit benennt. Das kenne ich nämlich von dort, woher ich komme. Aber Sie werden schon wissen, was Sie damit bezweckt haben.Meine Damen und Herren, der heute vorgelegte Bericht ergänzt die bisherigen Teilberichte um die bislang schriftlich noch nicht dargestellten Aktivitäten des Bereichs Kommerzielle Koordinierung. Dazu zählen u. a. der Handel mit Waffen und Kriegsgerät sowie mit Müll, die Devisenerwirtschaftung mittels illegaler Praktiken im innerdeutschen Handel und aus Erbschaftsfällen sowie auch die Geschäfte mit Hilfe von sogenannten Parteifirmen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20585
Arno Schmidt
Für die politische Beurteilung steht fest: Der Bereich KoKo und das Wirken seines Leiters Schalck-Golodkowski waren bei weitem nicht so erfolgreich, wie es uns Schalck-Golodkowski in seinen medienwirksamen Auftritten hat weismachen wollen. Sicherlich war Schalck-Golodkowski der Devisenbeschaffer; doch hat er dies zu volkswirtschaftlich unsinnigen Kosten getan. Es mag sein, daß den Machthabern in der DDR durch das Wirken SchalckGolodkowskis beachtliche Devisensummen zur Verfügung standen. Ich glaube aber nicht, daß Schalck-Golodkowski der eigentliche Buhmann, der eigentliche Verantwortliche für dieses Repressionssystem der SED in der DDR war. Er war ein Rad im System, kein unwichtiges, aber auch kein Antriebsrad. Er trägt Mitverantwortung für dieses System, sowohl in seiner Rolle als Staatssekretär und Leiter des Bereichs KoKo, als auch als Offizier im besonderen Einsatz.
Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Ja, bitte.
Herr Kollege, habe ich recht gehört, daß es Sie im Ausschuß interessiert hat, wie effizient die Arbeit des Verbrechers Schalck-Golodkowski gewesen ist, und nicht, welches Unrecht dieser Mensch mit seinem unsäglichen Imperium angerichtet hat?
Herr Weiß, ich will darauf jetzt nicht weiter eingehen. Ich finde diese Frage auch ein bißchen unsinnig; das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Ich sage: sowohl als auch, wenn Sie das dann befriedigt. Deswegen habe ich da gesessen.
Schalck-Golodkowski trägt Mitverantwortung für die Einrichtung, die Aktivitäten und auch die Ergebnisse des Bereichs KoKo. Damit hat er sich auch zum Gehilfen des Repressionssystems in der DDR gemacht. Er war ein durchaus treuer Diener zweier Herren: von Honecker und auch von Mielke. Vor allen Dingen diese beiden sind es, die die eigentliche politische und moralische Verantwortung für das Tun und Lassen des Bereichs KoKo tragen.Beschuldigungen an die Bundesregierung, sie sei auf Grund ihres Wissens über die Machenschaften des Bereichs KoKo für die Zustände in der alten DDR mitverantwortlich, sind so wohl kaum zutreffend und wohl auch kaum haltbar. Dergleichen Schuldzuweisungen sind wir leider auch vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewöhnt. Frau Köppe hat mit der Vorlage ihres abweichenden Berichtes, in dem sie grob gegen die Geheimschutzvorschriften verstoßen hat, zumindest das Ziel erreicht, eine gehörige Presseaufmerksamkeit zu erreichen.
— Ja, das ist vordergründig für Sie; das glaube ich, Herr Weiß. So haben Sie ja auch Ihre vier Jahre hier bestritten. Etwas anderes kam da nicht heraus.Die Verantwortung — und zwar die volle Verantwortung — für die Schäden, die der Bevölkerung in der DDR durch den Bereich KoKo zugefügt worden sind, liegt allein bei der DDR-Staats- und der SED-Führung.Es ist für mich unverständlich, wenn Sie bundesdeutsche Behörden wie das Bundesamt für Verfassungsschutz oder den Bundesnachrichtendienst — ich sagte das schon einmal — in eine Reihe mit dem MfS, der dortigen Arbeitsgruppe KoKo und anderen diversen Abteilungen stellen. Anders als das Ministerium für Staatssicherheit sind der Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz Behörden eines demokratischen Rechtsstaates. Sie sind eingebettet in die Verwaltungshierarchie, parlamentarisch kontrolliert durch die eigens dafür eingerichteten Gremien des Deutschen Bundestages. Es mag durchaus sein, daß auch im Bereich dieser beiden Behörden Kritik gelegentlich angebracht erscheint. Dafür sind aber die erwähnten parlamentarischen Gremien zuständig.
Es gibt natürlich in der Tat eine Frage, die überlegenswert ist, nämlich warum Hinweisen auf Beteiligung westdeutscher Unternehmen an illegalen Geschäften nicht nachgegangen wurde. Diese Frage ist jedoch — ob man es nun wahrhaben will oder nicht — keine Frage des Untersuchungsausschusses. Im übrigen, meine ich, wären Zweifel an der Kompetenz des BND eher angebracht, wenn der BND nachweislich keine Ahnung von den Aktivitäten des Bereichs KoKo gehabt hätte.Die Wirksamkeit der Kontrolle der Geheimdienste beruht u. a. auch darauf, daß sich auch das Parlament an die selbst gesetzten Regeln hält. Frau Köppe hätte, wie es auch Ihre Kollegin von der PDS getan hat, die Möglichkeit durchaus nutzen können, geheim eingestuftes Material aus ihrem Bericht zu entfernen.
Doch dann, Herr Weiß, hätte die Öffentlichkeit feststellen müssen, daß ihr Bericht im Vergleich zum öffentlichen gemeinsamen Bericht mit der SPD nichts Neues enthält. Aber gerade das wollten Sie wohl nicht.Meine Damen und Herren, der Bereich KoKo war als Kind des in der DDR real existierenden Sozialismus der verzweifelte Versuch, die Schwächen der Wirtschafts- und Finanzsituation der DDR auszugleichen. Die Planwirtschaft des Sozialismus war zur ausreichenden Devisenerwirtschaftung auf den Weltmärkten nicht fähig, weder in der DDR noch sonst irgendwo. Deswegen mußte der Bereich KoKo nach und nach weitgehend aus dem staatlichen Weisungs- und Kontrollsystem der DDR herausgelöst werden. Der Bereich bekam trotz seiner eindeutigen Stellung als Teil des Ministeriums für Außenhandel die Stellung eines Devisenausländers.Politisch wurden der Bereich KoKo und damit auch Schalck-Golodkowski als sein Leiter nicht mehr durch den DDR-Ministerrat, sondern seit Mitte der 70er
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20586 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Arno Schmidt
Jahre durch den ZK-Sekretär und das Politbüromitglied Günter Mittag geführt. Die unmittelbaren Berichtslinien — gerade auch bei den Verhandlungen, die Schalck-Golodkowski mit der Bundesregierung oder mit Politikern im Westen Deutschlands führte — führten direkt zu Honecker, Mittag und Mielke. Hier galt das Primat der Partei, nicht das Wohl der Bevölkerung der DDR. Selbst wirtschaftlicher Sachverstand mußte zurücktreten, wenn es darum ging, Spitzentechnologie im Westen zu beschaffen, koste es, was es wolle.Zu den finstersten Schattenseiten, die das Zerrbild des real existierenden Sozialismus in allen Ostblockländern ausmachten, gehörten ihre jeweiligen Sicherheitsbehörden. Das MfS war das Repressionsinstrument der SED. Ganz im Gegensatz zu den Beteuerungen und Beschönigungen von Schalck-Golodkowski ist auch eindeutig, daß nicht nur sein Bereich KoKo, sondern er selbst Teil dieses Sicherheitssystems war.Golodkowski war nicht nur treuer Genosse der SED, er war auch Offizier im besonderen Einsatz und hatte sich früh aus eigenem Antrieb dem Ministerium für Staatssicherheit verschrieben. Sein Lebenslauf wurde deshalb auch vom Ministerium für Staatssicherheit geschrieben. Seinen beruflichen Werdegang hat er dem MfS und nicht zuletzt Mielke zu verdanken, der als sein Doktorvater an der Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam fungierte.Es grenzt schon an eine Zumutung, wenn er angesichts dieser Vergangenheit dem Bundestag weismachen will, die Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit hätten sich nur auf das formal Notwendige beschränkt, um die erforderlichen Freiheiten für die KoKo-Aktivitäten gegenüber dem Staatssicherheitsdienst zu bekommen.
Ausgehend von der Dissertation seines späteren Leiters Schalck-Golodkowski hat der Bereich KoKo auch eine kriminelle Zielsetzung gehabt. In einem persönlichen Schreiben von Schalck an Hermann Matern vom 29. Dezember 1965 stellt er ausdrücklich die Möglichkeit von Geschäften fest, bei denen es sich — Zitat — „um mehr oder weniger unseriöse Methoden" handele. Vorgeschlagen werden eine Reihe von Operationen wie illegale Warentransporte, Versicherungsbetrug und andere streng geheimzuhaltende Maßnahmen.Wir wissen jetzt, daß es bei diesen Vorschlägen nicht geblieben ist. Die Vorschläge von Schalck sind nach Billigung durch die DDR-Staats- und Parteiführung Wirklichkeit geworden.Sicherlich ist es ein Defizit, daß die strafrechtliche Aufarbeitung dieser Vorgänge bis hin zum illegalen Waffenhandel unter Berührung der Bundesrepublik Deutschland heute Schwierigkeiten macht. Aber die Schwierigkeiten, die wir haben, sind die eines Rechtsstaates. Die Aufklärung ist mühsam. Der Einigungsvertrag schreibt fest, daß eine der Grundregeln bundesdeutschen Strafrechts gilt, die besagt, daß das jeweils mildeste Gesetz anzuwenden ist. Wir wollen und können uns dieser rechtsstaatlichen Beschränkung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR nicht entledigen. Die Rechtsstaatskultur ist zu wichtig, um sie vordergründigen Rachegefühlen oder Rufen nach Wiedergutmachung zu opfern.Auch wenn mittlerweile die gerichtlichen Verfahren gegen Schalck-Golodkowski und seine Helfer im Bereich KoKo anlaufen: Es ist Sache der Gerichte, über Schuld und Unschuld, über Strafe oder Freispruch zu entscheiden. Hier sollten wir uns auch hüten, in der Öffentlichkeit falsche Erwartungen zu wecken oder zu nähren.Gleichwohl können wir nach den Grundsätzen der politischen Moral urteilen. Im iranisch-irakischen Krieg waren sich KoKo und die DDR-Führung nicht zu schade, beide Kriegsgegner mit Waffen zu beliefern.
— Oje, oje, das ist ja wirklich aus der Mottenkiste.
Auch der Waffenhandel mit Terroristen zeigt, daß für westliche Devisen alles wegegeben wurde, auch alle humanitären Grundsätze.KoKo hielt sich nicht nur nicht an die Gesetze anderer Staaten, der Bereich KoKo achtete nicht einmal die eigenen Rechtsvorschriften der DDR. Wir haben dies gesehen bei der planmäßigen Ausbeutung der DDR-Kultur und der DDR-Bevölkerung zur Veräußerung von Kulturgütern und Antiquitäten gegen Devisen in den Westen. Wir haben dies auch beim Häftlingsfreikauf und der Familienzusammenführung gesehen: Menschen wurden verkauft, um das Regime und den Sozialismus in der DDR zu stützen.Nicht nur die betroffenen Menschen in der DDR, auch die Bundesregierung war Opfer einer Devisenbeschaffungspolitik durch Erpressung mit der Unfreiheit der als Geiseln gehaltenen Bevölkerung der DDR. Wie in diesem Bereich haben KoKo-Unternehmen sowie die Finanzorgane der DDR auch beim Kunst- und Antiquitätenhandel Hand in Hand mit der Staatssicherheit gearbeitet. Der Häftlingsfreikauf war auf DDR-Seite vom Ministerium für Staatssicherheit gesteuert.Der Untersuchungsausschuß hat viel Zeit damit verloren, den immer wieder aufgestellten Behauptungen nachzugehen, Schalck-Golodkowski sei nach seinem Übertritt in die Bundesrepublik Deutschland von, wie es so schön hieß, schützenden Händen vor Strafverfolgung und Untersuchungshaft bewahrt worden. All diese Vermutungen und Vorwürfe waren haltlos.Alle Bundesregierungen, selbstverständlich auch die der SPD, haben mehr oder weniger Gespräche mit den Machthabern in der DDR geführt. Damals war ich froh darüber — ich sage das ganz ehrlich —, waren doch meistens menschliche Erleichterungen Ziel solcher Gespräche. Heute unterliegt man in der Bewertung gelegentlich dem Zeitgeist und urteilt entsprechend. Das sollten wir bei der Bewertung nicht vergessen.
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Arno Schmidt
Die Würdigung der Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses in der Öffentlichkeit ist meines Erachtens zu kurz gekommen. Das geringe Interesse in den neuen Bundesländern an der Arbeit des KoKo-Ausschusses mag der dramatischen Umbruchsituation geschuldet sein, in der sich der Großteil der Bevölkerung oder die Bevölkerung überhaupt in den neuen Bundesländern erst zurechtfinden muß.Der Deutsche Bundestag hat noch vor einem Jahr mit der SPD beschlossen, einen Abschlußbericht rechtzeitig vor der Sommerpause zu diskutieren und zu beschließen. Wir wußten alle, daß der Bericht lückenhaft sein würde, auch wegen der fehlenden Akten, um die es in der letzten Zeit ging. Der nun gemeinsam von F.D.P., CDU/CSU und SPD getragene Antrag stellt fest, daß die Arbeit des 1. UA grundsätzlich abgeschlossen ist. Darüber hinaus legt er im einzelnen fest, welchen genau umschriebenen Themen wir auf Wunsch der SPD in den letzten Monaten der Legislaturperiode noch nachgehen werden.Ich halte es jedoch für sehr unwahrscheinlich, daß abschließende Ergebnisse zu diesen Themen zu erwarten sind, zumal die Staatsanwaltschaften nach den Eskapaden von Frau Köppe — leider mit Recht — die mangelnde Geheimhaltung ihrer Verschlußsachen unter dem Dach des Bundestages befürchten müssen und wichtiges Aktenmaterial gesperrt halten, wie beispielsweise im Fall Mondessa.Das Untersuchungsrecht des Deutschen Bundestages ist eines der bedeutendsten Rechte eines Parlaments. Es ist zu wichtig, als daß es für bloßes Wahlkampfspektakel mißbraucht werden sollte.Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Nun hat die Kollegin Andrea Lederer das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Vogel, wenn ich diese Debatte zur Einsetzung des Ausschusses vergleiche, muß ich sagen: Ich freue mich, daß eine relative Ernüchterung — so nenne ich es einmal — in der Bewertung eingetreten ist. Das heißt, daß Sensationen nicht gefordert werden, sondern daß es wirklich ein Bemühen gibt, auf das zu blicken, was wir vorgefunden haben, und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen. Ich kann das nur begrüßen, denn ich glaube, daß das ein sehr großer Mangel zum Teil auch der Medienberichterstattung war.Es überrascht nicht, daß wir ein Minderheitsvotum eingebracht haben. Davon gehe ich aus. Ich will kurz die Feststellungen nennen, die für uns in dem Zusammenhang wichtig gewesen sind, und komme anschließend noch auf einige Dinge zu sprechen, die in den letzten Wochen prägend waren.Der Bereich KoKo ist historischer Ausdruck eines gesamtdeutschen Problems, und zwar des Interessengegensatzes zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland und somit eines Gegensatzes zwischen ökonomischen und politischen Gesellschaftsmodellen. Der Bereich KoKo ist aus ökonomischen Nöten zum Zwecke der Devisenbeschaffung gegründet worden. Das betone ich. Ich komme gleich nocheinmal zu dem so sensationsträchtigen Thema MfS und KoKo.In vielen Punkten verdienen die Aktivitäten und Praktiken des KoKo-Bereichs scharfe Kritik, aus demokratisch-sozialistischer Sicht sogar eine wesentlich schärfere als aus Sicht der Parteien, die beispielsweise die Bundesregierung gestellt haben. Da sind der Waffenhandel an beide Kriegsparteien beispielsweise zu nennen, der Häftlingsfreikauf, die Praktiken im Zusammenhang mit der Kunst und Antiquitäten GmbH, der sogenannte Wandlitz-Luxus, wobei uns dabei weniger die Tiefkühltruheninhalte interessiert haben als die Mentalität der so versorgten Politbüromitglieder.Unsere Kritik muß deshalb schärfer ausfallen, weil die KoKo-Aktivitäten den Widerspruch zwischen sozialistischen — und auch verkündeten — Idealen und der Realität in der DDR mehr als deutlich werden ließen. Wir werfen den politisch Verantwortlichen der DDR deshalb vor allem vor — ausgehend von dem grundsätzlichen Mißverständnis sozialistischer Politik, alles für das Volk zu tun statt mit ihm — den Bürgerinnen und Bürgern der DDR die vorurteilsfreie Kenntnisnahme und die öffentliche Diskussion vor allem der ökonomischen und demokratiepolitischen Schwierigkeiten in der DDR verweigert zu haben.Wir stellen aber auch fest, daß die Bundesrepublik Deutschand von den objektiven Schwächen der DDR und den subjektiven Fehlern ihrer politischen Führung profitiert hat, und zwar politisch wie auch ökonomisch. Wir maßen uns dabei nicht an, festzustellen, ob es objektiv eine Alternative für die DDR im Hinblick auf ihre ökonomische Handlungsfähigkeit gegeben hat.Wir neigen auch zu der Feststellung des Gutachtens der renommierten HWWA, daß im Saldo der Aktivitäten von KoKo für die Volkswirtschaft der DDR ein roter Zahlenbereich zu nennen ist, sozusagen eher ein Schaden entstanden ist als irgend etwas Positives. Das auch zum Thema Effizienz, Herr Kollege Weiß.KoKo hat Geschäfte gemacht, und dazu gehören immer zwei Seiten. Die Durchbrechung von Embargo-Vorschriften wie etwa der legendären COCOM-Liste bedeutete auf der einen Seite, nämlich der der DDR, die Nachfrage nach High-Tech-Gütern, auf der anderen Seite, der der westlichen Firmen, die Bereitschaft, diese Waren auch zu liefern. Zweifellos wurden Embargo-Güter seitens der DDR beschafft.Daß die Frage nach Schuld oder Unschuld dem komplexen deutsch-deutschen Beziehungsgeflecht aber auch nicht annäherend gerecht wird, zeigt sich besonders in diesem Bereich. Die Beschaffung von Embargo-Gütern war in der DDR nicht verboten; das sei hier noch einmal festgestellt. Die restriktive COCOM-Politik hatte u. a. auch den Zweck, die Entwicklung der Wirtschaft in den Warschauer-Vertragsstaaten zu behindern. Es war eine flankierende Maßnahme der NATO-Politik, den Osten durch Rüstungsmaßnahmen ökonomisch unter Druck zu setzen.Berücksichtigt werden muß schließlich auch, daß westliche Firmen bei ihren Geschäften satte Extraprofite in diesem Bereich abschöpfen konnten. So haben
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Andrea Lederersie für die Beschaffung von Embargo-Gütern einen 50prozentigen Aufschlag verlangt. Sie haben sich auch noch darum bemüht, Waren als Embargo-Güter zu verkaufen, um diesen Aufschlag verlangen zu können, die tatsächlich nicht auf der COCOM-Liste standen.Deshalb, denke ich, ist auch in diesem Bereich der Versuch, strafprozessual dieser Problematik gerecht zu werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er wird auch nicht geeignet sein, hier weitere Aufklärung herbeizuführen.
—Ja, Herr Kollege Neumann, das sage ich Ihnen: Weil es sich um klassische teilungsbedingte Blockkonfrontationsdelikte handelt. Da ist meines Erachtens eine sehr viel grundsätzlichere Diskussion darüber, wie man fünf Jahre nach der deutschen Einheit damit umgehen muß, notwendig, als es bislang praktiziert wird. Sie kennen das auch aus anderen Bereichen.Ich komme jetzt zu dem Thema MfS und KoKo, das die Medien vor allem interessierte, das auch die Kollegin Köppe sehr stark in den Vordergrund ihrer Arbeit gestellt hat. Wir bestreiten die These, daß KoKo ein Produkt des MfS war und etwa zu Spionagezwekken gegründet und eingerichtet wurde. KoKo hatte vor allem die Aufgabe, Devisen zu beschaffen. Der Bereich KoKo hatte ökonomische Aufgaben. Daß es eine enge Verflechtung gab, war von Anfang an klar und bekannt. Daß KoKo auch „MfS-Möglichkeiten" — der Kollege von Bülow hat es bereits genannt —genutzt hat, war bekannt, und das schon sehr frühzeitig. Aber es gab eben auch Interessengegensätze zwischen KoKo und dem MfS. Sie fanden z. B. ihren paradoxen Ausdruck in der Gründung der AG BKK, mit der dem MfS einerseits beschränkte Kompetenzen zugebilligt wurden, aber andererseits der Bereich KoKo, insbesondere Schalck-Golodkowski, die Kontrolle über die Aktivitäten von MfS in diesem Bereich behalten wollte und den Einfluß einigermaßen eingrenzen wollte.Es war auch frühzeitig klar, daß westdeutsche Geheimdienste und etwa die Politiker und Politikerinnen, die Verhandlungen geführt haben, über die Verflechtungen mit dem MfS informiert waren. Sie wußten dies und haben trotzdem diese Verhandlungen geführt.Die nun anhaltende Dauersensation unter dem Stichwort Stasi und KoKo ist von dem Bemühen geprägt, in der öffentlichen Diskussion den möglichst schlimmsten Vorwurf zu erheben. Das ist aus meiner Sicht eigentlich a) unnötig, weil es genug Kritikanlässe am Bereich KoKo gibt. Es ist b) der Realität nicht entsprechend, weil KoKo eben nicht eine reine Geheimdienstabteilung war, sondern ein ökonomisches Instrument. Es ist c) auch Ausdruck einer, finde ich, armseligen Reduzierung historischer Vorgänge allein auf die Stasi-Diskussion.Die Beteiligung der westlichen Seite an allen Geschäften KoKos macht die Empörung deshalb etwas unglaubwürdig. Was ich aber an der Kritik von Frau Köppe, die nach mir sprechen wird, gefährlich finde, ist der Vorwurf des angeblichen tatenlosenZusehens diverser Bundesregierungen. Wenn der berechtigte Vorwurf — beide Seiten hatten sich schließlich beteiligt und jeweils den eigenen Vorteil und den Nachteil der anderen Seite gesucht —, in die Richtung verlängert wird, daß die westdeutsche Bundesregierung KoKo den Garaus hätte machen sollen, womöglich dem MfS und der DDR am besten gleich mit, dann frage ich mich, wie das unter den konkreten historischen Bedingungen anders hätte aussehen sollen als mit Methoden des extremen Revanchismus: Stopp jeglicher Verhandlungen? Stopp der SPD-Ostpolitik? Isolation der DDR? Stopp eines Sitzens am gemeinsamen Tisch im KSZE-Prozeß? Stopp von Wirtschaftsbeziehungen? — Ich hätte auf diese Frage einfach gerne eine Antwort. Ich glaube, die Kritik ist berechtigt. Da teile ich vieles. Auf der anderen Seite bin ich aber der Auffassung, daß es gefährlich ist, Schlußfolgerungen in dieser Richtung zu ziehen, weil sie eigentlich anderen nützen, als, glaube ich zu meinen, von Frau Köppe intendiert ist.Ich will zum Schluß kommen. Es hat diverse Versuche gegeben, diesen Ausschuß sicherlich auch parteipolitisch, zu instrumentalisieren. Dazu gehörte z. B. auch, daß zu Beginn die legendenumrankte ModrowRegierung eigentlich ein bißchen mit zu Angeklagten gemacht werden sollte und sich jetzt herausgestellt hat — aktenkundig —, daß diese Regierung mit einer Konsequenz und Eile versucht hat, in diesen wirren Zeiten Fehler und Mißstände zu korrigieren,
wie es, gemessen an vergleichbarer Skandalbewältigung, in der Bundesrepublik Deutschland als beispielhaft gelten kann.
Frau Kollegin, ist es nun Ihr Schluß oder nicht?
Das ist mein letzter Satz, der Schlußsatz.
Ich werde dem Antrag, der hier eingereicht worden ist, fraktionsübergreifend zustimmen, weil auch ich der Meinung bin, daß diese Materialien noch mit untersucht werden sollen. Ich bin allerdings der Meinung, daß wir sehr wohl eine Diskussion darüber führen sollten, erstens inwieweit das Untersuchungsausschußrecht, das wir haben, ausreichend ist, und zweitens, ob es ausreichend und geeignet ist für historische Vorgänge — —
Frau Kollegin, Sie wollten zum Schluß kommen.
Das tue ich gerade, Frau Präsidentin.
Frau Kollegin, Sie sind weit über die Zeit.
Zweitens bin ich der Meinung, daß wir das, was erarbeitet worden ist, nun auch den Historikern, Wissenschaftlern, Ökonomen etc. zur Verfügung stellen sollten. Sie sollten — —
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Ich habe es vorhin ernst gemeint, daß ich bitte, die Redezeiten einzuhalten.
— Wissen Sie, Frau Kollegin, ich achte darauf, in welchem Verhältnis zur ursprünglichen Redezeit die Redezeit überzogen worden ist. Dieses versuche ich einzuhalten. Wenn man überhaupt nicht darauf reagiert und sagt, man kommt zum Ende, und macht immer weiter, dann geht das eben nicht.
Nun hat Frau Kollegin Ingrid Köppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der erste Untersuchungsausschuß hat seinen Auftrag nicht erfüllt. Dabei wäre in den vergangenen drei Jahren ausreichend Zeit für die Beantwortung der Fragen des Untersuchungsauftrages gewesen.
Die Mehrheit im Ausschuß hat jedoch den Auftrag verkürzt und die Offenlegung der Verstrickung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung mit westdeutschen Firmen, Politikern und Geheimdiensten blockiert. Der vorgelegte Bericht der Fraktion ist ein Beleg dafür.
Dabei ist im Untersuchungsausschußauftrag in den Punkten — ich nenne sie noch einmal, weil es immer wieder bestritten wird — II A 2 und 3 und III 2 und 3 und in den Ergänzungen der Koalitionsparteien Punkt 5 ausdrücklich formuliert, der Ausschuß solle auch klären, wer die westlichen Geschäftspartner des Bereiches KoKo waren, welche Kenntnisse die Bundesregierung hatte und welche staatlichen Stellen der Bundesrepublik — dazu zählen auch die Geheimdienste — Kontakte zum Bereich KoKo hatten. Ich habe auch diesen Teil des Untersuchungsauftrages ernst genommen und versucht, gegen den hinhaltenden Widerstand der Regierung und der Fraktion Aufklärung zu leisten.
Für die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN habe ich einen abweichenden Bericht zu diesen Fragen des Untersuchungsauftrages vorgelegt, da sie im Mehrheitsbericht gar nicht oder nur verharmlosend beantwortet werden.
Dieser Bericht, den ich vorgelegt habe, wurde „Geheim" eingestuft und soll es für 30 Jahre bleiben. Nun versucht die Ausschußmehrheit — das wird auch heute hier wieder versucht —, einen völlig falschen Eindruck von meinem Bericht zu vermitteln.
Erstens. Es ist nicht wahr, daß ich Fristen nicht eingehalten hätte. Ich habe den Bericht und die Entstufungsanträge fristgerecht eingereicht.
Zweitens. Weder ist mein Bericht, wie in den letzten Tagen oder wie auch hier wieder behauptet, inhaltlich identisch mit dem Bericht der Mehrheitsfraktion noch
hält er sich nicht an den Untersuchungsauftrag, auch wird in keiner Zeile — ich muß es wiederholen, Herr Kollege Schmidt — meines Berichtes eine Gleichsetzung zwischen MfS und westlichen Diensten vorgenommen. Damit sich die Öffentlichkeit davon selbst überzeugen kann, sollten Sie diesen Bericht entstufen, anstatt zu Propagandazwecken solche Lügen weiter zu verbreiten.
Etliche Akten des Ausschusses sind „Geheim" eingestuft und können daher für die öffentliche Arbeit des Ausschusses nicht verwendet werden. Als Vorwand werden immer wieder angebliche Quellenschutzgründe angeführt. Ich möchte darauf kurz eingehen:
Die BND-Quelle Asbeck, die ab 1981 detaillierte Informationen über KoKo lieferte, ist schon vor fünf Jahren verstorben, seine Aussagen sind aber noch immer eingestuft. Die BND-Quelle Horst Schuster hat sich längst selbst enttarnt. Auch seine Aussagen, z. B. über den Embargo-Handel, sind noch immer eingestuft. Es ist richtig, daß ich diese Aussagen in meinem Bericht verwendet und gleichzeitig die Entstufung dieser Unterlagen beantragt habe.
Geheim sind auch immer noch die Aussagen von Schalck-Golodkowski gegenüber dem BND. Geheim ist z. B. ein Schreiben des Bundesamtes für Verfassungsschutz über die Führung von V-Männern im Bereich KoKo vom 1. Juli 1991. Geheim sind BND-Berichte zu Aktivitäten der KoKo-Firma Intrac aus dem Jahre 1988. Geheim ist ein BND-Bericht zur Tätigkeit der KoKo-Firma Forgber von 1986. Geheim ist ein BND-Bericht zur Abwicklung des Imports von Embargogütern aus westlichen Industriestaaten von 1983.
Geheim sind die Aussagen von hochrangigen MfS-Mitarbeitern, mit denen der BND und das Bundesamt für Verfassungsschutz bereits im Herbst 1989 und im Frühjahr 1990 kooperierten, als wir uns in der DDR bemühten, die Stasi aufzulösen, und die dann das Stasi-Material zu westlichen Diensten gebracht haben.
Frau Kollegin Köppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage? —
Ja.
Bitte, Herr Kollege Neumann.
Frau Kollegin Köppe, was hat Sie eigentlich gehindert, die Herabstufung der eben zitierten Dokumente bereits im letzten Jahr und nicht erst 14 Tage, bevor der Bericht beschlossen werden sollte, zu beantragen?
Lieber Herr Kollege Neumann, Ihre Frage verwundert mich
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Ingrid Köppeein wenig. Vielleicht können Sie sich daran erinnern, daß ich sehr früh z. B. die Herabstufung der Niederschriften des BND zur Befragung von Schalck beantragt habe. Der Ausschuß hat damals zugestimmt. Danach ist dies an die Regierung gegangen. Die Regierung hat gesagt: Nein, wir entstufen nicht. Danach habe ich im Ausschuß beantragt, der Ausschuß möge eine Organklage einreichen. Es war auch Ihre Fraktion, die diesen Antrag nicht unterstützt hat. Es war also vollkommen aussichtslos, weitere Entstufungsanträge zu stellen. Im übrigen habe ich noch andere Entstufungsanträge gestellt. Für den Bericht selbst — das alles gehört noch zur Beantwortung der Frage — habe ich u. a. auch diese Sachen verwandt. Es war mir erst mit der Abfassung meines Berichts möglich, die Entstufungsanträge zu stellen.Sie werden sich auch erinnern, daß der Bericht aus dem Sekretariat, der Bericht der Mehrheit des Ausschusses, Änderungen bis Ende April erfahren hat. Ende April sind mir die letzten Änderungen zugegangen. Mein Abgabetermin war der 6. Mai. Innerhalb dieser sechs Tage habe ich also die Entstufungsanträge — ich gebe gerne zu: etliche — vorbereitet und diese dann am 6. Mai fristgerecht eingereicht.
Lassen Sie mich fortfahren: Geheim ist auch ein Schreiben von Dr. Jung an den Bundeskanzler Helmut Kohl vom 13. März 1990. Bei diesem Schreiben handelt es sich übrigens auch nicht um einen Quellenbericht.Fakten werden — das ist meine Erfahrung in diesem Ausschuß — zu Staatsgeheimnissen erklärt, um vor der Öffentlichkeit das volle Ausmaß der praktischen Unterstützung des Bereiches KoKo durch die Bundesregierung zu verbergen. Was im einzelnen sollen Bürgerinnen und Bürger nicht erfahren?Ich habe in meinem Bericht, u. a. zur Beantwortung der Frage, welcher Firmen sich KoKo im westlichen Ausland bediente, etliche westdeutsche und westeuropäische Firmen genannt, die äußerst aktiv im Anbieten von Embargowaren waren und gegen gesetzliche Regelungen verstießen, um im Handel mit KoKo gut zu verdienen. Diese Firmennamen fehlen übrigens im Mehrheitsbericht.Die Bundesregierung hatte mitunter schon bei der Anbahnung von solchen Geschäften Kenntnis und ist dennoch nicht dagegen vorgegangen. Schalck bestätigte diese Gesetzesverstöße nach seiner Flucht gegenüber dem Bundesnachrichtendienst. Statt die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten, warnte der BND die Firmen selbst und informierte den Kanzler darüber. Auch Herr Kohl blieb untätig und veranlaßte nicht die gebotene Einschaltung der Staatsanwaltschaften. Auch das verschweigt der Mehrheitsbericht.Die Haltung der Bundesregierung zu diesen Gesetzesverstößen ist eine Chronologie des Wegschauens. Die Bundesregierungen Brandt, Schmidt und Kohl waren heimliche Mitwisser dieser Gesetzesverstöße, haben diese konsequent ignoriert und KoKo und die marode DDR handfest begünstigt.
Frau Kollegin Köppe, es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Ja, bitte.
Herr Kollege Hörster.
Frau Köppe, stellen Sie diese These zur Entlastung des MfS für seine Tätigkeit auf, etwa nach den Wünschen, die der ehemalige Mitarbeiter in der Hauptabteilung II, Spionageabwehr, des MfS, der Herr Oberstleutnant Jörg Seidel, im Gespräch mit Ihnen geäußert hat? Oder für wen stellen Sie diese Fragen?
— Sie können ja die Protokolle des Untersuchungsausschusses nachlesen. Da haben wir den Sachverhalt behandelt.
Herr Kollege Hörster, das ist ja alles nicht neu. Ich kenne das, was Sie da vorgebracht haben. Gucken Sie sich die Protokolle an, da werden Sie es fortwährend finden.
Mich erinnert Ihre Haltung immer an etwas, was ich zu DDR-Zeiten erlebt habe. Ich habe in der DDR erfahren: Wenn man nicht bereit war, mit Kritik umzugehen, und sich nicht sachlich mit Kritik auseinandersetzen wollte, hat man angefangen, Personen zu diffamieren.
Dann ist man einfach nicht mehr auf die Sache eingegangen, sondern hat den Betreffenden in irgendeine Ecke gedrängt.
Sie versuchen, weil ich nicht nur Kritik am MfS übe, sondern in diesem Fall auch am BND und am Bundesamt für Verfassungsschutz, mich in irgendeine StasiEcke zu drängen. Das zeigt eigentlich nur Ihr geringes politisches Niveau. Und das ist peinlich, peinlich für Sie.
Zur Frage II.A.3. des Untersuchungsauftrages — —
Frau Kollegin Köppe, Herr Hörster möchte noch eine Zusatzfrage stellen. Dann sollten wir Frau Köppe wieder reden lassen.
Ja, bitte, auch wenn er mir im Ausschuß nicht solche Möglichkeiten eingeräumt hat. Aber ich will Gleiches nicht mit Gleichem vergelten. Bitte.
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Wollen Sie denn bestreiten, daß Sie diese Kontakte gehabt haben? Wie hätten Sie denn den Sachverhalt behandelt, wenn ein Mitglied des Untersuchungsausschusses, das der Koalition angehört, die gleichen Kontakte gehabt hätte?
Lieber Herr Hörster, Sie wissen ganz genau, daß ich solche Kontakte nie bestritten habe. Die Frage ist unsinnig. Sie wissen sehr genau, daß ich, seitdem ich mich mit der Problematik der Auflösung des MfS beschäftige, natürlich auch mit ehemaligen MfS-Mitarbeitern gesprochen und sie insbesondere ermuntert habe, ihre Kenntnisse öffentlich zu machen.
Ich muß heute feststellen, daß sie darauf nicht eingegangen, sondern viel lieber zu westlichen Geheimdiensten gegangen sind und sich dort ihre Kenntnisse haben bezahlen lassen.
Zur Frage II.A.3. des Untersuchungsauftrages: Über welche Wege und mit welchem Volumen erfolgten die Finanzbewegungen des Bereiches KoKo? Im Bereich der SED-Parteifirmen nahmen die Finanzbewegungen sehr erstaunliche Wege. Die Gelder wurden von Kurieren in Ost-Berlin abgeholt und nach Westen zum Verfassungsschutz gebracht, der dort das Geld zählte und fotografierte, bevor er es an die DKP weitergab. So wurden Beauftragte der Bundesregierung zu Mittätern.
Die jeweiligen Bundesregierungen waren bereits seit Anfang der siebziger Jahre über die Ziele, die kriminellen Machenschaften und die MfS-Anbindung des Bereiches KoKo umfassend unterrichtet. Die Beteiligung einer Vielzahl von Agenten der westdeutschen Geheimdienste an diesen ungesetzlichen Handlungen — die Belege dafür finden Sie in den Akten, auch wenn die Akten noch immer „Geheim" eingestuft sind — zeigen, daß die Bundesregierungen über viele Jahre bis 1989 durch ihre Beauftragten Mittäterinnen des Bereiches Kommerzielle Koordinierung waren.
Das sind keine Wertungen, sondern Tatsachen, die sich mit etlichen Akten belegen lassen. Der Vorsitzende des Ausschusses hat gegenüber der Öffentlichkeit erklärt, ich käme in meinem Bericht zu abenteuerlichen Schlußfolgerungen. Richtig ist, daß die vom Ausschuß zu untersuchenden Vorgänge selbst mehr als nur abenteuerlich sind; denn sie zeigen, wie sich kriminelle Energie unter Zuschauen und sogar Mittun von westlichen Regierungsbehörden jahrzehntelang entfalten konnten.
SPD und CDU/CSU sowie F.D.P. haben sich nun auf eine eingeschränkte Weiterarbeit des Ausschusses verständigt. Es sollen noch einige Akten ausgewertet, allerdings keine Zeugen mehr vernommen werden. Ich habe nach den bisher im Ausschuß gemachten Erfahrungen kaum Hoffnung, daß die Ausschußmehrheit ihre Blockadepolitik gegenüber der eigentlich nöligen Aufklärung aufgeben wird. Dennoch werden
wir in der gewohnten Weise weiterhin im Ausschuß mitarbeiten.
Dieser Untersuchungsausschuß ist ein Beleg, ist ein Beispiel dafür, wie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht geführt werden sollte. Statt Parteipolitik und Vertuschung ist endlich eine vollständige Offenlegung sämtlicher Akten und Informationen zum Thema notwendig.
Nun hat der Kollege Hartmut Büttner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit, am Ende der Arbeit des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses "Kommerzielle Koordinierung" könne entweder eine gerichtliche Verurteilung Schalcks oder zumindest eine Aufklärung mutmaßlich versteckter oder verschobener KoKo-Millionen stehen, konnte von uns nicht erfüllt werden. Also eine bedauerliche Nachricht. Eine solche Erwartung an einen Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages war allerdings auch niemals realistisch und konnte nicht Inhalt unserer Arbeit sein.Inhalt der dreijährigen Arbeit war das Zusammenstellen und Bewerten von Informationen über den Bereich KoKo und die Person seines Leiters Alexander Schalck-Golodkowski und nicht das Aufdecken der Quellen des BND, Frau Köppe. Inhalt war auch die Aufklärung der Zusammenarbeit zwischen KoKo und dem Ministerium für Staatssicherheit.Wir konnten eine Fülle von Kontakten des Bereichs KoKo mit Abteilungen des MfS feststellen. Beispielhaft nenne ich die Beschaffung von Embargowaren, die Kontaktanbahnung mit international operierenden Waffenhändlern, auch aus dem Bereich des terroristischen Untergrunds, oder die Bespitzelung von Kunst- und Antiquitätensammlern in der DDR zur Verwertung der Sammlung durch den Bereich KoKo. Ein weiteres Beispiel ist das Zusammenwirken bei der Sonderversorgung der SED-Spitzenfunktionäre in der Waldsiedlung Wandlitz und der MfS-Führungsebene mit Westwaren.Selbstverständlich nutzte auch die Hauptverwaltung Aufklärung den Bereich KoKo und seine Mitarbeiter, um nachrichtendienstlich verwertbare Erkenntnisse zu erhalten. Die Stasi als Schwert und Schild der Staatspartei SED und der Bereich KoKo als national und international operierender Devisenbeschaffer arbeiteten in der Tat in wechselseitigem Nutzen.Sie versuchten, das marode sozialistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Dieses Zusammenspiel von Spitzelsystem und Sandkastenkapitalismus konnte allerdings das Zusammenbrechen der DDR nur hinauszögern. Mir drängt sich dabei das Bild des Herzschrittmachers auf, der das SED-Regime künstlich und leider zum Schaden der Menschen in der DDR noch ein Stück weit am Leben hielt.
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20592 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Hartmut Büttner
Schalck-Golodkowski selbst und eine Vielzahl weiterer Angehöriger des Bereichs Kommerzielle Koordinierung waren auch für das MfS tätig und sicherten diesem seinen beherrschenden Einfluß auf das KoKo-Imperium. Das dürfen wir nicht vergessen. Dieses Zusammenspiel, Frau Lederer, war von Anfang an gewollt und auch so konzipiert. Es ist deutlich gemacht worden, was in Potsdam geschah. Es ist deutlich gemacht worden, daß pikanterweise — es ist fast lächerlich — Doktorvater von Schalck-Golodkowski Stasi-Chef Erich Mielke war.
Es spricht viel dafür, daß Schalck schon seit 1960 als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig war. Parallel zu seiner Bestellung zum Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung erfolgte 1966 jedenfalls seine Ernennung zum Offizier im besonderen Einsatz des MfS — wie wir wissen — im Range eines Oberstleutnants. 1975 stieg er zum Oberst auf, und seine Beförderung zum Generalmajor wurde nur deshalb 1983 zurückgestellt, weil dies die Zustimmung aller Politbüromitglieder und des gesamten Verteidigungsrates erforderte und somit — das war der Grund — die konspirative Zusammenarbeit des OibE SchalckGolodkowski mit dem MfS gefährdet hätte.Der Befehl Nr. 14/83 des MfS unterstellte ihn direkt dem Minister für Staatssicherheit Mielke in allen Fragen der Sicherheit und der Nutzung des Bereichs — wie es hieß — „für die politisch-operative Arbeit des MfS".Wie wenig man sich selbst im Politbüro gegenseitig traute, zeigt der Sachverhalt, daß sogar Mittag und Honecker von bestimmten Informationen SchalckGolodkowskis für Mielke ausgeschlossen wurden. Wie stark KoKo vom MfS durchdrungen war, zeigt das Wirken einer Vielzahl von Offizieren im besonderen Einsatz. Es gab sogar eigens ein Kontroll- und Aufsichtsorgan der Stasi für den Bereich KoKo, die sogenannte Arbeitsgruppe BKK. In ihr arbeiteten zusammen mit Schalck mindestens 16 handverlesene MfS-Mitarbeiter und zusätzlich noch etwa 180 IMs.Alexander Schalck-Golodkowski hat sich selbst in der Öffentlichkeit und in unseren sechs Zeugenanhörungen lediglich als von der Stasi „Geführter" dargestellt. Meine Damen und Herren, das ist ein Märchen. Alexander Schalck-Golodkowski war die entscheidende Führungspersönlichkeit der Stasi im Bereich KoKo. Eine Fülle von Beweisen belegt, daß Schalck mit der Gründung der Arbeitsgruppe BKK quasi seine eigene Hausmacht im MfS initiierte. Wir wissen, daß auch der Einsatz von Stasi-Offizieren über den Bereich der Arbeitsgruppe hinaus nur in Abstimmung mit Schalck erfolgte. Schalck war kein passiv, quasi als Opfer Geführter des MfS, sondern er war ein zum Nachteil der Menschen in der DDR im Hintergrund operierender Täter. Das sollte man in aller Deutlichkeit klarstellen.Der Untersuchungsausschuß legt mit dem heutigen Bericht ein aktualisiertes Organigramm der Verantwortlichkeiten und Beziehungen im Bereich KoKo vor. Die zwischenzeitlich eingegangenen Akten der bundesdeutschen Nachrichtendienste — sie spielten in der Debatte schon eine Rolle — und der GauckBehörde haben ergänzende Erkenntnisse auf diesem Sektor gebracht. Im wesentlichen bestätigen sie die Erkenntnisse, die wir bereits mit dem zweiten Teilbericht erarbeitet haben.Wir können mit Befriedigung feststellen, daß sowohl das Bundesamt für Verfassungsschutz als auch der Bundesnachrichtendienst beizeiten ihre Hausaufgaben gemacht und Informationen über den Bereich KoKo gesammelt haben, die sich auch im nachhinein als stichhaltig erweisen.Wenn dieser Umstand dazu mißbraucht wird, den Eindruck zu erwecken, die Dienste der freiheitlichen Bundesrepublik Deutschland auf eine Stufe mit dem MfS zu stellen, dann halte ich das für unerträglich.
