Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die Sitzung und gratuliere — wenn sie auch nicht anwesend ist --nachträglich ganz herzlich unserer Kollegin Ortrun Schätzle. Sie hat gestern ihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen unseres Hauses herzliche Glückwünsche und Dank für die Arbeit!
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. — Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern — Drucksachen 12/5468, 12/7333 —
— Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ilse Janz, Hanna Wolf, Dr. Marliese Doberthien, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung von Frau und Mann — Drucksachen 12/5717, 12/7333 —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung des bundeseigenen Grundstückes in München an der Heidemannstraße — Drucksache 12/7146 —3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Lage in Gorazde und Hilfe der Bundesregierung für die bedrohten Menschen4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Vorbeugende Maßnahmen gegen das Risiko der Übertragung der Rinderseuche BSE auf den Menschen — Drucksache 12/7322 —Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.Die heutige Fragestunde wird nach Tagesordnungspunkt 5 — Umweltkriminalität — aufgerufen. Daran anschließend findet die von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verlangte Aktuelle Stunde statt.Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 6 — Beratung der Gesetzentwürfe zur Doppelstaatsangehörigkeit — und den Tagesordnungspunkt 18 — Großforschungseinrichtungen — abzusetzen. Außerdem weise ich darauf hin, daß zu Tagesordnungspunkt 15 — Unterzeichnung der GATT-Schlußakte — eine Regierungserklärung abgegeben wird.Des weiteren mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 214. Sitzung des Deutschen Bundestages am 4. 3. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden:Gesetzentwurf der Bundesregierung zur abschließenden Erfüllung der verbliebenen Aufgaben der Treuhandanstalt — Drucksache 12/6910 —Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. 2. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Haushaltsausschuß gem. § 96 GO überwiesen werden:Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation — Drucksache 12/6718 —Der in der 206. Sitzung des Deutschen Bundestages am 21. 1. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Haushaltsausschuß gem. § 96 GO überwiesen werden:Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Jürgen Sikora, Werner Dörflinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Walter Hitschler, Jörg Ganschow, Lisa Peters, Hans Schuster und der Fraktion der F.D.P. zur Förderung des Wohnungsbaues — Drucksache 12/6616 —Der in der 196. Sitzung des Deutschen Bundestages am 2. 12. 1993 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Verteidigungsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:Antrag der Abgeordneten Uwe Lambinus, Siegfried Vergin, Siegrun Klemmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Unrechtsurteile wegen „Fahnenflucht/Desertion", „Wehrkraftzersetzung" oder „Wehrdienstverweigerung" während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft — Drucksache 12/6220 —Der in der 216. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. 3. 1994 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Verteidigungsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitierung, Entschädigung und Versorgung für die Opfer der NS-Militärjustiz — Drucksache 12/6418 —
Metadaten/Kopzeile:
19114 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthDer in der 216. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. 3. 1994 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden:Antrag der Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen, Dr. Helga Otto, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung der Industrieforschung in den neuen Ländern — Drucksache 12/6745 —Der in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. 1. 1994 überwiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll nachträglich dem Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden:Entschließungsantrag der Abgeordneten Josef Vosen, Angelika Barbe, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bundesbericht Forschung 1993 — Drucksache 12/6564 —Sind Sie mit den Änderungen der Tagesordnung und den nachträglichen Ausschußüberweisungen einverstanden? — Das ist der Fall. Dann verfahren wirso.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einer Insolvenzordnung
— Drucksache 12/2443 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/7302 —Berichterstattung:Abgeordnete Hermann Bachmaier Joachim GresDetlef Kleinert
Dr. Eckhart PickDr. Wolfgang Freiherr von Stettenb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung
— Drucksache 12/3803 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)
— Drucksache 12/7303 —Berichterstattung:Abgeordnete Hermann BachmeierJoachim GresDetlef Kleinert
Dr. Eckhart PickDr. Wolfgang Freiherr von StettenDazu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so, und ich eröffne die Aussprache. Als erster nimmt das Wort der Kollege Joachim Gres.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Verabschiedung der Insolvenzordnung und des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung sind wir am Ende eines langen parlamentarischen Weges. Die Vorbereitungen für dieses komplexe Gesetzgebungsvorhaben — daran sei heute erinnert — gehen auf das Jahr 1978 zurück, als der damalige Justizminister Vogel eine Insolvenzrechtskommission einsetzte. Die vielen Entwürfe und Konzepte, die Fülle der Beiträge aus Wissenschaft und Wirtschaft, die seitdem zu dem Thema Insolvenzrechtsreform entstanden sind, sind auch für Experten nicht mehr zu überblicken.Nach einem ersten Anlauf in der vergangenen Legislaturperiode hat die Bundesregierung im Jahr 1992 den heute hier zur Schlußberatung anstehenden Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf soll die Konkursordnung, die Vergleichsordnung und die Gesamtvollstreckungsordnung in den neuen Bundesländern durch eine neue einheitliche Insolvenzrechtsregelung mit modernen und ausgewogenen Bestimmungen ersetzen, die insbesondere folgende Ziele verfolgt:erstens, bei der Liquidation von insolventen Unternehmen die gleichmäßige Gläubigerbefriedigung besser zu ordnen,zweitens, sanierungsfähigen Unternehmen die Möglichkeit zur Verhinderung von volkswirtschaftlich sinnlosen Zerschlagungsabläufen zu geben und damit die Chance zur Erhaltung von Arbeitsplätzen einzuräumen,drittens schließlich, den Menschen, die sich in hoffnungslosen persönlichen Überschuldungssituationen befinden, angemessene Auswege aus dieser Sackgasse anzubieten.Der ursprüngliche Gesetzentwurf wurde zum Zeitpunkt der Einbringung allgemein wegen seiner Gesetzestechnik und der Kohärenz seiner ineinandergreifenden Bestimmungen in der Wissenschaft als gelungene Kodifikation anerkannt und deshalb in der ersten Lesung fraktionsübergreifend im Grundsatz begrüßt. Wie das aber bei Gesetzgebungsvorhaben oft so ist, die eine längere Vorbereitungs- und Anlaufzeit haben, haben sich zwischenzeitlich die Rahmenbedingungen für dieses Gesetz ein wenig verschoben. Bei allgemein knapp gewordenen staatlichen Ressourcen ist auch die Ressource Recht oder — besser gesagt — sind die praktischen Möglichkeiten zur justitiellen Bewältigung von Insolvenzrechtsfällen knapp geworden. Bei aller Berechtigung der oben genannten drei generellen Ziele des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist in der Folgediskussion die Frage der praktischen Bewältigung von Insolvenzverfahren in den Vordergrund gerückt. Nicht nur die Justizverwaltungen fürchteten eine Überlastung durch zusätzliche Aufgaben, auch die Praktiker zweifelten, ob der ursprüngliche Gesetzentwurf nicht teilweise überkompliziert und zu rechtsmittelanfällig sei. Kurz: Es zeigte sich, daß ein schlankeres und weniger perfektionistisches Gesetz besser in die Zeit des Jahres 1994 und wohl auch der nächsten Jahre paßt.Um diese Kritik und Anregungen aufzugreifen, war das Parlament gefordert, und das Parlament hat gehandelt. Unter Beibehaltung der grundsätzlichen Ziele des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist in den letzten anderthalb Jahren in zahllosen Gesprächen, Diskussionen und Beratungen im Rechtsausschuß bzw. zwischen den Berichterstattern der Frak-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19115
Joachim Grestionen der Gesetzentwurf in vielen Bereichen ganz erheblich geändert worden, umgestellt worden und teilweise drastisch vereinfacht worden.Meine Damen und Herren, aus aktuellem Anlaß füge ich allerdings hinzu: Insolvenzen — also in der Regel falsche unternehmerische Entscheidungen — kann die neue Insolvenzordnung auch nicht verhindern. Insbesondere dann, wenn Banken und Gläubiger über die Vermögenslage eines Unternehmens getäuscht werden, wenn gar in betrügerischer Absicht Lieferanten und sonstige Vertragspartner von einem Unternehmen hinters Licht geführt werden, wenn andererseits die Gläubiger selbst — also z. B. Banken, aber auch mittelständische Baubetriebe, Mieter und sonstige Kunden — die vorhandenen Warnzeichen nicht wahrnehmen oder nicht ernst nehmen oder beiseite schieben, oder wenn z. B. Bauhandwerker von den Sicherungsmöglichkeiten, die das Gesetz jetzt schon bietet, keinen Gebrauch machen, kann auch die neue Insolvenzordnung bei der nächsten Insolvenzgelegenheit nur beschränkt helfen.Ein wenig helfen wird sie allerdings schon,
z. B. durch die Verschärfung der persönlichen Haftung der Unternehmensführung für die Folgen eines verspätet gestellten Insolvenzantrages, z. B. durch die Verschärfung der Anfechtungsmöglichkeiten von Vermögensverschiebungen im Vorfeld der Insolvenzkrise eines Unternehmens, z. B. durch die Aufbesserung der freien Insolvenzmasse durch Abführen von Teilen des Verwertungserlöses von Immobiliarsicherheiten und von Mobiliarsicherheiten und z. B. durch Verzicht auf vorrangige Befriedigungsprivilegien, wie z. B. der Finanzämter für rückständige Steuern usw., so daß am Ende die ungesicherten Gläubiger, also z. B. typischerweise Handwerksbetriebe, Dienstleistungsunternehmen, beratende Berufe, wie Baustatiker usw., auf ihre Forderungen dann doch noch eine gewisse Abschlagszahlung erhalten werden. Das wird den Schaden dieser Gläubiger trotz allem in der Regel nicht voll ausgleichen, so daß es meiner Meinung nach gerechtfertigt ist, jenseits aller rechtlichen Verpflichtungen und juristischen Konstruktionen in einer Baupleite der aktuellen Dimension die finanzierenden Banken nachhaltig zu bitten, für den betroffenen mittelständischen Betrieb die Überbrückung von finanziellen Engpässen sicherzustellen und gegebenenfalls die einzelnen Objekte auch mit neuen Mitteln zu Ende bauen zu lassen, damit sich die Insolvenzpleite eines Immobilienkonzerns nicht auf beteiligte mittelständische Strukturen ausbreitet.
