Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen guten Morgen und eröffne die Sitzung.
Ich gebe zunächst bekannt, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die heutige Tagesordnung urn die Beratungen von drei Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses — nämlich zum Pflegeversicherungsgesetz auf Drucksache 12/7323, zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs auf Drucksache 12/7324 und zum Gesetz zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes auf Drucksache 12/7325 — erweitert werden soll. Sind Sie mit der Ergänzung der Tagesordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Dann können wir so verfahren.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz — PflegeVG)
— Drucksachen 12/5262, 12/5617, 12/5761, 12/5891, 12/5920, 12/5952, 12/6094, 12/6424, 12/6472, 12/6491, 12/7323 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Vogt
Wird Berichterstattung gewünscht?
— Keine Berichterstattung. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht?
— Herr Blüm? — Dann beginnen wir mit dem Abgeordneten Dr. Norbert Blüm.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. — Das ist ein guter Tag für den Deutschen Bundestag. Das Pflegeversicherungsgesetz wird beschlossen. Es ist vor allen Dingen ein guter Tag für diejenigen, die auf das Gesetz warten; es ist die beste Nachricht seit 20 Jahren.
Viele haben am Bau der Pflegeversicherung mitgewirkt. Viele haben zu ihrem Zustandekommen beigetragen. Das Gesetz ist nämlich nicht die exakte, prompte Umsetzung einer Blaupause, sondern in das Gesetz sind die Erfahrungen der Betroffenen und die Ergebnisse von Diskussionen — bis hin zu Streitereien — eingegangen. Denn die Vorstellungen von der Pflegeversicherung sind unterschiedlich. Meine Damen und Herren, hätte jeder nur seinen Kopf durchsetzen wollen, stünden wir heute mit leeren Händen da. Also sind in den Bau Zugeständnisse von allen Seiten eingegangen. Das ist kein Grund zum Bedauern; denn eine verwirklichte Pflegeversicherung ist tausendmal besser als ein nicht realisiertes Ideal.
Ich bedanke mich deshalb für die Bereitschaft aller Seiten, aufeinander zuzugehen, auch für die Kraftanstrengungen des Vermittlungsausschusses mit allen seinen Mitgliedern; ein besonderer Dank gilt dem Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses, Heribert Blens, der schwierige Verhandlungen zu leiten hatte.Ich denke, unser Blick sollte jetzt nach vorne gerichtet sein. Das Gesetz ist auf den guten Willen und das Engagement vieler angewiesen. Nächstenliebe und Barmherzigkeit lassen sich nicht durch Paragraphen kommandieren; sie lassen sich überhaupt nicht kommandieren. Systeme, Institutionen sind wichtig; aber noch wichtiger sind Menschen. Ohne hilfsbereite Menschen bleibt jedes Gesetz ein kaltes Gehäuse, eine leerlaufende Maschine.
Die Pflegeversicherung ersetzt nicht die Hilfsbereitschaft; sie stützt sie und schützt sie vor Überforderung.Meine Aufforderung an Kassen, Gemeinden, Landkreise, Länder, Verbände lautet, die Vorlaufzeit zu nutzen. Die Lander sollten ihre Aufgaben auch im investiven Bereich wahrnehmen; allein 6,4 Milliarden DM stehen in den neuen Ländern ab 1995 zur Verfügung. Wir brauchen eine aufgefächerte Infrastruktur der Hilfe; das meine ich räumlich und sachlich.
Metadaten/Kopzeile:
19280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Norbert BlümAmbulant geht vor stationär; das meinen wir nicht nur im zeitlichen Sinne, sondern auch im sachlichen.
Die Dienstleistung muß sich den Bedürfnissen anpassen und nicht umgekehrt. Es gibt jedoch höchst unterschiedliche Bedürfnisse, von den kleinen Diensten über die teilstationäre Pflege und Tagespflege bis hin zur Vollzeitpflege.Wir brauchen auch eine neue Einstellung, daß Pflegebedürftigkeit nicht in jedem Falle Schicksal ist, sondern durch Vorbeugung und Rehabilitation gestaltet werden kann. Es gilt der Grundsatz „Rehabilitation geht vor Pflege".
Wir brauchen eine Aufwertung der Pflegeberufe. Das ist ein schöner Beruf, er hat mit hilfsbedürftigen Menschen zu tun. Wir brauchen ein breit differenziertes Angebot von Pflegekräften, von einfachen Pflegediensten bis zu hochqualifizierten Berufen. Ich will hinzufügen: Wir sollten uns allerdings vor einer Überprofessionalisierung und Überperfektion schützen.Im Pflegebereich — da bin ich ganz sicher — wird auch ein großer arbeitsmarktpolitischer Effekt ausgelöst. Es werden neue Berufe angeboten.Wir brauchen eine Sensibilität für die Hilfsbedürftigkeit unserer Nachbarn und die Fähigkeit zur Rücksichtnahme. Ich glaube beispielsweise, daß Alterseinsamkeit eine oft übersehene Quelle von Pflegebedürftigkeit ist. Integration in Leben, Politik, Kultur und Familie: Das ist auch Prophylaxe, Vorbeugung. Was wir nicht brauchen, ist, daß weiter gestritten wird oder eine rechthaberische, buchhalterische Diskussion geführt wird. Denn es gibt noch viel zu tun. Es gibt keinen Grund zum Ausruhen, aber doch einen Grund dafür, daß sich der Bundestag heute freut. Ich jedenfalls freue mich.
Als nächster spricht der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ergebnisse des nunmehr abgeschlossenen zweiten Vermittlungsverfahrens zwischen Bundestag und Bundesrat zum Pflege-Versicherungsgesetz zeigen, daß es sich gelohnt hat. Es hat sich in allererster Linie für die Pflegebedürftigen, für ihre Angehörigen, für die Schwestern und Pfleger gelohnt.Das, was der Vermittlungsausschuß nunmehr einvernehmlich zur Annahme vorschlägt, bedeutet zuallererst eine spürbare Verbesserung. Der im Falle der Pflegebedürftigkeit für die Pflegeversicherung gezogene Leistungsrahmen wurde spürbar angehoben, im ambulanten Bereich, vor allem bei den Sachleistungen, aber auch im stationären Bereich und bei den Barleistungen.Vom Leistungsumfang her ist sichergestellt, daß es einen Trend ins Heim, wenn 1996 die Heimpflegeleistungen in Kraft treten, nicht geben wird. Ob Hausoder Heimpflege, für Schwerstpflegebedürftige werden gleich hohe Sachleistungen von 2 800 DM fällig. Dies gibt den Betroffenen erstmals die echte Chance, sich nach ihren Bedürfnissen frei entscheiden zu können.
Die SPD hat den Grundsatz „Rehabilitation geht vor Pflege" versprochen. Dieses Versprechen ist eingelöst. Das befürchtete Abschieben von kranken Menschen in die Pflegeversicherung kann so wirksam verhindert werden.Bei drohender Pflegebedürftigkeit oder bei befürchteter Verschlimmerung des Grades der Pflegebedürftigkeit hat der Betroffene Anspruch auf alle Leistungen der ambulanten Rehabilitation, wenn sie die Pflegebedürftigkeit oder ihre Verschlimmerung verhindern können.Träger dieser Rehabilitation ist die Krankenversicherung, in Ausnahmen die Unfall- oder Rentenversicherung. Ich bin mir sicher, allein durch diese beiden erzielten Verbesserungen hat sich das erneute Vermittlungsverfahren schon gelohnt.Wir haben aber darüber hinaus erreicht, daß es keine pflegepolitischen Extrawürste für bestimmte Gruppen geben wird. So hat die Bundesregierung durch den Bundesminister des Inneren verbindlich zugesichert, daß eine beihilferechtliche Besserstellung der Beamten in der Pflege beseitigt wird und die Beihilfeleistungen bis zum 1. Januar 1995 denen der Leistungen der Pflegeversicherung angeglichen sein werden.
Bleibt die Frage der Kompensation: Wir haben versprochen, daß es dazu weder einen Eingriff in die Tarifautonomie noch einen solchen in das kollektive Arbeitsvertrags- und Tarifrecht geben wird. Auch dieses Versprechen haben wir gehalten und alle Versuche zu solchen Eingriffen abgewehrt.
Die ökonomische Kompensation haben wir vom Grundsatz her akzeptiert. Das ist uns nicht leichtgefallen. Es gilt nunmehr die Aufforderung an die Bundesländer, ihr Versprechen, den Ausgleich bis zum Jahresende durch Abschaffung eines Feiertages zu erbringen, einzulösen.Die Leistungen der Pflegeversicherung sind angemessen. Die Finanzierung ist solide. Sozialversicherungsrechtliche Systembrüche wurden verhindert. Die Tarifautonomie bleibt unangetastet. Für meine Fraktion meine ich, daß das ein guter Start für einen neuen Sozialversicherungszweig ist.
Obwohl, meine Damen und Herren, von der Koalition ursprünglich nicht geplant, hat sich auch im Falle der Pflegeversicherung die sozialpolitische Tradition durchgesetzt: Wichtige, bedeutende soziale Reformen sind Projekte des ganzen Bundestages und werden gemeinsam erarbeitet und verabschiedet. Die SPD-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19281
Rudolf DreßlerFraktion stimmt dem Vermittlungsergebnis daher zu.
Als nächste spricht Kollegin Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn heute der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit die Pflegeversicherung beschließt, wird jede daran beteiligte Partei noch einmal begründen, wie sie das Gesamtergebnis bewertet und ob sie mit dem Erreichten zufrieden ist.
Der Bundestag beschließt heute ein großes Sozialgesetz. Die F.D.P. wird auch am letzten Tag von der Zwiespältigkeit ihrer Gefühle nicht erlöst. Sie weiß, daß sie die Strukturen dieser neuen Sozialversicherung nach liberalen Prinzipien wesentlich geprägt und verändert hat. Ohne die F.D.P. sähe diese Pflegeversicherung anders aus: größer, plumper, teurer.
Sie weiß, daß mit der von ihr durchgesetzten Kompensationsregelung ein in der Sozialgesetzgebung bisher unbekannter Grundsatz aufgestellt und ein Umdenkungsprozeß eingeleitet worden ist.
Die F.D.P. sieht auch mit Befriedigung, daß ihre Grundüberlegung für die Pflegeversicherung, nämlich eine umfassende Kapitaldeckungslösung, zumindest im System der privaten Krankenversicherung verankert worden ist und sich im Wettbewerb der Systeme bewähren kann.
Wir hoffen, daß die Schranken halten, die gegen Kostenausweitung und Beitragsanstieg errichtet wurden. Wir hoffen weiter, daß sich unsere Erwartungen auf mehr Dienstleistungen und Beschäftigung gerade für Frauen erfüllen werden, und wir hoffen insbesondere, daß das, was der Gesetzgeber als Hilfe, als Wohltat, als Linderung für Pflegebedürftige und ihre Familien beschlossen hat, daß also all das Gute auch gut wirkt. Familienbande sollen sich festigen, und den Pflegebedürftigen soll eine gute Pflege in ihrer vertrauten Umgebung ermöglicht werden.
Daß die Pflegeversicherung künftige Generationen aber noch mehr belastet, als sich die heutige Generation selbst belastet, hat die F.D.P. immer wieder sorgenvoll betont. Wir erneuern unseren Appell an die Bürger und weisen darauf hin, daß auch in Zukunft Eigenvorsorge nötig ist und daß die Pflegeversicherung keineswegs alle Kosten decken wird. Hoffentlich sind von der Politik hier nicht falsche Erwartungen geweckt worden.
Die SPD rühmt sich, die Leistungen durchweg erhöht zu haben. Das stimmt. Es entsteht aber der Eindruck, als sei es der Gesetzgeber oder gar eine politische Partei, die mehr Geld verteilt. Meine Damen und Herren, jede Mark, jede zusätzliche Mark muß erst erarbeitet werden. Es sind Arbeitnehmer, nicht die SPD, die mehr Leistungen bringen müssen und deren Existenz davon abhängt, daß trotz der hohen
Lohnkosten die Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt. Ihnen bürden wir das Wagnis dieser neuen Pflegeversicherung auf.
Aus manchen Äußerungen der Sozialdemokraten läßt sich heraushören, daß sie den notwendigen Entschluß, Feiertage abzuschaffen, schon bereuen. Über die Tatsache, daß ohne Abschaffung von Feiertagen die Arbeitnehmer den vollen Beitrag zahlen müssen, reden einige Sozialdemokraten am liebsten gar nicht, sondern flüchten sich in die Hoffnung, nach der Wahl Unangenehmes vielleicht aus dem Weg räumen zu können.
Ich warne nachdrücklich vor dieser Strategie. Die Pflegeversicherung beruht — es ist richtig, daß Herr Dreßler darauf hinweist — auf dem breiten Konsens der Parteien CDU/CSU, F.D.P. und SPD. Sie sollen wie bei anderen großen Sozialversicherungen auch künftig die Verantwortung übernehmen.
Meine Damen und Herren, ich sagte es: Es ist ein großes Sozialgesetz, das wir heute beschließen, und ich will den Jubel auch nicht dämpfen. Aber erst in den kommenden Jahrzehnten werden wir wissen, ob wir heute richtig gehandelt haben.
Ich bedanke mich.
Als nächster spricht Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum drittenmal beschließen wir heute endgültig die Pflegeversicherung, d. h. Sie beschließen sie. Zum x-tenmal sagt Herr Blüm: Heute ist ein großer Tag für den Sozialstaat.
Zum x-tenmal freut sich Herr Blüm über alle Maßen.
— Aber, Herr Blüm, es geht nicht um Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Es geht um Bürgerrechte und um Menschenwürde. Das wird mit dieser Pflegeversicherung nicht geleistet.
— Ich komme gleich zu Ihnen, Frau Babel.Ich wiederhole: Das wird mit dieser Pflegeversicherung nicht geleistet. Es werden tatsächlich Almosen verteilt. Das wollen die Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, nicht.
Metadaten/Kopzeile:
19282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Ilja Seifert— Jeder darf hier seine Meinung sagen, und ich vertrete hier die Meinung von Menschen mit Behinderungen und weiß, wovon ich rede.Frau Babel hat hier in dankenswerter Offenheit gesagt — —
— Es geht hier nicht um Parteien des Staatsbankrotts. Es geht hier um Menschen mit Behinderungen und um Menschen in höherem Alter, die auf Pflege angewiesen sind.Frau Babel hat hier in dankenswerter Offenheit gesagt, daß es eigentlich darum ginge, eine private Pflegeversicherung durchzuführen, daß die Versicherungen noch fetter werden, daß die Menschen selber Vorsorge leisten sollen und sich der Staat jeglicher Verantwortung entzieht, den Menschen zu helfen, die sich nicht selber helfen können.
Es wäre die Aufgabe dieses Staates, Menschen, die unverschuldet in die Situation kommen, auf Pflege angewiesen zu sein, davor zu schützen, arm zu werden und auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Dies aber wird mit dieser Pflegeversicherung vorprogrammiert. Es dauert jetzt nur ein paar Monate länger.Wenn Sie, Herr Dreßler, hier als großen Erfolg darstellen, daß die Beihilfeanpassung so geschieht, daß die Beamten in Zukunft so gestellt werden wie die Versicherten, so muß ich sagen: Das wäre umgekehrt ordentlich, nämlich dann, wenn die Versicherten in Zukunft so gestellt werden würden wie die Beamten. Dann wäre das ein ordentliches Ergebnis!Noch einen Satz zu Ihnen, Herr Dreßler, und auch zu Ihnen, Herr Blüm: Sie sind ganz stolz darauf, daß die Rehabilitation vor der Pflege kommt. Wissen Sie denn gar nicht, daß die Rehabilitation auch bei der Pflege erforderlich ist?
Rehabilitation plus Pflege muß die Losung heißen — nicht vorher oder nachher. Das ist aber bei Ihnen überhaupt nicht vorgesehen. Darum geht es.
— Es geht darum, denjenigen, die wirklich ihr Leben lang z. B. darauf angewiesen sind, von anderen Menschen assistierende Hilfe entgegenzunehmen, zu helfen.
— Das gibt es, wenn man unheimlich lange kämpft. Ich weiß das, Herr Blüm. Bloß ist das Gesetz nicht so angelegt, daß das im Vordergrund stünde.Erlauben Sie mir als letztes noch den Hinweis: Es wurde monate- und jahrelang immer nur über das Geld gestritten. Die Leistung, die die Menschen wirklich in die Hand bekommen, ist nach wie vor so, daß höchstens 25 oder 26 Tage im Monat überhaupt etwas gewährt wird. Sollen die Menschen an den anderen fünf oder sechs Tagen nichts kriegen? Das kann doch wohl nicht sein.
— Dann geben Sie doch wenigstens zu: Sie wollen nicht. Was sollen die Menschen an den restlichen fünf oder sechs Tagen des Monats tun? Man kann doch nicht sagen, die Pflege endet nach drei Vierteln des Monats. Das ist der entscheidende Nachteil! Sie reden über das Geld, ich rede über die Menschen, die Hilfe brauchen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bedaure es, daß Sie nicht einmal in der Lage sind, ruhig zuzuhören, wenn Ihnen jemand sagt, daß das, was Sie hier so loben, nicht das Gelbe vom Ei ist.
Es hat jetzt Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es tut mir leid, aber ich muß ein paar Tropfen sauren Oppositionsessig in den süßen Wein der Großen Koalition gießen.
Die Bemühungen des Vermittlungsausschusses um eine Pflegeversicherung haben nach Auffassung des BÜNDNISSES 90 nicht zu einer Beseitigung der grundlegenden Mängel geführt, die ich für unsere Gruppe hier bereits mehrfach benannt habe. Nach unserer Auffassung beinhaltet diese Pflegeversicherung kein innovatives Moment, das auf eine qualitative Verbesserung der Pflege abzielt. Weder wird die Situation der stationären Pflege problematisiert noch nach neuen Wohn- und Betreuungsformen außerhalb von Großheimen gesucht. Es wurden keine Impulse gegeben, die ambulante und teilstationäre Pflege auszuweiten und weiterzuentwickeln.Der Großteil der Pflegeleistungen muß auch künftig von den Angehörigen erbracht werden, und zwar unentgeltlich. Die selbstorganisierte ambulante Schwerstbehindertenbetreuung wird mit Einführung der Pflegeversicherung geradezu zusammenbrechen. Wer sich auf familiäre Assistenz und Pflege nicht stützen kann oder diese nicht in Anspruch nehmen möchte, dem droht in vielen Fällen die Abschiebung ins Heim.Meine Damen und Herren, die Einteilung in drei Pflegestufen entspricht nicht dem Stand der wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnis und wird zu einem systematischen Sog in die Heime führen. Die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19283
Konrad Weiß
Ausgrenzung von 465 000 Personen, die mehrfach wöchentlich der Assistenz bedürfen, aus dem Leistungsspektrum unterläuft massiv den Grundsatz der Vorrangigkeit präventiver und rehabilitiver Hilfe. Es mehren sich die Anzeichen, daß künftig gerade im ambulanten Bereich und unterhalb der Eingangsstufe der Pflegeversicherung auch die Sozialämter die subsidiäre Kostenübernahme verweigern könnten. Wenn das tatsächlich eintreten sollte, würden durch diese Pflegeversicherung ganze Personengruppen schlechtergestellt.Für das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stelle ich an dieser Stelle noch einmal fest: Es gab und gibt praktikable Alternativen. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat bereits vor zehn Jahren den Entwurf zu einem bedarfsgerechten steuerfinanzierten Bundespflegegesetz eingebracht. Dieser zeichnete sich ebenso wie der Entwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, den Sie, meine Damen und Herren, in dieser Legislaturperiode verworfen haben, sowohl durch höhere Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit bei den Leistungen als auch durch seine unmittelbare Neutralität im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeitskosten aus. Gerade diejenigen, die die Pflegediskussion nicht unter inhaltlichen, sondern unter angeblich rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt haben, hätten einem steuerfinanzierten Modell den Vorzug geben sollen.
Es hat also nicht an gangbaren Alternativen gefehlt, sondern am politischen Willen, diese umzusetzen, auch bei der SPD. Hier wurde bewußt ein Einfallstor geschaffen oder hingenommen, um in den kommenden Jahren möglicherweise auch in anderen Bereichen der Sozialversicherung die Arbeitgeber aus der sozialen Verantwortung zu entlassen. Diese Strategie wurde mit Erfolg bereits beim Asylbewerberleistungsgesetz erprobt, in dessen Folge es unter Mitwirkung der SPD zu einschneidenden Kürzungen bei den sozialen Regelleistungen der Sozialhilfe kam. Seit Scharping steht die SPD mit einem Fuß in einer Großen Koalition des Sozialabbaus. Auf die Komplizenschaft von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darf die SPD dabei nicht hoffen.Wir verwahren uns entschieden gegen diese Instrumentalisierung der Pflegebedürftigen und lehnen das unzureichende und fehlsteuernde Ergebnis des Vermittlungsausschusses ab.
Ich danke Ihnen.
Vor der Abstimmung hat zu einer persönlichen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe im Sommer 1992 dem Kompromiß zur Einführung einer umlagefinanzierten Pflegeversicherung trotz allergrößter Bedenken zugestimmt. Ich würde mich an diese Zusage selbstverständlich auch halten, nicht zuletzt übrigens wegen der Verbesserungen, die erreicht worden sind. Frau Babel hat auf die Arbeit der F.D.P.-Fraktion — wie ich glaube, zu Recht — hingewiesen. Wenn ich zu einem anderen Ergebnis komme, so will ich vorweg sagen: Es gefällt mir nicht, daß der eine in die Kiste gepackt wird: Nächstenliebe, ja oder nein!
Es gefällt mir auch nicht, Herr Seifert, obwohl ich das Schicksal eines Rollstuhlfahrers weiß Gott nicht mit meinem vergleichen will, daß ein Alleinvertretungsrecht für Behinderte wahrgenommen wird. Darüber können auch andere ein Wort mitreden.
Meine Damen und Herren, ich habe im Sommer 1992 auch an einer Bedingung mitgewirkt, die wir verabredet haben, nämlich an der Kompensation für die Belastung der Arbeitskosten, weil ich damals der Auffassung war und heute der Auffassung bin, daß in Deutschland nichts so knapp ist wie Arbeitsplätze und daß sie nicht durch zusätzliche Kosten belastet werden dürfen. Wir haben damals verabredet, daß die Kompensation stabil, dauerhaft und verläßlich sein soll. Das ist bei der jetzt nicht abschließend ausgestalteten Feiertagsregelung — von Frau Babel ist mit Recht auf die Vorbehalte und Fragezeichen hingewiesen worden — nicht der Fall.
Erst recht nicht kann ich dem Verfahren zustimmen, den Sachverständigenrat mit einem Gutachten in dieser Frage zu beauftragen. Die Sachverständigen haben mit Recht darauf hingewiesen, daß das nicht ihrem gesetzlichen Auftrag entspricht.
— Wer wird erweitert? Wenn es schon notwendig ist, den Sachverständigenrat wegen dieser Frage zu erweitern, dann ist das — —
— Wenn der Aufgabenkatalog um dieses Zweckes willen erweitert wird, ist das eine Verwässerung der Aufgaben des Sachverständigenrates und eine Abkehr von der bisherigen Institution. Nachdem ich das erfahre, bin ich noch bedenkenträchtiger hinsichtlich dessen, was wir hier mit dem Sachverständigenrat und seiner Autorität anfangen.
Aus diesem Grunde, weil die Bedingungen für die Kompensation nicht erfüllt sind, stimme ich dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses nicht zu.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat
Metadaten/Kopzeile:
19284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthgemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7323? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung bei Gegenstimmen aus der F.D.P., der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei drei Enthaltungen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften (Zweites Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs —2. SGBÄndG)— Drucksachen 12/5187, 12/6303, 12/6334, 12/6809, 12/7324 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heribert BlensWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Dann kommen wir unmittelbar zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat auch hier gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7324? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem ... Gesetz zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes— Drucksachen 12/4272, 12/6281, 12/6808, 12/7325 —Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter StruckWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat auch hier gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7325? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei drei Enthaltungen angenommen.Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Unterzeichnung der GATT-Schlußakte in MarrakeschNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. — Widerspruch dazu meldet sich nicht. Dann verfahren wir so.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Uruguay-Runde ist am 15. April erfolgreich beendet worden. 124 Verhandlungspartner haben in Marrakesch ihre Zustimmung zur Schlußakte gegeben. Das ist ein Meilenstein in der Handelspolitik. Mit einer neuen Rahmenordnung für den Welthandel sind wichtige Bedingungen zur Förderung von Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen gesetzt worden.Für Deutschland hat das Abkommen von Marrakesch eine herausragende Bedeutung. Die exportorientierte deutsche Wirtschaft —jeder dritte Arbeitsplatz in Deutschland hängt vom Export ab — wird von den Liberalisierungsfortschritten profitieren. GATT bleibt nicht mehr ein leerer Begriff. Die Vereinbarungen von Marrakesch haben eine Bedeutung für alle Menschen, auch in unserem Lande.
Alle, die geglaubt haben, sie könnten sich hinter den Mauern des Protektionismus verstecken oder sie könnten sich am Strukturwandel vorbeidrücken, haben sich geirrt. Der starke Zuspruch, den das GATT und die neu gegründete Welthandelsorganisation finden, zeigt deutlich: Die Länder dieser Welt wollen Freihandel, sie wollen sich dem Strukturwandel stellen. Denn sie wissen: Das ist der einzige Weg, um langfristig Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand zu sichern.
Der feierlichen Unterzeichnung vorausgegangen ist ein siebenjähriger Verhandlungsmarathon, ein Marathon mit vielen Schwierigkeiten und Hindernissen. Während dieser sieben Jahre haben sich tiefgreifende politische und auch wirtschaftliche Veränderungen ergeben. Dazu kamen Disparitäten, kam Streit zwischen den Verhandlungspartnern. Das war oft schwer zu überwinden. Wegen unseres elementaren Interesses an der Liberalisierung des Welthandels hat sich die Bundesregierung während der ganzen Verhandlungszeit auch in Brüssel mit Nachdruck für möglichst weitreichende Liberalisierungsschritte eingesetzt. Hierbei galt es, die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auszugleichen, möglichst ohne allzu großen Substanzverlust mit Blick auf die angestrebte Liberalisierung. Gerade in der Schlußphase der Verhandlungen im Dezember 1993 hat die Bundesregierung ganz wesentlich dazu beigetragen, den Abschluß der Uruguay-Runde überhaupt möglich zu machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19285
Bundesminister Dr. Günter RexrodtEs gelang mit Erfolg, gegensätzliche Auffassungen — insbesondere zu unseren französischen Partnern — zu überbrücken.Angesichts des schwierigen Verhandlungsverlaufs bin ich außerordentlich zufrieden, daß wir es geschafft haben, den Abschluß in dieser Qualität zu erzielen:Wir haben erstens weitgehende Liberalisierungsfortschritte auf vielen Feldern erreicht. So werden beim Marktzugang für Industriegüter die Zölle im Durchschnitt um mehr als ein Drittel gesenkt. Der durchschnittliche Zollsatz für industrielle Güter beträgt jetzt nicht mehr 6,3 %, sondern nur noch3,9%.Zweitens ist das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, das es nun erstmals in diesem Bereich gibt, ein herausragender Fortschritt. Es bringt weltweit geltende Verpflichtungen zur Gewährung von Meistbegünstigung, Marktzugang und Inländerbehandlung.Deutschland profitiert als viertgrößter Dienstleistungsexporteur der Welt von diesem Abkommen in ganz besonderer Weise. Dienstleistungen sind mit etwa einem Viertel an der deutschen Exportleistung beteiligt.Noch wichtiger ist ihr Beitrag für die Beschäftigung. Von den sieben Millionen Beschäftigten der deutschen Exportwirtschaft sind etwa ein Drittel im Dienstleistungssektor tätig. Der neue multilaterale Ordnungsrahmen wird den Dienstleistungsbereich mit den entsprechenden positiven Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung weiter voranbringen.
Wir haben drittens — das war dringend erforderlich — einen besseren Schutz geistigen Eigentums erreicht. Das Abkommen erweitert den Rechtsschutz und verbindet ihn erstmalig mit Vorschriften zur Durchsetzung dieser Rechte.Wir haben viertens im Textil- und Bekleidungshandel erreicht, daß dieser Bereich schrittweise über eine Reihe von Jahren in die GATT-Vereinbarungen, in die GATT-Regeln rückgegliedert wird. Das liegt im Interesse gleichermaßen der Industrieländer und der Entwicklungsländer.Wir haben fünftens im Agrarbereich erreicht, daß auch die Agrarproduktion und der Agrarhandel enger in das GATT integriert werden, an GATT herangebracht werden. Damit sind auch die Voraussetzungen für eine stärkere Marktorientierung dieses Wirtschaftssektors geschaffen.Last, but not least: Die neugegründete Welthandelsorganisation, WTO, wird zur Stärkung des multilateralen Handelssystems beitragen. GATT wird abgelöst, und an die Stelle von GATT tritt diese neue Welthandelsorganisation. Sie wird dazu beitragen, daß der mit der Uruguay-Runde zunächst zum Abschluß gebrachte Prozeß der Handelserleichterungen, der Zollsenkungen, der Verbesserungen bei Dienstleistungen, permanent in dieser Organisation vorangebracht werden kann und vollzogen wird.Noch wichtiger ist: Wir werden mit dieser Welthandelsorganisation erstmals auch ein funktionierendes Schlichtungsinstrument schaffen. Es wird im Welthandel dann weniger nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn" gehen. Wenn man tatsächlich oder mutmaßlich Handelsprobleme und Maßnahmen eines Landes hat hinnehmen müssen, reagiert man eben nicht mit Vergeltungsmaßnahmen. Vielmehr sollen in dieser internationen Schlichtungseinrichtung die Dinge möglichst in Reihe gebracht werden. Das ist ein ganz großer Fortschritt; das ist ein Durchbruch im Welthandel.
Ich darf hier noch anmerken, daß ich den Vorschlag gemacht habe, die WTO nach Bonn zu holen.
Das ist eine Idee, über die wir sprechen müssen, was wir vorbereiten müssen. Die Sitzfrage ist noch offen. Auch andere Staaten wie Schweden, Kanada und selbstverständlich die Schweiz, wo GATT jetzt mit dem Sekretariat ansässig ist, bemühen sich um die Ansiedlung der WTO.Ich meine aber, Bonn, eine Stadt im Herzen Europas mit herausragender Infrastruktur, wäre ein ernst zu nehmender Bewerber, wäre ein guter Bewerber. Mein Haus bereitet die Bewerbung vor.
Ich mache auch keinen Hehl daraus, daß mit der Uruguay-Runde nicht alle Probleme gelöst worden sind. Nachverhandlungen sind notwendig, und zwar in erster Linie bei Dienstleistungen, hier insbesondere bei den Finanzdienstleistungen, aber auch im Seeverkehr. Der audiovisuelle Bereich ist nicht abschließend geregelt. Wir werden uns über ein multilaterales Abkommen über Zivilflugzeuge und auch eine multilaterale Regelung für Stahl unterhalten müssen. Dies alles steht vor uns, kann aber den Wert von GATT und Marrakesch nicht schmälern.Lassen Sie mich auch ein kurzes Wort zu dem andauernden sogenannten Bananenkrieg sagen. Wir haben in Marrakesch erreicht, daß unsere deutsche Rechtsposition innerhalb der EG gewahrt bleibt. Das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ist nicht präjudiziert, es läuft weiter. Ganz kurz vor Unterschrift in Marrakesch hat einer unserer wichtigsten Partner mit seiner Unterschrift unter ein Abkommen über Regierungskäufe komplizierte Verknüpfungen unserer Bananenmarktregelung vorgenommen. Das haben wir abwehren können. Es war nicht einfach, ist dann aber doch gelungen. Das war jedenfalls ein Tatbestand, mit dem wir uns klar und eindeutig auf der Basis einer richtigen Position durchgesetzt haben.
Meine Damen und Herren, Sir Leon Brittan, der die Verhandlungen für die Europäische Union geführt hat, hat im Zusammenhang mit dem GATT-Abkommen von einer neuen handelspolitischen Vision gesprochen. Es kommt nun darauf an, diese handelspolitische Vision mit Lebenskraft zu erfüllen. Nur dann entfaltet sie konkreten Nutzen.
Metadaten/Kopzeile:
19286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Bundesminister Dr. Günter RexrodtEs ist zwar schwierig, den zu erwartenden wirtschaftlichen Gewinn zu quantifizieren; dennoch ist dies verschiedentlich versucht worden — mit eindrucksvollen Ergebnissen.Die OECD beziffert den Wohlfahrtsgewinn für die Weltwirtschaft nach Umsetzung der Liberalisierungsvereinbarung im Jahre 2002 auf ca. 270 Milliarden US-Dollar. Ferner erwartet das GATT-Sekretariat, daß der Welthandel in zehn Jahren als Folge der Uruguay-Runde um rund 755 Milliarden US-Dollar höher liegen wird als bei einer Fortführung des Status quo.Ich sage noch einmal, meine Damen und Herren: Die Ergebnisse der Uruguay-Runde werden für alle Teilnehmer, in den Entwicklungsländern und in der entwickelten Welt, von Nutzen sein. Ich sage das mit besonderem Blick auf unsere Partner in den Entwicklungsländern: Die Sicherung der Interessen der Entwicklungsländer bleibt eines der zentralen Verhandlungsergebnisse.
Vor allem in der neuen WTO werden wir die weitere Vertiefung der Integration der Entwicklungsländer in das multilaterale Handelssystem weiter verfolgen. Außerdem haben wir in Marrakesch gegenüber den Entwicklungsländern eine Verpflichtungserklärung abgegeben: Wir werden die Auswirkungen der Uruguay-Runde mit Blick darauf überprüfen, daß positive Maßnahmen zur Erreichung ihrer Entwicklungsziele unterstützt werden.Meine Damen und Herren, eine große Zahl von Ländern hat den Antrag auf Mitgliedschaft im GATT bzw. in der neuen Welthandelsorganisation gestellt. Dies ist ein untrüglicher Beweis für die Attraktivität des multilateralen Handelssystems. Es ist zugleich ein Beweis der Funktionsfähigkeit der WTO. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß diese Beitrittsverhandlungen jetzt aufgeschlossen und zügig vorankommen. Gerade die Länder des ehemaligen Ostblocks müssen eine Beitrittsperspektive haben.