Das ist in der Gesamtdebatte, die wir im Ausschuß in den 180 Sitzungen geführt haben, leider immer wieder geschehen.Die Stasi hat die Diktatur der SED nach außen und innen abgesichert. Sie hat die eigenen Bürger unterdrückt und bespitzelt. Sie hat Terroristen von links und rechts unterstützt, und sie hat sogar gemordet. Da ist es schon etwas unverständlich und ungerecht, wenn ständig der Versuch unternommen wird, eine Organisation, die gerade auch Bürgerrechtler unter ihre Knute bekommen wollte, mit den parlamentarisch kontrollierten, zur Verteidigung von Gewaltenteilung und freiheitlicher Ordnung verpflichteten Nachrichtendiensten der Demokratie gleichzusetzen.Dieser Vorwurf wiegt um so schwerer, als ich meine, daß gerade Sie, Frau Köppe, als Anwältin der Opfer galten. Die Praxis Ihrer Arbeit im Untersuchungsausschuß sah ein bißchen anders aus. Wir haben Sie leider sehr wenig gesehen, als es darum ging, Opfer des SED-Staates zu hören. Sie hatten fadenscheinige Gründe, bei dieser Sitzung nicht dabeizusein.
Im Mittelpunkt Ihres Interesses, liebe Frau Köppe, stand sehr häufig die Frage: Wie forsche ich denn den BND aus? und nicht so sehr die Frage: Wie bringe ich uns in dieser Gesamtfrage weiter?
Der 1. Untersuchungsausschuß war kein Organ zur Ausforschung und Publizierung der Arbeitsmethoden der bundesdeutschen Dienste. Für mich ist klar, daß wir alle gemeinsam ein großes Interesse an der Funktionsfähigkeit unserer Nachrichtendienste haben müssen. Die Achtung vor der Persönlichkeit der Quellen und auch die Sorge um den Erhalt ihrer körperlichen Unversehrtheit sollte uns dabei leiten. Ich möchte diese Gelegenheit ausdrücklich dazu nutzen, den Mitarbeitern der Dienste ein herzliches Wort des Dankes zu sagen.
Dasselbe gilt auch für die Gauck-Behörde.
Herr von Bülow, ich muß ein Wort der Kritik sagen. Ich habe mit Befremden zur Kenntnis nehmen müs-Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20593Hartmut Büttner
sen, daß Sie am 1. Juni 1994 dieser Behörde unterstellt haben, sie täusche den Untersuchungsausschuß und behindere seine Aufklärungsarbeit. Ein entsprechender Artikel liegt uns vor. Für solche Aussagen habe ich deshalb kein Verständnis, weil ich keinen konkreten Beleg gehört habe. Diesen konkreten Beleg sind Sie bisher schuldig geblieben.Ich denke auch, daß diese Äußerungen leider in einem fatalen Zusammenhang mit ähnlichen Aussagen Ihres Parteifreundes und Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe, stehen. Herr Stolpe ging noch ein Stück weiter als Sie und unterstellte der Behörde Heckenschützenmethod en, Rechtsbeugung, Manipulation sowie selektive Aktenübermittlung und benutzte für die Mitarbeiter der Behörde den durch die Stasi besetzten Ausdruck „inoffizielle Mitarbeiter" des Herrn Nooke.Wir haben in der Innenausschußsitzung am 17. Mai diese Unterstellungen gegenüber Herrn Stolpe zurückgewiesen. Wir weisen heute, Herr von Bülow, auch Ihre Äußerungen in gleicher Weise zurück. Denn die Gauck-Behörde leistet eine gewaltige Arbeit. Sie orientiert sich penibel am Stasi-Unterlagen-Gesetz. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stehen die Opfer des SED-Staates. Wir sollten sie durch derartige Anwürfe nicht desavouieren. Man darf nicht den Boten prügeln, wenn einem die Botschaft nicht gefällt.Ich sehe, meine Zeit geht gegen null. In der zur Verfügung stehenden Zeit konnte ich in der Tat nur einige Facetten unserer dreijährigen Arbeit ansprechen. Ich glaube aber, daß wir unserem Auftrag gerecht geworden sind. Wir haben auch den Bereich sogenannter westlicher Geschäftspartner angesprochen.Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben unserem Auftrag Rechnung getragen. Mein wichtigstes Fazit ist, daß wir die Urheber von KoKo und MfS und ihre Nachfolger nicht noch einmal an die Macht kommen lassen dürfen. Wenn wir dazu durch unsere Aufklärungsarbeit einen Beitrag geleistet haben, dann waren diese drei Jahre gut investierte Zeit.Danke schön.
Nun hat der Kollege Dr. Axel Wernitz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die übereinstimmenden Feststellungen, zu denen Union, SPD und F.D.P. gekommen sind, reflektieren die Erfahrung aus der Ausschußarbeit, daß die gestellte Aufgabe nur zu bewältigen war, wenn man sie nicht parteitaktisch, sondern grundsätzlich als gesamtdeutsche Verantwortung begreift. Der Ausschuß bietet mit seiner Dokumentation der interessierten Öffentlichkeit eine gute Möglichkeit, sich kritisch-seriös über wesentliche Aspekte der Zeitgeschichte im geteilten Deutschland zu informieren.Gerade mit wachsendem Abstand zum untergegangenen SED-Regime und angesichts des schwierigen Alltags im Vereinigungsprozeß erweist sich das Aufarbeiten der Vergangenheit als eine Zukunftsinvestition gegen das Nachleben der SED-Vergangenheit imdemokratischen Rechtsstaat und gegen eine verfehlte rosarote DDR-Nostalgie.Meine Damen und Herren, ein bemerkenswertes Ergebnis ist die Erkenntnis, daß der Bereich KoKo keineswegs ein kapitalistisches, hocheffizientes Unternehmen innerhalb einer ineffizienten Planwirtschaft war. Der sogenannte unternehmerische Erfolg Schalcks entsprang seiner spezifischen Stellung im Rahmen der DDR-Planwirtschaft. Er war nur möglich auf Grund einer einzigartigen Macht- und Monopolstellung, wie sie kein Unternehmen in der Marktwirtschaft je gehabt hat. KoKo war eher ein Mittelding zwischen Staatsorgan und Mafia als ein marktwirtschaftliches Unternehmen.
Für diesen Bereich hat Schalck-Golodkowski nicht nur abstrakte, sondern ganz konkrete Verantwortung gehabt.Zu den konkreten Ergebnissen unserer Arbeit gehört, daß der Handel des KoKo-Bereichs mit Kunst und Antiquitäten aus der früheren DDR rechtlich anders bewertet werden muß, als es noch der Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1988 zugrunde lag. Der Ausschuß hat bei seiner Beweiserhebung festgestellt, daß die Kunst und Antiquitäten GmbH im Wege planmäßiger Enteignung von Sammlern für Zwecke des Exports in den Besitz von Kunstgegenständen und Antiquitäten gelangte. Eigentümern steht daher gegen die Neubesitzer ein Herausgabeanspruch zu.Meine Damen und Herren, es ist objektiv unhaltbar — das ist mehrfach schon gesagt worden —, die Tätigkeit westdeutscher Nachrichtendienste, die auf der Grundlage von Rechtsvorschriften erfolgte, in eine Stützung des KoKo-Bereichs umzuinterpretieren. Unvertretbar ist es ebenfalls, MfS und westdeutsche Dienste auf eine gleiche Stufe zu stellen. BfV und BND sind im Gegensatz zum ehemaligen MfS legitime Behörden eines demokratischen Rechtsstaats. Sie haben den Auftrag, auf gesetzlich-rechtlicher Grundlage zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu arbeiten, und unterliegen zum einen der innerexekutiven und zum anderen der parlamentarischen Kontrolle.
Meine Damen und Herren, dem Antrag, den die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/7743 vorgelegt hat, kann die SPD so nicht zustimmen. Allenfalls könnte ein geänderter Antrag, der es der Bundesregierung überläßt, über eine Herabstufung zu entscheiden, unsere Zustimmung finden.Ich begrüße, daß es dem 1. Untersuchungsausschuß doch noch gelungen ist, die von der SPD-Fraktion beantragten Ergänzungspunkte abzuarbeiten. Der 13. Deutsche Bundestag muß dann in eigener Souveränität entscheiden, ob und wie die Untersuchungsarbeit zum Bereich KoKo fortzusetzen ist.Ich bin der Überzeugung, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeit dieses Ausschusses war nützlich. Sie war wichtig, und sie ist
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20594 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Dr. Axel Wernitzauch hilfreich für den Bereich, um den es jetzt in Zukunft geht: einmal die Gerichte und zum anderen auch die ZERV im polizeilichen Bereich.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Joachim Gres das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unser Kollege Axel Wernitz hat eben gerade davon gesprochen, daß die Arbeit des Untersuchungsausschusses dazu geeignet sei, zu verhindern, daß eine neue DDR-Nostalgie entsteht. Ich teile Ihre Meinung und glaube, daß auch Anlaß dazu besteht, wenn man sich erinnert, welche Stellungnahmen zur DDR noch wenige Jahre vor dem Fall der Mauer publiziert worden sind.Ich will mit Genehmigung des Präsidenten aus dem „Spiegel" vom August 1987 einen Teil aus einem mehrseitigen Namensartikel aus Anlaß des 75. Geburtstages Erich Honeckers zitieren, in dem es heißt:Die DDR ist nicht das flüchtige „Phänomen", das einst der Bundeskanzler Kiesinger in ihr zu sehen glaubte. Sie ist unter Erich Honecker ein wirtschaftlich leistungsfähiger, innenpolitisch stabiler und außenpolitisch selbstbewußter Staat geworden, was der Sicherheit in Europa zugute kommt.Der Autor dieser Zeilen, der saarländische Ministerpräsident Lafontaine, hat sich bei seiner Beschreibung gründlich geirrt. Die DDR war weder außenpolitisch selbstbewußt, sondern blieb bis zum Ende ein Satellitenstaat der Sowjetunion. Die DDR war innenpolitisch nicht stabil. Die Bevölkerung war lediglich unter Einsatz von Zwang und Terror ruhiggestellt.
Hierzu hat die Enquete-Kommission unter Rainer Eppelmann am 17. Juni in diesem Hause das Notwendige festgestellt.Schließlich war die DDR schon gar nicht ein wirtschaftlich leistungsfähiger Staat.
Lange vor dem Jahr 1987, als Oskar Lafontaine seinen DDR-nostalgischen Geburtstagsartikel über Erich Honecker im „Spiegel" verfaßte, wußten jedenfalls Mielke, Mittag, Schürer, Schalck-Golodkowski und auch Honecker — wenn er es denn nicht verdrängt hatte —, daß die DDR hoffnungslos überschuldet und der Staatsbankrott unausweichlich war, weil die Schere zwischen Auslandsverschuldung und wirtschaftlicher Leistungskraft der DDR-Wirtschaft immer weiter auseinanderging. Die Entwicklung weltmarktfähiger Produkte war ohne westliche Technologie nicht mehr zu schaffen. Der Abstieg der DDR-Wirtschaft war vorprogrammiert.An all dem hat die Tätigkeit des Bereichs Kommerzielle Koordinierung unter Schalck-Golodkowski letztlich nichts ändern können. Im Gegenteil: ImGrunde war der Freiraum, den die SED-Spitze und das MfS dem Bereich Kommerzielle Koordinierung unter Schalck-Golodkowski in den 70er Jahren und verstärkt in den 80er Jahren zur Devisenbeschaffung um jeden Preis notgedrungen einräumte, die antizipierte Bankrotterklärung der sozialistischen Ideologie bzw. das Eingeständnis, daß das System der Planwirtschaft für einen modernen Industriestaat ungeeignet war.Meine Damen und Herren, der Devisenbeschaffungserfolg von Schalck-Golodkowski — er spricht selbst von rund 50 Milliarden DM, die er für die DDR gesichert haben will — wurde mit einem hohen Preis und, wie ich meine, mit einem viel zu hohen Preis erkauft.Allerdings sind die vielen Milliarden Devisenguthaben, die sich Schalck-Golodkowski und der Bereich Kommerzielle Koordinierung als von ihm erwirtschaftet auf die Fahnen schreiben, nicht durch eine wirtschaftliche Betätigung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung erzielt worden. Rund 14 Milliarden DM bestehen aus Transferleistungen der Bundesrepublik Deutschland, die Schalck zwar ausgehandelt, aber nicht im Bereich Kommerzielle Koordinierung erwirtschaftet hat. Hierzu gehören z. B. die Zahlungen der Bundesrepublik für die Autobahnanbindung Westberlins und die sonstigen Infrastrukturverbesserungen dieser Stadt, dazu gehören aber auch die Freikaufaktionen für politische Häftlinge der DDR. Ich muß das hier nicht wiederholen.Aber auch die von Unternehmen des Bereichs Kommerzielle Koordinierung erwirtschafteten Devisen sind kein Beleg für eine erfolgreiche unternehmerische Tätigkeit von Schalck-Golodkowski. Denn fast die Hälfte dieser Gewinne resultiert aus Geschäften, die nur auf Grund der Zwangslage im geteilten Deutschland und wegen der humanitären Bemühungen der Bundesregierungen möglich waren, und zwar deswegen, weil die DDR praktisch mit ihrer eigenen Bevölkerung als Geisel von der Bundesrepublik Deutschland diese Zahlungen erpreßt hat. Auch das ist hier im einzelnen schon dargestellt worden.Aber selbst dort, wo der Bereich Kommerzielle Koordinierung Gewinne im Rahmen echter wirtschaftlicher Aktivitäten erzielte, beruhten diese Gewinne letztlich auf seiner Monopolstellung innerhalb der DDR. Wenn DDR-Betriebe, die über KoKo Importe durchführten, bereit waren, 10 % Zinsen sowie Kosten- und Gewinnabschläge von 42 % und mehr in Kauf zu nehmen, weil nur über den Bereich KoKo überhaupt die Möglichkeit bestand, Importe außerhalb der schwerfälligen Planbürokratie durchzuführen, so relativiert dies die wirtschaftliche und unternehmerische Leistung Schalck-Golodkowskis erheblich, zumal die volkswirtschaftlichen Folgen derart unsinniger Abschöpfungsmaßnahmen unweigerlich über die Preise oder über Leistungseinschränkungen an die DDR-Bevölkerung weitergegeben werden mußten.Deswegen ist es auch ein Verdienst der Arbeit des Untersuchungsausschusses, für jedermann sichtbar gemacht zu haben, daß der Bereich Kommerzielle Koordinierung eben kein hocheffizientes kapitalistisches Unternehmen innerhalb einer ineffizienten Planwirtschaft war. Der Bereich Kommerzielle Koor-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20595
Joachim Gresdinierung war nicht schlechter, aber auch nicht besser als das vom realen Sozialismus geprägte Wirtschaftssystem der DDR. Schalcks „unternehmerischer Erfolg" war Ausfluß seiner exzeptionellen Stellung im Rahmen der DDR-Planwirtschaft. Der Erfolg beruhte weder auf der besonderen Cleverneß Schalcks noch auf außergewöhnlichen Leistungen seiner Mitarbeiter, sondern auf seiner einzigartigen Macht- und Monopolstellung und seiner unbedingten loyalen Unterordnung unter die SED-Staats- und -Parteiführung.Diese unbedingte Unterordnung von SchalckGolodkowski unter das Herrschaftsmonopol der SED, die unmittelbare Anbindung und Verbindung zum MfS und die weitgehende Autonomie des Bereichs Kommmerzielle Koordinierung — letztlich nur kontrolliert von dem Dreiergespann Honecker, Mielke und Mittag — führten zu einer wechselseitigen Abhängigkeit der obersten Nomenklatura der SED mit Schalck-Golodkowski.Welche Folgen die geradezu osmotische Abhängigkeit der SED-Führungsspitze unter Honecker, Mielke und Mittag einerseits von dem Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski andererseits hatte, zeigt das Beispiel Wohnsiedlung Wandlitz. Aus heutiger Sicht mag die damalige Lebenssituation der Bewohner der Prominentensiedlung Wandlitz eher muffig und kleinbürgerlich erscheinen. Es muß eine geradezu kafkaeske Endzeitstimmung in dieser Prominentensiedlung geherrscht haben, wo sich die Politbüromitglieder, von MfS-Wachmannschaften gleichzeitig beschützt und beobachtet, gegenseitig belauerten und sich gleichzeitig billige Waren aus dem goldenen kapitalistischen Ausland zuschanzten.Aus der damaligen Sicht der DDR-Bevölkerung in ihrem realen sozialistischen Alltag war es jedenfalls ein Skandal, daß das DDR-Regime mit seinen hochtrabenden sozialistischen Redensarten für einen Nomenklatura-Personenkreis von wenigen Menschen jährlich mehrere Millionen DM zusätzliche Devisen aufbrachte, um sie mit allen westlichen Annehmlichkeiten zu versorgen, und zwar vom täglichen Frischobst über Kleidung, High-Tech-Geräte, Medikamente bis hin zu Jagdhäusern und Jagdwagen. Das ging sogar soweit, daß der sonst so allmächtige Staatssekretär Schalck-Golodkowski, Oberst im MfS, persönlich mit seiner Frau und speziellen Beschafferteams für die Spitzenprominenz der DDR in Westberlin Waren zu beschaffen, in neutrale Päckchen einzupacken und ihnen persönlich zukommen zu lassen hatte.Es hilft nichts, daß die Belege und Unterlagen über die Wandlitz-Sonderversorgung auf Veranlassung von Schalck-Golodkowski weitgehend vernichtet worden sind. Das hat zwar die Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses ein wenig erschwert, hat aber gleichzeitig gezeigt, daß sich wenigstens Schalck-Golodkowski über die politische Brisanz und die moralische Anstößigkeit seines Tuns völlig im Klaren war.Meine Damen und Herren, ein Teil der vom Bereich Kommerzielle Koordinierung erwirtschafteten Devisen wurde zur Unterstützung der DKP in der Bundesrepublik Deutschland verwandt. Die DKP war finanziell und ideologisch von der SED vollständig abhängig. Im Grunde war sie ein Filialunternehmen der SED, das sich die SED im wahrsten Sinne des Wortes als ihren Arm in der Bundesrepublik Deutschland gehalten und dafür teuer bezahlt hat.Insgesamt sind in dem Zeitraum von 1981 bis 1989 Zahlungen aus der DDR in Höhe von 526 Millionen DM an die DKP geflossen, die zu keinem Zeitpunkt von den DKP-Funktionären in ihren Rechenschaftsberichten an den Deutschen Bundestag offengelegt worden sind. Diese Unterstützung der DKP wäre ohne den Bereich KoKo nicht möglich gewesen. Gleichzeitig sind diese sinnlos verpulverten Gelder der Volkswirtschaft der DDR entzogen worden. Mit dem Zusammenbruch der DDR ist denn auch innerhalb von wenigen Monaten die DKP fast vollständig von der Bildfläche verschwunden, und der ganze massive Propagandaspuk dieser linksradikalen Splitterpartei hat sich in nichts aufgelöst.In diesem Zusammenhang berührt es allerdings schon bitter, daß die SED unter neuem Namen als reichste Partei im wiedervereinten Deutschland nach wie vor über Mittel verfügt, über die keine andere Partei verfügt und jetzt nur unter anderer Firmierung ihre massive linksradikale Propaganda fortführen kann.
Meine Damen und Herren, da die Redezeit zu Ende ist, lassen Sie mich ein Schlußwort sagen.
Ich begrüße es, daß der Feststellungsteil des Berichts von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gemeinsam getragen wird. Ich begrüße es in diesem Zusammenhang auch, daß damit die Vorwürfe der SPD gegen unseren früheren, viel zu früh verstorbenen Kollegen — wobei die Dinge, die hier besprochen werden, mit eine Rolle gespielt haben - Staatsminister Lutz Stavenhagen, er habe das Parlament belogen, gegenstandslos geworden sind.Ich stelle ferner fest, daß der Untersuchungsausschuß — wie es schon gesagt worden ist — angesichts der komplexen Thematik keine abschließende und vor allem keine alle befriedigende Antwort finden konnte. Ich fürchte, daß auch der Ergänzungsbericht, den wir demnächst vorlegen werden, diese Lücke nicht schließen wird.Es ist jetzt wohl die Stunde der Historiker gekommen. Ich bin aber zuversichtlich, daß wir mit dem Abschlußbericht ein Stück Zeitgeschichte für die nächste Generation gut dokumentiert haben, schon um neuen Legendenbildungen vorzubeugen. Ich wünsche mir, daß insbesondere die Jugend in unserem Land aus dem Bericht lernt, wohin totalitäre Herrschaftsformen führen.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Joachim Hacker.
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20596 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tätigkeit des KoKo- Untersuchungsausschusses ist abgeschlossen. Es stellt sich die Frage: Was hat dieser Untersuchungsausschuß gebracht? Darauf gibt es sicherlich viele Antworten. Für mich sind zwei Komplexfragen von besonderer Bedeutung:
Erstens. Wie war der ökonomische Zustand der DDR, vor allen Dingen in den 80er Jahren und am Ende der DDR, tatsächlich?
Zweitens. Wie wurde die Struktur des KoKo-Imperiums aufgeklärt und gesichert, daß die Profiteure der deutschen Teilung nicht auch die Profiteure der deutschen Vereinigung wurden?
Meine Damen und Herren, den ersten Teil haben wir aufgeklärt. Nur zwei Fakten: 1981 war die DDR vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Auslandsverschuldung stieg in den kritischen Bereich, die Kreditwürdigkeit drohte verlorenzugehen. In dieser Situation fädelte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit ein, der das Überleben der DDR für einige Jahre sicherte.
Ein interner Bericht der SED-Staats- und Parteiführung belegt, daß die Auslandsverschuldung im Oktober 1989 so weit gestiegen war, daß die Zahlungsunfähigkeit nicht mehr abwendbar war. Daraus resultierte die Schlußfolgerung, daß eine Absenkung des Lebensniveaus um bis zu 30 % vorgenommen werden mußte, um die Defizite auszugleichen. Nur unter diesen Bedingungen hätte der Staat DDR ökonomisch weiter existieren können.
Dazu habe ich nur eine Frage: Wer wäre in der damaligen DDR bereit gewesen, dies mitzutragen, vor allen Dingen vor dem Hintergrund des moralischen Zustandes, in dem sich das DDR-System befand?
Diese Frage sollen sich heute vor allen Dingen diejenigen vorlegen, die die Situation in der DDR zu verklären versuchen und eine Welt der sozialen Sicherheit malen. Dies hat es in den letzten Jahren in der DDR tatsächlich nicht gegeben. Es war ein ruinöser Vorgriff auf die Zukunft.
Meine Damen und Herren, ein Blick in die neuen Länder: Im schönen Mecklenburg hat das KoKo-Imperium die größte Mülldeponie Europas errichtet. Die Sicherheit der Deponie stand nur auf dem Papier. An dem Geschäft mit der Deponie verdiente das Hanseatische Baustoffkontor des Müllmaklers Adolf Hilmer. Geringe Brocken fielen auch für die KoKo-Firma Intrac ab.
Nach der Wende stellten sich die Manager des HBK die Frage: Warum noch mit anderen teilen? Im Müllgeschäft vollzog sich der gleiche Prozeß wie im Geschäft mit den Kieslagerstätten in den neuen Ländern. Die bundesdeutschen Konzerne faßten richtig Fuß, Block- und Wendepolitiker waren hilfreich.
Der CDU-Vorsitzende aus DDR-Zeiten in Schwerin, Lothar Moritz, während der DDR-Regierung unter de Maizière Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten, ging in die Hilmer-Holding Aran. Frau Uhlmann, Umweltministerin in Mecklenburg-Vorpommern unter den Ministerpräsidenten Gomolka und Seite, eröffnete zusammen mit dem Staatssekretär Conrad dem Müllmonopolisten Hilmer den Zugang zum Betrieb der Deponie Schönberg und fügte damit dem Land einen Schaden in Höhe von Millionen DM zu. Dies sind Millionen DM, die dem Land MecklenburgVorpommern verlorengehen.
Erst der Landesrechnungshof von MecklenburgVorpommern, der die Ungereimtheiten aufdeckte und dokumentierte, bewirkte, daß der Staatssekretär Conrad geschaßt wurde. Frau Uhlmann trat zurück. Nach einer Schamfrist erhielt Frau Uhlmann eine Anstellung bei der Firma Preussenelektra, bei der Firma, der sie als Ministerin in Mecklenburg-Vorpommern die Türen geöffnet hatte.
Meine Damen und Herren, die Wirkungen aus der Geschäftstätigkeit von KoKo und dem Handeln der Landesregierung von Mecklenburg -Vorpommern sind folgende: Dem Land Mecklenburg-Vorpommern ist die größte Mülldeponie aufgebürdet worden. Das Land und damit die Bürgerinnen und Bürger des Landes sind es, die wegen der unsoliden Verträge, die von dem Rechtsanwalt Kubicki geschlossen wurden, die Folgen zu tragen haben; um Hunderte von Millionen sind sie geprellt worden — ein unglaublicher, ein skandalöser Vorgang, unter Beachtung der Staatsfinanzen des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Die Deponiepreise und Marktpreise werden monopolistisch vom Müllmakler Hilmer diktiert. Und zuletzt: Die riesigen Gewinne des HBK werden mit geringen Eigenleistungen erbracht. Riesige Profite werden realisiert. Der Grundsatz „Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste" wird in Reinkultur verwirklicht. Meine Damen und Herren, das ist für mich eine ernüchternde Erkenntnis. Flier hat man versagt. Hierfür tragen die Bundesregierung und die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern die Verantwortung.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich wäre dankbar, Herr Kollege Kuhlwein, wenn man sich mit Zwischenfragen und ähnlichen Dingen heute sehr zurückhält. Ich möchte das Haus darüber informieren, daß wir nach der jetzigen Geschäftslage bis 2.30 Uhr tagen müssen, um unsere Tagesordnung zu Ende zu bekommen.
Ich verbinde dies mit der Bitte und Aufforderung an die Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich zu einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung gemeldet haben, dem Beispiel des Abgeordneten Wolfgang Lüder zu folgen und zu überlegen, ob sie nicht auch diese Erklärung zu Protokoll geben können.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr, Wolfgang Götzer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses hat bestätigt, was für CDU und
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Dr. Wolfgang GötzerCSU schon lange klar war: Das SED-Regime war nicht nur marode und bankrott, es war durch und durch verbrecherisch,
und es bediente sich zutiefst kapitalistischer Methoden, um an Devisen heranzukommen, offensichtlich getreu dem Dissertationsthema von Alexander Schalck-Golodkowski: Das Wirtschaftspotential des Feindes mit legalen und nicht offiziellen Mitteln zur Devisenerwirtschaftung nutzen.Schalck-Golodkowski, zentrale Figur des Untersuchungsgegenstandes, war dabei offensichtlich selbst sein bester Schüler. Er agierte nicht als harmloser, ideologiefreier, gemütlicher Zivilist, sondern war einer der wichtigsten Männer des Systems und hoher Stasi-Offizier.Auch im innerdeutschen Handel, meine Damen und Herren, war oberstes Ziel die Devisenbeschaffung für ein System, das wegen seiner sozialistischen Mißwirtschaft an chronischem Devisenmangel litt. Dazu war den Verantwortlichen nahezu jedes Mittel recht. In vielen Fällen kam es mit höchster Billigung zu Urkundenfälschung, Betrug, Steuerhinterziehung und Beihilfehandlungen hierzu. Umgehungsgeschäfte aller Art waren an der Tagesordnung.Bei den humanitären Bemühungen, speziell beim Häftlingsfreikauf, ist am allerdeutlichsten, finde ich, der Beweis erbracht worden für die kriminelle, ja menschenverachtende Vorgehensweise des SED-Regimes bei der Devisenerwirtschaftung. Nicht nur, daß man Zehntausende ins Gefängnis steckte und unter unmenschlichen Bedingungen dort hielt, Familien auseinanderriß und verhinderte, daß gewaltsam weggenommene Kinder wieder zu ihren Eltern zurückkehren konnten, man machte aus dem Leid seiner Bürger auch noch Geld, indem man erst die eigenen Bürger einsperrte, um sie dann gegen harte Westmark zu verkaufen und so an die dringend benötigten Devisen zu gelangen. Das Geld wurde verwendet für die Unterstützung kommunistischer Parteien und terroristischer Banden im Ausland und für die Prominentensiedlung in Wandlitz.Einen besonderen Fall möchte ich natürlich ansprechen. Der Untersuchungsausschuß, meine Damen und Herren, hat allen Anlaß zu der Annahme, daß die Abrechnungsmethoden der sogenannten besonderen humanitären Beziehungen dazu geführt haben, daß im Jahr 1978 in den Leistungen der Bundesregierung für diesen Bereich auch ein Betrag in Höhe von 5,8 Millionen DM versteckt worden ist, der nicht durch die Entlassung von Menschen in die Freiheit begründet war, sondern im Ergebnis der Finanzierung von Grenzsicherungsmaßnahmen und Grenzsicherungsanlagen auf dein Gebiet der DDR am Grenzübergang Helmstedt/Marienborn diente.Ich möchte eines klarstellen: Daß eine Bundesregierung, egal ob von SPD oder CDU/CSU geführt, einen Preis für den Freikauf von politischen Häftlingen zahlte, geschah im Interesse der Betroffenen und aus humanitären Beweggründen und ist deshalb gerechtfertigt gewesen. Aber die Vorstellung, daß - im Jahr 1978 unter der damaligen BundesregierungSchmidt — Tötungsmaschinen und Stacheldraht mit westdeutschen Haushaltsmitteln finanziert word en sind, ist für mich unerträglich.
Lassen Sie mich ein Wort zum heute auch angesprochenen Milliardenkredit sagen, der auch Gegenstand des 1. Untersuchungsausschusses war, wenngleich sich auf Grund der Arbeitsteilung vor allem der bayerische Untersuchungsausschuß damit beschäftigt hat. Die Aushandlung der Modalitäten war eine große politische Leistung des verstorbenen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Er hatte erkannt, daß die DDR finanziell am Ende war und sich damit eine Chance für ein langfristiges Herauslösen der DDR aus dem Ostblock ergab. Durch die Kreditgewährung wollte er mehr Einfluß des Westens auf die DDR gewinnen. Dabei war Strauß klar, daß sich die DDR niemals auf schriftlich fixierte Gegenleistungen hätte einlassen können. Um so rühmenswerter ist es, daß er informell Zusagen für menschliche Erleichterungen erreichte, die von der DDR auch genauestens eingehalten wurden. Strauß verabscheute das SED-Regime und wollte auch mittels des Milliardenkredits kurzfristig humanitäre Gegenleistungen und langfristig den Zusammenbruch des kommunistischen Systems erreichen , zu einer Zeit, als andere in diesem Saal noch die Stabilisierung der DDR als ihr politisches Ziel vor Augen hatten.
— Es schreien die Getroffenen auf. — Daß dies das Ziel von Strauß bei der Einfädelung des Milliardenkredits war, ist im Untersuchungsausschuß klar zutage getreten.Ein weiteres Ergebnis möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen, nämlich daß nicht die geringsten Anhaltspunkte für die Verdächtigungen, mit denen der tote Franz Josef Strauß im Zusammenhang mit dem Milliardenkredit und auch den Fleischlieferungen überzogen worden ist, gefunden wurden und sich diese Verdächtigungen damit als üble Verleumdungen erwiesen.Meine Damen und Herren, die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat die Skrupellosigkeit und die kriminelle Energie des SED-Regimes zeitgeschichtlich dokumentiert.
Es ist bezeichnend, daß sich die PDS — auch heute mit keinem Wort von den SED-Machenschaften distanziert hat.
— Nein, das war keine Distanzierung, liebe Frau Kollegin. Sie haben hier Rechtfertigungsgründe für das Verhalten der SED-Machthaber genannt. Ich hoffe, daß die Öffentlichkeit hieraus ihre Schlüsse ziehen wird.Ich bedanke mich.
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20598 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Friedhelm Julius Beucher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern sowie Journalisten in einer Rundfunk- und Fernsehsendung heute mittag habe ich erneut feststellen können, daß viele in den Medien diese Parlamentsauseinandersetzung vorweggenommen haben und sehr viele Vorurteile die öffentliche Meinung mitbestimmen. Haben wir uns in den letzten drei Jahren mit den 1,5 Millionen Blatt Akten eigentlich lediglich die Zeit vertrieben, und ist wirklich nichts dabei herausgekommen, oder haben in Wirklichkeit die Medien bereits alles vorab veröffentlicht und folglich nun nichts Neues mehr zu berichten?
Haben wir eigentlich nicht alle zusammen jeder aus seiner Sichtweise ein Stückchen deutsch-deutscher Geschichte zu bewältigen gehabt, uns damit auseinandersetzen müssen? Sind nicht Hunderte von Mosaiksteinchen zu einem zwar immer noch lückenhaften, aber doch insgesamt größeren Gesamtbild zusammengefügt worden?
Herr Beucher, es gibt den Wunsch nach Beantwortung einer Zwischenfrage. Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Beucher, ich komme noch einmal auf die Bemerkung zurück, die Sie eben zu der vorweggenommenen öffentlichen Debatte gemacht haben. Die Frage, die ich an Sie habe, ist, weshalb Sie sich hier über die Aktivitäten Ihres Kollegen von Bülow so beschweren?
Sie haben auch schon im Ausschuß, Herr Vogel, eine eigene Art bewiesen, wie Sie bestimmte Sachen überhören können. Auch hier haben Sie nicht heraushören wollen, daß ich in diesem Fall ausschließlich diejenigen Journalisten gemeint habe, die jede einzelne Sensation, die sie in Ausschußvernehmungen gehört haben, zu einer Meldung verarbeitet haben und somit über drei Jahre kontinuierlich über uns berichtet haben und folglich jetzt nichts mehr, wie man bei uns im Rheinland salopp sagt, auf der Pfanne haben.Ohne den parlamentarischen Stellenwert dieses Untersuchungsausschusses zu vernachlässigen, will ich hier einmal besonders auf eine finanzielle Seite des Unternehmens hinweisen. Dabei sind nämlich beachtliche Summen zu nennen, die inzwischen seit Arbeitsbeginn des Untersuchungsausschusses aufgedeckt und aus dem ehemaligen Bereich KoKo in die Kassen des Bundes geflossen sind. 931 062 368,18 DM waren es exakt bis Ende vorigen Jahres. Außerdem sind noch weitere Vermögenswerte von 2,7 Milliarden DM zu erwarten, wovon „nur" rund 500 Millionen DM streitbefangen sind. Alles Einnahmen trotz oder/undwegen des Untersuchungsausschusses? Eine Riesensumme von knapp 3 Milliarden trotz der unzureichenden Personalausstattung bei der Zentralstelle zur Ermittlung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität!Ich sage Ihnen: Ohne die durch den Untersuchungsausschuß geschaffene Öffentlichkeit und die damit verbundene Sensibilisierung wäre sicherlich manche weitere Million durch die Lappen gegangen.Aber es sind nicht nur Millionen, die noch fehlen, sondern Milliarden. Diese finden wir natürlich nicht, wenn wir unsere Arbeit einstellen, und die werden auch ebensowenig gefunden, wenn sich der Personalbestand bei Polizei und Staatsanwaltschaft in Berlin nicht schnellstens drastisch vergrößert.Neben dem fehlenden Geld bleiben aber auch noch eine große Reihe von Merkwürdigkeiten, Ungeklärtheiten und Ungereimtheiten zurück. Glaubt denn hier wirklich einer im Saal — außer Herrn Götzer vielleicht —, daß Herr Strauß die Milliarde provisionsfrei in die DDR scheffelte? Die augenfälligen Erinnerungslücken wie auch Widersprüche dazu in Bonn und München, von Herrn Jenninger z. B., brachten jedenfalls keine Klarheit vor den Ausschüssen. 400 Kontakte, davon allein 23 Einzelgespräche, zwischen Strauß und Schalck-Golodkowski sind beschrieben, aber noch nicht restlos aufgeklärt. Wie ist denn die Weigerung der Koalitionsmehrheit zu deuten, einen über gezielte Denunziation in den Landtag von Sachsen-Anhalt gekommenen Herrn Geisthardt nochmals zu vernehmen, nachdem seine Lügenaussage entlarvt war?Dieser Herr, CDU-Landtagsabgeordneter, der übrigens am nächsten Sonntag, wo er zur Wiederwahl ansteht, mit zur weiteren Politikverdrossenheit beiträgt, wäre ja nicht so bedeutsam, wenn sein Gespräch mit Herrn Schalck nicht im Auftrag von Herrn Krause stattgefunden hätte. Es ist der gleiche Herr Krause, der mit dem in Sachen Schalck auffallend erinnerungsschwachen Herrn Schäuble fast zeitgleich den Einigungsvertrag zimmerte. Wer wollte eigentlich was in welchem Auftrag bei Herrn Schalck?Aber ist der Drang zum „Aktendeckel zu" wirklich verwunderlich, wenn wir aus Schriftverkehren von nur vor einem Jahr erfahren, daß der KoKo- und Stasi-Vertrauensanwalt Wünsche 50 Millionen DM und der aus Einigungszeiten unter der Flagge Demokratischer Aufbruch segelnde Rechtsanwalt Schnur gar 4 Milliarden Dollar in Umlauf bringen wollten? Wie kommen die eigentlich an solche Geldmengen? Wenn wir alle nicht wollen, daß in Sachen KoKo und somit bei der Bewältigung deutsch-deutscher Geschichte Vergessen und Verdrängen angesagt ist, müssen wir die Dinge beim Namen nennen und weiter aufklären,
ehrlich und nicht nach der Methode CDU, wie der Kollege Eppelmann, der hier in der letzten Woche im Parlament die DDR als Riesengefängnis darstellte, jedoch pflichtschuldigst dabei verschwieg, daß er als Minister die Gefängniswärter, nämlich die Genera-
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Friedhelm Julius Beucherlität der Grenztruppen, mit Orden und Ehren auszeichnete.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Volker Neumann .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich für uns etwas bedrückend, wenn wir einen solchen Bericht abgeben und feststellen müssen, daß der Staat bisher nicht die Kraft gefunden hat, die kriminellen Seilschaften aus dem Bereich KoKo in Verbindung mit den kriminellen Seilschaften aus dem Westen bei ihren neuen Machenschaften zu stoppen. Ich spreche da nicht nur von der Vergangenheit; denn wir wissen, daß diese Seilschaften heute noch insbesondere in den neuen Bundesländern aktiv sind. Wir kennen viele Namen, wir kennen ihre Vergangenheit. Dennoch sehen wir nicht, daß sie erfolgreich bekämpft werden. Wir sehen nicht, daß intensiv versucht wird, veruntreutes und kriminell erworbenes Geld für den Staat und damit den Steuerzahler zurückzuholen.Die zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität in Berlin beziffert die teilweise noch rückholbaren Summen aus Regierungs- und Vereinigungskriminalität — und dazu gehört ein großer Teil KoKo — auf 20 bis 30 Milliarden DM. Da muß sich der Finanzminister doch fragen: Sind das eigentlich „Peanuts"?Unser Ausschuß hat immer darauf gedrängt, daß die Länder die zugesagten Staatsanwälte an die Staatsanwaltschaft nach Berlin zur Aufklärung der Regierungskriminalität schicken. Es ist schließlich auch geschehen, leider manchmal zu spät, und nicht alle Staatsanwälte waren gleichermaßen geeignet für die Aufgaben.Wissen die Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Haus eigentlich, daß für den Bereich Vereinigungskriminalität im Land Berlin bei der Staatsanwaltschaft lediglich fünf Dezernenten zur Verfügung stehen?Was eine so unterbesetzte Behörde im Bereich der Wirtschaftskriminalität schaffen kann, können wir ahnen — die Kriminellen, die wissen das.Für die sonstige Wirtschaftskriminalität im Land Berlin stehen noch weitere sechs Dezernenten zur Verfügung,
also elf für die gesamte Wirtschaftskriminalität aus der Vergangenheit und das, was jetzt im Land Berlin passiert.Ich lasse nicht nach, auf diesen Tatbestand hinzuweisen, denn die unrechtmäßig beiseite geschafften Gelder aus dem KoKo-, Partei- und dem Bereich der sonstigen DDR-Vermögen werden zusammen mit den neu hinzufließenden Geldern — Herr Beucher hat schon darauf hingewiesen — aus ähnlichen Organisationen anderer Länder genutzt, um neue mafiose Strukturen aufzubauen. Eine solche „Wiedervereinigung der Wirtschaftskriminellen" haben wir uns alle nicht gewünscht.
Ich teile daher die Sorge der Polizei und der Bürger, daß wir im Bereich der Wirtschaftskriminalität nahe an der Kapitulation des Staates stehen.Wenn der Rechnungshof allein bei der Treuhandanstalt von Schäden von 1 Milliarde DM spricht, wenn wir wissen, daß ein Fünftel der Transfer-Rubel unrechtmäßig konvertiert wurde — mithin 8 Milliarden DM —, wenn wir wissen, daß aus Parteivermögen Gelder in Milliardenhöhe verschoben worden sind — ich gucke nirgendswohin —,
und wenn der Staat so wenig zur Rückholung tut, müssen sich doch der Arbeitslose in Rostock und der Handwerker in Passau fragen, wieso sie eigentlich noch Steuern zahlen.Für mich sind Konsequenzen aus der Arbeit dieses Ausschusses: Erstens. Wir dürfen nicht weiter so nachlässig mit der Wirtschaftskriminalität umgehen. Zweitens. Die Ermittlungsbehörden dürfen nicht nur den Blick auf die strafrechtlich bedeutsamen Sachverhalte legen, sondern müssen auch stärker die zivilrechtliche Seite im Auge haben, nämlich die Aspekte der Schadenswiedergutmachung, insbesondere, wenn der Staat, d. h. wir alle, geschädigt ist.Noch einige Bemerkungen zu Schalck-Golodkowski. Natürlich fragt sich jeder, wie dieser Mann so gut leben kann: eine schöne Unterkunft am Tegernsee und offensichtlich ausreichend Geld.Wir wissen, daß Schalck „aus Freundschaft" von der Firma März im Februar 1990 als Darlehen 600 000 DM bekommen hat — sozusagen das Begrüßungsgeld. Er hatte gute Einnahmen aus Fernsehauftritten — alle bezahlen das ja mit — und Einkünfte seiner Frau. Wir wissen also alles — alles, was wir wissen dürfen. Nach vier Jahren ist es der Staatsanwaltschaft in Berlin ja auch gelungen, eine Anklage vorzulegen, die uns sehr stark an die gegen Harry Tisch erinnert.Von der Bundesanwaltschaft und den Ermittlungen wegen des Spionageverdachts hört man nichts mehr. Hier ist doch wohl die Frage erlaubt, ob jedermann bei ähnlichen Sachverhalten so lange auf eine Entscheidung des Generalbundesanwalts warten muß.