Ich hielte eine solche Bereitschaftserklärung der beteiligten Banken für einen Akt der Fairneß, aber auch für einen Akt der Klugheit.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu den Grundzügen der neuen Insolvenzordnung zurückkehren.Erstens. Wie ich schon sagte, ist das Gesetz zunächst einmal erheblich verschlankt worden. Überflüssiges ist gestrichen und sprachlich komprimiert worden, rechtsmittelanfällige Regelungen sind beseitigt worden. Unter Verstärkung der Autonomierechte der Gläubiger ist ein jetzt insgesamt praktikables gesetzliches Instrumentarium geschaffen worden, um sowohl Unternehmensinsolvenzen wie auch Insolvenzen von natürlichen Personen in kurzen, knappen und praktischen Verfahren bewältigen zu können.Zweitens. Die Regelungen für eine gleichmäßige Gläubigerbefriedigung im Rahmen der Liquidation eines insolventen Unternehmens sind verbessert worden. Hierzu nur einige Beispiele.Es bleibt das Ziel des Gesetzes, die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren nachhaltig zu erhöhen, damit die Ordnungsfunktion von Insolvenzverfahren überhaupt erst einmal entfaltet werden kann. Zu diesem Zweck müssen die Insolvenzmassen so angereichert werden, daß zunächst einmal die Kosten der Insolvenzverfahren gedeckt sind. Dies wird durch den Wegfall der allgemeinen Konkursvorrechte, auch durch den Wegfall des Vorrangs von Steuerforderungen, auch durch Veränderung der Reihenfolge der Masseverbindlichkeiten, durch verbesserte Anfechtungsmöglichkeiten zur Bekämpfung gläubigerschädigender Vermögensverschiebungen und schließlich durch Beiträge der Immobiliar- und Mobiliarsicherheitsgläubiger aus dem Verwertungserlös ihrer Sicherheiten erreicht.Der Aufwand für die Eröffnung von Insolvenzverfahren macht aber nur Sinn, wenn die Verfahren nicht alsbald nach Eröffnung dann doch wieder mangels Masse eingestellt werden müssen. Wir sehen daher in der heute vorliegenden Gesetzesfassung vor, daß einerseits Insolvenzverfahren zukünftig nur eröffnet werden sollen, wenn die gesamten Kosten des Verfahrens gedeckt sind — was wegen der erhöhten Insolvenzmassen zukünftig in verstärktem Maße der Fall sein wird —, und daß andererseits der Insolvenzverwalter zukünftig in der Zeit zwischen dem Insolvenzantrag und der tatsächlichen Insolvenzeröffnung die Chancen für eine Sanierung des insolventen Unternehmens prüfen und praktisch unmittelbar mit der Eröffnung des Verfahrens einen entsprechenden Sanierungsvorschlag auf den Tisch legen kann, über den dann bereits die erste Gläubigerversammlung zu entscheiden hat.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang bleibt es dabei, daß die Inhaber der sogenannten besitzlosen Mobiliarpfandrechte, also insbesondere die Vertragspartner des insolventen Unternehmens, die sich Vermögenswerte zur Sicherheit haben übereignen oder abtreten lassen, diese Vermögenswerte der Verwertung durch den Verwalter überlassen und an den Verwalter gewisse Pauschalen aus dem Verwertungserlös an die Masse abführen müssen. Wir haben diese Pauschalen aber ein wenig gekürzt und teilweise ganz gestrichen, weil die übermäßige Belastung gerade der mittelständischen Wirtschaft vermieden werden muß. Viele gerade mittelständische Betriebe verfügen in der Regel zur Besicherung ihrer Lieferantenkredite nur über Mobiliarsicherheiten. Würde die Werthaltigkeit dieser Mobiliar-
Metadaten/Kopzeile:
19116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Joachim Gressicherheiten drastisch beschnitten, würden die Kreditversorgungsmöglichkeiten gerade im mittelständischen Bereich möglicherweise eingeschränkt werden. Dies wollen wir nicht.Die jetzt vorgeschlagenen Abführungspauschalen sind in der Summe aber auch akzeptabel und gerechtfertigt und nehmen hinreichend Rücksicht auf die individuellen Fallgestaltungen. In der Summe führen alle diese Maßnahmen dazu, daß die zu verteilende freie Masse erhöht wird, Privilegien abgebaut werden und damit auch ungesicherte Gläubiger die Chance bekommen, auf ihre Forderungen im Rahmen der Liquidation eine angemessene Zahlung zu erhalten. Dies ist eine entscheidende und richtige gesetzgeberische Zielrichtung.Drittens. Das weitere Ziel der Insolvenzordnung ist die Sanierung von sanierungsfähigen Unternehmen. Sie bleibt ebenfalls im Mittelpunkt der jetzt vorgeschlagenen Gesetzesfassung. Die Erarbeitung eines entsprechenden Insolvenzplans durch den Insolvenzverwalter oder den Gemeinschuldner wird durch die jetzt vorgeschlagenen Regularien erheblich erleichtert. Das Schreckgespenst eines Insolvenzplanwirrwarrs, wie wir es als schlechtes Beispiel aus den USA kennen, wird durch die Konzentration des Planinitiativrechts vermieden. Im Rahmen der Gläubigerautonomie kann zukünftig ein Unternehmen mit einem Minimum an richterlichen Genehmigungs- und Kontrollvorbehalten — die aber in der jetzt vorgesehenen Form doch wohl nötig sind, um Mißbräuche zu verhindern — im Rahmen eines ausgewogenen Insolvenzplans saniert werden, was derzeit unter dem Regime der Konkursordnung und der Vergleichsordnung so nicht oder nur sehr erschwert möglich ist.Wir haben in diesem Zusammenhang die Regelung von § 613 a BGB, also den zwingenden Übergang von Arbeitsverhältnissen bei Betriebsveräußerungen z. B. im Rahmen von Sanierungsübertragungen, im Gesetz unangetastet gelassen, obwohl viele Sachverständige in der Anhörung deutlich erklärt haben, daß diese Regelung ein erhebliches Sanierungshindernis sei.Wir haben allerdings für den Insolvenzverwalter Möglichkeiten geschaffen, zur Rettung des sanierungsfähigen Kernbereichs und der damit verbundenen Arbeitsplätze auch Kündigungen aussprechen zu können und hierzu notfalls von den Arbeitsgerichten mittels Eilbeschluß eine entsprechende Zustimmungsgrundlage einholen zu können.In diesem Zusammenhang sollten wir uns immer wieder bewußtmachen, daß die Sanierung von insolventen Unternehmen in der Regel ein Wettlauf mit der Zeit ist und daß der Insolvenzverwalter Handlungsmöglichkeiten haben muß, um sein Konzept gegebenenfalls auch rasch durchsetzen zu können. Dem muß der gesetzliche Handlungsrahmen angemessen Rechnung tragen.
Viertens. Meine Damen und Herren, das Verbraucherinsolvenzverfahren haben wir in seiner Grundstruktur erheblich geändert. Das Hauptziel der jetzt vorgeschlagenen Regelung ist es, zunächst außergerichtlich zu einer fairen Vergleichsregelung zu kommen. Diesem Ziel dient z. B. die Abschaffung der Übemehmerhaftung gemäß § 419 BGB — ein juristisches Problem, das schon Generationen von Rechtsgelehrten beschäftigt hat.Diesem Ziel dient aber auch die Tatsache, daß die Gläubiger zukünftig mit dem formalen Restschuldbefreiungsverfahren rechnen müssen, an dessen Ende die Gläubiger trotz hoher Rechtsverfolgungskosten in der Regel auch keine höheren Zahlungen von den Schuldnern erhalten werden als über einen außergerichtlichen Vergleich in einem frühen Stadium der Insolvenz, so daß erfahrene Gläubiger in vielen Fällen den Fall mittels einer akzeptablen außergerichtlichen Einigung abschließen werden.Kommt es nicht zu einem außergerichtlichen Vergleich und wird durch eine Bestätigung z. B. eines Anwalts, einer Schuldnerberatungsstelle oder eines Steuerberaters nachgewiesen, daß der Versuch einer außergerichtlichen Einigung mit den Gläubigern des Schuldners erfolglos geblieben ist, dann kann der Schuldner das gerichtliche Verfahren zunächst in Form eines Schuldenbereinigungsplanverfahrens einleiten. Mein Kollege von Stetten wird nachher darauf im einzelnen eingehen. Bei allem kann und soll nicht übersehen werden, daß das neue Gesetz trotz aller Straffungen und Verschlankungen, die wir vorgesehen haben, eine gewisse Mehrbelastung für die Justiz bedeutet. Ziel der Reform ist es gerade, daß wieder mehr Insolvenzverfahren eröffnet werden und daß die verhängnisvolle Regel der Abweisung von Konkursanträgen mangels Masse wieder zur Ausnahme wird. Dies bedeutet mehr Arbeit für Richter und Rechtspfleger.Ein weiteres Ziel des Gesetzes ist es schließlich, dazu beizutragen, daß sich redliche Schuldner aus einer privaten Überschuldungssituation befreien können und daß sie die Chance zu einem Neuanfang bekommen.Trotz aller Bemühungen, den Ausgleich zwischen Gläubigern und Schuldnern in die außer- und vorgerichtliche Phase zu verlagern, wird dieses Gesetz am Ende dennoch einen personellen Mehraufwand für die Justiz bedeuten.Ich appelliere daher mit Nachdruck von dieser Stelle an die Bundesländer, diese mit dem neuen Gesetz verbundenen Aufgaben anzunehmen und sich in den vor uns liegenden Monaten hierauf personell vorzubereiten. Um dies den Ländern zu erleichtern, sehen wir schweren Herzens auf Drängen der Bundesländer vor, daß das Gesetz in wesentlichen Teilen erst zum 1. Januar 1997 in Kraft treten soll.Die Länderjustizminister haben in den letzten Jahren quer über alle Parteigrenzen hinweg immer wieder betont, wie wichtig auch ihnen die Reform des Insolvenzrechts ist. Dann müssen die Bundesländer hierzu jetzt aber auch stehen.Natürlich wäre es hinsichtlich der personellen Konsequenzen für die Justizverwaltungen in den einzelnen Bundesländern einfacher, sich mit dem „Konkurs des Konkurses " im Gefolge der alten Konkursordnung weiterhin bequem einzurichten; denn für mangels Masse abgewiesene Konkursanträge braucht man
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19117
Joachim Greswenige Richter und Rechtspfleger. Einfach wäre es, auch für die Bewältigung von Verbraucherinsolvenzverfahren keine personelle Vorsorge treffen zu müssen, wenn es auf absehbare Zeit hierfür keine gesetzliche Regelung gibt. Dies ist für uns aus den genannten Gründen nicht akzeptabel.Zudem können wir alle die tatsächlichen Auswirkungen der heute zu verabschiedenden Insolvenzordnung für die Justiz der Länder nicht klar prognostizieren. Vieles, was die Länder hierzu vortragen, ist spekulativ. Den Äußerungen der Landesjustizminister entnehme ich, daß die Bedenken jedenfalls sehr justizverwaltungsspezifisch sind und eine Gesamtbetrachtung fehlt. Denn natürlich bedeutet ein Insolvenzverfahren — z. B. mit dem Ziel der Sanierung eines Unternehmens — zunächst einmal personellen Mehraufwand an Richtern und Rechtspflegern; aber andererseits bedeutet es eben auch die Rettung eines Unternehmens oder eines Betriebes und die Rettung der damit verbundenen Arbeitsplätze. Dies wiederum bedeutet Einsparung an Sozialhilfekosten, Sozialinfrastrukturkosten usw. Das gleiche gilt in noch verschärfterer Form für die Verbraucherinsolvenzrechtsregelung.Der ohne das neue Gesetz entstehende personelle Aufwand wäre höher oder jedenfalls im wesentlichen der gleiche; nur würde er möglicherweise aus anderen Etats, z. B. aus den Etats der Sozialminister und nicht aus den Etats der Justizminister, zu begleichen sein.Ich danke ganz ausdrücklich an dieser Stelle dem Vertreter des Freistaates Bayern,
der in der Schlußphase der Beratungen des Rechtsausschusses signalisiert hat, daß Bayern der jetzt gefundenen Kompromißlösung zustimmen kann. Ich hoffe sehr, daß sich die Vertreter der anderen Bundesländer diesem Votum anschließen.