Ihre Mitgliedschaft wird wesentlich zum Gelingen des strukturellen Reformprozesses beitragen.Auch zahlreiche neue komplexe und kontroverse Themenbereiche werden in Kürze auf der Agenda handelspolitischer Gremien stehen. Hierzu gehört das Spannungsverhältnis zwischen Handel und Umwelt. Handels- und Umweltpolitik sind eng miteinander verknüpft. So lassen sich viele Produkte weltweit kaum produzieren oder transportieren, ohne daß dies Auswirkungen auf die Umwelt hat. Umgekehrt kann nationale Umweltpolitik den internationalen Handel beeinflussen; denken wir an unterschiedliche Standards, die sich auf die Produktionskosten vor Ort auswirken. Das wird von einigen als Bedrohung empfunden. Sie sprechen sogar von Umweltdumping.Und nun wird mit der Einsetzung eines Ausschusses in der WTO — in Marrakesch so beschlossen — die Frage eines global wirksamen Umweltschutzes einen entscheidenden Schritt vorwärts machen. Wir haben dies so vereinbart und sehen in diesem Gremium eine geeignete Institution, um diese wichtigen Zusammenhänge zu diskutieren.Genauso spannungsgeladen und politisch hoch sensibel ist der andere Themenkomplex, Arbeits- und Sozialstandards. Meine Damen und Herren, niemand kann ausbeutende Kinderarbeit, Gefangenenarbeit und Zwangsarbeit akzeptieren. Wir müssen entschlossen darauf hinwirken, daß diese unerträglichen Zustände in der Welt überwunden werden.
Dazu brauchen wir Konsens, wir brauchen Kooperation und, wenn notwendig, auch politischen Druck.Aber, meine Damen und Herren, wir wollen keine neuen Barrieren schaffen, die den Kreislauf von Armut, Arbeitslosigkeit und Kinderarbeit weiter verstärken.
Wir wollen eine Diskussion im multilateralen Rahmen, in die alle Beteiligten ihre Beiträge einbringen. Ganz wichtig ist, daß diese Diskussion in den richtigen Gremien — in den Gremien der UN und der ILO, der Weltarbeitsorganisation, beispielsweise — stattfindet.
Diese Diskussion wird sicher auch die WTO beschäftigen. Sie darf aber nicht die zukünftige Arbeit der WTO dominieren oder gar lähmen.Und eines muß klar sein: Weder Umweltschutz noch Arbeits- und Sozialstandards dürfen zum Vehikel von Handelsbeschränkungen gemacht werden. Einige warten nur darauf, daß sie mit diesem Vehikel den Protektionismus in der Welt neu beleben können.
Wir würden alle daran Schaden nehmen, und gerade diejenigen würden Schaden nehmen, die die Umwelt- und Sozialstandards in der Welt verbessern wollen.Ein drittes wichtiges Thema betrifft die Schnittstelle zwischen Handels- und Wettbewerbspolitik. Grenzüberschreitende Investitionen sowie weltumspannende Aktivitäten von multinationalen Unternehmen entziehen sich oft der Kontrolle herkömmlicher Wettbewerbsvorschriften, obwohl sie häufig wettbewerbsverzerrende oder handelsbeschränkende Wirkungen haben. Wir können beobachten, daß der politische Druck wächst, auf diese Verzerrungen mit handelspolitischen Maßnahmen zu reagieren. Eine solche Entwicklung könnte die neuen GATT-Vereinbarungen und Konzessionen konterkarieren und entwerten. Deshalb sollte über das Ob und das Wie einer internationalen Wettbewerbsordnung bald gesprochen werden.Die Versuchung, sich einseitig Vorteile zu verschaffen und sich protektionistisch vor Wettbewerb zu schützen, wird es auch in Zukunft geben. Unsere Unterschrift unter das Uruguay-Abkommen und die Annahme der Erklärung von Marrakesch verpflichten uns, dieser Versuchung nicht nachzugeben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19287
Bundesminister Dr. Günter RexrodtMeine Damen und Herren, ich sehe es in der Zukunft wie auch in der Vergangenheit als meine vordringliche Aufgabe an, als deutscher Wirtschaftsminister dem Protektionismus entgegenzutreten, wo immer er sich zeigt.
In unserer Wirtschaftspolitik hat die Stärkung der deutschen Wettbewerbsposition auf den Märkten der Welt, insbesondere den boomenden Märkten in Asien beispielsweise, auch in Lateinamerika, großes Gewicht. GATT wird uns das leichter machen. GATT ist ein Beitrag zur Überwindung der Rezession und auch zur Lösung der Strukturprobleme. GATT wird dazu beitragen, daß in Deutschland neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen.Schönen Dank.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Kollege Professor Dr. Uwe Jens.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Abschluß der Uruguay-Runde ist zweifellos von außerordentlicher und langfristiger Bedeutung für die deutsche Wirtschaft. Die Sozialdemokraten begrüßen den Abschluß dieser Runde und die Gründung einer Weltorganisation durch den neuen GATT-Vertrag.
Der neue Hoffnungsschimmer für den Welthandel aus Marrakesch kommt aus meiner Sicht leider eineinhalb Jahre zu spät. Die Bundesregierung ist an der Verzögerung des Abschlusses der GATT-Verhandlungen leider nicht ganz unschuldig.
— Haben Sie sich beruhigt?
Immerhin sind durch den Exporteinbruch 1993 mindestens 100 000 hochqualifizierte Arbeitsplätze in der Exportindustrie verlorengegangen. In der Industrie insgesamt wurden 1993 600 000 Arbeitsplätze abgebaut. Wegen fehlender Inlandsaufträge wird es in diesem Jahr zu einem weiteren Abbau von 400 000 bis 500 000 Arbeitsplätzen kommen. Diese Angaben stammen nicht von einer böswilligen Opposition, wie Sie gern unterstellen würden, sondern vom Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Tyll Necker.
Für uns folgt daraus:
Erstens. Die Bundesregierung ist in der Gefahr, mit ihrer Schönrederei — wie in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre — in die bekannte Selbstgefälligkeit zurückzufallen.
Zweitens. Wir brauchen mehr als einen GATT-Abschluß. Wir brauchen dringend eine aktive Wirtschaftspolitik, die Investitionen und Innovationen voranbringt.
Die mögliche Steigerung des Bruttosozialprodukts in diesem Jahr von etwa 1 % hat weitgehend mit der Zunahme des Exportgeschäfts zu tun. Anders ausgedrückt: In unseren wichtigen Exportländern ist die konjunkturelle Entwicklung schon deutlich weiter vorangeschritten, so daß wir davon profitieren. Die deutsche Wirtschaft hinkt bei der Entwicklung hinterher, und das hat auch mit vielen handwerklichen Fehlern und — füge ich hinzu — mit ideologischen Verklemmungen in der deutschen Wirtschaftspolitik zu tun.
Herr Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rossmanith?
Bitte sehr.
Herr Kollege Jens, darf ich gerade daran anknüpfen: Heißt dies, daß Sie bereit wären, mit uns gemeinsam für eine Europäisierung der Exportbestimmungen für verteidigungspolitische und Verteidigungsprodukte, für wehrtechnische Produkte einzutreten?
Damit dieses Parlament etwas Glaubwürdigkeit behält, wäre ich dafür, daß wir bei dem bleiben, was vor etwa zwei Jahren Sozialdemokraten und F.D.P. auf diesem Felde beschlossen haben. Das ist dringend notwendig. Wir können auf diesem Felde nicht alle paar Jahre die Bestimmungen ändern. Das ergibt überhaupt keinen Sinn.
Ich darf hinzufügen: Wir Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, unterstützen natürlich die Bemühungen der Bundesregierung, die Welthandelsorganisation mit ihrem Hauptsitz nach Bonn zu holen. Ich erinnere jedoch daran: Das GATT-Sekretariat residiert seit langer Zeit in Genf, und die Nachfolgeorganisation wird mit hoher Wahrscheinlichkeit dort bleiben wollen. Diese Forderung ist deshalb leider ziemlich unrealistisch und wohl mehr auf den Wahlkampf gemünzt, auf die Beruhigung der Bürger im Bonner Raum gerichtet. So etwas, meine Damen und Herren, sollte man wirklich nicht machen.
Es ist aus unserer Sicht eine schlimme Sache, daß Bundeswirtschaftsminister Rexrodt den Amerikanern in Marrakesch in den Rücken gefallen ist.
Deutschland hat sich dagegen gewandt, daß soziale Mindeststandards, ich betone, soziale Mindeststandards im internationalen Handel eingeführt werden. Die Haltung des Bundeswirtschaftsministers hat vor allem mit einer Interessenvertretung der internationalen Konzerne zu tun.
Seine Sorge um zunehmenden Protektionismus, die er hier auch wieder zum besten gegeben hat, klingt leider ziemlich hohl.
Auf Märkten, auf denen große Wirtschaftskonzernedominieren, gibt es in Europa erheblichen Protektio-
Metadaten/Kopzeile:
19288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Uwe Jensnismus. Diesen Protektionismus in Europa zu verringern, das würde den Entwicklungsländern helfen. Dagegen sollte Wirtschaftsminister Rexrodt einmal effektiver zu Felde ziehen, meine Damen und Herren.
Bei der Forderung nach ökologischen Mindeststandards geht es auch nicht darum, den anderen Handelspartnern unsere Umweltstandards aufzuzwingen. Das hätte ich, wie DIHT-Präsident Stihl, auch nicht gewollt, dagegen hätte ich auch erhebliche Bedenken. Ganz dringlich ist auf diesem Felde jedoch ein Verbot ozonzerstörender Stoffe. So etwas läßt sich eben nicht mehr national regeln, sondern das muß weltweit geregelt werden.
Da muß mehr Druck erzeugt werden, Graf Lambsdorff.
Die extreme Ausbeutung der Erde, insbesondere auch durch die Rohstoffproduktion, erfordert eine gegenseitige Unterstützung von Umwelt- und Handelsrecht. Der internationale Handel muß wesentlich stärker als bisher zu einer nachhaltigen und zukunftsverträglichen Entwicklung der Weltwirtschaft beitragen. Gerade durch die Internationalisierung der nationalen Umweltbestimmungen sorgen wir für gerechtere internationale Handelsbeziehungen.Meine Damen und Herren, auf dem Wege zu einer einheitlichen Weltwirtschaftsordnung ging es zunächst um die Bekämpfung von Zöllen und Kontingenten. Nach dem neuen GATT-Vertrag gibt es erste Regelungen über Subventionen, Dienstleistungen und der Verwendung des geistigen Eigentums. Alles sehr vernünftig.Mit sogenannten bilateralen freiwilligen Selbstbeschränkungsabkommen werden jedoch laufend neue Handelshemmnisse errichtet, ein handelspolitischer Unsinn, der vor allem von der Kommission der Europäischen Union praktiziert wird. In Zukunft geht es um den Aufbau sozialer und ökologischer Mindestnormen. Das NAFTA-Abkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko hat die Weichen hierfür bereits gestellt.Wir brauchen aus sozialdemokratischer Sicht ferner mehr Ordnung im internationalen Währungsgeschehen, vielleicht nach dem Vorbild des Plaza-Abkommens. Wir brauchen die Errichtung einer internationalen Wettbewerbsordnung mit Bestimmungen, wie wir sie in unserem deutschen nationalen Kartellrecht kennen. Wir brauchen eine effektivere Handelspolitik der Bundesregierung. Auf diesem Felde gibt es leider Versäumnisse und sind von der Bundesregierung aus meiner Sicht auch schwerwiegende Fehler gemacht worden.
Eine Neugestaltung der Außenhandelspolitik erfordert z. B., daß die Wirtschaftsabteilungen an den deutschen Botschaften noch kompetenter besetzt werden. Da gehören keine Juristen hin, sondern Ökonomen oder Frauen und Männer mit praktischen Erfahrungen aus der Wirtschaft.
Sie müssen auch Anlaufstation für investitionswillige kleine und mittlere Unternehmen sein. Wir brauchen in zukunftsträchtigen Weltregionen deutsche Außenhandelsrepräsentanzen. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben so etwas in Singapur errichtet. Vergleichbares in anderen Ländern wäre erforderlich. Aber das ist eben keine Aufgabe der Bundesländer, sondern dies ist eine Aufgabe der Bundesregierung.
Wir benötigen die Errichtung von sogenannten Handelsentwicklungsgesellschaften vor allem in Osteuropa und in den ehemaligen GUS-Staaten. Warum greift die Regierung nicht unseren Vorschlag auf, den Außenhandelskammern oder den Delegierten der deutschen Wirtschaft bewährte Fachkräfte hinzuzufügen, die sowohl Finanzierungs- als auch Vermittlungsaufgaben übernehmen?
Was von der Opposition kommt, ist nicht grundsätzlich falsch, wie Sie immer gerne behaupten.
Ich sage Ihnen auch: Der Verkauf des ICE an Korea ist auch deshalb nicht zustande gekommen, weil die deutsche Wirtschaftspolitik immer noch der Ideologie anhängt: Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht.
Wichtige Konkurrenten sehen das in der Außenwirtschaftspolitik grundlegend anders. Die Sozialdemokraten würden gerade auf diesem Felde die Weichen neu stellen.
— Beruhigen Sie sich wieder.
Meine Damen und Herren, zur Zeit ist es so, daß Sozial- und Umweltgesetze, die aus dem Kapitalismus eine zivilisierte soziale Marktwirtschaft machen, nur in den Grenzen der Nationalstaaten gelten.
Herr Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weng?
Frau Präsidentin, ich möchte erst den Gedanken abschließen.Die Großwirtschaft in Deutschland ist jedoch längst international organisiert und läßt sich durch nationale Gesetze in ihrem Expansionsdrang nicht mehr bremsen. Die Großunternehmen produzieren dort, wo die Löhne und Steuern am niedrigsten sind, wo das Kapital am billigsten ist.Weil wir jedoch nicht zurück in den ungezähmten Kapitalismus wollen, geht es jetzt um nichts Geringe-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19289
Dr. Uwe Jensres als um den Aufbau einer Weltsozial-, Weltumwelt- und Weltwettbewerbsordnung.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Weng.
Herr Kollege Jens, geben Sie mir mit Blick auf die Situation des ICE in Korea recht, daß eine politische Flankierung, daß eine diplomatische Unterstützung vor Ort völlig sinnlos wird, wenn die Präsentation katastrophal ist?
Herr Weng, ich will ja nicht immer widersprechen. Natürlich gehört beides zusammen. Aber daß die Präsentation katastrophal war — ich habe mich auch ein bißchen darum gekümmert —, kann man wahrlich nicht sagen. Vielleicht besprechen Sie das einmal mit der Firma Siemens und den anderen Beteiligten.
— Man muß nicht immer alles glauben, was man erzählt bekommt.
Die Interessenvertretung durch die Bundesregierung war in diesem Fall nicht so, wie es hätte sein müssen. Andere Länder haben auf diesem Felde mehr getan.
Zusatzfrage, Herr Weng.
Herr Kollege Jens, natürlich muß man nicht alles glauben, was man gesagt bekommt. Aber das, was man sieht, wird man ja glauben dürfen. Ich habe einen Teil der Präsentation gesehen, und dieser war katastrophal.
Herr Hinsken.
Herr Professor Jens, sind Sie mit mir der Meinung, daß es besser ist, wenn sich die Wirtschaft selbst um die Wirtschaft kümmert, statt daß wirtschaftspolitische Programme in den Parteizentralen geschrieben werden?
Ich verstehe das nicht ganz.
Dann bin ich gern bereit, meine Frage zu wiederholen, weil ich oftmals gerade aus Ihrer Parteizentrale von wirtschaftspolitischen Konzepten höre, die nicht funktionieren.
Wirtschaftspolitische Parteiprogramme werden in Ihrer Parteizentrale geschrieben, werden bei uns geschrieben, werden bei der F.D.P. geschrieben. Ich darf Ihnen sagen: Wir haben einen hervorragenden Kontakt zur deutschen Wirtschaft. Wir pflegen ihn systematisch. Nach vielen Gesprächen, auch strittigen Diskussionen, über die Sie sich ja immer so gern aufregen, formulieren wir dann das, was wir aus unserer Sicht als Sozialdemokraten für richtig halten. Das wird dann zum Programm gemacht. Wir sind gerade dabei. Sie können gern daran mitwirken, Herr Hinsken.
Zusatzfrage.
Herr Professor Jens, die Antwort befriedigt mich natürlich in gar keiner Art und Weise. Ich meine, wir sollten der Wirtschaft soviel Freiraum wie irgend möglich geben, damit sie sich entfalten kann. Ich halte es immer für schlecht, wenn über Parteizentralen versucht wird, auf die Wirtschaft Einfluß zu nehmen, besonders dann, wenn es so verschrobene Programme sind, die oft speziell aus Ihrer Zentrale kommen.
Das war eine Feststellung. Vielleicht bekommen Sie eine Redezeit; dann können Sie sie wiederholen. Ich halte sie für grundlegend falsch, Herr Hinsken.
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Die Haltung dieser Bundesregierung, gerade im Bereich sozialer und ökologischer Mindeststandards nichts zu tun, ist aus sozialdemokratischer Sicht unakzeptabel. Der amerikanische Vizepräsident Al Gore hat natürlich recht, wenn er sagt — ich zitiere —: „Ein weltweites Handelssystem, das nicht danach strebt, Ausbeutung abzuschaffen, wird letztlich zugrunde gehen. "
Wir Sozialdemokraten unterstützen die Amerikaner, und wir unterstützen Al Gore. Wir werden uns mit aller Kraft für den Aufbau einer sozialen und ökologischen Weltmarktwirtschaft einsetzen. Der Abschluß der GATT-Verhandlungen in Marrakesch war ein Trippelschritt auf diesem Wege. Weitere Schritte müssen ganz dringend folgen. Wir werden die Regierung ständig in diese Richtung drängen.
Schönen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Peter Kittelmann.
Metadaten/Kopzeile:
19290 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde und den Unterschriften unter die Schlußakte in Marrakesch sowie der hoffentlich baldigen Ratifikation beginnt, so hoffe ich, eine neue Ära in der internationalen Handelspolitik. Die Uruguay-Runde ist die bis heute erfolgreichste GATTRunde. Sie kann — da stimme ich Ihnen zu, Herr Minister Rexrodt — ein Meilenstein in der Geschichte der Liberalisierung des Welthandels genannt werden. Sie wird sich hoffentlich als ein solcher erweisen.Nach der schweren Weltrezession und auch einer hausgemachten Rezession in Europa ist der GATTErfolg ein Stück Hoffnung zur rechten Zeit. Wir hoffen, daß die vielen Prognosen, die gestellt werden, zutreffen, daß der GATT-Abschluß das größte Weltkonjunkturprogramm ist, das jemals aufgelegt wurde.Meine Damen und Herren, wir kennen die Prognosen. OECD und Weltbank beziffern die jährlichen Wohlfahrtsgewinne auf über 300 Milliarden Dollar. Handel und Beschäftigung werden in den nächsten Jahren spürbar zunehmen, und Millionen neuer Arbeitsplätze können geschaffen werden. Reale Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung ergeben sich auch in den Entwicklungsländern, für Europa unübersehbare Vorteile. Die Kommission der Europäischen Union schätzt, daß sich das Einkommen der Europäer um knapp 130 Milliarden jährlich steigern kann. Wir hoffen, daß gerade auch Deutschland als größte europäische Exportnation seine Chancen nutzen wird und davon besonders profitiert.Mögen auch alle Vorhersagen so nicht zutreffen -wir erinnern uns an die Vorhersagen des CecchiniReports —, so ist aber eines sicher: Gäbe es das GATT nicht, würden in Zukunft Schwierigkeiten, die immer wieder neu entstehen werden, schwerer zu meistern sein als im Rahmen der GATT-Runde. Das ist der große Erfolg, den wir miteinander feiern können.
Der Sprecher der Sozialdemokraten hat soeben — Uwe Jens, Sie nehmen es mir nicht übel — relativ kleinkariert, wohl aus der Pflichtübung der Opposition heraus, Kritik geübt.
Ich möchte deshalb um so herzlicher für die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion — ich glaube, für die Koalition — meinen herzlichen Dank an die Bundesregierung für das hervorragende Ergebnis aussprechen.
Ohne das außerordentliche Engagement von Bundeskanzler Helmut Kohl, der sich ganz persönlich bis zuletzt in die Verhandlungen eingeschaltet hat,
wäre das Abkommen in der vorliegenden Form nicht zustande gekommen.
Das gilt vor allen Dingen auch für den Beitrag in der Agrarpolitik.Mein besonders herzlicher Dank gilt für die CDU/ CSU aber Ihnen, Herr Minister Rexrodt.
Ich darf bei der Gelegenheit darum bitten, daß Sie den unzähligen Beamten, die in den letzten Monaten und Jahren unwahrscheinlichen persönlichen Einsatz geleistet haben, Dank — ich bin sicher, im Namen des ganzen Hauses — abstatten.
— Da könnten die Sozialdemokraten ruhig mitklatschen; der eine oder andere ist Sozialdemokrat.Für die Bundesregierung reiht sich der GATT-Erfolg in eine Vielzahl spektakulärer Erfolge ein. Ich nenne: die Vereinigung Deutschlands im Einvernehmen mit unseren europäischen Partnern, die Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht, die Erweiterung der Europäischen Union um Norwegen, Finnland, Schweden und Österreich. Hinzufügen möchte ich die Ansiedlung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und die Erhöhung der deutschen Mandatszahl im Europaparlament auf nunmehr 99 Abgeordnete —
und jetzt der große Erfolg in der GATT-Runde. Die Bundesregierung hat international eine erfolgreiche Politik betrieben, die wir außerordentlich begrüßen und für die wir dankbar sind.
Die Mitgliedschaft der vier Beitrittskandidaten in der Europäischen Union ist auch für das GATT außerordentlich wichtig. Deshalb möchte ich hier heute die Gelegenheit nutzen, auf die besonderen Sorgen hinzuweisen, mit denen wir der Abstimmung im Europäischen Parlament am 4. Mai über die Erweiterung um die vier Beitrittskandidaten entgegensehen. Ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion — aber ich bin sicher, auch im Namen aller Fraktionen in diesem Hause — nochmals die Erwartung zum Ausdruck bringen, daß das Europäische Parlament diese historische Chance nutzt, die Zustimmung zum Beitritt zu geben. Jede Form von Verschiebung oder Nichtentscheidung wäre von einem unübersehbaren Schaden für die europäische Entwicklung. Ich bin sicher, daß das Europäische Parlament die Kraft aufbringen wird, dem Beitritt am 4. Mai — trotz der verständlichen Verärgerung über einzelne Detailpunkte — zuzustimmen.Der GATT-Erfolg ist auch ein Erfolg für Europa. Er ist ein deutliches Bekenntnis der Europäischen Union zur Weltoffenheit des Gemeinsamen Marktes. Europa ist eben doch keine Festung. In dem harten GATT-Verhandlungspoker zeigte sich glücklicherweise auch viel europäische Solidarität. Die einzelnen Mitgliedstaaten waren trotz Meinungsunterschieden bereit, die für den Erfolg nötigen Kompromisse einzugehen. Gemeinsam wurde das für die Europäische Union bestmögliche Verhandlungsergebnis erzielt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19291
Peter KittelmannDer große Erfolg der Uruguay-Runde liegt vor allem darin, daß auch solche Bereiche in die Welthandelsordnung einbezogen wurden, die bisher bevorzugte Tummelplätze für Protektionismus waren und als unfaire Handelspraktiken immer wieder für Schlagzeilen sorgten. Ich denke hier an den Schutz des geistigen Eigentums sowie die Einbeziehung der Dienstleistungen in die GATT-Disziplin. Auch ist es nach schwierigen Verhandlungen gelungen, den Agrarbereich grundsätzlich in das Gesamtwerk einzubeziehen.Besondere Anerkennung — Herr Minister, Sie haben im einzelnen begründet, warum das wichtigist — gilt der Schaffung der Welthandelsorganisation WTO. Bisher hatte das GATT leider keine eigene Rechtspersönlichkeit, und seine Entscheidungen waren nicht justitiabel. Der GATT-Abschluß ist allein schon deswegen ein Riesenerfolg, weil mit der Schaffung der WTO ein Provisorium beendet wird, welches das GATT seit 1948, seit seiner Gründung, prägte.Die CDU/CSU benutzt ausdrücklich auch hier die Gelegenheit, Ihre Bemühung, Herr Minister, zu unterstützen, die WTO nach Bonn zu holen.
Ich finde, Herr Jens, auch Sie sollten dies unterstützen;
denn wir sind ja gemeinsam bemüht, im BerlinBonn-Ausgleich Initiativen zu entfalten.
Ohne Illusionen zerstören zu wollen, muß allerdings festgestellt werden, daß mit der Schaffung der WTO noch kein endgültiger Sieg über den Protektionismus erreicht ist.
Die Gefahr von Abschottung und Handelskriegen ist auch nach der Uruguay-Runde nicht gebannt. Es gibt keinen Grund, sich nach Marrakesch auf den Lorbeeren auszuruhen.
Ein Beispiel dafür ist die verstärkte Drohung der USA mit dem Abschnitt 301 ihres Handelsgesetzes, dem Super-301, wie er so schön genannt wird. Die Vereinigten Staaten müssen sich fragen lassen, ob diese Regelungen noch zeitgemäß sind. Es ist auch die Frage, ob die Europäische Union ihrerseits gut beraten ist, darauf mit neuen handelspolitischen Instrumentarien zu antworten. Man schaukelt sich weiterhin gegenseitig hoch, und wir als Politiker verfolgen, wie Administration und Bürokratie Maßnahmen ergreifen, die sich letztlich zuungunsten aller auswirken.
Besonders besorgniserregend ist die Handhabung der Abkommen über sogenannte freiwillige Exportselbstbeschränkung. Solange ich im Deutschen Bundestag bin — das sind nun schon einige Jahre —, habe ich verfolgt, wie wir diese besondere Form des Protektionismus geißeln. Der rasche Anstieg der Anti-Dumping-Verfahren und die deutliche Verschärfung der Ursprungsregeln sind weitere Beispiele für diese Erkenntnis.Eine Gefahr für den Welthandel kann auch von der zunehmenden Regionalisierung und Blockbildung ausgehen. Weder die NAFTA, die Nordamerikanische Freihandelszone, noch die asiatisch-pazifische Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet, APEC, noch der südostasiatische Zusammenschluß ASEAN wollen mehr Protektionismus. Das sind vielmehr notwendige Zusammenschlüsse, die von der erfolgreichen Politik der Europäischen Union abgeschaut wurden. Wir müssen aber gemeinsam aufpassen — Europa ist da besonders gezwungen, Vorbild zu sein —, daß nicht die Neigung in diesen Organisationen besteht, Abschottung zu betreiben.Daß es in der Praxis immer wieder zu Diskriminierung, Abschottung und anderen GATT-Widrigkeiten kommt, zeigt auch die bereits erwähnte, 1993 vereinbarte Marktregelung für Bananen. Die Bananenmarktregelung hat sich auf vielfache Weise als kostspieliger ökonomischer Irrweg erwiesen. Nun kann man sich fragen: Gibt es keine anderen Probleme in Deutschland und Europa zu diskutieren, als gerade die Bananenmarktregelung? — Es ist deshalb wichtig, daß sie wieder aufgehoben wird, weil an ihr auch der einfache Bürger, der über die komplizierten Vorgänge nicht so informiert ist, nachempfinden kann, wie protektionistisch die Europäische Union ist. Wir bedanken uns bei der Bundesregierung und ermuntern Sie, Herr Minister Rexrodt, hier weiter konsequent die Abschaffung dieser Regelung zu betreiben.
Der Deutsche Bundestag wird sich auf Grund des Vertrages von Maastricht zur Europäischen Union in Zukunft noch öfter und viel intensiver mit europäischen Angelegenheiten befassen können. Der neu geschaffene Art. 23 GG gewährt dem Parlament wesentliche Informations-, Mitwirkungs- und Kontrollrechte in Angelegenheiten der Europäischen Union. — Es ist den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu raten, die Chancen, die sich daraus ergeben, zu nutzen, im Vorfeld von Entscheidungen der Bundesregierung ein Mitspracherecht zu haben. Wenn wir die Chancen nicht nutzen, sind wir selber schuld und haben den Anspruch verwirkt, darüber zu klagen, daß wir nicht beteiligt werden.
Das Parlament kann sich noch stärker als bisher mit Handels- und Außenwirtschaftspolitik beschäftigen. Dies gilt auch für die Bereiche des GATT.Eine weitere zentrale Aufgabe der Handelspolitik der Union wird die Marktöffnung gegenüber Mittel-und Osteuropa sein. Die Hilfe und Unterstützung beim wirtschaftlichen Aufbau und die Integration
Metadaten/Kopzeile:
19292 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Peter Kittelmanndieser Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft sind außerordentlich wichtig. Mit Ungarn, Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei wurden zwar Europaabkommen geschlossen und Handelsvergünstigungen gewährt; aber der Marktzugang der mittel- und osteuropäischen Staaten bleibt gerade dort begrenzt, wo diese konkurrenzfähig sind, z. B. bei Textil-, Bekleidungs-, Stahl- und Agrarprodukten.Die zögerliche Marktöffnung der Europäischen Union ist bedenklich, zumal die Europäische Union ihrerseits erheblich von den neuen Märkten in Mittel- und Osteuropa profitiert. Die Gemeinschaftsexporte sind drastisch angestiegen. Aus dem jahrzehntelangen Defizit im Osthandel der Europäischen Union ist längst ein Überschuß geworden. Es geht deshalb darum, daß wir diesen Ländern helfen, ihre Produkte bei uns abzusetzen. Wir müssen alles tun, um zu erreichen, daß hier ein vernünftiger Handelsausgleich geschaffen wird. Das, was wir bis jetzt machen, ist zu verurteilen. Wir müssen diese Politik in der Europäischen Union dringend ändern.
Die europäische Außenwirtschaftspolitik kann sich nicht in Besitzstandswahrung erschöpfen. Die Beschlüsse des Europäischen Rates von Kopenhagen über Marktöffnung, politischen Dialog und Beitrittsperspektive müssen konsequent verwirklicht werden, auch wenn es manchmal unbequem ist.Meine Damen und Herren, das GATT ist schon immer eine Verpflichtung gewesen. Solange allerdings der politische Wille zur Überwindung des Protektionismus nicht bei uns allen wirklich vorhanden ist — vor allen Dingen da, wo es uns schwerfällt—, wird das GATT letztlich nur eine Herausforderung sein, die nicht angenommen wird.Schönen Dank.
Als nächster spricht Dr. Otto Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nachdem der Kollege Jens vorhin gemeint hat, Juristen taugten nichts für die Wirtschaftsförderung und Wirtschaftspolitik, habe ich einen Augenblick überlegt, ob ich überhaupt reden darf. — Doch? Einverstanden? — Vielen Dank, das ist nett.
— Ich habe überhaupt nichts gegen Professoren. Und nachdem er mir gerade zugerufen hat, ich sei kein richtiger Jurist mehr, rede ich hier als falscher.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir bitte zu diesem Thema ausnahmsweise eine sehr persönliche Einleitung: Seit ich wirtschaftspolitisch überhaupt denken kann, bin ich Freihändler. Das war und ist einer der Gründe, warum ich Liberaler bin und warum ich 1951 zur F.D.P. gestoßen bin.
Ich freue mich darüber, daß es für das System des weltweiten Freihandels auch in anderen politischen Lagern, national und international, immer wieder Helfer und Befürworter gegeben hat, auch in diesem Hause.
Meine Damen und Herren, wer im Deutschen Bundestag könnte eigentlich anders als freihändlerisch denken, wenn er an unsere Exportabhängigkeit und an unsere Arbeitsplätze denkt?
Ich habe in meiner Amtszeit als Bundeswirtschaftsminister an der Umsetzung der Tokio-Runde des GATT mitarbeiten dürfen. — Dies ist ja die dritte: Kennedy, Tokio, Uruguay. — Es war auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1978 in Bonn, als wir die TokioRunde mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter und seinem Handelsbeauftragten Bob Strauss ein gutes Stück voranbringen konnten.
Ich wünsche dem Präsidenten Clinton und seinem Handelsbeauftragten, Mickey Kantor, eine ähnlich glückliche Hand, wie sie damals Carter und Strauss bewiesen, als es darum ging, die Zustimmung des Kongresses zum Verhandlungsergebnis — diesmal also zur Uruguay-Runde — zu erreichen. Nach dem NAFTA-Erfolg von Bill Clinton habe ich das volle Vertrauen in den amerikanischen Präsidenten, daß er das schafft.
Ich weiß nicht, was Ihre Bemerkung zur NAFTA vorhin bedeuten sollte, Herr Jens. Solange solche regionalen Zusammenschlüsse in Übereinstimmung mit Art. XXIV des geltenden GATT-Vertrags stehen, sollten sie von uns akzeptiert und begrüßt werden, genauso wie die Europäische Gemeinschaft mit dem GATT konform gewesen ist und heute noch ist.
Frau Präsidentin, wenn der Kollege Jens etwas fragen will, dann sollte er es jetzt tun, sonst bin ich in einem neuen Gedankenansatz.
Herr Kollege Jens.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. — Ich wollte den Kollegen Lambsdorff nur fragen, ob er meiner Meinung ist, daß es gut ist, daß im NAFTAVertrag Regeln gegen Sozialdumping und gegen Umweltdumping enthalten sind. Das ist der erste Vertrag, der dies regelt. Meine Ansicht ist, daß wir diese Sache zum Anlaß nehmen müssen, das auch weltweit im GATT-Vertrag zu regeln.
Entschuldigung, wenn ich unterbreche. Ich komme noch zu dem Thema. Natürlich spielt es eine Rolle.Meine Damen und Herren, es war ein Liberaler, es war Martin Bangemann, der 1986 in Punta del Este maßgeblich zum Start der Uruguay-Runde beigetragen hat. Diese Runde hat zum ersten Mal erreicht, daß sich die Entwicklungsländer an einer Verhandlungsrunde des GATT beteiligten. Welch ein Wandel, wenn ich an die fruchtlosen Diskussionen der 60er und 70er Jahre über die sogenannte New Economic World
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19293
Dr. Otto Graf LambsdorffOrder zurückdenke. Jetzt dürfen wir aber die Entwicklungsländer keinesfalls enttäuschen.Von 1986 bis 1991 haben Handelspolitiker aus 13 Ländern versucht, den Verhandlungen der Uruguay-Runde politischen Rückenwind zu geben. Ich nenne nur zwei. Mike Moore, der spätere Labour-Ministerpräsident von Neuseeland, war einer der Initiatoren. Peter Sutherland, heute Generaldirektor des GATT, gehörte dazu. Wir saßen bitter enttäuscht am Abend des 7. Dezember 1990 in Brüssel, als EG und USA nicht imstande waren, einen Kompromiß zu finden. — Da haben Sie recht, Herr Jens, das hätte damals bei etwas mehr Kompromißbereitschaft gelingen können. Deswegen hat es so lange gedauert. Ich will jetzt aber nicht nachkarten, an wem es lag. Ende gut, alles gut. Zu diesem Ende haben die Bundesregierung und vor allem Bundesaußenminister Kinkel und Bundeswirtschaftsminister Rexrodt maßgeblich beigetragen.
Die F.D.P. fand es sehr fair, Herr Kittelmann, daß Sie die Bundesregierung insgesamt, den Außenminister, den Wirtschaftsminister und natürlich auch den Bundeskanzler, erwähnt haben. Ich finde, bei einem Einsatz, der so im Interesse der Deutschen liegt, könnte sich vielleicht auch die SPD-Opposition zu einer freundlicheren Haltung durchringen.