Ich behaupte: Schalck hat mächtige Beschützer. Er kann sich sicher fühlen, und seine beste Versicherung ist sein Wissen über seine ehemaligen Geschäftspartner.
Wie er selbst sagt, hat er über alle Gesprächspartner von Stasi-Chef Mielke Dossiers erhalten, die er nur einsehen konnte, die er sofort wieder zurückbringen mußte. Bei dem anerkennenswerten Gedächtnis des Herrn Schalck — wenn er denn will— ist sicher einiges hängengeblieben. Mit wem hat er nicht alles gespro-
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20600 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Volker Neumann
chen: Strauß, Bölling, Bräutigam, Jenninger, Dr. Schäuble — um nur einige zu nennen.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. — Übrigens, zu Dr. Schäuble, da habe ich noch einige Fragen:
Was hat Dr. Schäuble Schalck bei den Gesprächen schon vor der Maueröffnung zugesagt, als dieser erklärte, die DDR verlassen zu wollen?
Stimmt es eigentlich, daß der Artikel über Schalck im „Spiegel" im November 1989 von bundesrepublikanischen Diensten lanciert worden ist?
Was ist eigentlich vom BND mit der „Einbürgerung" Schalcks gemeint, der doch unstreitig Deutscher war und nicht eingebürgert werden mußte?
Warum wird nicht gesagt, was im Januar 1990 der Verteidiger von Schalck bei Dr. Schäuble in Bonn wollte? Das war doch gerade der Zeitpunkt, als in Berlin irgend jemand ein Schließfach von Frau Schalck geöffnet hat, und wir wissen nicht, was drin war.
Warum wird von Dr. Schäuble behauptet, die Briefe, die er von Schalck erhielt, seien „privat" oder „persönlich", wenn sie doch an den Bundesminister Dr. Schäuble adressiert waren und auch im Ministerium abgegeben wurden? Was versteht Dr. Schäuble eigentlich unter „privat" und „persönlich"?
Warum wird der Inhalt als „privat" bezeichnet, obwohl inzwischen feststeht, daß der Brief voll war mit interessanten Geschäftsinformationen und teilweise weiter aufklärungsbedürftigen Tatsachen, etwa über den Verkaufswert der Geschäftsanteile von INTRAC Lugano? Und warum darf die Kriminalpolizei eigentlich den Verkauf dieser INTRAC nicht überprüfen?
Und warum, Herr Abgeordneter, sind Sie nicht bereit, auf mein Signal zu reagieren? Ihre Redezeit ist schon deutlich überschritten.
Entschuldigen Sie, aber ich könnte noch eine Reihe von Fragen stellen, die ich alle weglassen werde.
Ich werde den Verdacht nicht los, daß Dr. Schäuble und Dr. Schalck uns noch nicht alles gesagt haben über die Beziehungen vor und nach der Wende. Ich bleibe dabei: Schalck hat mächtige Schutzengel.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Joachim Hörster das Wort.
Herr Kollege Neumann, nach der jahrelangen Zusammenarbeit im
Untersuchungsausschuß bin ich von der Sachbehandlung, die Sie der Frage der schützenden Hände in der Öffentlichkeit haben angedeihen lassen, ausgesprochen enttäuscht.
Denn Sie haben hier wahrheitswidrig den Eindruck erweckt, als wäre im Untersuchungsausschuß nur ein Jota an Verdacht geblieben, es hätte irgendwelche schützenden Hände für Schalck-Golodkowski gegeben.
Im übrigen hätten diese schützenden Hände, Herr Kollege Neumann, ja nur von Frau Professor Limbach ausgebreitet werden können, die im rot-grünen Senat in Berlin zum damaligen Zeitpunkt für die Justiz zuständig war.
Ich wäre Ihnen doch sehr zu Dank verbunden, wenn Sie auch dann, wenn der Wahlkampf seine Schatten vorauswirft, bei der Auswertung dessen, was wir im Untersuchungsausschuß festgestellt haben, in der Sache bei den tatsächlichen Feststellungen bleiben.
Zur Erwiderung erteile ich dem Abgeordneten Volker Neumann das Wort.
Herr Kollege Hörster, auch wenn Sie etwas zu einer Tatsache machen wollen, ist es noch keine Tatsache. Ich habe eine Reihe von Fragen gestellt, die bis heute unbeantwortet sind. Sie wissen ganz genau, daß Dr. Schäuble bei seiner Vernehmung versucht hat, diesen Fragen auszuweichen.
Ist Ihnen eigentlich nicht aufgefallen, daß SchalckGolodkowski, als wir ihn zum erstenmal nach den Briefen fragten, die er an Dr. Schäuble geschrieben hat, mit einer vorbereiteten, schriftlich ausgearbeiteten Erklärung erschien? Ich frage mich: Wer hat an dieser Erklärung eigentlich alles mitgearbeitet?
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte. Wie ich schon angekündigt habe, habe ich eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung unseres Kollegen Wolfgang Lüder vorliegen *).Herr Abgeordneter Poppe, ich frage Sie noch einmal: Möchten Sie Ihre Erklärung zur Abstimmung persönlich abgeben? — Dann erteile ich Ihnen das Wort, mit der dringlichen Bitte, sich auf das wirklich Notwendige zu beschränken und sich an unsere Geschäftsordnung zu halten. Es ist eine Erklärung zur Abstimmung, kein Debattenbeitrag.*) Anlage 6
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Herr Präsident, ich habe Verständnis für die Aufforderung, mich kurz zu fassen, aber, meine Damen und Herren, ich möchte begründen, warum ich der in der Beschlußempfehlung, Drucksache 12/7725, getroffenen Feststellung nicht zustimmen kann.
In der Auseinandersetzung mit den kriminellen Machenschaften Schalcks und seiner Auftraggeber genügt nicht die Feststellung, daß der Bereich Kommerzielle Koordinierung ein zuverlässiges Instrument der SED und des MfS gewesen sei. Für das Verständnis der Wirkung des Bereiches KoKo ist es unverzichtbar, festzustellen, welche Rolle gerade auch die deutsch-deutschen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die westdeutschen Geheimdienste und die Industrie — vor allem wegen der vielfachen Verletzungen von Embargobestimmungen — gespielt haben.
Am vorigen Freitag haben Sie mit überwältigender Mehrheit dem Entschließungsantrag zum Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur" zugestimmt. Darin hieß es u. a. — Zitat —:
Die Frage nach dem Umgang mit der SED-Diktatur stellt an alle Deutschen, gerade auch an die politischen Kräfte im Westen Deutschlands die Anforderung nach einem selbstkritischen Rückblick bezüglich des Umganges mit den Machthabern.
An anderer Stelle war davon die Rede — Zitat —,
daß aus einem Gefühl nicht bewältigter DDR-Kriminalität der Rechtsstaat im öffentlichen Bewußtsein gerade in den neuen Bundesländern Schaden nehmen
könne.
Sie haben auch die Feststellung des Berichtes der Enquete-Kommission bestätigt, wonach besonders gegen die sogenannten Seilschaften vorgegangen werden soll, in denen neben SED-Altkadern und früheren MfS-Mitarbeitern — so der Bericht der Enquete-Kommission — „vielfach auch Bürger aus den alten Bundesländern tätig" waren bzw. sind.
Es liegt auf der Hand, daß die KoKo-Verbindungen in den alten Bundesländern auch im Hinblick auf die Entstehung derartiger Seilschaften besonders intensiv untersucht werden müssen. Pressemitteilungen über den abweichenden Bericht meiner Kollegin Köppe entnehme ich, daß in diesem solchen Verbindungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Die Weigerung der Mehrheit, die im abweichenden Bericht enthaltenen Geheimunterlagen zu entstufen, bleibt deshalb für mich unverständlich, dies um so mehr, wenn hier heute einige Mitglieder des Untersuchungsausschusses öffentlich erklären, Frau Köppes Votum enthielte gegenüber dem Mehrheitsbericht nichts wesentlich Neues.
Schließlich möchte ich noch eine weitere Empfehlung der Enquete-Kommission aufgreifen. Sie betrifft den Umgang mit westlichen Aktenbeständen; die Möglichkeit der Aufhebung von Sperrfristen solle, wo die Aktenlage es erfordert, geprüft werden, um nicht eine „schon jetzt bedenkliche Asymmetrie der Forschung zu verfestigen".
Sinngemäß, auf den vorliegenden Fall angewendet, entspräche eine Entstufung der Unterlagen des abweichenden Berichts diesem Anliegen der Kommission. Demgegenüber wird die Rechtsnachfolge der Bundesrepublik wirklich auf die Spitze getrieben, wenn Aussagen ehemaliger MfS-Offiziere nun zu Geheimunterlagen der Bundesregierung werden.
Meine Damen und Herren, nicht die Tätigkeit des von uns in den Untersuchungsausschuß entsandten Mitglieds, Frau Köppe, stellt eine Gefährdung des Untersuchungsauftrags, der Aufträge weiterer Ausschüsse oder gar der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik dar. Deutsche Interessen wurden und werden durch die kriminelle Tätigkeit des Herrn Schalck und seiner von SED und MfS gesteuerten KoKo-Unternehmen sowie deren bis heute anhaltenden, sich besonders in der Tätigkeit alter und neuer Seilschaften abzeichnenden Folgewirkungen verletzt.
Gerade in Anbetracht Ihrer am letzten Freitag zum Ausdruck gekommenen Übereinstimmung mit den von mir zitierten Feststellungen und Empfehlungen der Enquete-Kommission kann ich nicht verstehen, daß Sie heute den Bericht der Kollegin Köppe zur Kenntnis nehmen, obwohl ihn wegen seiner Geheimeinstufung weder die Öffentlichkeit noch die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zur Kenntnis nehmen können.
— Einer derart absurden Aufforderung bin ich nicht in der Lage, Folge zu leisten.
Herr Dr. Ullmann, auch Sie möchten Ihre Erklärung persönlich abgeben? — Ich finde es sehr traurig, daß keiner meiner Aufforderung und meinem Wunsche folgt.
Herr Dr. Ullmann, bitte schön.
Ich hoffe, Herr Präsident, wenn ich gesagt habe, was ich zu sagen habe, dann ist das verständlich.Meine Damen und Herren, ich bin leider gezwungen, Ihnen jetzt zu erklären, daß ich an dieser Abstimmung nicht teilnehmen kann, und zwar aus persönlicher Verletzung. Ich bin verletzt durch die Debatte und die unqualifizierten Angriffe auf meine Kollegin Köppe, und ich bin verletzt durch das, was ich in den Akten gelesen habe.Haben Sie denn völlig vergessen, daß dieser Stapel von Akten auf Ihren Tischen ohne den Einsatz von Frau Köppe überhaupt nicht zustande gekommen wäre?
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20602 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Dr. Wolfgang UllmannOhne das, was am Runden Tisch über die Auflösung des MfS beschlossen worden ist, hätten wir diesen Untersuchungsausschuß gar nicht durchführen können.Haben Sie denn vergessen, Herr Vorsitzender, daß Frau Köppe Ihnen mehrmals während der Tätigkeit der Kommission erst klarlegen mußte, was das für Akten sind, aus denen Sie zitieren?Es verletzt mich, daß kein Wort des Dankes für die Arbeit dieser Frau gefunden wird. Ich möchte das wenigstens bei dieser Gelegenheit im Namen der Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR getan haben.
Das zweite, und das ist noch viel schlimmer: Ich habe in den Akten gelesen, daß zwischen dem 8. März und dem 28. März, also mitten in dem Termin der ersten freien Wahl in der ehemaligen DDR, die Bundesregierung mit Herrn Schalck-Golodkowski über uns, die Bürgerbewegungen, gesprochen hat, und zwar mit folgendem Inhalt, daß es just die Bürgerbewegungen seien, die es verhindern, eine Amnestie für das MfS auszusprechen.Wer vergleicht denn hier das MfS mit normalen Diensten? Nicht die Bürgerbewegungen der DDR, die Bundesregierung selbst ist es gewesen.Ich fühle mich beleidigt, daß mit diesem Herrn über uns gesprochen worden ist und Mitteilungen über Frau Bohley ergangen sind.
Ich kann, solange die Bundesregierung zu diesem Faktum nicht Stellung genommen hat, an dieser Debatte nicht mehr teilnehmen.
Nunmehr hat Herr Dr. Klaus-Dieter Feige nach § 31 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident. — Meine Damen und Herren, Sie werden mich in dieser Legislaturperiode als einen fast durch nichts zu erschütternden Abgeordneten kennengelernt haben. Wenn ich mich also zur Abstimmung über den Antrag unserer Gruppe auf Veröffentlichung des Minderheitenvotums zu Wort melde, so ist das meine erste Erklärung, die ich in diesem Sinne abgebe, und dann muß schon einiger Tobak vorliegen.
Ich stimme für unseren Antrag, nicht etwa, weil er aus unserer Gruppe kommt, sondern weil ich glaube, daß der Bundestag bei Ablehnung Gefahr läuft, sich zum Helfershelfer von Leuten zu machen, die mit dem Wörtchen Wahrheit nichts, aber auch gar nichts im Sinn haben.
Ich unterstütze unseren Antrag auch deshalb, weil ich Schaden von diesem Hohen Haus abwenden
möchte. Es kann doch nicht angehen, daß die Abgeordneten des Bundestages den Inhalt des Berichts zwar als nicht wesentlich über den Untersuchungsausschußbericht hinausgehend bezeichnen, wie Herr Vogel das gemacht hat, aber insgesamt Angst haben, daß das in ihm enthaltene Wissen, daß die Wahrheit an das Licht der Öffentlichkeit kommt.
Wenn denn, wie von anderen behauptet wird, der insbesondere von der Abgeordneten Köppe erarbeitete Minderheitenbericht im KoKo-Ausschuß so brisantes Material enthält, daß darüber Politiker bei ihrem Aufstieg auf der politischen Karriereleiter zu Fall kommen könnten, so muß er gerade deshalb veröffentlicht werden;
denn die Bürger in der Bundesrepublik haben genau deshalb die Nase von manchen Politikern voll, weil sie eben nicht die Wahrheit sagen oder sie verschweigen.
Ich stimme auch deshalb für die Offenlegung des Minderheitenvotums von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, weil es um die Wahrheitsfindung geht, weil die Bürgerinnen und Bürger ein Recht darauf haben, sich über die Verbindung und bewußte Duldung der KoKo-Tätigkeit durch die Bundesregierung und die Nachrichtendienste selbst ein Bild zu machen, und weil dies ein so wichtiger Beitrag gegen die Politikverdrossenheit ist.
Ich möchte mich kurz fassen. Ich kann mich heute der Presseerklärung von Herrn Lüder anschließen. Ich kann einfach sagen, daß der Kollege genau die Worte gewählt hat, die auch ich sagen wollte. Ich erlaube mir, zur Abkürzung aus Ihrer Presseerklärung eine einzige Passage zu zitieren:
Viel Nachdenkenswertes über die deutsche offizielle Politik ist in dem Köppe-Bericht enthalten, nichts Geheimhaltungsbedürftiges jedoch. Wenn unser Staat nicht an der unverantwortlichen Vertraulichkeitsmanie zum Schutz der eigenen Unfähigkeit und der eigenen Beamten zugrunde gehen will, muß er die Bereitschaft zur Offenheit und Öffentlichkeit haben. Geheimeinstufungen sollen dem Schutz des Staates dienen, nicht aber der Arbeit seiner Behörden.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Danke.
Ich erteile nunmehr nach § 31 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Meine Damen und Herren, auch ich will erklären, warum ich dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90, den Bericht von Frau Köppe zu entstufen, zustimmen werde. Ich will daran erinnern, daß der Bereich Kommerzielle Koordinierung, mit Schalck-Golodkowski an der Spitze, verantwortlich war für die schamlose Beraubung der DDR-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20603
Konrad Weiß
Bevölkerung. Ich will daran erinnern, daß alle Bürgerinnen und Bürger in der DDR davon betroffen waren, auch ich. Ich bin ein unmittelbar Betroffener von den Machenschaften und Gemeinheiten SchalckGolodkowskis.Es ist unerträglich, wenn in diesem Hause von der Koalition Betrachtungen angestellt werden über die Effizienz der Arbeit dieser verbrecherischen Organisation.
Ich will daran erinnern, daß Schalck-Golodkowski im Auftrage der SED gehandelt hat. Ich will daran erinnern, daß nicht nur die SED davon profitiert hat, sondern auch westdeutsche Unternehmen. Es gehört zur Wahrheit, das öffentlich anzuprangern. Auch deshalb muß der Köppe-Bericht veröffentlicht werden.Ich will daran erinnern, daß zu dem Zeitpunkt, als die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler der DDR die Macht der SED gebrochen hatten, als wir dabei waren, die Stasi aufzulösen, und uns am Runden Tisch darum bemüht haben, Demokratie in Ostdeutschland aufzubauen, die Bundesregierung Herrn SchalckGolodkowski de facto Asyl gewährt hat.Ich will daran erinnern, daß die Bundesregierung — Sie hier auf der Regierungsbank können sich noch so sehr erheitern — dieses Asyl dazu mißbraucht hat, Schalcks Herrschaftswissen abzuschöpfen, sein Herrschaftswissen über die Ökonomie der DDR.Als Teilnehmer an den Verhandlungen zum Einigungsvertrag ist es nach all dem, was ich dort beobachtet habe, meine feste Überzeugung, daß dieses Herrschaftswissen, was der BND Schalck-Golodkowski angeschöpft hatte, der Delegation der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland beim Einigungsvertrag Vorteile verschafft hat, die sich bei den Einigungsverhandlungen, bei der Währungsunion zum Nachteil der DDR-Bevölkerung ausgewirkt haben.
Die DDR-Verhandlungskommission unter de Maizière, die auf Bürgerrechtler angewiesen war, die nur wenig Einblick hatten in die Interna, die angewiesen war auf die Zuarbeit von nichtzuarbeitbereiten Mitarbeitern des ehemaligen Staatsapparates, war den westdeutschen Gesprächspartnern unterlegen. Das ist die Schuld SchalckGolodkowskis.Die Aufgabe, diese deutsch-deutschen Seilschaften, die damals aufgebaut worden sind, zu entlarven, ist nicht abgeschlossen. In meinen Augen — das sage ich hier zum Schluß dieser Debatte — ist Schalck-Golodkowski nicht nur ein Schuft, sondern auch ein Hochverräter an der Bevölkerung der DDR.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Joachim Hörster nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl die Mitglieder des Untersuchungsausschusses in der Vergangenheit einvernehmlich — —
Sollte sich das im Protokoll bestätigen, wäre das ein schwerer Verstoß.
Herr Präsident, ich bitte zu Protokoll zu nehmen, daß ich den Ausdruck „arrogantes Schwein" gegenüber einem Kollegen dieses Hauses in höchster Erregung ausgestoßen habe, weil ich als Ostdeutscher empört bin
— ich habe das Recht, hier zu reden, genauso wie Sie — über die Art und Weise, wie diese Seite des Hauses mit dieser Seite unserer Geschichte, mit den Verletzungen, die wir als Ostdeutsche erlitten haben, umgeht. Ich erwarte von Ihnen Solidarität in dieser Frage. Verstehen Sie bitte, Herr Präsident, meine Erregung.
Herr Abgeordneter Weiß, ich erteile Ihnen nichtsdestotrotz wegen dieses mehr als unparlamentarischen Verhaltens eine scharfe Rüge und bitte jetzt, diese Debatte nicht in dieser Form fortzusetzen.
Der Abgeordnete Joachim Hörster hat nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem wir im Untersuchungsausschuß Schalck-Golodkowski alle Herabstufungswünsche von geheimen Unterlagen gegenüber der Bundesregierung einvernehmlich beschlossen haben, möchte ich begründen, warum ich abweichend von diesem Verhalten dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das Minderheitsvotum dieser Gruppe im Untersuchungsausschuß nunmehr herabzustufen, nicht zustimmen werde.Die Herabstufung des Minderheitenberichtes des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN würde verursachen, daß eine Reihe von Quellen — und Quellen, das sind
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Joachim HörsterPersonen, das sind Menschen, die sich darauf verlassen haben, daß die Zusammenarbeit mit den Diensten der Bundesrepublik Deutschland für sie möglichst keine Gefährdung verursachen soll gefährdet und feindlichen Diensten ausgeliefert werden können. An diesen Machenschaften möchte ich mich nicht beteiligen, und deswegen kann ich dem Herabstufungsbegehren nicht zustimmen.
Nach § 31 der Geschäftsordnung erteile ich der Abgeordneten Frau Lederer das Wort. Mit Rücksicht auf die Gesamtsituation bitte ich, dann wirklich Schluß zu machen.
Ich werde dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, den Bericht herabzustufen und anschließend zu veröffentlichen, zustimmen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, diese Herabstufung vorzunehmen. Das heißt für mich, daß die Bundesregierung natürlich verpflichtet ist, eine Veröffentlichung zu ermöglichen, die die Gefährdung von Menschen und Familien ausschließt.
Da ich aber dafür bin, daß wir öffentlich darüber diskutieren und Legendenbildungen weiter vorbeugen, weshalb wir dieses Material zugänglich machen müssen, werde ich diesem Antrag zustimmen, allerdings in der Erwartung, daß die Bundesregierung selbstverständlich dafür sorgt, daß dadurch keine Menschen gefährdet werden.
Meine Damen und Herren, nun liegen mir wirklich keine Wortmeldungen mehr vor.
Wir kommen zur Abstimmung, zunächst über die Beschlußempfehlung und den Bericht des 1. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 12/7600. Hierzu gibt es einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Er liegt Ihnen auf Drucksache 17/8066 vor. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist der Antrag angenommen worden.
Ich gehe davon aus, daß sich mit der Annahme des Antrags eine Abstimmung über die Beschlußempfehlung des 1. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 12/7600 erübrigt. Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so festgestellt.
Wir müssen jetzt über die Beschlußempfehlung des 1. Untersuchungsausschusses abstimmen, die Ihnen auf Drucksache 12/7650 vorliegt. Diese Beschlußempfehlung betrifft den abweichenden Bericht der Gruppe PDS/Linke Liste. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.
Eine weitere Beschlußempfehlung des 1. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 12/7725 betrifft den abweichenden Bericht der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Gegen die Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist diese angenommen.
Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 3 b und stimmen über den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Veröffentlichung des Minderheitenvotums des 1. Untersuchungsausschusses ab. Dieser liegt Ihnen auf Drucksache 12/7743 vor. Wer stimmt für diesen Antrag? — Dafür stimmen PDS/Linke Liste, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelte Abgeordnete aus der F.D.P.-Fraktion.
Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD ist dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 5 und Zusatzpunkt 7 auf:
5. Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften der Lehrerbesoldung
— Drucksache 12/7521 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/8097
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch Gisela Schröter
Otto Regenspurger
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dietmar Keller, Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Gleichstellung von ostdeutschen Lehrerinnen und Lehrern
— Drucksache 12/8029
Übetweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Zum Gesetzentwurf liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/8098 und ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. KlausDieter Feige und Werner Schulz auf Drucksache 12/8099 vor.
Interfraktionell wird Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich die Debatte eröffnen.
Als erster Redner hat der Abgeordnete Udo Haschke das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure sehr, daß Sie nach dieser Debatte so heftig den Raum verlassen.Ich hatte vorige Woche das Vergnügen, an einer Veranstaltung in Jena teilzunehmen, die von einer bedeutenden deutschen Stiftung organisiert wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20605
Udo Haschke
Diese Veranstaltung heißt „Lernwerkstatt Demokratie". Da kommen Schüler aus den alten und neuen Bundesländern zusammen und üben das ein, was uns heute, zumindest in der letzten halben Stunde, offensichtlich nicht sehr überzeugend gelungen ist. Ich bedaure das zutiefst. Ich bedaure die Entgleisungen, die ausgebliebene Reaktion. Es stünde uns gut zu Gesicht, wenn wir „Lernwerkstatt Demokratie", Demokratie auch als Lernaufgabe für uns in Zukunft ernst nehmen.Meine Damen und Herren, der Innenausschuß des Deutschen Bundestages hat heute mit den Stimmen der Koalition und der SPD, worüber ich im nachhinein sehr froh bin, einen Bundesratsbeschluß zurückgewiesen, ihn in der vorgegebenen Fassung abgelehnt. Denn tatsächlich ist es so — ich bin nicht immer ein Freund der GEW, aber in diesem Fall absolut —, daß dieser Bundesratsentwurf die Frage aufdrängt: Sind denn die Ostlehrer dümmer als die Westlehrer? Diese Frage würde ich ja wohl eindeutig mit Nein beantworten! Abstufungen im Grad der Intelligenz unter den Lehrern gibt es hüben wie drüben; auch das ist unbestritten.Meine Damen und Herren, der Einigungsvertrag — es sind ja noch einige Kollegen hier, die daran mitgearbeitet haben — hat uns in Art. 37 Abs. 2 und 4 vorgeschrieben, daß wir die Anerkennung von Abschlüssen schulrechtlicher Art betreiben müssen, und hat als zuständige Instanz die KMK genannt. Die KMK hat reichlich spät, zweieinhalb Jahre nach der Wiedervereinigung, entsprechend beschlossen und die Gleichwertigkeit der Abschlüsse von Pädagogen in den neuen und alten Bundesländern festgestellt.Es folgte darauf ein vom Freistaat Thüringen und von Mecklenburg-Vorpommern in den Bundesrat eingebrachter Gesetzentwurf, der diese Gleichstellungsfeststellung auch im Besoldungsrecht realisieren sollte. Leider hat dieser Antrag nicht die notwendige Mehrheit gefunden.Was hieße das, liebe Kolleginnen und Kollegen, was hieße das in praxi? Grundschullehrer und Berufsschullehrer mit dem damals in der ehemaligen DDR üblichen Fachschulabschluß wären im Besoldungsrecht als Lehrer zweiter Klasse diskriminiert. Wenn ich dies feststellen muß, muß ich wohl auch sagen: Dann wären auch die Schulen als Schulen zweiter Klasse diskriminiert, und dann wären die Kinder, die Schüler, am Ende auch noch nach ihren Abschlüssen zu befragen gewesen. Eine höchst bedenkliche Geschichte, meine ich.Ich erzähle jetzt eine Geschichte aus dem Leben. Etwa vor drei Jahren kam ein guter, alter Freund zu mir und sagte: Du, wir müssen uns verabschieden, ich habe ein tolles Angebot im Hessischen. — Er war ein diplomierter Physiker. Er hat sein Studium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena abgeschlossen. Er hat sein Abitur im schönen Städtchen Heiligenstadt im Eichsfeld, nahe an der hessischen Grenze, gemacht. Er hat die Grundschule, o weh, o Graus, in einer Dorfschule in eben diesem Eichsfeld besucht. Zu alledem hat er seine Schulausbildung auch noch nach zwölf Jahren abgeschlossen!Vor ungefähr sechs oder acht Wochen habe ich ihn das erste Mal wiedergesehen und gefragt: Wie geht's? — Er sagte: Prächtig! Läuft bombig! — Der Mann ist also auch im Hessischen anerkannt in seinen Abschlüssen. Er hat seine Schulausbildung mit „ganz schlechten Lehrern" gemacht, hat dann aber die Universität besucht. Jetzt ist er anerkannt. Wir könnten zig solcher Beispiele aufführen.Meine Damen und Herren, hatte man das im Bundesrat nicht gewußt? Hatte man es im Bundesrat wirklich nicht gewußt? Oder wollte man im Bundesrat sagen: Das sind Schüler zweiter Klasse, das sind Schulen zweiter Klasse — und am Ende Menschen zweiter Klasse? Ich muß die Frage wohl einmal so stellen.Sachsen ist ein Land, und die ganze Fülle der A-Länder ist mit aufgeführt. Machen wir uns nichts vor: Das wurde doch unter einem finanzpolitischen Aspekt so beschlossen. Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß wir die Würde des Menschen, die Lebensleistung eines Menschen nur unter fiskalischen Gesichtspunkten sehen.Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, daß wir das heute hier korrigieren.
Ich bin auch froh, daß Sie da mitgetan haben. Ich bin wirklich froh, daß Sie in der Innenausschußssitzung mit uns gestimmt haben. Allerdings warne ich vor einem. Mir wäre es lieb, Sie würden von Anfang bis Ende, von Anfang an einmal mit uns denken, in unseren Denkbahnen mitdenken und mitgestalten und nicht im letzten Moment auf den fahrenden Zug hüpfen und aus dem Bremserhäuschen heraus rufen: Ich bin der Lokführer! Das ist ja wohl auch ein bißchen komisch.
— Tut mir leid.Ich muß jetzt noch zu einem zweiten Problem kommen.
— Nein, das ist eine herzliche Einladung. Anders geht es nicht. Verehrte Kollegin Schröter, ich war heute in der Sitzung des Innenausschusses auch ein bißchen irritiert. Aber wir werden das nächste Woche, glaube ich, korrigieren können.Ich sage nur andeutungsweise, worum es geht. Wir haben neue Schulen in den neuen Bundesländern geschaffen, Schultypen, die in der alten Bundesrepublik noch nicht vorkommen. Es gibt eine Menge Dinge, die wir geschaffen haben, aus unserer Erfahrung und aus unserem Wissen heraus, die es in der alten Bundesrepublik nicht gab. Ich hebe jetzt nicht auf den „grünen Pfeil" ab, obwohl ich froh darüber bin, daß auch hier sich langsam die Denke durchgesetzt hat: So schädlich kann er nicht sein, bloß weil er aus der DDR ist. Er wurde also jetzt auch hier eingeführt.
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20606 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Udo Haschke
Der noch amtierende Bundespräsident hat in seiner wirklich wichtigen Rede zum Tag der Wiedervereinigung, am 3. Oktober 1990, gesagt: Diese Bundesrepublik wird eine andere sein, als sie bislang war. Ich habe an dieser Stelle auch schon einmal gesagt — dazu stehe ich —: Diese Bundesrepublik ist durch den Beitritt von fünf neuen Ländern nicht nur an Herausforderungen, sondern auch an Chancen reicher und größer geworden. Das müßten wir bedenken und sagen: auch in dieser Frage.Es gibt z. B. in Thüringen eine Regelschule und im Freistaat Sachsen eine Mittelschule. Sie bilden nach wie vor ordentlich aus. Wir haben heute das Problem der Alt-Lehrer gelöst. Wir werden uns demnächst noch einmal darüber unterhalten müssen, daß die Regelschulen im Freistaat Thüringen und die Mittelschulen im Freistaat Sachsen westdeutschen Schulen gegenüber als gleichwertig erklärt werden. Ich denke, das sollte für uns kein so großes Problem sein. Wir sind im Gespräch darüber. Vielleicht können es die Länder alleine innerhalb der KMK lösen. Das wäre sicherlich der einfachste und unbürokratischste Weg. Wir werden daranbleiben.Ich denke, eines soll am Ende meines Redebeitrags und auch am Ende dieser Gesetzgebung deutlich gesagt werden: Die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion würdigen in der heutigen Korrektur des Bundesratsbeschlusses die enormen Leistungen der neuen Bundesländer bei der Umgestaltung des Bildungssystems.Ich füge ein Zweites hinzu: Wir würdigen — ich denke, hier sind wir uns einig — auch die nicht gering zu schätzenden, nein, die hoch zu schätzenden persönlichen Leistungen der Lehrerinnen und Lehrer in den neuen Bundesländern. Ich weiß, wovon ich rede. Sie haben hart mit sich gekämpft, und sie haben hart mit sich zu kämpfen. Ich darf uns alle einladen — dies möchte ich am liebsten vor einer größeren Öffentlichkeit tun, als ich es aus diesem Haus heraus kann; denn darüber wird kaum etwas in den Medien zu lesen sein; also wende ich mich ausnahmsweise einmal an die Tribüne —, diese Würdigung der Menschen in den neuen Bundesländern, die in vier Jahren eine wahnsinnige Leistung in bezug auf das Umdenken, das Neudenken, das Neueinrichten und die Umorientierung geleistet haben, mitzutragen. Beides gehört, meine ich, zu unserem Weg.
Es wurde heute in der Diskussion um die wirtschaftliche Situation, um die Situation bei der Treuhand, um einige Rechtsfragen immer wieder darauf hingewiesen: Manches geht nur Schritt für Schritt, oder es wird ein unbedachtes Gestolpere.
— „Gestolpere" war zufällig, nicht daß Sie lachen. Ich meine das reine Stolpern, nicht Stolpe.
— Gut.Ich möchte, daß wir uns das Erreichte nicht kleinreden lassen, so wie es heute der Kollege Thierse gemacht hat. Auch das muß ich sagen. Denn wirwürden damit die Lebensleistung auch der Bürger der neuen Bundesländer in den 40 Jahren vor der Vereinigung und den zurückliegenden vier Jahren kleinreden.
Wir würden damit die Anstrengungen der Menschen in den alten Bundesländern kleinreden, die ja nun einmal wirklich ein bißchen auf den persönlichen Wohlstandszuwachs verzichtet haben. Das würden wir kleinreden. Nein, beides gehört zusammen: der Dank für die Hilfe, die wir erfahren durften, und die Anerkennung der Leistungen in den neuen Bundesländern.Ich meine, das gemeinsame Vorgehen in dieser Richtung ist der einzig richtige Weg, auf dem wir auch in den nächsten Jahren vorangehen müssen. Dazu lade ich alle ein und bitte um Verständnis, auch wenn mir dann ein etwas anderer Ausrutscher passieren würde als der, der mir heute schon passiert ist.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Gisela Schröter das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie dem Handbuch des Bundestages entnehmen können, bin ich im bürgerlichen Beruf Sonderschullehrerin. Meine Abschlüsse habe ich als Thüringerin nach geltendem DDR-Recht gemacht, wie auch sonst? Sie können mir unterstellen, daß ich weiß, wovon ich rede, wenn ich heute zu dem brisanten Thema der Lehrerbesoldung zu Ihnen spreche.Lehrerinnen und Lehrer erziehen unsere Kinder. Ob sie dazu eine Fachschule, eine Fachhochschule oder eine Universität besucht haben, ist letzten Endes eine Frage gesellschaftlicher Vereinbarungen. Diese gesellschaftlichen Vereinbarungen sahen naturgemäß in zwei so unterschiedlichen Gebilden wie der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland vor der Wende unterschiedlich aus. Wer sich in Ost oder West für den Lehrerberuf entschied, mußte sich zu den jeweiligen Ausbildungsbedingungen bekennen und sich diesen unterwerfen. Entweder man akzeptierte den Ausbildungsgang, oder man ließ das Lehrersein gleich ganz bleiben.Das Problem der Lehrerbesoldung, mit dem wir uns heute befassen, gilt ausschließlich für Lehrer, die jetzt im Schuldienst der neuen Bundesländer sind und in der DDR ausgebildet wurden. Schon vorhin habe ich darauf hingewiesen, daß Grundschullehrer in der ganzen Welt die gleiche Arbeit tun: Sie bringen den Jüngsten die Grundfertigkeiten bei.Es ist für mich nicht hinnehmbar, daß gerade diese Lehrer auf Grund ihrer Ausbildung und ihres Abschlusses bestraft werden sollten.
Ich bin nicht bereit zu akzeptieren, daß allein die Artdes Abschlusses für die Lehrerbesoldung ausschlag-
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Gisela Schrötergebend sein soll. Ist denn jahrelange tägliche Berufserfahrung gerade mit den jüngsten Schülern nicht Beweis genug für vorhandene Qualifikation? Muß man erfahrene Pädagogen dazu zwingen, sich in langwierigen und kostspieligen Kursen nachzuqualifizieren, bevor man ihre Eignung zum Lehrer als gleichwertig einstuft? Wer diesen Personenkreis kennt, weiß, daß gerade sie keine Gelegenheit zur Qualifikation auslassen und daß gerade sie ihren Beruf mit besonderer Sorgfalt und Liebe ausüben.Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz vom Mai 1993 tragen dem Rechnung.
Die Kultusminister berichten dem Bundesinnenminister ausdrücklich — ich zitiere —:Die Kultusminister und -senatoren der Länder haben sich ... von der mit dem Einigungsvertrag verfolgten Zielsetzung der Freizügigkeit und Chancengleichheit für alle Deutschen im gesamten deutschen Staatsgebiet leiten lassen. Sie haben in einer Grundsatzdebatte anläßlich der Verabschiedung dieser Vereinbarung die Bereitschaft zur Anerkennung und Gleichstellung der betroffenen Lehrergruppen nochmals mit Nachdruck bekräftigt und sind bei dieser Gelegenheit insbesondere für die status- und besoldungsmäßige Gleichstellung der sogenannten Unterstufenlehrer eingetreten, für die es in der ehemaligen DDR neben der nichtuniversitären Fachschulausbildung keine andere Möglichkeit zur Verwirklichung ihres Berufswunsches gegeben hatte.Die Kultusminister und -senatoren sind überzeugt, daß die in der Vereinbarung vorgeschlagenen Zuordnungen der Lehrerausbildungsgänge der ehemaligen DDR zu Ämtern der Besoldungsordnung A unerläßlich sind, wenn das Ziel der inneren Einheit im Sinne der Betroffenen erreicht und das Zusammenwachsen der Bildungssysteme in Deutschland gefördert werden soll.Diesen Ausführungen an den Bundesinnenminister ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Sie entsprechen voll und ganz dem Sinn des Einigungsvertrages. Sie gehen von einer Gleichwertigkeit der Lehrerausbildung bei verschiedenen Ausbildungsgängen aus und betonen dabei besonders die Unausweichlichkeit der nichtuniversitären Fachschulausbildung für die Unterstufenlehrer.In der Tat hätte eine Verweigerung der Anerkennung der Gleichwertigkeit der Lehrer in den neuen und in den alten Bundesländern den Vereinbarungen des Einigungsvertrages grundsätzlich widersprochen.In den alten Bundesländern gut ausgebildete Lehrer und folglich gut ausgebildete Schüler, in den neuen Bundesländern Lehrer zweiter Klasse — man denke! —mit Ostausbildung, nicht mal richtig studiert haben die! Da weiß man ja, was man von den Kindern zu halten hat, und die Eltern sind auch schon bei Ostlehrern in die Schule gegangen. Daraus kann ja nichts werden. — So oder so ähnlich hätte sich dieNichtanerkennung doch in den meisten Köpfen hierzulande manifestiert.Auf die Freude über die Klarstellung folgte bald die Ernüchterung. Seit dem 7. Mai 1993 liegen die Beschlüsse der KMK der Bundesregierung vor. Außer einem Referentenentwurf haben wir seitdem aus dem zuständigen Ministerium nichts gehört. Und auch dieser Referentenentwurf ist wieder in der Versenkung verschwunden. Statt dessen begannen die Länder im Frühjahr 1994, also fast ein Jahr nach den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz, aktiv zu werden. Ein Antrag zur Lehrerbesoldung jagte den anderen, und keiner glich dem anderen. Von einer Abstimmung untereinander keine Spur. Wohlgemerkt: Ich rede hier von den neuen Bundesländern, die — mit einer Ausnahme — doch einen besonders guten Kontakt zum Bundesinnenminister haben.Wie hätte ich mich als Thüringer Lehrerin gefreut, wenn der Antrag des Landes Thüringen vom Bundesrat angenommen und in die abschließenden Beratungen eingebracht worden wäre. Soviel Eigeninteresse können Sie mir schon unterstellen. Ich kann meinen Kolleginnen und Kollegen nicht verdenken, daß auch sie sehr angetan waren, und ihren Ärger auf die Altbundesländer, die ihnen angeblich die Gleichstellung nicht gönnten, verstehe ich auch.So ist der Sachverhalt doch dargestellt worden. Der Thüringer Kultusminister konnte gar nicht genug Veranstaltungen besuchen, auf denen er den Lehrern vorklagte, wie gerne er ihnen alle Forderungen erfüllen würde, wenn doch nur die Altländer nicht so geizig wären.Bei allem Verständnis für vorgezogenen Wahlkampf: Ein minimales Maß an Fairneß muß sein.
Lassen Sie uns doch das Kind beim Namen nennen: Die Gleichstellung der Lehrer kostet Geld. Für Geld sind die Finanzminister zuständig. Das ist in den neuen Ländern genauso wie in den alten.Um so mehr beschäftigen mich die Fragen: Warum hat man sich in den neuen Ländern nicht im Vorfeld auf einen neuen, vernünftigen und gemeinsamen Antrag geeinigt? Wieso ist es möglich, daß ein neues Bundesland, nämlich Sachsen, einen Antrag im Bundesrat durchbringt, der meilenweit hinter den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz zurückbleibt, während konservative Regierungsmitglieder aus den Nachbarländern ihre tollen Anträge in der Gegend herumschwenken?Ich bin überzeugt: Hätten sich die Ostländer einig in die Schlacht begeben, hätten sie die alten Bundesländer hinter sich gehabt. Wie sieht die Sache aus? Nach einem Blick in die Kassen haben sich offenbar die Regierungen der neuen Länder auf eine „Getrennt marschieren, vereint schlagen"-Strategie geeinigt. Die einen stellen tolle Anträge, gehen aber davon aus, daß sie das Gesetzgebungsverfahren nicht überstehen. Dann einigt man sich, nämlich auf den Antrag des Landes Sachsen.
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Gisela SchröterIch gehe fairerweise davon aus, daß bei dieser Abstimmung Thüringen seinen eigenen Antrag unterstützt hat.
Das ist — man muß schon sagen — genial.Allerdings hatte man bei der Regie wohl allzusehr darauf vertraut, daß am Ende der Legislaturperiode und noch dazu kurz vor der Sommerpause die Aufmerksamkeit in den Ausschüssen nachlassen würde.
Ich freue mich, diesmal nicht — wie sonst immer — sagen zu müssen: Mit uns Sozialdemokraten ist das nicht zu machen. Diesmal kann ich sagen: Mit den Mitgliedern des Innenausschusses kann man sich so etwas nicht leisten.