Meine Damen und Herren, alles in allem können wir heute mit gutem Gewissen und in der Erwartung, daß sich das Gesetz in der Praxis bewähren wird, der vorgeschlagenen Insolvenzordnung und dem Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung zustimmen. Quer über die Fraktionsgrenzen danke ich bei dieser Gelegenheit meinen Mitberichterstattern für die gute und sachbezogene Arbeit. Ich nenne hier insbesondere meine Kollegen Kleinert und von Stetten von den Koalitionsfraktionen
und von der SPD-Bundestagsfraktion die Herren Professor Pick und Bachmaier. Es war eine gute und an der Sache orientierte Arbeit auf hohem juristischen Niveau, die Freude gemacht hat und von der ich glaube, daß sie für die Akzeptanz des neuen Gesetzes einiges bewirkt hat.
Ich danke aber auch den Damen und Herren aus dem Bundesministerium der Justiz, an ihrer Spitze Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Funke, dem Herrn Professor Rieß, Herrn Dr. Hilger, Herrn Dr. Landfermann und, last, but not least, Frau Dr. SchmidtRäntsch, die sich in einer ganz außergewöhnlichen Weise, oftmals bis weit nach Mitternacht,
mit uns über die Grundzüge und Feinheiten dieses Gesetzes ausgetauscht haben.Meine Damen und Herren, die derzeit noch geltende Konkursordnung stammt aus dem Jahr 1877. Sie wird nach 120 Jahren, im Jahr 1997, von der Insolvenzordnung abgelöst. Ich bin nun nicht so vermessen zu erwarten, daß auch die heute hier zu verabschiedende Insolvenzordnung 120 Jahre halten wird. Aber daß wir so gut gearbeitet haben, daß das Gesetz für die Gerichte und für die Praktiker einen verläßlichen Rahmen für die nächsten Jahrzehnte bieten wird, das hoffe ich doch.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Kollege Professor Dr. Eckhart Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundestag verabschiedet heute eines der großen Reformwerke der letzten Jahre, eine neue Insolvenzordnung. Das wird nicht allein schon durch den Umfang — über 330 Paragraphen — deutlich. Darüber hinaus wird es ein Einführungsgesetz mit einem ebenfalls gewichtigen Umfang geben. Ich bin in den letzten Monaten — das knüpft an die Bemerkungen von Herrn Kollegen Gres an —, seit Beginn der Beratungen im Bundestag und im Rechtsausschuß, häufig gefragt worden, ob ein solches Werk in dieser Zeit überhaupt verabschiedet werden sollte. Es wurde die Skepsis geäußert, ob denn der Bundestag die Kraft habe, angesichts der sonst zu beobachtenden Kurzatmigkeit politischer Entscheidungen und auch vielberufener Entscheidungsunfähigkeit eine solche Reform zu verwirklichen.Man hat sich etwas an die Kontroverse des Jahres 1815 erinnert gefühlt, als es den berühmten Streit zwischen Savigny und Thibaut über die Frage gegeben hat, ob für Deutschland ein neues Zivilgesetzbuch in Kraft gesetzt werden sollte oder nicht.
Ich habe diese Frage immer ohne Einschränkung bejaht. Ein neues Insolvenzrecht ist überfällig. Zum anderen kann es auch als Entkräftung des Vorurteils gelten, daß unsere Zeit nicht mehr zu großen Justizreformwerken befähigt sei.Wir wissen, daß wir uns an hohen Maßstäben messen lassen müssen. Die Konkursordnung — es ist darauf hingewiesen worden — hat schon über 100 Jahre auf dem Buckel. Sie entstand im Zusammenhang mit den damals erlassenen Reichsjustizgesetzen. Ob das neue Insolvenzrecht ähnlich lange
Metadaten/Kopzeile:
19118 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Eckhart PickBestand haben wird, das können wir nicht wissen. Aber wir wissen, daß allein die Tatsache seiner Geltung Maßstäbe auch für außergerichtliche Lösungen bei Insolvenzfällen setzen wird. Wir haben festgestellt, daß das Konkurs- und Vergleichsrecht eine der schwierigsten Materien unserer Rechtsordnung überhaupt darstellt, und zwar einfach deswegen, weil sich hier höchst unterschiedliche Interessen, der Öffentlichkeit, der Wirtschaft, von Arbeitnehmern, von Verwaltern und Gläubigern — die wiederum unterschiedlich —, im Raum stoßen. Es ist deshalb unmöglich, einen einigermaßen gerechten Ausgleich zustande zu bringen, der alle befriedigen würde. Deshalb wird es auch immer Kritik am gesetzgeberischen Entscheidungsvorgang geben.Das geltende Recht der Konkursordnung bzw. der Vergleichsordnung genügt den Anforderungen an ein zeitgemäßes Insolvenzrecht nicht mehr. Die Gründe sind: Erstens. Drei Viertel aller Konkursverfahren werden mangels Masse abgewiesen.Zweitens. In den übrigbleibenden Verfahren können die normalen Gläubiger mit einer lächerlichen Quote von 4 bis 6 % rechnen.Drittens. Auch bei den bevorrechtigten Gläubigern bedeutet eine Durchschnittsquote von 18 % ebenfalls nur eine Bruchteilsbefriedigung.Viertens. Über 17 000 Konkursverfahren im letzten Jahr gegenüber mehr als 6,5 Millionen Einzelzwangsvollstreckungen zeigen, daß der Konkurs zu einer Restgröße verkommen ist; die geordnete Gesamtabwicklung ist die Ausnahme geworden.Fünftens. Mit einer Zahl von unter 40 pro Jahr ist das Vergleichsverfahren praktisch nicht mehr vorhanden.Sechstens. Das Ziel der Sanierung von Unternehmen, abgesehen von den spektakulären Fällen wie z. B. AEG oder Metallgesellschaft, ist die große Ausnahme, weil das derzeitige Insolvenzrecht in erster Linie auf Liquidation und Gläubigerbefriedigung ausgerichtet ist.Siebtens. Die Schäden für Gläubiger und öffentliche Hände durch Insolvenzen sind immens. Nach Schätzungen betragen die Verluste von Privatgläubigern ca. 18 Milliarden DM, für die öffentlichen Hände 12 Milliarden im Jahr.Achtens. Schließlich haben wir noch eine gespaltene Rechtslage in der Bundesrepublik: Im Westen Deutschlands gelten die Konkursordnung bzw. die Vergleichsordnung und im Osten die Gesamtvollstreckungsordnung.Diese Gründe — der letzte Grund natürlich noch nicht — haben dazu geführt, daß der damalige Justizminister Hans-Jochen Vogel 1978 den Auftrag erteilte, ein modernes, sanierungsfreundliches Insolvenzrecht zu entwickeln. Ich möchte gleichzeitig auch den Namen unseres Kollegen Hans de With in diesem Zusammenhang erwähnen, der damals mit dazu beigetragen hat, daß es überhaupt einmal zu einer solchen Reforminitiative gekommen ist. Ich glaube, erwird froh sein, daß er heute die Früchte seiner damaligen Initiative sozusagen ernten kann.
Die Insolvenzrechtskommission hat dann in den Jahren 1984 und 1985 Grundsätze einer Insolvenzrechtsreform entwickelt, und auf dieser Grundlage sind schließlich Referentenentwurf und Regierungsentwurf zustande gekommen.Herr Kollege Gres hat schon gesagt, wie dieser Entwurf aufgenommen worden ist. Die Anhörung hierzu war äußerst eindrucksvoll. Insbesondere ist natürlich bei uns der Vorwurf haftengeblieben, daß dieser Entwurf äußerst bürokratisch sei, viele Rechtsbehelfe beinhalte und für die Praxis äußerst schwer handhabbar sei.Es wurde zweitens der Vorwurf gemacht, daß man das Problem des modernen Schuldturms, also die Verbraucherinsolvenz, nicht angemessen behandelt habe, und das ist sicher auch richtig.In der Folgezeit wurde der Entwurf der Bundesregierung durch die Berichterstatter in einer Form überarbeitet, die zu einer wesentlichen Kürzung geführt hat. Das ist aber nur die formale Seite der Medaille. Wichtiger ist, daß der gesamte Entwurf von vorne bis hinten durchforstet worden ist. Es wurde der Versuch gemacht, Wesentliches vom Unwesentlichen zu scheiden, es wurde gestrichen, umgestellt, auch ergänzt, präzisiert und vereinfacht. In vielen Sitzungen haben die Berichterstatter diskutiert, gestritten, abgewogen und letztlich auch entschieden im Sinne von Vorschlägen an den Rechtsausschuß; der Ausschußbericht legt davon Zeugnis ab.Ich darf hinzufügen, daß damit überhaupt noch nicht unsere zahlreichen Gespräche mit Banken, dem Mittelstand, Richtern, Konkursverwaltern, Gewerkschaften und Schuldnerberatern aufgeführt worden sind. Ich kann aber sagen, daß eine Vielzahl von Anregungen und Vorschlägen aufgenommen worden ist. Ich persönlich lege großen Wert darauf, festzustellen, daß die Anhörung und die Diskussionen keine Alibiveranstaltungen gewesen sind, sondern daß wir sehr viele Anregungen aufgenommen haben, die den Entwurf wesentlich beeinflußt haben.Ich sage: Das, was heute vorliegt, ist nicht mehr der Entwurf der Bundesregierung, sondern ein Projekt des Parlaments. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt.