Dieser Einsatz hilft unseren Menschen, er hilft den Menschen in den Ländern der Dritten Welt und hat zur Stärkung des internationalen Ansehens der Bundesrepublik Deutschland beigetragen.Unser Dank sollte aber nicht nur Ministern gelten. Seit sieben Jahren leitet Peter Witt, aus dem Bundeswirtschaftsministerium abgeordnet, die deutsche Vertretung beim GATT in Genf. Er hat sich in dieser Zeit durch sorgfältige Berichterstattung und diskrete, wirkungsvolle Einflußnahme auf die Arbeiten des GATTSekretariats persönliche Verdienste um dieses Ergebnis erworben.Herr Rexrodt, ich schließe mich all dem an, was zu dem wirklich glänzenden Vorschlag gesagt worden ist, die WTO nach Bonn zu holen.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. ist die Partei des Freihandels, nicht aus Ideologie oder Dogmatismus, sondern weil wir wissen, daß der ungehinderte Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital bei richtig gesetzten Rahmenbedingungen den Wohlstand aller Beteiligten fördert:
Wer Handel treibt, kann die wechselseitigen Vorteile besser nutzen. Internationale Arbeitsteilung erhöht die Effizenz und die Leistungsfähigkeit. Internationaler Wettbewerb begrenzt Macht, und mehr Wettbewerb erhöht den Druck auf Innovation und Fortschritt.Das Genfer GATT-Sekretariat hat neue, überarbeitete Zahlen zur Wirkung des GATT-Abschlusses vorgelegt, die OECD ebenfalls; Herr Rexrodt hat sie zitiert. Man mag diese Zahlen hinterfragen, aber die darin ausgedrückte Tendenz ist richtig. Ein größeres Welthandelsvolumen, größere Produktauswahl und niedrigere Preise sind die Trophäen dieser GATT-Runde.
Sicherlich fallen viele dieser Gewinne erst mittelfristig an, aber die Hoffnungen auf sie und die Beseitigung der Unsicherheit über die Zukunft des Welthandels haben jetzt schon Wirkung. Sie stärken das Vertrauen von Verbrauchern und Investoren in den weltwirtschaftlichen Aufschwung, und damit leisten sie auch für uns zu diesem Zeitpunkt einen konjunkturpolitischen Beitrag.Der Abschluß der Handelsrunde im Dezember 1993 war sicherlich mühsam. Er war wohl eher ein Erschöpfungssieg als ein Triumph. Aber nach ausführlicher Analyse, Herr Jens, kann ich Ihrer Bewertung, dies sei ein Trippelschritt, nun wahrlich nicht folgen. Dies ist ein Quantensprung der Handelspolitik, vor allem wegen der Ausdehnung auf die vielen neuen Bereiche, die bisher der GATT-Disziplin überhaupt nicht unterworfen waren.
Der Abschluß der Runde ist nicht nur ein Durchbruch für den Freihandel. Es ist mehr erreicht worden. Das GATT hatte 1947 23 Gründungsmitglieder. Deren Ziel war es, den Ausbruch von Handelskriegen als Vorstufe internationaler Konflikte zu vermeiden. Zum modernen GATT von heute war es ein weiter Weg. Fast 120 Vertragsparteien haben jetzt der Schlußakte zugestimmt. Von den großen Nationen sind lediglich Rußland und China noch nicht GATT-Mitglied. Sie waren allerdings durch einen Sonderstatus bei den Verhandlungen vertreten. Damit erhält das GATT einen ganz neuen Stellenwert im Verhältnis zu den anderen großen multilateralen Organisationen.Seit der GATT-Gründung im Jahre 1948 — das wissen wir alle — hat sich das Gesicht der Welt entscheidend verändert. Das GATT gibt jetzt eine mutige Antwort auf die veränderte Welt am Ende des 20. Jahrhunderts.Mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs hat sich die Globalisierung der Weltmärkte verstärkt. In Osteuropa entstehen neue Handelsnationen für den Weltmarkt, die einerseits hochwertige Rohstoffe, intelligente Ingenieurleistungen und billige Löhne als Kapital einbringen. Andererseits sind sie neue Märkte für diejenigen, die den Nachholbedarf an Konsum- und Investitionsgütern befriedigen können, auch für uns. In Lateinamerika, aber vor allem in Südostasien drängen neue Länder auf den Weltmarkt. Sie erreichen nicht nur mit billigen Produkten Handelsvorteile. Zunehmend machen sie den traditionellen Industrieländern mit qualitativ hochwertigen Gütern und attraktiven Dienstleistungen Konkurrenz. Denken Sie
Metadaten/Kopzeile:
19294 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Otto Graf Lambsdorffz. B. an den Dienstleistungssektor in Indien! Die Entwicklung von Gütern und Dienstleistungen und ihre Herstellung sind weltweit mobiler geworden. Die internationale Arbeitsteilung definiert sich neu. Die Triade USA, EG, Japan wird multilateraler.Der Globalisierung der Märkte muß die Globalisierung der Welthandelsordnung folgen. Der erfolgreiche Abschluß der Uruguay-Runde des GATT und seine Weiterentwicklung in eine internationale Wettbewerbsordnung sind die richtige Antwort auf diese Herausforderung. Deswegen begrüßt die F.D.P. die Gründung einer neuen Welthandelsorganisation, der WTO. Sie ist konsequent. Sie schafft ein permanentes handelspolitisches Forum, das die Einhaltung der verschiedenen Vertragstexte überwacht. Sie wird den kontinuierlichen Prozeß für mehr freien Handel von Gütern und Dienstleistungen weiter vorantreiben.Nach meiner Überzeugung gehört es zu den wichtigsten Ergebnissen und Erfolgen der Uruguay-Runde, daß wir uns über eine verbesserte Streitschlichtung geeinigt haben. Das verbessert die Überwachung des Abkommens und steigert damit seine Wirksamkeit. Das gehört zu den konkreten Schritten, die getan werden müssen, um aus dem GATT eine internationale Wettbewerbsordnung zu entwickeln.Meine Damen und Herren, mit der Unterzeichnung des GATT-Vertrages in Marrakesch und dem Abschluß der Uruguay-Runde sind allerdings nicht alle internationalen handelspolitischen Konflikte über Nacht verschwunden. Zur Champagnerlaune ist nur kurzfristig Anlaß. Es sind noch zentrale Punkte offen.Was wird — Herr Kittelmann hat das zu Recht gefragt — aus Super-301, der superprotektionistischen Strafregel der USA? Sie paßt nicht ins GATT, sie muß abgeschafft werden.
Es wäre aber falsch — ich stimme Herrn Kittelmann ausdrücklich zu —, wenn jetzt das Handelsinstrumentarium der EG verschärft würde und gar von der Kommission allein benutzt werden könnte. Dann würde sich die Spirale zum Handelskrieg weiter drehen.Wie ist der bilaterale Konflikt zwischen den USA und Japan zu beurteilen? Halbleiterabkommen und Motorola-Abkommen sind bilaterale Vereinbarungen, sie passen nicht in ein multilaterales Handelssystem. Sind bilaterale Handelsabsprachen überhaupt GATT-konform, und, wenn nicht, wie sind sie zu ahnden? Welchen Wert hat das GATT bei der Aufhebung eines protektionistischen Fehltritts — das ist eine sehr freundliche Bezeichnung — der EG, bei der Bananenmarktordnung?Wie behandelt man eine mögliche GATT-Mitgliedschaft Chinas? Wir sind für die Mitgliedschaft Chinas im GATT unter zwei Voraussetzungen: Die Klubregeln sind anzuerkennen — wer Mitglied des Klubs werden will, muß auch seine Regeln anerkennen —, und Taiwan darf nicht ausgeschlossen werden.
Wie behandelt man soziale Zielsetzungen und Umweltzielsetzungen im GATT? Zwischen Worten in Marrakesch und Taten danach dürfen, bitte schön, keine Welten liegen.
Mit der Uruguay-Runde ist es gelungen, viele kleinere Staaten und Entwicklungsländer in den Prozeß der Liberalisierung des Welthandels zu integrieren. Die beobachten sehr argwöhnisch die Tricks der Großen — da hat Herr Jens recht —, ihre Machtpolitik zugunsten ihrer Interessengruppen, z. B. auch ihrer Landwirtschaft, und das Rangeln um Ausnahmen bei einzelnen Produkten. Schutzklauseln, gar selektive Schutzklauseln, haben mit Freihandel nichts zu tun. Sie sind Protektionismus.Wenn sie — z. B. für den Fall der GATT-Mitgliedschaft der Volksrepublik China; darüber wird ja diskutiert — unvermeidlich sind, dann dürfen sie nur durch GATT-Entscheidungen und nicht durch Alleingänge nationaler Regierungen angewandt werden.
Die ganze Welt sitzt in der Frage des freien Handels in einem Boot. Wenn namhafte Teilnehmer versuchen, Löcher in die Bordwand zu schlagen, dann ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie es unterhalb der Wasserlinie tun. Durch solche bilaterale Kleinkariertheit wird die neue Qualität des GATT in Frage gestellt.Eine Gratwanderung haben die Staaten vor allem mit ihrer Diskussion um den Zusammenhang zwischen Handel und Umwelt sowie Sozialstandards angetreten. Herr Rexrodt hat das erwähnt, Herr Jens hat darauf repliziert.Wer Worte wie Ökodumping oder Sozialdumping undifferenziert gebraucht, wird seinem Anliegen nicht gerecht. Der liefert dem Protektionismus nur neue Argumente für sein Fortbestehen.
Zunächst und vor allem gilt: Freihandel nutzt allen Teilnehmern. Mehr freier Handel in der Welt bedeutet mehr Möglichkeiten; denn freier Handel bedeutet mehr Wachstum. Mehr Handel bedeutet mehr Wettbewerb. Mehr Wachstum bedeutet auch mehr staatliche Möglichkeiten, um soziale Belange und Umweltziele, die nicht durch die Wirtschaft und die Menschen mit eigener Kraft erledigt werden können, durch den Staat zu flankieren.Wir kriegen doch immer zu hören: Wir können uns das nicht leisten. Von Herrn Mittag in der DDR, den Vorläufern der PDS bis zu anderen Ländern hin heißt es: So viel Geld haben wir nicht, daß wir auch noch ein Drittel mehr für ein Kraftwerk ausgeben können, nur um die Umweltschutzeinrichtungen zu finanzieren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19295
Dr. Otto Graf LambsdorffWer Umweltziele und soziale Belange im GATT überbetont, gefährdet gerade das Entstehen dieser Vorteile, die die Länder brauchen, um schließlich das Ziel erreichen zu können, auch die Umwelt- und Sozialpolitik so zu betreiben, wie wir es uns wünschen und wie sie sich es selber auch wünschen, wenn sie doch nur könnten.Der Generaldirektor des GATT, Peter Sutherland, hat Essentials hervorgehoben, die für die Zukunft des GATT gelten müssen. Ich meine, sie zu respektieren bedeutet, die Leistungen des GATT für die Weltwirtschaft als Ganzes anzuerkennen.Gelten muß:Erstens. Die Märkte müssen offen und frei bleiben.Zweitens. Preisverzerrung bei Arbeit und Umweltressourcen sind zu vermeiden.Drittens. Die unterschiedlichen sozial- und umweltpolitischen Prioritäten und Rahmenbedingungen der verschiedenen Länder müssen anerkannt werden.Viertens. Globale Umweltprobleme — da hat Herr Jens recht — und generelle soziale Probleme müssen auch global gelöst werden.
Bei aller Bedeutung der Umwelt- und Sozialfragen: GATT ist zuerst ein Freihandelsabkommen. Handelspolitische Anliegen müssen im Vordergrund bleiben. Die Abschaffung der Sklaverei, der Gefangenenarbeit — Herr Jens hat das erwähnt —, die Gewährleistung der Erziehung für alle Menschen sowie die Bildung von Gewerkschaften gehören zu den Forderungen, die stets gültig sind. Die F.D.P. setzt sich nachhaltig für sie ein.
Sie müssen nicht nur im Rahmen des GATT durchgesetzt werden.Die Grenze aber, meine Damen und Herren, muß da gezogen werden, wo der internationale Druck auf höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und alle möglichen Sozialstandards die Chancen der Länder auf eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung aus eigener Kraft verhindert.Gegen Kinderarbeit: Ja! Dreimal ja! Aber zuallererst gegen verhungernde Kinder.
Wer unsere Standards überall in der Welt durchsetzen will, der treibt gerade die wenig entwickelten Länder in die Pleite.Mit Recht hat der malaysische Ministerpräsident Mahatir, hat die indische Regierung sich gegen derartige Klauseln gewandt. Die wittern beide, daß hier neue protektionistische Mittel ersonnen werden sollen, die schlimmer sind als die abgeschafften Zölle.
— Sagen Sie das Herrn Mahatir in Malaysia. Ich habe ihn ja nur zitiert.Trade is better than aid. Handel ist besser als Entwicklungshilfe. 1992 exportierten die Entwicklungsländer mit rund 1 200 Milliarden Dollar über zwanzigmal so viel, wie sie mit 60 Milliarden Dollar an offizieller Entwicklungshilfe erhielten.Allein der Zuwachs des Exports der Entwicklungsländer betrug mit 100 Milliarden Dollar mehr als die Entwicklungshilfe. In Exporterlösen liegt die Lösung der Probleme der Entwicklungsländer und nicht in erster Linie in der offiziellen Entwicklungshilfe.
Wer Handel beschränkt, muß wissen und bereit sein, soziale und Umweltziele durch Belastung aller Bürger zu finanzieren. Dann übernimmt der deutsche Steuerzahler die Kosten, die durch protektionistische, soziale und Umweltstandards in anderen Ländern anfallen.Das ist genauso wie in der Europäischen Union. Wer Portugal oder Griechenland deutsche Sozialstandards aufdrücken will, muß den Portugiesen oder Griechen zu Lasten des deutschen Steuerzahlers über den Kohäsionsfonds den finanziellen Ausgleich verschaffen.Nicht Entwicklungshilfe und Umverteilung haben Priorität, sondern die Möglichkeit der Entwicklungsländer zur Übernahme eigener politischer, wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung. „Hilfe zur Selbsthilfe" sagen wir so oft. Hier ist ein Exerzierfeld, auf dem man das beweisen kann.Die Abschottung der Märkte und die Überfrachtung des GATT mit so vielen Zielsetzungen dienen nicht dem Schutz der Menschen in der Dritten Welt. Sie dienen dem Schutz der Industrieländer. Den Entwicklungsländern dient eine ungehinderte Teilnahme am Welthandel. Sie können ihre Vorteile, zu denen auch niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten zählen, einbringen, und sie gewinnen Würde, weil sie Einkommen erarbeiten können.
Ich bin sicher, die neue Welthandelsorganisation kann zur Integration der Welt, zu wirtschaftlichem Fortschritt und zum Frieden Entscheidendes beitragen. Wenn ihr das gelingt, dann steht sie in der rechten Tradition des GATT von 1948. Daran, daß die Weichen richtig gestellt worden sind, hat die Bundesregierung, haben Sie, Herr Rexrodt, maßgeblichen Anteil. Deswegen noch einmal herzlichen Dank!
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Unterzeichnung des GATT-Abkommens findet viel Beifall. Von einer neuen Ara der weltwirtschaftlichen Kooperation und des Freihandels ist die Rede. Auch wir sind der Meinung, daß Abbau von Protektionismus und Liberalisierung von Handel positiv zu beurteilen sind. Auch die Institutionalisierung des GATT in Form der WTO begrüßen wir.
Metadaten/Kopzeile:
19296 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Fritz Schumann
Gestatten Sie mir trotzdem, in diese allgemeine Zustimmung einige Gedanken zur Nachdenklichkeit einzubringen, ob die eingeschlagene Entwicklung tatsächlich in eine für uns alle günstige Richtung verläuft.Die Behauptung, daß die Bedingungen für den Welthandel besser geworden seien, trifft doch in erster Linie auf die Industrienationen zu. In den letzten Jahren hat sich die Lage der Entwicklungsländer nicht verbessert. Vieles hat sich verändert. Einige Schwellenländer, vor allem im ostasiatischen und südostasiatischen Raum, stehen weit günstiger da. Aber in ganzen Regionen in Afrika, Lateinamerika und Asien haben sich die sozialen Bedingungen der Bevölkerung weiter verschlechtert.In Lateinamerika ist das Pro-Kopf-Einkommen während der 80er Jahre gesunken. Die Einkommen liegen gegenwärtig um mehr als 10 % unter dem Stand von 1980. In Afrika sank das Pro-Kopf-Einkommen im gleichen Zeitraum noch erheblich stärker, im Durchschnitt um 23 %. 1,1 Milliarden Menschen, d. h. 20 % der Weltbevölkerung, sind absolut arm. 1960 verfügten die wohlhabendsten 20 % der Weltbevölkerung über das 30fache Einkommen der ärmsten 20 %. 1990 hat sich dieses Verhältnis auf 60:1 verändert.Die Welternährungsorganisation, FAO, warnt vor einer neuen Hungerkatastrophe, vor allem in Zentral- und Ostafrika. 1 Milliarde Menschen in Entwicklungsländern haben keinen Zugang zu sauberem Wasser.Die äußerst ungleichmäßige Entwicklung umzukehren wäre eine herausragende Aufgabe. Dieser Auffassung waren auch meine Vorredner. Nach jüngsten Einschätzungen der Weltbank wird sich diese ungleichmäßige Entwicklung jedoch weiter fortsetzen. Die Wachstumsimpulse ergeben sich danach in erster Linie für die Industrienationen, während die Chancen für die Entwicklungsländer sehr ungleichmäßig verteilt sind. Die Weltbank erwartet, daß die in Armut lebende Bevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent eher noch zunimmt.Die Flüchtlingsbewegung in die reichen Länder — oder anders gesagt: in Länder, wo Menschen nicht an Hunger sterben müssen — nimmt unter diesen Bedingungen zu. Die von diesem Haus beschlossene juristische Abschottung nach außen beseitigt nicht die Ursachen dieser Flüchtlingsbewegungen. Die Frage ist, ob der Nutzen des GATT für die deutsche Wirtschaft nicht ein kurzfristiger Nutzen ist, wenn die Ungleichgewichte in der Welt derart weiter anwachsen.Der Anteil der Entwicklungsländer am Welthandel ist insgesamt rückläufig. Darüber täuscht auch die Tatsache des absoluten Wachstums, den soeben Graf Lambsdorff hier zum Ausdruck gebracht hat, nicht hinweg. Wir sollten darüber nachdenken, ob es richtig ist, über einen leistungsgerechten und fairen Welthandel zu sprechen, wenn nur die Industrienationen gemeint sind, während auf der anderen Seite Armut und Hunger in der Welt nicht verringert werden.Die internationale Wirtschaftsverflechtung ist längst eine Sache der weltweiten Unternehmen, der Interessengruppen und der Spezialisten in Ministerialbürokratien oder Behörden wie der EU-Kommission. Die Kompliziertheit der gegenseitigen Abhängigkeit macht demokratische Kontrolle fast unmöglich.Die Verschuldung der Entwicklungsländer steigt von Jahr zu Jahr. Die Zinsen erreichen 70 Milliarden US-Dollar jährlich. Die Industrialisierungsbemühungen sind in vielen Ländern gescheitert. Die ökonomisch-sozialen Folgewirkungen treffen vor allem die ärmsten Bevölkerungsschichten.Das Gesamtsystem internationaler Abhängigkeit wird insbesondere dadurch stabilisiert, daß gerade von den schwächsten Gliedern innerhalb der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung mit fragwürdigen Instrumenten Anpassungsleistungen abgefordert werden, zu denen die ökonomisch wesentlich stärkeren, industrialisierten Nationen nicht bereit sind.Durch die vor allem von den nordwestlichen Industrieländern und den transnationalen Konzernen dominierten Weltwirtschaftsstrukturen entstehen in den unterentwickelten Ländern vielfältige ökonomische Verluste, die sich nach den Schätzungen des UN-Entwicklungsprogramms, UNDP, allein 1990 auf rund 500 Milliarden US-Dollar beliefen. Die staatlich gewährte Entwicklungshilfe umfaßt nur ein Zehntel dieses Betrages: rund 54 Milliarden US-Dollar. Zusammen mit den erzielten Gewinnen ergibt sich ein Nettokapitaltransfer von Süd nach Nord in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar jährlich.Nachdenklichkeit ist auch notwendig über den in der Uruguay-Runde fast total vergessenen Umweltschutz. Der Bundesforschungsminister warnte unlängst vor den Gefahren des Ozonlochs auch für Deutschland. Dagegen helfen eben harte nationale Regelungen nicht. Hier besteht internationaler Regelungsbedarf. Mit dem GATT-Abschluß wird aber eine Entwicklung begrüßt, die auf die Gefahren des Treibhauseffektes, des Ozonlochs, des Waldsterbens und anderer ökologischer Gefährdungen zumindest zunächst noch nicht reagiert, wenn sie nicht sogar durch die ungesteuerten Wachstumsimpulse die Gefahren eventuell verschlimmert.Die vom Bundeswirtschaftsminister hier angekündigten Aktivitäten zu den Problembereichen Umwelt und Soziales müßten sehr, sehr schnell kommen. Meines Erachtens ist zur Abwendung einer drohenden Entwicklungskatastrophe im Süden und Osten mit ihren Folgewirkungen auf die entwickelten Länder dringend erforderlich: erstens die Gewährung wirklicher Entwicklungschancen, zweitens der Transfer moderner, den ökologischen Erfordernissen entsprechender Technologien sowie drittens eine weltweite Arbeitsteilung, die nicht weiter zu Lasten einer rückständigen Region geht.Obwohl weitgehender Konsens besteht, daß ein weiteres Schuldenmanagement ohne Veränderungen in den Welthandelsströmen nicht erfolgen kann, und obwohl Klarheit darüber herrscht, daß ein Übergang zur Marktwirtschaft im Osten auch wesentlich stärkere Einbeziehung in die Weltarbeitsteilung bedeuten muß, blockiert die verschärfte Konkurrenzsituation zwischen den Weltindustriemächten beides: sowohl die Veränderung in den Rahmenbedingungen als auch eine Ausweitung der internationalen Wirt-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19297
Dr. Fritz Schumann
schaftsbeziehungen in dem Maße, daß den Entwicklungsländern und den mittel- und osteuropäischen Ländern wirklich geholfen wird.Während beim GATT die Bewältigung vor allem der innerwestlichen Konflikte zwischen den Industrienationen gefeiert wird, fungieren die Masse der Entwicklungsländer und zunehmend auch die mittel- und osteuropäischen Staaten weiterhin im Rahmen asymmetrischer Wirtschaftsbeziehungen am Rande des Weltwirtschaftssystems. Diese Länder bilden die sogenannten strukturschwachen Regionen der Weltwirtschaft und sind eher Objekte als Subjekte internationaler Wirtschaftspolitik.Obwohl sich die Probleme in allen Weltregionen zuspitzen und vor allem die globalen Auswirkungen der drohenden Entwicklungskatastrophen im Süden und Osten auch den Nordosten potentiell überfordern müssen, herrscht in den Industrieländern eine Selbstgefälligkeit vor, die die sich ringsum vollziehenden gewaltigen Umbrüche nicht als Herausforderung zum Nachdenken begreift, die sie objektiv für den Fortbestand der Entwicklung ist. Ohne bewußt herbeigeführte, international verbindliche Regelungen, die über die bisherigen GATT-Regelungen hinausgehen, kann weder eine kurzfristige Verbesserung der Lage des Südens und des Ostens noch ein auf längere Sicht durchhaltbares Entwicklungsmodell erreicht werden.Wir wünschen uns deshalb, daß die hier vollmundig angekündigten Weiterentwicklungen aus dem GATT heraus wirklich sehr schnell Früchte tragen.Danke.
Als nächster spricht der Abgeordnete Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich meine Gedanken über das Welthandelsabkommen mit einer sehr lokalen Bemerkung beginnen.Die Bundesregierung hat angekündigt, Bonn als Sitz der neuen Welthandelsorganisation WTO vorzuschlagen. Ich finde das eine hervorragende Idee. Bonn muß nach dem Auszug von Parlament und Regierung neue Aufgaben übernehmen. Die vorhandene Infrastruktur, Frau Kollegin Matthäus-Maier und Frau Kollegin Limbach, und die bewährte Gastfreundschaft Bonns lassen die Stadt geeignet erscheinen, eine so hochrangige internationale Organisation wie die World Trade Organisation aufzunehmen.
— Jeder fängt einmal klein an, auch die Stadt Bonn. — Als Berliner werde ich jedenfalls die Bewerbung Bonns ausdrücklich unterstützen.Zweifellos ist zu begrüßen, meine Damen und Herren, daß das GATT-Abkommen nur nach langwierigen Verhandlungen zustande gekommen ist. Allerdings gibt es erhebliche Bedenken. Insbesondere scheint die Sorge berechtigt, daß von dem Abkommen vor allem die Industriestaaten profitieren werden, die Entwicklungsländer jedoch in sehr viel geringerem Umfang.Die Prognosen gehen hierüber sehr weit auseinander. Sicher muß man dem amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore recht geben, der vom GATT einen kräftigen Anstoß für die Weltwirtschaft erwartet. Experten prognostizieren eine Steigerung des Wohlstands in der Welt um 180 bis 200 Milliarden Dollar. Der Wirtschaftsminister sprach von 270 Milliarden Dollar, und Herr Kittelmann setzte noch etwas drauf und sprach von 300 Milliarden Dollar.Entscheidend wird sein, ob das GATT-Abkommen und später die Welthandelsorganisation dazu beitragen werden, mehr Gerechtigkeit im Welthandel zu schaffen und das Wohlstandsgefälle zwischen dem reichen Norden und den armen Ländern des Südens und Ostens auszugleichen. Daran wird sich GATT messen lassen müssen, nicht an den glänzenden Bilanzen und gefüllten Kassen der Industrienationen. Wenn Armut die Ursache für niedrige Sozialstandards ist, dann sollten sie mit Investitionen und nicht mit Sanktionen angehoben werden.Schon heute ist abzusehen, daß der weitaus größere Teil des Wohlfahrtsgewinns den Industrieländern zugute kommen wird. Der Anteil der Entwicklungsländer wird nach Berechnungen der OECD nur zwischen 30 und 70 Milliarden Dollar betragen. Diese Gewinne werden vor allem in den asiatischen und lateinamerikanischen Schwellenländern erzielt werden. Für viele der ärmsten Länder, insbesondere für diejenigen Länder, die Nahrungsmittel importieren müssen, wird das Abkommen jedoch zu schmerzhaften Rückgängen ihres internationalen Handels führen. Während z. B. die Europäische Union dank GATT um mehr als 70 Milliarden US-Dollar reicher werden wird, werden für Afrika von der OECD bis zum Jahre 2002 Verluste von über 2,6 Milliarden Dollar vorausgesagt.Zu begrüßen sind zweifellos die mit dem Abkommen verbundene Liberalisierung des Welthandels, der Abbau von Subventionen, die Marktöffnung bei öffentlichen Ausschreibungen und der bessere Schutz des geistigen Eigentums, zumindest soweit es die Urheberrechte betrifft. Als Entwicklungspolitiker sehe ich allerdings mit Sorge, daß bei den Verhandlungen neue Handelsblöcke erkennbar wurden, die angesichts der weltweiten Rezession ihre Interessen massiv vertreten und gegen die schwächeren Staaten durchgesetzt haben. Auch der Protektionismus ist eher verstärkt denn abgebaut worden.Der Schutz von geistigem Eigentum, von Patenten, Urheberrechten und Marken ist verstärkt worden. Das ist im Grundsatz zu begrüßen. Bedenklich wäre nur, wenn die Industrieländer Patente und Markenschutz dazu mißbrauchen sollten, um ihren technologischen Fortschritt auszuweiten, statt für eine gerechte Partizipation der Entwicklungsländer Sorge zu tragen. Es wird Aufgabe der World Trade Organisation sein,
Metadaten/Kopzeile:
19298 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Konrad Weiß
solche Maßnahmen auszuarbeiten, die den Entwicklungsländern den Zugang insbesondere zu umweltfreundlichen und medizinischen Technologien erleichtern. Der bessere weltweite Schutz von individuellen Urheberrechten jedenfalls ist ausnahmslos zu begrüßen.Im Agrarbereich wird dem Norden auch weiterhin ein großer Teil seines Schutzpotentials erhalten bleiben. Die Agrarsubventionen sollen in den nächsten sechs Jahren um 21 % in der Menge und um 36 % im Wert abgebaut werden. Im Umkehrschluß bedeutet das aber, daß 64 % der heutigen Subventionen auch in Zukunft gehalten werden können. Es ist zu befürchten, daß die neuen GATT-Vereinbarungen das Dumping der USA und der Europäischen Union auf den Agrarmärkten weder beenden noch substantiell begrenzen werden.
— Lieber pessimistisch als zu optimistisch; ich denke realistisch.Gravierende Mängel sind, daß das Abkommen weder Bestimmungen zum Umweltschutz noch zu den sozialen Aspekten der Produktion und des Handels enthält. Der Wunsch der Industrieländer, solche universellen Bestimmungen weltweit einzuführen, ist richtig. Denn Unterschiede bei Umweltvorschriften, Sozialnormen und Kartellbestimmungen behindern die Länder, die hohe Standards besitzen und sie mit steigenden Kosten auch zu bezahlen haben.Wenn die Entwicklungsländer nun fürchten, daß es den Industrieländern nicht um den Umweltschutz oder ein menschenwürdiges Leben der Produzenten geht, sondern um den Schutz der eigenen Industrie vor Konkurrenz, so sind diese Bedenken sicher nicht ganz abwegig.Andererseits aber wären solche Klauseln die Voraussetzung für mehr Fairneß und Gerechtigkeit im internationalen Handel.Wir bedauern, daß sich die Bundesregierung entweder nicht entschieden genug dafür eingesetzt hat oder aber sich nicht durchsetzen konnte, was auch zu verstehen ist.Die Einführung sozialer und ökologischer Schutzklauseln sollte jedenfalls weiterhin Ziel der deutschen Politik bleiben. Die Argumente der reichen Führungseliten in einigen Entwicklungsländern gegen solche Klauseln dienen jedenfalls mehr der Besitzstandswahrung als den Interessen der Bevölkerungsmehrheit.Die massiven Proteste des indischen Handelsministers und des indischen Parlaments gegen derartige Schutzklauseln sind wenig überzeugend. Gerade in Indien könnten derartige Standards insbesondere durch die Ächtung der Kinderarbeit notwendige soziale Veränderungen herbeiführen.Die Welthandelsorganisation WTO sollte schnellstens Umwelt- und Sozialbestimmungen erarbeiten, die gewährleisten, daß sich die Entwicklungsländer die hohen nördlichen Standards zu eigen machen können. Außerdem sollte im Mandat der WTO die institutionelle Zusammenarbeit mit den Unterorganisationen der Vereinten Nationen vorgeschrieben werden, um bereits existierende Umwelt- und Sozialbestimmungen auch in der Zukunft verbindlich bleiben zu lassen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Editha Limbach.
Ich persönlich betrachte die Verhandlungen von Marrakesch als erfolgreich. Deshalb hat es mich sehr gewundert, daß sich die Opposition — hier der Sprecher der SPD — nicht dazu durchringen konnte, wenigstens das anzuerkennen.Es ist natürlich richtig — das wissen wir alle —, daß alles Handeln niemals zu statischen Ergebnissen — das ist es jetzt — führt, sondern daß es dynamische Prozesse sind und daß auf solche Schritte wie in Marrakesch weitere Schritte folgen müssen. Nur „Trippelschritt" fand ich doch schon eine sehr mickrige Aussage. Ich denke, ein guter Dreisprung ist es gewesen.
Es hat mich auch überrascht, wie stark die SPD immer noch darauf setzt, der Staat könne alles regeln.
— So wurde das von Ihnen gesagt.
— Ach, wissen Sie: Das mit den Vorurteilen ist so eine Sache. Auch Leute, die im ideologischen Glaskasten sitzen, sollten nicht mit Ideologiesteinen auf andere Leute werfen.Ich denke, daß die Politik natürlich Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Geschehen schaffen muß. Dazu gehört z. B. das, was in Marrakesch erreicht wurde; denn freier Handel dient dazu. Nur, die Aufgaben erledigen müssen jeweils die, die ihre Verantwortung dafür haben.Wenn der Kollege Hinsken gefragt hat, ob es nicht am besten ist, wenn in der Wirtschaft die Wirtschaft verhandelt, denke ich, kann man diese Frage nur mit einem ganz kräftigen Ja beantworten.Es kam mir auch ein wenig zu kurz, daß all das, was da geschieht, unmittelbar für Menschen interessant ist. Es kamen hier Zwischenrufe von „Arbeitsplätzen". Du lieber Himmel, weshalb werden denn Wirtschaftspolitik, freier Handel, freier Austausch betrieben? Doch nicht um eines abstrakten Zieles willen, sondern weil so etwas Arbeitsplätze schafft, weil so etwas den Menschen dient; ich füge hinzu: in der Wirtschaft natürlich ganz besonders denjenigen, die wir dann als Verbraucherinnen und Verbraucher bezeichnen. Der berühmte Bananenstreit zeigt dies ganz deutlich.Daß ich mich als Bonner Wahlkreisabgeordnete darüber freue, daß vorgeschlagen worden ist, die neue
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19299
Editha LimbachWelthandelsorganisation WTO nach Bonn zu holen, kann jeder verstehen. Ich begrüße das, ich unterstütze das. Ich bin sicher, daß auch die Stadt alles, was sie dazu beitragen kann, tun wird.Ich denke aber, man darf dabei nicht vergessen: Es ist nicht nur für die Stadt und die Region, sondern für die ganze Bundesepublik interessant, wenn die WTO nach Deutschland, nach Bonn käme.Vielen Dank.
Eine Antwort erfolgt durch den Kollegen Wieczorek.
Ich würde gerne gleich die Gelegenheit nutzen, wenn ich rede. Da aber der Kollege Jens angesprochen worden ist, der für einige Minuten gehen mußte, jedoch sofort wiederkommt, möchte ich Sie, Frau Limbach, bitten, zu akzeptieren, daß er gesagt hat, im Hinblick auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung sei dies ein „Trippelschritt" . Daß es ein großer Fortschritt ist, wird von uns überhaupt nicht bestritten. Das haben wir auch in vielen GATT-Debatten hier deutlich gemacht; Sie werden es gleich noch einmal hören.
Zum zweiten: Was die Rolle des Staates im Außenhandel angeht, würde ich Ihnen sehr empfehlen, Ihre ideologischen Scheuklappen abzulegen. Sie sehen nur, was z. B. in Saudi-Arabien beim Flugzeugabsatz gerade durch die Regierung Clinton gemacht wurde — das ist schon eine Frage, inwieweit sich Staaten einsetzen — oder was die französische Regierung in dem berühmten Korea-Fall beim ICE gemacht hat.