Der Antrag des Bundesrates, der die Diskriminierung der ostdeutschen Lehrer auf unbestimmte Zeit festgeschrieben hätte, ist im Innenausschuß abgelehnt worden. Ich betone: Er ist mit großer Mehrheit abgelehnt worden. Zwar ging der Konsens der Fraktionen dann nicht so weit, dem Änderungsantrag der SPD zuzustimmen, aber die Regierungsfraktionen haben entscheidende Änderungen in den ursprünglichen Entwurf eingebaut.Den Ländern wird danach bis zum 1. Juli des nächsten Jahres die Freiheit eingeräumt, die Lehrerbesoldung entsprechend den Vorgaben der Greifswalder Beschlüsse in die Tat umzusetzen. Wir stimmen diesen Änderungen zu; auch wenn meine Fraktionskollegen und ich es lieber gesehen hätten, wenn unser eigener Entwurf angenommen worden wäre. Die Gründe dafür sind in dem von uns heute eingebrachten Entschließungsantrag noch einmal deutlich dargelegt.Wir wollen den unwürdigen Schwebezustand, in dem sich die sogenannten Altfälle befinden, beenden. Der Verzicht auf eine bundesgesetzliche Regelung ist nur unter den gegebenen Umständen zu vertreten. Grundsätzlich ist die Lehrerbesoldung durch Bundesgesetz zu regeln.Die Länder können nun ihre Vorstellungen in eigener Verantwortung verwirklichen. Ich bin sehr gespannt, was in der Praxis dabei herauskommt.Gerade die Thüringer haben jetzt Gelegenheit, bei der Lehrerbesoldung in den neuen Ländern die Vorreiterrolle zu übernehmen. Ich werde sehr aufmerksam und, wenn es sein muß, auch mißtrauisch beobachten, ob Thüringen seinem eigenen Antrag buchstabengetreu folgt oder ob dieser unter dem Druck der Haushälter zur Makulatur verkommt.Die Geschäftigkeit, mit der die Thüringer Landesregierung noch in letzter Minute einen neuen Antrag einbrachte, der die Besonderheiten des Thüringer Schulsystems auch noch geregelt wissen will, läßt jedoch einige Zweifel aufkommen.Lassen Sie uns heute die Altfälle regeln! Das können wir mit dem vorliegenden Antrag erreichen. Die Regelung aller Sonderfälle setzt eine gründliche Bestandsaufnahme voraus. Dazu sollten sich alle Länder, neue und alte, zusammensetzen.Das künftige Bundesgesetz zur Lehrerbesoldung setzt verläßliche Daten und weitgehende Einigkeit der Kultusminister voraus. Hätte man diese Sorgfalt schon bei den heute zur Debatte stehenden Anträgen walten lassen, wäre uns und den Lehrern in den neuen Ländern einiges erspart geblieben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorhergehende Debatte hat ein merkwürdiges Ende genommen. Ich wollte Ihnen sagen, Herr Kollege Weiß, daß ich die Verhandlungen zum Einigungsvertrag nicht als ein Aufeinandertreffen von Überlegenen und Unterlegenen verstanden habe, sondern als eine Wiedervereinigung, die vielen von uns, auch mir, die eigene Heimat wiedergegeben hat.Ich glaube, man sollte nicht den Eindruck erwekken, daß das Ungleichgewicht, das es gegeben hat, eine Folge irgendwelcher nachrichtendienstlicher Tätigkeiten gewesen sei. Es war vielmehr die Folge der Tatsache, daß die Bevölkerung der DDR unter einem ausbeuterischen System gelebt hat, dem sich einzelne wie ich haben entziehen können, und andere haben dort einen großen Teil ihres Lebens verbracht. Das ist der Tatbestand.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Lehrerbesoldung hat heftige Emotionen ausgelöst, die ich in dieser Massivität nicht erwartet hatte. Wir reden natürlich über Geld. Es geht um 350 bis 500 Millionen DM pro Jahr. Die Beschlüsse der Greifswalder Kultusministerkonferenz über die Einstufung der Lehrer mit Ausbildung nach altem DDR-Recht verursacht Kosten, kein Zweifel.Aber wir reden nicht nur über Geld, sondern auch darüber, daß die Einstufung der Lehrer gerecht sein muß. Die Betroffenen dürfen nicht grundlos und auf Dauer schlechtergestellt werden als die Lehrer in den alten Bundesländern mit vergleichbarer Ausbildung oder mit vergleichbarer Leistung. Sie dürfen nicht gleichsam dafür bestraft werden, daß sie ohne ihr Verschulden nicht die Ausbildung durchlaufen konnten, die es in Westdeutschland gab.Ich teile zwar nicht die Besorgnis, daß wegen dieses Besoldungsstreits die Schulabschlüsse in Ostdeutschland weniger wert wären oder unterschiedlich bewertet würden. Der Streit über die Besoldung der Lehrer ist kein Streit über die Ausbildung der Schiller und über die Anerkennung der Abschlüsse. Wir wollen keine tatsächliche Diskriminierung von Lehrern, und
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Dr. Burkhard Hirschwir wollen natürlich keine tatsächliche Diskriminierung von Schülern.Aber Schulpolitik ist Ländersache. Wir sind nicht bereit, über Besoldungsgesetze die tatsächliche Schulpolitik auf den Bund zu übernehmen. Diese Verantwortung müssen die Länder tragen.Wir haben alle ostdeutschen Kultus-, Innen- und Finanzminister persönlich angeschrieben und um ihre Stellungnahme gebeten. Bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen, die ich hier mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe bedecken möchte, weil sie teilweise unterschiedliche Meinungen innerhalb derselben Landesregierung darstellen, gibt es offenbar eine ganz breite Übereinstimmung darin, daß der von uns im Innenausschuß vorgetragene Gedanke richtig ist, daß die ostdeutschen Bundesländer ihre Altlast, also die Besoldung der Lehrer mit alter Ausbildung, selbst lösen sollen. Die Entscheidung muß dort fallen, wo die Verantwortung wahrgenommen werden muß.Das gilt auch für die in dem ursprünglichen Gesetzentwurf enthaltenen Einstufungen von Lehrern mit neuer Ausbildung für Schularten, die es in Westdeutschland bisher nicht gibt.Wir haben im Bundestag immer daran festgehalten, daß wir solche Fragen nicht streitig entscheiden, sondern erst dann, wenn sich die für die Schulpolitik zuständigen Länder untereinander geeinigt haben. Daran wollen wir festhalten.
Dann sind wir natürlich auch bereit, Herr Kollege, das zu tun. Je schneller wir die Gewißheit haben, daß eine solche Einigung zu erzielen ist, um so besser wird es für alle Betroffenen sein.Das alles führt uns dazu, in dem nun vorgelegten Gesetzentwurf die Entscheidung über die Besoldung der Lehrer mit alter Ausbildung dorthin zu geben, wo sie hingehört, nämlich zu den Regierungen oder den Parlamenten der neuen Bundesländer. Wir gehen davon aus, daß sie diese Aufgabe bis Mitte nächsten Jahres gelöst haben können und werden. Darum bitten wir das Haus, den Gesetzentwurf in der vom Innenausschuß vorgelegten Fassung zu verabschieden.
Das Wort erteile ich nunmehr der Abgeordneten Frau Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Hickhack um die Besoldung der Lehrerinnen und Lehrer aus Ostdeutschland gehört mit zu den finstersten Kapiteln der Verletzung des Einigungsvertrages. Der hier ursprünglich vorgelegte Gesetzentwurf dokumentiert das mit allem Nachdruck. Mit ihm war beabsichtigt, nicht nur die Lohnangleichung weiter zu verzögern, sondern auch die erworbenen Lehrbefähigungen als minderwertig zu behandeln. Dieser Gesetzentwurf richtete sich gegen die Würde einer ganzen Berufsgruppe. Die Diskriminierung der Lehrerinnen und Lehrer sollte auf Dauer festgeschrieben werden.
So heißt es denn in einem der mehreren hundert Protestbriefe, die wir, wie sicher auch Sie, erhalten haben — ich zitiere —:
Die Menschen in den neuen Ländern sind nicht bereit, diese Ungerechtigkeiten hinzunehmen. Sie widersprechen dem Gedanken der sozialen Einheit. Menschen werden grundgesetzwidrig wegen ihrer Herkunft benachteiligt. So wird sozialer Unfriede gesät und der Nährboden für antidemokratische Haltungen bereitet.
Soweit Betroffene im Original.
Ihrem massenhaften Protest und ihren Widerstandsaktionen ist es zu danken, daß der unsägliche Gesetzentwurf vom Tisch ist und wir es heute hier mit einer regierungsübergreifenden Kompromißvariante zu tun haben. Natürlich ist dieser Kompromiß gegenüber der Bundesratsinitiative von Sachsen eine deutliche Verbesserung, aber eine dem Einigungsvertrag entsprechende Lösung ist es nicht. Der jetzige Vorschlag bedeutet, daß sich die Bundesregierung aus der Verantwortung stiehlt, eine akzeptable bundeseinheitliche Regelung für die Besoldung ostdeutscher Lehrerinnen und Lehrer zu finden. Dies überantwortet sie nun der Länderhoheit.
Vielleicht ist das nach dieser Vorgeschichte auch gut so; denn eine landesrechtliche Regelung zur Besoldung und Einstufung der Lehrerinnen und Lehrer ist allemal besser als ein bundeseinheitliches Diskriminierungsgesetz. Ich denke, so sehen das auch die Gewerkschaften. Nur, die jetzt vorgeschlagenen Regelungen entsprechen nicht den Forderungen der Betroffenen nach Überleitung der in der DDR erworbenen Lehrbefähigung im Sinne einer Gleichstellung in bundeseinheitlichen Regelungen. Nach dem heutigen Beschluß besteht vielmehr die Gefahr, daß trotz identischer Qualifikationen von Land zu Land unterschiedliche Einstufungen vorgenommen werden und das dann sogar unter den ostdeutschen Lehrerinnen und Lehrern zu neuen Ungerechtigkeiten führt.
Deshalb wird die PDS/Linke Liste einer dem Ermessen und der Willkür einzelner Landesregierungen überlassenen Regelung zur Lehrerinnen- und Lehrerbesoldung nicht zustimmen und an ihrem Antrag festhalten. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die in der DDR erworbene Lehrbefähigung grundsätzlich als gleichwertig anerkennt und dementsprechend bundesbesoldungsrechtlich einstuft.
Sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Redezeit ist beendet.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist mit der Mehrheit dieses Hauses der Auffassung, daß der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf zur Lehrerbesoldung dem Auftrag des Einigungsvertrages nicht gerecht wird. Der im Innenausschuß erarbeitete Kompromiß fordert die ostdeutschen Länder auf, die notwendigen Regelungen in eigener Verantwortung zu treffen. Das ist richtig so. Die Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz in Greifswald vom Mai des vergangenen Jahres sind dafür eine gute Grundlage. Der von der PDS nachträglich eingebrachte Antrag ignoriert die bereits erzielte Absprache und fordert vom Bund, was allein Sache der Länder ist. Offenbar ist es schwierig, sich zentralistisches Denken abzugewöhnen.
Die ostdeutschen Länder werden sehr wohl in der Lage sein, sich auf einheitliche Regelungen zu einigen und bei der Besoldung von ihren realen Möglichkeiten auszugehen. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind bereit, für eine Anpassungszeit eine geringere Besoldung in Kauf zu nehmen. Entscheidend ist, daß dies nicht zu einer dauernden Benachteiligung gegenüber ihren westdeutschen Kollegen führt.
Insbesondere die Forderung nach Gleichstellung der Grundschullehrer, die in der DDR eine Fachschulausbildung abgeschlossen und ausreichende praktische Erfahrungen haben, ist gerecht — eine Forderung, der die Länder unbedingt nachkommen sollten.
Gleichwohl darf nicht aus dem Blick geraten, daß es nicht wenige Lehrer gibt, die in der DDR gefügige Werkzeuge der SED waren, die gewissenlos die Ideologisierung und Militarisierung der Schule mitgetragen und oftmals auch Kinder in ihrer Menschenwürde verletzt haben.
Besonders ekelhaft waren solche sogenannten Pädagogen, die Kollegen und Eltern bespitzelt oder sogar Kinder für ihre Spitzeldienste mißbraucht haben. Die ostdeutschen Bundesländer sollten bei den anstehenden Regelungen dienstrechtliche Möglichkeiten schaffen, um solche Lehrer auch nachträglich noch aus dem Schuldienst zu entfernen, falls sie bislang ihre Gemeinheiten verbergen konnten.
Auf jeden Fall aber ist dafür eine Einzelfallprüfung notwendig. Ich habe immer auch Lehrerinnen und Lehrer erlebt, die nicht nur fachlich befähigt, sondern auch mutig und menschlich waren. Nicht selten waren dies — das sage ich ausdrücklich — Mitglieder der SED, die selber unter der verfehlten Volksbildungspolitik ihrer Partei gelitten haben.
Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, für eine gerechte Behandlung der mutigen und menschlichen Pädagogen Sorge zu tragen. Dazu gehört auch, daß Erzieherinnen und Erzieher, die in der DDR bewußt
auf eine staatliche Ausbildung verzichtet haben und in kirchlichen Einrichtungen ausgebildet worden sind, gleiche berufliche Chancen erhalten. Es wäre wirklich unerträglich, wenn ehemaligen Pionierleitern der Zugang zum Lehramt ermöglicht, Erziehern mit einer katechetischen Ausbildung dies aber verweigert würde.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus-Dieter Feige gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort, wobei er mir zugesichert hat, daß sich diese Erklärung auf einen Satz beschränkt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Dank dafür, daß der Antrag vom Tisch ist. Wir können aber, und zwar die Abgeordneten Schulz, Ullmann und ich, die Beschlußempfehlung des Innenausschusses als vorgeschlagene schlechte Kompromißlösung nicht teilen, da sie die Verantwortung für die Anpassung der Lehrerbesoldung auf die Länder überträgt und das Ergebnis auf Grund der derzeitigen Finanzknappheit schon jetzt abzusehen ist.
Alles andere entnehmen Sie bitte angesichts der fortgeschrittenen Zeit dem Protokoll.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften der Lehrerbesoldung, der Ihnen auf den Drucksachen 12/7521 und 12/8097 vorliegt.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und Werner Schulz auf Drucksache 12/8099 vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist dieser Antrag bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Lesung angenommen worden.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Damit ist der Gesetzentwurf gegen die Stimmen der Gruppe PDS/Linke Liste und des Abgeordneten Klaus-Dieter Feige in dritter Lesung angenommen.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD. Er liegt Ihnen auf Drucksache 12/8098 vor. Wer stimmt für
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Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergdiesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist bei Enthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt worden.Wir kommen nunmehr zu Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Gruppe PDS/Linke Liste — er liegt Ihnen auf Drucksache 12/8029 vor — an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 6a bis w auf: Umweltdebattea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu internationalen Übereinkommen über den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebietes und des Nordostatlantiks— Drucksache 12/7847 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/8076 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Dietmar SchützDr. Jürgen Starnickb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 19. November 1991 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend die Bekämpfung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen oder ihres grenzüberschreitenden Flusses— Drucksache 12/7846 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/8077 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Dietmar SchützDr. Jürgen Starnickc) — Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes— Drucksache 12/3487 —
— Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes und anderer Gesetze— Drucksache 12/4105 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) — Drucksache 12/7725 — Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Ulrike MehlGerhart Rudolf BaumDr. Dagmar EnkelmannDr. Klaus-Dieter Feiged) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen"— Drucksache 12/7144 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAuswärtiger AusschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung, Technologieund Technikfolgenabschätzung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeite) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Lennartz, Klaus Kirschner, Wolfgang Weiermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ökologischer Gesundheitsschutz— Drucksachen 12/3385, 12/6128 —f) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Monika Ganseforth, Brigitte Adler, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Umweltschutz bei der Bundeswehr— Drucksachen 12/5817, 12/7002 —g) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klimaschutz-Erfolgsbilanz der Bundesregierung— Drucksachen 12/5384, 12/7106 —h) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Susanne Kastner, Michael Müller , Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Drohende Grundwasserversauerung und fortschreitende Bodenversauerung— Drucksachen 12/5816, 12/7282 —i) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEntwicklungs- und wirtschaftspolitische Folgerungen aus der UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro— Drucksachen 12/6604, 12/7608 —j) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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20612 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergDie EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung und die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren— Drucksachen 12/1225, 12/2608 —k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Monika Ganseforth, Michael Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDInternationale Konvention zum Schutz der Wälder— Drucksache 12/5398 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit1) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Michael Müller , Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDioxin-Minderungsprogramm— Drucksache 12/6386 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
SportausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheitm) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, Dietmar Schütz, Michael Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUmweltpolitische Konsequenzen aus dem Jahrhundert-Hochwasser— Drucksache 12/6735 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaun) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Wernitz, Michael Müller , Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNotwendige Regelungen zum Schutz des Bodens und zur Sanierung gefährlicher Altlasten— Drucksache 12/6747 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschußo) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENÖkologisch-soziale Steuerreform jetzt— Drucksache 12/7519 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAusschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzungp) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Dr. Christine Lucyga, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBeendigung der Waffenerprobung und Schießübungen im Watten- und Boddenmeer— Drucksachen 12/417, 12/4785 —Berichterstattung:Abgeordnete Helmut Lamp Dietmar SchützGerhart Rudolf Baumq) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Ganseforth, Robert Antretter, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verminderung der durch den Flugverkehr verursachten ozonzerstörenden und treibhausrelevanten Emissionen— Drucksachen 12/2633, 12/6742 —Berichterstattung:Abgeordnete Steffen Kampeter Monika GanseforthGerhart Rudolf Baumr) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Eckart Kuhlwein, Ulrike Mehl, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUmweltbildung und Umweltwissenschaften— Drucksachen 12/3768, 12/7307 —Berichterstattung:Abgeordnete Werner Ringkamp Eckart KuhlweinDr. Karlheinz Guttmachers) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Harald B. Schäfer (Offenburg), Klaus Lennarz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVermeidung, Verwertung und Beseitigung von Sonderabfällen— Drucksachen 12/4255, 12/7404 —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20613
Abgeordnete Steffen Kampeter Dr. Liesel Hartenstein
Birgit Homburger
t) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller (Düsseldorf), Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bekämpfung des Waldsterbens
— Drucksachen 12/5784, 12/7571 —Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang von Geldern Dr. Liesel Hartenstein
Dr. Jürgen Starnick
u) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten
— Drucksachen 12/6155 Nr. 3.16, 12/7635 —
Berichterstattung:
Abgeordnete
Simon Wittmann Susanne Kastner
Dr. Jürgen Starnick
v) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erhaltung der biologischen Vielfalt und Schutz gefährdeter Tropenholzarten
— Drucksachen 12/6420, 12/7825 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Ulrike Mehl
Gerhart Rudolf Baum
w) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ökologische Verkehrswende — Wege in eine gesunde Mobilität
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Ilja Seifert und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Erarbeitung eines ökologischen integrierten Gesamtverkehrskonzeptes für die Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 12/3659, 12/3736, 12/5641 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus-Heiner Lehne
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Interfraktionell wird eine Debattenzeit von einer Stunde vorgeschlagen. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Klaus Lippold das Wort zur Eröffnung der Debatte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Ende einer Legislaturperiode ist es üblich, Bilanz zu ziehen. Ich glaube, wir können ohne Übertreibung sagen, daß die umweltpolitische Bilanz dieser Bundesregierung ausgesprochen gut ist.
Wir haben es geschafft, auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten im Umweltschutz weiterzukommen. Wir sind einen Pfad gegangen, der Ökologie mit Sozialer Marktwirtschaft verbunden hat. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz, das gerade den Vermittlungsausschuß passiert hat, ist ein hervorragendes Zeichen dafür. Ich freue mich, daß Sie sich Ihrer Mitverantwortung erstens nicht entzogen und zweitens durch die Mitwirkung auch deutlich gemacht haben, daß dies im Kern ein ausgesprochen gutes Gesetz ist, denn es ist wenig von den „essentials" geändert worden. Ich freue mich, daß wir es in dieser Form durchbekommen haben, weil es natürlich ein revolutionärer Ansatzpunkt ist, eine neue Form von Produktverantwortung kreiert, wie wir sie früher nicht hatten.Wir haben damit umweltpolitisch eine Spitzenstellung. Auch Klaus-Dieter Feige wird viele Worte brauchen, um verschleiern zu können, daß er im Grunde damit doch übereinstimmt. Aber er hat eben noch ein etwas falsches Rollenverständnis: Opposition heißt nicht, daß man auch gute Dinge kritisieren muß. Man kann durchaus mal sagen, wenn etwas stimmt.
Das gleiche gilt für die Novelle zum Chemikaliengesetz, bei der wir mehr Sicherheit verankert haben, hei der wir deutlich gemacht haben, daß unsere Standards europäisch übernommen werden und dies dort, wo es noch nicht komplett der Fall ist, in absehbarer Zeit der Fall sein wird. Wir haben den höchsten Sicherheitsstandard in Europa, wir haben den höchsten Sicherheitsstandard weltweit. Das muß man wissen, weil wir dadurch natürlich auch Akzeptanz für Industrie in Deutschland bekommen, Akzeptanz für Chemie in der Bundesrepublik Deutschland bekommen. Dies macht deutlich, daß Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie auch in diesem Beispiel realisiert wird.Zum Energie-Artikelgesetz haben wir deutlich gemacht, daß wir auch in der Kernenergie weltweit Höchststandards anstreben und uns auch weiterhin an die Spitze der internationalen Entwicklung setzen. Ich
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Dr. Klaus W. Lippold
glaube, wer solche Regelungen wie wir verabschiedet hat, sucht in der Welt seinesgleichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wesentlich ist, daß wir uns nicht nur im nationalen Bereich um die Fragen von Umweltpolitik kümmern, sondern daß wir uns auch der globalen Probleme annehmen: der Klimaschutzproblematik, der Zerstörung der Ozonschicht, der Frage nicht nur der tropischen Regenwälder, denen wir in der Vergangenheit viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, sondern auch der Wälder der nördlichen Hemisphäre.Wir haben auch in der CO2-Diskussion, was den Klimaschutz angeht — —
— Nein, Herr Schütz, das wissen Sie doch selbst, warum also solche Fehlinformation?
Aber auch hier sind wir weiter als andere: Wir haben die Wärmeschutzverordnung novelliert, die Heizungsanlagenverordnung novelliert, wir haben eine ganze Reihe weiterer Gesetze geändert, um hier deutlich zu machen, daß wir dieses Problem nicht nur international, sondern auch national vorantreiben. Ich glaube, das ist wichtig.Wir werden diese Position weitertreiben. Wir werden im Wärmeschutzbereich, insbesondere im Gebäudebestand, weitere Maßnahmen ergreifen. Wir werden auch die Wärmeschutzverordnung noch einmal novellieren.
— Ich sage das nur, damit Sie sehen, daß wir das Problem begriffen haben.
Wir werden auch im Kraftwerksbereich das dort gegebene Einsparpotential nutzen. Wir werden die Effizienzsteigerung fortsetzen. Ich glaube, daß das wichtig ist. Auch werden wir eine praktikable Wärmenutzungsverordnung schaffen; auch dies ist notwendig.Wir werden die Substitution CO2-reicher durch CO2-arme oder CO2-freie Energieträger vorantreiben. Das heißt, wir müssen auch in Zukunft Steinkohle und Braunkohle ersetzen. Wir müssen auf andere Positionen umstellen. Wir haben hier die Möglichkeiten, und wir werden sie nutzen. Ich komme auf das zurück, was ich gerade zum Energie-Artikelgesetz gesagt habe. Mit der neuen Generation von Kraftwerken, die wir anstreben, können wir auch in Zukunft Kernenergie nutzen, um Klimaschutzpolitik voranzutreiben. Ich glaube, daß wir hierzu, ähnlich wie im Verkehrsbereich, alle Elemente nutzen müssen. Dazu gehören auch preispolitische Elemente.Im Verkehrsbereich werden wir die technologischen Möglichkeiten der Einsparung beim Energieverbrauch, sowohl was das Automobil, die Bahn alsauch das Flugzeug angeht, nutzen. Wir werden dies — ich sage das ganz deutlich — steuerpolitisch begleiten müssen, damit wir Akzeptanz dafür haben. Wir werden dies steuerpolitisch so begleiten, daß es weder einen Strukturbruch in der Wirtschaft gibt noch zu sozialen Belastungen kommt, so daß wir Akzeptanz auch für diese Maßnahme finden. Ich glaube, daß es gut wäre, wenn auch Sie signalisieren würden, daß Sie dies bei solchen Prozessen, die langfristig angelegt sein müssen, mittragen, damit die Akzeptanz auf eine breite Basis gestellt wird und wir Klimaschutzpolitik schneller durchsetzen können, als das ohne diese Akzeptanz der Fall wäre.
Ich meine, daß wir in diesem Bereich besonders arbeiten müssen, weil wir in der Mitte Europas als Kernland natürlich mit ganz besonderem Verkehrsaufkommen zu rechnen haben. Wenn wir uns nicht gemeinschaftlich um diese Problematik kümmern, wird es ausgesprochen schwierig werden.Ich will aber auch deutlich machen, daß wir uns über die Klimaschutzproblematik hinaus — ich habe gerade schon von den Wäldern gesprochen — darum kümmern müssen, daß aus der Wald-Deklaration, die in Rio verabschiedet wurde, eine echte Konvention mit zwingenden Vorschriften zum Schutze der Wälder wird. Klaus Töpfer hat hier eine hervorragende Vorarbeit geleistet. Ich hoffe, daß es gelingen wird, diese Waldkonvention auf der Vertragsstaatenfolgekonferenz zu verabschieden. Wenn dies der Fall sein wird, ist das — das muß man ganz deutlich sagen — sein Ergebnis. Er läßt in dieser Frage keine Gelegenheit aus, um international für das Voranschreiten dieser Politik zu werben.
Ich will aber auch deutlich machen, daß wir nicht nur diesen Bereich sehen müssen, sondern daß wir die Sorgen und Nöte anderer Länder aufgreifen müssen, die die Ausbreitung der Wüsten als besondere Gefahr in ihren Ländern haben und damit fertig werden müssen. Wenn wir dies aufgreifen, werden wir auch in diesen Ländern Unterstützung für die Waldkonvention finden, die sonst in vielen anderen Bereichen auf Schwierigkeiten treffen würde. Ich sage noch einmal: Auch dies muß vorangetrieben werden.Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Wir haben über der Beschäftigung mit diesen drängenden Problemen nach meinem Dafürhalten etwas außer acht gelassen: die Bedrohung der Meere weltweit, die Bedrohung der Gewässer weltweit. Gerade die Wasserproblematik wird zukünftig eines der zentralen Themen sein, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Ich persönlich würde dafür plädieren, daß wir auch in dieser Frage einen globalen Ansatz finden, damit alle Staaten dieser Erde zum Wasserschutz beitragen.
Auch hier würde ich Sie einladen, diese Politik zu unterstützen. Wenn wir dies gemeinschaftlich machen, werden wir nicht nur für unser Land, sondern weltweit den Fortschritt erzielen, den wir uns alle miteinander wünschen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20615
Dr. Klaus W. Lippold
Zu dieser Politik lade ich Sie ganz herzlich ein.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Professor Monika Ganseforth.
Herr Vorsitzender! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir haben heute über eine Vielzahl von Themen in Gestalt von Anträgen, Anfragen, Berichten und Gesetzentwürfen aus dem Umweltbereich zu debattieren. Herr Lippold hat das soeben eine „Bilanz" genannt. Ich denke schon, daß es richtig ist, auch positive Sachen zu nennen. Aber das, was hier vorgetragen wurde, war ausgesprochen einseitig.
Wir hätten nicht so viele Anträge vorliegen, wenn das alles abgehakt wäre.
Gerade die Vielzahl der Anträge, Anfragen usw. zeigt, wieviel im Laufe der Legislaturperiode aufgelaufen ist und nicht erledigt, sondern auf die lange Bank geschoben worden ist. Mit der Methode des Aussitzens erledigt man leider nichts. Die brennenden Probleme liegen nach wie vor auf der Hand.Dabei geht es einmal um die Novelle des Naturschutzgesetzes, die seit drei Legislaturperioden angekündigt ist, bis heute nicht verabschiedet wurde und wieder einmal beerdigt werden soll.Grundwasser- und Bodenversauerung ist ein wichtiges Thema. Das ist eine Zeitbombe, die tickt. Durchgreifende Maßnahmen, um den sauren Regen einzudämmen, um die Stickoxid- und Ammoniakemission aus Verkehr und Landwirtschaft zu reduzieren, werden nicht ergriffen. Das wäre aber auch zur Bekämpfung des Waldsterbens dringend notwendig. Apropos Trinkwasser, Herr Lippold: Sie haben das zwar angesprochen, aber wo bleibt der EG-Trinkwassergrenzwert? Pestizide gehören nicht ins Trinkwasser. Da könnten Sie etwas tun, aber auch das hakt.Oder nehmen wir das Thema Tropenwalderhaltung. Obwohl wir lange darüber diskutieren, geht die Zerstörung nach wie vor unvermindert weiter. Natürlich bedarf es internationaler Vereinbarungen — das haben wir lange genug gesagt —,aber auch national muß etwas getan werden. Sie wissen alle, daß die Importe von Tropenholz in die Bundesrepublik eher gestiegen als zurückgegangen sind. Es hat nur eine Verschiebung innerhalb des Angebotes gegeben, und nur etwa 1 % kommt aus nachhaltiger Nutzung. Nach wie vor werden riesige Mengen Tropenholz in die Bundesrepublik eingeführt. Weder die vom Bundestag einstimmig geforderte Umwandlung des Tropenwaldaktionsplanes in einen Tropenwaldschutzplan ist erfolgt, noch wurde der Fonds zum Schutz des Tropenwaldes eingerichtet. Die Umweltfazilitäten sind bei weitem nicht ausreichend.Ich habe gesagt, positive Sachen muß man auch erwähnen. Das Pilotprogramm in Brasilien ist sicher im Ansatz nicht verkehrt, sondern begrüßenswert, aber die Durchführung ist so mangelhaft, daß es sehrschnell zu neuen Maßnahmen kommen muß, die wirklich etwas bringen.Doch all die Fragen bündeln sich wie in einem Brennglas in dem Thema Klimaschutz. Hier ist die Bundesregierung dabei, zu tricksen wie in keinem anderen Bereich. Sie wissen, daß es drei Kabinettsbeschlüsse zur CO2-Reduktion gibt: einen vor der Einheit im Juni 1990, also jetzt vor vier Jahren, einen nach der Vereinigung, in den von einer CO2-Reduktion um 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005 in den alten Ländern und von deutlich höheren prozentualen Minderungen in den neuen Ländern die Rede ist. Der dritte Kabinettsbeschluß war nach der Bundestagswahl. Dann gibt es dazu eine Koalitionsvereinbarung vom Januar 1991 und eine Regierungserklärung. Nun ist die Frage: Was ist geschehen?Übrigens ist das Ganze auch international noch groß aufgezogen worden. Vor zwei Jahren sind Umweltminister Töpfer und der Bundeskanzler in Rio vor der Weltöffentlichkeit aufgetreten, haben sich feiern lassen und sich öffentlich zu den Klimaschutzzielen verpflichtet. Was ist seitdem in der Klimaschutzpolitik passiert?Ich muß richtig lachen, wenn Herr Lippold sagt, die Wärmeschutzverordnung müsse novelliert werden. Die neue Wärmeschutzverordnung ist noch gar nicht in Kraft, und schon wollen Sie sie wieder novellieren, weil sie so unzureichend ist. Das ist ja das Elend dabei.
Wer glaubt, durch eine Wärmeschutzverordnung CO2 reduzieren zu können, der irrt. Es geht um Neubau, und beim Neubau wird immer mehr CO2 emittiert. Das einzige, was Sie erreichen, ist, daß der Zuwachs nicht so schlimm ist, wie er sein könnte, sondern reduziert wird. Solange Sie nicht an den Altbaubestand gehen — und das haben Sie nicht gemacht — und Geld in die Hand nehmen, ist das wirklich keine Maßnahme, die uns weiterbringt. Aber auf dem Niveau läuft das hier ab.Was den Klimaschutz und die Verkehrspolitik betrifft, so kann ich mir einen größeren Gegensatz überhaupt nicht vorstellen. Mit Vollgas in den Verkehrskollaps — das ist die Politik Ihres Verkehrsministers, Ihre Verkehrspolitik.
Wir brauchen eine Verkehrswende. Auch heute in den Anträgen ist das ein Thema. Wir haben einen Antrag zum Luftverkehr. Das ist ein Verkehr, der in den sensiblen hohen Schichten der Erdatmosphäre stattfindet und verheerende Auswirkungen hat. Und dieser Verkehr wächst und wächst und wächst. Aber Sie sind noch nicht einmal bereit, über Maßnahmen zu diskutieren, z. B. über Steuern. Die Benzin- oder Kerosinsteuer im Luftverkehr würde mehr als 5 Milliarden DM bringen. Wir subventionieren diesen schädlichen Luftverkehr, und da sprechen Sie von Klimaschutz.Daß sich die Bundesregierung von der Klimaschutzpolitik verabschiedet hat, pfeifen inzwischen die Spat-
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Monika Ganseforthzen von den Dächern. In den neuen Ländern sind die CO2-Emissionen zwar zurückgegangen — nicht wegen Ihrer Politik, sondern wegen des Zusammenbruchs der Wirtschaft —, aber in den alten Ländern sind sie gestiegen.
— Die CO2-Emissionen in den alten Ländern haben seit 1980 um 2 bis 3 % zugenommen. — Gucken Sie sich die Daten des Umweltbundesamtes an; sie sind in der Großen Anfrage, die wir jetzt debattieren, enthalten. Dann können Sie es ausrechnen: Es hat einen Zuwachs an CO2-Emission in den alten Ländern gegeben. Wie Sie da das Reduktionsziel erreichen wollen, ist mir ein Rätsel.Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung handelt hier nach dem Motto: Nach uns die Sintflut.
Ich glaube, der Kanzler ahnt, daß er nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden kann, weil er dann, wenn er damit an die Öffentlichkeit gehen muß, nicht mehr das Sagen hat.
Das müssen dann unsere Minister und unser Kanzler vor der Öffentlichkeit verantworten. Das ahnt er, und deswegen nimmt er den Mund so voll. Er muß nicht mehr dafür geradestehen; Sie haben abgewirtschaftet, was die Umweltpolitik anbelangt.Klimaschutz kommt nicht von selber. Da muß man auch mal gegen Interessengruppen antreten; da muß man sich mal durchsetzen — auch im Kabinett. Natürlich freuen sich nicht alle über das — der Herr Töpfer kann sicher ein Lied davon singen —, was der Herr Wirtschaftsminister dazu sagt. Warum hakt denn z. B. die Wärmenutzungsverordnung? Sicher nicht deshalb, weil der Wirtschaftsminister oder die Bauministerin oder das Landwirtschaftsministerium so begeistert sind. Wir erleben in der Enquete-Kommission gerade, wie „unterstützend" die Beiträge da sind. Verkehrsministerium, Finanzminister: In allen Bereichen entstehen Konflikte. Das führt zu einer permanenten Blockade bei den entscheidenden Punkten.Es ist Aufgabe der Politik und des Kanzlers, bei Konflikten Konsens herzustellen oder zu entscheiden — und das passiert nicht. Es wird ausgesessen, es wird hängengelassen. Die Regierung hat längst die Kraft zum Handeln im Umweltschutz verloren. Sie hat die Politikfähigkeit verloren. Die Menschen im Lande wissen das.
Wir brauchen ein Klimaschutzgesetz, und wir brauchen eine neue Regierung. Wir brauchen einen Wechsel — auch in der Umweltpolitik.Schönen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerhart Rudolf Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, das war natürlich das typische Oppositionsritual — und nicht einmal gekonnt.
Gucken Sie sich doch mal an, wie Ihr Umweltprogramm abgespeckt worden ist, was der Scharping da noch alles verändert hat.
Ein Teil der Anträge, die Sie heute vorlegen, paßt doch gar nicht mehr zu dem Programm. Das kommt doch nicht von ungefähr!
Da gibt es Überlegungen, die sich an einer Realität orientieren, die Sie nicht wahrnehmen. Sie müssen doch erkennen, daß sich die Umweltminister der Länder, wenn Sie einmal die Konferenzen der Umweltminister der Länder mit dem Umweltminister des Bundes sehen, in vieler Hinsicht einig sind, aber eben Schwierigkeiten haben.Ich bin seit 1972 in verschiedenen Rollen in der Umweltpolitik hier in diesem Hause tätig.
— Natürlich, wir sind alle irgendwie an Versäumnissen schuld. Herr Kollege, Sie waren damals auch dabei. — Aber ich habe noch keine Situation erlebt, die für die Umweltpolitik so schwierig war wie die heutige. Es fehlte in vieler Hinsicht an der öffentlichen Unterstützung, an dem Bewußtsein — bis in die Gewerkschaften hinein. Es ist also eine sehr schwere und zähe Arbeit gewesen. Herr Töpfer hat das erlebt, und auch wir haben es — das sage ich ganz offen — in unseren Fraktionen erlebt. Ihnen, Herr Müller — wir haben uns oft ausgetauscht —, ist es manchmal nicht anders gegangen. Wir waren manchmal schon sehr froh, wenn wir Angriffe auf Bewährtes im Umweltrecht verhindern konnten. Das alles hat ja Gründe: die deutsche Einheit, die tiefe Rezession.Ich will hier auch selbstkritisch sagen: Ich habe mir mit dieser Koalition am Anfang der Legislaturperiode viel mehr vorgenommen. Die Koalitionsvereinbarung enthält viel mehr, als wir machen konnten. Es ging nicht. Wir mußten eine Umorientierung vornehmen. Wir mußten uns auf die Situation einstellen. Die Situation erforderte eben z. B. den Schwerpunkt neue Bundesländer, erforderte, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun.
Eine Schwerpunktverlagerung war, Deregulierung anzustreben, die langen Fristen zu überprüfen. Es ging also um Modernisierung, um Umorientierung.
Das alles ist nicht nur mit Freude zu sehen. Es wurden Notwendigkeiten gesehen, die so gar nicht bestanden. Es gibt bei uns Leute, die meinen, der Umweltschutz sei eine Angelegenheit für konjunktu-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20617
Gerhart Rudolf Baumrell angenehme Phasen, sozusagen eine Art Luxus. Ich finde, das ist eine völlig falsche Sichtweise.
Der Umweltschutz ist ein Teil der Sicherung des Standorts Deutschland, ein wichtiger Teil der Wettbewerbsfähigkeit.
Das müssen wir auch unseren Wirtschaftspolitikern sagen — und wir haben es auch getan —, die manchmal anderer Meinung waren.
Umweltpolitik bedeutet, technologische Innovationen zu schaffen. Die Umweltbranche ist eine Wachstumsbranche. Die ENTSORGA, die wir gemeinsam besucht haben, ist die größte Messe dieser Art in der Welt. Wir, die Deutschen, sind auf den internationalen Umwelttechnologiemärkten mit weltweit 21 % beteiligt. Damit liegen wir vor Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika. Das muß, meine ich, in der nächsten Legislaturperiode dazu führen, daß wir bestimmte Dinge, die wir nicht machen konnten, nachholen.Ich nenne Ihnen als Beispiel das Naturschutzgesetz. Wir hätten das liebend gern verabschiedet, aber das muß finanziert werden.
Ein Schlüssel für die Finanzierung liegt bei den Bundesländern.
Der Landwirtschaft muß etwas gezahlt werden, sonst kommt das Gesetz nicht.
Keiner der SPD-Finanzminister hat uns sagen können, wie das Gesetz finanziert werden soll. Bleiben Sie doch bitte ehrlich! Es war nicht zu finanzieren. Das muß aber erneut versucht werden; es ist ein ganz wichtiges Gesetz.
Es wäre mir auch lieber gewesen, wenn wir schon früher mit der Einführung der marktwirtschaftlichen Instrumente beg onnen hätten. Entgegen manchen — auch in meiner Partei —, die meinen, das Ordnungsrecht sei ziemlich überflüssig, bin ich der Auffassung: Wir brauchen das Ordnungsrecht. Wir müssen es entrümpeln. Wir müssen es auf seine Funktionsfähigkeit überprüfen. Aber eine nachhaltige und konsequente Umorientierung unseres Produzierens und Verbrauchens ist eben nur durch neue, marktwirtschaftliche Instrumente, vor allem durch die Weiterentwicklung unseres Steuersystems unter ökologischen Gesichtspunkten, machbar.Das hat meine Partei jetzt in einem Wahlprogramm beschlossen. Ich hoffe, daß das auch in der Realität Gegenstand der Politik der Koalition wird. Dort heißt es:Eine stufenweise einzuführende, an den tatsächlichen Treibhausgasemissionen orientierte CO2-Steuer und eine am Energieverbrauch orientierte Energiesteuer sollen Anreize bringen.Wir sind sogar der Meinung: Wenn das in Europa nicht gelingt — Herr Töpfer, ich wünsche Ihnen sehr, daß wir unter Ihrer Präsidentschaft einen Schritt weiterkommen —, wollen wir das nach zwei Jahren national versuchen:Die stufenweise Erhöhung der Mineralölsteuer ist die liberale und effiziente Alternative zur staatlichen Festlegung von Verbrauchswerten oder zur europaweiten Einführung einer Kaufsteuer für Kraftfahrzeuge.Das ist ein solches marktwirtschaftliches Instrument. Diese Politik folgt der Einsicht, daß Energieproduktion und -verbrauch in großem Umfang ökonomische Kosten verursachen, die eben nicht in das Preissystem der Marktwirtschaft eingehen und damit verzerrte Energiepreise bewirken.Diese Politik, die erstaunlicherweise jetzt auch ein Mann aus der Wirtschaft, der VEBA-Chef Ulrich Hartmann, unterstützt — er fordert eine Energiesteuer —, ist dringend notwendig. Wir brauchen eine energiewirtschaftliche Wende auch zur Eindämmung des Straßenverkehrs.
Im Grunde brauchen wir einen Energiekonsens. Es ist wirklich zu bedauern, daß in unserem Land, das mit der Energiewirtschaft Europas so eng verflochten ist, selbst ein Minimalkonsens nicht möglich war. Hätte sich Herr Schröder doch bei Ihnen durchgesetzt! Dann wären wir heute wahrscheinlich weiter, als wir bis jetzt gekommen sind. Ich meine, das ist eine Aufgabe, der wir uns stellen müssen.Wir brauchen stärkere Wachstumsimpulse durch Privatisierung. Es ist doch überhaupt nicht einzusehen, daß privates Kapital in der Abfall-, in der Entsorgungs- und in der Abwasserwirtschaft keine stärkere Rolle spielt.Wir müssen umdenken, vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, um Kapital und unternehmerischen Einsatz zu mobilisieren.
Wir müssen uns mit der Gebührenentwicklung in den kommunalen Haushalten beschäftigen. Da gibt es vielfache Ursachen. Da findet zur Zeit. ein SchwarzerPeter-Spiel statt. Wir sind alle dafür verantwortlich, auch die Kommunen. Auch sie haben einen wesentlichen Einfluß auf die Gebührenentwicklung. Das ist eine ganz schwierige Frage, eine von Emotionen belastete Frage, der wir uns stellen müssen, weil die Gebühren sehr hoch sind, zu hoch sind und den Bürger in einer Weise belasten, die er nicht mehr durchschauen kann. Es ist nicht mehr transparent.