Insgesamt war dieses Ergebnis nur möglich, weil die Regierungsfraktionen mit uns in einer Form kooperiert haben, die zielorientiert auf einen möglichst breiten Konsens war.
Es bleiben Unterschiede bestehen; die wollen wirauch nicht verwischen. Wir wollen auch nicht bestreiten, daß unsere Vorstellungen hier nicht alle verwirk-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19119
Dr. Eckhart Picklicht worden sind. Aber das Ergebnis ist so, daß wir dem Gesetzentwurf insgesamt zustimmen können.Auch ich möchte mich dem Dank des Kollegen Gres an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums anschließen, die hier in einer äußerst kenntnisreichen und sehr zügigen Weise den Entwurf auf den jeweils neuesten Stand gebracht haben. Das war schon eine ausgesprochen großartige Leistung.
Wir haben unsere Änderungsanträge in die zweite Lesung eingebracht. Sie werden — unabhängig vom Ergebnis der Abstimmung — an unserer Zustimmung nichts ändern.Im einzelnen waren für uns, ohne auf Details eingehen zu wollen, zwei Punkte besonders wichtig. Das war einmal die Erhaltung von Arbeitsplätzen unter Wahrung der Arbeitnehmerrechte. Dazu zähle ich: Das Gesetz muß die Sanierung und Erhaltung von Unternehmen soweit wie möglich fördern. Dazu gehören zahlreiche Vorschriften, die zu einer Anreicherung der Masse führen sollen, damit ein Verfahren überhaupt eröffnet und die Sanierungschance geprüft werden kann. Dies geschieht mittels Beiträgen der Gläubiger, die durch Sicherheiten begünstigt sind, z. B. durch Pfandrechte, aber auch durch Grundpfandrechte. — Mein Kollege, Herr Bachmaier, wird zur aktuellen Situation insbesondere der durch Grundpfandrechte gesicherten Banken in diesem spektakulären Verfahren, das wir heute leider beklagen müssen, noch einiges sagen.Wir haben das auch mittels einer Verschärfung des Anfechtungsrechts getan, das den Verwalter in die Lage versetzt, auch längere Zeit zurückliegende Manipulationen des Schuldners zu verfolgen und Vermögenswerte zur Masse zu ziehen. Der Masseanreicherung dient letztlich auch der Wegfall aller Vorzugsrechte der bisherigen §§, 59 und 51 Konkursordnung. Diese betreffen z. B. Lohnrückstände der Arbeitnehmer, aber auch Steuerforderungen.Dem Prinzip „Sanierung vor Liquidation" dient das neue Institut des Insolvenzplans. Es tritt an die Stelle des bisherigen Vergleichs, sieht jedoch keine festen Quoten wie bisher von 35 % bzw. 40 % vor. Vereinbarungen sind also künftig einfacher, auch gegen einzelne Gläubiger durchzusetzen.Der zweite Punkt ist die Wahrung der Arbeitnehmerrechte auch im Insolvenzfall. Wenn künftig mehr Sanierungen vor allem auch im mittelständischen Bereich durchgeführt werden können und mehr Arbeitsplätze erhalten bleiben, dann ist das schon ein Erfolg des Projekts. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, daß die Gewerkschaften der Konkursordnung sehr skeptisch gegenüberstehen.Kritisiert wird der Wegfall der jetzigen Vorzugsrechte. Aber dazu ist zu sagen, daß sie in der Praxis zumindest in dreiviertel der Fälle nur auf dem Papier stehen und bei dem restlichen Viertel nur zu einem geringen Teil erfüllt werden. Wirksamer sind andere Instrumente, die in der Konkursordnung jetzt imInsolvenzverfahren enthalten sind: Sozialplan, Interessenausgleich, Insolvenzausfallgeld — auch im Falle des Vergleichs — und andere Regelungen, die hier jetzt getroffen worden sind.Der zweite Schwerpunkt unserer Vorschläge war die Verbraucherinsolvenz. Ich muß positiv darstellen, daß es überhaupt gelungen ist, erstmals ein Verbraucherinsolvenzverfahren als eigenständiges Verfahren gegenüber dem allgemeinen Insolvenzverfahren in den Gesetzentwurf einzufügen.Dies wird bei aller Kritik, meine Damen und Herren, auch von den betroffenen Verbänden anerkannt. Entgegen der Konzeption des Gesetzentwurfs der Bundesregierung mißt der jetzige Vorschlag der außergerichtlichen Einigung zwischen Gläubiger und Schuldner höchste Priorität bei. Wir haben erreicht, daß dieses Ziel der Entlastung der Justiz in dem Gesetzentwurf ausdrücklich verankert wird. Dazu gehört auch der Druck auf die Gläubiger zu einer außergerichtlichen Einigung durch entsprechende Maßnahmen wie Kostenbeiträge usw. Wir erwarten, daß dieses Verfahren künftig als Muster und Anleitung für außergerichtliche Einigungsbemühungen dient.Wir haben auch festzustellen, daß einige unserer Forderungen hier nicht erfüllt worden sind. Für uns ist die starre Wohlverhaltensperiode von sieben Jahren ein Manko. Wir wollten eine eher flexible Regelung mit Verkürzung, gegebenenfalls mit einer Verlängerung auf sieben Jahre, aber im Regelfalle fünf Jahre haben. Auch das Problem der Vorausabtretungen ist unbefriedigend gelöst. Drei Jahre sind nach unserer Auffassung zuviel.Insgesamt ist es aber ein wesentlicher sozialer Fortschritt, daß man sich endlich des Problems der über 1 Million überschuldeter Haushalte angenommen hat. Die SPD hat sich diesem Thema ja bereits seit einigen Jahren gewidmet.
— Nicht nur die SPD, aber wir besonders, mit entsprechenden parlamentarischen Initiativen. Insofern,denke ich, haben wir hier unseren Beitrag geleistet.Zu den Bedenken der Länder hat Herr Gres einiges gesagt. Ich denke, diese Reform ist nicht zum Nulltarif zu haben, und wer sozialen Fortschritt will, wer ein zeitgemäßes Insolvenzrecht haben will, kann nicht so tun, als sei das ohne finanzielle Mehrbelastungen zu erreichen.
Meine Damen und Herren, mit dem Prinzip „Vorrang der Sanierung vor Zerschlagung", der Möglichkeit der Restschuldbefreiung und der Verbraucherentschuldung sind wesentliche Forderungen erfüllt worden, die wir seit langem gestellt haben. Wir begrüßen dieses Gesetz und werden ihm zustimmen, und wir hoffen, daß es ab 1. Januar 1997 greift und endlich entsprechende Regelungen für die Praxis zur Verfügung stellt.
Metadaten/Kopzeile:
19120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Eckhart Pick Schönen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als jemand, der die Insolvenzrechtsreform während dieser Legislaturperiode intensiv begleitet hat, freut mich natürlich die Einmütigkeit, mit der die Reform jetzt von allen Parteien getragen wird. Diese Einmütigkeit ist sicherlich auch das Resultat intensiver Vorarbeit und intensiver Vorbereitungen durch die Kollegen im Bundesjustizministerium, aber auch durch die Berichterstatter. Das ist schon erwähnt worden. All diesen Mitarbeitern im Bundesjustizministerium und den Kollegen aus dem Bundestag möchte ich meinen aufrichtigen Dank für die kooperative Zusammenarbeit sagen.