Noch ein Wort zu der Frage, ob die WTO hierherkommt. Natürlich sind wir alle dafür. Ich fürchte nur, daß hier Hoffnungen geweckt werden, die wenig realistisch sind. Das hilft Bonn am wenigsten.
Als nächster spricht der Kollege Erich Fritz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Wieczorek, wenn man es natürlich gar nicht erst probiert, muß man sich nicht wundern, wenn man gar nichts erreicht. Deshalb, als erste Reaktion Ihre zu zeigen, ist zuwenig.
Meine Damen und Herren, mit Recht ist von der Bundesregierung und der Öffentlichkeit der GATTAbschluß begrüßt und mit Erleichterung aufgenommen worden. Der Abbau der Zölle, die Ausweitung des Handels, all das, was zur Belebung der Wirtschaft an Impulsen entstehen wird, hilft auch Deutschland, unserer Wirtschaft, sichert Arbeitsplätze in der Bundesrepublik und schafft neue. Unsere Volkswirtschaft ist vom freien Welthandel ganz besonders abhängig. Deshalb ist das Datum von Marrakesch auch für uns eine bedeutende Wegmarke.Der Wirtschaftsminister hat gerade alle Bestandteile, alle Facetten des Vertrages aufgeschlüsselt. Mir ist dabei aufgefallen, daß er von den Dienstleistungen sprach. Das ist etwas, was bei uns nach wie vor viel zuwenig in den Köpfen ist. Bereits an dem Anteil von einem Viertel des Exports, von einem Drittel der Beschäftigten ist ein Stück Strukturwandel sichtbar geworden, ohne daß wir alle miteinander es eigentlich bemerkt haben, während das öffentliche Bild vom Außenhandel und Export bei uns immer noch von Maschinen, Großanlagen und anderen Dingen geprägt ist. Das heißt, wir werden in den Bereichen, die uns bereits weitergebracht haben, neue Ansatzpunkte finden.Es ist jedoch unübersehbar, daß hinter der strahlenden Fassade des GATT die Grimasse des Protektionismus an vielen Stellen hervorlugt. Es wird darauf ankommen, das Vertragswerk schnell zu wirklichem Leben zu erwecken. Ich glaube, daß die Vorbildfunktion der großen Handelsländer dafür sehr ausschlaggebend sein wird. Tatsächlich wird es also z. B. davon abhängen, wie und mit welchen Konsequenzen der Handelsstreit um Marktanteile zwischen den USA und Japan ausgetragen wird. Davon, aber auch vom Verhalten der Europäischen Union wird abhängen, ob das Vertrauen der kleinen Partner, die sich als den schwächeren Teil des GATT ansehen, wirklich errungen werden kann und ob sie zu gleichberechtigten Partnern in diesem Konzert werden.Deshalb ist die Frage der Umsetzung fast genauso wichtig wie das, was jetzt erreicht ist. Das neue handelspolitische Instrumentarium der Europäische Union ist GATT-konform, muß aber auch weiterhin gegen das Abgleiten in einen protektionistischen Kurs verteidigt werden. Wir wissen selbst, daß auch bei uns in den Diskussionen, wenn es um Arbeitsplätze geht, schnell Vorstellungen von Protektionismus, Zollschranken und Subventionen aufkommen.
Herr Kollege Jens, ich erinnere mich an viele problematische Situationen in den letzten drei, vier Jahren in bestimmten Regionen der Bundesrepublik, wo gerade auch aus Ihrer Partei die Forderung erhoben wurde, die deutschen regionalen Interessen doch durch Handelsschranken nach außen abzusichern.
Die Rolle der Europäischen Union bei den GATTVerhandlungen hätte ich mir wirklich wirkungsvoller vorstellen können. Wie es abgelaufen ist, zeigt eigentlich noch besser als viele andere Beispiele, daß wir in Europa endlich eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Außenhandelspolitik brauchen.
Wir brauchen nicht das Beispiel Jugoslawien zu zitieren; es ist schrecklich genug. Wir müssen aber auchbereit sein — Herr Kollege Jens, dazu fordere ich auch
Metadaten/Kopzeile:
19300 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Erich G. FritzIhre Fraktion auf —, dann die Konsequenz daraus zu ziehen und dafür zu sorgen, daß die Europäische Union im außenhandelspolitischen Bereich eine gemeinsame Sprache spricht. Dazu gehört, daß Sie sich im Bereich der Dual-Use-Produkte bewegen; denn man kann nicht auf der einen Seite die Forderung stellen, eine solche Politik müßte entwickelt werden — da haben Sie gerade intensiv genickt — und sich auf der anderen Seite den konkreten Maßnahmen entziehen.Die Vorteile des GATT-Abschlusses für die großen Handelsländer und die Industrieländer insgesamt liegen auf der Hand, sind ausführlich dargestellt worden und werden auch bei uns die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den nötigen Anpassungsprozessen und dem weiterhin notwendigen Strukturwandel überwiegen.Nach den Vorteilen des Protektionismus kann man lange suchen. Kurzfristig hat er vielleicht Vorteile, langfristig schadet er immer. Die Nachteile des Protektionismus aber sind unberechenbar groß. Erforderliche Veränderungen, die sich jetzt aus der Öffnung bei uns ergeben, müssen wir produktiv anpacken, wir dürfen sie nicht nur erleiden. Politik darf nicht dazu beitragen, Strukturwandel zu verhindern. Erstens kann sie das gar nicht, zweitens sollte sie es nicht tun, und drittens muß sich jeder darüber klarwerden, daß aufgehaltener Strukturwandel nur teurer wird und mit noch größeren sozialen Folgelasten zu bezahlen ist.Von geradezu existentieller Bedeutung ist der Abschluß aber für die Entwicklung der armen Länder und für eine erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern. Gerade die schwächsten Handelsländer sind darauf angewiesen, in ein für sie durchschaubares, verläßliches und funktionsfähiges multilaterales Handelssystem eingebaut zu sein. Durch die globale Reduzierung der Zölle und die Einschränkung nichttarifärer Handelshemmnisse wird sich ein verbesserter Marktzugang in den Industrieländern ergeben, aber auch manche Fehlallokation von Ressourcen in den Entwicklungsländern vermieden werden können.Wenn errechnet worden ist, daß der Verlust, den die Entwicklungsländer durch Protektionismus der Industrieländer haben, doppelt so hoch sei wie der Betrag der öffentlichen Entwicklungshilfe, so zeigt das — selbst wenn man die bezifferte Höhe in Abrede stellen wollte — auf jeden Fall, daß den Entwicklungsländern durch den Abbau von Handelshemmnissen enorme Chancen zur eigenen Entwicklung und damit eine wesentliche Quelle für Entwicklungsmöglichkeiten erschlossen werden. Es ist besser, den Entwicklungsländern die Möglichkeit zu geben, durch ihre eigene Leistungsfähigkeit voranzukommen. Deshalb sind ein Handelswachstum von 12 % und ein besserer Marktzugang auch die beste Entwicklungspolitik.Nun wissen wir, daß nach wie vor ein Ungleichgewicht entstehen wird, wenn bei 230 Milliarden US-Dollar Vorteil für die Industrieländer 80 Milliarden US-Dollar für die Entwicklungsländer herauskommen. Das heißt, das Verhältnis stimmt immer noch nicht. Aber daraus entsteht ja eine Stimulierung der Weltwirtschaft insgesamt, also nicht nur eine Verbesserung des Handels, sondern auch ein wesentlicher Beitrag zur Bekämpfung von Hunger, Armut und Krieg in der Welt.Wichtig ist für uns als Industrieland, zu berücksichtigen, daß die Vorteile der Entwicklungsländer nicht regional gleichmäßig verteilt sind, sondern daß einige besondere Vorteile davon haben werden, andere z. B. immer noch wesentlich auf Rohstoffexporte angewiesene Länder in Afrika vielleicht sogar Nachteile zu erwarten haben. Deshalb wird in Zukunft auch die Profilierung der Entwicklungspolitik und die Konzentration auf die davon betroffenen Länder eine besondere Bedeutung haben.Unabhängig vom gegenwärtigen Ausgang der Verhandlungen — etwa was Umwelt und Soziales angeht — muß sich die Bundesregierung und müssen wir uns dessen bewußt sein, daß die Verbraucher neben hoher Qualität und niedrigen Preisen immer häufiger danach fragen, unter welchen sozialen Bedingungen und unter welchen Umweltbedingungen Produkte hergestellt werden. Wir in Deutschland — und hoffentlich immer mehr Lander in der Welt — wollen nicht nur eine liberale Weltwirtschaft — das unterscheidet uns vielleicht von Herrn Graf Lambsdorff —, sondern wir wollen auch unsere Vorstellungen von einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft durchsetzen. Deshalb wird auf Dauer das jetzt abgeschlossene Welthandelsabkommen durch beide Aspekte ergänzt werden müssen. Dabei hilft kein überhebliches Moralisieren, sondern schrittweises Handeln unter Berücksichtigung der Interessen der jeweils Beteiligten ist erforderlich. Erst muß der Vor- teil des Handels für die Industrieländer nutzbar gemacht werden, bevor wir sehr hohe Maßstäbe setzen können.Man muß auch aufpassen. Nicht alle, die „Sozialklausel" sagen, meinen das auch. Manche sagen „Sozialklausel" und meinen Protektionismus. Deshalb helfen nicht pauschale Auseinandersetzungen, sondern es muß der Wille vorhanden sein, auf Dauer dazu zu kommen, solche Standards zu entwickeln und auch durchzusetzen.Daß liberaler Welthandel auf Dauer seine Wohlstandsfunktion für viele Länder und deren Menschen und seine friedensstiftende Integrationsfunktion nur erfüllen kann, wenn zu seinen Rahmenbedingungen Umweltschutz, soziale Sicherheit und Demokratie gehören, darüber sollte eigentlich in diesem Haus keine unterschiedliche Meinung bestehen.Meine Damen und Herren, der Abschluß des Welthandelsabkommens ist ein Aufbruch zu neuer weltwirtschaftlicher Dynamik. Er ist aber gleichzeitig auch der Beginn neuer Herausforderungen, denen sich Politik und Wirtschaft in Deutschland stellen müssen.Herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Norbert Wieczorek das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19301
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gleich zu Beginn ganz eindeutig sagen: Wir begrüßen den Abschluß von Marrakesch, insbesondere, nachdem dies ein so langer Verhandlungsprozeß war. Ich möchte allen, die verhandelt haben, danken, besonders den beiden Generalsekretären Dunkel und Sutherland, deren Arbeit in der Endphase ganz entscheidend war. Ich möchte meinen Dank auch all den Delegationen aussprechen, die in Genf auf der Wartebank gesessen haben, als die USA und Europa, die EG, ein relativ unwürdiges Schauspiel gegeben haben — als seien Welthandelsfragen Probleme, die nur diese beiden Regionen angingen.Ich möchte auch sagen, daß wir uns gerade hier im Deutschen Bundestag mehrfach mit dem Thema beschäftigt haben. Auch wir haben unseren Anteil an diesem Erfolg. Gestatten Sie mir, sehr deutlich darauf hinzuweisen, daß es gerade die SPD war, die immer wieder in Anfragen und mit Anträgen zu Debatten über GATT die Diskussion angeregt hat, die wir dann hier im Plenum geführt haben.
Das war auch notwendig, denn manchmal ist nicht nur im Ausland, sondern auch hier der Eindruck entstanden, als würde die Bundesregierung insbesondere gegenüber dem französischen Partner in Agrarfragen allzu sanftmütig auftreten und allzu lethargisch sein. Deswegen war es notwendig, daß die Opposition diese Rolle übernommen hat. Ich freue mich, daß wir in diesen Debatten keine Differenzen hatten, Graf Lambsdorff.
Wenn hier vorhin das Wort von den Trippelschritten gefallen ist — ich habe es eben in den Zusammenhang gestellt —, so ist es sicherlich vom Idealzustand aus richtig. Von dem Stand aus, den wir vorher hatten, ist es ein großer Erfolg. Aber es ist ein Zwischenerfolg; denn die Liberalisierung des Welthandels bleibt eine Daueraufgabe, und die Diskussionen kurz vor dem Unterzeichnungsakt in Marrakesch haben ja mehr als deutlich gezeigt, daß viele Problembereiche jetzt erst in die Diskussion kommen und auf die Tagesordnung gesetzt werden.Gestatten Sie mir, zu vier Bereichen etwas zu sagen:Erstens. Handel und internationale soziale Mindeststandards.Zweitens. Handel und internationale Umweltprobleme.Drittens. Handel und Währungsfragen.Viertens. Handel, Bilateralismus und Regionalismus.Dies ist keine erschöpfende Liste. Andere Fragen, wie z. B. Wettbewerbsfragen und Aufsichtsproblematik im Dienstleistungssektor, werden hinzukommen. Aber ich möchte hier und heute auch schon davor warnen, die neue Welthandelsorganisation, die WTO, mit zu vielen Fragen zu belasten. Sie könnte darüber ihre eigentliche Zielsetzung verlieren. Sie muß weiter auf den freien Welthandel fokussiert bleiben. Es gilt auch, die neuen Verfahren, insbesondere das neue Streitschlichtungsverfahren, nicht ad absurdum führen zu lassen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle zu den Fragen der sozialen Standards kommen. Dazu eine Vorbemerkung, Herr Rexrodt. Ich habe kein Verständnis dafür, daß der Bundeswirtschaftsminister nach den Presseäußerungen, die ich anläßlich von Marrakesch lesen konnte, Erklärungen abgegeben hat, die den Eindruck erweckten, als sei die Diskussion hierüber nicht auch im deutschen Interesse. In den vielen GATT-Debatten, die ich vorhin genannt habe, habe gerade ich auch immer das Thema der sozialen und der Umweltstandards angesprochen, nicht als Teil der Uruguay-Runde, aber danach. Es gab immer Übereinstimmung darüber im Haus, und insofern wundere ich mich.Es ist außerdem ein Fakt, daß die Zustimmung zur Uruguay-Runde in Frankreich, jedenfalls in wesentlichen Teilen bei einer der Regierungsparteien, und erst recht in den USA wesentlich davon abhängt, daß es im Vorfeld ein Verständnis darüber gab, daß nach dem Abschluß diese beiden Themen auf die Tagesordnung der Welthandelsdiskussion kommen sollten.
Erinnern Sie sich daran, daß NAFTA überhaupt nur eine Mehrheit im amerikanischen Kongreß fand, weil die Seitenabsprachen genau zu diesen beiden Themen zum NAFTA-Abkommen getroffen wurden. Seien Sie sich auch darüber im klaren: Wenn NAFTA nicht gekommen wäre, hätten wir die Uruguay-Runde im amerikanischen Kongreß begraben bekommen. Deshalb sage ich in aller Deutlichkeit: Wir dürfen, auch um unnötige Spannungen zu verhindern, diesen Zug nicht bremsen, sondern müssen mitfahren, möglichst im Steuerhaus.Im übrigen gilt auch, daß unabhängig davon, wie Sie im einzelnen über diese Inhalte denken — da gibt es sicherlich Unterschiede zwischen der F.D.P. und der Sozialdemokratie —, es sehr viel besser ist, diese Themen im multilateralen Rahmen der neuen WTO zu besprechen, als etwas in bilateralen Abkommen zu regeln oder gar unilateral protektionistische Maßnahmen zu treffen. Das Thema ist auf der Tagesordnung. Wir bringen es nicht weg. Also lassen Sie es uns da diskutieren, wo es hingehört, nämlich da, wo beide Seiten oder mehrere Seiten — es gibt dabei verschiedene Interessen — sich einbringen können.Nun zu den Inhalten. Wenn Herr Stihl, der Präsident des DIHT, gestern im „Handelsblatt" davon redet — leider haben Sie das eben auch gemacht, Graf Lambsdorff —, es ginge bei den Sozialstandards darum, die hohen europäischen oder deutschen Standards den Entwicklungs- und Schwellenländern aufzuzwingen, so geht das schlicht und einfach an der Sache vorbei. In Wirklichkeit geht es um Grundlagen, die bereits in der Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation angesprochen sind.Es geht darum, daß das Recht, freie Gewerkschaften zu bilden, gesichert wird und daß diese dann nicht
Metadaten/Kopzeile:
19302 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Norbert Wieczorekmit polizeilichen oder gar militärischen Mitteln in ihrer Arbeit, in ihrem Recht auf gewerkschaftliche Tätigkeit unterdrückt werden.
Wir sind uns da einig, Graf Lambsdorff. Deswegen war ich etwas über Ihre Bemerkung vorhin verwundert. Ich bin Ihnen für die Klarstellung dankbar. In diesem Punkt sind wir uns wahrscheinlich näher, als mancher hier im Hause meint.Genau dieses ist ein Punkt, den wir gerade in Indonesien wieder erlebt haben und den wir mehrfach in Südkorea erlebt haben. Beides sind Länder, die heute sehr wohl Konkurrenten von uns sind.Es geht auch darum, Mindestsicherheitsstandards an Arbeitsplätzen zu erfüllen.
Solche grausamen Brandunglücke, wie wir sie in Thailand in Guangdong gerade erlebt haben, wo Fabriktore geschlossen wurden, damit die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht herauskommen — sie sind dann schmählich verbrannt —, sind doch wohl ein Hinweis darauf, daß man so etwas nicht hinnehmen kann.
Es geht auch darum, Zwangsarbeit bis hin zu den Verhältnissen, die der Leibeigenschaft ähneln — denken Sie an das „bonded working" in Indien — zu beseitigen.Es geht darum, Kinderarbeit — und wenn ich das sage, bitte ich, nicht mißverstanden zu werden — einzuschränken. Wir werden sie in vielen Ländern nicht ganz beseitigen können, auch im Interesse der Kinder, damit sie überhaupt eine Chance haben zu überleben. Aber dann geht es doch möglicherweise auch darum, daran zu denken, Kinderarbeit, wo sie denn wegen der sozialen Verhältnisse unvermeidbar ist, zumindest mit Auflagen zu versehen. Ich plädiere sehr dafür, sie mit Ausbildungsauflagen zu verknüpfen. Wenn Kinder nur billige Arbeitskräfte sind, die keine Chance haben, einmal eine bessere Zukunft zu bekommen, weil sie Lesen und Schreiben nicht gelernt haben, dann ist weder diesen Kindern noch diesen Entwicklungsländern geholfen. Denn das wichtigste Potential, das sie haben, entwickeln sie nicht. Deswegen sehen wir durchaus echte Chancen dafür, daß wir in multilateralen Gesprächen zu differenzierten Lösungen finden.Ich möchte in diesem Zusammenhang die Frage der Mindestlöhne ansprechen. Ich sage das jetzt aus meiner persönlichen Sicht; ich betone das. Bei der Einführung von Mindestlöhnen je nach Entwicklungsstand sind große Differenzierungen notwendig, wenn man sie vorsehen würde. Ich gestehe, ich kann mir schlecht vorstellen, daß man das in einem internationalen Abkommen niederlegen könnte. Hier ist außerdem die Gefahr am größten, daß soziale Standards protektionistisch mißbraucht würden.Aber umgedreht ist es für mich deshalb so wichtig, daß freie Gewerkschaftsarbeit möglich ist, denn freie Gewerkschaften werden in den in Frage kommenden Ländern in der Lage sein, dem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechende, angemessene und faire Lösungen zu erkämpfen. Das ist ihre Aufgabe.Was für die Sozialstandards gilt, gilt auch für die Umweltstandards. Es geht keineswegs darum, etwa die EG-Trinkwasserverordnung, mit der wir selber schon Probleme haben, zum Maßstab des Welthandels zu machen. Aber ebenso wie bei den Sozialstandards haben wir in den Beschlüssen der Rio-Konferenz erste Grundlagen. Wollen wir die nicht mehr ernstnehmen?
— Danke, Graf Lambsdorff. Wenn wir es ernstnehmen, kann es auch ein Thema werden.Auf der Basis festzulegender Umweltstandards müssen multilaterale Vereinbarungen gefunden werden. Das liegt auch im Interesse der Länder, die heute die Umweltproblematik nur als lästig empfinden oder gar nicht wahrnehmen wollen. Eine nachhaltige, zukunftsverträgliche Entwicklung ist nur dann zu erreichen, wenn mit den knappen Ressourcen vernünftig umgegangen wird.Ich weise nur darauf hin: Sind die Umweltschäden erst einmal entstanden, wird es sehr viel teurer, sie zu beseitigen. Es geht also darum, sie erst gar nicht entstehen zu lassen. Erinnern Sie sich nur an das Problem, das wir in den neuen Bundesländern mit diesem Thema haben. Da wurde Umwelt auch nicht ernstgenommen, weil man billig produzieren wollte. Und was ist die Folge?Aber ich möchte auch darauf hinweisen: Das ist keine Einbahnstraße etwa gegenüber den Entwicklungsländern. Ich hielte es für sehr charmant, in einer solchen Runde auch eine Diskussion über den exzessiven Energieverbrauch in den USA und Westeuropa zu führen. Dies wäre auch ein Thema.
Abschließend noch ein Wort zu der Gefahr, daß solche Standards von den Industrieländern protektionistisch benutzt werden. Diese Gefahr ist gegeben. Aber gerade die multilateralen Gespräche und Verhandlungen im Rahmen der neuen Welthandelsordnung können dazu genutzt werden, um unterschiedliche Interessen deutlich zu machen und gemeinsame Lösungen zu finden. Geschieht dies nicht — ich wiederhole es —, werden genau diese Thematiken Anlaß sein, unilateral nichttarifäre Handelshemmnisse zu schaffen. Das muß vermieden werden.Nun zum Thema Handel und Währung. Der Zusammenhang ist offensichtlich. Es gilt zu verhindern, daß durch politische Beeinflussung der Wechselkurse die Preisrelationen beeinträchtigt werden. Die US-amerikanische Verlautbarungspolitik zum Yen/DollarKurs, gerade in den letzten Wochen, ist ein warnendes Beispiel dafür, was da passieren kann.Nun ist es richtig: Der Internationale Währungsfonds ist grundsätzlich hierfür zuständig. Aber bisher war das GATT kein Partner für den Internationalen Währungsfonds. Mit der neuen WTO hat der Interna-Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19303Dr. Norbert Wieczorektionale Währungsfonds nun einen gleichwertigen Partner, um den Zusammenhang zwischen Währung und Handel besser zu durchleuchten und Mißbräuche multilateraler Kontrolle zu unterziehen.Es kommt aber ein Zweites hinzu: Der auch von uns begrüßte Fortschritt, daß der Dienstleistungssektor in die GATT-Regeln einbezogen wurde, weckt natürlich neue genuine Regelungsbedürfnisse. Ich verweise hier auf den Zusammenhang zwischen dem Marktzugang beispielsweise für Banken und Versicherungen und deren Aufsicht. Das ist ein Problem, mit dem wir in Japan immer noch zu kämpfen haben.Ich verweise auch auf das Problem der Kapitalflucht und der sogenannten Off-shore-Plätze, die weitgehend dazu dienen, Aufsichtsregeln zu umgehen sowie Gelder und große Vermögen einer gerechten Besteuerung zu entziehen. Welchen Einfluß die Kapitalflucht auf die Entwicklungschancen und die Handelsbeziehungen hat, haben wir ganz schlimm in den 80er Jahren bei der Schuldenkrise in Lateinamerika erlebt. Wir können es uns jetzt wieder drastisch vor Augen führen, wenn wir die Situation in Rußland betrachten. Dies wird nicht nur Sache der WTO sein, sondern es geht dabei auch um die OECD und den IMF. Wir haben jetzt einen gleichberechtigten Partner, und deswegen müssen wir das Thema dort angehen.Lassen Sie mich nun zu meinem vierten Punkt kommen: Handel, Bilateralismus und Regionalismus. Die Schaffung der WTO wird nicht verhindern — das soll sie auch nicht —, daß weitere bilaterale oder auch regionale Handelsabkommen getroffen werden. Ich denke nur an die Entwicklung der APEC und der ASEAN. Es ist aber ein großes Plus, daß sich diese Abkommen künftig an den Maßstäben der WTO zu messen haben. Wir haben auch deshalb für diese Runde gekämpft, damit sich die regionalen Handelsblöcke nicht gegeneinander stellen, ohne daß es ein Dach gibt, das auf die Regeln achten kann. Deswegen ist das so wichtig.Es gilt, die WTO zu nutzen, damit nicht aus solchen Abkommen Beschränkungen des Handels zu Lasten dritter Länder oder dritter Regionen resultieren. Ein deutliches Beispiel hierfür sind für mich die an sich lobenswerten Versuche der USA, Japan zu einer weiteren Öffnung des Binnenmarkts zu bewegen. Das müssen wir auch tun; zum Teil sind die Japaner dazu auch bereit. Aber man muß immer wieder drängen, damit es weitergeht.Die konkreten Forderungen der USA haben aber den deutlichen Beigeschmack, daß es nicht so sehr um eine allgemeine Öffnung des japanischen Binnenmarkts geht, sondern darum, mit Hilfe zahlenmäßig bestimmter Zielgrößen, der sogenannten Targets, Marktanteile für amerikanische Produkte zu sichern, d. h. über ein Handelsabkommen für nur ein Land Marktanteile zu sichern. Es geht nicht um eine Öffnung für alle.Es wird Aufgabe der EG, aber auch der Bundesregierung sein, diese Entwicklung sehr kritisch zu verfolgen. Es wird auch Aufgabe der WTO sein, solche Bestrebungen, die auf einen geregelten Marktzugang nur für ein Land hinauslaufen, kritisch zu überprüfen und abzustellen.Lassen Sie mich an dieser Stelle eine Bemerkung zu einem Ärgernis besonderer Art machen. Der sogenannte Super-30 i in der amerikanischen Handelsgesetzgebung hat mit der Gründung der WTO keine Existenzberechtigung mehr. Ob er je eine solche hatte, lasse ich dahingestellt sein.
Es geht einfach nicht, daß man als USA ein neues multilaterales Handelsabkommen unterschreibt, mit der WTO ein neues multilaterales Handelsgebäude schafft, sich aber andererseits das Recht vorbehält, einseitige Strafmaßnahmen gegen Handelspartner durchführen zu können. Dieses geht nicht. Deshalb müssen wir hierzu auch kräftig etwas sagen.Lassen Sie mich am Schluß meiner Ausführungen noch zu einem besonderen Thema kommen, das sehr aktuell ist. Es geht um den Beitrittsantrag der Volksrepublik China. Es geht auf die Dauer nicht, daß dieses Land mit der größten Bevölkerung der Erde außerhalb der Welthandelsordnung steht. Es ist inzwischen auch eines der größeren Handelsländer geworden. Es ist übrigens neben Saudi-Arabien das einzige Land, das mit Japan einen Handelsüberschuß hat. Darum ist der chinesische Wunsch, Mitglied im GATT und damit in der WTO zu werden, zu begrüßen. Aber es kann und darf nicht heißen, daß das ohne Regelung geht. Es geht nicht nur um die Fragen der Menschenrechtspolitik, sondern gerade auch um die inneren Marktverhältnisse in China. Hier gibt es genügend Kritik, und deswegen kann die Lösung meines Erachtens nur darin bestehen, diesem Land konkrete Bedingungen für den Eintritt und für die anschließende Anpassung zu stellen. Aber im Interesse der Stabilität sollten hier realistische Kompromisse für China gefunden werden.Ich hoffe, daß dabei auch Verbesserungen der Menschenrechte eine Rolle spielen. Aber ich warne ausdrücklich davor, sie zum alleinigen Maßstab zu machen; sonst müßten wir fairerweise und gerechterweise die Menschenrechtssituation auch in den Ländern untersuchen, die bereits im GATT sind. Ich füge angesichts der aktuellen Diskussion hinzu: Dann wäre die Frage, wie die Türkei denn zu beurteilen ist, eine spannende Frage im Rahmen des GATT.Wenn ich mich abschließend daran erinnere, mit welcher Euphorie nach der Punta-del-Este-Konferenz die Uruguay-Runde in Angriff genommen wurde und wie zäh der weitere Prozeß abgelaufen ist, möchte ich noch eine Bemerkung zur weiteren Arbeit machen. Ich glaube, wir dürfen nie wieder eine solche Mammutrunde zulassen. Diese Runde war überlastet.Wir sind uns darüber im klaren, daß es auch weiter vorteilhaft sein kann, Paketverhandlungen zu führen. Je größer das Paket, um so besser oder vielgestaltiger sind Möglichkeiten, das Geben und Nehmen auszutarieren. Aber diesmal sind wir an die Grenze gestoßen. Darum halte ich es für richtig, der zukünftigen WTO mit auf den Weg zu geben, Mammutpakete zu vermeiden, sondern das zu selektieren, was zusammenpaßt, und dort dann nach Kompromissen zu suchen.
Metadaten/Kopzeile:
19304 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Norbert WieczorekZuletzt möchte ich noch eine Bitte an die Bundesregierung richten. Auch ich habe die Verhandlungen in Genf und die Arbeit unserer Delegation verfolgt. In dem Maße, wie die WTO ihre Rolle ernst nimmt, mit den zahlreichen Kommissionen, die schon vereinbart sind oder noch vereinbart werden, plädiere ich sehr dafür, den Stab in Genf ordentlich auszubauen. Wenn es mit neuen Stellen nicht geht — das ist aus Haushaltsgründen wohl auch nicht erstrebenswert —, dann sollte man es durch entsprechende Umschichtungen machen.Ich bitte sehr herzlich darum, daß das, was manchmal zu spüren war, nämlich die Differenzen zwischen Auswärtigem Amt und Bundeswirtschaftsministerium, ordentlich geklärt wird, damit sich die Bundesregierung, auch auf Delegationsebene, in den Verhandlungen in Genf oder, wenn wir Glück haben, in Bonn — es ist ja begrüßenswert, wenn es so käme; ich habe vorhin meine Zweifel geäußert, ob wir nicht zu viel Hoffnungen erwecken —, wo immer die WTO angesiedelt ist, nicht erst untereinander zusammenraufen muß, sondern in gemeinsamen Schritten vorangehen kann. Ich hielte das für sehr notwendig. Es wird Aufgabe der künftigen Minister sein — wer immer dann für Wirtschaft und auswärtige Politik zuständig sein wird; das hat der Wähler zu bestimmen; das haben wir nicht zu bestimmen —, diesbezüglich eine Klärung herbeizuführen.Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Herr Kollege Wieczorek, ich glaube — das hat man j a auch während Ihrer Rede gemerkt —, wir sind uns in vielen Punkten einig. Ich halte das, was Sie zu Sozial- und Umweltstandards und zum Einbringen in multilaterale Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsordnung vorgeschlagen haben, im Grundsatz für richtig. Unter einer Bedingung, die allerdings dreimal unterstrichen werden muß. Sie haben es erwähnt, aber vielleicht nicht ganz so deutlich.
Das geht nur dann, wenn das Streitschlichtungsverfahren im GATT wirklich funktioniert, wenn nicht Mißbrauch getrieben werden kann und wenn gegen den Mißbrauch ein wirksames Instrument eingesetzt werden kann.
Zweite Bemerkung: Ich bin mit Ihnen der Meinung: keine Überfrachtung. Diese Runde war eine gewaltige Veranstaltung, eben wegen der Ausdehnung auf so viele Gebiete, die bisher nicht im GATT geregelt waren. Aber dem widerspricht eigentlich das, was Sie zum Sichbefassen mit Währungsfragen gesagt haben. So wichtig sie sind, ich sehe nicht, daß die Welthandelsorganisation die Wechselkursproblematik und alles, was damit zusammenhängt, in zufriedenstellender Weise lösen kann, nachdem es der Internationale Währungsfonds — was ich nicht kritisiere; auch er kann es nicht ändern — nicht fertiggebracht hat.
Die dritte Bemerkung bezieht sich auf haus- oder bundesregierungsinterne Dinge, auf Auswärtiges Amt und BMWi. Ich plädiere nachhaltig dafür, nicht aus alter Anhänglichkeit, sondern aus wirtschaftspolitischer Überzeugung — ich schließe mich dem an, was der Kollege Jens vorhin gesagt hat —, die Zuständigkeit für die Vertretung beim GATT, bei den multilateralen Organisationen in Genf beim Bundeswirtschaftsministerium zu belassen. Sie ist gut wahrgenommen worden; es besteht überhaupt kein Anlaß, das zu ändern. Der Ressortstreit, der aufgeführt wird, nicht von den Ministern, sondern, wie üblich, auf der Beamtenebene, ist unnötig und schadet nur.
Zur Erwiderung oder Ergänzung Dr. Wieczorek.
Graf Lambsdorff, ich glaube, es gibt zwischen unseren Meinungen gar keinen Unterschied. Wenn wir die Themen behandeln und es zu Abschlüssen in den Fragen der Standards kommt, dann ist es natürlich wichtig, daß das Streitschlichtungsverfahren funktioniert. Es ist einer der großen Vorteile, daß wir dieses Streitschlichtungsverfahren haben und nicht dieses — entschuldigen Sie den legeren Ausdruck — alberne Verfahren, das wir vorher hatten, bei dem der Verurteilte seiner eigenen Verurteilung zustimmen mußte; denn das war die alte Regelung. Das ist also gar keine Frage, aber es muß eben in das System aufgenommen werden. Wenn wir uns da annähern, ist das um so besser.
In der Währungsfrage betone ich noch einmal - ich habe das vielleicht nicht deutlich genug gemacht —: Das ist Sache des IWF. Aber mit den Auswirkungen im Handel kann sich die WTO künftig befassen. Das halte ich in der Zusammenarbeit der Institution für wichtig. Wir haben die WTO doch auch deshalb auf die Ebene des Währungsfonds gehoben — nachdem das 1948, als das auch ursprünglich geplant war, nach amerikanischer Intervention nicht gelungen ist —, damit hier eine Zusammenarbeit stattfinden kann. Ich glaube, dies wird nützlich sein. Wie sie konkret gehandhabt wird, wird man beobachten müssen. Darüber gibt es zwischen uns wiederum keine Differenz.
Zu Ihrer dritten Bemerkung: Das müssen die beiden Häuser selber regeln. Ich glaube, das sehen Sie ähnlich, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Mir war diese Diskrepanz aufgefallen. Ich halte es für nötig, hier im Plenum deutlich zu machen: Es kann nicht sein, daß zwei auch nur leicht differierende Stellungnahmen abgegeben werden und man die eine oder andere Position vertritt, je nachdem, aus welchem Hause man kommt.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Bernd Protzner das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier schon eine bemerkenswerte Feststellung zu treffen: Draußen im Land erklärt die Opposition, wie schwach diese Regierung ist, und hier im Bundestag hören wir von ihr, wie erfolgreich diese Bundesregierung, der Bundeswirtschaftsminister, der Bundeskanzler, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19305
Dr. Bernd ProtznerGATT-Delegation bei diesen langwierigen, schwierigen und umfangreichen Verhandlungen zum GATT-Abkommen von Marrakesch war.