Ein Bündel von Maßnahmen ist notwendig, um die kommunalen Gebühren wieder aus dem Gerede zu bringen. Ich glaube, wir haben einen sehr wichtigen Schritt zur Stärkung der Mitverantwortung und des
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20618 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Gerhart Rudolf BaumSelbstbewußtseins des Parlaments getan, indem wir diese Verordnungskompetenz wieder an uns gezogen haben.Wir sind für Dinge verantwortlich gemacht worden, etwa im Dualen System, die wir nie entschieden haben. Wir müssen in der Lage sein, Dinge an uns zu ziehen, wenn es notwendig ist. Das haben wir durchgesetzt. Wir werden uns auch um den Vollzug kümmern müssen. Es gibt eine sogenannte symbolische Gesetzgebung. Die Leute ruhen sich aus, weil irgendwelche Gesetze da sind, ohne sich zu fragen: Werden die Gesetze angewandt? Sind sie überhaupt so, daß sie angewandt werden können?Diese Frage richtet sich natürlich auch an die Europäische Gemeinschaft, die zunehmend unsere Kompentenzen übernimmt. Wir haben ja gar nicht mehr so viel selbst zu entscheiden.Ich hätte mir sehr gewünscht, daß das Bodenschutzgesetz, Herr Töpfer, auf den Tisch gekommen wäre. Das brauchen wir dringend. Wir brauchen Vorsorgeregelungen, und zwar bundesweit. Wir brauchen Vorgaben für die Sanierung, insbesondere in den neuen Bundesländern.Wir brauchen einen umweltpolitischen Kurs, der ohne Beschönigung und Verharmlosung, aber auch ohne übertreibende Dramatisierung nicht nur die Ziele, sondern auch die Konflikte mit anderen Zielen aufzeigt. Wir kommen immer wieder in Konfliktzonen, beispielsweise in die Konfliktzone Arbeit.Manche dieser Konflikte sind hochgespielt, sind Scheinkonflikte. Aber es ist ein mühseliger Prozeß, diese Konflikte aufzuzeigen und sie dann aufzulösen. Ich meine, nicht lähmende Resignation, sondern Mut und Entschlußkraft sind weiterhin gefordert. Die Parole kann nicht lauten: „Ohne Umweltschutz zu höherem Wirtschaftswachstum", sondern nur: „Mit dem Umweltschutz aus der Krise" .Wir müssen mit der knappen Ressource Umwelt in unserem eigenen Lande noch viel sorgsamer umgehen, als wir es heute tun. Ich meine, daß wir nicht selbstzufrieden sein können. Aber wir haben unter den obwaltenden Umständen, die ich geschildert habe, gekämpft und auch eine Menge erreicht. Aber auch in der nächsten Legislaturperiode ist noch eine Menge zu tun.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da es nicht möglich ist, in fünf Minuten auch nur zu einem Teil der uns vorliegenden Anträge Stellung zu nehmen, werde ich mich heute stellvertretend für meine Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, die leider nicht hier sein kann, auf den verkehrspolitischen Antrag der PDS beschränken.Bereits heute, ein gutes halbes Jahr nach der Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplanes, müssen die Prognosen über die Verkehrsentwicklung bis zum Jahr 2010 als überholt gelten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet mittlerweilemit einem Anstieg des Pkw-Bestandes von gegenwärtig 39 auf 50 Millionen.Die daraus resultierenden Probleme wie Umweltbelastung, verminderte Verkehrssicherheit, Lärmbelästigung und Flächenbedarf werden sich weiter drastisch verschärfen: Die CO2-Emissionen werden weiter steigen statt sinken, denn der Trend zu immer leistungsstärkeren Autos setzt sich ungebrochen fort.Damit kann die Bundesregierung ihre klimapolitischen Ziele endgültig in den Wind schreiben. Alle CO2-Reduktionen in anderen Bereichen werden durch die Entwicklung im Straßenverkehr wieder zunichte gemacht.Anstatt mittels Struktur-, ordnungs- und finanzpolitischer Maßnahmen zugunsten einer ressourcenschonenden Verkehrspolitik lenkend einzugreifen und statt eine ökologische Steuerreform in Angriff zu nehmen, betreibt die Bundesregierung weiterhin Förderpolitik für den Straßenverkehr, indem sie z. B. die Kosten für den Lkw-Verkehr unter dem Strich senkt.Verkehr — das ist bekannt — entsteht zu einem großen Teil durch verkehrserzeugende Strukturen und ist somit längerfristig mittels strukturpolitischer Maßnahmen wieder reduzierbar.Der PDS-Antrag zeigt Möglichkeiten zur Reduzierung des Personenverkehrs auf, beispielsweise durch die Einbeziehung raumordnerischer und städtebaulicher Elemente in die Verkehrsplanung. So macht eine kompakte Stadt mit nutzungsgemischten Strukturen eine bessere Nahversorgung und das fußläufige Erreichen von Versorgungseinrichtungen möglich. Alles in allem bedeutet eine Aufhebung der Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit ein Mehr an Lebensqualität.Auch im Güterverkehr ergeben sich raumordnerische und strukturpolitische Möglichkeiten zur Einsparung von Verkehr. Langfristig wirksam sind hier insbesondere Konzepte, die der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung mit verkehrserzeugenden Unternehmens- und Standortstrategien entgegenwirken und regionale Wirtschaftskreisläufe fördern.Durch preispolitische Maßnahmen wie eine entfernungs- und fahrleistungsgebundene Erhöhung der Transportkosten sowie ordnungspolitische Instrumente zur Vermeidung von Leerfahrten kann eine kleinräumige Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs unterstützt werden. Eine Entkoppelung von Wohlstand und Lebensqualität auf der einen und Verkehrswachstum auf der anderen Seite ist dringend geboten.Anstatt die hier aufgezeigten raumordnerischen Möglichkeiten für die Verkehrsplanung zu nutzen, zielt die Bundesregierung darauf ab, Planungselemente wie das Raumordnungsverfahren und die Umweltverträglichkeitsprüfung zu entwerten oder auszuhebeln. Darüber hinaus beschneidet sie die Mitsprache- und Einspruchsrechte der Bevölkerung. Wenn von der Bevölkerung ein Umdenken, ein Wertewandel hin zur Benutzung von umweltfreundlichen
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Petra BlässVerkehrsmitteln erwartet wird, dann müssen die Bürgerinnen und Bürger, die Umweltverbände und -initiativen stärker als bisher an Entscheidungs- und Planungsprozessen beteiligt werden. Die Ursachen für lange Planungszeiträume liegen nicht in der Nutzung von Mitspracherechten, sondern eher im politisch-administrativen und im finanzpolitischen Bereich.Selbstverständlich muß die Reduzierung des Verkehrsaufkommens begleitet werden von einer Verkehrsverlagerung auf umweltfreundliche Verkehrs- und Transportsysteme sowie von technischen Verbesserungen zur Reduzierung der Schadstoffemissionen. Die PDS hält dazu — anders als die SPD — an ihrer Forderung nach Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Bundesfernstraßen fest. Neben der emissionsmindernden Wirkung trägt ein Tempolimit auch zur Verkehrssicherheit bei, ebenso wie dies die Senkung der Promillegrenze auf 0,0 Promille täte.Ein Wort noch zum Thema Ökosteuern. Eine ökologische Steuerreform ist mittlerweile in aller Munde. Auch die CDU bekennt sich in ihrem neuen Grundsatzprogramm dazu, das Steuersystem ökonomisch und ökologisch neu orientieren zu wollen. Es ist jedoch abzusehen, daß dies fromme Wünsche ohne Chance auf Realisierung bleiben werden, genauso wie die ehemals ehrgeizigen Klimaziele der Bundesregierung; denn angesichts der Wirtschaftsflaute fällt leider immer zuerst die Ökologie flach. Dabei wäre — das ist mittlerweile nachgewiesen — eine Ökosteuer ökonomisch sinnvoll, sozialverträglich und durchaus auch im nationalen Alleingang zu machen. Man muß sie nur wirklich wollen. Lippenbekenntnisse allein reichen da nicht aus.
Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Umweltdebatte könnte den Anschein erwecken, daß Ökologiepolitik in diesem Land einen hohen Stellenwert hat. Die Buchstaben des Alphabets reichen angesichts der Vielzahl von Vorlagen nicht mehr zur Kennzeichnung aus.Betrachtet man die Vorlagen einmal näher, so wird man allerdings feststellen, daß fast 90 % von der Opposition stammen. Das ist nicht verwunderlich; denn seit 1991 hat die Koalition faktisch eine umweltpolitische Auszeit genommen. Die Rede von Herrn Lippold z. B. könnte genausogut am Anfang dieser Legislaturperiode gestanden haben. Die Ankündigungen haben sich kaum unterschieden.Wo ist die restverschmutzungsabhängige CO2-Abgabe geblieben? Was ist aus der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz geworden? Was machen die wiederholt angekündigten Verordnungen zum Abfallgesetz? Wo bleibt die Deponieabgabe? Wie lange liegt die Novelle zum Naturschutzgesetz schon auf Eis?Die Liste von leeren Versprechungen ließe sich endlos fortsetzen. Ich könnte meine gesamte Redezeitdamit füllen, die umweltpolitischen Ankündigungen und ihre Nichtumsetzung zu hinterfragen.Dabei ist die Situation sogar noch wesentlich schlimmer. Denn nach wie vor wird Wählertäuschung betrieben. Nach wie vor wird die Zwecklüge vom nachsorgenden Umweltschutz als Alibi für Energieverschwendung und für die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen mißbraucht. Von Herrn Baum habe ich eben quasi die Einheit als Argument für einen ausbleibenden Umweltschutz gehört. Dabei gibt es doch keinen Zweifel mehr, daß in Deutschland mit dem heutigen Wirtschaften und Konsumieren ökologische Schulden in Höhe von mehreren 100 Milliarden DM angehäuft werden, wohlgemerkt: pro Jahr. Es ist auch klar, daß diese Schulden eines Tages getilgt werden müssen, wenn nicht von unserer Generation, dann von der nachfolgenden.Der ehemalige Generalsekretär der Rio-Konferenz Maurice Strong hat diese Haltung treffend mit den Worten gekennzeichnet:Würde die Erde wie ein Unternehmen geführt, dann stünde sie kurz vor dem Bankrott.Gefordert ist deshalb ein Nachweltschutz, der Ökologie tatsächlich als Langzeitökonomie begreift und ernsthafte Schritte in die Richtung einer nachhaltigen umweltverträglichen Entwicklung der Industriestaaten ergreift. Doch davon ist Deutschland auch fünf Jahre nach dem ersten gloriosen Klimabeschluß der Bundesregierung weit entfernt, und es ist nichts zu erkennen.Klimaschutz wird von dieser Regierung vor allem in Form von Bilanzfälschung betrieben. Unermüdlich geht das Umweltministerium mit angeblichen Erfolgen hausieren. Aber dabei — das sagen Sie zum Teil sogar selbst — ist es doch offensichtlich, daß die derzeit erreichte CO2-Reduktion fast ausnahmslos auf die planlose Deindustrialisierung im Osten Deutschlands oder auf ehrgeizige Klimaschutzbemühungen auf der Kommunalebene zurückgeht, die von der Bundesregierung vielleicht eher behindert als gefördert werden.Auf der anderen Seite hintertreiben vor allem die Ministerien für Wirtschaft, Landwirtschaft und Verkehr die Reduktionsziele der Bundesregierung nach Kräften. Wie ein roter Faden zieht sich daher durch die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum Klimaschutz, daß die angekündigten Maßnahmen zur CO2-Reduktion entweder noch gar nicht beschlossen sind oder ihr Beitrag verschwindend gering oder gar nicht erfaßbar ist. Während im Hause Töpfer noch die Treibgasemissionen schöngerechnet werden, schafft die Energie- und Verkehrspolitik weiter ungebremst Fakten.Mit dem Artikelgesetz und dem Bundesverkehrswegeplan werden heute nicht nur Weichen für die fortgesetzte Energieverschwendung, sondern auch gegen zukünftige CO2-Reduktionen gestellt. Dabei schlägt die Bundesregierung souverän alle Warnzeichen in den Wind, als hätte es im vergangenen Winter nicht Rekordhochwasser und in den letzten Sommern in der Landwirtschaft nicht Rekorddürren gegeben. Sie tun dabei so, als wäre es nicht bekannt, daß im Zuge des Treibhauseffektes nicht eine langsame
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Dr. Klaus-Dieter Feigegleichmäßige Erwärmung zu befürchten ist, sondern die Zunahme von unberechenbaren Wetterereignissen mit unermeßlichem Schadenspotential erfolgen wird. Die Versicherungen wissen bereits heute ein Lied davon zu singen. Eines ist sicher — das hat auch Herr Lippold gesagt —: Je später mit dem Klimaschutz begonnen wird, desto teurer wird es. Warum tun Sie es nicht?Einer Studie des Fraunhofer-Instituts im Auftrage der EU-Kommission zufolge wird es sich dabei um einen Betrag in mehrfacher Billionenhöhe handeln, wenn die Konzentration von Treihausgasen in der Atmosphäre weiter zunimmt. Nichts scheint leider bislang gegen diese Annahme zu sprechen.Meine Damen und Herren, ich habe die Hoffnung aufgegeben, daß die derzeitige Koalition in der Lage ist, die Konsequenzen ihres Nicht-Handelns zu begreifen. Schon das allein ist Grund genug, daß diese Regierung abgelöst werden muß.
Nehmen wir nun einmal den Wurmfortsatz der Kohl-CDU, die F.D.P. Die erklärt nach den Europawahlen die Grünen zu ihrem Hauptfeind. Ihr Generalsekretär verkündet munter, die Liberalen wollten sich jetzt ein ökologisches Profil schaffen. Damit das auch funktioniert, hat er in der vergangenen Woche bei uns vorsorglich das grüne Wahlkampfprogramm bestellt. Meinen Sie, es nutzt Ihrer Glaubwürdigkeit, wenn selbst einer der wenigen Abgeordneten der F.D.P., der in Sachen Ökologie Kompetenz bewiesen hat, der Kollege Baum nämlich, erst gar nicht mehr auf einem aussichtsreichen Listenplatz aufgestellt wird? Aber da die Aussichten für die F.D.P. sowieso nicht mehr die besten sind, spielt das offensichtlich keine Rolle mehr.Es ist wahrscheinlich auch kein Zufall, daß die neue Parteizentrale der Liberalen direkt neben dem Haus der Geschichte errichtet wurde, vielleicht als potentielle Erweiterung desselben.
Ich möchte mich an dieser Stelle eigentlich nicht mit der runderneuerten Sozialdemokratie auseinandersetzen. Ich weiß, so ein Parteitag ist sicherlich auch ein bißchen ein Freud-Erlebnis, wenn man sich einmal nicht gezankt hat.
Aber wenn unter der Hand die Grünen von sozialdemokratischen Umweltpolitikern aufgefordert werden , bei eventuellen Koalitionsverhandlungen in Sachen Tempolimit z. B. doch bitte hart zu bleiben, weil dies in der eigenen Partei nicht durchsetzbar sei, dann weiß ich, was die Stunde geschlagen hat. Wenn das SPD-Parteiprogramm ins Wasser fällt, brauchen Sie jedenfalls keine Sorgen zu haben, daß es untergeht. Das liegt nämlich daran, daß der umweltpolitische Teil eine Menge heißer Luft enthält. Vielleicht wurde er hinter dem Rücken von Herrn Müller durch Ihre eigenen Wirtschaftspolitiker ausgehöhlt.
Meine Damen und Herren, die Wählerinnen und Wähler in diesem Land sind gut beraten, nicht auf Kopien und Plagiate zu setzen, sondern auf das ökologische Original. Wer in diesem Land eine Wende will, muß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wählen. Ansonsten kommt die Sozialdemokratie überhaupt nicht in die Gänge.Wir brauchen einen Wechsel. Wir brauchen endlich eine Verzahnung von Ökonomie und Ökologie. Dieses Land wird die wirtschaftliche und ökologische Krise nur dann dauerhaft überwinden, wenn sie auch als Chance begriffen wird.Die Investitionsfelder der Zukunft liegen daher nicht beim Straßenbau oder bei der Gentechnologie. Die Investitionsfelder der Zukunft, das sind umweltverträgliche Verkehrssysteme, eine sanfte Chemie, eine dezentrale Energieerzeugung, ein abfallvermeidendes Wirtschaften oder ein konsequenter Naturschutz, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur ein ökologischer Strukturwandel, nur eine ökologische Erneuerung der Industrie, des Energie- und des Verkehrssystems bietet die Chance für die Schaffung von Hunderttausenden sinnvoller Dauerarbeitsplätze. Ein solcher ökologischer Strukturwandel wird dann auch zum Motor für einen tatsächlichen Aufschwung Ost.Eines ist dabei klar: Nicht alle werden von einem solchen Strukturwandel profitieren. Einige Branchen werden schrumpfen oder sich neue Betätigungsfelder suchen müssen. Aber je früher neue Wege eingeschlagen werden, desto milder wird sich selbst für Branchen wie die Automobilindustrie der Umschwung gestalten.
Meine Damen und Herren, ohne ökologische Innovationen gibt es keine wirtschaftliche Zukunft. Eine ökologische Ausrichtung der Wirtschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für künftige wirtschaftliche Erfolge nicht nur in Deutschland, sondern in allen Industriestaaten. Die Wirtschaft der Zukunft ist dann erfolgreich, wenn ihre Wertschöpfung so erzielt wird, daß dabei der Energie- und der Rohstoffverbrauch drastisch gesenkt werden.Wenn wir, wie es die Koalition tut, weiter abwarten und Tee trinken, dann werden andere, z. B. Japan, die Nase vorn haben, den Markt dominieren und Arbeitsplätze schaffen. Heute wird beispielsweise der Durchbruch für erneuerbare Energien in diesem unserem Land politisch verhindert.Daher sage ich mit aller Deutlichkeit: Die eigentlichen Technologie- und Industriefeinde sind nicht die Grünen. Die eigentlichen Technologie- und Wirtschaftsfeinde sitzen in der Bundesregierung!
Meine Damen und Herren, wir vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sind bereit, in Regierungsverantwortung ökologische Weichenstellungen vorzunehmen. Wir sind bereit, neue Instrumente, etwa eine ökologische Steuerreform, einzuführen. In diesem Lande muß allen klar sein: Wer die Umwelt und damit letztendlich die Wirtschaft schädigt, soll zahlen. Wer die Umwelt bewahren hilft, soll aber auch gewinnen. Mit unserem
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Dr. Klaus-Dieter FeigeKonzept einer aufkommensneutralen Primärenergiesteuer schaffen wir gleichzeitig neue Arbeitsplätze; denn Umweltschädigung wird teuer, Arbeit dagegen relativ billiger.Meine Damen und Herren, wir GRÜNEN haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Wir wissen, daß wir heute noch nicht allein regieren können; wir werden auf Partner angewiesen sein.
Doch je stärker die grüne Komponente in einer künftigen Regierung wird, desto entschlossener kann der ökologische Strukturwandel angegangen werden.Wir jedenfalls sind bereit, unser Programm in die Tat umzusetzen. Wir sind bereit, mit all denen zusammenzuarbeiten, die diesem Land eine Zukunft geben wollen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.Ich bin hier wieder allein; deshalb ein Hinweis ans Protokoll: „Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. " Ich schaffe es nicht so schnell zu meinem Platz.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Peter Paziorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gestehe Ihnen zu, Herr Feige: Eine Bilanzierung in der Umweltpolitik ist immer schwierig. Einerseits kann ein Umweltpolitiker nie mit dem Erreichten zufrieden sein. Andererseits dürfen mit dem Hinweis auf noch weiter zu lösende Probleme die tatsächlich erreichten Erfolge in der bisherigen Umweltpolitik nicht kleingeredet werden. Wer so, Herr Feige, an die Aufstellung einer umweltpolitischen Bilanz dieser Legislaturperiode herangeht, der kann doch mit Fug und Recht behaupten, daß es unter dieser Regierungskoalition nicht zu einem umweltpolitischen Stillstand gekommen ist.
Das oberste Ziel unserer Umweltpolitik ist es, die ökologische Orientierung der Sozialen Marktwirtschaft als Grundprinzip jeden Handelns zu konkretisieren und auszubauen.Mit dem Bundestagsbeschluß zum Kreislaufwirtschaftsgesetz ist ein erster, aber entscheidender Schritt zu mehr Verantwortung der Produzenten und Konsumenten für den gesamten Lebenszyklus von Produkten gelungen. Die Verpackungsverordnung war eine richtige Weichenstellung, auch wenn wir weiterhin darauf achten müssen, daß nicht vor Ort mittelständische Strukturen in der Abfallwirtschaft ausgehöhlt werden.Mit der TA Siedlungsabfall haben wir moderne und mutige Kriterien für die Umsetzung der Abfallentsorgungskonzepte entwickelt. Die Förderung und Entwicklung regenerativer Energien ist in den letzten Jahren beträchtlich verstärkt worden. Von 1986 bis heute sind die Förderbeträge verdoppelt worden.Zirka 285 Millionen DM bedeuten bei dieser Förderung international einen Spitzenplatz.Meine Damen und Herren, gegen den Widerstand der SPD-Bundestagsfraktion konnten wir mit dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz einen wesentlichen Beitrag zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Immissionsschutzrecht, im Abfall- und im Naturschutzrecht leisten.
Nun sind natürlich die Länder gefordert, diese Verwaltungsvereinfachungen zugunsten der heimischen Wirtschaft konsequent umzusetzen. Das Abschieben von politischer Verantwortung auf Bonn in Sachen Genehmigungsverfahren gerade durch SPD-geführte Bundesländer — ich denke an Herrn Matthiesen in Nordrhein-Westfalen — hat keine Berechtigung und will nur vom eigenen Versagen auf Länderebene ablenken.
Auch im globalen Umweltschutz, z. B. beim Ausstieg aus der Produktion und dem Einsatz von FCKW, sind wir unserer umweltpolitischen Vorreiterrolle gerecht geworden.
Wer parteipolitisch unvoreingenommen an eine umweltpolitische Bilanz herangeht, wird unschwer feststellen können, daß zwar nicht alle Blütenträume — ich denke an das Bodenschutzgesetz — gereift sind, aber dennoch wesentliche Fortschritte erzielt werden konnten.
Eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Umweltpolitik liegt nach wie vor in der Mitgestaltung des Aufbauprozesses in den neuen Bundesländern und somit in der Beseitigung der umweltpolitischen Folgen der SED-Herrschaft. Die umweltpolitischen Hypotheken des SED-Staates sind gewaltig. Dies sollten wir der PDS immer wieder vorhalten.
Ich finde es erstaunlich, daß Sie in Ihren bisherigen Reden auf die gewaltige umweltpolitische Sanierungsleistung dieser Regierung in den neuen Bundesländern nicht eingegangen sind. Es wäre völlig falsch, wenn Sie, was sich hier vielleicht wieder andeutet, doch vor Ort kommunalpolitisch Allianzen mit der PDS vorhaben. Grenzen Sie sich auch in der Umweltpolitik ab und weisen Sie auf die katastrophal große Verantwortung der PDS und der SED für die umweltpolitischen Hypotheken in den neuen Ländern hin!
Ich sage natürlich auch: Wir brauchen neue privatwirtschaftliche Lösungen, wie Herr Baum gesagt hat. Wir müssen privates Kapital einsetzen. Wir müssen auf breiter Front auch bei der Lösung der Umweltprobleme in den neuen Ländern privatwirtschaftliche
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Dr. Peter PaziorekFormen des Umweltmanagements einführen. Wir müssen darangehen, alle rechtlichen und steuerlichen Hemmnisse abzubauen, die diesen privatwirtschaftlichen Lösungen im Wege stehen.Es wird also in unserer Umweltpolitik darauf ankommen, zukünftig verstärkt auf marktwirtschaftliche Instrumente zu setzen. Wir stimmen der F.D.P. voll und ganz zu, wenn sie sagt: Das Ordnungsrecht muß nicht aufgegeben werden; aber da, wo es möglich ist, sollten wir einen Instrumentenwechsel auch auf marktwirtschaftliche Instrumente vornehmen.Wir sagen aber als CDU/CSU genauso deutlich: Ein Abrücken vom Umweltschutz in konjunkturbedingten Schwächelagen ist für uns nicht akzeptabel. Wer in Zeiten harten wirtschaftlichen Wettbewerbs einen Abbau des Umweltschutzes fordert, verkennt, daß zur Schaffung und Sicherung eines starken Wirtschaftsstandortes Deutschland auch und vor allem ein dauerhafter ökologischer Fortschritt unerläßlich ist.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, daß die deutsche EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte entschlossen dazu genutzt werden muß, in der Europäischen Union umweltpolitische Akzente zu setzen. Auch unsere Partner müssen einsehen, daß fortschrittlicher Umweltschutz und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit keine Gegensätze sind.Das bedeutet: Wir müssen unsere Umweltpolitik verstärkt nicht nur national definieren und ausgestalten, sondern wir müssen von vornherein auf europäische Lösungen setzen. Es ist sehr schade, daß Sie in Ihren Äußerungen hierzu kein Wort gesagt haben; denn es wäre besser, wenn Sie diese Verantwortung der Europäischen Union deutlicher herausgestellt hätten. Anstatt kraftmeiernd von nationalen Alleingängen bei Umweltstandards zu reden, wie SPD und GRÜNE es immer wieder tun, müssen wir von vornherein auf europäische Lösungen setzen und deutsche Lösungsmodelle offensiv in die europäische Politik einbringen.Für Europa muß somit dasselbe gelten wie für unsere nationale Umweltpolitik: Sie ist keine unliebsame Konkurrenz, sondern eine Herausforderung, die bewältigt werden muß. Die Politik der Regierungskoalition ist diesem Grundsatz — das können wir am Ende der Legislaturperiode sagen — voll gerecht geworden.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Michael Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den Ausführungen des Kollegen Baum machen. Herr Kollege Baum, ich weiß, daß Sie in den 70er Jahren sehr wichtige Aktivitäten im Bereich der Umweltpolitik angestoßen haben. Ich weiß das deshalb, weil nämlich auch ich nicht einer bin, der erst in den letzten Jahren das Umweltthema entdeckt hat, sondern schon seit Ende der 60er Jahre dabei bin. Insofern weiß ich, daß das damals ein ziemliches Außenseiterthema und ein sehr schweres Thema war.Übrigens, Kollege Feige: Man sollte nicht so häufig mit zu großer Klappe operieren. Ich kenne viele GRÜNE, die heute so tun, als ob sie immer nur die ökologische Frage im Mund gehabt hätten, und die das damals als absoluten „Killefit" bezeichnet haben. Ich wäre da sehr vorsichtig.Die Gesellschaft hat in den letzten 20 Jahren bewußtseinsmäßig enorme Lernprozesse in bezug auf ihre Erfahrung durchgemacht;
das ist ein positiver Wert an sich. Damit kritisiere ich vieles und sage überhaupt nicht, daß ich mit dem, was jetzt erreicht ist, zufrieden bin. Aber man sollte vor allem auf Lernfähigkeit setzen. Das ist übrigens der wichtigste Punkt auch in der ökologischen Debatte.
Ich will in der Debatte ein etwas anderes Fazit herausstellen. Ich frage mich die ganze Zeit, wie wir eigentlich mit den Widersprüchen, die wir in unserer Umweltpolitik erleben, fertig werden und wie wir — Entschuldigung, Kollege Töpfer, wenn ich das sage — es fertigbringen, selbst unsere Niederlagen dann noch so großspurig als Erfolge zu verkaufen. Das frage ich mich oft.
Auch ich kenne das, wenn einem solche Niederlagen beigebracht werden. Ich weiß auch nicht, wie wir beispielsweise mit diesem unglaublichen Widerspruch fertig werden, daß wir auf der einen Seite wissen, daß alles das, was gemacht wird, unter globalen Gesichtspunkten gesehen viel zuwenig ist, aber daß das, was wir durchsetzen müssen, scheinbar gar nicht durchsetzbar ist. Es ist ein unglaublicher Widerspruch, vor dem wir stehen und den gerade diejenigen täglich spüren, die umweltpolitisch engagiert sind, nämlich der zwischen unserem Wissen und unserer gleichzeitigen Ohnmacht. Das ist mein Ansatzpunkt. Ich finde, Herr Kollege Paziorek, es täte einer Regierungspartei gut, über diese Widersprüche nachzudenken.Ich frage: Wie kommt es, daß alle über Ökologie reden, daß aber nur ein Jahr nach dem Erdgipfel in einem langen Abschlußdokument eines Treffens der G-7-Staaten dieser Erdgipfel nur in einem Satz erwähnt wird, in dem steht, daß er auf der Tagesordnung bleibt? Wie kommt so etwas? Die Beantwortung dieser interessanteren Fragen ist, finde ich, viel wichtiger, als hier in Rechthaberei oder Schuldzuweisungen zu machen.
Ich will versuchen, darauf eine Antwort zu geben, denn mir ist ja klar: Um was es geht, ist zum Teil unglaublich einfach, so einfach wie das Auto vor der Tür. Ich weiß ganz genau, welche Konsequenzen für die Umwelt mit dem Auto vor der Tür verbunden sind. Aber trotzdem bin ich ohnmächtig, wenn ich versuchen will, dieses Mobilitätsproblem in der modernen Gesellschaft zu lösen. Insofern ist aus meiner Sicht die ökologische Debatte — das ist eigentlich der Punkt — keine Debatte über Spiegelstriche oder über Einzel-
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Michael Müller
forderungen, über die wir uns streiten, sondern es geht in erster Linie um die Erkenntnis, daß wir endlich lernen müssen, mit Grenzen umzugehen. Das ist die eigentliche Herausforderung.
Wir erleben nämlich in dreifacher Hinsicht in dramatischer Weise Grenzen, bei denen wir wissen, daß es so nicht weitergeht. Das ist erstens die Endlichkeit der Rohstoffe, das ist zweitens etwas, was wir besonders bei der Klimaproblematik in aller Härte erleben, die Störanfälligkeit der Ökosysteme — wir wissen, daß Ökosysteme nur begrenzte Pufferkapazitäten haben —, und wir sehen uns drittens einer Grenze der Ungleichheit gegenüber, die wir vor allem im globalen Maßstab in aller Deutlichkeit sehen. Deshalb glaube ich, daß die Ökologiedebatte nur im engeren Sinne etwas mit Umweltschutz zu tun hat, daß sie die Gesellschaft im Kern durch die Frage herausfordert, ob wir nach etwa 500 Jahren des Denkens in Kategorien von Wachstum und Expansion fähig sind, nun einen Umschlag, eine Veränderung hin zu Kategorien der Selbstbegrenzung zur Bewahrung der Freiheit und zur Bewahrung des Friedens zu erreichen. Das ist die eigentliche Herausforderung.
Ich sage Ihnen, wir sollten das sehr ernst nehmen.Wir wissen, daß eine komplexe Gesellschaft, eine Gesellschaft, die auf Gegenseitigkeit angewiesen ist, nicht mit einem Übermaß von Ungleichheit sowohl im sozialen wie im ökologischem Sinne fertig werden kann. Ich glaube, daß Al Gore völlig recht hat, wenn er sagt, daß neben der Verhinderung eines Atomkrieges die Frage des Gleichgewichts in einer Gesellschaft, also des Interessenausgleichs — das ist es ja auf deutsch —, die entscheidende Herausforderung überhaupt ist, ob wir die Zukunftsprobleme lösen können.
— Das ist Umweltschutz. Ich glaube, daß der Kern von Umweltschutz das Denken in Kreisläufen, in Gleichgewichten ist. Das ist die eigentliche Herausforderung von Umweltpolitik.
— Ja, das ist völlig klar. Ich teile Ihre inhaltlichen Positionen hinsichtlich der Instrumente nicht. Im Ziel sind wir oft in vielen Punkten einig. Das ist ja nicht der Punkt. Ich glaube nur, daß Sie sozusagen von Ihrem Ansatz her aus meiner Sicht auf dem falschen Dampfer sind. Im Ziel sind wir in vielen Punkten sehr einig. Ich sage auch in vielen Bereichen, daß ich es ganz enorm finde, was für öffentliche Äußerungen Klaus Töpfer zu manchen Sachen macht. Das finde ich durchaus richtig. Nur, ich frage mich: Was ist die Konsequenz? Wir können doch nicht alle die Pausenclowns spielen,wir wollen doch etwas verändern! Das ist doch die eigentliche Herausforderung für Politik.
Also, ich befürchte, daß wir bei vier zentralen Punkten unserer Denkweise sehr viel genauer hinschauen müssen, ob sie noch richtig sind. Das ist einmal unser Naturverständnis. Ich befürchte, es ist nicht richtig, zu glauben, die ökologische Problematik lasse sich allein als technologische Herausforderung sehen. Wenn wir nicht zugleich auch ein anderes Verständnis für die Natur entwickeln, werden wir die Probleme nicht lösen können. Das ist die erste Herausforderung.Die zweite Herausforderung: Ich glaube, es gibt auch eine fundamentale Herausforderung bei unserem Staatsverständnis. Ich bin davon überzeugt, daß wir die ökologischen Probleme nur mit dem Primat der Politik lösen können. Das bedeutet aber, daß die Debatte über Deregulierung oder Regulierung Quatsch ist, sondern es geht darum, wie wir es erreichen, daß wir sozusagen einen politischen Rahmen setzen, der die notwendigen Ziele auch erreichen kann.
Das ist die eigentliche Herausforderung. Deshalb finde ich es Quatsch, über Deregulierung und solche Punkte als Chiffre zu reden. Wir müssen darüber reden, ob die Instrumente auch zielorientiert sind. Da ist es völlig klar, daß das alte preußische Polizei- und Landrecht nicht in der Lage ist, die ökologische Steuerungsproblematik zu lösen. Es ist aber genauso richtig, daß der Rückzug des Staates aus allen Bereichen die Probleme auch nicht löst. Insofern sollten wir über diese Problematik genauer diskutieren.
Der dritte Bereich, über den ich rede: Ich finde es völlig richtig, daß wir sagen, wir müßten viele ökologische Probleme im Wettbewerb lösen. Aber ich sage hinzu: Wenn wir das aus ökologischen Gründen sagen, dann müssen wir aber auch sehr viel mehr beispielsweise gegen diese unglaubliche Konzentration und Vermachtung von Strukturen sagen. In vielen Bereichen existiert überhaupt kein echter Wettbewerb. Beispielsweise haben wir im Energiebereich im Hinblick auf eine wirkliche Durchsetzung der Einsparpotentiale kaum Wettbewerb. Da müssen wir in vielen Bereichen erst Wettbewerb herstellen. Auch das ist eine politische Aufgabe
Ich will einen vierten Bereich nennen, den ich für sehr wichtig halte. Das ist die Frage der Internationalisierung der Ökonomie. Mir macht das große Sorgen. Wir sollten uns auch nichts vormachen. Wir stehen nicht zuletzt deshalb unter ökologischem und auch sozialpolitischem Druck, weil wir im Kern auf den offenen Märkten gegen Volkswirtschaften und Län-
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der konkurrieren, die sogar ganz bewußt auf Umwelt- und Sozialdumping setzen. Ich sage, wir müssen im internationalen Bereich auch die Frage der Internationalisierung von Kosten diskutieren, also nicht nur national, sondern vor allem auch als Ausgleichsmechanismus beim Welthandel, beim Warenverkehr etc. Wir Industrieländer müssen das sehr viel stärker anstoßen.Unter diesem Gesichtpunkt war die ganze Debatte über die Weltwirtschaftsordnung in der Tat leider ein großes Versäumnis. Wir haben da nicht das erreicht, was wir erreichen müssen. Es ist eine Schande, daß wir in der Frage der Weltwirtschaft immer noch auf der Position des Kolonialismus stehen.
Meine Damen und Herren, ich sage das deshalb hier in dieser Schärfe, weil ich glaube, daß die ökologische Problematik, vor der wir stehen, eben nicht zu lösen ist, indem wir glauben, wir könnten es mit ein paar Teilkorrekturen hinbekommen, sondern es ist eine Herausforderung, die zutiefst auch unser kulturelles Verständnis berührt, nämlich unser Verständnis, wie wir mit den Zukunftsproblemen umgehen.Norbert Elias hat in seinen Ausführungen über den Prozeß der Zivilisation gesagt: Der Lackmustest für die Demokratie ist die Frage, wie die Gesellschaft Gewaltpotentiale bändigt, also reguliert.Wir sind heute dabei, sowohl im ökonomischen Bereich in der Weltwirtschaft als auch in der ökologischen Problematik, neue Gewaltpotentiale freizusetzen. Wir gefährden damit sozusagen nicht nur unsere Zukunft, sondern wir gefährden auch Demokratie in aller Konsequenz.Deshalb sage ich: Wir müssen die Frage ernster nehmen und sollten aufhören mit billigen Schuldzuweisungen. Wir haben Herausforderungen, die mehr Seriosität auch und gerade in der Umweltdebatte erfordern.
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Norbert Rieder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder, der mich kennt — das sind ja eine ganze Menge hier —, weiß, daß ich mit Sicherheit nicht zu denen gehöre, die ganz besonders zufrieden sind mit dem, was wir im Umweltbereich in den letzten 20 Jahren erreicht haben. Aber ich glaube, daß, wenn wir das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben, Revue passieren lassen, dann die Bilanz gar nicht so entsetzlich schlecht aussieht.Ohne Zweifel ist es so, daß wir an Zahl der Gesetze nicht so viel erreicht haben, wie viele sich erwartet haben. Aber, Herr Müller, ich knüpfe — zumindest sinngemäß — an das an, was Sie gesagt haben. Ich glaube, wir haben eine ganze Menge in der Denke, im Umdenken erreicht. Das — das sollten wir, glaube ich, auch in dieser Debatte noch einmal ausführlicherwähnen — haben wir auch Klaus Töpfer mit zu verdanken;
denn es gibt weltweit wohl niemanden, der so sehr wie Al Gore — er ist bereits erwähnt worden oder Klaus Töpfer die Diskussion in diesem Bereich weitergebracht hat. Dafür sollten wir ihm hier auch einmal danken.
Aber ich glaube, wir sollten uns auch etwas anderes klarmachen: daß wir in den letzten Jahren über eines sehr kräftig nachgedacht und da eine ganze Menge erreicht haben, nämlich über einen Paradigmenwechsel im Umweltbereich. Herr Müller — jetzt möchte ich Sie erwähnen —, die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt", bei deren Gründung Sie ja maßgeblichen Einfluß gehabt haben, hat die Diskussion insgesamt ein ganzes Stück weitergebracht. Das ist quer durch alle Parteien passiert, die hier in diesem Bundestag vertreten sind.Ich glaube, es ist auch lobend zu erwähnen, daß sich die Parteien bei diesem Paradigmenwechsel in den letzten drei Jahren trotz allen Streits quer über die Parteigrenzen hinweg ein ganzes Stück nähergekommen sind.
Aber nun zurück zum Paradigmenwechsel. Wir haben hier in dieser Debatte u. a. das Naturschutzgesetz erwähnt. Dieses Naturschutzgesetz haben wir ohne Zweifel nicht so weit gebracht, wie wir es uns alle gewünscht hätten. Es liegen heute zwei Anträge zur Abstimmung vor. Ich glaube, diese Anträge sollten wir mit gutem Gewissen ablehnen — einfach deswegen, weil diese beiden Anträge diesen Paradigmenwechsel nicht widerspiegeln.Sie spiegeln nämlich — ich möchte es in aller Deutlichkeit sagen — Gedanken wider, die Naturschutz von gestern sind; Naturschutz von gestern in dem Sinn, daß sie einen segregierenden Naturschutz, also einen ausgrenzenden Naturschutz, bevorzugen, einen Naturschutz, wo Schutzgebiete geschaffen werden, um die ein Zaun herum kommt, den niemand übersteigen darf. Was wir aber in Zukunft brauchen, das ist der integrierende Naturschutz, ein Naturschutz, in den wir die Bevölkerung einbeziehen, statt dafür zu sorgen, daß irgendwo irgend jemand vielleicht einmal mit einer Sondergenehmigung hinaus in die Natur kann. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, daß die Masse der Bevölkerung nicht nur an der Natur teilnimmt, sondern die Chance hat, am Schutz dieser Natur durch eigenes Erleben teilzunehmen.
In einigen Bundesländern — u. a. auch in dem Bundesland, aus dem ich komme, nämlich in BadenWürttemberg — machen wir derzeit etwas. Wir sind z. B. dabei, die Kletterer vollständig auszugrenzen. Dort entsteht im Moment das Paradoxe, daß wir möglicherweise in einem Vierteljahr nur noch in Naturschutzgebieten werden klettern dürfen: einfach deswegen, weil in diesen Naturschutzgebieten durch
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Dr. Norbert Riederalte Verordnungen das Klettern ausdrücklich erlaubt ist. Außerhalb der Naturschutzgebiete werden wir aber nicht mehr klettern dürfen. Das ist etwas, was wir absolut unterbinden müssen.Deswegen, glaube ich, müssen wir auch in diesem Bereich zur Integration kommen. Wir müssen die Verbände, auch die Naturnutzerverbände — also Jäger, Angler, Kletterer, aber auch Tierhalter und Tierzüchter —, in den Vollzug einbeziehen, um auf diese Weise auch diese Menschen nicht nur an der Natur teilhaben zu lassen, sondern sie auch voll zu integrieren, um uns ihrer Unterstützung auch in Zukunft sicher zu sein.Herzlichen Dank,
Ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, unserem Kollegen Dr. Klaus Töpfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist offenbar in einer vielleicht letzten Debatte vor der Wahl über Umweltschutz zu erwarten, daß man von der Opposition bemüht ist, nachzuweisen, daß man nun völlig gescheitert ist.
Rollen werden erfüllt. — Herr Müller hat dann in der ihm eigenen, durchaus beachtenswerten Weise den Gesamtrahmen gesetzt. Ich möchte mich deshalb auch kurz mit beiden Teilbereichen beschäftigen.Erster Teil: Wo sind wir denn, Frau Ganseforth, so gescheitert? Sehen Sie, jedesmal, wenn ich mir überlege, was wir in der Europäischen Union durchsetzen, dann kann ich immer nur sagen: Handlungsbedarf für uns erwächst daraus nicht, weil die Europäische Union hinter dem zurückblieb und zurückbleibt, was wir machen. Das ist auch in den Papieren, die vorliegen, der Fall. Wir verabschieden heute zwei Meereskonventionen, wir wollen sie ratifizieren. Was steht da drin? Verbot der Verbrennung auf hoher See: Das haben wir 1989 eingeführt. Das macht man jetzt international. Das Verbot der Verklappung von Klärschlämmen haben wir schon vorher durchgesetzt. Das macht man jetzt international. Das heißt, man zieht das nach, was wir gemacht haben.FCKW wird in diesem Jahr in Deutschland nicht mehr produziert. Wir sind die ersten, die es machen, und zwar so, daß es auch international nicht woanders erzeugt wird. Ich bin der festen Überzeugung, daß das eine gute Sache ist. Wir sollten das wenigstens erwähnen. Das hat auch etwas mit der immer so gescholtenen Chemieindustrie zu tun: Sie hat es halt gemacht.
Greenpeace ist mit Wagen durch die Gegend gefahren und hat zwei Männer, die dort Verantwortungtragen, an den Pranger gestellt. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn Greenpeace jetzt hingeht und sagt: Die sind es, die als erste aufgehört haben, das zu produzieren. Das kann man doch erwähnen. Das ist nicht nur ein Erfolg des Bundesumweltministers, sondern ein Stück Veränderung der Industriekultur auch in Deutschland.
Meine Damen und Herren, heute müssen wir uns darum kümmern, daß nicht, auf welchen Wegen auch immer, schädliche Ware nach Deutschland importiert wird. Das haben wir in der Europäischen Union auch ein Stück weitergebracht.In der letzten Sitzung der Umweltminister der Europäischen Union haben wir die europäische Anforderung an Hausmülldeponien verabschiedet. Meine Damen und Herren, es war mir nicht möglich, unsere TA Siedlungsabfall dort zu verankern. Wir gehen wesentlich weiter.