Man soll ja mit großen Worten sparsam umgehen, gleichwohl meine ich sagen zu können: Die Verabschiedung der Insolvenzrechtsreform ist ein Meilenstein der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es wird ein modernes, praxisgerechtes Insolvenzrecht geschaffen, das endlich auch den Anforderungen des internationalen Wirtschaftslebens gerecht wird.Im künftigen Insolvenzverfahren — und darauf hat Herr Pick besonders hingewiesen — tritt die Sanierung gleichberechtigt neben die Liquidation. Die Gläubiger entscheiden, welche Art der Insolvenzabwicklung ihren Interessen am besten entspricht. Es war ja auch immer der Wunsch des Kollegen Kleinert, mit dieser Insolvenzrechtsreform die Gläubigerautonomie zu stärken. Dieses ist hier umgesetzt worden. Für die Beschlußfassung in der Gläubigerversammlung ist die Summenmehrheit vorgesehen, um die Abstimmung einfach und das Verfahren effizient zu gestalten. Marktwirtschaftlich sinnvolle Sanierungen werden auf diese Weise begünstigt, Sanierungen auf Kosten der Gläubiger vermieden.Ein weiteres wichtiges Ziel der Reform ist es, Einzelkaufleuten und Verbrauchern die Restschuldbefreiung und damit einen wirtschaftlichen Neubeginn zu ermöglichen. Die marktgerechte Verbesserung der Sanierungschancen für insolvente Unternehmen ist in der heutigen wirtschaftlichen Situation besonders wichtig. Das neue Insolvenzrecht sieht deshalb eine Reihe von Maßnahmen vor, die von der Zerschlagungsautomatik des alten Konkursrechts wegkommen und nunmehr zu der Sanierungsautomatik — so möchte man es fast nennen — des neuen Insolvenzrechts führen.Der Schuldner kann den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens schon bei drohender Zahlungsunfähigkeit stellen, um frühzeitig verfahrensrechtliche Gegenmaßnahmen einleiten und damit die Liquidation verhindern zu können. Schon vor der Eröffnung des Verfahrens können die Chancen für eine Sanierung des insolventen Unternehmens geprüft werden.Ich glaube, daß es ganz wichtig ist, daß wir sozusagen ein Sanierungsverfahren vor dem eigentlichen Insolvenzverfahren bekommen. Dazu tragen eine Reihe von rechtlichen Bestimmungen bei. Ich will nur einige wenige nennen, die die außergerichtliche Sanierung unterstützen. Dazu gehört der Wegfall des § 419 BGB, aber auch der Umstand, daß die neue Insolvenzordnung die Chancen der Befriedigung der Gläubiger dadurch erhöht, daß auch die Eröffnung des Verfahrens erleichtert wird.Hinzu kommt, daß wir das sogenannte „Netting"- Verfahren in die Insolvenzordnung eingestellt haben — ein Verfahren, das insbesondere im internationalen Insolvenzrecht eine große Rolle spielen wird; denn wir haben schon bei dem damaligen Konkursverfahren der Herstatt-Bank gesehen, wie wichtig die gegenseitige Aufrechnung von verschiedenen Devisenpositionen ist. Dies ist nunmehr in die Insolvenzordnung eingestellt worden.Aber von ganz besonderer Bedeutung ist die Restschuldbefreiung. Wir müssen derzeit von ungefähr 1,7 Millionen überschuldeten Haushalten ausgehen, so daß Millionen von Menschen im modernen Schuldturm gefangen sind, und diese Zahl ist leider weiter im Steigen begriffen. Mit der Restschuldbefreiung wird diesen Menschen, und zwar Einzelkaufleuten genauso wie Verbrauchern, die Chance für einen wirtschaftlichen Neubeginn gegeben. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, sich auch gegen den Willen ihrer Gläubiger von ihren restlichen Verbindlichkeiten zu befreien. Nach der Durchführung eines Insolvenzverfahrens und einer siebenjährigen Wohlverhaltensperiode sind diese Schuldner frei von ihren Verbindlichkeiten. Ich glaube, daß das eine ganz wesentliche gesellschaftspolitische Komponente dieser Insolvenzordnung ist.Für das Verbraucherinsolvenzverfahren sind im übrigen noch eine Reihe von Sonderregelungen vorgesehen, damit die Gerichte so wenig wie möglich belastet werden. Die Berichterstatter haben hier ein ganz besonderes Vorschaltverfahren vorgesehen. Dieses ist im gegenseitigen Einvernehmen akzeptiert worden. Dieses Vorschaltverfahren wird dazu führen, daß die Länder mit ihrer Befürchtung, daß sie eine große Zahl von Richterstellen und Rechtspflegerstellen einwerben müssen, wahrscheinlich doch nicht recht haben. Sicherlich wird es den einen oder anderen Richter und auch den einen oder anderen Rechtspfleger mehr geben müssen, aber insgesamt wird sich dieses Insolvenzverfahren, diese Restschuldbefreiung auch für den Staat rechnen; dadurch nämlich, daß der Verbraucher nicht mehr in die Schwarzarbeit abgedrängt, sondern wieder motiviert wird, ordentliche Arbeit anzunehmen, Krankenkassenbeiträge und Rentenversicherungsbeiträge zu zahlen, so daß er später der Sozialhilfe nicht zur Last fällt.
— Steuern wird er auch zahlen,
häufig allerdings nicht in einer Größenordnung, diesehr ins Gewicht fällt, aber sicherlich wird er in die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19121
Rainer Funkewirtschaftliche Gesellschaft zurückkehren. Auf diese Weise hat jedermann die Chance, einen Neubeginn zu starten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Professor Dr. Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Insolvenz, die Zahlungsunfähigkeit, ist notwendiger Bestandteil jedes marktwirtschaftlichen Systems. Die Frage ist nur: Wie geht man damit um? Mir scheint ein tiefgreifender Widerspruch dieser Gesellschaft darin zu bestehen, daß auf der einen Seite jedermann ermuntert wird, Schulden zu machen — wir haben bei unserem USA-Besuch festgestellt, wie weit dies dort ist; dieses Vorbild wirkt auch bei uns —, und andererseits muß der Markt gesetzmäßig diejenigen bestrafen, die dann zahlungsunfähig sind. Der Schneider-Skandal, der die Republik in diesen Tagen bewegt, macht die durch dieses Gesetz geregelte Problematik ganz deutlich.Es geht jetzt darum: Wie gehen wir denn mit der Insolvenz, der Zahlungsunfähigkeit, um? Wir haben es in meinen Augen mit drei ganz unterschiedlichen Gruppen von Gläubigern und Schuldnern zu tun: erstens mit den Großgläubigern, den Banken, die die ausgereichten Kredite in aller Regel ausreichend sichern und die selbst bei Großpleiten wie der von Schneider natürlich nicht in Existenznot geraten und vielleicht auch deshalb mit ihren Großschuldnern so großzügig umgehen; zweitens mit den mittleren und kleinen Unternehmen, die immer mehr oder weniger am Rande der Zahlungsunfähigkeit operieren und massenhaft in die Insolvenz getrieben werden, wenn ein Großkunde wie Schneider zahlungsunfähig wird, mit allen Konsequenzen auch für die Arbeitsplätze. — Herr Gres hat erklärt, die Bauhandwerker sollten mehr von ihren gesetzlichen Möglichkeiten Gebrauch machen. Man müßte sich dann darüber verständigen, warum sie das nicht tun. — Drittens nenne ich die Verbraucher, die dem Konsumdruck und dem Zeitgeist dieser Gesellschaft erliegen und sich über ihre Verhältnisse verschulden. Herr Staatssekretär Funke hat hier soeben die Zahl von 1,7 Millionen Einzelkaufleuten und Verbrauchern genannt.Eine Nebenbemerkung in diesem Zusammenhang: Bei einer Befragung von 1 000 ostdeutschen Unternehmen durch den Bundesverband der Deutschen Industrie stellte sich heraus, daß die Banken ihr Geld im Osten am liebsten nur an Tochterunternehmen westdeutscher Konzerne oder Treuhandunternehmen geben, echte Neugründungen bleiben auf der Strecke. Im Bericht über diese Umfrage heißt es nach der heute erschienenen „ Wochenpost" :Generell gilt: Je größer ein Unternehmen, um so unkomplizierter gestaltet sich die Antragstellung.Bei über 6 Milliarden DM Bankschulden genügt dann offenbar schon Charisma des Antragstellers, wie man der Presse entnehmen darf.Die von mir genannten drei Gruppen müssen auch in der Insolvenz unterschiedlich behandelt werden. Ich meine, daß das vorliegende Gesetz insofern einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, als es erstmalig die Möglichkeit der Sanierung von Unternehmen in der Insolvenz und die Entschuldung der Privaten vorsieht. Unbestreitbar ist hier eine sehr große Arbeit geleistet worden; darauf wurde schon hingewiesen.Meine Kritik betrifft zunächst den im Gesetzentwurf erweiterten Grundsatz der Gläubigerautonomie, der letztlich nicht zu einer größeren Autonomie von Gläubigern, soweit sie natürliche Personen sind, führen wird, sondern — im Gegenteil — zu einer beherrschenden Rolle der Banken über Gläubiger, Schuldner und Verfahrensablauf. Meines Erachtens ist mit diesem zugunsten der Banken wirkenden Grundsatz der Gläubigerautonomie eng der Vorrang der Liquidation von Unternehmen und Betrieben verbunden. Alternativkonzepte zur Sanierung von Unternehmen, Betrieben und Schuldnern können nur im Rahmen der Gläubigerautonomie eingebracht werden, sind also von Konzeptionen der Banken und deren Wirtschaftspolitik abhängig, die solche Sanierungen ablehnen, wenn sie an Kapitalvernichtung interessiert sind. Die Liquidierung und eventuell auch die Sanierung zahlungsunfähiger Wirtschaftsunternehmen kann nicht Maßstab für die Entschuldung natürlicher Personen sein. Dieser Weg — mit erheblicher Konsequenz — ist jetzt eingeschlagen worden.Nach meiner Meinung verlangt ein an dem Gedanken der sozialen Rehabilitation orientiertes Verfahren zur Entschuldung privater Personen und Haushalte aber auch ein Beratungskonzept, das sich auf eine gesicherte Vertrauensgrundlage beziehen kann. Die notwendige Durchführung eines Insolvenzverfahrens, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, kann sich hier kontraproduktiv auswirken, insbesondere auch deshalb, weil durch einen fremden, unter Gläubigerkontrolle stehenden Insolvenzverwalter über die Privatperson und deren Interessen verfügt wird. Für Alternativen, vermittelt durch Personen des Vertrauens und staatliche Einflußnahme gegen einseitige Interessenwahrnehmung der Gläubigerausschüsse, bleibt kein Platz, insbesondere auch deshalb nicht, weil wir keine Beiordnung von Beiständen und keine dem Prozeßkostenhilferecht gleichwertige Regelung kennen.Ich sehe die Gefahr, daß die hier geregelte Verfahrensweise trotz allem von der Mehrheit der Betroffenen als bedrohlich empfunden wird, so daß sie auch weiterhin nur sehr zögerlich Beratungsstellen aufsuchen werden. Wegen der erheblichen psychischen Belastung der Schuldner erscheint mir eine solche Beteiligung von vertrauten Beratern unabdingbar, und dies auch langfristig, etwa bei der Motivierung zu erneuter Arbeitssuche. Ein Treuhänder, der sich für die Betroffenen ebenso als ein Fremdkörper darstellt wie der Insolvenzverwalter, wird eine solche Beziehung nicht gewährleisten.Ich unterstütze den SPD-Antrag auf Fristverkürzung für das Wohlverhalten.Eine Motivierung des Schuldners muß auch seine weitere Existenzsicherung und die seiner Angehörigen betreffen. Die Befugnisse der Gläubigeraus-
Metadaten/Kopzeile:
19122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Uwe-Jens Heuerschüsse nach § 114 des Entwurfs wirken nach meiner Ansicht hier negativ.Das Existenzminimum der Betroffenen und der unterhaltsberechtigten Personen muß vorab voll abgesichert werden, bei gleichzeitiger Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche. Mir scheint es nicht angängig zu sein, daß die Unterhaltsinteressen zur Disposition der Gläubigerausschüsse gestellt werden, wo sie untergehen werden. Außerdem erscheint es mir notwendig, sicherzustellen, daß sich der Selbstbehalt gegenüber den Gläubigeransprüchen bei Arbeitsaufnahme erhöhen kann, damit der Schuldner zur Arbeitsaufnahme motiviert wird.Pfändungen sollten nach meiner Auffassung im Bereich des Hausrates begrenzt werden, wenn ein Entschuldungsplan vorliegt, der eine Restschuldbefreiung rechtfertigt. Es muß eine resozialisierende, sanierende und weitere präventive Hilfe geben, nicht eine Zerstörung der Lebensverhältnisse und Perspektiven des Schuldners.Die Entschuldungsregelungen sollten so ausgestaltet sein, daß sie Mitverschulden von Politik und Gläubiger, insbesondere der Banken, an den sozialen Problemen des Schuldners berücksichtigen und Restschuldbefreiung entsprechend hoch ansetzen und dabei nicht in das Belieben der beteiligten Instanzen stellen, die über den Schuldner zu richten haben. Hier fehlen entsprechende Regelungen.Bei der Entschuldung hätte die Erfahrung berücksichtigt werden sollen, daß außergerichtliche Einzelvergleiche den Vorzug vor einem Gesamtvollstrekkungsverfahren verdienen, weil hier die Entschuldung für alle Beteiligten nachvollziehbarer, übersichtlicher und für einen großen Teil der Schuldner schneller erreichbar ist, mit positiven Folgen für eine neue Perspektive für den Schuldner.Weiterhin hätte nach unserer Meinung der Grundsatz der Einzelzwangsvollstreckung beibehalten werden sollen, und zwar mit der Begrenzung eines gesetzlich geforderten Sanierungskonzepts, auf das sich die Gläubiger einlassen müssen mit der Folge, daß Vollstreckungsmaßnahmen rechtsmißbräuchlich werden, soweit ein Sanierungskonzept sinnvoll und möglich erscheint. Entsprechende Überlegungen liegen schon von den Gerichten vor.Das jetzige Verfahren scheint uns auch für die private Entschuldung viel zu kostenträchtig zu sein, was eine weitgehende, zügige Entschuldung ebenfalls behindert.Ein Punkt der Kritik — auch das wird in den SPD-Anträgen aufgenommen — betrifft die unzureichende Beachtung von Arbeitnehmerinteressen im Gesetzentwurf. Während den Gläubigern — zumeist Banken — unter Erweiterung ihrer Verfahrensrechte die üblichen Absonderungs- und Aussonderungsrechte erhalten bleiben, werden die bisherigen Vorrechte der Arbeitnehmer weitgehend beseitigt.Nicht angemessen ist nach unserer Ansicht auch die Begrenzung der Vertretung der Arbeitnehmerschaft im Gläubigerausschuß. Vertreten sein muß auf jeden Fall der Betriebsrat des Unternehmens; wenn diesernicht vorhanden ist, ein von der Arbeitnehmerschaft bestimmter Vertreter, etwa der Gewerkschaften.Ich denke, daß das Inkrafttreten des Gesetzes erst am 1. Januar 1997 jedenfalls die gute Seite hat, daß man vorher noch über eine Novellierung nachdenken kann.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Rechtsausschuß des Bundestages hat meines Erachtens gut getan, in seinem Bericht über den Gesetzentwurf und dessen Beratungen die Wiederherstellung der Rechtseinheit im ganzen Bundesgebiet voranzustellen, wenn er Inhalt und Bedeutung der neuen Insolvenzordnung würdigt.Der unlängst erschienene Schuldenreport 1993, der von der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände zusammen mit dem Roten Kreuz herausgegeben wird, dokumentiert, in welchem Ausmaß mittlerweile auch das Thema Schulden und Überschuldung ein gesamtdeutsches Problem geworden ist. Dazu kommt aber ein zweiter positiver Effekt. Die Vereinheitlichung der deutschen Rechtsprechung vollzieht sich in diesem Falle so, daß es auch innerhalb des betroffenen Rechtsgebietes zur Vereinheitlichung bisher getrennter Regelungen kommt, in dem das bisherige Nebeneinander von Konkurs und Vergleich im Insolvenzverfahren zusammengefaßt wird. Das ist ein Vorgang, der leider sehr vereinzelt in der Rechtsprechung seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten dasteht.Ein besonders grelles, zusätzliches Schlaglicht wird durch den Konkursfall Schneider auf unsere Beratungen geworfen. Es ist vom Institut für Finanzdienstleistungen sogar der Vorschlag geäußert worden, die Beschlußfassung auszusetzen, um eine Überprüfung durchzuführen, wie der Fall Schneider auf der Basis der neuen Insolvenzordnung zu behandeln wäre. Denn im Moment muß er ja nach der alten Konkursordnung abgewickelt werden.Ich stimme dem insoweit zu, als diese Äußerung die Bedeutung unseres Gesetzgebungsvorhabens unterstreicht. Den Vorschlag, den Verbraucherkonkurs und die Restschuldbefreiung gesondert zu verabschieden, lehne ich jedoch ab. Denn das würde die mühsam errungene Einheitlichkeit der gesetzlichen Regelung erneut mit Zersplitterung bedrohen. Das muß um so mehr betont werden, als Anhörung und Beratung im Rechtsausschuß gerade im Bereich des Verbraucherkonkurses und der Restschuldbefreiung zu erheblichen und höchst erfreulichen Verbesserungen geführt haben.Wenn aus den Reihen der Schuldnerberatung die Kritik geäußert wird, die Wohlverhaltensfrist von sieben Jahren sei zu lang, so ist darauf hinzuweisen, daß der Gesetzentwurf selbst schon die Möglichkeit einer Verkürzung auf fünf Jahre vorsieht. Ob das ausreicht, wird die Praxis lehren — ein zusätzliches
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19123
Dr. Wolfgang UllmannArgument für eine schnelle Verabschiedung, wie ich meine. Das sage ich auch im Blick auf den vorgesehenen späten Zeitpunkt des Inkrafttretens: im Jahre 1997.Daß im ganzen mit diesem Entwurf unserer Rechtsprechung ein erheblicher Fortschritt ermöglicht wird, kann schon jetzt als ausgemacht gelten. Ebenso unstreitig ist, daß damit nur eine Seite dieser für Vermögens-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht zentralen Frage geregelt ist. Das gilt ganz besonders unter dem Gesichtspunkt der Gläubigerautonomie, die im Gesetzentwurf so stark betont wird. Der Kollege Heuer hat auf die Problematik dieser Sache soeben hingewiesen.Die Rolle der Kreditgeber im Falle Schneider zwingt meines Erachtens zu gesetzgeberischen Überlegungen, wie — nachdem wir mit der neuen Insolvenzordnung einen wichtigen Schritt getan haben — durch eine Erweiterung der Transparenz und der öffentlichen Kontrolle der Mißbrauch des Bankgeheimnisses noch deutlicher erschwert wird, als das in den bisherigen Gesetzen betreffend den Umkreis der organisierten Kriminalität geschehen ist. Die Möglichkeiten des betrügerischen Konkurses müssen gesetzgeberisch noch sehr viel drastischer beschnitten werden. Ich glaube, daß das auch im Blick auf die angestrebte europäische Währungsunion eine unaufschiebbare Aufgabe ist.Meine Damen und Herren, ich meine, das Parlament sollte durch eine eindrucksvolle Mehrheit — soweit das bei der jetzt absehbaren Anwesenheit möglich ist — all denen danken, durch deren Mitwirkung dieses wichtige Gesetzeswerk zustande gekommen ist. Ich hoffe wie der Herr Kollege Pick, daß dieser Gesetzentwurf den Behuf unserer Zeit zur Gesetzgebung so eindrucksvoll unter Beweis stellt, daß alle schon geäußerten Zweifel, aber auch alle künftigen niedergeschlagen werden.
Als nächste spricht die Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben heute eine seltene, eine historische Stunde der Gesetzgebung. Nach über zehn Jahre dauernden Reformarbeiten stehen wir vor dem Abschluß einer umfassenden, schwierigen Gesamtreform, nicht einfach vor der parlamentarischen Verabschiedung eines einzelnen Änderungsgesetzes, sondern vor der vollständigen Ersetzung eines Reichsjustizgesetzes, das über hundert Jahre gegolten hat, durch eine grundlegende Neukodifikation.Diese Neukodifikation ist eine politisch und wirtschaftlich dringend erforderliche Anpassung an das moderne internationale Wirtschaftsleben und gleichzeitig ein wichtiger Beitrag zur weiteren Vereinheitlichung des Rechts in den alten und in den neuen Bundesländern.
Ich freue mich, daß die Koalition und die SPD in dieser Frage einer Meinung sind. Wir brauchen eine Reform unseres geltenden Konkurs- und Vergleichsrechts. Wir brauchen genau das Insolvenzrecht, das hier in der vom Rechtsausschuß entscheidend mitgestalteten Fassung der Regierungsentwürfe vorliegt. Wir sind uns alle einig, daß wir es in absehbarer Zeit brauchen.Schon seit längerem wissen wir, daß unser geltendes Konkurs- und Vergleichsrecht nicht nur Mängel aufweist, sondern den sich ständig weiterentwickelnden modernen Wirtschaftsverhältnissen einfach nicht mehr gewachsen ist. Zu Recht ist ja auch von Ihnen, Herr Gres, das Schlagwort vom Konkurs des Konkursrechts erwähnt worden. Nur selten kommt es überhaupt noch zu echten Konkursverfahren, weil in der Regel die Masse nicht einmal mehr ausreicht, um die Verfahrenskosten zu decken und das Verfahren zu eröffnen.Ich erinnere auch daran, daß es erhebliche Ungleichheiten zwischen den Gläubigern und ihren Befriedigungsmöglichkeiten in der Praxis gibt und nach dem geltenden Konkursrecht der einfache Konkursgläubiger häufig auf der Strecke bleibt. Vergleichsverfahren — das ist schon gesagt worden — kommen in der Praxis fast überhaupt nicht mehr vor. Was am schwersten wiegt und in einer modernen Wirtschaftsordnung nicht länger hingenommen werden kann, ist, daß das geltende Konkursrecht nicht sanierungsfreundlich ausgestaltet ist.Was wir in Deutschland zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts, zur Erhaltung von Unternehmen, Arbeitskraft und Arbeitsplätzen brauchen, ist ein modernes, praxisgerechtes Recht, das im internationalen Vergleich bestehen kann und auch vertrauensbildend bei Investoren wirkt, ein Insolvenzrecht, das Sanierungshemmnisse abbaut und damit den wirtschaftlichen Interessen aller Beteiligten einschließlich der Arbeitnehmer entspricht.All dies hat dazu geführt, daß die Konkursordnung von 1877 und die Vergleichsordnung von 1935 nicht nur an einzelnen Stellen ergänzt oder geändert, sondern insgesamt durch ein neues Insolvenzrecht ersetzt werden mußten.Die schon vor längerer Zeit für dieses Frühjahr beabsichtigte Verabschiedung unseres neuen Insolvenzrechts gewinnt vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse besondere Bedeutung. Mit Blick auf den Konkurs der Immobiliengruppe Schneider möchte ich nachdrücklich klarstellen: Weder die neue Insolvenzordnung noch andere staatliche Maßnahmen hätten einen solchen Konkurs verhindern können. Mögliche Versäumnisse auf seiten der Großgläubiger, der Banken, können nicht durch das Insolvenzrecht ausgeglichen werden.