Ich bin mir sicher, daß das ein gutes Zeichen für die Regierungsarbeit ist. Ich bin mir auch sicher, daß die Opposition in diesem Jahr noch mehrfach erklären wird, wie erfolgreich die Politik der Bundesregierung ist.Das GATT-Abkommen ist in der Tat ein großer Schritt vorwärts, ein großer Schritt für den Welthandel, für die Weltwirtschaft, für die Weltkonjunktur, für die Aufwärtsentwicklung, die wir gegenwärtig überall spüren, die wir verstärken und die wir ausbauen müssen. Das GATT-Abkommen wird den internationalen Austausch von Gütern und Dienstleistungen mehren. Es wird neuen Produkten und neuen Dienstleistungen Raum und Absatz geben. Es wird Bewegung in die internationalen Märkte bringen. Es wird den Wohlstand in der Welt mehren.Das GATT-Abkommen wird sich aber nicht nur auf den internationalen Märkten und nicht nur auf den Märkten anderer Nationen auswirken, sondern auch auf unserem nationalen Markt. Auch unsere Volkswirtschaft wird Impulse, Anstoß und frischen Wind erfahren. Bei uns wird GATT die Konjunktur weiter stärken und darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die strukturelle Erneuerung der deutschen Volkswirtschaft voranzubringen, sie leistungsfähiger zu machen, sie wettbewerbsfähiger zu machen, im Export und auf dem eigenen Markt.
Daher müssen wir das GATT-Abkommen als Chance begreifen, auch als Herausforderung. Wir haben ja alle feststellen müssen, daß wir bisher keine konkurrenzfähigen Produkte und Dienstleistungen hatten. Gerade die neuen Bundesländer mußten das in den letzten vier Jahren sehr schmerzlich erfahren. Wir brauchen dringend Innovationen.
Auch eine ganze Reihe von Regionen in den alten Bundesländern, lieber Herr Kollege, braucht Innovationen für Produkte und Dienstleistungen. Wir dürfen das nicht nur als Herausforderung für die Unternehmen sehen, sondern müssen das auch als politische Aufgabe verstehen — gerade auf Ihrer Seite —, denn wir brauchen Innovationen.Meine Damen und Herren, gerade die linke Seite ist es ja, die erhebliche Schwierigkeiten mit Innovationen bei Produkten und Dienstleistungen hat.
Dies veranlaßt einen Vertreter der linken Seite, den Kollegen Schwanhold, sich zu einer Kurzintervention zu melden.
Ich werde Ihnen die Gelegenheit geben, nachdem ich noch einige Ausführungen dazu gemacht habe. Dann können Sie umfassend antworten, lieber Herr Kollege.Sie müssen endlich lernen, neue Technik- und Dienstentwicklungen positiv zu sehen, die Technikfeindlichkeit abzubauen und die Technikakzeptanz zu verstärken.Unsere Lage in diesem Land ist doch dadurch gekennzeichnet, daß Sie dort, wo Sie in den Ländern in politischer Verantwortung stehen, behindern, blokkieren und die Bürokratie ausdehnen.
Es ist schön, was Herr Jens gesagt hat: Wir wollen eine aktive Wirtschaftspolitik betreiben. Aber, lieber Herr Kollege Jens, die Wirklichkeit ist doch zögerlich. Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn die SPD, statt ihre Zustimmung zu der Transrapidstrecke Hamburg-Berlin zu geben, hier eine Vorortbummelbahn betreiben will?
Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn die SPD, statt auf eine neue Generation von Hochsicherheitskraftwerken im Kernenergiebereich zu bauen, auf alte Techniken setzt?Herr Jens, ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn Sie sich auch heute wieder bei den Exportmöglichkeiten der Dual-use-Güter starr zeigen?
Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn die Ängste zur Gentechnik geschürt werden?Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn die Genehmigungsverfahren gerade in den sozialdemokratisch regierten Ländern immer weiter ausgeweitet, hinausgezögert werden, ja gerichtliche Entscheidungen von den Unternehmen gebraucht werden, um ordentliches verwaltungsmäßiges Handeln herzustellen?Ist es — um neue Bereiche anzusprechen, die im GATT noch nicht geregelt, aber im Kommen sind — aktive Wirtschaftspolitik, wenn im Medienbereich die Landesmedienzentralen in sozialdemokratisch regierten Ländern „Kleinkarodenken" vorführen und hier die Entwicklung leistungsfähiger Dienstleistungen und Produktstrategien verhindern?
Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn Sie letzte Woche neue Möglichkeiten der Personaldienstleistungen beim Arbeitsförderungsgesetz abgelehnt haben?Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn Sie überall Monopole und Monopolstellungen verteidigen, statt den innovativen Wettbewerb zu fördern?
Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn Sie private Infrastrukturfinanzierung ablehnen?Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn Sie gegenüber Privatkapital ständig Mißtrauen einbringen?
Metadaten/Kopzeile:
19306 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Bernd ProtznerIst es aktive Wirtschaftspolitik, wenn Sie sich noch immer reserviert halten gegenüber Betreibergesellschaften im Infrastrukturbereich? Sie wissen doch selber, Herr Jens, daß „bot-Regelungen" gerade im Export sehr förderlich sind, gerade in Übersee, gerade in Asien.Ist es aktive Wirtschaftspolitik, wenn Sie weiterhin an den planwirtschaftlichen Vorstellungen der Steuerung der Wirtschaft festhalten
und — wie Herr Wieczorek ausgeführt hat — nur eine Modernisierung der Steuerung wollen und nicht eine Abschaffung dieser Regulierungen und dieser Reglementierungen, die bei uns zur Belastung geworden sind?
Nehmen Sie doch endlich Abstand von diesen Bemühungen zur Bürokratisierung der Wirtschaft! Öffnen Sie sich doch!
Herr Jens, es nutzt doch nichts, wenn Sie sagen „Wir sind ein Land der Erfinder und Tüftler", wenn diese Erfinder und Tüftler keine Chance bekommen, diese Produkte auf breiten Volumenmärkten rechtzeitig und schnell umzusetzen, da hier andere Länder einen Vorsprung erhalten.
Die SPD zeichnet sich durch Starrheit aus, durch Bürokratie. Sie begreift nicht die Herausforderungen des GATT-Abkommens, die auf uns zukommen. Sie begreift nicht die Chancen. Das ist die schwierige Position, in der Sie sich befinden und aus der Sie herauskommen müssen, eine Position, die uns hilft, den Vorsprung in der Wirtschaftspolitik zu behalten.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Schwanhold das Wort.
Herr Kollege Protzner, wenn ich das Ende Ihrer Rede gekannt hätte, als ich diese Kurzintervention anmeldete, hätte ich darauf verzichtet,
weil das, was Sie gesagt haben, mit dem Thema dieser Debatte nichts zu tun hat und weil es sachlich und inhaltlich so gewesen ist, daß man sich eigentlich nicht damit auseinanderzusetzen hat.
Ich will Ihnen wenigstens zu drei Punkten etwas sagen, was Sie aus Gründen der eigenen Redlichkeit für sich zur Kenntnis zu nehmen haben.
Erstens sind Sie von der Koalition es gewesen, die den Forschungs- und Technologiehaushalt gekürzt haben. Das ist die wesentliche Ursache dafür, daß Innovationsfortschritte verpaßt werden.
Zweitens sind Sie es gewesen, die Investitionsabschreibungen kürzen wollten, was zur Folge gehabt hätte, daß Investitionen im Umweltbereich und technische Investitionen nicht geschehen wären. Die Sozialdemokraten haben das verhindert.
Drittens. Technikgläubigkeit hat nichts mit verantwortlichem Technikumgang zu tun, denn es kommt auf die Eindringtiefen an. Die verantwortungsbewußte Industrie hat längst erkannt, daß nur jene Technologien und Techniken, die nachhaltig zukunftsfähig sind, diejenigen sein werden, die Arbeitsplätze in der Zukunft sichern.
Zu all diesen Differenzierungen sind Sie offensichtlich nicht fähig.
Zur Erwiderung erteile ich dem Abgeordneten Dr. Protzner das Wort.
Lieber Herr Kollege Schwanhold, Ihre Wortmeldung zeigt, wie notwendig mein Redebeitrag war, weil Sie immer noch nicht den Zusammenhang zwischen weltwirtschaftlichen Entwicklungen und Strukturänderungen in der Bundesrepublik Deutschland begriffen haben, weil Sie immer noch meinen, daß man mit staatlicher Forschungsförderung mittels Beamten Innovationen voranbringen und antreiben kann, weil Sie immer noch nicht begriffen haben, daß der Wirtschaft und den Innovationen von unten her, von der Basis, von den Arbeitnehmern und den Unternehmern her, endlich Freiraum in dieser Republik eingeräumt werden muß, weil Sie immer noch nicht begriffen haben, daß wir freie Märkte und marktwirtschaftliche Möglichkeiten bekommen, die Wirtschaft voranzubringen.
Meine Rede war notwendig.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Klaus Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Entwicklungen sind heute nicht mehr national zu beurteilen und zu werten, sind heute nicht mehr nur europäisch zu beurteilen und zu werten — wir hatten auch Ende des letzten Jahrhunderts ein europazentriertes Weltbild —, sondern heute können wir Entwicklungen nur noch global analysieren und versuchen, nur globale Handlungsempfehlungen voranzutreiben.
Vor diesem Hintergrund müssen wir aber sehen, daß die politischen Entscheidungsstrukturen auf diesen Globalisierungsprozeß verzögert antworten. Deshalb — ich will es so sagen; man könnte aber die Kritik
Dr. Klaus W. Lippold
auch viel schärfer fassen — ist dieser Prozeß, den wir heute erleben, die Fortentwicklung des GATT zu einem weltweiten Wirtschafts- und Handelsabkommen, ein Fortschritt, ein deutlicher Fortschritt. Ich würde ihn auch nicht mindern wollen, Herr Kollege Jens.
Es ist ein Fortschritt, der ausgebaut werden muß, wobei wir uns allerdings über eines klar werden müssen. Es macht wenig Sinn, daß wir auf der internationalen, weltwirtschaftlichen Ebene segmentiert voranschreiten. Wir hatten die Rio-Konvention für Umwelt und Entwicklung. Wir hatten jetzt dieses Abkommen, in dem die Frage Wirtschaft behandelt wird, die Frage Wirtschaft in Relation zur Frage Umwelt, die Frage Wirtschaft in Relation zur Frage Sozialpolitik.
Ich glaube, diese verschiedenen Prozesse müssen zusammengeführt werden, damit wir zu einheitlichen, inhaltlich koordinierten Strukturen und zu einheitlichen, inhaltlich koordinierten Lösungsansätzen kommen.
Ich glaube, daß wir auf der einen Seite nicht Fehlentwicklungen im Bereich der Umwelt kritisieren können, ohne wirtschaftliche Entwicklung einzubeziehen. Wir können auf der anderen Seite keine Vorschriften für Länder der Dritten Welt machen, die deren Entwicklungsmöglichkeiten abschwächen würden, während wir gleichzeitig in der Wirtschafts- und Umweltpolitik diese Ansätze torpedieren.
Ich glaube also, daß wir die unterschiedlichen Ansatzpunkte — sei es Weltbank, sei es Internationaler Währungsfonds, sei es jetzt die Frage der WTO, sei es aber auch die Frage des Umweltschutzes in der Rio-Konferenz und in den Nachfolgeinstitutionen — zusammenführen müssen. Nur so können wir zu inhaltlich abgestimmten Lösungen kommen. Dabei müssen auch die Blöcke einbezogen werden.
Jetzt möchte ich noch einmal auf die Frage des Sozialdumpings eingehen. Ich glaube, Herr Kollege Jens, da haben Sie den Kollegen Protzner sehr mißverstanden; denn die Frage des Sozialdumpings birgt natürlich Protektionismusgefahren. Die Protektionismusgefahren gehen von denen aus, die früher, als sie im Wettbewerb fit waren, die Freiheit des Welthandels wollten, und in dem Moment, wo sie merken, daß sie nicht mehr fit sind, auf einmal entdecken, daß die Sozialstandards woanders verändert werden müssen.
Ich will Ihnen auch ganz deutlich sagen: Es kann nicht angehen, daß hier von dieser Seite, insbesondere von der Ihren, immer wieder das totale Höherschrauben der Sozialstandards gefordert und gleichzeitig gesagt wird: Die anderen, die nicht mithalten können, müssen das aber leisten, sonst müssen wir sie aus dem Welthandel ausschließen.
Das ist der Punkt, Herr Jens, weshalb Sie die Anforderungen, die der Kollege Protzner gestellt hat, völlig falsch verstanden haben. Wenn wir uns nicht fit machen für den Welthandel, wenn wir politisch nicht die Rahmenbedingungen schaffen, wenn wir uns nicht für den Standort Deutschland einsetzen, dann kommen wir in die Rolle der USA, wo man mittlerweile nicht selbst fitter werden, sondern den anderen entsprechende Anforderungen aufpressen will, damit man keine Anforderungen an sich selbst stellen muß.
Es ist ja gerade die Frage angesprochen worden, inwieweit die USA die Festschreibung von Quoten haben wollen. Darum kann es nicht gehen. Ich habe dem amerikanischen Handelsbeauftragten schon einmal gesagt: Es geht nicht darum, daß ihr die Möglichkeit erhaltet, altmodische Kühlschränke zugewiesenermaßen zu verkaufen, sondern ihr müßt dafür sorgen, daß eure Produkte so wettbewerbsfähig sind, daß sie auf den Weltmärkten bestehen können. Deshalb die Warnung vor der Gefahr des Sozialprotektionismus.
Wir müssen dabei in gleicher Weise darauf achten, daß sich nicht die zu Schiedsrichtern aufwerfen, die selber in der Frage des Wettbewerbs versagt haben. Das ist die unterschiedliche Situation. Hier ist gerade davon gesprochen worden: Der Verurteilte muß dem Urteil zustimmen. Es kann aber auch nicht sein, daß der Versager auf dem Weltmarkt jetzt die Welthandelsbedingungen diktiert. Das kann nicht gehen.
Dr. Lippold, der Abgeordnete Dr. Krause möchte Ihnen eine Frage stellen. Sind Sie bereit, diese zu beantworten?
Einen Satz zum Umweltschutz; dann, Herr Präsident, werde ich ihm gern die Gelegenheit einräumen.
Ein anderer Punkt ist die Frage des Umweltschutzes. Ich glaube, es muß darum gehen, daß wir in den anstehenden internationalen Beratungen der Vertragsstaaten auf der Folgekonferenz zur Rio-Konvention im nächsten Jahr in Berlin die entscheidenden Fortschritte erzielen. Wir dürfen keine falschen Ankoppelungen machen, sondern müssen in diesem Bereich die Anforderungen so stellen, daß zukünftig eine umweltverträgliche Entwicklung auch im Wirtschaftsbereich stattfinden kann, ohne daß die Vorsorge für die nachfolgenden Generationen auch nur näherungsweise gefährdet wird. Hier stellen sich große Aufgaben. Ich würde mich freuen, wenn wir alle gemeinschaftlich daran arbeiten würden, bei der Nachfolgekonferenz die Konventionen für Klima und für Wälder zu schaffen, damit wir endlich Fortschritte und Durchbrüche in der Frage des Umweltschutzes erzielen.
Herr Dr. Krause, bitte sehr.
Hochgeschätzter Herr Kollege, Sie sind gegen Sozialprotektionismus. Wir haben in Deutschland 6 Millionen Arbeitskräfte, die von der Bundesanstalt für Arbeit ernährt werden, und insgesamt mindestens 8 Millionen arbeitsuchende Arbeitsfähige. Bei welcher Schmerzgrenze würden Sie Ihre Meinung gegen-
Metadaten/Kopzeile:
19308 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Rudolf Karl Krause
über dem Sozialprotektionismus ändern — bei 12 Millionen, bei 15 Millionen Arbeitslosen? Wann würden Sie bereit sein, Sozialprotektionismus in Ihre Erwägungen einzubeziehen?
Was Sie ansprechen, Herr Kollege, ist der völlig falsche Weg. Durch die Abschottung von Märkten hat man in der Vergangenheit nachweislich immer wieder Anforderungen und Entwicklungen verhindert, nicht geschaffen. Wir haben in den vergangenen Jahren, insbesondere in den 80er Jahren, gezeigt, daß mit einer offensiven Wirtschafts- und Finanzpolitik Arbeitsplätze geschaffen wurden, nicht mit einer defensiven, wie Sie es wollen. Das ist der Punkt. Nicht indem man sich im Sandkasten vergräbt, gestaltet man die Arbeitsbedingungen für die nachfolgenden Generationen, für unsere Kinder und Enkel, sondern wir müssen sagen, daß wir Leistung bringen müssen und daß wir uns mit Leistung im Weltmarkt behaupten.
Politisch sind wir gefordert, die Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist Ihre wie unsere Aufgabe. Wir tun dies in weiten Bereichen. Aber wir müssen natürlich auch sehen, daß wir nicht alles haben können, die totale Weiterentwicklung und den Wohlstand, und gleichzeitig sagen können: Wir wollen aber, bitte schön, nicht mehr arbeiten; wir wollen das möglichst mit der 30-Stunden-Woche haben. Damit bestehen wir den internationalen Wettbewerb nicht, wenn andere sagen, sie wollten aber arbeiten und in gleicher Weise Leistung einsetzen wie wir, und wenn sie mittlerweile auch im Bildungsbereich aufgeholt haben.
Wir hatten früher Fortschritte in Bildung und Wissenschaft wie kein anderes Land. Unser System der dualen Ausbildung ist hervorragend. Wenn wir dieses weiterentwickeln — das sind die Ansatzpunkte, um zu bestehen — und unsere jungen Menschen fitmachen, damit sie die Herausforderungen bestehen, die in Zukunft kommen, dann haben wir auch wieder die Arbeitsplätze, die wir brauchen. Dann kriegen wir auch wieder die Situation, die wir gemeinschaftlich wollen. Dies geht aber nicht auf Ihrem Weg.
Ich will noch eines zum Umweltdumping sagen. Hier wird soviel von Umweltdumping und der entsprechenden Rolle der EG gesprochen. Wenn wir gleichzeitig in der EG jetzt unter einem mißverstandenen Subsidiaritätsprinzip auf einheitliche Standards verzichten — nicht zuletzt nach dem Motto: Umweltschutz kostet Geld; wenn wir Umweltschutz in den Südländern der EG nicht praktizieren, werden wir wettbewerbsfähiger —, dann haben wir genau das Gegenteil. Ich finde, da sollten wir zunächst bei den reichen Ländern ansetzen, weil die die Umwelt genug belasten, und wir sollten die Länder der Dritten Welt nicht auf die Anklagebank setzen, solange wir diejenigen sind, die Ressourcen im Übermaß verbrauchen.
Ich gebe da dem Kollegen Wieczorek recht, der einmal darauf hingewiesen hat, wo die Energieverbrauchszahlen liegen. An dieses Thema kann man nur mit einer differenzierenden Betrachtung herangehen.
Man darf aber diejenigen, die am wenigsten verbrauchen, nicht auch noch beschuldigen, sie betrieben Umweltdumping. Das ist die Ablenkung von den eigentlichen Problemen.
Ich finde, so ehrlich sollten wir doch alle miteinander sein, daß wir nicht auf die Schwachen hinweisen, sondern auf diejenigen, die stark sind. Bei denen sollten wir sagen: Die haben Anforderungen zu erfüllen. Wir sollten nicht den Schwachen noch Päckchen auflasten, die sie nicht tragen können, und gleichzeitig heuchlerisch so tun, als wollten wir der Dritten Welt helfen.
Ich kann es nicht haben, wenn die Entwicklungshilfepolitiker hier sagen, wir wollten für die Dritte Welt etwas tun, dann aber von der anderen Seite die Standards so gesetzt werden, daß die überhaupt keine Chance haben, das zu tun. Das ist scheinheilig, und das ist heuchlerisch. Ich bin für eine ehrliche Politik.
Ich bedanke mich.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bewertung des GATTAbkommens läßt sich auf einen knappen, geradezu mathematischen Satz beschränken: Dieses Abkommen ist notwendig, aber eben nicht hinreichend.
Es ist notwendig, weil es ein Krebsgeschwür der internationalen Handelsbeziehungen beseitigt bzw. erheblich abbaut, nämlich die vielfältigen offenen und verdeckten Einschränkungen des freien Verkehrs von Waren. Es trägt hoffentlich auch dazu bei, daß sich ein entsprechend freier Kapitalverkehr und auch die freie Migration von Arbeitskräften — und das nicht nur innerhalb der Lander der Triade — weitaus stärker als bisher entwickeln werden.
Es ist allerdings zugleich unzureichend, weil es den --Entschuldigung, Herr Präsident, ich muß mir jetzt schlicht und einfach meine Brille holen.
Ich meine, man muß Verständnis dafür haben, daß man die zweiten Augen, wenn man sie liegengelassen hat, auch während einer Rede holen kann.Bitte sehr, Herr Abgeordneter Dr. Briefs.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19309
Selbst bei vielem Augenmaß, das man ja hier in dieser Rolle an den Tag legen muß, braucht man eben gelegentlich so etwas wie eine Sehhilfe.
Das Abkommen ist allerdings zugleich unzureichend, weil es den beiden dringlichsten weltweiten Problemen, nämlich dem Wirtschafts- und Sozialgefälle zwischen dem reichen Norden, also uns, und dem armen Süden, also den Entwicklungsländern im Trikont, und der wachsenden Umweltzerstörung im Weltmaßstab nicht abhilft. Dieses Gefälle und die Umweltzerstörung werden vielmehr, wenn nichts anderes als die durch das Abkommen weiter entfesselten freien Kräfte des Weltmarkts wirkt, weiter gewaltig verschärft. Darüber müssen wir uns im klaren sein.
Die armen Länder des Südens müssen etwa im freien Austausch für unsere technologischen Spitzenprodukte immer größere Teile ihrer Naturressourcen und ihrer sowieso gering entwickelten Arbeitsproduktivität an uns, die reichen Lander, abliefern. Das ist, um Samir Amin zu zitieren, das eherne Gesetz des ungleichen Tausches zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden, das durch dieses Abkommen noch folgenschwerer für die Menschen im Süden zur Wirkung kommen wird.
Dieses Gesetz führt dazu, daß sie an uns sogar in wachsendem Maße die Mittel abliefern müssen, die sie dringend für ihre eigene Entwicklung, z. B. für Investitionen, für die Infrastruktur, brauchen. Die dabei notwendige Kreditaufnahme und Kreditexpansion wird die Verschuldung der Dritten Welt noch weiter wachsen lassen, und das selbst dann, wenn wir bereit sind, die heutigen Schulden ganz oder auch nur teilweise zu streichen.
Zug um Zug mit der notwendigen Liberalisierung müssen daher z. B. Rohstoffabkommen abgeschlossen werden, die den Entwicklungsländern faire Bedingungen garantieren. Es müssen entsprechende Fonds geschaffen werden. Zug um Zug mit der Liberalisierung müssen umfangreiche und wirklich wirksame Entwicklungshilfeprogramme mit an die sozialen und ökologischen Bedingungen der sogenannten Dritten Welt angepaßter technischer Hilfe aufgelegt werden. Die Entwicklungshilfe muß gewaltig aufgestockt werden, und sie darf nicht weiter in weiten Bereichen vor allem Exportförderung für die einheimische Wirtschaft und Industrie sein. Zug um Zug damit müssen Konzepte zur Förderung eines nachhaltigen Wachstums und einer nachhaltigen Entwicklung in den Ländern der sogenannten Dritten Welt entwickelt und politisch umgesetzt werden. Übrigens wäre das ein Feld, wo der arme Süden und der reiche Norden, also wir, gemeinsam lernen und entwickeln könnten und wo wir im Norden unsere überschüssigen Produktivkräfte zumindest teilweise sehr sinnvoll einbringen könnten. Das hat nichts — nichts! — mit dem Ingangbringen eines blinden chaotischen Wachstumsprozesses zu tun, der die natürliche Umwelt weiter belasten würde.
Umgekehrt: Bleibt es lediglich bei den Ergebnissen der GATT-Runde und geschieht nichts, was in die soeben angesprochenen Richtungen weiterführt, so wird es nur einen ökologisch gefährlichen und womöglich sozial katastrophalen und deshalb perspektivlosen Wachstumsschub geben, der uns nach einiger Zeit in die nächste große weltweite Wirtschaftskrise fallen lassen wird. Die sogenannte Dritte Welt braucht — das an die Adresse des Kollegen Lambsdorff —nicht nur „trade", sie braucht weiterhin und weitaus mehr als bisher auch „aid", sie braucht Hilfe. Umfassende Hilfen und politisch bewußtes Hinsteuern auf nachhaltige Entwicklung sind eben nicht nur aus ökologischen Gründen wünschenswert; sie sind auch als Ergänzung und zur Stabilisierung der durch das GATT-Abkommen entfesselten Weltwirtschaft mit ihren unsozialen Folgen sinnvoll und sogar notwendig.
Meine letzte Anmerkung — gerade vor dem Hintergrund dessen, was der Redner vor mir, der Kollege Lippold, gesagt hat —: Umfassende Hilfe für die Dritte Welt schafft insbesondere den notwendigen Rahmen für den Schutz der Beschäftigten in den Industrieländern durch ausreichende Mindestsozialstandards.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieser Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Die Strukturkrise der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie überwinden, den Textilstandort Deutschland erhalten
— Drucksache 12/7242 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Dr. Sigrid SkarpelisSperk, Wolfgang Roth, weitere Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Arbeitsplätze in der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie sichern, ihren Strukturwandel aktiv begleiten und unterstützen
— Drucksachen 12/4919, 12/7332 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Ich erteile zunächst der Abgeordneten Frau Elke Wülfing das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie hat seit 1970 fast 600 000 Arbeitsplätze verloren, ist mit 300 000 Beschäftigten aber immer noch eine der größter. Branchen in Deutschland. Der Strukturwandel, der sich in den letzten 25 Jahren abgespielt hat, hat nicht dazu geführt, daß irgendein Unternehmer auf die Idee
Metadaten/Kopzeile:
19310 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Elke Wülfinggekommen wäre, Subventionen zum Erhalt dieser Arbeitsplätze zu verlangen, wie z. B. bei der Kohle.
Wahrscheinlich liegt es daran, daß in dieser Branche mehr als 90 % der Betriebe mittelständisch strukturiert sind; und wenn ein mittelständischer Betrieb zu Grunde geht, dann macht das offensichtlich keine nationale Katastrophe aus.Der Bekleidungsbereich hat sich nur dadurch in Deutschland halten können, daß die lohnkostenintensiven Produktionsteile ins Ausland verlagert wurden. Der Textilbereich hat sich in den 70er Jahren von einer lohnkostenintensiven zu einer kapitalkostenintensiven Industrie entwickelt. Dadurch ist es gelungen, seit 1970 den Umsatz immerhin zu vervierfachen. Dies führte allerdings nicht zu höheren Gewinnen. Die Gewinne bewegen sich weiterhin im Bereich einer Umsatzrendite von ca. 2 % nach Steuern.Der enorme Fremdkapitalbedarf für diese Investitionen hat dazu geführt, daß die Eigenkapitalquote im Textilbereich bei mageren 17 % liegt. Das heißt, jeder kleinste Konjunktureinbruch, jeder kleinste Nachfragerückgang oder jede Preissenkung ziehen Konkurse nach sich, weil kein finanzielles Polster vorhanden ist.1974 ist mit dem Welttextilabkommen der Versuch unternommen worden, Importe und Exporte in einem gewissen Rahmen zu halten. Trotzdem hat sich der Import nach Deutschland versiebenfacht, der Export nur verfünffacht. Damit ist der Anteil der Importe am Verbrauch von Textilien in Deutschland auf 455 Dollar je Einwohner gestiegen. Im Vergleich: Italien bringt es auf Textileinfuhren von nur 158 Dollar je Einwohner. Ich denke, das liegt nicht daran, daß die Italiener weniger anhaben.Aus diesem Grund hatte die Bundesrepublik ein besonderes Augenmerk auf die Konditionen zur Überführung des Welttextilabkommens in das GATT. Grundsätzlich sind wir — wir haben das soeben gehört - mit den Regelungen, die für die deutsche und europäische Textil- und Bekleidungsindustrie in der GATT-Runde erreicht worden sind, zufrieden. Dies gilt vor allem für die Marktöffnung der textilen Lieferländer. Außer Indien und Pakistan haben sich alle diese Lieferländer zu schrittweisem Zollabbau für den Import von hochwertigen deutschen oder europäischen Textil- und Bekleidungsprodukten verpflichtet.Für die im GATT festgelegten Importquoten brauchen wir allerdings eine besser ausgestattete Kontrolleinrichtung, als wir sie jetzt auf der europäischen Ebene haben. Die USA beschäftigen zur Durchleuchtung von Handelsströmen immerhin 300 Personen, während die Europäische Kommission für diese Aufgabe nur 10 Personen abstellt. Wenn man noch bedenkt, daß die Volksrepublik China, die zur Zeit noch nicht Mitglied des GATT ist, mit illegalen Umgehungseinfuhren in Milliardenhöhe den deutschen und europäischen Markt überschwemmt,
dann sind unsere Forderungen nach einer verbesserten Importkontrolle und nach einer möglichen Importquotenkürzung für China urn so verständlicher.Die Diskussion heute morgen hat gezeigt, daß der Abschluß der GATT-Runde in Marrakesch für unsere deutsche exportorientierte Wirtschaft von großer Bedeutung ist. Andererseits, muß man sagen, zeigt das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie, in welchem Ausmaß das rasante Steigen von Billigimporten Einfluß auf die Überlebensfähigkeit unserer deutschen Arbeitsplätze nimmt. Deswegen haben wir in unserem Antrag zur Strukturkrise der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie, der Ihnen vorliegt, formuliert: „die Durchsetzung einer schrittweisen Erhöhung der Sozial- und Umweltstandards in den Lieferländern im Rahmen der Uruguay-Nachfolgeverhandlungen." Die Bildung des Umweltausschusses und des Interimsausschusses beim GATT weist hier in die richtige Richtung.Wenn ich dann allerdings den SPD-Antrag vom Mai 1995 nehme und mir anhöre, was z. B. Herr Wieczorek in der heutigen Debatte über das GATT hier gesagt hat, dann muß man hier doch feststellen, daß vieles von dem, was in dem Antrag steht, unrealistisch ist. Dort steht nämlich, im Rahmen dieser GATT-Runde soll das Abkommen um soziale und umweltbezogene Standards ergänzt werden — jetzt kommt es —, „wie sie auch in der Europäischen Gemeinschaft gelten". Es könnte sein, daß sich Herr Stihl darauf bezogen hat und daß er das als krassen Unrealismus seitens der SPD bezeichnet. Das kann ich allerdings nur unterstützen.
— Nein, das Ziel kann es ja nicht gewesen sein; denn die GATT-Runde ist abgeschlossen.Die Entwicklungsländer werden auf Dauer erkennen, daß eine soziale Mindestabsicherung ihrer Arbeitnehmer und die Einhaltung bestimmter Umweltstandards ihnen nicht schaden, sondern nützen. Nicht nur im weltweiten Wettbewerb, sondern auch auf dem europäischen Markt gibt es Wettbewerbsverzerrungen, die den Erhalt von deutschen Arbeitsplätzen schwierig machen.
Wir fordern daher die Europäische Kommission nachdrücklich auf, das grundsätzliche Verbot sektoraler Beihilfen durch eine schärfere Beihilfenkontrolle durchzusetzen. Für die durch Überkapazitäten belastete europäische Textilindustrie ist es wichtig, daß Beihilfen, die nicht dafür vorgesehen sind, auch nicht dazu mißbraucht werden, weitere Überkapazitäten zu schaffen. Der Chemiefaserkodex, der ein solch strenges Beihilfeverbot vorsieht, sollte daher nicht nur verlängert werden, sondern auch als gutes Beispiel für andere Branchen dienen.Die Auslagerung von lohnintensiven Produktionsbereichen, die die Bekleidungsindustrie bisher über Wasser gehalten hat, findet in zunehmendem Maße
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19311
Elke Wülfingnicht mehr nach Asien statt, sondern in die mittel- und osteuropäischen Länder.
Ich weiß, daß die Auslagerung von lohnintensiven Produktionsbereichen nicht auf das Verständnis von SPD und Gewerkschaften stößt. Realistischerweise muß man allerdings feststellen, daß die in Deutschland noch existierenden 120 000 Arbeitsplätze in der Bekleidungsindustrie nur durch diese Mischkalkulation gesichert werden konnten. Außerdem fördert diese sogenannte passive Lohnveredelung die Zusammenarbeit der textilen Produktionen im zusammenwachsenden Europa.Nun will die Europäische Kommission eine Harmonisierung der Nutzung dieses Instruments herbeiführen. Hier besteht die Gefahr, daß andere Textilländer, die dieses Instrument nicht so intensiv nutzen wie wir, uns mit zu hohen Anforderungen einen Strich durch die Rechnung machen. Wir fordern hier die Bundesregierung auf, diese Textilländer in Europa für unsere Meinung zu gewinnen und mit Deutschland an einem Strang zu ziehen.Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie wird auch durch hausgemachte Kostenbelastungen weiter verringert. Eine große Rolle spielen hier die Energiekosten. Heute zahlen deutsche Textilunternehmen im Vergleich zu ihren Wettbewerbern bei weitem die höchsten Strompreise. Deswegen kann ich die Bundesregierung nur auffordern, bei der Einführung einer europaweiten Energiesteuer diesen Kostenaspekt nicht außer acht zu lassen.Daß auch die Umweltauflagen besondere Kostenbelastungen für Unternehmen bringen, wissen wir eigentlich alle. Daß sie jedoch in anderen Ländern in diesem Maße nicht vorhanden sind, ist das Problem.
Die deutschen Vorschriften zur Gewässerreinhaltung und deren minutiöser Vollzug belasten speziell die textile Veredelungsindustrie. Es ist daher unerläßlich, daß die Bundesregierung eine Überprüfung der Realisierung der europäischen Gewässerrichtlinie in den europäischen Ländern beantragt. Gegebenenfalls muß sogar der Zeitplan für den Ausbau der dritten Klärstufe bis nach 1998 gestreckt werden.
Auch die Steuern auf gewerbliche Einkünfte sind in Deutschland höher als in vielen textilen Wettbewerbsländern und bedürfen deswegen einer weiteren Korrektur nach unten, nicht nach oben, wie einige in diesem Hause vorschlagen.Ich kann daher die Bundesregierung in ihrem Bemühen nur unterstützen, den begonnenen Weg der Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung, des Bürokratieabbaus und der Deregulierung, der Privatisierung und des Subventionsabbaus konsequent weiterzugehen. Der Abbau dieser Kostenbelastung ist eine Daueraufgabe und darf auch in Phasen des konjunkturellen Aufschwungs nicht vernachlässigt werden, wenn wir Arbeitsplätze in Deutschland langfristig sichern wollen.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Sigrid SkarpelisSperk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie befindet sich nicht bloß in einer ernsten „Strukturkrise", wie der Antrag der Koalitionsfraktionen verharmlosend formuliert, sondern in einer dramatischen Lage. Für große Teile ihrer noch 300 000 Beschäftigten steht die Existenzfrage an. Die ostdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie ist weitgehend zerstört. Wie viele Arbeitsplätze am Ende dieses Jahres noch da sein werden, kann niemand zuverlässig sagen.Aber diese Lage hat den Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Rexrodt, nicht veranlassen können — — Übrigens stelle ich mit Erstaunen fest, daß die Bundesregierung die Textildebatte so ernst nimmt, daß niemand mehr in diesem Hause vorhanden ist.