Ich sage doch: Ich muß diesen Kompromiß mitmachen, weil es für Europa schon ein deutlicher Schritt nach vorne ist. Es nimmt Ihnen doch keiner ab, Frau Ganseforth;
es ist an der nächsten Ecke doch zu sehen, wie es ist.Wir haben am Montag vor acht Tagen in Oslo das neue S02-Protokoll unterzeichnet. Wir sind diejenigen, die mit einer Minderung um 87 % SO2 an der Spitze stehen, völkerrechtlich verbindlich. Warum können wir es denn machen? Sie waren doch gerade in Halle. Gehen Sie doch in die Umgebung von Halle, da sehen Sie drei nagelneue Braunkohlekraftwerke. Die ersetzen die alten Braunkohlekraftwerke, die S02-Probleme und die CO2-Probleme hatten.
Deswegen ist es doch nicht richtig, wenn Sie sagen, die CO2-Minderung in den neuen Bundesländern hinge nur damit zusammen, daß dort die Industrie zusammengebrochen ist. Selbst der Herr Feige könnte das sogar einmal in seinen Kopf hineinbekommen.
Er kann sich die neuen Kraftwerke doch ansehen, die mit viel Geld gebaut werden und die einen höheren Wirkungsgrad haben und deswegen weniger CO2 als in der Vergangenheit ausstoßen. Deswegen ist das ein Stück unseres CO2-Konzepts, das aufgeht.
Entschuldigen Sie doch bitte, meine Damen und Herren. Wir haben Anfang nächsten Jahres die Vertragsstaatenkonferenz über die Klimakonvention in Berlin, und zwar am 28. März beginnend. Woran arbeiten wir denn gegenwärtig? Wir arbeiten daran, daß die Europäische Union in die Lage versetzt wird, ihre einmal zugesagte Stabilisierung zu erreichen.Herr Kollege Müller und Frati Ganseforth, wenn Sie Ihre geschätzte Aufmerksamkeit mir nur einmal
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20626 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Bundesminister Dr. Klaus Töpferzuwenden würden: Wenn die Europäische Union ihreStabilisierungszielsetzungen einhalten kann, dannnur deswegen, weil Deutschland die Werte absenkt.
Außer Deutschland senken noch die Niederlande und Dänemark die Werte. In allen anderen Ländern mit Ausnahme von Großbritannien steigen sie an. Das ist die Situation.
Dann sagen Sie doch bitte nicht, wir seien mit dieser Politik gescheitert.
Meine Damen und Herren, natürlich haben wir uns über Benzinpreis usw. zu unterhalten. Aber es ist doch richtig, wenn wir alles daransetzen, das europaweit zu machen. Ich wohne im Saarland. Um Luxemburg herum gibt es bereits eine tankstellenfreie Zone. Warum? Weil die Benzinpreise in Luxemburg wesentlich niedriger sind. Wir haben einen Tanktourismus. Das kann doch keiner für sinnvoll erachten.
Es wird dabei unnötig gefahren, und es kommt zu Auswirkungen, die kein Mensch haben will. Also müssen wir uns bemühen, das Problem gemeinsam zu lösen. Das hat mit dem Rückgrat des Umweltministers nichts zu tun, sondern das hat mit vernünftigem Nachdenken und europäischer Entscheidung zu tun. Darum geht es.
Die Beispiele könnten fortgeführt werden.Das, was Herr Müller gesagt hat, ist mehr als bedenkenswert. Ich habe mit großem Nachdruck immer wieder gesagt, daß globale Umwelt- und Entwicklungszusammenarbeit die Friedenspolitik der Zukunft ist, daß das, was wir gegenwärtig machen, nämlich Instrumente für diese Politik zu suchen, die Abrüstungspolitik der Zukunft ist.Ich bin ganz sicher: Wenn wir da nicht vorankommen, sind wir ganz nah an einem neuen Kalten Krieg, an einem Kalten Krieg zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich, weil in der Tat zu große Wohlstands- und Entwicklungsunterschiede nicht ohne Spannungen, die sehr schnell zu kriegerischen Konflikten werden können, überwunden werden können. Ich bin vollkommen dieser Meinung.Meine Damen und Herren, wenn man das so sieht, was folgt denn daraus? Ich kann doch nicht sagen: Ich kümmere mich nicht darum. Ich habe mich bei der CSD in die Pflicht nehmen lassen. Das einzige, was ich von Sozialdemokraten dazu gehört habe, war: Da haben sie aber den Bock zum Gärtner gemacht.
Wenn ich so etwas höre! Es geht ja nicht um meine Person; das ist völlig belanglos. Das einzige, was mich irritiert, ist, daß von Ihrer Seite alle sagen: Wir brauchen eine globale Lösungskompetenz. Das einzige Instrument, das wir haben, ist die Kommission für nachhaltige Entwicklung. Dort stellt sich der deutsche Umweltminister zur Verfügung, um sie zu leiten. Dann heißt es: Er flüchtet nur, weil er zu hause nichts zuwege bringt. Meine lieben Damen und Herren, das kann man so machen. Gehen Sie davon aus: Das ist wirklich ein ganz kleines Karo. Das, meine ich, sollten wir nicht tun. Wir brauchen diese internationale Kooperation.
Ich will Ihnen eines sagen: Sie haben, Herr Kollege Müller, Handel erwähnt. Wir haben uns in New York drei Tage lang über die Frage Handel und Umwelt unterhalten. Sie wissen, daß in der neuen Welthandelsorganisation eine Kommission für Handel und Umwelt eingerichtet ist. Das ist eine der schwierigsten und, wenn ich es richtig sehe, das internationale Klima am meisten vergiftenden Fragen, die vor uns liegen. Denn unsere Umweltstandards werden von ganz vielen in der Welt als nichttarifäre Handelshemmnisse verstanden, und zwar nachhaltig. Unser Wert von 0,1 ppm für Formaldehyd aus Spanplatten ist für China ein Verbot, seine Produkte zu uns zu exportieren. Sie sagen uns das. Wir müssen sehen, daß so etwas wie Handel und Öffnung von Märkten bei vielen durch solche Umweltstandards mißverstanden werden können, und wir werfen ihnen hinterher Umweltdumping vor.Lassen Sie uns das wirklich mit einer größeren Sensibilität betrachten als nur unter dem Gesichtspunkt: Aha, er will zu Hause nicht handeln. Nein, wir brauchen diese weltweite Kooperation. Wir wollen bei dem, was uns der Club of Rome einmal gesagt hat, ansetzen: Grenzen des Wachstums. Nur, wir müssen eines wissen und immer wieder akzeptieren: Wir haben eine der Größen, die der Club of Rome als Wachstumsdeterminanten extrapoliert hat, bis zur Stunde nicht im Griff. Das ist das Wachstum der Weltbevölkerung. Wir haben halt pro Tag 280 000 Menschen mehr auf dieser Welt. Wir müssen uns fragen, wie wir die anderen Größen, die Umweltbelastung, den Ressourcenverbrauch und das Wachstum, von diesem Aspekt entkoppeln können. Das gelingt uns nur durch Technologien, durch neue technische Lösungen für die Bewältigung von Knappheiten in der Welt. Dies können wir bei uns begründen. Ich meine, daß wir diese Maßnahmen bei uns weiter voranbringen können.Meine Damen und Herren, der Kollege Müller hat Elias zitiert. Ich möchte ihn abschließend ebenfalls anführen. Er hat uns darauf hingewiesen, daß die modernen Techniken eine Verlängerung unserer Handlungsketten mit sich bringen, daß sie also langfristige Rückwirkungen haben. Aber er hat nie gesagt: Deshalb dürfen wir uns dieser neuen Technik nicht wirklich hingeben.Nein, ganz im Gegenteil. Wenn wir das Wachstum der Bevölkerung ohne Umweltbelastung und ohne Überziehen der Ressourceninanspruchnahme bewäl-
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Bundesminister Dr. Klaus Töpfertigen wollen, können wir es nur tun, indem wir diesen technologischen Fortschritt, der ein umwelttechnologischer Fortschritt sein muß, wirklich wagen. Darauf kommt es an.
Dazu ist es gut, wenn wir auch einmal über die Grenzen von Parteien hinausblicken und zusammen sagen, daß es eine Verpflichtung einer der führenden Industrienationen der Welt ist. Damit wäre vielen geholfen. Dann würde sogar der Kollege Feige wieder der Meinung sein können, daß man an diesem Pult auch etwas anderes machen kann, als nur Wahlreden zu halten.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Letzter Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es tut mir leid, aber diese Debatte ist eine Art Lumpensammlerdebatte: 23 Tagesordnungspunkte sollen in einer Stunde abgehandelt werden. Darunter sind allein sechs Große Anfragen und fünf Anträge. Allein der Bericht der Bundesregierung über globale Umweltveränderungen verdiente eine ausführliche Debatte.
Dieses qualvolle Gedränge — 2,5 Minuten pro Tagesordnungspunkt für alle Parteien und mich als unabhängigen Abgeordneten —
zeigt allerdings, welch geringen Stellenwert Umweltprobleme und die Antworten darauf in diesem Hause nach wie vor haben.
Am interessantesten in diesem ganzen Wust von Anträgen erscheint mir — so im Überblick — die Vorstellung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur ökologisch-sozialen Steuerreform. Wesentliche Aspekte dessen, was seit Jahren in der Ökologiebewegung gefordert wird, sind darin enthalten. Der Antrag ist sicherlich in vielen Punkten eine notwendige Antwort auf die ökologische Krise und ihre weitere Zuspitzung.
Dennoch: Es reicht nicht. Es fehlt die behutsame, verantwortungsvolle produktionspolitische Unterfütterung, die systematische Einwirkung auf das, was wir produzieren, wieviel wir produzieren, wofür wir produzieren und parallel auch auf das, wieviel, was und wie wir konsumieren, wie wir wohnen, wie wir uns im Raume bewegen usw.
Steuerpolitische Maßnahmen sind notwendig, bei weitem aber nicht hinreichend. Dennoch sind die vorgeschlagenen Schritte wichtige Schritte in die richtige Richtung einer pragmatischen, wirksamen Umweltpolitik in einer marktwirtschaftlichen Ordnung.
Hinzu kommen müssen allerdings Ansätze demokratischer Industriepolitik, einer ökologischen und sozialen Umsteuerung in der Forschungs-, Technologie- und Wissenschaftspolitik, wie sie etwa der Bund demokratischer Wissenschaftler in seinem Memo fordert, und wirksame Veränderungen in den Handelsbeziehungen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden.
Hierfür bedarf es allerdings einer breiten Verankerung in allen Bereichen der Gesellschaft. Ich weiß nicht, ob das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dies so, wie es sich heute darstellt, wie es sich in den letzten Jahren entwickelt hat, wirklich als Voraussetzung hat.
Ich möchte einmal ein praktisches Beispiel aus meiner beruflichen Tätigkeit erwähnen. Was wir z. B. brauchen, sind „Huckepackverfahren" — das ist die offizielle Bezeichnung —, wie wir sie in der Umweltinformatik entwickeln und praktizieren, wo wir „Produktions-, Planungs- und Steuerungssysteme" mit ökologisch relevanten Datenstrukturen und Funktionalitäten ergänzen, um in den Betrieben, also in der Produktion, im zentralen Bereich, ökologisch überwachen und umsteuern zu können. Wir brauchen eine pragmatische, konsensuale Politik. Die Zeit der „Hauptsache Ökologie" -Positionen ist vorbei.
Ich habe in Paris, wo ich meine Stimme bei den Europawahlen abgegeben habe, erlebt, wie die Ökologiebewegung weggefegt wurde. Es wurde die gleiche französische Ökologiebewegung weggefegt, die 1989 sogar die deutsche überholt hatte, die seitdem ja auch eher stagniert. Die jetzigen Europawahlergebnisse von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liegen unter dem, was wir schon 1989 bei den Europawahlen erwartet hatten.
Ob die Dominanz der Deutschen in der grünen Europafraktion der europäischen grünen Bewegung guttut, steht auch dahin. Die politische Ökologiebewegung in der Bundesrepublik — auch bei den Wahlergebnissen — stagniert auf dem Stand der mittachtziger Jahre. Die Sturm- und Drangjahre der Ökologiebewegung sind offensichtlich eindeutig vorbei.
Geduldige, sensible politische Arbeit, die anderen Lebensinteressen ihren Raum läßt, die nicht jede lustvolle oder vitale Regung gleich mit ökologischen Bedenken einschnürt und überzieht und dem ökologischen Zeigefinger aussetzt, ist notwendig.
Das Huckepackverfahren — eben schon angesprochen — und ähnliche Ansätze, auch in der Politik, könnten dazu beitragen, jenem gewissen ökologischen Totalitätsdenken, das ich nach wie vor so spüre, zu entgehen.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu einer Serie von Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 6 a: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen über den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebietes und des Nordostatlantiks, Drucksache 12/7847. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/8076, den Gesetzentwurf unverändert
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Vizepräsident Helmuth Beckeranzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? - Bei wenigen Stimmenthaltungen ist der Gesetzentwurf angenommen.Tagesordnungspunkt 6 b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung, Drucksache 12/7846. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/8077, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei unterschiedlichem Verhalten in den beiden Gruppen, das entweder Stimmenthaltung oder Ablehnung beinhaltet, ist der Gesetzentwurf angenommen.Tagesordnungspunkt 6c: Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes auf Drucksache 12/3487. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/7720 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 12/3487 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung.Noch Tagesordnungspunkt 6 c: Abstimmung Tiber den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes auf Drucksache 12/4105. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/7720 unter Nr. 2, auch diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/4105 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Das sind die beiden Gruppen. Wer stimmt dagegen? — Dagegen stimmen die Koalitionsfraktionen. Stimmenthaltungen? — Stimmenthaltung bei der SPD-Fraktion. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Tagesordnungspunk 6 d: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/7144 — das ist der Bericht der Bundesregierung zu globalen Umweltveränderungen — an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll jedoch beim Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung liegen. Sind Sie damit einverstanden?
— Ich höre und sehe aber keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 6g: Große Anfrage der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur KlimaschutzErfolgsbilanz der Bundesregierung. Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/8058 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die beiden Gruppen. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen das übrige Haus. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Tagesordnungspunkt 6h: Große Anfrage der Fraktion der SPD zur drohenden Grundwasserversauerung und fortschreitenden Bodenversauerung. Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/8050 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Die SPD-Fraktion, die Gruppe PDS/Linke Liste und die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Gegenprobe! —Die Koalitionsfraktionen. Stimmenthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Tagesordnungspunkt 6k bis o: Wir kommen zur Überweisung der Vorlagen zu diesem Tagesordnungspunkt. Die Titel dieser Vorlagen sowie die Nummern der Drucksachen entnehmen Sie bitte der Tagesordnung. Interfraktionell wird Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Tagesordnungspunkt 6p: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Beendigung der Waffenerprobung und Schießübungen im Watten- und Boddenmeer, Drucksache 12/4785. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/417 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! -- Das übrige Haus und der Abgeordnete Koppeli. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 6q: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Verminderung der durch den Flugverkehr verursachten ozonzerstörenden und treibhausrelevanten Emissionen , Drucksache 12/6742. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/2633 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! — Die SPD-Fraktion und die beiden Gruppen. Enthaltungen? — Keine. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 6r: BeschLußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Umweltbildung und Umweltwissenschaften, Drucksache 12/7307. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/3768 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Das ganze Haus. Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.Tagesordnungspunkt 6s: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage zur Vermeidung, Verwertung und Beseitigung von Sonderabfällen, Drucksache 12/7404. Der Ausschuß empfiehlt, cien Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 12/4255
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Vizepräsident Helmuth Beckerabzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! — Die Stimmen des übrigen Hauses. Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.Tagesordnungspunkt 6 t: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion der SPD zur Bekämpfung des Waldsterbens, Drucksache 12/7571. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/5784 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! — Das übrige Haus. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 6u: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Richtlinienvorschlag der Europäischen Union über das Inverkehrbringen von BiozidProdukten, Drucksache 12/7635. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der beiden Gruppen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Tagesordnungspunkt 6v: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion der SPD zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und Schutz gefährdeter Tropenholzarten, Drucksache 12/7825. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/6420 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? -- Bei einigen Stimmenthaltungen aus den beiden Gruppen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Tagesordnungspunkt 6 w: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zum Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer ökologischen Verkehrswende, Drucksache 12/5641 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/3659 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Die Koalitionsfraktionen und ein Teil der SPD-Fraktion. — Gegenprobe! —
Die beiden Gruppen. Stimmenthaltungen? — Bei einer Enthaltung aus der SPD-Fraktion ist die Beschlußempfehlung angenommen.Noch Tagesordnungspunkt 6 w: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Erarbeitung eines ökologisch integrierten Gesamtkonzepts, Drucksache 12/5641 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der PDS/Linke Liste auf der Drucksache 12/3736 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Die Koalitionsfraktionen und die SPD. Wer stimmt dagegen? — Die PDS/Linke Liste. Enthaltungen? — Bei Stimmenthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Kollegen Briefs ist die Beschlußempfehlung angenommen.Damit sind wir am Ende dieser Abstimmungen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf.a) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland 1993— Drucksache 12/6960 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung und Wissenschaftb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Gerd Wartenberg (Berlin), Gerd Andres, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDStatistik der Zu- und Abwanderung— Drucksachen 12/5361, 12/7824 —Berichterstattung:Abgeordnete Erika SteinbachHans-Joachim WeltCornelia Schmalz-JacobsenNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. -Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Sobald wir im hause einigermaßen Ruhe hergestellt haben, wird die Aussprache eröffnet. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, auf jeden Fall aber der Rednerin, nämlich unserer Frau Kollegin Cornelia SchmalzJacobsen, zu ermöglichen, mit ihrer Rede zu beginnen.Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zum erstenmal über einen Bericht zur Lage der Ausländer in Deutschland, den ich Ihnen als Ausländerbeauftragte vorlegen konnte. Allein das halte ich für ein beachtliches Faktum, denn es zeigt ja doch, welch gewachsener Stellenwert der Ausländerpolitik inzwischen zukommt.
In meinem Bericht finden Sie eine Fülle von Fakten über die Lebensverhältnisse von Ausländern in der Bundesrepublik, die ich natürlich im einzelnen nicht wiedergeben kann und auch nicht wiedergeben will; Sie sollen ihn ja lesen. Eines zeigt der Bericht deutlich, nämlich daß sich die Struktur und die Lebenssituation der Ausländer, die bei uns leben, in den letzten zwei Jahrzehnten grundlegend verändert hat.Besonders bedeutsam erscheint mir die zunehmend lange Aufenthaltsdauer der meisten Ausländer in Deutschland. Ende 1991 waren 95 % von Ihnen bereits mehr als 20 Jahre bei uns, und von den sechseinhalb Millionen Ausländern in Deutschland Ende 1992 — inzwischen sind es etwas mehr geworden - waren mehr als eineinhalb Millionen unter 18 Jahre alt,
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Cornelia Schmalz-Jacobsenzweieinhalb Millionen unter 25 Jahre alt. Wir haben es hier mit einer sehr jungen Bevölkerung zu tun. Bereits zwei Drittel aller Migrantenkinder sind in Deutschland zur Welt gekommen.Diese Zahlen zeigen eines in aller Deutlichkeit: Die ausländische Wohnbevölkerung ist zu einem festen, nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil unserer Gesellschaft geworden. Für sehr, sehr viele von ihnen trifft die Bezeichnung Ausländer einfach nicht mehr zu.
Darum hat es auch einen gewissen Streit, eine gewisse Debatte um Begriffe gegeben, und es wird sie weiter geben.Die Einbürgerungen nehmen zu, wenn auch nicht in wünschenswertem Umfang. Es hat in den Jahren 1989 bis 1991 eine Verdoppelung von Einbürgerungen gegeben, aber auf niedrigem Niveau.Über die Anspruchseinbürgerung, die wir seit knapp einem Jahr gesetzlich geregelt haben, liegen leider noch keine Zahlen vor. Ich weiß nur eines: Es ist bei denen, die betroffen sind, zuwenig bekannt. Ich möchte Sie alle bitten, ausländische Mitbürger, die die Möglichkeit der Einbürgerung haben, doch darüber aufzuklären. Daß die Beibehaltung der alten Staatsbürgerschaft eine große Hürde ist, weiß ich, wissen hier im Hause, glaube ich, alle. Dennoch, die Unbekanntheit dieses Gesetzes bedauere ich sehr.
Die Tatsache, daß Ausländer in Deutschland längst keine Gastarbeiter mehr sind, sondern zu Einwanderern für immer und zu einer festen Größe in unserer Gesellschaft geworden sind, müssen wir in der Öffentlichkeit noch weitaus stärker als bisher bewußtmachen, und zwar nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit konkreten politischen Maßnahmen.
Es ist tatsächlich immer mehr Bürgerinnen und Bürgern bewußt geworden, daß sie eine feststehende Größe sind. Allein die Zahl der Eheschließungen zeigt es: Wenn heute jede zehnte Ehe, die bei uns geschlossen wird, eine binationale Ehe ist, dann ist das ein wichtiges Faktum.Mein Bericht veranschaulicht zweierlei: zum einen die Dringlichkeit eines weiter verbesserten Integrationsangebotes, gerade für die hier geborenen und aufgewachsenen ausländischen Inländer der zweiten und dritten Generation, zum anderen aber auch die Integrationsfortschritte, die es in einzelnen Bereichen deutlich festzustellen gibt. Hier hat es Anstrengungen des Bundes und der Länder, auch einzelner Kommunen gegeben.So ist z. B. der Bildungsstand in den letzten Jahren deutlich besser geworden. Der Trend zu weiterführenden Schulen ist ebenso unverkennbar wie im Bereich der Beschäftigung der Trend weg von einfachen Arbeitertätigkeiten hin zu qualifizierter Ausbildung und auch zu mehr Angestelltenverhältnissen. Die Zahl der Selbständigen wächst ständig; auch ein wichtiges Datum.Aber es gibt nach wie vor viele unnötige Defizite in der Ausländerintegration. Es gibt diese Defizite auch im Ausbildungsbereich; ich komme noch kurz darauf zurück. Diese Defizite lassen sich u. a. aber auch an zahlreichen Diskriminierungstatbeständen in Gesetzen und Rechtsverordnungen ablesen, die sich zum Teil sehr einfach ausräumen ließen. Deswegen plädiere ich in diesem Zusammenhang für eine gründliche Durchforstung unserer Gesetze durch eine Sachverständigenkommission, die feststellen soll: Wo sind eigentlich Unterscheidungen zwischen Inländern und Ausländern überhaupt noch angebracht?
Es gibt darüber hinaus natürlich Benachteiligungen im nichtstaatlichen Bereich; ich denke z. B. an den Wohnungsmarkt: durch das Verhalten mancher privater Vermieter. Es gibt Beteiligungen durch Sondertarife bei Versicherungsunternehmen; nicht bei allen. Es gibt auch immer noch schlechtere Konstellationen für junge Ausländer in der Berufsausbildung, trotz aller Fortschritte.Bei anderer Gelegenheit habe ich in diesem Hause schon einmal auf die außerordentlich erschreckende Rückständigkeit ausgerechnet des öffentlichen Dienstes bei der Ausbildung von Ausländern hingewiesen. Ich tue das noch einmal: Nur jeder 50. Auszubildende ist hier ausländischer Herkunft, wobei natürlich nur die Ausbildungsplätze angesprochen werden, die Ausländern überhaupt offenstehen. Auch in Industrie und Handel sind die Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft, während sich gerade das Handwerk sehr um ausländische Auszubildende bemüht.Wieviel hier noch zu tun bleibt, will ich mit einer kleinen Gegenüberstellung deutlich machen: Ausländische Jugendliche machen gegenwärtig etwa 14 % der Altersgruppe der potentiell Auszubildenden aus, aber nur rund 7,5 % sind tatsächlich Auszubildende, also die Hälfte. Trotz des Mangels an Auszubildenden in der Wirtschaft finden sie noch allzuoft keine Lehrstelle und fallen im ungünstigsten Fall ganz aus dem Bildungssystem heraus.Daß hierbei auch der häufig unzureichende Wissensstand ausländischer Familien über unsere duale Ausbildung eine Rolle spielt, steht auf einem anderen Blatt. Ich empfehle: Das entsprechende Informations- und Beratungsangebot für Eltern und Jugendliche muß weiter verbessert werden und sollte schon in den Schulen beginnen.Wir reden viel über den Standort Deutschland. Dazu gehört auch, das wichtige Humankapital — ein scheußliches Wort — durch zweierlei Sprach- und Kulturkenntnis zu fördern. Warum ist der muttersprachliche Ergänzungsunterricht fast immer Nachmittagsunterricht, bei dem die Kinder das Gefühl haben, nachsitzen zu müssen? Das ist eine zusätzliche Belastung. Ich frage mich: Warum sollten nicht auch deutsche Mitschüler an diesem Unterricht teilnehmen können?
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Cornelia Schmalz-JacobsenNoch ein Wort zu den Schulen: Der Spielraum für Veränderungen in Lehrplänen und beim Lehrmaterial ist im Hinblick auf ein interkulturelles Lernen immer noch sehr groß. Hier gibt es einige Bewegung, die auf das Engagement einzelner Lehrer zurückzuführen ist. Ich begrüße das, aber hier muß mehr getan werden.Ein Ärgernis der besonderen Art ist in meinen Augen, daß hier geborene junge Ausländer immer noch eine Arbeitserlaubnis in ihrer Heimat Deutschland beantragen müssen, wenn sie arbeiten wollen oder ausgebildet werden wollen. Es gibt Signale aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, daß dieses bald der Vergangenheit angehören soll.
Es wäre dringend notwendig.
Mein Bericht weist auf einige Punkte hin, an denen eine Reform des Ausländergesetzes ansetzen sollte, um die Vorschriften verständlicher und tatsächlich auch integrationserleichternder zu fassen. Ich werde das in der allernächsten Zeit vorlegen und besonders deutlich machen.Ein weiteres Thema, das ich hier kurz erwähnen möchte: Die Gastarbeiter der ersten Generation, die wir geholt haben, werden älter; sie kommen ins Rentenalter. Heute beträgt die Zahl der über 60jährigen nur etwas mehr als 2 %, aber sie wird zunehmen. Immer mehr ausländische Senioren werden ihren Lebensabend in Deutschland verbringen. Andere werden zwischen Herkunftsland und der Bundesrepublik pendeln wollen.
Das wird nicht nur entsprechende ausländerrechtliche Anpassungen erfordern, sondern zu einer neuen Herausforderung für die Seniorenpolitik insgesamt, für die Beratungsdienste und die Altersheimstrukturen werden.Der Bericht, den ich vorgelegt habe, enthält ein Kapitel über die Religion. Wir leben in diesem Land mit mehr als 2 Millionen Muslimen und mit mehr als 100 000 deutschen Muslimen zusammen. Ich denke, es ist wichtig für uns alle, den Unterschied zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus, dem Fundamentalismus als politische und gesellschaftliche Ideologie klarzumachen.
Wir werden in unserer Ausländerpolitik in Zukunft alle Hände voll zu tun haben, um den Veränderungen innerhalb der ausländischen Wohnbevölkerung Rechnung zu tragen und die Integration auf eine sichere Basis zu stellen. Das ist heute mit Blick auf Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus wichtiger denn je.
Letztlich sind es natürlich die Menschen — Deutsche und Ausländer —, die aufeinander zugehen und miteinander auskommen müssen. Vieles ist deutlich besser geworden. Ich bin dafür, denen den Rücken zu stärken, die in der Bevölkerung dafür konkret etwas tun.
Ich komme zum Schluß. Eine in sich schlüssige Integrationspolitik dient keineswegs nur der Eingliederung der Zuwanderer. Sie dient dem Zusammenleben und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Bewahrung des inneren Friedens. Eine Gesellschaft, die mit Zuwanderern lebt, braucht einen roten Faden, braucht einen Konsens der Werte. Sie kann nur in den Werten unserer Demokratie bestehen, in unserem liberalen Rechtsstaat; denn der Nationalstaat taugt als Kitt nicht.
Er trägt nicht, und er ist gefährlich. So müssen wir all denen eine Absage erteilen, die Intoleranz neuerdings als Patriotismus verkaufen.
Sie tun genau das, was sie vorgeben zu verhindern: Sie stören den inneren Frieden und das Zusammenleben.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Nebenprodukt, und zwar ein ganz wichtiges, des Asylkompromisses vom 6. Dezember 1992 war die Aufforderung, daß die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung jährlich einen Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland vorlegt.Für uns Sozialdemokraten ist dieser Bericht ein weiterer kleiner Schritt in Richtung auf unser Ziel, die vielseitigen Lebenssituationen von fast 7 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in diesem Land als selbstverständlichen Teil einer gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Verantwortung anzusehen.Migrationspolitik, meine Damen und Herren, wird zukünftig jeden von Ihnen fordern. Sie ist nicht länger ein Randgebiet politischer Arbeit, in dem sich einige engagierte Exoten tummeln. Sie greift vielmehr als Querschnittsaufgabe direkt in alle Politikbereiche ein.Eine unabhängige Instanz, die in der Lage ist, fachlich und gesellschaftskritisch auf Veränderungen, Entwicklungen und notwendige Regulative in diesem Gesamtbereich hinzuweisen, eine Instanz, frei von fraktionspolitischen, gesteuerten Interessen, wird
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20632 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Gerd Andresdaher für die Zukunft als Instrument der Selbstkontrolle unabdingbar.In diesem Sinne — da stimme ich Frau SchmalzJacobsen zu — ist meiner Meinung nach der vorliegende Bericht von einem Stellenwert, wie ich ihn vergleichbar sehe mit dem des Datenschutzbeauftragten oder des Wehrbeauftragten dieses Bundestages.
Ich freue mich auch, daß dieser Bericht vorgelegt worden ist. Aber ich will nicht verhehlen, daß es schon sehr merkwürdig ist, wenn über Wochen geklärt werden muß, wer berechtigt ist, den Bericht der Ausländerbeauftragten dem Deutschen Bundestag vorzulegen: Sie selber, Frau Schmalz-Jacobsen? Nein. Eine solche Kompentenzanhäufung wird von der Bundesregierung verweigert. Damit könnte ja der weitere Anspruch auf Stärkung der Position, beispielsweise im Sinne des Datenschutzbeauftragten oder anderer Positionen, verbunden werden.Die Bundesregierung? Nein. Das könnte bedeuten, daß man den Inhalt billigt. Das würde zudem der ganzen Angelegenheit eine viel zu hohe Aufwertung verleihen. Bleibt der Bundesminister für Arbeit und Soziales, zu dessen Haushalt Sie zwar nicht gehören, in dessen Hause Sie jedoch angesiedelt sind.Es ist auch so, daß der Hinweis in der Drucksache 12/6960: „Der vorliegende Bericht ist in Inhalt und Wertung in der alleinigen Verantwortung der Beauftragten der Bundesregierung ... erstellt worden.", so zu verstehen ist, daß das Zusammentragen der unbestritten umfangreichen Fakten und Daten über die nichtdeutsche Wohnbevölkerung ausschließlich dem Büro von Frau Schmalz-Jacobsen oblag. Dagegen kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein Teil der von ihr ausgesprochenen Empfehlungen und Beurteilungen von Sachverhalten den sprachlichen Wünschen der Bundesregierung näher steht als eigene, vorher oder nachher von Ihnen abgegebene Presseerklärungen zu gleichen Themen. Da könnte ich jetzt eine ganze Reihe aufzählen.
Nehmen wir das Beispiel Arbeitserlaubnisrecht. Da forderte die Bundesausländerbeauftragte nach dem Erlaß der Bundesanstalt für Arbeit vom März 1993, nach dem die allgemeine Arbeitserlaubnis nur noch für ein Jahr zu erteilen ist und Arbeitnehmer aus Drittstaaten grundsätzlich einem mehrwöchigen Prüfungsverfahren zu unterstellen sind, die Aufhebung dieser Vorschrift. In Ihrem Bericht liest sich das dann ganz anders. Darin heißt es nämlich, daß „hier rechtmäßig lebende Migranten möglichst weitgehend integriert und arbeitsmarktpolitisch kontraproduktive Auswirkungen verhindert werden" sollen. „Dieser Erlaß trägt dazu bei, das vorhandene Vorurteil, Ausländer nähmen Deutschen die Arbeitsplätze weg, zusätzlich zu verstärken."Das haben Sie übrigens auch gemeinsam auf der Bundeskonferenz der Ausländerbeauftragten beschlossen. Wenn man dann weiterliest, findet sich in Ihrem Bericht als Empfehlung, daß man nach Vorliegen von Erfahrungswerten — also nicht sofortdiesen Erlaß auf seine Zweckmäßigkeit untersuchenmüsse. Im übrigen: Es sei auf Grund der mißverständlichen Darstellung in der Presse ein falscher Eindruck von der Zahl der Arbeitnehmer entstanden, die davon betroffen seien.Ich könnte hier weitere Beispiele aufzählen. Nehme ich das Bundeskindergeldgesetz oder andere Regelungen, dann ist Ihre öffentlich vorgetragene Position eine andere, als sie sich im Bericht wiederfindet. Ich habe an manchen Stellen den Eindruck, daß der Bundesarbeitsminister hier Korrektur gelesen hat.Ich könnte einzelne Beispiele nennen. Ich will mir das mit Blick auf die Zeit zunächst schenken. Aber es ist bemerkenswert, daß es Beispiele von Nichterwähnung oder Überspielung akuter, selbst brisanter aktueller politischer Themen gibt. Ich nehme einmal die Position zum Wahlrecht; dazu haben Sie ein Kapitel. Da nehmen Sie zum kommunalen Wahlrecht für Drittstaatler nicht selbst Stellung, sondern Sie zitieren lediglich zwei Sätze aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Zum Thema Ausländerzentralregister, ein sehr brennendes Thema, das alle, die sich in dem Bereich engagieren sehr beschäftigt, haben Sie auch nicht Stellung bezogen.Zum Thema Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz, — das ist sicherlich kein einfaches Thema, aber eines, was uns in der Ausländerdebatte sehr massiv beschäftigt, und zwar längere Zeit — gibt es auch keine Position und keine entsprechende Stellungnahme in dem Bericht.Dies kann ich nicht verstehen, Frau Schmalz-Jacobsen. Wenn man Ihnen schon die alleinige Verantwortung zuweist, dann hätte ich von Ihnen auch erwartet, daß Sie im Sinne einer vernünftigen Migrationspolitik eindeutig Stellung beziehen.Da kommen, wenn man den Bericht dann weiterliest — auch dazu könnte ich viele Beispiele nennen , so locker im Text verstreute Hinweise, indem dann gesagt wird: „Diese Politik verfolgt auch die Bundesregierung" — Seite 35 —, oder: „Diese Zielvorstellung verfolgt auch die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung". Nirgendwo findet sich ein Verweis darauf, was an zentralen, wichtigen Positionen aus Ihrer Sicht notwendig wäre.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen, es ist nicht einfach, eine Diskussion über den Bericht der Ausländerbeauftragten zu führen. Meine Erwartungen an diese Vorlage waren recht hoch, wie auch das Amt bei Sozialdemokraten schon immer höher eingeschätzt worden ist als in Regierungskreisen. Deswegen sage ich noch einmal: Ich hätte mir eine eindeutige und offene Sprache gewünscht.
Trotz aller Enttäuschung, für den mit der Materie Vertrauten liest sich der Bericht mit allen Nivellierungen wie ein einziger Mängelbericht. Es wird, wenn auch in sehr abgeschwächter Form, sehr deutlich, mit welcher Nachlässigkeit die Bundesregierung in der Vergangenheit mit dem Thema Migration, Integration umgegangen ist. Dabei beinhaltet diese Nachlässigkeit eine klare erkennbare Strategie: Worüber ich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20633
Gerd Andresnicht spreche, das erkenne ich nicht, und was ich nicht erkenne, existiert auch nicht, und deswegen muß ich da auch nicht handeln.In den Darstellungen der Ausländerbeauftragten gibt es gleichwohl eine Reihe von sehr zentralen Positionen, die auch sehr lesenswert sind und die in der politischen Debatte nach vorne gerückt werden müssen. Ich nenne da erstens die schulische und berufliche Situation der Kinder und Jugendlichen. Ich nenne zweitens das zentrale Problem, Sprachdefizite von Migrantnekindern im Vorschul- oder Grundschulbereich entschieden anzugehen und zu beheben. Diese Tatsache bezieht sich auch zunehmend auf Kinder von Aussiedlern.Ich nenne als drittes, daß der nach wie vor größte Teil der nichtdeutschen Wohnbevölkerung abhängig beschäftigt ist. Wenn man sich die Entwicklungschancen anguckt, beispielsweise ihren Anteil im Angestelltenbereich, so stellt man ganz große Benachteiligungen fest.Viertens. Bei der Aufgliederung nach Berufsgruppen gilt wie eh und je, daß Migranten überproportional solche Berufe ausüben, die körperlich oder gesundheitlich belastend sind. Entsprechend hoch ist auch ihre Zahl bei den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten.Man kann die Einkommenssituation heranziehen, und man kann die Arbeitslosenquote heranziehen, die die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger besonders bedrückt, und viele andere Dinge mehr.Einen Punkt will ich noch besonders hervorheben. Gravierende Änderungen im Familien- und allgemeinen Lebensbereich werden von der Bundesregierung nur am Rande beachtet. Wer sich ein bißchen damit befaßt, der weiß, daß es in den MigrantenFamilien ungeheuer kracht und daß die kulturellen Brüche und Schwierigkeiten da eine sehr große Rolle spielen. Deswegen hätte ich mir gewünscht, daß diesem Bereich mehr Beachtung geschenkt worden wäre.Der Bericht enthält auch Hinweise auf notwendige Gesetzesänderungen, die wir Sozialdemokraten bereits ins Parlament eingebracht haben. Ich erinnere hier an die notwendige Änderung des Ausländergesetzes. Da haben Sie ja noch die große Chance, hier entsprechend mitzuwirken, damit wir wenigstens die härtesten Regelungen, von denen wir meinen, daß sie geändert werden müssen, in dieser Legislaturperiode noch ändern können.
Hinzu kommt etwas, von dem ich glaube, daß es zunehmend Bedeutung bekommt. Wir finden nämlich kaum eine institutionalisiert zuständige Stelle für alle Fragen der Migrationspolitik. Wenn man sich einmal umschaut, ob es um Institutionen geht, ob es um die Frage der Zuordnung zu Ministerien geht, zu Bundestagsausschüssen oder ähnlichem, so denke ich, daß wir auch hier zu einer Änderung kommen müssen.Ich sage ganz dezidiert zum Schluß, Frau SchmalzJacobsen — ich habe es auch öffentlich geäußert; ich will es auch so sagen —: Sie sind noch nicht einmal bei den heftigen Auseinandersetzungen um die Abschiebung des türkischen Jungen aus Köln beteiligt worden. Wenn ich mir anschaue, wie die Funktion trotz Veränderung bei ihrer Inthronisierung nach wie vor von dieser Bundesregierung gehandhabt wird, dann habe ich häufig den Eindruck — und das könnte ich auf unsere Debatte über die erleichterte Erlangung der Staatsangehörigkeit beziehen unter hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit; da habe ich hier eine wunderbare Presseerklärung von Herrn Hirsch; da nehme ich die Ausländerdebatten, die wir hier geführt haben —, daß Sie nach kurzer Zeit von der Position her da sind, wo Ihre Vorgängerin, Frau Funcke, war, die das über viele Jahre gemacht hat, versucht hat, hier inhaltliche Veränderungen durchzusetzen, und die dann mit einer entschiedenen öffentlichen Erklärung deutlich gemacht hat, daß Sie nicht mehr bereit ist, sich als Feigenblatt für eine Bundesregierung mißbrauchen zu lassen, die öffentlich schöne Positionen beschreibt, aber in ihrer praktischen Politik genau das Gegenteil von dem tut, was beschrieben wird. In vielen Positionen stehen in diesem Ausländerbericht, den Sie vorlegen, völlig richtige Positionsbeschreibungen und notwendige Veränderungen. Aber was ist die politische Konsequenz? Das frage ich Sie.
Die politische Konsequenz ist dann, daß man sich anschauen kann, mit welchem doppeltem Spagat Sie hier stehen, immer zwischen der Fraktionsloyalität und der Loyalität gegenüber dem unabhängigen Amt, das Sie führen. Deswegen muß ich wirklich sagen: Mir ist eine Presseerklärung in die Hand gefallen — damit will ich schließen —, die Sie im Dezember des vergangenen Jahres formuliert haben. Da hat Frau SchmalzJacobsen mit der Überschrift „Warnung vor der Angst der CSU" folgendes formuliert: Auf die Ankündigung von Herrn Waigel, die Angst vor Überfremdung in den Mittelpunkt der Wahlkämpfe des folgenden Jahres stellen zu wollen, erklären Sie, daß man eine solche Position entschieden zurückweisen müsse —
— der Auffassung bin ich ganz entschieden — und daß hier nur die alten Vorurteile von der Überfremdung und von der Rolle der Ausländer in dieser Republik vorgeschoben werden.
— Doch. Ich habe schon überlegt, man müßte eigentlich auch eine Presseerklärung herausgeben, die überschrieben ist: Warnung vor der Angst der F.D.P., weil der Grund für die interne Forderung der F.D.P. an ihre Mitglieder, doch die ausländerrechtlichen Fragen und Positionen nicht so zentral in den Wahlkampf hineinzunehmen, auch darin liegt, daß Sie öffentlich zwar inhaltlich Position beziehen, sich aber in der Angst um den Verlust des Koalitionspartners oder möglicherweise die eine oder andere Wählerstimme hier als Fraktion in einer anderen Art und Weise verhalten. Deswegen will ich mit meinem Redebeitrag damit schließen, daß ich sage: Hoffentlich - -
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20634 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Gerd Andres— Nein, das hat damit gar nichts zu tun. Ich bitte Sie: Politisches Handeln muß auch Konsequenzen haben. Wenn Sie die Positionen alle dem Koalitionszwang unterwerfen, dann muß man die Frage formulieren, ob man nicht irgendwann auch einmal eine Presseerklärung machen muß, wo man vor der Angst der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland warnt, denn Sie könnten sehr entschieden und viel deutlicher inhaltliche Positionen voranbringen.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Erika Steinbach.
— Ich weiß es. Die Redezeit war schon um drei Minuten überschritten, genau wie bei der Kollegin Schmalz-Jacobsen. Aber jetzt bin ich wirklich nicht mehr in der Lage, das noch durch Zwischenfragen zu verlängern. Das ist schon sehr großzügig. Ich bitte alle, sich in etwa an die Redezeiten zu halten.