Aber ich appelliere wegen ihrer großen Verantwortung an die Banken, alles zur Schadensbegrenzung
Metadaten/Kopzeile:
19124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Mögliche zu tun, insbesondere zugunsten der Handwerker und der Lieferanten.
Gegen die unredliche Inanspruchnahme von Krediten und dadurch bedingtes Pleitemachen hilft keine noch so gute Insolvenzordnung. Aufgabe des Staates in einer freien Marktwirtschaft ist es, gesetzliche Regelungen bereitzustellen, die die Bewältigung solcher Krisensituationen in einem geordneten Verfahren ermöglichen und zu einer bestmöglichen Befriedigung der Gläubiger und gerade immer der sogenannten kleinen Gläubiger führen.Genau dies hat sich die Insolvenzrechtsreform zum Ziel gesetzt, wenn sie neben der Verbesserung von Sanierungschancen für insolvente Unternehmen die Befriedigungschancen insbesondere der kleinen Gläubiger erhöht.Künftig wird die an die ungesicherten Gläubiger zu verteilende Vermögensmasse größer. Die Privilegierung bestimmter Gläubigergruppen, auch des Staates, für Steuerforderungen entfällt. Zusätzlich wird durch Kostenbeiträge der gesicherten Gläubiger und durch die erweiterte Anfechtung gläubigerschädlicher Handlungen mehr Masse als bisher zur Verteilung an die ungesicherten Gläubiger zur Verfügung stehen. Gerade mittelständische Lieferanten und Bauhandwerker können dann damit rechnen, mit größeren Beträgen als bisher befriedigt zu werden.Erlauben Sie mir aber in diesem Zusammenhang auch einen Hinweis auf die geltende Rechtslage. Zur besseren Sicherung der Handwerker ermöglicht es schon jetzt das vor einem Jahr auf Initiative der Bundesregierung beschlossene Bauhandwerkersicherungsgesetz Handwerkern, sich durch besondere Sicherheiten des Bauherrn bzw. des Bauunternehmers zusätzlich gegen Risiken, besonders Konkursrisiken, abzusichern. Bauhandwerker sind danach berechtigt, für ihre vertraglichen Bauforderungen nicht nur die Einräumung einer Sicherungshypothek am Baugrundstück, sondern auch die Sicherung am Baugeld des Auftraggebers zu verlangen. Der Bauhandwerker kann die Leistung verweigern, wenn der Bauherr oder der Bauunternehmer die verlangte Sicherung verweigern.Die Möglichkeit, eine Bankbürgschaft der baufinanzierenden Banken zu verlangen, ist aber offensichtlich noch zuwenig bekannt und wird leider auch noch zuwenig genutzt. Diese Art der Sicherung sollte bei größeren Vorhaben und Risiken zur Selbstverständlichkeit werden, und zwar auch dann, wenn der Auftraggeber einen großen Namen hat.Bei der aktuellen Diskussion über die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines neuen Insolvenzrechts besteht die Gefahr — in dieser Debatte nicht; denn diesen Punkt haben alle Redner betont —, daß ein Komplex in den Hintergrund treten könnte, dem meines Erachtens hohe, in ihrem Wert heute kaum abschätzbare wirtschaftliche Bedeutung, vor allem aber soziale Bedeutung zukommt, nämlich die Restschuldbefreiung. Über dieses Institut wird in Zukunft den Insolvenzschuldnern die Möglichkeit gegeben,sich von ihren Verbindlichkeiten zu befreien und damit die Chance für einen wirtschaftlichen Neubeginn zu erhalten. Dies ist ein Ausweg aus dem bisherigen lebenslänglichen Schuldturm.Die Forderungen der Verbraucherverbände nach noch weiter gehenden Lösungen lassen die berechtigten Interessen der Gläubiger außer Betracht. Die Restschuldbefreiung hilft jedoch nicht nur den Betroffenen aus ihrer oft lebenslangen wirtschaftlichen Not, sondern ist auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll und erstrebenswert. Gescheiterten Unternehmen wird eine weitere Startchance gegeben, die Verbraucher erhalten einen Anreiz, sich durch eigene Arbeit zu ernähren und nicht weiterhin von der Sozialhilfe und damit auf Kosten der Allgemeinheit zu leben. Ich denke, daß sich das — jedenfalls nach einer Anlaufphase — auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialbereich bemerkbar machen wird.
Die Insolvenzrechtsreform hat im Rahmen der parlamentarischen Beratungen — auch ich möchte darauf hinweisen — nicht nur Zustimmung erfahren. Kritische Stimmen haben sich aus mehreren Ländern geäußert; nicht — das möchte ich deutlich betonen —, weil sie die Ziele und den Inhalt des Reformpakets kritisieren, sondern die Bedenken sind vor allem — ich möchte sagen: ausschließlich — von der Befürchtung getragen, mit der Reform könne auf die Justiz eine Belastung zukommen, der diese nicht gewachsen sei.Diese Bedenken sind von allen Berichterstattern bei den täglichen und den nächtlichen Beratungen — dafür möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danken, weil wir sonst heute nicht die zweite und die dritte Beratung im Rahmen dieses Gesetzgebungsvorhabens durchführen könnten — berücksichtigt worden. Deshalb ist ja der Entwurf entscheidend verschlankt und vereinfacht worden, so daß die Gerichte nicht mehr als unbedingt notwendig belastet werden. Wir kommen den Ländern mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens, nämlich erst zum Januar 1997, ganz entscheidend entgegen, und zwar nicht, Herr Heuer, um eine Novellierung ins Auge zu fassen, sondern um den Ländern damit die ausreichende Möglichkeit zu geben, sich auf die Umstellung auf das neue Recht einzurichten.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Finanz- und Bauskandal Schneider hat dazu geführt, daß die höchst unterschiedliche Absicherung von Gläubigern im Konkursfall zur Zeit in aller Munde ist. Wir werden wohl — die Frau Ministerin hat ja darauf hingewiesen — der Frage nachgehen müssen, warum im konkreten Fall insbesondere das erst vor einem Jahr beschlossene Bauhandwerkersicherungsgesetz so wenig Vorsorge getroffen hat und welche Dinge dafür ursächlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19125
Hermann Bachmaierwaren, daß es so wenig zur Anwendung und zur Absicherung von Handwerkern gekommen ist.
Ich werde zur allgemeinen Problematik gleich noch mehr sagen. Lassen Sie mich zunächst zur generellen Problematik einer Insolvenzrechtsreform einiges ausführen.Die Verabschiedung der Insolvenzrechtsreform — darauf haben alle Vorrednerinnen und Vorredner hingewiesen — ist überfällig. Seit Jahrzehnten wird beklagt, daß die über 110 Jahre alte Konkursordnung und die aus dem Jahre 1935 stammende Vergleichsordnung den gegenwärtigen Anforderungen an ein modernes Insolvenzrecht nicht mehr genügen. Wenn es überhaupt noch zur Eröffnung eines Verfahrens kommt, ist die Liquidation die Regel und die Sanierung die Ausnahme. Nur dann, wenn talentierte Konkurs- und Vergleichsverwalter mit unternehmerischem Geschick und mit Unterstützung der Gläubiger ein notleidendes Unternehmen in den Bereichen reorganisieren, die überlebensfähig sind, können Arbeitsplätze gerettet, Betriebe und Produktionsstätten erhalten werden.Unser bestehendes Insolvenzrecht, also Konkurs- und Vergleichsordnung, ist bei diesen wünschenswerten Sanierungsverfahren eher hinderlich, weil es eben der wertevernichtenden und Arbeitsplätze zerstörenden Liquidation den Vorrang gibt, das auch in aller Regel den nicht abgesicherten Gläubigern keine Vorteile gebracht hat.Erst recht war das geltende Insolvenzrecht völlig ungeeignet, den unverschuldet in Not geratenen Verbrauchern bei entsprechender Anstrengung wieder auf die Beine zu helfen und einen Neuanfang zu ermöglichen. Mit Recht wurde — mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben dies erwähnt - vom Konkurs des Konkurses gesprochen und immer nachdrücklicher vom Gesetzgeber Abhilfe verlangt.Insbesondere die USA, aber auch Österreich und andere europäische Staaten haben längst ein modernes Insolvenzrecht, das der Sanierung und Reorganisation Vorrang vor der Vernichtung und Zerschlagung von Betrieben einräumt und auch überschuldeten Verbrauchern bei entsprechender Anstrengung eine Überlebensperspektive auf dem Weg der Restschuldbefreiung bietet. Nur in der Bundesrepublik wollte es trotz gründlicher Vorarbeiten und vielfältiger Versprechungen auch der Koalitionsmehrheit zunächst nicht gelingen, den völlig antiquierten Rechtszustand zu beseitigen und ein zeitgerechtes Insolvenzrecht zu schaffen.Für uns war es daher, meine Damen und Herren, eine geradezu selbstverständliche Verpflichtung, uns nach der Vorlage des Regierungsentwurfes zum Insolvenzrecht mit den Berichterstattern von der CDU/ CSU und der F.D.P. und den Damen und Herren des Justizministeriums auf die Suche nach einem von allen Fraktionen getragenen Kompromiß zu machen, um noch in dieser Legislaturperiode dem Gesetzgebungsnotstand — und um einen solchen handelt es sich — im Insolvenzbereich ein Ende zu bereiten und ein modernes Insolvenzrecht auf den Weg zu bringen.Wie mein Kollege Professor Pick bereits ausgeführt hat, sind dabei natürlich — wie das bei einem Kompromiß geradezu zwangsläufig der Fall ist — viele unserer Wünsche und Forderungen offen geblieben. Dennoch glauben wir, daß es nicht vertretbar wäre, dem heute nach langen und eingehenden