Das ist angesichts der Lage der Textilindustrie schlicht unerträglich.
Man hätte erwarten können, daß jemand da ist.Jedenfalls hat das den Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Rexrodt, nicht veranlassen können, die Probleme der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie tatsächlich ernst zu nehmen und gezielt zu handeln, obwohl in dieser Branche immer noch mehr Menschen beschäftigt sind als in der deutschen Stahlindustrie oder in der deutschen chemischen Industrie.Allen Lippenbekenntnissen der Bundesregierung zum Trotz: Die Vernichtung von mehr als 550 000 Arbeitsplätzen seit 1970 — darauf hat die Kollegin Wülfing hingewiesen —
hat wohl auch deswegen wenig Fürsorge gefunden, weil diese Branche mittelständisch strukturiert, regional nicht konzentriert ist und außerdem überwiegend Frauenarbeitsplätze hat.Wenn ich sehe, mit welcher Leidenschaft und Ausdauer bei den GATT-Verhandlungen für die Agrar-
Metadaten/Kopzeile:
19312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperkwirtschaft gerungen wurde und wie wenig auf die Durchsetzung tatsächlich fairer Wettbewerbsverhältnisse in der Textil- und Bekleidungsindustrie gedrungen wurde, frage ich mich, ob der Koalitionsantrag nicht bloße Kosmetik für die betroffenen Betriebe und die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen darstellen soll.
Ich darf Sie, Frau Kollegin, auch darauf hinweisen, daß unser Antrag nicht vom Mai 1995 ist — wir haben noch April 1994 —, sondern immerhin vom Mai 1993. Damals haben wir unsere Wünsche für die Formulierung und für die Durchsetzung in der GATT-Runde geäußert.
Sind Sie bereit, eine Frage zu beantworten?
Gerne.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete Wülfing.
Liebe Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, sind Sie der Meinung, daß Sie der Branche mit dieser Schärfe, mit der Sie hier formulieren, nützen?
Frau Kollegin Wülfing, ich meine, daß es die Aufgabe der Opposition ist, hier nicht nur Lobsprüche zu verteilen, sondern auch anzusprechen, wo die Probleme dieser Wirtschaft und ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen,
und auch zu kritisieren, wenn es die Bundesregierung in dieser Debatte nicht für nötig hält, den Wirtschaftsminister oder einen der Staatssekretäre hier erscheinen zu lassen.
Frau Abgeordnete, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß der Staatssekretär da sitzt, und zwar von Anfang an.
Gut.
Die Abgeordnete Wülfing möchte eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete Wülfing.
Frau Skarpelis-Sperk, Sie sind seit 15 Jahren im Bundestag; ich bin hier noch nicht so lange. Was hat die SPD-F.D.P.-Koalitionsregierung seit 1970, seitdem es der Branche schlechtgeht, für diese Branche denn getan?
Frau Kollegin Wülfing, ich freue mich, daß Sie meine Anwesenheit im Bundestag um zwei Jahre verlängern. Nach 1980, seit ich im Bundestag bin, waren wir leider nur noch zwei Jahre in der Regierung. Aber ich darf Ihnen mitteilen, daß die Etablierung des Welttextilabkommens mit der Festlegung von Quoten für die deutsche Textilindustrie dieser Branche weit mehr beim Überleben geholfen hat, als viele der großzügigen Reden des Kollegen Lippold über Innovation und vieles andere mehr es getan haben.
Aber nun möchte ich gerne zum Bericht der Bundesregierung an den Wirtschaftsausschuß zu den Auswirkungen des GATT auf die Textil- und Bekleidungsindustrie kommen. Denn der macht deutlich, daß nicht nur — wie die Koalitionsfraktionen es formulierten — annähernd gleiche Wettbewerbsbedingungen in den Wettbewerbsländern in der Europäischen Union, in Mittel- und Osteuropa und in Asien erst langfristig herstellbar sein werden — ich stimme Ihnen zu, daß das nicht über Nacht geht —, sondern daß die Bundesregierung — das ist unsere Kritik — es in Teilen gar nicht versucht hat und sogar innerhalb der Europäischen Union gemeinsam mit Großbritannien zu den Hauptbremsern z. B. bei der Aufnahme von sozialen und ökologischen Mindeststandards gehört hat.Im Bericht würdigt die Bundesregierung die GATTEinigung positiv; das soll sie auch tun. Gleichzeitig aber fehlt in dem Bericht die Würdigung jener Probleme, die für die betroffenen Menschen und die Regionen entstehen.
Sie tut vielmehr so, als sei mit diesem Regelwerk bis auf kleinere Probleme tatsächlich ein fairer Handel für die Industrie hergestellt. Das ist nicht richtig.
Die Bundesregierung flüchtet sich, was die Auswirkungen von Marrakesch angeht, in den Verweis auf ein kommendes Forschungsgutachten. Sicherlich, wir wünschen uns auch einen soliden wissenschaftlichen Bericht. Wenn aber eine Bundesregierung, ein Bundeswirtschaftsminister angesichts jahrzehntelanger Erfahrungen nicht in der Lage ist, angesichts schließlich bekannter Liefer- und Absatzstrukturen über denkbare Folgen des GATT ein Wort zu sagen, ist das schon verdammt dürftig. Hier hätte die Öffentlichkeit doch einige konkrete Aussagen erwarten dürfen.Zum Beispiel — um das einmal positiv zu formulieren — darüber, welche Marktchancen die vereinbarten Zollsenkungen in den USA und Japan für die Industrie eröffnen können; ob die Bundesregierung — ähnlich dem Beispiel einiger Bundesländer beim Maschinenbau — eine Kooperation der mittelständischen Industrie im überseeischen Marketing durch z. B. Messeförderung zu unterstützen gedenkt; wo umgekehrt mit höherem Importdruck zu rechnen ist, und welche Region das treffen kann; wie die Bundesregierung die Marktposition deutscher Hersteller — ich sage ausdrücklich: mit marktkonformen Mitteln wie Verbesserung der Transparenz, Kennzeichnungspflichten und ähnlichem — zu unterstützen gedenkt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19313
Dr. Sigrid Skarpelis-SperkKein Satz in dem Bericht zur Flankierung auch der absehbar unvermeidbaren weiteren Strukturanpassung!Wir dürfen uns doch nicht in die Tasche lügen, Frau Kollegin Wülfing, als seien damit die Probleme in der Textil- und Bekleidungsindustrie beseitigt oder nicht vorhanden.
Was wollen Bundesregierung und EU-Kommission außer dem Ausbau der bisher geringfügigen Textilforschung tun? Wollen Sie eine Neuauflage des RETEXProgramms? Wollen Sie Sonderprogramme innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung"? Nichts davon im Bericht, nichts davon im Wirtschaftsausschuß, nichts davon in den Presseverlautbarungen von Minister Rexrodt!
— Es gibt auch gute mündliche Berichte dazu. Ich sage Ihnen eines: Der Wirtschaftsausschuß ist überlastet. Dieser Frage aber hat er sich am Mittwoch offensichtlich nicht gerade ausgiebig gewidmet.
Die Bundesregierung hat tatsächlich keine Ahnung von den absehbaren Konsequenzen, oder sie will es nicht wissen; denn sonst hätte sie doch wenigstens einige der denkbaren Konsequenzen im Bericht formuliert.Wir dagegen, die SPD-Bundestagsfraktion, haben in der Tat schon seit dem vergangenen Jahr wirksame Initiativen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und auch zur Sicherung zukunftsträchtiger Arbeitsplätze verlangt. Wir unterstützen deswegen nachdrücklich die von der Gewerkschaft Textil und Bekleidung vorgelegten zehn Vorschläge zur Sicherung der Arbeitsplätze.
Wir fordern auch ein Sofortprogramm zur Stabilisierung und Schaffung zukunftsträchtiger Arbeitsplätze in der Textil- und Bekleidungsindustrie, von denen ich heute im Zusammenhang mit der GATT-Debatte nur jene Punkte besprechen will, die unmittelbar handelspolitisch relevant sind.Punkt 1. Wir brauchen eine zukunftsweisende Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik, die mithilft, daß plötzliche, erratische Währungsschwankungen vermieden werden. Jetzt muß ich Ihnen kritisch auch etwas zu unseren eigenen Positionen in dem Punkt sagen: Wenn wir eine Beggar-my-neighbour-Politik europäischer Mitbewerber mit plötzlichen Abwertungen von 11 % bis 30 %, wie im vergangenen Jahr, haben, kann das nicht nur die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie nicht mehr wegstecken,
sondern genauso wenig der Maschinenbau, die Automobilzulieferindustrie und die Keramikindustrie.
— Richtig, auch die Landwirtschaft.Auch die Wechselkurse zu den meisten ehemaligen Comecon-Ländern: Um Gottes willen, wer nimmt denn an, daß die jetzigen Wechselkurse tatsächlich die realen Faktorkosten widerspiegelnde Austauschverhältnisse sind? Von 50 Pfennig als Lohnsatz in der Ukraine kann man auch dort nicht leben. Ich meine, darüber muß man auch mal offen sprechen, daß das taktische Austauschverhältnisse sind.Punkt 2. Die Umsetzung der GATT-Beschlüsse vom Dezember 1993 muß nun auch wirklich von allen Ländern umfassend erfolgen. Es geht nicht an, daß sich die Bundesrepublik an die Beschlüsse hält und sie zeitgleich umsetzt, während sich andere zu Lasten von Arbeitsplätzen Zeit lassen und herumtricksen.
Der Abgeordnete Ost würde gern eine Frage von Ihnen beantwortet bekommen, wenn Sie einverstanden sind.
Wenn es nicht angerechnet wird.
Selbstverständlich rechne ich Ihnen das nicht an. — Bitte sehr.
Frau Kollegin. Sie wollen eine in die Zukunft gerichtete Finanz- und Währungspolitik, die erratische Schwankungen bei den Währungen und Wechselkursen unmöglich macht. Vielleicht können Sie uns mal erklären, wie Sie das machen wollen, etwa gegenüber dem Rubel und gegenüber anderen Währungen, auch Coupons, die ja für mittel- und osteuropäische Staaten erst ausgegeben worden sind. Würden Sie nicht zugeben, daß wir das Europäische Währungssystem schon haben, das dafür sorgt, daß wir — jedenfalls in der Europäischen Union — stabile Wechselkurse haben?
Herr Kollege Ost, mich verwundert Ihre Erklärung außerordentlich, daß wir innerhalb der Europäischen Union Währungskurse haben, bei denen es nicht zu erratischen Schwankungen kommt.
Die 11 bis 30 % Währungsschwankungen des vergangenen Jahres, die ich genannt habe, betrafen Italien, Spanien und Großbritannien.
Wir müssen hier zu einer gemeinsamen Politik in Europa kommen. Sie stellen den Finanzminister! Hinzunehmen, daß von heute auf morgen Währungsrelationen um 30 % geändert werden, und Sie oder wir sagen dann der Industrie: Steckt das mal in irgendwelchen Lohn- oder Energiekosten weg! — das ist ausgeschlossen. Oder wenn jetzt beim Eintritt Finnlands die Finnen als Eintrittsgeschenk um 11 %
Metadaten/Kopzeile:
19314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperkabwerten durften, dann dürfen Sie sich nicht wundern, daß uns die betroffenen Industrien fragen: Das laßt Ihr auf unserem Rücken zu?
Ich sage ja nicht, Herr Kollege Ost, daß jeder dieser Schritte vermeidbar ist. Ich sage nur eines: Wir müssen im Rahmen der Europäischen Union wenigstens verhindern, daß dies alltäglich wird; denn das kann keine Industrie wegstecken. Und wenn es zu taktisch begründeten Abwertungen kommt, dann müssen Europäische Union und Bundesregierung deutlich machen, daß sie dies zumindest kein zweites Mal hinzunehmen bereit sind.Deswegen sage ich Ihnen jetzt auch zum taktischen Verhalten: Wir müssen darauf achten, daß die USA und Japan die zugesagten Zollsenkungen auch tatsächlich einhalten, denn es gibt erste Bestrebungen im amerikanischen Kongreß, zu sagen, dies werde wegen Einnahmeverlusten nicht gehen.
Punkt 3. Die Umsetzung des in der GATT-Einigung vorgesehenen Muster- und Designschutzes. Je stärker die Zölle fallen, desto wichtiger wird ein wirksamer Musterschutz. Nur, eine einfache Hinterlegung dürfte nicht ausreichen, um gegen Musterklau und Markenpiraterie zu schützen. Entscheidend ist hier die Frage — da sind wir ja mit Ihnen einig — der praktischen Sicherung des geistigen Eigentums, die Frage, wie Mißbrauch festgestellt wird, welche Beweisregelungen es gibt, wie man das abstellen kann, Fragen der Schadenersatzregelungen und Sanktionen. Denn hier handelt es sich nicht um Großindustrie, die das mal wegstecken kann, hier geht es um kleine und mittlere Betriebe, die, wenn sie nach einem langwierigen Verfahren Recht bekommen, schlicht pleite sind. Deshalb muß diesem Punkt mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden als der schriftlichen Deklaration im Vertrag.Deshalb ist auch die Frage der Erarbeitung wirksamer Sanktionsregelungen im Rahmen des GATT wichtig. Da sind sehr viele Fragen bei der Umsetzung offen. Ich will sie auch mal kritisch ansprechen, auch wenn ich das positiv würdige.Es wird zwei Organe im GATT geben, den GATT-Warenrat und den TMB. Es bleibt unklar, welche Zuständigkeiten und Befugnisse die haben. Angesichts dieser Situation sind ein Kompetenzwirrwarr und Handlungsunfähigkeit der World Trade Organization denkbar. Auch beim Bereich der Sanktionsregelung fehlt die Konkretisierung: Wer stellt die Regelverstöße fest? etc.Das Wichtigste aber — das ist auch in dieser Debatte herausgekommen — ist die Berücksichtigung von sozialen und ökologischen Mindeststandards im GATT. Der Bericht erhält keinen Satz darüber, welche Position die Bundesregierung eingenommen hat und wie sie künftig agieren will.Ich habe es schlimm gefunden, daß der Bundesminister nicht im Ausschuß und nicht im Bundestag darüber geredet hat,
welche Position er hat, sondern diesem Parlament über Indien hat mitteilen lassen, daß er anderer Meinung ist als die in diesem Parlament versammelten Parteien.Besonders komisch ist es, wenn der Herr Bundesaußenminister Kinkel auf Menschenrechtskonferenzen, wie in Wien, erklärt, nun müsse man das aber alles durchsetzen, die Meinungsfreiheit — die ja wohl auch für den Betrieb gilt — müsse unbedingt gewahrt werden. Bundesumweltminister Töpfer streitet in Europa und weltweit für die Durchsetzung ökologischer Mindeststandards.Aber dort, wo aus Sonntagsreden praktische Konsequenzen zu ziehen wären, wo Mindestmenschenrechte — ich rede noch nicht von unserem Rechtsstaat — und ein etwas geringerer Mißbrauch der Natur zum Wohle der gesamten Menschheit in praktische Handelsverträge einzubringen und durchzusetzen wären, erklärt der Wirtschaftsminister während seines Besuches in Indien, diese Fragen sollten nicht in der Welthandelsorganisation behandelt werden, die auch nicht mit der Verantwortung hierfür und entsprechenden Kontrollinstanzen überlastet werden dürfe.Ich freue mich, daß unsere Kollegin von der F.D.P. angesichts des vorliegenden Koalitionsantrags noch Gelegenheit haben wird, uns über diesen Widerspruch zwischen der Haltung der Koalitionsfraktionen und der Ministererklärung Auskunft zu geben.
Ich weiß, und das weiß übrigens auch Herr Rexrodt: Es gibt außer den jetzigen GATT-Verhandlungen keine anderen wirksamen Institutionen oder Instanzen in der Welt. Wenn Herr Lambsdorff sagt: Wir sind ja auch dafür; das muß woanders geregelt werden — ja, bitte, wo denn? Es ist doch heuchlerisch, wenn man auf die UNO und die ILO verweist, die keine Sanktionen haben.
Es geht uns wirklich nicht um den Aufbau neuer Handelsbarrieren, wenn wir ein Verbot von Sklaven- und Kinderarbeit, von Menschenrechtsverletzungen, Zwangsarbeit, Verfolgung von Gewerkschaften verlangen und sagen, es müßten einigermaßen — einigermaßen! — menschenwürdige Arbeitsverhältnisse gesichert werden.
Wenn man weiß, wie die Lebenserwartung von Kindersklaven und Jugendlichen ist, daß sie zum Teil bereits mit 20 Jahren sterben, muß man es als Heuchelei betrachten, wenn gesagt wird: Diese Kinder brauchen das zum Überleben. Das sind Argumente wie im 18. Jahrhundert, als man Kinder in die englischen Kohlengruben geschickt und gesagt hat, das sei nötig, weil sie das Notwendige zum Leben verdienen müßten und sittlich verrohen würden, wenn sie nicht mit acht Jahren unter Tage arbeiteten. Diese Argumente, die im 18. und 19. Jahrhundert für Europa
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19315
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperkschon unerträglich waren, dürfen doch heute nicht für den Rest der Welt übernommen und auf ihn übertragen werden. Eltern, die nicht genug verdienen, um Kinder unter zehn Jahren ernähren zu können — das ist die Realität, und da müssen wir etwas bewegen.
Die Handelspolitik ist derzeit das einzige Druckmittel, um diejenigen Machthaber, die diese menschlich unerträglichen Zustände in ihren Ländern nicht nur dulden, sondern fördern und verschärfen, nicht auch noch durch Wettbewerbsvorteile im internationalen Handel zu belohnen.
Und deswegen ist es für Sozialdemokraten unverständlich, warum gegen die Europäische Union die Bitte von Präsident Clinton nicht berücksichtigt worden ist, Sozial- und Ökostandards aufzunehmen. Die Behauptung, das gehe nicht, ist doch spätestens seit dem NAFTA-Vertrag widerlegt. Da hat man gezeigt, daß es geht. Wir bitten die Bundesregierung inständig, sich doch anzugucken, welche Erfahrungen im NAFTA-Bereich gemacht werden und wie man sie praktikabel auch in die Welthandelsorganisation übernehmen kann.
Frau Abgeordnete, ich gebe Ihnen seit geraumer Zeit ein Zeichen, aber jetzt muß ich Sie leider unterbrechen; ich bin dazu gehalten.
Entschuldigung. — Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Deutschland hat eine jahrhundertelange Tradition als Textilstandort. Man kann meiner Kollegin nur zustimmen, daß wir eine moderne und kapitalintensive Industrie haben. Die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie hat keinen Modernisierungsrückstand.
Aber sie muß in einem Punkt geschützt werden: Wir müssen sie fairen Wettbewerbsverhältnissen aussetzen und nicht unfairem Handeln.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Manta Sehn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, liebe Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, möchte ich hier etwas loswerden: Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, wenn Sie hier sagen, der Wirtschaftsausschuß sei überlastet, weil Ihrer Meinung nach zwei Punkte dort nicht ausreichend behandelt worden sind. Ich habe Sie am Mittwoch dort leider nicht gesehen, und ich könnte die Frage theoretisch auch umgekehrt stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von vielen unbemerkt hat sich seit mehr als 20 Jahren in den alten Bundesländern ein Strukturwandel in der Textil- und Bekleidungsindustrie vollzogen. In den Unternehmen der neuen Bundesländer ist dies in ganz kurzer Zeit fast noch gravierender nachgeholt worden.
— Nein, nachher.
Überwiegend mittelständisch geprägt, ist die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie ein Musterbeispiel dafür, wie sich ein Wirtschaftszweig unter schwierigen Wettbewerbsbedingungen ohne staatliche Hilfe und ohne Subventionen durchgekämpft hat. Schon vor Jahrzehnten hat sich hier die Einsicht durchgesetzt, daß sich mit finanzieller staatlicher Unterstützung die strukturell bedingten Probleme nicht lösen lassen. Auch die Gewerkschaft hat sich in der Vergangenheit sehr moderat verhalten, obwohl mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze seit 1990 einfach verschwunden ist.Produktionsinnovationen und Prozeßinnovationen sowie Markt- und Standortinnovationen waren die Strategien, mit denen der Strukturwandel in den letzten 20 Jahren bewältigt wurde. Die weiter fortschreitende Internationalisierung ist ohne Zweifel — neben der weltweiten Rezession — der Hauptmotor für den wieder verschärften Strukturwandel.Die teilweise extrem hohen Unterschiede im Bereich der Arbeitskosten bewirken, daß eine Produktion zu wettbewerbsfähigen Preisen in Deutschland nicht mehr möglich ist. Angesichts der niedrigen Löhne in Osteuropa ist es nicht schwer, die Grenzen der deutschen Lohnpolitik zu erkennen. Eine Arbeiterin in Bayern verdient in der Stunde dreizehnmal soviel wie ihre Kollegin in der Tschechischen Republik. Osteuropäische Arbeitskosten sind nicht zu unterbieten. Dies kann auch nicht unser Ziel sein.
Metadaten/Kopzeile:
19316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Marita SehnDeutschland wird auch in Zukunft ein Hochlohnland sein.Die Öffnung der Grenzen nach Mittel- und Osteuropa verschärft auf der einen Seite den Konkurrenzdruck. Gleichzeitig werden aber auch vielfältige Möglichkeiten für Kooperationen und Teilproduktionsverlagerungen, die zur Sicherung eines harten Kerns von Produktion und Beschäftigung in Deutschland beitragen, möglich.Sehr erfreulich, besonders für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie, ist der erfolgreiche GATTAbschluß. Hier gilt mein besonderer Dank Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt für seinen Einsatz.
Das Welttextilabkommen wird Ende des Jahres auslaufen und schrittweise in die allgemeinen Regeln des GATT auf der Basis verstärkter und verbesserter GATT-Regeln und -Disziplinen überführt.Von besonderem Wert ist für die deutsche und europäische Textil- und Bekleidungsindustrie der verbesserte Schutz des geistigen Eigentums. Das neue Abkommen enthält Regelungen, die ein hohes Schutzniveau und eine effiziente Durchsetzung aller Rechte des geistigen Eigentums gewährleisten sollen. Die Staaten werden verpflichtet, neue und eigentümliche Muster und Modelle gegen Nachahmung zu schützen. Damit soll vor allem der verbreiteten internationalen Produktpiraterie entgegengewirkt werden.Weit verbreitet ist im Textilbereich die unerlaubte Verwendung von Warenzeichen und Firmenemblemen, vor allem von Herstellern von Luxusartikeln. Auch hier ist mit dem neuen Abkommen der verbesserte Schutz von Marken vorgesehen. Zum ersten Mal wird in einem internationalen Handelsabkommen der Schutz des geistigen Eigentums festgeschrieben.Die neuen Antidumpingbestimmungen entsprechen in wesentlichen Teilen den Anliegen der Textilindustrie. Strenge Richtlinien für die Feststellung von Dumpingmargen und Schädigungsumfang wurden festgelegt und die Verpflichtung zur Transparenz der Verfahren eingeführt. Alle betroffenen Parteien erhalten einklagbare Rechte auf Präsentation ihrer Fakten und Argumente. Die Rechtssicherheit wird durch die Stärkung der Schiedsgerichtsverfahren des GATT erhöht.Der verabschiedete neue Subventionskodex beinhaltet erstmals die Einteilung der Subventionen in verschiedene Kategorien. Bemerkenswert ist, daß für bestimmte Subventionstatbestände eine direkte Schadensannahme vorgesehen ist.Auf der einen Seite enthält dieser neue Subventionskodex eine Verschärfung der Subventionsdisziplin, auf der anderen Seite werden ausdrücklich Forschungs- und Regionalbeihilfen sowie bestimmte Umweltbeihilfen erlaubt.Ein weiterer wichtiger Schritt gerade für den Textilbereich ist die Öffnung der Märkte der Hauptlieferländer. Indien und Pakistan waren bisher nicht bereit, ihre horrenden Zölle abzubauen. Hier wird noch nachverhandelt. Wir sollten alle hoffen, daß die Verhandlungskommission der Europäischen Union hier erfolgreich ist.Die Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland hat besonderen Wert darauf gelegt, in der Uruguay-Runde die Grundlage für faire weltweite Handels- und Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und die Märkte der anderen Industrieländer und der großen Entwicklungsländer mit schnellem Nachfragezuwachs für qualitativ und modisch hochwertige Produkte zu öffnen. Gute Ausgangspositionen für unsere Textil- und Bekleidungsindustrie im internationalen Wettbewerb sind erreicht worden.Frau Kollegin, ganz kurz zum Arbeits- und Sozialdumping. Auch die F.D.P. — und mit ihr natürlich Bundeswirtschaftsminister Rexrodt — sieht dieses Problem und tritt hier für eine Änderung ein.
Das haben wir heute morgen bereits verschiedentlich gehört. Glauben Sie denn allen Ernstes, daß wir Kinderarbeit toll finden?
Aber ich habe in der Politik gelernt, daß nicht alles, was wünschenswert ist, auch gleich in die Tat umgesetzt werden kann. Sie haben hier ein Beispiel aus England genannt. Ich denke, auch die Entwicklungsländer haben ein Anrecht darauf — leider, muß ich sagen; wir würden es gern anders sehen—, langsam in diese Strukturen hineinzuwachsen, in denen wir uns bereits befinden.
Die Furcht der Entwickungsländer vor protektionistischen Versuchen der Industrieländer, unter dem Deckmantel von Verstößen gegen soziale Ziele Importhindernisse aufzubauen, müßten doch gerade Sie gut verstehen. Ich zumindest kann dem gut folgen.
— Nein, Frau Matthäus-Maier. — Es muß unser gemeinsames Ziel sein, im Dialog mit den Entwicklungsländern hier zu wirklich greifenden Änderungen zu gelangen. Dazu sind wir nicht nur bereit, sondern das müssen wir vorantreiben, und zwar gemeinsam.
Meine Damen und Herren, die Anstrengungen der Lohnpolitik müssen ergänzt werden durch eine Politik wachstums- und beschäftigungsfreundlicher Rahmenbedingungen. Unter dem Stichwort Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist bereits eine breite Grundlage erörtert worden. Mit dem Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung sind eine ganze Reihe von Maßnahmen bereits umgesetzt.Die zentrale politische Herausforderung der kommenden Jahre ist es, den Staat schlanker zu machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19317
Marita SehnZuviel wurde in der Vergangenheit vom Staat verlangt, und der Staat war bereit, zu vieles zu übernehmen.
So ist er in den letzten Jahren über privates Engagement und wirtschaftliche Betätigung gewuchert. Die Soziale Marktwirtschaft, die für mich auch die Rücksichtnahme auf eine lebenswerte Umwelt enthält, wird vielfach durch die Staatswirtschaft verdrängt. Ein deutliches Alarmsignal ist die Zunahme der Staatsquote. Inzwischen werden 54 % des Bruttoinlandsprodukts durch staatliche Ausgaben bewegt.Die Zurückführung des Staates auf den Kern seiner Aufgaben ist daher unverzichtbar. Hierzu gehören vier Komponenten: erstens Ausgabeneinsparungen, zweitens Steuersenkungen, drittens Privatisierung und viertens Deregulierung. Vor allem der Abbau von Subventionen ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe, denn Subventionen kommen nur wenigen zugute, am wenigsten dem Mittelstand. Sie verzerren den Wettbewerb und belasten den Steuerzahler.
Unvermeidliche neue Subventionen sollten daher auf fünf Jahre befristet und degressiv gewährt werden.Zurückhaltende Lohnpolitik und Beschränkung des Staates auf den Kern seiner Aufgaben — das ist für manchen bittere Medizin. Er muß dem Besitzstandsdenken ade sagen. Nicht alles ist machbar, was wünschenswert ist. Immer mehr zeigen sich die Grenzen der Politik. Harte Arbeit, neue Beweglichkeit und auch das Akzeptieren von mehr Ungleichheit sind erforderlich, um den Wirtschaftsstandort Deutschland für die Zukunft wetterfest zu machen.Die Textilwirtschaft hat schon in der Vergangenheit vorgemacht, daß dieser Weg gangbar ist. Anders als hochsubventionierte Branchen hat sie den damaligen Strukturwandel bewältigt. Die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie gehört unbestritten in der gesamten Welt neben der italienischen zu denen mit dem technisch und modisch höchsten Know-how. Gelingt es, die Rahmenbedingungen erträglich zu gestalten, wird dies auch weiterhin so sein. Das ist gleichzeitig das beste Beschäftigungsprogramm.Hier liegen die Probleme unserer Unternehmen. Es wäre mehr als hilfreich, wenn die SPD und Sie, Frau Kollegin, an dieser Arbeit konstruktiv mitwirken könnten.
Vielen Dank.
Zu einer kurzen Klarstellung erteile ich der Abgeordneten Frau Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk das Wort.
Frau Kollegin, Sie haben zu Recht kritisiert, daß ich am vergangenen Mittwoch nicht im Wirtschaftsausschuß präsent gewesen bin. Ich darf Ihnen mitteilen, daß ich an diesem Tag auf einer Textilkonferenz mit 200 Betriebsräten und Unternehmern in Hof diese Positionen vertreten habe.
Zu einer hoffentlich kurzen Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
Frau Kollegin Sehn, wir hatten eben einen kurzen Disput, und Sie haben leider keine Zwischenfrage zum Stichwort Kinderarbeit zugelassen.
Ich hoffe, daß Sie sich versprochen haben, aber auf unsere Zwischenrufe, daß wir das ja nicht zulassen können, sagten Sie sinngemäß: Auch die Entwicklungsländer haben ein Anrecht darauf, über diesen Weg ökonomisch auf die Beine zu kommen.
Ich stimme Ihnen zu, daß in der Politik oft das Wünschbare länger dauert und daß es möglicherweise länger dauert, Kinderarbeit weltweit wirklich zu verhindern. Aber auf der anderen Seite sage ich Ihnen: Kein Land der Welt, auch kein Entwicklungsland, hat das Recht, vier, fünf, neun Jahre alte Kinder zwölf Stunden lang am Tag mit Teppichknüpfen zu beschäftigen. Das ist moralisch verwerflich und heute bereits auch juristisch verboten.
Ich hoffe, daß Sie sich nur unklar ausgedrückt haben.
Dies veranlaßt mich, der Abgeordneten Frau Sehn noch einmal das Wort zu erteilen.
Also, ich versuche es. — Zuerst an Sie, Frau Skarpelis-Sperk: Wir Abgeordnete wissen alle, daß wir in Sitzungswochen hier zu sein haben. Wir haben eine Präsenzpflicht. Ich sage das jetzt einfach mal so. Der Wirtschaftsausschuß ist nun einmal ein wichtiger Ausschuß, und man kann nicht sagen: „Er ist überlastet", wenn man selber nicht dabei war. Ich finde das einfach nicht in Ordnung. Das ist das erste.
— Ich war oft genug da; das können Sie nachprüfen. Ich habe nicht wegen Veranstaltungen gefehlt. Ich habe einmal gefehlt, und zwar wegen Krankheit. Das ist wirklich wahr. Das können Sie nachprüfen.Frau Matthäus-Maier, wir haben uns vielleicht nicht recht verstanden: Ich wollte darauf hinweisen, daß es mir bei dem, was Sie anprangern, genauso geht. Es tut einem in der Seele weh, wenn man sieht, was für ein Leben diese Kinder haben. Aber die Entwicklungsländer haben natürlich Befürchtungen, daß der Protektionismus, gerade auch bei uns — auch wir alle in den Industrieländern haben Probleme —, dazu führen könnte, daß man durch solche Dinge vielleicht andere
Metadaten/Kopzeile:
19318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Marita SehnWege aufzeigt. Für mich ist es ein Problem. Wir müssen ganz vorsichtig darüber nachdenken; wir müssen darüber reden, und wir müssen gemeinsam, im Dialog mit den Entwicklungsländern, versuchen, hier für Änderungen zu sorgen. Nur so bieten wir eine Chance für die Kinder. Es kann leider anders nicht sein.
— Nein, ich will mich nicht reinreden. Es ist meine ganz persönliche Meinung. Ich denke, wir haben im Augenblick leider nur zwei Chancen. Wir werden das durch Reden nicht verändern können. Die Kinder haben die Chance, entweder zu arbeiten und etwas zu essen zu haben, oder sie haben die Chance, nicht zu arbeiten und nichts zu essen zu haben. Genau das ist das Problem in den Entwicklungsländern.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Fritz Schumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Vergleich zu den hier in den Anträgen und in den Reden geschilderten Problemen der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie seit den sechziger Jahren ist die rasche Abwicklung der ostdeutschen Betriebe geradezu ein Schnellverfahren gewesen.
Im Textilgewerbe waren in den neuen Ländern im Januar 1991 noch rund 111 000 Menschen beschäftigt, im Oktober 1992 waren es noch knapp 21 % davon. Im Bekleidungsgewerbe vollzog sich im gleichen Zeitraum ein Abbau der Beschäftigten von 61 400 auf 15 800, also auf 26 % der Beschäftigten. Besonders betroffen wurden vom Wegfall der Arbeitsplätze Frauen. In der Bekleidungsindustrie in der ehemaligen DDR waren früher 80 % der Arbeitsplätze durch Frauen besetzt.
Die Dimension des Wegfalls von Arbeitsplätzen verdeutlicht, daß es sich hierbei keinesfalls nur um ein Branchenproblem handelt, und es ist illusorisch zu glauben, daß diese Arbeitsplätze in dieser Branche wieder entstehen können. Ich glaube, darüber gibt es große Einigkeit. Zum Ausgleich ist es einfach dringendst erforderlich, Maßnahmen für Beschäftigung in diesen Branchen zu verbinden mit Maßnahmen für einen Strukturwandel und mit Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen in anderen Branchen und Sektoren in den besonders betroffenen Regionen. Das ist in der kurzen Zeit bisher eben nicht geschehen.
Mit dem Abbau in der Textil- und Bekleidungsindustrie verringerte sich die Beschäftigung in der gewerblichen Wirtschaft insgesamt. Zum Beispiel hat es in den besonders betroffenen Regionen und Landkreisen in Sachsen innerhalb von weniger als zwei Jahren einen erheblichen Arbeitsplatzabbau in der gewerblichen Wirtschaft gegeben. Wenn ich hier z. B. einmal ein paar Kreise aufführen darf: im Kreis Annaberg von 12 300 auf 3 600 Beschäftigte, im Kreis Flöha von 6 000 auf 2 200 Beschäftigte, im Kreis Glauchau von 9 340 auf 2 279 Beschäftigte, im Kreis Hohenstein-Ernstthal von 9 300 auf 2 910 Beschäftigte, im Kreis Werdau von 11 200 auf 3 300 Beschäftigte. Das sind nur einige Beispiele. In der Regel wurde die Zahl der Arbeitsplätze auf ein Drittel reduziert.