Bitte, Frau Kollegin Steinbach.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute zweierlei Dinge zu beraten, auf der einen Seite den Antrag der SPD zu einer Statistik, bezogen auf die Ausländer, und auf der anderen Seite im gleichen Rahmen dieses Tagesordnungspunktes den Bericht der Ausländerbeauftragten. Ich wende mich zunächst einmal dem eigentlich technokratischeren Problem zu, dem Anliegen der SPD, bezogen auf die Statistik.Sie fordern, umfangreichere statistische Erhebungen und Auswertungen über den Zuzug und über die Abwanderung von Ausländern zu erstellen. Ich muß zugeben: Das klingt gut. So sehr allerdings eine möglichst umfangreiche und aussagekräftige Aufarbeitung von statistischem Material über Zu- und Abwanderung von Ausländern wünschenswert ist, so muß man sich doch zunächst zweierlei fragen: Erstens, trifft das zu, was die SPD behauptet, daß nämlich die Bundesregierung eine passive Rolle der Entgegennahme von statistischem Material aus den Ländern einnimmt? Zweitens, ist eine monatliche Statistik, so wie Sie sie fordern, überhaupt realisierbar?Beide Fragen müssen mit Nein beantwortet werden. Die Bundesregierung hat bereits, im übrigen auch ohne die freundliche Aufforderung aus den Reihen der SPD, eine Vielzahl von Maßnahmen in die Wege geleitet, die zu einer erheblichen Verbesserung der Datenbasis geführt haben. So wurde beispielsweise die Asylbewerberzugangs- und die Asylbewerberentscheidungsstatistik völlig neu konzipiert und verbessert. Trotzdem ist noch eine weitergehende Verbesserung der Datenbasis erstrebenswert.Der Vorschlag aus den Reihen der SPD ist jedoch aus einer Vielzahl von sowohl rechtlichen als auch technischen, aber auch aus finanziellen Gründen nicht realisierbar. Zu den wichtigsten rechtlichen Bedenken zählt sicherlich der Datenschutz. Um dievon Ihnen geforderten Statistiken zu liefern, müßten die Daten der verschiedensten Stellen zusammengetragen werden, was zu einem umfangreichen Austausch insbesondere von personenbezogenen Daten führen würde. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wären vermutlich die ersten, die datenschutzrechtliche Bedenken geltend machten.
Außerdem bitte ich auch den Aufwand zu bedenken, der für eine monatliche Auswertung betrieben werden müßte, und zwar nicht nur beim Bund, sondern insbesondere auch bei den Bundesländern, wobei ich große Zweifel daran habe, daß die Bundesländer begeistert bereit wären, hier mitzuarbeiten. Auch dem Bemühen, Bürokratie abzubauen und nicht noch weiter aufzublähen, würde natürlich entgegengewirkt.Unter Umständen wäre dieser ganze Aufwand noch vertretbar, wenn sich trotz der genannten Bedenken ein Effekt ergäbe, wodurch der derzeitige Zustand tatsächlich deutlich verbessert werden könnte. Davon kann aber letztlich keine Rede sein; davon bin ich fest überzeugt.Die amtliche Wanderungsstatistik stellt bereits jetzt umfangreiche und hinreichend genaue Angaben über die Zu- und Vorzüge sowie den Wanderungssaldo bereit. Die Ausgaben sind nach Deutschen und Ausländern sowie nach Wanderungen innerhalb und auch über die Grenzen des Bundesgebiets hinaus untergliedert. Die Ergebnisse dieser Wanderungsstatistik werden im Statistischen Jahrbuch und in Fachserien des Statistischen Bundesamtes regelmäßig veröffentlicht — zwar nicht in monatlichen, sondern in größeren Intervallen, jedoch regelmäßig. Außerdem gibt es beim Bund noch diverse Geschäftsstatistiken zu den Gruppen, die in ihrem Beschlußvorschlag extra genannt sind: Asylbewerber oder auch der Bereich der Aussiedler.Die zeitlichen Verzögerungen, die sich dabei trotz vorhandenen Materials ergeben, sind zwar bedauerlich, sie basieren aber, so meine ich, hauptsächlich darauf, daß der Weg über die Bundesländer nicht besonders kurz ist. Von dem Gedanken, in dieser Frage in die Rechte der Länder einzugreifen, bin ich auch nicht so angetan. Die Länder müssen das Material vor- und aufbereiten, ehe sie es liefern können. Dieser Weg braucht natürlich seine Zeit.Darüber hinaus werden im Bundesministerium des Innern zur Zeit Vorbereitungen getroffen, um das gesamte Programm der Bundesstatistik zu modernisieren und damit auch zu beschleunigen.
Sie sehen also, meine Damen und Herren: Es wird etwas getan. Im Grunde genommen bedarf es Ihres Antrages nicht.
Die statistischen Daten können erheblich intensivergenutzt werden, wenn die Programme modernergestaltet sind. Deshalb können wir Ihrem Antrag auch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20635
Erika Steinbachnicht zustimmen. Wir haben schon im Innenausschuß darüber diskutiert und werden uns demgemäß verhalten.Heute debattieren wir darüber hinaus — das ist sicherlich der wichtigere Teil der Diskussion —, über den neuesten Bericht unserer Ausländerbeauftragten. Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihre engagierte Arbeit. Ich schätze die Art, wie Sie die Arbeit leisten.
Damit Sie aber nicht völlig in Mißkredit bei der anderen Bank geraten, füge ich gleich hinzu: Ich teile nicht immer die Schlußfolgerung, die Sie aus den Daten, die zusammengetragen sind, ziehen.
Trotzdem herzlichen Dank für die Art Ihrer Arbeit.
— Überhaupt nicht, das würde ich nicht sagen, aber wir gelangen häufig zu anderen Schlußfolgerungen. Das ist ja unser parlamentarisches Recht. Deshalb kann ich die Frau Kollegin sehr schätzen.In den letzten Monaten habe ich von dieser Stelle aus schon des öfteren zu Forderungen seitens der Opposition gesprochen, die zum Ziel hatten, Deutschland immer mehr zu einem Einwanderungsland zu machen.
— Herr Duve, Ihr Blutdruck fängt schon wieder an zu steigen.
Die Position meiner Fraktion, der CDU/CSU, war nachdrücklich die, daß Deutschland und seine Bürger ausländerfreundlich sind und daß das Zusammenleben von Ausländern und Deutschen in aller Regel sehr, sehr gut funktioniert. Kriminelle Handlungen gegenüber Ausländern sind dabei glücklicherweise die Ausnahme, auch wenn sie großes Aufsehen erregen.
Ich bin sehr dankbar, daß es die Ausnahme ist und nicht die Regel.
— Herr Duve, ich kann Ihnen sogar beipflichten, daß es unserem Land nicht nützt, sondern schadet. Da haben wir gar keinen Dissens.
— Es schadet uns allen, Herr Kollege, sowohl als auch.Allerdings habe ich deutlich gemacht, daß es unsere innerstaatliche Situation nicht erlaubt, den Zuzug weiterer Ausländer hierher zu erleichtern, da Deutschland ganz einfach kein Einwanderungsland sein kann.
Wer den vorliegenden Bericht der Ausländerbeauftragten genau gelesen hat, wird feststellen können, daß die Zahlen, die Daten und Fakten unsere Position bestätigen. So heißt es etwa auf der einen Seite: Grundsätzlich werden in- und ausländische Arbeitnehmer — das ist der soziale Teil — nach gleichen Lohn- und Gehaltstarifen bezahlt. Dann weiter: Es ist festzustellen, daß die dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer hinreichend an den Sozialleistungen partizipieren. Wie bei den deutschen ist auch bei ausländischen Schülerinnen und Schülern ein Trend zur gymnasialen Ausbildung festzustellen — das hatten Sie ja in Ihrem Bericht im Plenum auch gesagt.Das Interessanteste in diesem Zusammenhang steht auf Seite 22 unter dem Punkt „Nachbarschaftsverhältnis" als positives Merkmal. Da wird nämlich ausgesagt, daß 81 % der befragten Ausländer das Nachbarschaftsverhältnis zu Deutschen als sehr gut bis normal bezeichnen.Meine Damen und Herren, das eben gezeichnete Bild stellt uns nicht als ausländerfeindliches Land dar, sondern macht deutlich, daß das Zusammenleben im Grunde genommen gut funktioniert, auch wenn die Integration zu wünschen übrigläßt. Für mich weisen diese unbestreitbaren Fakten auf ein normales Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern hin, bei dem die legal hier lebenden Ausländer nicht schlechter gestellt sind als die Deutschen. Daß sie als Ausländer keine Bürgerrechte wahrnehmen können, die primär an die Staatsangehörigkeit geknüpft sind— wie in jedem anderen Lande auch —, ist eine Selbstverständlichkeit. Das braucht man nicht extra hinzuzufügen, das ist normal.
Doch ich finde in diesem Bericht der Ausländerbeauftragten auch Fakten, die außergewöhnlich bedenklich sind und unsere These, daß der Zuzug von Ausländern weiterhin dringend begrenzt bleiben muß, eindrucksvoll bestärken. Nehmen Sie z. B. die Zahl, daß der Ausländeranteil in München bereits 24 % beträgt, daß in Frankfurt der Ausländeranteil nach dem Bericht 26 %, inzwischen zum heutigen Tage sogar 28 % beträgt.
Das macht deutlich, daß die Integrationsmöglichkeiten irgendwo ihre Grenzen finden werden, weil das Spannungsverhältnis wächst.Auf einer anderen Seite ist zu lesen, daß 1989 und 1990 die Wanderungssalden bei je einer Million und damit in Höhe der höchsten Einwanderungszahlen der Vereinigten Staaten von Amerika um die Jahrhundertwende lagen. Allerdings gibt es dabei einen gravierenden Unterschied. Um die Jahrhundert-
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20636 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Erika Steinbachwende waren die USA ein leeres Land, das besiedelt werden mußte, das also der Einwanderung dringend bedurfte. Die Situation, vor der dagegen Deutschland heute steht —
— wir stehen in dieser Situation; das hat mit „Volk ohne Raum" gar nichts zu tun, man muß einfach nüchtern die Fakten zusammensetzen —, läßt sich mit der in den USA um die Jahrhundertwende keinesfalls vergleichen. Bei uns leben pro Quadratkilometer eher zuviel als zuwenig Menschen. Die Bevölkerungszahl hat sich, bezogen auf 1930, bei uns inzwischen verdoppelt. Auch das muß man mitberücksichtigen, die Möglichkeiten, die wir überhaupt haben.Die Daten der Ausländerbeauftragten bestätigen: Es wäre unverantwortlich und eine extreme Gefährdung des inneren Friedens in Deutschland, wenn wir, wie es PDS, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und auch Teile der SPD gern hätten, den weiteren Zuzug von Ausländern erleichtern würden.
Wir müssen nach wie vor stringent darauf achten, daß nur wenige zusätzlich ins Land kommen.Eine nachdrückliche Anmerkung noch zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen, die in diesem Bericht noch keinen so umfassenden Raum gefunden haben — das ist mein Eindruck —: Verbrechen hier in Deutschland, egal gegen wen auch immer, sind konsequent zu ahnden. Selbstverständlich müssen auch die Verbrechen an Ausländern konsequent und auch möglichst umgehend geahndet und hart bestraft werden. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD-Fraktion, bedauere ich wirklich nachdrücklich, daß Sie dem Verbrechensbekämpfungsgesetz nicht zugestimmt haben und daß Sie das über den Bundesrat blockiert haben, weil es eine Handhabe geboten hätte, gerade solche Auswüchse und Ausschreitungen drastisch und sofort zu ahnden.
Meine Damen und Herren, ich fasse das Bild, das sich auf Grund des vorliegenden Berichtes der Ausländerbeauftragten für uns darstellt, zusammen: Deutschland ist ein ausländerfreundliches und ein tolerantes Land, das jedoch keinen Grund hat, die Probleme und Schwierigkeiten, die sich durch einen weiteren Zuzug von Ausländern ergeben, einfach zu ignorieren. Das dürfen wir nicht. Alle, die das anders sehen, bitte ich herzlich, den Bericht noch einmal gründlich durchzulesen und ihre Position anhand der harten Fakten und nicht auf Grund von multikulturellen Wunschvorstellungen kritisch zu überprüfen.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich sagen, daß ich die differenzierte Kritik des Kollegen Andres voll teile, daß ich aber der Meinung bin, daß dieser Bericht, wenn man ihn wirklich gelesen hat, ein verheerendes Zeugnis für die Regierungspolitik und für die Politik der parlamentarischen Mehrheit in Sachen Ausländerpolitik in der letzten Legislaturperiode ist.
Zum Beispiel heißt es auf Seite 42: „Die Angst der ausländischen Bevölkerung hat stark zugenommen." Frau Steinbach scheint diesen Bericht meines Erachtens nicht gelesen zu haben, sonst könnte sie hier nicht einen solchen Redebeitrag leisten. Auf Seite 44 heißt es, daß eine Offensive zur Ausländerintegration und Antidiskriminierung der Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit zur Seite treten muß, wenn diese nicht an Glaubwürdigkeit einbüßen will.Genau hier liegt meines Erachtens die Katastrophe. Die hier geforderte Offensive zur Integration und Antidiskriminierung hat ja nicht nur nicht stattgefunden. Verschärfte Diskriminierung war geradezu der rote Faden der gesamten Politik und Gesetzgebung dieser Regierung. Kein einziges Gesetz zur inneren Sicherheit wurde verabschiedet, in dem für Ausländerinnen und Ausländer nicht die weitere Sonderbehandlung bereitgestellt worden wäre. Im Mittelpunkt aller Sitzungen der europäischen Justiz- und Innenminister standen die Verschärfung der Kontrollen und die Erleichterung von Abschiebemöglichkeiten gegenüber Ausländern. Alle wesentlichen Abkommen mit den östlichen Nachbarstaaten betrafen die Einrichtung von verschärften Grenzkontrollen und Abschiebemechanismen.Monat für Monat veröffentlicht das Innenministerium neue Jubelmeldungen über sinkende Asylbewerberzahlen und fordert für den nächsten Monat neue Höchst- bzw. Tiefstleistungen. Kein Wunder, daß in Bayern schon Urkunden an Hundeführer für abgefangene sogenannte Illegale verteilt werden. Ebenfalls in Bayern wurden bis vor kurzem abgelehnte osteuropäische Asylbewerber über ein extra wieder in Betrieb genommenes Industriegleis direkt aus der Abschiebehaft in einem bewachten Sonderwagen in die tschechische Republik verfrachtet. Er wurde dann an den nächsten Eurocity angehängt. Diese Form der Schienentransporte wurde nicht etwa eingestellt, weil die Landesregierung Skrupel wegen möglicher Assoziationen zu früheren Deportationszügen und -rampen bekommen hätte. Nein, die tschechische Regierung hat sich im März geweigert, weitere Abschiebetransporte nach Osteuropa in dieser Form auf dem Landweg weiter durchzuführen.Meine Damen und Herren, der Bericht enthält am Ende fast jedes Kapitels eine Liste von richtigen und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20637
Ulla Jelpkewichtigen Empfehlungen zur Behebung von Diskriminierungen bzw. sogenannten integrativen Maßnahmen in sozialer, kultureller und rechtlicher Hinsicht. Im Kern wurden alle Ansätze dazu in den letzten Monaten von einer Mehrheit hier im Hause abgeschmettert mit dem demagogischen Dreh — und das betrifft gerade Sie, Frau Steinbach —, sie würden nicht gewollt, weil sie der Einwanderung die Hintertür öffneten, so z. B. die Erleichterung der doppelten Staatsbürgerschaft, die Änderung von § 19 Ausländergesetz und anderes mehr.Dem Parlamentarischen Staatssekretär Lintner blieb es wieder einmal vorbehalten, das neue Ausländerzentralregistergesetz im wesentlichen als Instrument gegen die organisierte Kriminalität zu bezeichnen.
Aber er vertritt ja auch nur einen Innenminister, für den Pogrome und Mordanschläge „Hitzegrade" in einer öffentlichen Debatte waren, die Politiker in Kauf nehmen müßten.Diese Politik nimmt tatsächlich allen Sonntagsreden und allen Vorzeigekampagnen gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus jegliche Glaubwürdigkeit. Sie steht im übrigen auch im schroffen Gegensatz zur Arbeit der Bundesausländerbeauftragten. Mehr als ein Feigenblatt durfte sie — und da stimme ich dem Kollegen Andres zu — nie sein.Bedauerlich ist allerdings — und das möchte ich zum Abschluß meines Beitrages sagen —, daß Frau Schmalz-Jacobsen sich in entscheidenden Fragen immer der Fraktionsdisziplin gebeugt hat. Sie hat beispielsweise beim letztenmal dem Ausländerzentralregistergesetz zugestimmt, andererseits aber das Antirassismusgesetz abgelehnt, obwohl sich ihre eigenen Empfehlungen teilweise lesen, als seien sie aus dem PDS-Antirassismusgesetzentwurf abgeschrieben. Das muß man leider hier sagen.Danke.
Meine Damen und Herren! Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht, den wir hier entgegengenommen haben, ist nicht der Bericht einer Abgeordneten oder einer Fraktion, sondern es ist ein Bericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, und sie trägt die Verantwortung für das Schicksal von 61/2 Millionen Menschen, die einen entscheidenden Beitrag zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Substanz unserer Gesellschaft leisten
und von denen viele nicht in die Bundesrepublik
eingewandert, sondern hier geboren und aufgewachsen sind, viele, die nicht nur Erben aus einer anderen
Tradition sind, sondern sich gleichzeitig als Deutsche mit ausländischem Paß empfinden.
Ich möchte im Namen meiner Fraktion der Ausländerbeauftragten unsere Hochachtung für ihre außerordentliche Leistung, ihren Mut, ihr Engagement und ihre Arbeit aussprechen und an alle Mitglieder der Bundesregierung appellieren, zu verstehen, daß die Ausländerbeauftragte nicht ihr Gegner ist, sondern eine Beauftragte der Bundesregierung.
Deshalb und wegen ihrer Aufgabe hat sie ein Recht, an ausländerrelevanten Entscheidungen dieser Regierung in einem Stadium beteiligt zu werden, in dem diese Entscheidungen beeinflußt werden können.
Wir wollen keinen Streit, aber wir werden diesen Anspruch der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung durchsetzen.
Wir sind der Überzeugung, daß nach allen Erfahrungen, die wir gemacht haben, ein eigenes Gesetz über die Aufgaben, Rechte und Pflichten einer Bundesbeauftragten für Migration und Integration erlassen werden sollte, ein Gesetz, durch das das Amt institutionell und personell ausgebaut wird. Wir werden das in der kommenden Legislaturperiode mit einer Gesetzesvorlage vertreten, und wir würden es begrüßen, wenn alle Fraktionen dieses Hauses diesen Vorschlag unterstützen würden.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren! Nun ist unser nächster Redner der Kollege Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Ausländerbeauftragten zur Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland trägt eine interessante Vorbemerkung der Bundesregierung, die ich mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, gern zitieren möchte. Ich zitiere:Der vorliegende Bericht ist in Inhalt und Wertung in der alleinigen Verantwortung der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer erstellt worden. Die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer entspricht damit einem an sie gerichteten Ersuchen des Deutschen Bundestages vom 23.09. 1993. Die Bundesregierung hat daher von einer Stellungnahme abgesehen.
Es ist nicht das erstemal, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung auf Distanz zur Ausländerbeauftragten geht. Ähnlich erging es ihr mit dem Entwurf zur erleichterten Einbürgerung und doppelten Staatsbürgerschaft, der dann durch den Bundesrat eingebracht werden mußte.
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20638 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Konrad Weiß
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt ausdrücklich die intensiven und andauernden Bemühungen von Frau Schmalz-Jacobsen und würdigt den von ihr vorgelegten Bericht über die Lage der Ausländer in Deutschland. Wir begrüßen es, daß Sie in diesem Bericht statt des Begriffes „Ausländer" den Begriff „Migranten" benutzen. Das zeigt, daß die Ausländerbeauftragte die Bundesrepublik als Migrationsgesellschaft anerkennt.Es zeugt hingegen von einem beängstigenden Realitätsverlust, wenn Mitglieder der Union diese Begriffsbestimmung scharf kritisieren, wenn sie nicht anerkennen wollen, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist, und wenn die Bundesregierung zum Bericht über 8 Millionen Menschen, die auf Dauer in Deutschland leben, keine Stellung beziehen mag.Für das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will ich betonen, daß unsere eigenen Konzeptionen und Thesen zur Migrationspolitik durch den vorliegenden Bericht bestätigt werden. Er zeigt deutlich, daß sich die soziale und ethnische Struktur der Einwanderer und Flüchtlinge und ihre Lebensumstände in den letzten zwei Jahrzehnten verändert haben. Was fehlt, ist eine politische und gesellschaftliche Konzeption, die der Realität gerecht wird und die zur tatsächlichen Verbesserung der Situation dieser Menschen und zu ihrer politischen und sozialen Integration beitragen kann.Noch immer wurden keine adäquaten Maßnahmen für junge Inländer ohne deutschen Paß und für in Deutschland alt gewordene Migranten entwickelt. Ich empfinde es als einen politischen Skandal, daß in Deutschland geborene Menschen mit ausländischem Paß für die Erwerbstätigkeit eine Arbeitserlaubnis brauchen. Die belastenden Folgen werden in dem Bericht deutlich.Auch andere Beispiele für die Ungleichbehandlung von Migrantinnen und Migranten werden angeführt. So wurde einer Ausländerin nach über 30jährigem Aufenthalt in Deutschland die Anerkennung einer Kindererziehungszeit mit der Begründung verweigert, sie habe zum Zeitpunkt der Kindererziehung nach den tatsächlichen Verhältnissen ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland gehabt, da sie seinerzeit nur im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis gewesen sei. Dabei sei es unerheblich, welchen Aufenthaltsstatus die Frau heute habe. Die Anerkennung der Kindererziehungszeit würde sogar dann verweigert, wenn die Ausländerin mittlerweile eingebürgert worden wäre.Die Bundesbeauftragte nennt diese Entscheidung rechtlich bedenklich. Ich gehe weiter und sage: Diese Entscheidung ist diskriminierend und skandalös. Gerade im sozialen Bereich verweist der Bericht auf zahlreiche Regelungen, die diskriminierende Folgen haben: z. B. beim Kindergeld, beim Erziehungsgeld oder der Familienkrankenversicherung.Wir fordern die Bundesregierung auf, sich ernsthaft mit den im Bericht angeführten Diskriminierungen auseinanderzusetzen und die ausgesprochenen Empfehlungen alsbald umzusetzen. Immer mehr Menschen lassen sich in Deutschland dauerhaft nieder. Die Anzahl der Ehen zwischen Deutschen und Migranten steigt. Fast jede zehnte Eheschließung istinzwischen binational. Dieser Entwicklung muß eine verantwortliche Politik gerecht werden.Der Bundestag hat mehrfach über die rechtlichen Rahmenbedingungen debattiert, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis für die hier lebenden Einwanderer und Flüchtlinge zu kommen. Es ist zu bedauern, daß die erste Legislatur im wiedervereinigten Deutschland zu Ende geht, ohne daß es im Ausländer- und Einbürgerungsrecht zu den seit Jahren überfälligen Reformen gekommen wäre.
Es wäre unsere gemeinsame Pflicht gewesen, meine Kolleginnen und Kollegen, Einwanderer und Flüchtlinge rechtlich und politisch gleichzustellen — etwas, das längst überfällig ist —, den Jugendlichen ohne deutschen Paß ein Zugehörigkeitsgefühl zu geben und die Arbeit der in Deutschland altgewordenen Ausländerinnen und Ausländer für unser Land angemessen zu würdigen und zu honorieren. Ich hoffe, daß es im 13. Deutschen Bundestag eine Mehrheit für diese dringende Reformverpflichtung gibt.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Volker Kauder das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich sage auch einen herzlichen Gruß an den Vorsitzenden des Petitionsausschusses des Landtages von Baden-Württemberg, der heute zu dieser Sitzung gekommen ist und auf der Besuchertribüne sitzt, weil unsere Petitionsausschüsse gerade mit Fragen der Ausländer und Asylbewerber in besonderer Weise befaßt sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ausländerbeauftragte zitiert in ihrem Bericht die MARPLAN-Ausländerumfrage, nach der 81 % der Befragten das Nachbarschaftsverhältnis zu Deutschen als sehr gut bis normal bezeichneten. Damit wird von der Ausländerbeauftragten bestätigt, was wir schon immer sagen: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land.Um so mehr verurteile ich Anschläge und Gewalttätigkeiten gegen Ausländer und ihre Wohnungen. Es ist schlimm, daß es Menschen gibt, die zu so etwas fähig sind. Da dürfen wir nicht wegsehen und nicht teilnahmslos bleiben.
Da muß es eindeutige Ablehnung durch uns Bürgerinnen und Bürger und strenge Verurteilungen durch unsere Gerichte geben. Wer Menschen bedroht, Menschen durch Straßen hetzt, verletzt oder tötet, ist ein Verbrecher und muß entsprechend bestraft werden.
Wir dürfen — ich hoffe, auch da gibt es Beifall von allen Seiten des Hauses — nicht dulden, daß Auslän-
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Volker Kauderder aus ihren Heimatländern gewaltsame Konflikte in unser Land hineintragen. Wer Autobahnen lahmlegt und wenn ausländische Gruppen sich hier bekriegen, dürfen wir dies ebenfalls in unserem Land nicht dulden.
Gewalt ist immer verwerflich, egal ob sie von Deutschen oder von Ausländern ausgeübt wird
Der Bericht der Ausländerbeauftragten stellt eine ganze Fülle von eingeleiteten Schritten zur Gewaltbekämpfung, zur Bekämpfung auch von Ausländerfeindlichkeit dar. Das Wichtigste ist aber nach meiner Auffassung, daß wir Gewalttätigkeiten grundsätzlich ablehnen, egal von wem sie ausgehen, egal gegen wen sie gerichtet sind. Wir brauchen eine allgemeine und umfassende Kampagne gegen Gewalt in unserem Land.Wir wollen, daß Deutsche und Ausländer friedlich zusammenleben, hier in der Bundesrepublik Deutschland und in der ganzen Welt. Ausländer bereichern mit ihren Beiträgen unser Leben, und sie haben zu unserem Wohlstand beigetragen.Ich verkenne aber auch nicht, daß das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturkreisen Probleme und Ängste mit sich bringt, die zu Fremdenfeindlichkeit führen können und führen. Diese Probleme und Sorgen müssen wir ernst nehmen, weil sich sonst die Menschen nicht ernst genommen fühlen.Wer Probleme ausspricht und sich über bestimmte Entwicklungen besorgt zeigt, ist noch lange nicht fremdenfeindlich. Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Dazu gehört aber auch, Probleme nicht hoch- und Gefahren nicht herbeizureden. Dies gilt für alle, für Deutsche, aber auch für Ausländergruppen.Aus dem Bericht der Ausländerbeauftragten möchte ich den Bereich Beschäftigung besonders herausgreifen. Auch der Ausländer soll wie ein Deutscher seinen Lebensunterhalt durch Arbeit erwirtschaften können. In einer Phase hoher Arbeitslosigkeit ist dies dann aber eine schier unlösbare Aufgabe, wenn immer mehr Ausländer ins Land kommen. Dies zeigt der Bericht der Ausländerbeauftragten klar und deutlich.Der Bericht stärkt deshalb unserer Politik, den Zuzug von Menschen von außerhalb der Europäischen Union zu begrenzen und zu regeln. Wenn es trotz eines Höchststandes von Arbeitsplätzen hohe Arbeitslosigkeit auch bei Ausländern gibt, macht es keinen Sinn, Ausländern Zuzug in die Bundesrepublik zu ermöglichen. Deshalb müssen auch alle falschen Signale in diese Richtung unterbleiben.So sollten wir beispielsweise daran festhalten, daß ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer — immer außerhalb von EG und bevorzugtem Bereich — eine allgemeine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktesnicht auch deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Verfügung stehen.
Es soll nach meiner Auffassung auch dabei bleiben — es steht im Gesetz, und dabei soll es bleiben —, daß nach einjähriger Zeit eine Überprüfung stattfindet. Sie brauchen sich nicht aufzuregen, Herr Baum. Ich habe dies deswegen angesprochen, weil es im Bericht der Ausländerbeauftragten ausdrücklich steht und als kritisch und problematisch dargestellt wird. Ich will sagen, daß ich dies nicht als kritisch und nicht als problematisch betrachte. Ich meine, es muß an dieser Regelung festgehalten werden.
Diese Regelung dient Ausländern, die schon lange bei uns leben, ebenso wie Deutschen. Sie entkräftet die immer wieder, vor allem bei Jugendlichen, zu hörende — dies kann niemand bestreiten, der mit jungen Menschen zusammenkommt — Behauptung: Ausländer nehmen mir den Arbeitsplatz. — Das ist auch ein Beitrag, Fremdenfeindlichkeit entgegenzuwirken.Nachgedacht werden sollte über den Hinweis der Ausländerbeauftragten, jungen Ausländern, die hier geboren und aufgewachsen sind, die Arbeitsaufnahme zu erleichtern. Gerade bei diesen jungen Menschen sollte aber auch mehr über eine Einbürgerung nachgedacht werden. Eine doppelte Staatsbürgerschaft ist allerdings keine Lösung. Dort, wo vermögensrechtliche Vorschriften im Heimatland Einbürgerung erschweren, muß in diesen Heimatländern etwas geändert werden. Dafür sollten wir uns einsetzen. Ich halte es nicht für richtig, daß jemand — darüber muß diskutiert werden — das Vermögen entzogen wird, wenn er die Staatsangehörigkeit ändert. Da müssen wir ganz energisch darangehen. Wir dürfen nicht nur meinen, das Problem müsse bei uns mit der doppelten Staatsbürgerschaft gelöst werden.
Mit der größeren Bereitschaft zur Einbürgerung könnte auch der Zugang zum öffentlichen Dienst erleichtert werden. Ich glaube im Gegensatz zur Ausländerbeauftragten nicht, daß der öffentliche Dienst eine Vorreiterrolle bei der Einstellung und Ausbildung junger Ausländer übernehmen kann. Hier fehlt es an Voraussetzungen und auch an Akzeptanz.
Ich verkenne nicht, daß es Bereiche gibt, in denen die Anstellung von Ausländern nicht nur sinnvoll, sondern sogar notwendig ist. Ich denke hier an die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, bei der uns ausländische Polizeibeamte durchaus hilfreich zur Seite stehen können. Dies würde ich begrüßen. Dann, meine ich, müßten wir auch noch die rechtlichen Voraussetzungen schaffen, daß wir die Kriminalität mit dem, was die SPD jetzt noch blockiert,
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Volker Kaudernämlich die Überwachung und Abhörung von Wohnräumen, sinnvoll bekämpfen.
—Ja, ja, immer, wenn die Wahrheit gesagt wird, tut es weh.Meine Damen und Herren von der SPD, es macht wenig Sinn, im Europawahlkampf Plakate zu kleben, auf denen steht, daß die Mafia zu bekämpfen sei, und hier im Bundestag nicht zu handeln. Wer den Mund spitzt, muß pfeifen. Das machen Sie eben nicht.
— Herr Hirsch, ich weiß, daß Sie in manchen Fragen eine größere Affinität zur SPD haben, aber Sie sitzen in unserer Koalition.
Besondere Probleme machen bei uns Bildung und Ausbildung. Der Bericht nennt hier alarmierende Zahlen.
Herr Kollege Kauder, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Würden Sie eine solche zulassen?
Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der SPD bereit sind, nicht zu schreien, sondern zuzuhören, gerne.
Also schreit nicht.
Herr Kollege Kauder, würden Sie mir bestätigen, daß Ihre Partei bzw. beide Koalitionsparteien einem der wirkungsvollsten Mittel der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, nämlich dem Bereich der Beschlagnahme von Geldmitteln, die illegal erworben worden sind oder zu illegalen Zwekken möglicherweise benutzt werden sollen, unter Umkehr der Beweislast nicht zuzustimmen bereit sind, und würden Sie zugeben, daß in unseren Parteitagsbeschlüssen ein Paket sehr differenzierter Art unter Einschluß des großen Lauschangriffes enthalten ist, aber eben ein Paket, weil die SPD meint, daß es nur sinnvoll ist, solche Paketlösungen anzustreben, die die Möglichkeiten und Instrumente einer wirkungsvollen Verbrechensbekämpfung in allen Facetten beinhalten?
Ich bestätige Ihnen gerne, daß die Regierungskoalition sehr wohl das Geld und Vermögen abschöpfen will und auch all das, was im verfassungsrechtlichen Bereich möglich ist, tun will. Wir sind aber nicht bereit, etwas zu machen, was nachher vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wird, weil es nicht nützt.
Das, was Sie in diesem Bereich machen, Frau Kollegin,
und die Voraussetzungen, die Sie an den sogenannten
großen Lauschangriff knüpfen, so daß er nicht mehr
sinnvoll durchgeführt werden kann, nenne ich Populismus. Aber damit kommen wir nicht weiter.
Meine Damen und Herren, ein besonderes Problem bei jungen Ausländern ist Bildung und Ausbildung. Darauf verweist der Bericht in besonderer Weise. Der Bericht nennt alarmierende Zahlen. Junge Ausländer sind mit einem Anteil von nur 7,6 % unter den Auszubildenden vertreten, obwohl ihr Anteil in der Altersgruppe der 16- bis 19jährigen bei 14 % liegt. Viele werden also unqualifizierte Arbeiter. Sie tragen das höchste Arbeitslosenrisiko. Hier liegt sozialer Sprengstoff.
Mit dieser Frage müssen wir uns intensiv befassen. Ich glaube, daß die Empfehlungen des Berichts hier nicht ausreichen. Vor allem müssen wir untersuchen, wie wir das Verhalten ausländischer Eltern günstiger beeinflussen können.
Der Bericht nennt neben Informationsdefiziten auch ein anderes Bildungsverständnis ausländischer Eltern als Hinderungsgrund. Könnte aber nicht auch, Frau Schmalz-Jacobsen, Unentschlossenheit hinsichtlich der eigenen Situation mit ausschlaggebend sein? Würde es die Ausbildung der Kinder fördern, wenn man entschiedener davon ausginge, daß diese junge Generation wohl eher hierbleiben als zurückgehen würde? Mit einer klareren Zukunftsperspektive könnte für junge Ausländer vielleicht noch mehr erreicht werden als mit der Empfehlung, interkulturelle Erziehungskonzepte zu verbreitern und Ansätze multikultureller Kindergärten zu unterstützen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?
Frau Präsidentin, ich habe mich nicht gemeldet. Ich kann leider meine Mikrophontaste nicht ausschalten. — Aha, jetzt beruhigt sie sich.
Herr Kollege Ullmann, Sie enttäuschen mich. Ich war der Meinung, daß Sie für eine Frage immer gut genug seien.Wichtig ist mir aber auch der Hinweis auf deutsche Sprachkenntnisse. Ich weiß — Frau Schmalz-Jacobsen hat davon gesprochen —, daß ausländische Kinder und Jugendliche hier enormen Belastungen ausgesetzt sind. Aber ausreichende Deutschkenntnisse sind für eine Ausbildung dringend erforderlich. Hier sind enorme Anstrengungen notwendig.Weil Ausbildung über die Berufs- und damit Zukunftschancen junger Menschen entscheidet, habe ich auch Verständnis für die Auffassung der Eltern, daß die Ausbildung ihrer Kinder erschwert werden könnte, wenn der Unterricht unter den Sprachproblemen eines Teils der Schüler leidet. Aber es wäre auch fatal, wenn über die jungen Ausländer einfach hinweggegangen würde. Es führt kein Weg daran vorbei, daß gute Deutschkenntnisse notwendig sind, um einem differenzierten Unterricht zu folgen und damit Bildungs- und Zukunftschancen zu bekommen.
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Volker KauderZu diesen Fragen könnte vielleicht der nächste Bericht vertiefend Stellung nehmen. Frau Schmalz-Jacobsen, ich danke Ihnen für den Bericht, der mit dem, was er an Daten und Fakten zusammenstellt, vor allem eine wichtige Grundlage ist.Ich kann allerdings nicht in allen Punkten den Empfehlungen, die Sie aussprechen, folgen. Ich denke aber, daß wir genügend Material für eine Diskussion haben.Eines aber sollte ganz klar und deutlich werden: Wir wollen mit den Ausländern friedlich zusammenleben und unsere Zukunft gemeinsam gestalten. Dafür müssen alle einen Beitrag leisten, die Deutschen, aber auch die Ausländer, die hier mit uns leben und arbeiten.
Nun hat unsere Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schmalz-Jacobsen, ich weiß schon, daß Sie nicht so reden können, wie Sie es eigentlich wollten. Dies müssen schon andere tun, und das möchten wir dann auch gern besorgen.
Wenn man diese Bestandsaufnahme von ihrer etwas unterkühlten Verpackung loslöst, kommt man sehr bald zu dem Ergebnis: Der Bericht ist ein umfängliches ausländerpolitisches Versäumnisregister dieser Koalition.
Dies kann auch nicht überraschen. Es ist immerhin die amtliche Bescheinigung dessen, was wir der Bundesregierung seit Monaten vorhalten: absolutes Desinteresse an möglichen Schritten zur besseren Integration von Migrantinnen und Migranten in diesem Land, Stillstand und Starrsinn — nicht nur dort, aber besonders ausgeprägt in der Ausländerpolitik.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kälte der Redebeiträge der Unionskollegen, gerade von Frau Steinbach-Hermann,
hat mich sehr bedrückt.Über 30 Jahre nach Beginn der Anwerbeaktionen zwecks Auffüllung des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik bemängelt der Bericht heute, daß der Aufenthaltsstatus vieler Migranten zu wünschen übrig lasse.
Weil die Menschen eigentlich wissen wollen und müssen, ob sie in unserem Land auf Dauer sicher und unbehelligt leben können, ist damit eine wesentliche Vorbedingung für die Integration offenbar nichterfüllt. Die Ausländerbeauftragte spricht etwas vorsichtig von einem Defizit. Ich bezeichne es lieber als ein Armutszeugnis für ein Land, das von der Existenz ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien, von deren Arbeitsleistungen und Beiträgen zur sozialen Sicherung, von ihrer Kaufkraft und ihren kulturellen Anregungen weiß Gott nicht schlecht profitiert.
Selbstverständlich kann der Staat nicht sämtliche Ursachen für Vorurteile, Feindseligkeit und Aggressionen tilgen. Dabei muß die gesamte Gesellschaft helfen.Wohl aber ist diese Regierung, ist der Gesetzgeber gefordert, Mittel und Möglichkeiten auszuschöpfen, die das Recht hergibt. Und wo das Recht nicht reicht, gibt es die Chance zu Änderungen und zu Reformen. Nichts, aber auch gar nichts von dieser Bereitschaft läßt die Koalition spüren. Im Gegenteil: Jede Gelegenheit wird genutzt, um abzuwehren und abzublocken. Sie wissen, liebe Kollegen aus der Koalitionsfraktion der F.D.P., was ich damit meine.
Ich darf Ihnen nur noch einmal die jüngsten Beispiele in Erinnerung rufen, die Stichworte Einbürgerungserleichterungen, doppelte Staatsbürgerschaft, den Verzicht darauf, die Staatsangehörigkeitsrechtsgesetzgebung umfassend zu novellieren, und vieles andere. Selbst die dringenden Reparaturen am Ausländergesetz, die sowohl wir von der SPD-Bundestagsfraktion als auch einzelne Bundesländer gefordert haben, ernten im Lager der Regierung nur den Kommentar: „Kein Handlungsbedarf!"Ich erinnere an unsere Bestrebungen zu einer dringend notwendigen humaneren Regelung für den eigenständigen Aufenthaltsstatus der ausländischen Ehepartner, vor allem von Ehefrauen, um unerträgliche Situationen für die Betroffenen zu vermeiden, zumindest zu lindern. Auch das findet beim Bundesinnenminister keine Resonanz, wohl bei der Frauenministerin, aber die konnte sich nicht durchsetzen.Und weiter: Wochenlang schafft es der Bundesinnenminister nicht, dem einstimmig — ich sage: einstimmig — gefaßten Beschluß des Innenausschusses zu folgen und in den Verwaltungsvorschriften für das Ausländergesetz sicherzustellen, daß ein 13jähriger türkischer Junge in Köln bei seiner Halbschwester leben darf.
— Zum viertenmal, Herr Hirsch, haben wir uns heute damit befaßt. Sie wissen es: Seit Mitte Mai war das der Fall.Jetzt haben wir endlich dafür gesorgt, daß der Junge hierbleiben kann. Es gibt endlich eine positive Entscheidung, aber auch da hat nur starker öffentlicher Druck geholfen, haben die Bemühungen sowohl aus dem nordrhein-westfälischen Landtag als auch des Bundestagsinnenausschusses diese Bewegung in Gang setzen müssen. Es war kein Ruhmesblatt für den Bundesinnenminister, wahrhaftig nicht.
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Dr. Cornelie Sonntag-WolgastDer Ausländerbericht bemängelt unterschiedliche Rechte und Chancen der Migranten in unserem Land. Er sagt leider nicht deutlich genug, daß sich die Schieflage noch verstärken wird. Denn, liebe Kollegen, ich erinnere an das zusammenwachsende Europa: Unionsbürger dürfen nun an den Wahlen zum Europaparlament und auch an Kommunalwahlen teilnehmen. Zu den Europawahlen am 12. Juni gelang es mehr schlecht als recht, die bei uns lebenden Bürger aus den Staaten der Gemeinschaft an die Urnen zu bringen.Für die Einführung des Kommunalwahlrechts legt der Vertrag von Maastricht fest, daß der Rat bis Ende dieses Jahres weitere Einzelheiten ausarbeitet. Aber ich meine durchaus, es hätte dieser Bundesregierung wohl angestanden, schon vor Ablauf der gesetzten Frist in einer Kraftanstrengung dafür zu sorgen, daß bei den vielen Kommunalwahlen in diesem Jahr die betroffenen Bürger schon von ihrem Recht hätten Gebrauch machen können. Aber auch diese Chance, ein Schrittehen mehr gelebter Demokratie zu wagen, haben Sie nicht genutzt.Ich finde allerdings: Schwerer wiegt, daß nur ein Viertel der bei uns lebenden Migranten überhaupt in den Genuß der neuen Rechte kommt. Allen übrigen — darunter der größten Gruppe der Migranten, den Türken — bleibt der Zugang verwehrt. Deshalb werde ich nicht müde, auch wenn ich Sie damit nerve, auch wenn Sie unseren Gesetzentwurf abgelehnt haben, nochmals die Notwendigkeit der erleichterten Einbürgerung und der Zulassung der Mehrstaatlichkeit anzumahnen.
Frau Schmalz-Jacobsen, Sie sind in diesem Punkt in Ihrem Bericht zwar diskret, aber, ich finde, deutlich genug.Liebe Kollegen, Sie haben übrigens immer noch eine Möglichkeit, das Recht auf Teilnahme für die Ausländer an politischen Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. Raffen Sie sich auf! Wir haben in einer Woche die Verfassungsdebatte.
Wir sind gern dabei, wenn Sie das kommunale Ausländerwahlrecht doch noch beschließen wollen, mit Ihrer Hilfe eine Zweidrittelmehrheit zustande zu bringen. Also, eine Woche Frist! Besinnen Sie sich!Sie könnten aber darüber hinaus — jetzt wende ich mich noch einmal an die Bundesregierung — anderes tun, und zwar den üppigen Werbeapparat der Bundesregierung einmal nicht nur für die alltägliche Schönfärberei in Gang setzen, sondern z. B. für eine bessere, intensivere Aufklärung der deutschen Bevölkerung über Leistungen und Situation der Ausländer in diesem Lande.
Dazu liefert dieser Bericht durchaus Material und Anregungen. Wie wäre es denn, wenn die Bundesregierung darüber informiert, in welchem Ausmaß Migranten und stärker noch Migrantinnen von derErwerbslosigkeit betroffen sind, wie die Benachteiligung in Stellenanzeigen zurückzudrängen wäre, in welchem Ausmaß ausländische Beschäftigte in den Betrieben wahrhaftig auch heute noch die Drecksarbeit machen? Ich nenne als Beispiele Fischverarbeitung: 45,9 % Ausländeranteil, Metallerzeuger: 25,1 %, Bergbau: 28,2 %, Gebäudereinigung: 26,1 %. Alles gut für die Bürger zu wissen.Welche Folgerungen zieht die Bundesregierung eigentlich aus der Erkenntnis, daß selbst an Universitäten dieser Republik die alltägliche Diskriminierung stillschweigend hingenommen wird? Mich jedenfalls — Sie vielleicht auch — hat die spannende Lektüre der Reportage kürzlich in der „Zeit" über das Experiment mit den getrennten Eingängen für Ausländer und Deutsche an der Uni Münster außerordentlich bestürzt gemacht.
Eine letzte Anmerkung. Sie stellen in Ihrem Bericht fest, daß es neben den immer noch vorhandenen plakativen Artikeln und Schlagzeilen der Boulevardpresse, die leider die Vorurteile gegenüber Menschen anderer Herkunftsländer, Religionen und Hautfarbe schüren, in den Medien auch das Gegenteil gibt, und zwar gutgemeinte, aber überzeichnete Bilder vom „guten Ausländer". Da ist etwas dran. Wir müssen dazu kommen, die ausländischen Bürgerinnen und Bürger weder zu verteufeln noch zu glorifizieren. Sie wollen das auch gar nicht. Sie wollen so beurteilt werden wie jeder andere: mit Stärken und Schwächen, mit Vorzügen und Mängeln. Um das zu wagen, überhaupt auszusprechen, bedarf es eines Klimas in diesem Land, das allen, die die gleichberechtigte Teilnahme und auch die Anerkennung der Migranten wollen, erlaubt, auch einmal kritische Worte über Ausländer zu verlieren, ohne daß sie gleich Beifall von der falschen Seite bekommen.
Diese Atmosphäre zu schaffen, was keine besonders schwere Aufgabe gewesen wäre, hat die Bundesregierung versäumt. Wenn wir noch sagen können, wir sind ein ausländerfreundliches Land, dann danken wir es eher dem Großteil der Bevölkerung, aber nicht der offiziellen Ausländerpolitik dieser Regierung.
Nun hat Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.
In der Tat, ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich Ihnen etwas ersparen soll.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin in den letzten Tagen zweimal mit den schwierigen Lebensbedingungen von Ausländern in diesem Land konfrontiert worden. Das eine Mal war das bei der Lektüre des „Spiegel"-Interviews mit fünf zumeist farbigen Ausländern aus Magdeburg. Sie schilderten,
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Dr. Ulrich Briefswie sie alltäglich diskriminiert, bedroht, verfolgt werden. Das Magdeburger Pogrom — im wahrsten und schlimmsten Sinne des Wortes — vom Himmelfahrtstag war kein isoliertes Ereignis. Vorgestern schilderte mir eine Deutsche japanischer Abkunft, wie sie im Alltag häufig auf jene offensichtlich in Deutschland weitverbreiteten Gefühle des Mißtrauens, zum Teil auch der Angst, vor allem aber der Zurückweisung und auch harter Aggressivität stößt. Sie schilderte, daß sie in Berlin z. B. bei Dunkelheit kaum mehr aus dem Haus zu gehen wagt und welche Schutzvorkehrungen sie in der Wohnung und im Umfeld treffen muß.Ich finde dies und zahlreiche ähnliche Ereignisse und entsprechende Erfahrungen schrecklich und beschämend, beschämend insbesondere auch, weil sich meine eigene Familie in den Niederlanden als Deutsche in jedem Bereich völlig frei entfalten und bewegen kann. Das gleiche gilt für Paris und Frankreich, wo ich inzwischen beruflich wieder etwas tätig bin und wo mir im übrigen gerade die Begegnung mit farbigen Menschen, ihre Art, z. B. zu kochen, zu feiern, Musik zu machen, zu lachen, an der Hochschule auch ihre Art, bestimmte Probleme anzugehen, häufig sehr viel Vergnügen bereitet und auch Anregungen bringt.Allerdings scheue ich mich gelegentlich, mich als Deutscher zu erkennen zu geben, denn die brutalen Angriffe, häufiger und brutaler als in jedem anderen westeuropäischen Land, auf Ausländer in diesem Land und gerade auch die Gleichgültigkeit großer Teile der deutschen Politik gegenüber dem Leid von Ausländern lassen uns Deutsche inzwischen vor dem Hintergrund unserer jüngsten Geschichte wieder in einem, vorsichtig gesagt, sehr problematischen Licht erscheinen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Beschädigung des Erscheinungsbildes der Deutschen in anderen Ländern auch bei kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Kontakten usw. bemerkbar macht. Hören Sie vielleicht einmal auf einige Dinge, die der Außenminister erzählt.Der Bericht der Ausländerbeauftragten und ihre darin dokumentierte Politik sind ein wichtiger, ein unerläßlicher Ansatz für die Bekämpfung von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland. Wir alle wissen, daß damit auch der zunehmende Antisemitismus in diesem Land verbunden ist.Diese sehr schwierige Aufgabe des Angehens gegen die verhängnisvollen Haß- und Aggressionsbedürfnisse in weiten Bereichen der deutschen Bevölkerung ist eine Aufgabe aller verantwortungsbewußten politischen Kräfte. Daß allerdings die Bundesregierung zu ihrer Ausländerbeauftragten und ihrem Bericht auf Distanz geht, unterstützt die schwierige Wahrnehmung dieser Aufgabe nicht gerade.Der Ausländerbeauftragten sind Mut und Durchhaltevermögen zu wünschen. Uns allen ist gerade auch eine umfassende politische Wende in der Ausländerpolitik bei den anstehenden politischen Auseinandersetzungen in diesem Lande zu wünschen.Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.
Herr Briefs, ich danke Ihnen auch. Ich glaube, das war das erstemal, daß Sie innerhalb der Redezeit geblieben sind.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Wir kommen daher zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Tagesordnungspunkt 7 a.Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer auf Drucksache 12/6960 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall, dann ist es so beschlossen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 b. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einer Statistik über Zu- und Abwanderungen auf der Drucksache 12/7824.Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/5361 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beratungshilfegesetzes und anderer Gesetze— Drucksache 12/7009 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/7812 —Berichterstattung:Abgeordnete Margot von Renesse Andreas Schmidt
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe
— Drucksache 12/6963 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/8010 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Eckhart Pick Andreas Schmidt
Hier haben der Herr Parlamentarische Staatssekretär Funke, die Kollegen Schmidt, Pick, Professor Heuer und Dr. Ullmann gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen*). Besteht damit Einverständnis? — Dies ist der Fall.Dann darf ich jetzt noch die Abstimmungen durchführen, und zwar zunächst zu Tagesordnungs-*) Anlage 7
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20644 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate Schmidtpunkt 8a. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Beratungshilfegesetzes auf den Drucksachen 12/7009 und 12/7812.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Wir kommen damit zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 8 b. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe auf den Drucksachen 12/6963 und 12/8010.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/8056 vor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Wir kommen nun zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9a und b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über ihre Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 BVFG in den Jahren 1991 und 1992 sowie die Fortschreibung des Aktionsprogramms des Bundesministeriums des Innern zur Förderung der deutschen Kultur des Ostens in den Jahren 1994 bis 1999— Drucksache 12/7877 — Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Auswärtiger AusschußAusschuß für Bildung und Wissenschaftb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Freimut Duve, Hans Gottfried Bernrath, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGrenzüberschreitende Kulturarbeit im östlichen Europazu dem Antrag der Abgeordneten Duve, Dr. Penner, Bernrath, Conradi, Dr. Eckardt, Fischer , Dr. Götte, Hämmerle, Iwersen, Dr. Janzen, Koschnick, Kuhlwein, Dr. Lucyga, Mascher, Müller (Düsseldorf), Odendahl, Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Sielaff, Dr. Soell, Dr. SonntagWolgast, Thierse, Toetemeyer, Vergin, Wallow, Wartenberg (Berlin), Weiler, Weisskirchen (Wiesloch), Weyel, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDOstdeutsche Kulturarbeit im Lichte des Grenzvertrages mit Polen— Drucksachen 12/6901, 12/59, 12/8026 — Berichterstattung:Abgeordnete Freimut DuveDr. Jürgen SchmiederHartmut KoschykDr. Roswitha WisniewskiWir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zuerst zum Tagesordnungspunkt 9a. Der Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 12/7877 soll an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse überwiesen werden.Die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD zu diesem Bericht auf Drucksachen 12/8059 und 12/8068 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu irgendwelche anderweitigen Vorstellungen? — Dies ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9 b. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur ostdeutschen Kulturarbeit im Lichte des Grenzvertrages mit Polen auf der Drucksache 12/8026 Nr. 1.Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/59 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nun zu der Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur grenzüberschreitenden Kulturarbeit im östlichen Europa auf der Drucksache 12/8026 Nr. 2.Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/6901 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10a bis 10d auf:
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20645
Vizepräsidentin Renate Schmidta) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung2. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung— Drucksachen 12/6330, 12/7752 —Berichterstattung:Abgeordnete Friedrich Vogel Volker Neumann (Bramsche)Ulrich Irmerb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDKonvention gegen Vertreibung-- Drucksachen 12/3369, 12/7320 —Berichterstattung:Abgeordnete Helmut Sauer Freimut DuveUlrich Irmerc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte— Drucksachen 12/6839, 12/7772 —Berichterstattung:Abgeordnete Friedrich Vogel Volker Neumann (Bramsche)Ulrich Irmerd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig, Volker Neumann , Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDeutschlands menschenrechtliche Aufgabe in der Welt stärkenzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Walter Franz Altherr, Dr. Wolf Bauer, Hans-Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1993 „Erfolg der Menschenrechtskonferenz"— Drucksachen 12/8383, 12/6384, 12/7773 —Berichterstattung:Abgeordnete Friedrich Vogel Volker Neumann (Bramsche)Ulrich IrmerZum Menschenrechtsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Auch dieses ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Friedrich Vogel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Da ich mich entschieden habe, im Oktober nicht mehr zu kandidieren, wird dies wohl meine letzte Rede im Deutschen Bundestag sein.
— Das sowieso, Herr Bindig, auch wenn Sie nicht Beifall geben sollten.Zwischen diesem und meinem ersten Redebeitrag im Bundestag liegen 29 ausgefüllte Jahre. Ich freue mich, daß meine letzte Rede der Menschenrechtspolitik gilt, der ich mich seit dem Jahre 1987 als Vorsitzender des Unterausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und als stellvertretender Vorsitzender des Unterausschusses Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates besonders gewidmet habe.Mit Genugtuung darf ich feststellen, daß wir in diesen Jahren bei der Menschenrechtspolitik im wesentlichen quer durch alle Parteien an einem Strang gezogen haben. Deshalb möchte ich diese Gelegenheit dazu nutzen, mich bei allen Kolleginnen und Kollegen des Unterausschusses und all denen, die uns dabei geholfen haben, für die gute Zusammenarbeit zu bedanken.
In der heutigen Debatte behandeln wir vier gemeinsam erarbeitete Beschlußempfehlungen, um deren Annahme ich das Plenum bitten möchte. Diese Beschlußempfehlungen unterstreichen, daß für uns die Menschenrechtspolitik integraler Bestandteil der auswärtigen Politik ist. Sie tragen der zweiten Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Wien im Juni 1993 erneut formulierten universalen Geltungsanspruch der Menschenrechte Rechnung. Wir treten allen Versuchen entgegen, diesen universalen Geltungsanspruch durch die Hervorhebung unterschiedlicher Menschenrechtsverständnisse in Europa, Amerika, Afrika oder Asien zu relativieren.Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ist ein großartiges Dokument des gemeinsamen Wollens der Staatengemeinschaft. Es darf nicht nachträglich wieder in Frage gestellt werden.Natürlich sind wir uns immer bewußt, daß die Menschenrechte letztlich nur soviel wert sind, wie sie überall in der Welt für jeden einzelnen Menschen alltagswirksam sind. Mit noch so gut gemeinten Resolutionen allein -- das wissen wir — ist den Menschen, die unterdrückt, verfolgt, eingekerkert oder gefoltert werden, noch nicht geholfen. Auch das Mittel der Sanktionen gegen Staaten, die die Menschenrechte verletzen, hat sich eher als ein stumpfes Schwert erwiesen. Was notwendig ist, sind Instru-
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Friedrich Vogel
mente der Völkerrechtsgemeinschaft, mit denen wirksame Kontrollen möglich sind. Das System der Schutznormen ist inzwischen breit ausgebaut, vor allem durch die großen Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen. Die Instrumente, mit denen der Einhaltung der Schutznormen Geltung verschafft werden kann, sind noch viel zu schwach. Hiermit befassen sich vor allem die Ihnen vorliegenden Beschlußempfehlungen.Mehr und mehr haben wir unsere Anstrengungen darauf konzentriert, an der Schaffung und Schärfung dieser Instrumente mitzuwirken. Auch die Erklärung der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz und das von ihr verabschiedete Aktionsprogramm zielen in diese Richtung. Wir würdigen die positive Rolle, die die Bundesregierung dabei und bei der Einsetzung eines Hochkommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte durch die 49. UN-Generalversammlung im Dezember letzten Jahres gespielt hat. Die Einsetzung dieses Hochkommissars ist von uns seit Jahren gefordert worden. Noch aber fehlen ihm die finanziellen und personellen Mittel für eine wirkungsvolle Ausübung seines Amtes.Der Hochkommissar Ayala Lasso ist am Montag dieser Woche hier in Bonn mit den Mitgliedern des Unterausschusses zusammengekommen. Wir haben ihm volle Unterstützung des Deutschen Bundestages zugesagt.
— Mit Geld; passen Sie einmal auf, dazu kommt noch ein Punkt. Seien Sie nicht immer so vorschnell!Zu den Instrumenten, um die wir uns vorrangig bemühen, gehört der Ausbau des präventiven Menschenrechtsschutzes beim Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen in Genf. Deshalb verlangen wir, daß die Bundesrepublik Deutschland ihren freiwilligen Beitrag zu den Kosten der beratenden Dienste des Menschenrechtszentrums angemessen weiter erhöht. Diese Kosten sind ohnehin nicht hoch, aber gut angelegt. Das hat der von Hochkommissar Ayala Lasso vorgelegte Aktionsplan für Burundi erneut unterstrichen. Wir fordern die Bundesregierung auf, einen angemessenen Beitrag für die Durchführung dieses Planes zur Verfügung zu stellen.
In unserer Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/7773 wiederholen wir auch die Forderung nach Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofes und eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofes der Vereinten Nationen. Wir sind nicht bereit, diese Zielsetzung als Utopie abtun zu lassen. Der Kontrollmechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention kann Vorbild für einen entsprechenden Mechanismus der Vereinten Nationen sein. Er hat sich als wirksam bewährt.Ich freue mich persönlich, daß ich als zuständiger Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats daran habe mitwirken können, daß dieser Kontrollmechanismus künftig noch effektiver wird. Die Bundesregierung fordere ich auf, möglichst bald zu Beginn der neuen Legislaturperiode denGesetzentwurf zur Ratifizierung des 11. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention im Parlament einzubringen.Ein kurzes Wort zu dem von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entschließungsantrag auf der Drucksache 12/8100 vom heutigen Tage. Verehrter Herr Kollege Poppe, so sehr wir auch Ihre Mitarbeit immer geschätzt haben, diesen überfallartig eingebrachten Antrag, der im übrigen einen Tadel an der Bundesregierung enthält,
können wir nicht annehmen. Wir werden ihn ablehnen, Herr Kollege Duve.Erlauben Sie mir, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß ich zum Schluß meiner Ausführungen, in denen ich nur einige, mir besonders wichtig erscheinende Punkte ansprechen konnte — ich denke etwa an die Konvention gegen Vertreibung; dazu wird aber sicher noch etwas gesagt werden —, ein paar persönliche Bemerkungen anschließe.Auf meinem politischen Weg in inzwischen mehr als 40 Jahren — davon allein 29 Jahre im Deutschen Bundestag — bin ich von vielen Menschen begleitet worden. Sie haben nicht nur meiner eigenen Partei, sondern auch anderen Parteien angehört. Bei allen möchte ich mich für die Zusammenarbeit und die Auseinandersetzung über die richtigen Entscheidungen bedanken. Ich habe mich für viele wertvolle menschliche Begegnungen quer durch alle Parteien zu bedanken. Ich möchte in meinen Dank auch alle diejenigen einbeziehen, die uns das Arbeiten hier im Parlament ermöglicht und erleichtert haben.Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Kollege Rudolf Bindig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Herrn Vogel für seine Arbeit danken, die er als Vorsitzender des Unterausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe geleistet hat.
Er war der erste Vorsitzende dieses Unterausschusses in dieser Form. Wir haben erlebt, daß er dieses Amt mit Engagement für die Menschenrechte und über die Parteien und Gruppen hinweg ausgleichend in diesem Parlament wahrgenommen hat.
Ein Schwerpunkt des internationalen Engagements der Bundesrepublik Deutschland muß Menschenrechtspolitik sein. Das wollen wir in mehreren überfraktionell getragenen Beschlußempfehlungen ein Jahr nach der Wiener Menschenrechtskonferenz hier im Bundestag bekräftigen und darlegen, welche Erwartungen der Deutsche Bundestag an die Bundesregierung hat, wie sie die in Wien formulierten Emp-
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Rudolf Bindigfehlungen an die Staatengemeinschaft und die einzelnen Staaten umsetzen soll.Der Bundestag setzt damit seine Politik fort, die Menschenrechtspolitik von der Ebene der bloßen Zielformulierung unstreitig anerkannter Wertorientierungen in aktives politisches Handeln der Bundesregierung mit entsprechendem Personal- und Mitteleinsatz überzuleiten.Ziel der Menschenrechtspolitik ist, einzelnen Menschen zu helfen, zu verhindern, daß sie gefoltert oder ermordet werden, daß sie fliehen müssen oder ihnen der Hungertod droht.Wir wollen Menschenrechtspolitik in den präventiven Bereich vorverlagern und dafür die notwendigen Rechtsinstrumente, Institutionen und Programme schaffen. So ist z. B. Prävention in Burundi gerade zum jetzigen Zeitpunkt eine dringende Aufgabe der Staatengemeinschaft, damit der grauenhafte Krieg in Ruanda nicht auf das Nachbarland übergreift.
Unsere Empfehlungen richten sich auf zwei Handlungsbereiche: Einmal ist die Bundesregierung gefordert, sich für den Ausbau des internationalen Instrumentariums zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte einzusetzen. Hier geht es um die Ausarbeitung eines Strafkodexes von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofes und eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofes sowie eines vorbeugenden Systems von Inspektionen bei der Anti-Folter-Konvention.Auf europäischer Ebene bleibt die wichtigste Frage eine verbindliche Formulierung von Rechten nationaler Minderheiten. Der furchtbare Krieg im ehemaligen Jugoslawien führt uns die Dringlichkeit vor Augen. Die diskutierten völkerrechtlichen Instrumente des Minderheitenschutzes müssen einen Kontrollmechanismus zur Überprüfung der eingegangenen Verpflichtungen erhalten.Im internationalen Bereich muß eine Sicherung der Arbeitsfähigkeit der internationalen Menschenrechtsgremien erreicht werden. Die Bundesregierung soll sich mit Nachdruck dafür einsetzen, daß die Zuweisungen aus dem ordentlichen UN-Haushalt an die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen erhöht werden.Die Schaffung des Amtes eines Hochkommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte ist ein großer Schritt vorwärts im Bereich der Menschenrechtspolitik. Es ist aber geradezu lächerlich, dieses wichtige UN-Amt nur mit Mitteln von jährlich 700 000 US-Dollar auszustatten.Die zweite Gruppe von Forderungen richtet sich auf den unmittelbaren Gestaltungsbereich der Bundesregierung. Wir fordern sie auf, die anlaufenden Programme des Weltmenschenrechtshochkommissars zu unterstützen und den freiwilligen deutschen Beitrag zum Genfer Menschenrechtszentrum — nämlich die Kosten der beratenden Dienste — durch Mittelumschichtung weiter zu erhöhen.Die Bundesregierung selbst hält in ihrem Menschenrechtsbericht die für Demokratisierungshilfe aufgewendeten Mittel im Vergleich zu anderen Gebern für eher bescheiden. Hier muß die allgemeine Menschenrechtspolitik zu einer konkreten Projektpolitik fortentwickelt werden, mit Projekten zur Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus.Die bisherige Ausstattungshilfe muß zu einem Instrument zur Unterstützung von Friedensprozessen weiterentwickelt werden.
Wir fordern weiterhin, die Rolle des neugeschaffenen Koordinators für Menschenrechtsfragen im Auswärtigen Amt aufzuwerten und ihm Funktionen der Frühwarnung und Mahnung zu übertragen.
Es soll geprüft werden, inwieweit die Einrichtung eines deutschen Instituts für Menschenrechte sinnvoll erscheint.Wir hoffen sehr, daß der Bundesregierung bewußt ist, daß wir hier nicht nur eine Erklärung zur Menschenrechtspolitik abgeben, sondern ein Handlungsprogramm für die Bundesregierung verabschieden wollen.Wir werden sehr genau nachfragen, welche der Empfehlungen, die der Bundestag mit so breiter Mehrheit unterstützt, von der Bundesregierung umgesetzt werden. Dies bezieht sich auch auf die Feststellung, daß die Menschenrechte einen wachsenden Einfluß auf andere Bereiche der Außenbeziehungen haben, nämlich auf die Entwicklungs-, Rüstungsexport- und Außenwirtschaftspolitik.Wenn es darum geht, Deutschlands Rolle und Aufgabe in der Welt zu bestimmen, so ist der Bereich der Menschrechtspolitik jener, der zu einem Schwerpunkt werden könnte und müßte.
Nun hat der Kollege Gerhart Baum das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist eine wichtige Bilanz der deutschen Menschenrechtspolitik. Wir stimmen ihm zu.Die Menschenrechtspolitik insgesamt ist in Bewegung geraten durch den Wegfall des Ost-WestGegensatzes, durch die Wiener Konferenz, die den Konsens für Menschenrechte verbreitert hat, unter anderem durch Einbeziehung des Rechts auf Entwicklung. Die Schlußerklärung ist zum erstenmal ein globales Dokument zu Menschenrechten, das das legitime Anliegen der Staatengemeinschaft unterstreicht. Auf dieses Dokument können sich alle Verfolgten berufen.Der Rechtfertigungsdruck auf die Staaten, die Menschenrechte verletzen — das ist nach wie vor die Mehrheit der Staaten —, wächst. Die schlimmen Entwicklungen im früheren Jugoslawien und jetzt in
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Gerhart Rudolf BaumRuanda haben auf der anderen Seite das Bewußtsein für die Schärfung der Instrumente verstärkt. Wir haben in der Menschenrechtskommission das Instrument der Sondersitzungen jetzt zu Ruanda wieder aktiviert. Der Hochkommissar ist letztlich ein Ergebnis der schlimmen Ereignisse in Jugoslawien, wie auch der Ad-hoc-Strafgerichtshof zu Jugoslawien ein Schritt ist, um den Völkerrechtsjuristen jahrzehntelang gerungen haben. Es muß dies ein Anfang sein.
Es muß ein Anfang sein für weitere internationale Instrumente.Diese positiven Entwicklungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Menschenrechtsverletzungen insgesamt nicht abgenommen haben. Menschenrechtspolitik gerät mitunter in Konflikt mit anderen außenpolitischen und ökonomischen Zielen. Unsere Politik — hier unterstützen wir die Bundesregierung nachhaltig — wird von dem Verhalten bestimmt, das wir auch den kommunistischen Diktaturen gegenüber gezeigt haben: Wir haben Beziehungen gehabt, aber wir haben Menschenrechtsverletzungen niemals verschwiegen, und wir haben die Beachtung der Menschenrechte immer eingefordert.Es gibt immer noch eine Reihe von Staaten, die die Universalität der Menschenrechte bestreiten sowie die Individualität der Menschenrechte in Frage stellen und dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit tun. Dies ist übrigens auch jetzt im Zusammenhang mit Ruanda wieder geschehen. Hier müssen wir wachsam bleiben. Wir müssen — das sage ich mit einiger Selbstkritik — auch eine gewisse Selektivität bei der Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der Welt überwinden. Wir nehmen einige Staaten immer noch aus.Es gibt — das ist ein weiteres Defizit — noch keinen umfassenden präventiven Menschenrechtsschutz. Die Menschheit eilt den Katastrophen und Massakern hinterher, wenn sie einmal auf den Bildschirmen der Fernsehanstalten erscheinen. Wir brauchen neue Initiativen und Maßnahmen für eine vorausschauende, vorbeugende Diplomatie. Ein Prüfstein dafür ist jetzt Burundi.Ich begrüße es außerordentlich, daß der neue Hochkommissar eine Initiative unternommen hat, um aus den Berichten, die jetzt zu Burundi vorliegen, andere Schlußfolgerungen zu ziehen, als wir sie alle aus den Berichten zu Ruanda gezogen haben, die wir bereits im Februar und im Januar vorliegen hatten.Hier sollten wir die Unterstützung nicht versagen. Auf die Bundesregierung, Herr Staatsminister, entfallen etwa 70 000 DM eines schnell wirksamen Hilfsprogramms in Höhe von 1,3 Millionen Dollar. Wir erwarten, daß die Bundesregierung sich hier beteiligt. Herr Bundesaußenminister Kinkel hat Herrn Ayala Lasso das in meiner Gegenwart auch in Aussicht gestellt.Notwendig ist auch eine bessere Ausstattung der anderen Menschenrechtsaktivitäten der Vereinten Nationen, des Menschenrechtszentrums und des Hochkommissars selbst, der seine Aufgabe nach meinem Eindruck tatkräftig und umsichtig begonnen hat.Es ist nicht einzusehen, daß der Anteil der Menschenrechtsaktivitäten am Gesamtbudget der UNO etwa 1,4 % beträgt. Das haben wir schon in Wien beklagt. Diese Forderung von Wien ist nicht eingelöst. Die Bundesregierung ist dabei, hier im Rahmen der Generalversammlung aus dem Budget — es kann nur aus dem Budget der Vereinten Nationen kommen — Umschichtungen vorzunehmen. Wir unterstützen diese Bemühung nachhaltig.Auch ich möchte ein Wort des herzlichen Dankes sagen, Herr Kollege Vogel. Wir kennen uns lange, auch aus anderen Ausschüssen und Verhältnissen — Regierung, Opposition. Damals haben Sie zum Innenministerium hin eine wichtige Rolle gespielt. Ich möchte mich bei Ihnen sehr bedanken. Sie haben einen wesentlichen Anteil daran gehabt, daß wir im Ausschuß eine fruchtbare Zusammenarbeit und auch eine wirkungsvolle Arbeit haben leisten können, die bestimmt war von einem weitgehenden Konsens. Das ist nicht zuletzt Ihr Verdienst. Deshalb meinen Dank an Sie.
Nun hat der Kollege Gerd Poppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben uns wieder einmal am späten Abend zusammengefunden, um binnen 30 Minuten vier Beschlußempfehlungen zur Menschenrechtspolitik zu diskutieren und abzustimmen, von denen genaugenommen jede einer eigenen, ausführlichen Debatte bedürfte.
Ich habe bereits im Auswärtigen Ausschuß erklärt, daß wir diese Beschlußempfehlungen alle mittragen — teils mit Bedenken, wie die zum zweiten Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, teils uneingeschränkt, wie jene, die im wesentlichen auf dem SPD-Antrag zur Stärkung von Deutschlands menschenrechtlichen Aufgaben in der Welt basiert. Nach vier Jahren intensiver Beteiligung gerade auch an den Menschenrechtsdebatten des ersten gesamtdeutschen Bundestages läßt uns vor allem die letztgenannte Beschlußempfehlung hoffen, daß der Deutsche Bundestag in den kommenden Jahren klare Vorgaben für eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik künftiger Bundesregierungen machen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit in der kurzen mir verbleibenden Zeit auf den von uns erst heute eingebrachten Entschließungsantrag zum 2. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, hier: zur Menschenrechtssituation in Tibet, zu lenken. Herr Kollege Vogel, auch ich stelle fest, daß wir vielfach Übereinstimmungen im Ausschuß haben, und ich danke Ihnen auch für die Zusammenarbeit. Aber in einem haben Sie unrecht, nämlich daß dieser Antrag überfallartig kommt.
Gerd Poppe
Wie vermutlich die meisten von Ihnen wissen, sind für diesen Antrag die Beschlüsse des amerikanischen Kongresses von 1992 zugrunde gelegt worden. Der Bundestag hat sich dagegen seit 1987 nicht mehr mit der Situation im vom chinesisch besetzten Tibet befaßt. Zwar haben wir uns ohne alle parteipolitischen Kontroversen in der interfraktionellen Tibet-Arbeitsgruppe mit großer Anteilnahme am Schicksal der Tibeter auf immer neue Initiativen verständigt — Sie kennen diese gemeinsamen Anstrengungen —, jedoch herausgekommen ist bis heute nichts.
Erst vor wenigen Wochen hat sich der amerikanische Vizepräsident Al Gore mit dem Dalai-Lama, dem legitimen Vertreter des tibetischen Volkes, getroffen. Vor wenigen Tagen hat der italienische Staatspräsident Scalfaro trotz aller Drohung des chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng den Dalai-Lama empfangen. Wir dagegen haben es in dieser Wahlperiode bisher versäumt, gemeinsam klar und deutlich zum völkerrechtlich unstrittigen Selbstbestimmungsrecht der Tibeter und zu den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Tibet Stellung zu beziehen.
Unseren Entschließungsantrag kennen Sie seit langem. Wir beanspruchen für ihn keineswegs das alleinige Urheberrecht. Von den Eingangssequenzen abgesehen — die wären durchaus verzichtbar gewesen, wenn sich die Koalition diesem Antrag angeschlossen hätte —, haben sich die Abgeordneten aller Fraktionen in der Tibet-Arbeitsgruppe seit längerem auf diesen Antrag verständigt. Da können Sie, Herr Kollege Vogel, die Mitglieder ihrer Fraktion in der Tibet-Arbeitsgruppe fragen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben sich bis heute bemüht, diesen Antrag wenigstens als interfraktionellen Gruppenantrag einzubringen. Es sollte nicht der fatale Eindruck entstehen, daß der Deutsche Bundestag, ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen geleitet, vier Jahre lang zur katastrophalen Menschenrechtssituation in Tibet schweigt.
China, dessen verfolgte Demokraten nicht müde werden, uns an die Gefahren einer vorwiegend an Wirtschaftsinteressen orientierten Politik zu erinnern, bleibt der Prüfstein für den Erfolg unserer Menschenrechtspolitik. Helfen Sie bitte mit, diesem Anspruch gerecht zu werden!
Als nächster hat der Kollege Freimut Duve das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Auch ich möchte Herrn Vogel recht herzlich für die gemeinsame Arbeit danken. Das war, jedenfalls in diesen beiden Funktionen, unsere letzte Begegnung.Ich möchte ein paar Worte zu dem Antrag „Konvention gegen Vertreibung" sagen. Mir ist — vielleicht kann man das aus persönlicher Sicht einmal sagen —wie uns allen vor zwei Jahren, im Jahre 1992, zu Kopf gestiegen, was damals an Vertreibungsverbrechen in Bosnien passiert ist. Viele von uns haben sich an Vertreibungen in Europa im Jahre 1945 erinnert. Vertreibung ist bereits in der Völkermordkonvention als Verbrechen gekennzeichnet, aber eben immer im Zusammenhang mit den Begriffen „Genozid" und „Völkermord". Ich habe damals meiner Fraktion vorgeschlagen zu überlegen, ob wir das Verbrechen, welches möglicherweise den Beginn des nächsten Jahrhunderts viel stärker bestimmen wird, als wir heute wissen, aber doch ahnen, nicht auf einer anderen Ebene definieren sollten, als Vertreiben durch Mord. Gemeint ist das Vertreiben durch das Verbrechen des Mordes, indem gesagt wird: Einige bringen wir um; hoffentlich hauen die anderen ab!Wir sind Zeugen dieser Form des Loswerdenwollens der anderen allüberall in der Welt. Deshalb freue ich mich sehr, daß wir in den Gesprächen mit den Kollegen der Union und der anderen Fraktionen, auch in einer längeren Diskussion mit dem Auswärtigen Amt und deren Mitarbeitern, die nicht immer nur freundschaftlich war, zu einer gemeinsamen Beschlußempfehlung des Ausschusses gekommen sind. Ich halte es für dringlich erforderlich, daß deutlich wird: Jeder Akt des Vertreibens ist ein Verbrechen. Jeder, der sich an einem solchen Akt der Vertreibung beteiligt, ist ein Verbrecher.Dies ist bisher in der internationalen Diskussion nicht so deutlich definiert worden. Ich hoffe sehr, daß wir gemeinsam mit beiden Versammlungen, der IPU und der KSZE-Parlamentarierkonferenz — beide haben unsere Initiative übernommen —, dazu kommen werden, noch sehr viel deutlicher zu machen: Da, wo Vertreibung anfängt, endet es zum Schluß auch mit dem Völkermord, wenn nicht Maßnahmen dagegen ergriffen werden.Ich freue mich, daß wir nach einer ziemlich langen Diskussion zusammengekommen sind. Wir werden dieser Beschlußempfehlung jetzt zustimmen.Ich möchte — Herr Sauer ist jetzt nicht mehr da — noch persönlich sagen: Mich hat sehr berührt, wie engagiert Herr Sauer sich in dieser Frage gezeigt hat, auch mit der Bemerkung mir gegenüber — ich habe das schon einmal im Auswärtigen Ausschuß gesagt—: Wissen Sie, Herr Duve, ich bin auf einer Flucht geboren worden. Die meisten Kinder auf dieser Flucht im Jahre 1945 sind umgekommen; ich habe überlebt. Weil ich als Baby überlebt habe, fühle ich mich dem Problem, dem Drama des Vertreibens zeit meines Lebens verpflichtet. — Mich hat das sehr beeindruckt.Wir alle haben in unseren Lebensläufen solche Verpflichtungen. Vielleicht können wir in ähnlicher Weise gemeinsam an solchen Fragen weiter zusammenarbeiten.Danke schön.
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Nun hat der Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage des 2. Menschenrechtsberichts im Dezember 1993 kam die Bundesregierung der Aufforderung des Parlaments nach, alle zwei Jahre einen derartigen Bericht vorzulegen. Der Bericht dokumentiert den hohen Stellenwert der Menschenrechte in der deutschen Außenpolitik. Er reflektiert das international gestiegene Bewußtsein für den Wert und die Bedeutung der Menschenrechte, für die Wahrung des Friedens und die Gewährleistung einer soliden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung.
Die globale Verbesserung des Menschenrechtsschutzes bleibt auch weiterhin eine zentrale Aufgabe der deutschen Außenpolitik, in deren Mittelpunkt die Sorge um den Menschen, um den Schutz seiner Würde und seiner Rechte steht. Eine bessere Entfaltungsmöglichkeit für den Menschen ist auch Grundvoraussetzung für die Realisierung des „Rechts auf Entwicklung", von dem viele noch ausgeschlossen sind.
Die Menschenrechtsweltkonferenz 1993 in Wien war ein Erfolg. Die Bundesregierung setzt sich bei allen Gelegenheiten, z. B. bei der Generalversammlung oder bei der Menschenrechtskommission, für die Umsetzung des Aktionsprogramms der Wiener Menschenrechtsweltkonferenz ein. So gelang am 20. Dezember 1993 durch einen Beschluß der 48. Generalversammlung die Einrichtung der Stelle des Hochkommissars für Menschenrechte. Ebenfalls erfolgreich waren unsere Bemühungen auf der 50. Sitzung der Menschenrechtskommission, die Stelle eines Sonderberichterstatters über Gewalt gegen Frauen einzurichten. Frau Coomaraswamy aus Sri Lanka wurde kürzlich für dieses Amt ernannt.
Der neue Hochkommissar für Menschenrechte wurde bereits erwähnt. Ayala Lasso war gerade in Deutschland und hat damit unser Land als erstes Land der Europäischen Union besucht. Einige von Ihnen hatten Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, insbesondere der Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Dieser Besuch hat, so glaube ich, verdeutlicht, daß sich die Bundesregierung nicht nur intensiv für die Schaffung dieses Postens eingesetzt hat, sondern den ersten Amtsinhaber auch voll unterstützen will.
Herr Ayala Lasso verdient Dank für seine Initiative zur Einberufung der Sondersitzung der Menschenrechtskonferenz zu Ruanda und für sein Konzept präventiven Menschenrechtsschutzes in Burundi durch den Ausbau beratender Dienste. Die Bundesregierung prüft zur Zeit die Möglichkeit einer finanziellen Beteiligung an diesem Projekt.
Während ihrer Präsidentschaft in der Europäischen Union wird sich die Bundesregierung verstärkt für eine adäquate Erhöhung der Mittel für Menschenrechtsaktivitäten einsetzen. Eine den gesteigerten Aufgaben im Bereich der Menschenrechte entsprechende Erhöhung des Budgets der Vereinten Nationen ist bislang leider nicht gelungen, obwohl das Budget für das Menschenrechtszentrum letztlich
erhöht wurde und auch der Hochkommissar — allerdings sehr begrenzte — Mittel erhalten hat.
Die Bundesregierung stimmt mit dem Auswärtigen Ausschuß darin überein, Herr Kollege Duve, daß das völkerrechtliche Verbot der Vertreibung besser durchgesetzt werden muß. Um eine bessere Beachtung der Schutzvorschriften zu erreichen, sollten vor allem die Möglichkeiten verbessert werden, diejenigen gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen, die Vertreibungsverbrechen veranlassen oder ausführen. Die Bundesregierung wird sich daher in den Vereinten Nationen weiterhin aktiv für eine effektivere Gestaltung des völkerrechtlichen Schutzes vor Vertreibung einsetzen und die dem Ziel der Verbesserung der Ahndungsmöglichkeiten dienenden Arbeiten nachhaltig unterstützen.
Der Vertrag über die Europäische Union enthält in Art. F Abs. 2 ein ausdrückliches Bekenntnis zu den Grundrechten, die sich aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten ableiten. Ein Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention soll zusätzlich die Möglichkeit gewähren, Akte der EG ebenso wie Akte der Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzufechten.
Zur Klärung der Rechtsfragen hat der Allgemeine Rat der Europäischen Union am 18. April dieses Jahres den Europäischen Gerichtshof um ein Gutachten zur Vereinbarkeit eines Beitritts mit dem Gemeinschaftsrecht ersucht. Wann der Gerichtshof das Gutachten vorlegen wird, ist zur Zeit noch nicht absehbar. Die Bundesregierung geht davon aus, daß das Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, daß für den geplanten Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention keine grundsätzlichen rechtlichen Hindernisse bestehen.
Ich darf zum Schluß, Herr Kollege Vogel, Ihnen auch im Namen der Bundesregierung sehr herzlich für Ihre langjährige und rastlose Arbeit auf dem Felde der Menschenrechte danken und möchte in meinen Dank auch Kollegen Baum einschließen, der ja hier sehr viel geleistet hat — nicht unbedingt im Parlament, aber in Genf. Wir wissen beide Personen und ihre ungeheuren Anstrengungen sehr zu schätzen.
Vielen Dank.
Die Kollegin Stachowa und die Kollegin Dr. Fischer wünschen, ihre Reden zu Protokoll zu geben *). Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Der Kollege Helmut Sauer hat eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben. **)*) Anlage 9 **) Anlage 10
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Juni 1994 20651
Vizepräsidentin Renate SchmidtIch kann die Aussprache schließen. Wir kommen damit zu den Abstimmungen, und zwar zuerst zu dem Tagesordnungspunkt 10a. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum 2. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung auf den Drucksachen 12/6330 und 12/7752. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? —
Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/8100. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 10b. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einer Konvention gegen die Vertreibung auf Drucksache 12/7320. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/3369 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 10c. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte auf den Drucksachen 12/6839 und 12/7772. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?— Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung ebenfalls einstimmig angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 10d. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur menschenrechtlichen Aufgabe Deutschlands und zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. zum Tag der Menschenrechte auf Drucksache 12/7773. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf Drucksache 12/6383 und 12/6384 zusammenzufassen und in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?— Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 a bis 11 c auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Regina Kolbe, Gerd Andres, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBeschäftigungssituation Schwerbehinderter bei den Bundesdienststellen und Einordnung des Schwerbehindertenrechts in ein neues Sozialgesetzbuch IX— Drucksachen 12/6159, 12/7139 —b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBeschäftigung Schwerbehinderter bei den Bundesdienststellen— Drucksachen 12/5208, 12/6771 —Berichterstattung: Abgeordnete Petra Blässc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die BundesregierungDritter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitationzu dem Antrag der Abgeordneten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, Ingrid Köppe, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleichstellung von Menschen mit Behinderungen— Drucksachen 12/7148, 12/6981, 12/8074 —Berichterstattung: Abgeordneter Peter KellerZum Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. Es gibt den Wunsch einiger Kollegen, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Das sind die Kollegen Dr. Seifert, Gerd Poppe und Heinz Schemken. Darf ich fragen, ob noch irgend jemand seine Rede zu Protokoll zu geben wünscht?
— Auch Frau Pohl wünscht, ihre Rede zu Protokoll zu geben. — Herr Staatssekretär Kraus möchte seine Rede zu Protokoll geben. Darf ich fragen, ob es noch jemanden gibt? — Auch Frau Kolbe möchte ihre Rede zu Protokoll geben. Habe ich irgend jemanden übersehen? — Darf ich fragen, ob jemand zu reden wünscht? — Darf ich dann Ihr Einverständnis erbitten, daß diese Reden zu Protokoll gegeben werden *). — Das ist der Fall. Dann ist dieses so beschlossen.Wir kommen zu den Abstimmungen. Zu Tagesordnungspunkt 11 a ist keine Abstimmung erforderlich.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 11 b. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Bericht der Bundesregierung zur Beschäftigung Behinderter bei Bundesdienststellen auf Drucksache 12/6771, Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 12/5208 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung*) Anlage 11
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Vizepräsidentin Renate Schmidtauf Drucksache 12/6771 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig bei einigen Stimmenthaltungen angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 11 c. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen auf Drucksache 12/8074, Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/6981 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig bei einer großen Zahl von Stimmenthaltungen angenommen.Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 11 c und kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten auf den Drucksachen 12/7148 und 12/8874, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 11 c und kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/8075. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel, Antje-Marie Steen, Lieselott Blunck , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVerwendung gesundheitsgefährdender Stoffe bei Textilien— Drucksachen 12/4881, 12/6497 —Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Die Kolleginnen Frau Limbach, Frau Staatssekretärin Bergmann-Pohl, Frau Sehn und Frau Schmidt-Zadel haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll gebenzu dürfen *). Besteht damit Einverständnis? — Wünscht noch jemand zu reden? — Das ist nicht der Fall.Dann können wir gleich zur Abstimmung kommen, und zwar zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 12/8052. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkt 13a und 13 b auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Roland Sauer , Uta Titze-Stecher, Ingrid Walz und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Nichtraucherschutzes
— Drucksache 12/7082 —
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Schaich-Walch, Angelika Barbe, Hans Gottfried Bernrath und weiteren AbgeordnetenVorlage eines Nichtraucherschutzgesetzes — Drucksache 12/6883 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine gemeinsame Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen Schaich-Walch, Sehn und Titze-Stecher sowie die Kollegen Sauer und Hoffacker haben aber gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen **). Besteht damit Einverständnis? — Auch dies ist wider Erwarten der Fall. Ich freue mich darüber, und wir können sofort zu den Abstimmungen gehen, es sei denn, es möchte noch jemand reden. — Das ist ebenfalls nicht der Fall.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/7082 und 12/6883 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie eventuell damit einverstanden? — Auch das ist wieder der Fall. Ich bin begeistert. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 24. Juni 1994, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche einen schönen restlichen Abend.