Auch von diesem Arbeitsplatzabbau ausgehend, bin ich, im Unterschied zu anderen hier geäußerten Meinungen, der Auffassung, daß die Probleme der Textil- und Bekleidungsindustrie, zumindest die in Ostdeutschland, nicht nur zu Lasten anderer Länder gelöst werden können. Wir fordern die Bundesregierung auf, selbst einen Beitrag für die Textil- und Bekleidungsindustrie zu leisten.
Einen ersten Schritt haben wir darin gesehen, daß sich die Bundesregierung mit den Betroffenen, den Vertretern von Belegschaften, Betriebsräten, der Gewerkschaft und den Vertretern der besonders betroffenen Regionen zusammensetzt. Wir hatten im Bundestag einen konkreten Antrag zu den Regionen Berlin, Sachsen und Thüringen eingebracht. Was damit geschehen ist? — Das übliche.
Zweitens kann die Umstellung von der in den neuen Ländern typischen Massenproduktion auf innovative Erzeugnisse und die Erschließung von Absatzmärkten nicht den verbliebenen Kleinstbetrieben — das sind sie inzwischen — überlassen werden. Hier ist eine wirksame Förderung durch die Bundesregierung gefragt. Dabei geht es nicht um eine Vielzahl neuer Programme, sondern um eine Förderung, die wirksam neue Beschäftigung sichert.
Drittens begrüße ich die Maßnahmen, die im Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. zur Sicherung der überlebensfähigen Betriebe der ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie und insbesondere zur Verbesserung des Marktzugangs und der Absatzförderung der Produkte aus der Textil- und Bekleidungsindustrie der neuen Länder vorgesehen sind. Nur muß ich hier einmal die Frage stellen: Was ist denn eigentlich konkret vorgesehen?
Die Überschrift „Bundeswirtschaftsminister kündigt Maßnahmen zur Verbesserung des Absatzes für ostdeutsche Erzeugnisse an" konnte man in Zeitungen dutzendmal lesen.
Mich würde einmal interessieren: Macht sich die Bundesregierung jemals die Mühe, zu prüfen, wie sich der Absatz der betreffenden Erzeugnisse im Ergebnis ihrer Maßnahmen tatsächlich verändert hat? Nun wird beharrlich wiederholt: Wenn die Maßnahmen nicht getroffen worden wären, würde es noch schlimmer aussehen. — Aber das ist doch nicht die Frage.
Die Treuhand weist in ihrer jüngsten ganzseitigen Anzeige in den Zeitungen zu Recht darauf hin, daß sich die Schere des Absatzes zwischen Ost- und Westprodukten auch in den letzten Jahren weiter zugunsten der Westprodukte aufgetan hat. Wenn eine
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung, Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19319
Dr. Fritz Schumann
wirkliche Veränderung der Lage gewollt ist, müssen wirksame Maßnahmen getroffen werden. Wie ist es mit einer Wertschöpfungspräferenz für Ostprodukte?
Viertens halten wir ausgehend davon Maßnahmen der Bundesregierung zur konkreten Umstrukturierung in Deutschland für erforderlich. Im Mittelpunkt sollte eine Unterstützung von Maßnahmen stehen, die Arbeit in der Textil- und Bekleidungsindustrie durch Lohnkostenzuschüsse sichern. Schließlich sollte der Strukturwandel auch durch eine Arbeitszeitverkürzung begleitet werden. Die Arbeitszeitverkürzung müßte vielleicht drastischer ausfallen, als von den Tarifparteien bisher angedacht. Ohne staatlichen Zuschuß zum Lohnausgleich geht das nicht. Der Stundenlohn in der Textilindustrie liegt um 5 DM unter dem Industriedurchschnitt. Die Lohnkostenzuschüsse müßten Lohneinbußen für abhängig Beschäftigte, die ein unterdurchschnittliches Einkommen haben, vollständig abwenden.
Deshalb halte ich die im Antrag der SPD-Fraktion enthaltenen Maßnahmen weiterhin für außerordentlich notwendig und unterstütze sie. In der Textil- und Bekleidungsindustrie müssen Arbeitsplätze gesichert werden, der Strukturwandel muß aktiv begleitet und von der Bundesregierung unterstützt werden.
Danke.
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft Dr. Reinhard Göhner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon heute morgen in der Debatte um den Abschluß der GATTRunde gemeinsam festgestellt, welch immense Bedeutung das internationale handelspolitische Umfeld für die deutsche Industrie hat. Das gilt natürlich ganz besonders auch für die Probleme der Branche, die wir hier diskutieren, der Textil- und Bekleidungsindustrie.Viele Einzelaspekte der GATT-Runde schlagen unmittelbar auf diese beiden Branchen durch, und das gilt keineswegs nur für das Abkommen über Textil- und Bekleidungswaren. Wir müssen das Ergebnis dieser Verhandlungen im Textilsektor vielmehr im Gesamtzusammenhang sehen, z. B. in Verbindung mit dem Abkommen über die Errichtung der Welthandelsorganisation, den Marktöffnungsverhandlungen, dem Abkommen über die Bekämpfung von Dumping und Subventionen und nicht zuletzt dem neuen Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums.Ich denke, wir können sagen, daß bei diesem Abschluß und bei den einzelnen Abkommen die wesentlichen Verhandlungsziele für die Textil- und Bekleidungsindustrie erreicht werden konnten.
Auch die Industrie sieht das so.
Zu der Kontroverse, die hier eben ausgebrochen ist: Es ist zwar Wahlkampf, aber nun lassen Sie uns doch nicht Scheinkontroversen aufbauen.
Jedermann hier im Hause ist gegen ausbeutende Kinderarbeit, gegen Zwangsarbeit;
jedermann hier ist gegen Umweltzerstörung und Umweltdumping. Wir müssen in der Tat entschlossen darauf hinwirken, daß wir diese unerträglichen Zustände in der Welt überwinden.
Aber: Gerade weil das notwendig ist, dürfen wir keine neuen Barrieren schaffen, die den Kreislauf von Armut, Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit und Umweltzerstörung verschärfen.
Das, was Sie hier als angeblichen Widerspruch meinen ausmachen zu können, ist natürlich kein Widerspruch.
Die Äußerungen von Herrn Minister Rexrodt in Indien, vor Marrakesch, bezogen sich auf die Frage, ob man bei dem Abschluß in Marrakesch noch eine entsprechende Regelung aufnehmen könne. Da kann ich nur sagen: Wer das ernsthaft gewollt hätte, der hätte einen Beitrag zu neuem Protektionismus und zum Scheitern des GATT-Abkommens geleistet.
Das hätte exakt diesen Kreislauf von Armut über Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit zu Umweltzerstörung nur noch verschärft.
Wir müssen weiter darauf drängen, z. B. auch im Interesse der Textil- und Bekleidungsindustrie, daß wir diese Zustände in einigen Entwicklungsländern abschaffen. Dafür sind z. B. die Gremien der UN, der ILO, also der Weltarbeitsorganisation, da. Dort werden wir auch entschieden darauf hinwirken.Aber wir alle und gerade auch diese Länder würden daran Schaden nehmen, wenn man die Umwelt- und Sozialstandards als Vehikel in der neuen Handelspolitik nehmen und damit einen neuen Protektionismus schaffen würde.Sie müssen einmal ganz genau hingucken, wer denn diese Forderungen im Rahmen der GATTVerhandlungen erhoben hat;
dann erkennen Sie schnell die eigentliche protektionistische Hintergrundsituation, die dabei eine Rolle gespielt hat.
Metadaten/Kopzeile:
19320 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard GöhnerMeine Damen und Herren, ich denke, daß es jetzt darum gehen muß, diese erzielten Ergebnisse schnell umzusetzen, bei allen Welthandelspartnern die Anwendung konsequent sicherzustellen. Das werden wir mit Nachdruck betreiben; denn nur so sichern wir die handelspolitische Flankierung, die auch notwendig ist, um der deutschen und europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie die Möglichkeit für die weiter notwendigen Strukturanpassungen zu verschaffen.Strukturkrisen, Strukturanpassungen sind für diese beiden Branchen sicher nichts Neues. Ich selbst komme aus einer Region, in der die Textil- und Bekleidungsindustrie einem großen Strukturwandel unterworfen gewesen ist.
Wir haben das schon in den letzten Jahrzehnten erlebt. Textil- und Bekleidungsindustrie haben diesen Wettbewerbsdruck in der Vergangenheit aber auch erfolgreich genutzt, um innovativ und kreativ neue Strukturen aufzubauen. Das wird sich auch jetzt fortsetzen. Es treffen Verschärfungen im internationalen Wettbewerb auf der einen Seite und Standortprobleme — wie wir sie aus der allgemeinen Standortdiskussion kennen — auf der anderen Seite zusammen.
Die hohen Lohn- und Lohnzusatzkosten, die im internationalen Vergleich in der Tat noch zu hohe Steuerbelastung, kurze und unflexible Arbeits- und Maschinenlaufzeiten, die Energiekosten, die im internationalen Vergleich strengeren Umweltauflagen, all das sind Faktoren, die hier schon von einzelnen Vorrednern beleuchtet worden sind; sie spielen dabei eine Rolle. Deshalb ist es auch und gerade im Sinne dieser Branchen, daß wir mit der Standortdiskussion und mit der Umsetzung unserer Standortziele konsequent fortfahren.
So wie wir mit dem Standortsicherungsgesetz bereits einen Beitrag geleistet haben, vor allem auch zur steuerlichen Entlastung der mittelständischen Industrieunternehmen — in der Textil- und Bekleidungsindustrie handelt es sich ja vornehmlich um mittelständisch geprägte Unternehmen —, so werden wir das jetzt in diesem Bereich mit der nächsten Stufe der Unternehmensteuerreform fortsetzen, die wir vor der Sommerpause vorlegen werden, so haben wir das im Bereich Arbeits- und Maschinenlaufzeiten mit der Novellierung des Arbeitszeitrechtsgesetzes auf den Weg gebracht, und so haben wir das mit vielen Schritten der Deregulierung getan, um Planungs- und Genehmigungsverfahren zu vereinfachen. Das gehört zu dieser Debatte.Wir haben in der Textil- und Bekleidungsindustrie im dritten Jahr in Folge eine verringerte textile Produktion: Im letzten Jahr wurde die Produktion in der Textilindustrie immerhin um 11 % zurückgefahren. Der Umsatz sank in der gleichen Größenordnung. Das ist eine reale Abnahme der Umsätze um 4,5 Milliarden DM. Damit verbunden ist leider auch eineAbnahme der Zahl der Beschäftigten um 21 000 Arbeitnehmer, ebenfalls ein Minus von 11 % im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden verminderte sich sogar um 14 %. Bruttolöhne und Bruttogehälter verminderten sich allerdings nur um 7 %. Auch hieran wird ein gewisses Strukturproblem deutlich.Damit hat die Textilindustrie gegenüber 1990 fast ein Fünftel ihres Produktionsvolumens verloren. Nimmt man die uns verfügbaren Außenhandelsdaten hinzu, so kann man feststellen, daß die Textileinfuhr etwa um 10 % zurückgegangen ist, der Export aber gleichzeitig um 15 %.Mit der Vertiefung der europäischen Integration, der Einbindung unserer östlichen Nachbarn in die Weltwirtschaft und dem Aufkommen der industriellen Schwellenländer, vor allem in Südostasien, stehen wir zweifellos weiterhin vor tiefgreifenden Veränderungen im Rahmen des internationalen Strukturwandels.Der Wandel in der ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie war und ist besonders hart für alle Beteiligten. Hier mußte in ganz kurzer Zeit nachgeholt werden, was in der westdeutschen Branche bereits 20 Jahre zuvor bewältigt wurde.Hinzu kommt, daß die Textilunternehmen der ehemaligen DDR völlig heruntergewirtschaftet waren. Hier hat die Bundesregierung mit einem marktkonformen Förderinstrument angesetzt, nämlich der Absatzförderung für die ostdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Dies ist 1993 angelaufen, wird in diesem Jahr fortgesetzt und in Blick auf Praxisnähe und Effizienz angepaßt.Die Bundesregierung steht zu diesem Konzept der Erhaltung von Kernen und der Entwicklung von neuen Kernen und bemüht sich mit der Treuhandanstalt verstärkt um die Sanierung von sanierungsfähigen Unternehmen.Die Globalisierung der Märkte und der Unternehmen verschärft noch den Konkurrenzkampf mit anderen Standorten. Unsere Konkurrenten sind in die traditionellen Stärken unserer Textil- und Bekleidungsindustrie eingebrochen. Das gilt für Qualifikation, Produktivität, technologischen Standard und Infrastruktur. Die Niedriglohnländer nutzen gleichzeitig konsequent ihre Kostenvorteile. Durch die neuen Konkurrenzstandorte, die sich rasch entwikkeln können, ist deshalb unsere Bekleidungs- und Textilindustrie auch angesichts des Wegfalls der Mauern in wirtschaftlicher Hinsicht noch vor eine zusätzliche Herausforderung gestellt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier ist bereits darauf hingewiesen worden, daß wir mit den Maßnahmen zur Standortsicherung, mit dem Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung Zusätzliches leisten, um einen Beitrag dazu zu erbringen, die Textil- und Bekleidungsindustrie als eine typische Mittelstandsbranche hier am Standort zu festigen. Dazu gehören auch die neuen mittelständischen Elemente, die wir gerade jetzt auf den Weg gebracht haben. Ich erinnere an die Weiterbildung im Handwerk, an die Wiedereinführung des Eigenkapitalhilfeprogramms auch für die alten Länder und an
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19321
Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnerdie ERP-Förderprogramme, die wir noch einmal angepaßt haben.Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen führt diese Punkte auf, die gerade auch für die Textil- und Bekleidungsindustrie von entscheidender Bedeutung sind. Deshalb begrüßt die Bundesregierung auch die Initiative der Fraktionen. Wir flankieren damit die Anstrengungen der Wirtschaft, die natürlich Voraussetzung dafür sind, daß wir in Deutschland eine erfolgreiche Industriekultur behalten.Die Bundesregierung wird alles dafür tun, daß die Textil- und Bekleidungsindustrie, wie bisher kreativ und innovativ, als eine typische Mittelstandsbranche zum Erfolg des Industriestandortes Deutschland insgesamt beitragen kann — trotz des Strukturwandels, den wir nicht aufhalten können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Karl-Josef Laumann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Helmuth Becker! Meine Damen und Herren! Ich freue mich als Abgeordneter eines Wahlkreises, in dem die Textilindustrie noch der größte Einzelarbeitgeber ist, sehr darüber, daß durch den Antrag meiner Fraktion das Thema Textilindustrie in den kommenden Wochen und Monaten die Ausschüsse und den Deutschen Bundestag beschäftigen wird.Es ist heute viel darüber gesprochen worden, daß die Textil- und Bekleidungsindustrie in den vergangenen 20 Jahren einen großen Wandel durchgemacht hat. Wir haben in Wahrheit die Arbeitsplätze, die wir in der Textilindustrie noch haben, nur deswegen behalten können, weil es in der Textilindustrie ein Umsteigen von Lohnintensität hin zur Kapitalintensität gegeben hat.Hier möchte ich einen Aspekt nennen, der in der ganzen Debatte heute noch nicht genannt worden ist. Das hat nur deswegen funktioniert, weil — wie ich glaube — beide Tarifvertragsparteien in der Textilindustrie in der Vergangenheit sehr verantwortungsbewußt gehandelt haben.Ich kann mich noch gut an folgendes erinnern: Als die IG Metall dabei war durchzusetzen, daß Freitag nachmittags in der Metallbranche nicht mehr gearbeitet wird, mußte die Textilgewerkschaft der KontiSchicht zustimmen. Die Konti-Schicht bedeutet, daß an sechs Tagen in der Woche an den kapitalintensiven Arbeitsplätzen rund um die Uhr gearbeitet wird. Jeder, der ein wenig Ahnung davon hat, wie Gewerkschaftsarbeit funktioniert, kann vielleicht verstehen, daß es den Textilgewerkschaftlern damals nicht immer leichtgefallen ist, dies gegenüber ihrer eigenen Klientel zu vertreten. Ich meine, daß wir deren Beitrag zur Sicherung der Arbeitsplätze in der Textilindustrie wirklich hoch einschätzen müssen; denn ohne diese Konti-Schichten hätten diese kapitalintensiven Arbeitsplätze nicht entstehen können. Wir wissen, daß dort eben auch relativ lange Maschinenlaufzeiten notwendig sind.
Deswegen war auch das Arbeitszeitgesetz, das ich hier gegen den erbitterten Widerstand der Sozialdemokraten verteidigt habe, richtig.Heute morgen habe ich erfahren, daß Herr Scharping am 18. März auf einer Textilkonferenz in Bonn gesagt hat,
daß das Arbeitszeitgesetz, das wir hier durchgebracht haben, für die Textilindustie wichtig sei und er es deswegen auch nicht aufhalten werde.
Meine Damen und Herren, wenn ich mich daran erinnere, wie Sie mich angegriffen haben, wie Sie mich als „Sonntagsschänder" bezeichnet haben, dann kommt mir Herr Scharping oft vor wie das tapfere Schneiderlein aus Rheinland-Pfalz. Nur, Sie hören nicht auf ihn, und deswegen werden Sie auch die Bundestagswahl mit Sicherheit verlieren.
— Also, bitte, Herr Ostertag, ich kann gut verstehen, daß Sie irritiert sind, wenn Ihr Kanzlerkandidat sagt, das Arbeitszeitgesetz sei in Ordnung. Aber was meinen Sie, wie lustig ich das in den nächsten Wochen in meinem Wahlkreis erzählen werde!
Wir müssen auch sehen, daß auch die Unternehmer in der Textilindustrie als die andere Seite der Tarifvertragsparteien eine Menge getan haben. Sie haben eine Menge Kapital zur Verfügung gestellt, damit diese kapitalintensiven Maschinen überhaupt gekauft werden konnten. Deswegen haben wir dort auch eine niedrige Eigenkapitalquote. Das macht deutlich, wie schwer das den Unternehmen gefallen ist.Ich glaube, daß uns diese Vorleistungen der Tarifvertragsparteien ermuntern sollten, das Anliegen der Textilindustrie trotz des heraufziehenden Wahlkampfes hier sachlich und fair zu behandeln.
Meine Damen und Herren, wichtig erscheint mir dabei vor allen Dingen, daß wir einige Punkte, die auch im CDU/CSU-Antrag enthalten sind, wirklich sehr ernst nehmen. Ich glaube schon, daß die Quoten, die beim GATT vereinbart worden sind, wirklich kontrolliert werden müssen. Ich denke, daß Sozialdumping — und das heißt ja teilweise Kinderarbeit, Gefangenenarbeit, Nullabsicherung im Alter und bei Krankheit — in einigen Schwellen- und Entwicklungsländern immer wieder auf die Tagesordnung
Metadaten/Kopzeile:
19322 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Karl-Josef Laumannder internationalen Politik muß, weil unsere Fabriken gegen solche Verhältnisse nun wirklich nicht konkurrieren können.Aber dazu gehört auch, meine Damen und Herren, daß wir Energiepreise und Abwassergebühren nicht nur ökologisch diskutieren, sondern auch daran denken, daß es sich um Preise handeln muß, die es noch gestatten, daß Arbeitsplätze auch in der Textilindustrie erhalten werden können.Ich glaube, wenn wir so an die Dinge herangehen, werden wir einen Beitrag dazu leisten können, daß Deutschland ein Standort für die Textilindustrie bleibt. Die Textilindustrie wünscht keine Subventionen, sondern etwas bessere Rahmenbedingungen, und dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Ernst Schwanhold das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich zunächst mit Herrn Laumann auseinandersetzen, der sich auf eine Textilkonferenz bezogen hat, bei der ich anwesend war.
— Herr Scharping auch, ja. Herr Laumann, wir sprechen von derselben Konferenz. Dort hat Herr Scharping gesagt, daß die Tarifverträge der Textilindustrie Maschinenlaufzeiten von 7 200 Stunden im Jahr zulassen. Das sind 300 Tage zu je 24 Stunden. Keiner der anwesenden Unternehmer und kein Gewerkschaftsvertreter konnte einen Betrieb nennen, in dem die bereits bisher mögliche Laufzeit überhaupt ausgeschöpft wird. Insofern sollten Sie hingehen, zuhören und sich nicht irgendwo vom Hörensagen etwas erzählen lassen.
— Das war alles vorher möglich in der Textilindustrie. Es bedurfte keiner Gesetzesänderung, sondern dieses war tarifvertraglich zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern aus Verantwortung für die Zukunft der Betriebe vereinbart. Insofern soll Herr Laumann hier nicht irgendeine Fehlaussage aufbauen, die Scharping nicht gemacht hat.
Herr Kollege Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich würde gerne, weil ich eine sehr knapp bemessene Zeit habe, nach dieser Richtigstellung einen einzigen Punkt deutlich darstellen, der heute morgen bei den GATT-Verhandlungen und bei den GATT-Beratungen auch schon eine Rolle gespielt hat. Ich will auf die ökologischeKomponente der Textilproduktion zu sprechen kommen und werde dann am Ende drei Konsequenzen für uns daraus ziehen, die kein Geld kosten, die keinen Protektionismus bedeuten und die gleichzeitig der Textilindustrie in der Bundesrepublik Deutschland auch wieder eine Chance eröffnen.
Das Problemfeld eins beim Baumwollanbau — meine Damen und Herren, ich denke, Sie sollten sich dieses einmal vor Augen führen — sind 33 Millionen Hektar, fast die Fläche der Bundesrepublik Deutschland. Für diese 33 Millionen Hektar werden pro Kilogramm Rohbaumwolle 30 Kubikmeter Wasser verbraucht. Dieser Verbrauch von 30 Kubikmetern Wasser hat dazu geführt, daß der Aralsee in eine der größten Naturkatastrophen Zentralasiens hineinschliddert.Bei der Primärproduktion von Naturfasern werden Pestizide, Herbizide und Entlaubungsmittel eingesetzt. Laut Schätzungen der WHO — dann haben die Fragen der Ökologie schon eine besondere Bedeutung — gab es in den Jahren 1986 und 1989 jeweils 1,5 Millionen Vergiftungsfälle durch Pestizide, von denen 28 000 tödlich ausgegangen sind. Das sind pro Tag durchschnittlich 75 Menschenleben—im wesentlichen Kinder.Die WHO führt insbesondere in den Entwicklungsländern 50 % der Vergiftungsfälle und 75 % aller Todesfälle auf den Pestizideinsatz zurück. Daran haben die Textilindustrie und der Textilanbau einen wesentlichen Anteil.Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, den der Wollproduktion. Die industriemäßige Massentierhaltung sorgt für Parasitenübertragung. Ich sage dies deshalb so ausführlich, weil ich darauf hinweisen will, welche Bedeutung die Umweltschutzmaßnahmen im GATT haben. Dort werden die Schafe — insbesondere in Australien, aber auch an anderer Stelle — durch 15 000 bis 20 000 Liter fassende Insektizidemulsionen — als lebende Schafe — getrieben, damit die Verfilzung der Wolle aufhört. Nach einer kurzen Nutzungsdauer wird dieses überall in Wassernähe in den Vorfluter abgelassen, ohne daß irgendeine Maßnahme zur Reinigung getroffen wird.Dieses hat etwas mit den Importmengen und dem Verbrauch von Textilien hier und der mangelnden Verantwortung zu tun, die wir für die Produkte übernehmen, die hier auf den Markt gebracht werden.
Ich komme zurück auf die Herstellung von Kunstfasern. 71 % der Textilhilfsmittel und 100 % der Grundchemikalien gehen in den Boden. Noch immer werden Pestizide und PCB eingesetzt, urn hier bei uns dafür zu sorgen, daß die Naturfasern nicht verfilzt und hinterher rückgebildet werden.Wir müssen also auch als Importeure, als großer Markt und als großer Nachfrager Verantwortung dafür übernehmen, daß die Produkte, die in unseren Markt hineinkommen, auch dort, wo sie als Rohstoffe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19323
Ernst Schwanholdproduziert werden, unter ökologischen Bedingungen produziert werden.
Dies hat etwas mit Preisgarantie zu tun. Dies hat aber auch etwas mit Produktgarantie für den Inverkehrbringer zu tun.Ich erwarte von dieser Regierung, daß sie dieses deutlich macht. Wir wollen durch unser Marktgebaren und durch unsere Bereitschaft zu importieren Verantwortung für die Lander übernehmen, die produzieren.Der zweite Punkt. Ich bin sehr dafür, daß wir EG-weit, aber sonst bei uns Ökolabeling zu einem Instrument machen, um zu verdeutlichen: Wir nehmen es ernst mit unserer Verantwortung gegenüber jenen Ländern, die auf die Baumwollproduktion angewiesen sind.Der dritte Bereich. Herr Präsident, das ist mein letzter Satz. Ich erwarte von dieser Bundesregierung, daß sie deutlich macht, daß dann, wenn wir das Kreislaufgesetz ernstnehmen, auch die Textilien in die Kreislaufwirtschaft eingeführt werden müssen. Dieses verbietet den Einsatz der Chemikalien, die ich soeben angesprochen habe. Damit übernehmen wir Produktverantwortung auch für andere, und dies ist unsere Chance, der wir uns stellen müssen.
Meine Damen und Herren! In dieser Debatte rufe ich unseren letzten Redner auf. Es ist der Kollege Dr. Rudolf Karl Krause .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit großer Freude habe ich festgestellt, daß meine Vorrednerinnen und auch einige meiner Vorredner ganze Sätze aus meinen Reden von gestern und voriger Woche zur Umwelt weitgehend wiedergegeben haben.
Ich freue mich auch noch mehr, daß ein Teil meines Manuskripts von heute inhaltlich bereits vorgetragen worden ist. Mit dieser Art von parlamentarischer Ausgrenzung kann ich als Republikaner gut leben. Ich hoffe, das wird auch in der nächsten Legislaturperiode der Fall sein.
Nun zu den Anträgen. Beide Anträge, der vom vorigen Jahr von der SPD und der jetzige von der Regierungskoalition, sind inhaltlich gar nicht weit auseinander, geben aber keine Antwort, wie bei Fortbestand von Freihandel und ausgehandelten GATT-Bedingungen die weitere Verlagerung der Textilindustrie in Lohn-, Sozial- und Öko-DumpingLänder gestoppt werden soll. Wenn hier „Instrument der passiven Lohnveredelung" geschrieben wird und darunter die „Verlagerung von lohnkostenintensiven Produktionsbereichen ins Ausland" verstanden wird, dann heißt das, man hat die Arbeitsplätze, gerade die Frauenarbeitsplätze und die Arbeitsplätze für die
Hälfte unserer Bevölkerung, die eben nicht innovative Arbeitsplätze besetzen kann, schon abgeschrieben.
Nun lebt Demokratie von der Alternative. Ich habe bald das Gefühl, der Freihandel ist zu einem Tabuthema, zu einer Staatsreligion geworden. Lieber opfert man weitere Millionen von Arbeitsplätzen diesem Moloch, als sich einem wirtschaftspolitischen Sakrileg zu beugen. Es wird in beiden Anträgen nicht gesagt: Wo soll in der Textilindustrie produziert werden, was soll produziert werden, für welchen Markt, zu welchen Kosten, wie sollen Weltmarktkosten unterboten werden? Nein, es wird nichts gesagt.
Es gibt — um Ihren Zwischenruf einmal aufzunehmen — keinen Fünfjahresplan zur Wiederherstellung der Arbeitsplätze in der Textilindustrie.
Meine Klientel nicht nur in meinem Wahlkreis, sondern jetzt auch in ganz Sachsen-Anhalt, stellt klare, einfache und präzise Fragen, und sie will klare Antworten haben. Die Frage in der Textilindustrie wie in anderen zusammengebrochenen Branchen heißt: Wann bekomme ich wieder Arbeit in meiner Region, entweder in meinem Beruf oder in einem anderen Beruf? Die eine Million Menschen in Mitteldeutschland, die mobil sind, sind schon längst an den Fleischtöpfen, wenn auch nicht Ägyptens, so immerhin Westdeutschlands, wo sie Arbeit haben. Aber die Zuhausegebliebenen haben eben keine Perspektive.
Wenn Demokratie von der Alternative lebt, so sage ich, auch wenn ich zur Zeit noch einer der wenigen mit dieser Meinung in diesem Hause bin: Ich bin für Protektionismus. In den USA sind es viele. Wenn dort Republikaner für Protektionismus sind, dann sind sie genausowenig Extremisten, als wenn es ein Republikaner in Deutschland sagt. Für mich steht die Alternative „Arbeit im Lande oder Gewinne für den internationalen Fernhandel". Freihandel ist leider zu allen Zeiten durch Sklavenarbeit reich geworden. Wer sich mit der Geschichte der letzten 200 Jahre, gerade auch mit der Geschichte Mittel- und Südamerikas in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts befaßt, der weiß, was da unter der Phrase von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" gemacht wurde: die zweite Indianerausrottung nach der Eroberung durch die Spanier.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir müssen — das gehört zum demokratischen Niveau — Alternativen diskutieren, ohne den, der Alternativen vorbringt, zu verketzern. Ich hoffe, dies wird in diesem Lande nicht erst dann enttabuisiert werden, wenn wir mehr als 10 Millionen Arbeitslose haben, sondern bereits heute.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Metadaten/Kopzeile:
19324 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Vizepräsident Helmuth BeckerDer Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/7242 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen nunmehr zum letzten Punkt der Tagesordnung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Adolf Ostertag, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAblösung des Arbeitsförderungsgesetzes durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz— Drucksachen 12/4294, 12/6671 —Berichterstattung:Abgeordnete Gerda HasselfeldtNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwar eineinhalb Stunden vorgesehen, ich habe aber bereits eine Reihe von Bitten vorliegen, die an sich zu haltenden Beiträge zu Protokoll geben zu können. Es handelt sich dabei um die Beiträge des Kollegen Adolf Ostertag, der Kollegin Rennebach, der Kollegin Bläss, des Kollegen Karl-Josef Laumann sowie um den Beitrag des Herrn Parlamentarischen Staatssekretärs Kraus. Wir müssen hier Übereinstimmung darüber herbeiführen, daß wir diesen Wünschen folgen. Gibt es Widerspruch dagegen? — Nein. Dann ist das so beschlossen. Diese Reden sind zu Protokoll genommen.*)Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vereinbarung trägt mit dazu bei, das Wochenende halbwegs sozialverträglich zu gestalten. Seid also freundlich!Der Antrag der SPD-Fraktion versucht, die Arbeitsförderung in Deutschland auf eine neue, erweiterte Grundlage zu stellen. Wenn man über Arbeitsmarktpolitik redet, ist es wohl zweckmäßig, sich vorher über die Dimension des Problems zu verständigen und eine kritische Bestandsaufnahme zu machen.Ich hatte vorgestern abend mit Graf Lambsdorff eine Podiumsdiskussion in Nordrhein-Westfalen. Da hat er gesagt, daß wir in diesem Jahr eine wirtschaftliche Wachstumsrate von 1 %, im günstigsten Fall von etwas mehr haben werden. Wenn das so ist, hätten wir in diesem Jahr einen weiteren drastischen Aufwuchs der Massenarbeitslosigkeit. Der Bundeswirtschaftsminister spricht von 4,5 Millionen im Verlauf des Jahres 1994.Wenn man zudem weiß, daß die Wachstumsentwicklung nicht zeitgleich mit der Beschäftigungsentwicklung läuft, sondern in der Regel ein Phasenverzug von einem Dreivierteljahr besteht, dann kann man davon ausgehen, daß wir vermutlich erst 1996*) Anlage 2wachstumsinduzierte Beschäftigungseffekte, also positive Beschäftigungseffekte, in Deutschland haben. Wir wissen außerdem, daß wachstumsinduzierte Beschäftigungseffekte nur möglich sind, wenn das wirtschaftliche Wachstum seinerseits mehr als 2 % im Jahresschnitt beträgt, weil wir einen Produktivitätsfortschritt ungefähr in der gleichen Größenordnung haben.Das heißt, bei einer realistischen Bestandsaufnahme müssen wir uns darauf einstellen, daß wir im Verlauf des Jahres 1994 weit über 4 Millionen registrierte Arbeitslose haben werden, daß im Jahre 1995 — jedenfalls nach dieser Einschätzung — keine Entspannung über wachstumsinduzierte Beschäftigungseffekte zu erwarten ist und daß wir frühestens im Jahre 1996 von einer Veränderung, einer Besserung der Situation ausgehen können.Wenn diese Einschätzung geteilt werden würde, ist die Frage, was die Politik macht, Können wir leben und überleben mit einem derart hohen Sockel an Arbeitslosigkeit, der überhaupt nur vergleichbar ist mit der dramatischen Entwicklung der frühen 30er Jahre?Die Bundesregierung — das als erste kritische Anmerkung — hat bis zur Stunde keinerlei auch nur einigermaßen schlüssiges Konzept vorgetragen, wie Wege aus der Arbeitslosigkeit aussehen könnten. Weit und breit Fehlanzeige!
Ich sage Ihnen: Wir wären gerne bereit — das ist nicht das Thema heute —, in eine kritische Wachstumsdiskussion einzutreten. Dazu fällt mir ein, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen seit Jahren versuchen, die hohen Arbeitskosten in Deutschland als ein Wettbewerbshemmnis darzustellen.
— Das mag sogar so sein, Herr Kollege Cronenberg.Wenn es aber so wäre, ist diese Bundesregierung völlig unglaubwürdig, weil die Regierung seit Frühjahr 1991 aus politischen Gründen, weil sie zu feige war, über eine gerechte Steuerpolitik die Lasten der deutschen Einheit zu finanzieren, die sozialen Sicherungssysteme 1993 mit über 50 Milliarden DM — reine West-Beiträge — zur Finanzierung der deutschen Einheit belastet. Das heißt, Sie haben über eine massive Verteuerung der Arbeitskosten das ersetzt, was eigentlich notwendig gewesen wäre — und zwar seit drei Jahren notwendig gewesen wäre —, um über eine gerechte Finanzierung aus Steuermitteln die Lasten der deutschen Einheit zu verteilen.
Das geht an die Regierung. Wir könnten vieles andere mehr sagen.Es wird gesagt, wir seien ein Hochtechnologieland, eine hochtechnikintensive Volkswirtschaft. Das ist richtig. Aber erklären Sie mir bitte, warum die Bun-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19325
Ottmar Schreinerdesregierung seit Jahr und Tag den Forschungs- und Technologiehaushalt kürzt.
Das paßt überhaupt nicht in dieses Bild hinein.Ähnlich widersprüchlich, ja geradezu chaotisch verhält sich die Regierung auf dem zweiten beschäftigungsrelevanten Feld. Das ist die Gestaltung der Arbeitszeit. Es hat seit 1984 keinen Versuch gegeben, die Arbeitszeiten zu verkürzen, sie gerechter zu verteilen, ohne daß von der Bundesregierung diese Versuche mit Bemerkungen wie „dumm", „töricht", „absurd" begleitet worden wären. Einer der letzten Höhepunkte war die Bemerkung des Bundeskanzlers vor einigen Monaten, wir lebten in einem Freizeitpark Deutschland
und alle müßten länger arbeiten. Das ist eine völlig abwegige These, wenn man weiß, daß längere Arbeitszeiten noch höhere Arbeitslosigkeit bedeuten. Inzwischen ist aus dem Freizeitpark Deutschland der Teilzeitpark Deutschland geworden:
mal hü, mal hott, mal hin, mal her, mal zick, mal zack. Jetzt sollen plötzlich alle in die Teilzeit. Das wird als neuestes Allheilmittel gepredigt. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit macht sich zum Propagandaesel der Bundesregierung, wenn er suggeriert, es ließen sich Millionen von Beschäftigungsverhältnissen gewissermaßen aus dem Boden stampfen. Auch wir sind für eine deutliche Ausweitung von Teilzeitarbeit auf freiwilliger Basis. Denn wir sind der Meinung, daß es hierfür Bedarfe gibt.Zum Thema selbst: Arbeitsmarktpolitik. Wenn es richtig ist, daß wir in diesem Jahr über 4 1/2 Millionen registrierte Arbeitslose haben, wenn es zudem richtig ist, daß vermutlich erst im Jahresverlauf 1996 mit leichten Besserungen zu rechnen ist, dann ist die Frage: Was kann eine aktive Arbeitsmarktpolitik leisten, um ihrerseits Bausteine zu liefern, die Arbeitslosigkeit deutlich zurückzuführen?Charakteristisch für die gegenwärtige Entwicklung ist ein massiver Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir haben im Jahresverlauf 1993 einen Aufbau der Langzeitarbeitslosigkeit auf inzwischen rund 1 Million erlebt. Wir wissen aus allen Erfahrungen Westdeutschlands in den vergangenen Jahren, daß, je länger ein Mensch arbeitslos ist, um so schwieriger die Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt, in die Bedingungen regulärer Erwerbsarbeit ist.Die EG-Kommission hat in ihrem Weißbuch „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung" im Dezember vergangenen Jahres kritisiert:Es ist nicht länger möglich, die hohe Zahl der Arbeitslosen ... als unvermeidliche Gegebenheit hinzunehmen. Diese Einstellung kommt jedoch in der Struktur der Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung zum Ausdruck: Rund zwei Drittel der öffentlichen Ausgaben zugunstender Arbeitslosen bestehen in Beihilfen und nur ein Drittel in „aktiven Maßnahmen".Hier müssen alle vollständig umdenken.Das ist genau die Kritik, die wir seit Jahr und Tag hier im Bundestag vortragen: daß der ganz überwiegende Teil des immensen Haushaltes der Bundesanstalt für Arbeit, im abgelaufenen Jahr weit über 100 Milliarden DM, zur phantasielosen Finanzierung von Arbeitslosigkeit verausgabt wird
und die Teile, die in die Förderung von Arbeit gehen, immer kleiner werden.
Das ist eine offenkundig paradoxe Entwicklung bei gleichzeitig dramatisch steigender Massenarbeitslosigkeit.Der SPD-Antrag setzt genau an diesem Punkt ein, den die EG-Kommission den nationalen Regierungen, auch der Bundesregierung, kritisch vorhält. Der erste Kernbestandteil unseres Antrags besteht darin, durch einen Regelmechanismus sicherzustellen, daß zumindest in einer ersten Phase die Mehrheit der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit in die Förderung von Arbeit fließt: Qualifizierungsmaßnahmen, öffentlich geförderte Arbeitsprojekte, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen usw. usf. Das würde zudem dazu führen, daß auch die konjunkturpolitisch widersinnige Situation, daß bei nachlassender Konjunktur gleichzeitig die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik abgesenkt werden, zurückgeführt wird und wir dafür sorgen könnten, daß in rezessiven konjunkturellen Phasen die Arbeitsmarktpolitik gestärkt und nicht — wie gegenwärtig — unsinnigerweise geschwächt wird. Immer dann, wenn die Bedarfe am größten sind, werden die Anteile für aktive Arbeitsförderung zurückgeführt, auf Betreiben der Bundesregierung.Zweiter Schwerpunkt: Wir wollen eine wesentlich stärkere Verzahnung der Arbeitsförderung mit der öffentlichen regionalen und lokalen Infrastrukturentwicklung haben. Es ist nachgerade widersinnig, daß Milliardengelder zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit verausgabt werden, daß Millionen von Menschen arbeitslos sind und wir auf der anderen Seite enorme gesellschaftliche Bedarfe zur Verbesserung der lokalen und regionalen Infrastruktur haben, insbesondere Umweltverbesserungen, Jugendpflege, Kindergärten, soziale Dienste insgesamt. Wir müssen versuchen, die Mittel der Arbeitsförderung mit den Möglichkeiten der Verbesserung der jeweiligen Infrastruktur in den Gemeinden, in den Städten, vor Ort in den Regionen zu verbinden. Das wäre unserer Auffassung nach tausendmal sinnvoller, als die Gelder phantasielos zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit zu verplempern.
Dritter Schwerpunkt: Wir brauchen eine wesentlich betriebsnähere präventive Arbeitsmarktpolitik. Es muß in Zukunft möglich sein, daß in den Betrieben, die sich in betrieblichen Umstrukturierungsphasen befinden, Qualifizierungsmaßnahmen auch von Nürnberg, von der Bundesanstalt für Arbeit, gefördert werden.
Metadaten/Kopzeile:
19326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Ottmar SchreinerDas würde diesen Betrieben Luft verschaffen. Es wären eben keine Entlassungen in dem Maße, wie geschehen, notwendig, wenn die Arbeitsförderung rechtzeitig stärker auf präventive Orientierungen ausgerichtet würde.
Schließlich wollen wir eine grundlegende Organisationsreform der Bundesanstalt für Arbeit, die überbürokratisch und überzentralisiert ist. Wir wollen die lokalen Arbeitsämter vor allen Dingen in ihren Kompetenzen und Zuständigkeiten deutlich stärken, damit sie ihre Aufgaben besser wahrnehmen können.
— Ich komme jetzt zu einem Punkt, dem Sie vielleicht ebenfalls noch zustimmen können, Herr Kollege Cronenberg.All das, was ich eben vorgetragen habe, war einmal Grundkonsens aller Fraktionen dieses Hauses. Ich zitiere Ihnen jetzt — da Sie mich dazu ermuntert haben, Herr Vizepräsident — aus einer Rede Ihres Kollegen Schmidt vom 13. Dezember 1967 bei der ersten Lesung des Arbeitsförderungsgesetzes. Der Kollege Schmidt (Kempten) hat damals hier im Parlament gesagt:Diese Vorbeugung, diese Arbeitsförderung, diese Umbenennung der Bundesanstalt in „Bundesanstalt für Arbeit" ist auch nach Meinung und Aussage auch der Freien Demokraten eine dringende Forderung der Zeit.Notwendig ist,daß wir eine aktive Arbeitsmarktpolitik treiben, damit wir die Sorge vor der Arbeitslosigkeit, die Sorge vor der Ausweglosigkeit [vieler Menschen] ... beheben können.Das hat er in einer Zeit gesagt, in der wir nahezu Vollbeschäftigung hatten. Heute haben wir gut 4 Millionen registrierte Arbeitslose. Wo bleibt denn der F.D.P.-Kollege, der den Mut hätte, dies heute von diesem Pult zu sagen?
Wo bleibt eigentlich der CDU-Kollege oder CSUKollege, der den Mut hätte, das, was Schmidt vor über 20 Jahren bei einer unvergleichlich besseren Situation gesagt hat, heute noch so zu vertreten?Sie haben einen vollständigen Richtungswechsel vorgenommen. Die aktive Arbeitsmarktpolitik spielt in Ihrer Politik überhaupt keine Rolle mehr. Die Bundesanstalt für Arbeit wird degradiert zu einer Stempelbude, und Sie fallen vor den Zustand von 1967 zurück. Das ist die eigentliche Wahrheit dessen, was hier seit Monaten und Jahren passiert.Ich könnte Ihnen Schmidt weiter zitieren. Ich will Ihnen das aber ersparen, weil mir das rote Tableau in meinem Podium hier anzeigt, daß die Redezeit langsam dem Ende zugeht.Ich will nur einige Sätze zur Finanzierung sagen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat vor wenigen Wochen in einer Mitteilung bekanntgegeben, daß nach seinen Berechnungen die gesamtfiskalischen Kosten der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland im abgelaufenen Jahr 116 Milliarden DM betragen haben, aufgeteilt in Belastungen des Bundes, der Bundesanstalt für Arbeit, mit rund 30 Milliarden DM, der Länder mit über 10 Milliarden DM und der Kommunen mit nochmals etwa 5 bis 6 Milliarden DM sowie der Rentenversicherung auf Grund geringerer Beitragseinnahmen von etwa 15 Milliarden DM. Noch einmal: Gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit: 116 Milliarden DM, aufgeteilt auf die verschiedenen öffentlichen Haushalte.Das IAB sagt dazu, daß die öffentlichen Haushalte nicht mehr ins Gleichgewicht zu bringen sind, wenn es nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit drastisch zurückzuführen.
Die Bundesregierung hat auf diese Situation im Grunde mit einem schäbigen Trick reagiert. Sie hat vor wenigen Monaten versucht, die eigenen Belastungen über ein sogenanntes Sparpaket an die Kommunen in Deutschland weiterzureichen, indem z. B. der zeitliche Bezug der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre begrenzt werden sollte. Wir konnten diesen schäbigen Versuch im Vermittlungsausschuß noch abwehren. Er hätte im übrigen — ganz nebenbei gesagt — dazu geführt, daß die kommunalen Haushalte absolut handlungsunfähig geworden wären.Dem Bund ist nichts anderes eingefallen, als einen geradezu närrischen Verschiebebahnhof einzuleiten, anstatt zu überlegen, was man mit den Ländern, den Kommunen und allen anderen Beteiligten tun könntepositiv! — im Sinne einer Umlenkung der Gelder, die zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit gebraucht werden, in Richtung Förderung von Arbeit. Hier wäre geradezu ein Solidarpakt der öffentlichen Hände notwendig gewesen, um von diesem Schwachsinn herunterzukommen, daß sich der eine öffentliche Haushalt zu entlasten versucht, indem er andere öffentliche Haushalte zu belasten versucht,
wobei sich an der Arbeitslosigkeit, Herr Kollege Louven, überhaupt nichts, aber auch gar nichts ändert.Lassen Sie mich zum Schluß noch darauf hinweisen, daß es nicht nur um das Problem der Arbeitslosigkeit geht; es geht um weit mehr. In dem Maße, in dem die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt, in dem Sie Millionen von Menschen von der Erwerbsarbeit ausgrenzen und in dem Sie Millionen von Menschen über die Armutsgrenze führen, in diesem Maße zerreißen und spalten Sie unser Land.
Ich sage Ihnen, daß es Zusammenhänge zwischen Armut und Gewalt gibt und diese historisch schon immer gab. Wir haben in Deutschland einen besorgniserregenden Anstieg von Gewaltbereitschaft, von
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19327
Ottmar SchreinerMassenkriminalität, von Alltagskriminalität, auch von Haß und Ignoranz gegenüber Minderheiten, Ausländerfeindlichkeit. Wer diese Zusammenhänge nicht sieht, der hat das Problem nicht begriffen.
Die Zukunft der Arbeit entscheidet auch über die Zukunft der demokratischen Stabilität unseres Landes.
Deshalb geht es um mehr als nur um Erwerbsarbeit. Letztlich geht es um die Frage, ob Sie dieses Land in Ost und West, in Arm und Reich, in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose weiter spalten wollen oder ob wir es schaffen, wieder ein Band der Solidarität um unsere Gesellschaft zu legen. Das ist der eigentliche Punkt.Schönen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Jochen Feilcke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde hier nicht an Hand des Manuskriptes von Herrn Kollegen Schreiner reden, sondern an Hand meines eigenen.
Es fing so gut an, Herr Schreiner. Das, was Sie analytisch gesagt haben, war gar nicht ganz falsch. Ich habe nur den Eindruck, daß das, was Sie als Lösung, als Therapie, vorschlagen, uns unterscheidet. Ich sage Ihnen hiermit: Sie können nicht mit einem ASFG lösen, was Sie hier an Problemen aufzeigen.„Das Arbeitsförderungsgesetz hat durch seine wichtigen Instrumente — Förderung der beruflichen Bildung, Kurzarbeitergeld, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — jährlich Hunderttausenden von Menschen das Schicksal der Arbeitslosigkeit erspart", sagte der Kollege Ostertag in der Diskussion zum SPD-Antrag vor einem Jahr.
— Er hat noch vieles dazu gesagt. Warum soll ich aber nicht das, was richtig ist, einmal zitieren? Sie sind partiell zitterfähig, Herr Ostertag. Sie sollten das als eine Ehre und Freude empfinden.Obwohl es sich bewährt hat, will die SPD dieses Gesetz abschaffen. Natürlich, Herr Schreiner, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, steht in Ihrem Antrag auch Richtiges und Wichtiges. Niemand, der viel sagt oder viel schreibt, ist davor geschützt, auch einmal etwas Richtiges zu sagen.
Deswegen aber gleich ein ganzes Gesetz abzuschaffen, das ist aus unserer Sicht nicht sinnvoll. Die Vorschläge für Ihr sogenanntes ASFG ließen sich auch durch eine Änderung des AFG umsetzen. Selbst wenn wir auf der Linie der SPD argumentierten, wäre eineAblösung des bewährten AFG nicht nötig, vielmehr eine Weiterentwicklung des AFG angesagt.
Nun argumentieren wir aber nicht auf der Linie der SPD und sagen: Ihre Vorstellungen überfordern die Arbeitsmarktpolitik bei weitem. Man kann die Arbeitslosigkeit nicht allein mit politischen Mitteln bekämpfen, man kann sie auch nicht verbieten, schon gar nicht kann der Staat die Alleinzuständigkeit für Arbeitsplätze erhalten.Ich bin der letzte, der bereit wäre, die Arbeitsmarktsituation zu verharmlosen. Ich bin der erste, der weiterführende Vorschläge unterstützt. Wir sollten aber, Herr Schreiner, die aktuelle Situation nicht übertreiben. Wir sollten sie nicht überzeichnen, wie Sie es vor einem Jahr getan haben und auch heute wieder tun, indem das Schreckgespenst des politischen Extremismus heraufbeschworen wird. Die dramatische Situation Anfang der 30er Jahre haben Sie damals wie heute bemüht, die zunehmende Gewaltbereitschaft, der Terror gegen Ausländer und zu erwartende Wahlerfolge von Rechtsradikalen wurden als Begründung für den SPD-Antrag herangezogen. Auch hier darf natürlich nichts verharmlost werden. Nur, Ihre Prognose ist glücklicherweise bei den ersten Wahlen dieses Jahres nicht eingetroffen. Das muß Sie doch im Grunde genommen enttäuschen, denn der schönste Erfolg der Unke ist ja der Mißerfolg.
Arbeitsmarktpolitik ist nicht mit einem Gesetz, weder mit einem alten noch mit einem neuen, getan. Es muß doch einen seriösen Kollegen wie Herrn Schreiner enttäuschen, wenn sich seine Prognosen nicht bewahrheiten. Und obwohl sie nicht eingetroffen sind, wiederholt er sie heute sogar. Das ist einfach ein Griff in die Klamottenkiste. Die Prognose, daß deutsche Wähler deswegen extremistisch wählen, ist glücklicherweise nicht eingetroffen. Unterschätzen Sie doch die deutschen Wähler nicht!
Arbeitsmarktpolitik ist eine Daueraufgabe. Sie erfordert ein Höchstmaß an Ideenreichtum und Anpassungsbereitschaft an die jeweils aktuellen Herausforderungen. In diesem Sinne ist in den zurückliegenden Jahren Hervorragendes geleistet worden. In den sogenannten alten Bundesländern ist es zu einer wesentlichen Verbesserung des Arbeitsmarktausgleichs gekommen. Die Qualifikationsstrukturen wurden verbessert, die regionale Mobilität der Arbeitnehmer wurde erhöht. Problemgruppen des Arbeitsmarktes wie z. B. Behinderten, gesundheitlich Beeinträchtigten, Älteren, Langzeitarbeitslosen konnte zu einem neuen Arbeitsplatz verholfen werden.In den östlichen Bundesländern, den sogenannten neuen Bundesländern, hat die Arbeitsmarktpolitik den schmerzlichen Abbau der Beschäftigung in den Betrieben sozial abgefedert. Durch die Instrumente
Metadaten/Kopzeile:
19328 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Jochen Feilckeunserer Politik wurden in den jungen Ländern 1991 und 1992 2 Millionen Menschen vor Arbeitslosigkeit bewahrt, im vergangenen Jahr immerhin noch 1,6 Millionen.Jawohl, Herr Ostertag, das Arbeitsförderungsgesetz hat sich bewährt und vielen Menschen geholfen — mit Einarbeitungszuschüssen, Eingliederungsbeihilfen, Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.So wichtig Arbeitsmarktpolitik auch ist, sie kann die Maßnahmen der Wirtschaftsförderungs-, Struktur- und Finanzpolitik natürlich nur flankieren. Diese Politikbereiche sind bei der Schaffung regulärer Dauerarbeitsplätze in erster Linie gefordert. Arbeitsmarktpolitik kann Brücken zu neuen Arbeitsplätzen bauen, sie kann diese neuen Arbeitsplätze aber nicht selbst schaffen.Nach den Vorstellungen der SPD würde ein weitgehend autonomer öffentlicher Arbeitsmarktsektor entstehen.
Die subventionierte Arbeit soll tariflich bezahlt, eine soziale Grundsicherung garantiert werden. So würde dieser Sektor, der sogenannte zweite Arbeitsmarkt, zwangsläufig eine attraktive Dauereinrichtung. Die SPD versteht die Brückenfunktion des AFG so, daß man die Brücke nur breit und fest genug bauen müsse, dann werde sie schon tragen. Nein, wir müssen vor allem das Ufer befestigen, damit die Brücke trägt. Die Brücke darf nicht zum Daueraufenthaltsort werden.
Ein Rechtsanspruch auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen müßte dazu führen, daß die Ausnahme zur Regel wird.
Öffentlich geförderte Arbeiten, ABM auf Dauer, sind langfristig keine Lösung,
sondern führen zur weiteren Vernichtung von Arbeitsplätzen im regulären Arbeitsmarkt; denn dieser müßte ja die Kosten für die ABM-Beschäftigung finanzieren.Die Brücke AFG ist wichtig. Wir müssen sicherstellen, daß die Brücke zu Dauerarbeitsplätzen führt und nicht eine Brücke zum zweiten Arbeitsmarkt wird, sozusagen zur Lohnersatzleistung als Regelfall.
Was wir jetzt brauchen, sind reguläre Dauerarbeitsplätze. Genau deshalb haben wir in der vergangenen Woche das Beschäftigungsförderungsgesetz verabschiedet, das Einzelmaßnahmen vorsieht, die gezielt auf aktuelle Schwachstellen des Arbeitsmarktes gerichtet sind. Arbeitsplätze werden durch die Wirtschaft geschaffen, produktive zumal.Wir können mit der Politik für gute Rahmenbedingungen sorgen und Neugründungen unterstützen. Das tun wir durch unser Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung.
— Nein, Herr Schreiner, hier gilt einfach: Optimismus gegen Sozialismus!
— Ja, wir sind verabredet. Er hat gesagt, er gibt mir das Stichwort, damit ich das loswerde, Frau Rennebach.Mit diesem Aktionsprogramm schaffen wir gute Rahmenbedingungen, mit denen wir die Kosten für die Wirtschaft senken. Wir konsolidieren die öffentlichen Haushalte und werden die Staatsquote wieder drücken. Die Privatisierung von Staatsbetrieben werden wir weiter vorantreiben, die Wirtschaft von strangulierenden Vorschriften befreien und Bürokratien eindämmen.
Die Starthilfe für Existenzgründer wird verbessert. Wir fördern risikoreiche und innovative Unternehmensgründungen sowie Forschung, Entwicklung und Innovationen in zukunftsträchtigen Bereichen der deutschen Wirtschaft. Sie sollten unser Programm lesen, und dann sollten wir wirklich seriös darüber sprechen, Herr Schreiner. Durch die konsequente Fortsetzung unserer Standortpolitik werden wir die Wachstums- und Beschäftigungsaussichten verbessern und die konjunkturellen Auftriebskräfte festigen.
Die Politik von CDU/CSU und F.D.P., Herr Ostertag, wird zwangsläufig dazu führen, daß Arbeitsplätze geschaffen werden, die im internationalen Wettbewerb Bestand haben. Eine ABM-Gesellschaft nach Ihren Vorstellungen wird sich im internationalen Konkurrenzkampf nie behaupten können.
Ich bestreite Ihnen überhaupt nicht den guten Willen. Nur gilt auch hier: Das Gegenteil von gut ist gutgemeint.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist nun unser Kollege Dieter-Julius Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der SPD-Antrag gibt uns Veranlassung, über die uns alle bedrückende Beschäftigungslage grundsätzlich zu diskutieren. Da ich einem erheblichen Teil der Aus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19329
Dieter-Julius Cronenberg
führungen des Kollegen Feilcke beipflichten kann, kann ich auf einige Detailbewertungen verzichten, die ich an sich vornehmen wollte.Wir müssen uns über die Frage unterhalten: Wie bekommen wir mehr Arbeit und weniger Arbeitslosigkeit? Bevor wir die Therapievorschläge — das soll ja die Vorlage der SPD nach Meinung der Verfasser sein — einer Bewertung unterziehen, müssen wir uns kurz mit der Analyse unserer Situation beschäftigen; denn die richtige Diagnose ist ja Voraussetzung für die richtige Therapie.Ich möchte zunächst einmal — Herr Kollege Schreiner, ich hoffe, daß Sie es nicht so gemeint haben — davor warnen, die Arbeitslosen in die Ecke der Gewalttäter reden zu wollen. Ich glaube nicht, daß das die Absicht war; aber es kam ein bißchen so herüber.
Unsere Volkswirtschaft ist unbestritten die exportabhängigste der Welt. Ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts geht in den Export. Das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte auf den Exportmärkten und auf unserem eigenen Markt — Stichwort: japanische Autos und Kameras — hängt davon ab, ob wir Arbeit haben, und nicht davon, ob wir wohlformulierte Entschließungsanträge vorgelegt bekommen. Deswegen begrüße ich insbesondere die Unterstützung durch den Kollegen Dr. Norbert Wieczorek heute morgen für freien Handel, seine Aufforderung, sich dafür einzusetzen, daß die Grenzen für Menschen, für Waren, für Kapital offen sind, weil dies auch unsere Arbeitsplatzsituation verbessern kann.Meine Damen und Herren, wir sind ein rohstoffarmes Land mit Ausnahme der Kohle, die nicht unsere Wettbewerbsfähigkeit fördert, sondern Geld kostet und im Grunde genommen eine äußerst teure Altlast ist. Wir können nur über einen Kostenfaktor allein bestimmen, Kollege Schreiner: Das ist der Preis für Arbeit. Das machen die Tarifvertragsparteien und wir. Da müssen wir feststellen, daß wir alle Sünder sind. Wir haben Arbeitsplätze heraustarifiert. Die Fehler der Tarifvertragsparteien, insbesondere auch unsere eigenen Fehler als Tarifvertragspartei Bund, haben dazu beigetragen, daß der Gesetzgeber handeln muß, wie man so sagt.Ich will das noch einmal kurz erläutern. In der Metallindustrie haben wir für eine Stunde Arbeit Kosten von 42 DM. Das ist weltweit das Teuerste. Wenn wir uns über die Probleme der Textilindustrie unterhalten, muß man darüber nachdenken, ob nicht auch hier der Kostenfaktor Lohn zu hoch gewesen ist. In Amerika sind es noch 24,80 DM. Von Tschechien, Polen und anderen will ich nicht reden; dann würde die Sache zu dramatisch.Frau Matthäus-Maier, vielleicht darf ich in Ihre Erinnerung zurückrufen, daß wir eine Grenzsteuerbelastung von 70 % bei den personenbezogenen Unternehmen haben — OHG, KG —, insbesondere wenn sie Kirchensteuerzahler sind. Das alles haben wir Politiker, Gewerkschaften und Arbeitgeber zu verantworten. Niemand darf sich wundern, daß das Ergebnis dieser unserer gemeinsamen Anstrengung Leistungsbilanzdefizite sind, die ausdrücken, daß wir über unsere Verhältnisse leben.
Wir sind nun einmal gezwungen, uns durch wettbewerbsfähige Produkte auf den Weltmärkten Arbeit zu holen. Verhalten wir uns so? Nein, das tun wir nicht. Wir tun so — das drücken dieser SPD-Antrag und die Ausführungen des Kollegen Schreiner wieder ganz deutlich aus —, als wenn es ein festes Volumen von Arbeit gäbe, und dieses feste Volumen von Arbeit müsse man nur gerecht verteilen.
Also Arbeit rationieren, Arbeit auf Bezugschein. Aber ganz sicher, Frau Matthäus-Maier.
Da, wo die Arbeit dann unbezahlbar ist, will man ein wenig helfen mit Arbeitsförderungsprogrammen und ein paar Lohnkostenzuschüssen. Damit das Ganze noch garniert wird, kommt dann noch die Forderung einer ordentlichen Strukturpolitik, natürlich ohne neue Straßen und ohne neue Trassen für die Eisenbahn.
— Frau Matthäus-Maier, ich will Ihnen nachweisen, wieweit unsere Arbeitsverteilungsmentalität in diesem Lande fortgeschritten ist. Da wird das Modell á la Lopez von VW hoch gelobt. Was heißt das konkret auf eine Kurzformel gebracht? Arbeitszeit verkürzen, den Lohn moderat absenken, die Zulieferer erpressen mit dem Ergebnis, daß die Zulieferer mit ihren Produkten ins Ausland gehen, die Arbeitsplätze bei den Zulieferern vernichtet werden und die Lohnstückkosten bei VW nicht sinken, jedenfalls die Wettbewerbsfähigkeit nicht steigt.
Das Rezept bei VW war nur durchsetzbar, weil vorher die Löhne weitaus höher waren als bei den Zulieferern in der mittelständischen Metallindustrie. Lopez & Co läßt keinem Zulieferer den Spielraum, Löhne zu zahlen, wie VW das getan hat. Das haben sie selber dort verursacht.
Wenn ein mittelständischer Unternehmer, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dessen Laden nicht läuft, auf die Idee käme, mit weniger Leistung durch kürzere Arbeitszeit seine Probleme zu lösen, dann würde den jeder für verrückt erklären, und zwar zu Recht, weil die Pleite vorprogrammiert ist.
Nichts anderes aber hat VW gemacht. Und nicht viel anders verhalten wir uns als Volkswirtschaft.Es geht nicht darum, ein festes Volumen an Arbeit zu verteilen. Nein, es geht darum, Arbeit zu schaffen. Und nichts schafft mehr Arbeit als Arbeit. Aber Arbeit muß bezahlbar sein. Die Lohnkostenzuschüsse, in
Metadaten/Kopzeile:
19330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994
Dieter-Julius Cronenberg
welcher Form und mit welch gutgemeinter Begründung auch immer, müssen die extreme Ausnahme sein.Wer einen Rechtsanspruch auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für einen bestimmten Personenkreis verlangt, schafft keine Arbeitsplätze. Nein, er schafft — sicher ungewollt — neue Langzeitarbeitslose.
Ich wünschte mir, daß all diese Theoretiker, z. B. der Kollege Schreiner, von einem inländischen oder möglichst einem ausländischen Einkäufer einmal zu hören bekämen: Herr Schreiner, Ihr Produkt ist okay, Ihre Qualität ist okay, aber das können andere viel preiswerter machen. Warum sollen — so wird der Einkäufer sagen — meine Kunden Ihre verrückten Arbeitszeitregelungen und Arbeitszeitverkürzungen eigentlich bezahlen? Ich kaufe woanders. Das ist das Ergebnis dessen, mit dem wir uns hier auseinanderzusetzen haben.Die Vorlage der SPD ist im Grunde genommen aus einer falschen Philosophie geboren:
verteilen und nicht Neues schaffen. Ich weiß, daß das gutgemeint ist. Ich zweifle auch nicht an den edlen Motiven der Verfasser. Mich tröstet auch wenig, daß Teile unseres Koalitionspartners — gewollt oder ungewollt — dieser Philosophie ebenfalls folgen.
Aber es hilft nichts: Gutgemeint — Kollege Feilcke hat das schon deutlich gesagt — ist auch in diesem Fall das Gegenteil von gut und damit schlecht getan.
Helfen Sie uns allen, unsere Wirtschaft von unnützen bürokratischen Vorschriften zu befreien. Helfen Sie mit, die Arbeitszeit zu flexibilisieren und nicht zu verkürzen. Helfen Sie mit, daß offizielle Arbeit bezahlbar bleibt. Reden Sie nicht über mittelständische Betriebe, sondern gewähren Sie diesen Betrieben die Freiheit zu arbeiten. Das schafft Arbeit.
Die Vorlage, meine Damen und Herren, enthält natürlich auch Richtiges und Neues. Aber wie so oft: Das Neue ist nicht richtig und das Richtige ist nicht neu. Sie löst nicht die Probleme, sie schafft zusätzliche. Und das ist bedauerlich. Deswegen ist sie abzulehnen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Entschuldigung. Wir haben eine Wortmeldung übersehen. Der Kollege Dr. Ulrich Briefs hat noch kurz das Wort.
Es ist fast eine Ehre, wenn Sie sich in solchen Fällen vertun. Es ist heute das zweite Mal.Ich denke, das Thema ist dringlich. Ich wollte noch einen ganz spezifischen Aspekt hinzufügen, der sicherlich nicht unumstritten ist. Ich bin dem Präsidenten daher dankbar dafür, daß er mir die Möglichkeit gibt, hier das Wort zu ergreifen.Das von der SPD vorgelegte Arbeits- und Strukturförderungsgesetz bringt die Arbeitsmarktpolitik und auch bestimmte Aspekte der Wirtschaftspolitik weg von dem plan- und konzeptionslosen Gehudel, dem ständigen Hin und Her dieser Bundesregierung und dieser Koalition. Dieses Gehudel, dieses Hin und Her erleben wir nun seit Jahren; es geht zu Lasten der Arbeitslosen und auch zu Lasten vieler Beschäftigter, die um ihren Arbeitsplatz fürchten und fürchten müssen.Die Eckpunkte der Arbeits- und Strukturförderung sind in dem Entwurf der SPD zweckmäßig gesetzt. Dazu gehört die Vorrangigkeit für die Vollbeschäftigung als volkswirtschaftliches Ziel. Dies muß in der Tat her, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern als Praxis.Weitere Eckpunkte sind: umfassende Präventionsmaßnahmen gegen die Entstehung von Arbeitslosigkeit, die im Vorfeld ansetzen; die Gewährleistung gleicher Beschäftigungschancen für die Geschlechter; Abbau regionaler Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt; Hilfsmaßnahmen für Arbeitskräfte mit Leistungsdefiziten, insbesondere durch Qualifikationsmaßnahmen; Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit; Abfederung der Auswirkungen in vom Strukturwandel besonders betroffenen Branchen und Regionen; Gewährleistung ausreichender sozialer Sicherheit, wenn es — das wird es immer noch geben — zur Arbeitslosigkeit kommt; Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt.Alles das ist richtig. Ich denke, das ist endlich einmal ein Konzept auf diesem Gebiet.Jetzt kommt aber der Punkt, den ich gern hinzufügen möchte. Ich meine, dazu gehört ein Förderbereich, der auch Bestandteil einer vorausschauenden und sozial orientierten Beschäftigungs- und Strukturpolitik sein muß, nämlich die Förderung von kleinen und sehr kleinen Betrieben und von Initiativen zur Gründung solcher Betriebe im Rahmen des sogenannten Alternativsektors.Ich habe mich sehr gefreut, daß in der SPD inzwischen ein Prozeß in Gang gekommen ist, der in die Richtung einer Neufassung des Genossenschaftsrechts geht. Das ist ein Beispiel, das kann eine der Grundlagen für einen solchen ausgeweiteten und notwendigen Alternativsektor von morgen sein.Wir alle kennen auch die vielfältigen Probleme dieses Sektors. Alternativprojekte und -betriebe sind in den meisten Fällen Kinder der Not. In ihnen organisieren sich Menschen, um sich in dieser Gesellschaft überhaupt eine sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeit zu schaffen. Dabei werden unter sehr schwierigen Bedingungen zum Teil ganz wichtige neue soziale Innovationen erzeugt und als Konzept formuliert und ausprobiert.Natürlich scheitern sie gelegentlich. Aber sie enthalten doch häufig ganz wichtige Elemente einer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. April 1994 19331
Dr. Ulrich Briefssinnvollen zukunftsträchtigen Politik auf dem Gebiet der Arbeit und für die Arbeit in dieser Gesellschaft.Wohlgemerkt, damit kein Mißverständnis entsteht: Der Alternativsektor steht nicht und darf nicht stehen für ein beliebig auszuweitendes Auffangbecken einer rabiaten Rationalisierungs- und Personalabbaupolitik.Arbeitszeitverkürzungen sowie branchenorientierte und regional orientierte strukturpolitische Maßnahmen müssen die Hauptlast der Arbeitsmarktpolitik tragen. Dennoch wissen wir alle: Weder mit Arbeitszeitverkürzungen noch mit Strukturpolitik alleine — übrigens sind beide Gebiete wichtige Elemente einer übergreifenden Industriepolitik — wird die meines Erachtens mögliche Halbierung der Arbeitslosigkeit zu erreichen sein.Der Alternativsektor — allein in West-Berlin sind es ca. 5 000 Betriebe und Projekte — ist ein weiteres wichtiges Mittel zur Beseitigung bzw. Senkung der Massenarbeitslosigkeit. Das vor allem zählt.Ich danke nochmals für die Gelegenheit, daß ich das hier in der gebotenen Kürze ansprechen konnte.Danke schön, Herr Präsident. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Ablösung des Arbeitsförderungsgesetzes durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz, Drucksache 12/6671. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4294 abzulehnen. Wer ist für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen das übrige Haus angenommen.Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 27. April 1994, 13 Uhr ein.Ich hoffe, daß Sie am Wochenende ein paar freie Stunden haben. Auf ein frohes Wiedersehen in der nächsten Woche.Die Sitzung ist geschlossen.