Berichterstattergesprächen vorgelegten Entwurf letztlich die Zustimmung zu versagen. Schon ein oberflächlicher Vergleich mit dem ursprünglichen Regierungsentwurf zeigt, daß der heute zur Abstimmung gestellte Gesetzentwurf nicht nur kräftig entschlackt wurde, sondern auch substantielle Verbesserungen in den sehr offenen und fair geführten Verhandlungen erreicht werden konnten.Meine Damen und Herren, das für uns zentrale Anliegen der Sanierung von notleidend gewordenen Betrieben und damit der Erhaltung von Arbeitsplätzen im Insolvenzverfahren kraft Gesetzes einen hohen Stellenwert einzuräumen, kommt nicht nur bereits in § 1 der Insolvenzordnung als gesetzlich vorgegebenes Ziel zum Ausdruck. Die Realisierung dieses Zieles zieht sich buchstäblich wie ein roter Faden durch alle Vorschriften, die die Unternehmensinsolvenz betreffen. Vor allem schafft das neue Recht gesetzliche Möglichkeiten, das Betriebsvermögen vor dem schnellen Zugriff der Sicherungsgläubiger zu bewahren, so daß der Betrieb als Ganzes noch einer Sanierung bzw. einer arbeitsplatzerhaltenden Weiterveräußerung zugeführt werden kann. Sicherlich wäre es meines Erachtens im Sanierungsinteresse von großer Bedeutung, wenn die Sicherungsgläubiger, also vor allem die Banken, in größerem Umfange, als dies im Gesetz vorgesehen ist, ihren Beitrag zur arbeitsplatzerhaltenden Sanierung leisten müßten.Die abgesicherte Sonderstellung insbesondere der Banken ist auch, wie der Frankfurter Konkursfall Schneider zeigt, eine der ganz entscheidenden Ursachen skandalöser Pleiten. Die gesicherten Banken sehen leider allzu häufig keinen Anlaß, rechtzeitig dem unverantwortlichen Treiben großspuriger Geschäftemacher Einhalt zu gebieten. Arbeitnehmer, ungesicherte Handwerker und Zulieferer, die darauf vertrauen, daß die Banken ihre vielfältigen Kontrollmöglichkeiten wahrnehmen, haben am Ende dann das für sie existenzvernichtende Nachsehen.Würde den abgesicherten Gläubigern — hiermit meine ich vor allem die Banken — im Insolvenzfall ein höheres Insolvenzopfer aufgebürdet, dann würden sie auch ihren Kontrollpflichten gegenüber ihren Großkreditnehmern gründlicher nachkommen als bisher. Die Folge wäre, daß die Sanierung nicht nur leichter und aussichtsreicher wäre; Arbeitnehmer, Handwerker und ungesicherte Lieferanten wären dann letztlich besser geschützt, als dies auch nach dem neuen Recht leider immer noch der Fall ist. Lassen Sie uns, auch im Lichte der riesigen Frankfurter Immobilienpleite, nochmals über eine stärkere Beteiligung der Banken im Insolvenzfall reden! Ein größeres Engagement der Sicherungsgläubiger würde manchen Sanierungsversuch aussichtsreicher gestalten.Meine Damen und Herren, auch wenn wir im Detail noch viele Verbesserungswünsche haben, so bleibt
Metadaten/Kopzeile:
19126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Hermann Bachmaierdoch die Tatsache, daß wir in diesem Gesetz erstmals ein eigenständiges Verbraucherinsolvenzverfahren schaffen, an dessen Ende den unverschuldet in Not Geratenen durch die Restschuldbefreiung eine neue Lebensperspektive geboten wird. Diesen schon heute mehr als eine Million Privathaushalten, deren Zahl in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise immer dramatischer steigt, bliebe nach heutigem Recht kaum eine Chance, dem modernen Schuldturm mit seinem verhängnisvollen Kreislauf aus Zinsen und Kosten jemals zu entrinnen.Den für diese Menschen so aufopferungsvoll tätigen Schuldnerberaterinnen und Schuldnerberatern bietet das neue Recht eine, wie ich meine, gute Hilfe an, nicht zuletzt dadurch, daß der außergerichtliche Vergleichsversuch dem gerichtlichen Verfahren obligatorisch vorgeschaltet ist. Die Möglichkeiten des Verbraucherinsolvenzverfahrens mit der späteren Restschuldbefreiung werden schon auf das außergerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren einen heilsamen Druck ausüben und damit die Arbeit der Schuldnerberatungsstellen wesentlich erleichtern.Meine Damen und Herren, das Insolvenzrecht alleine wird auch in Zukunft Leid und wirtschaftliche Not nicht verhindern. Darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden. Ein auf Sanierung und Restschuldbefreiung ausgerichtetes Insolvenzrecht kann aber mithelfen, um wieder Wege aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch von Unternehmen zu finden und verschuldeten Privatpersonen eine neue Lebensperspektive zu geben. Letztlich wird das neue Recht allen Beteiligten, einschließlich der Gläubiger, von Nutzen sein.Ein sanierungsorientiertes Insolvenzrecht leistet im übrigen auch einen Beitrag dazu, wirtschaftliche Zusammenbrüche zu verhindern, wenn auch einzelne Gläubigergruppen — darauf habe ich schon hingewiesen —, die sich heute durch alle erdenklichen Sicherungssysteme völlig konkursfest absichern, in Zukunft ihren leider sehr bescheidenen Beitrag im Insolvenzfall zu erbringen haben. Geld- und Warenkreditgeber werden, wenn sie sich nicht gänzlich risikofrei absichern können, auch bei guten Kunden etwas behutsamer sein.Noch eines: Nach der Verabschiedung des Insolvenzrechtes sollten wir darangehen, die Möglichkeiten, die unser Gesellschaftsrecht bietet, Haftungsrisiken zu Lasten von ungesicherten Gläubigern einzuschränken, einmal sehr gründlich zu durchforsten. Ich denke dabei an die haftungsrechtlich nach wie vor attraktiven Betriebsaufspaltungen. Auch sollte der uns durch die Insolverzstatistik belegte entschieden zu hohe Anteil der Gesellschaftsformen der GmbH und der GmbH & Co KG zu denken geben. Diese Gesellschaftsformen bieten noch immer eine große Chance, das Haftungs- und Insolvenzrisiko auf ein Minimum zu reduzieren. Sie wirken nicht selten einladend auf diejenigen, die sich einen Teufel um ihre unternehmerische Verantwortung und um ein ausgewogenes Verhältnis von Chance und Risiko im Geschäftsleben scheren und damit häufig unbeteiligte Dritte, die auf die Liquidität dieser Firmen vertrauen, ins Unglück stürzen.
— Aber Herr Kleinert, Sie wissen doch, daß ich zu einem Feindbild völlig unfähig bin.
Herzlichen Dank.
Das Wort nimmt jetzt der Kollege Wolfgang von Stetten.Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen, wie schon gesagt, vor der Verabschiedung eines Jahrhundertgesetzes — Kollege Geis nannte es so —, und Frau Justizministerin sprach von historischer Stunde", wenn die über hundert Jahre alte Konkursordnung und die fast 60 Jahre alte Vergleichsordnung durch ein einheitliches Insolvenzsystem abgelöst werden.Ich will vorweg sagen: Es ist ein gutes Gesetz, bei aller Kritik an dem einen oder anderen Detail, in sich schlüssig, durchdacht und, wie man heute so schön sagt, „händelbar". Dennoch verhehle ich nicht, daß ich lange Zeit ein Befürworter einer einfacheren Lösung gewesen wäre, nämlich der Modernisierung der Konkursordnung z. B. durch Streichung der Vorrechte, Einführung eines Sequesters und insbesondere Einführung der Vergleichsordnung in diese Konkursordnung. Dadurch wäre eine überschaubare Insolvenzordnung geschaffen worden, für die bereits in vielen Teilen die Rechtsprechung vorläge. Die Restschuldbefreiung und die Verbraucherinsolvenz hätte ich gern in ein neues, eigenes Gesetz gebracht.Manchmal ist aber ein Gesetzeswerk schon so weit fortgeschritten, und die 15 oder gar 20 Jahre alten Vorarbeiten sind nicht ohne Spuren geblieben; und es ist letztlich so imponierend in seiner Perfektion, in seinen Details, daß die Maschinerie nicht mehr aufgehalten werden kann.Ziel war es — und das ist im wesentlichen ja erreicht —, ein einheitliches Insolvenzverfahren durchzuführen mit der Zielvorgabe, möglichst viele Unternehmen zu erhalten, insbesondere kleine Gläubiger dadurch zu schützen, daß wenigstens, wenn auch oft nur bei kleinen Quoten, etwas ausgeschüttet wird.Das neue Insolvenzrecht kann naturgemäß betrügerische Konkurse — wie den aktuellen Fall des Baulöwen Schneider — nicht verhindern; aber dadurch, daß mobile Werte und Zubehör in Zukunft mit ca. 9 % zur Masse beitragen und Vorrechte aufgehoben werden, kann es wenigstens bewirken, daß ein Teil der ungesicherten Forderungen ersetzt wird.In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen — es wurde von mehreren Vorrednern bereits
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19127
Dr. Wolfgang Freiherr von Stettenerwähnt —, daß eigentlich keiner der Handwerker und der Lieferanten auch nur einen Pfennig hätte verlieren müssen, wenn er die von uns im letzten Jahr verabschiedeten Bausicherungsmöglichkeiten genutzt hätte.Wir haben bewußt den alten § 648 BGB, die Sicherungshypothek des Bauunternehmers, ergänzt, weil das eine schlechte Möglichkeit war. Wir haben nun die Möglichkeit des Unternehmers und des Handwerkers nach der Auftragserteilung — das ist ganz wichtig —, daß er vor Beginn von seinem Bauherrn eine Sicherung verlangen kann. Leider ist dies teilweise nicht bekannt. Die Handwerkskammern und die Industrie- und Handelskammern sollten aktuell auf diese Sicherungsmöglichkeit hinweisen und sie ihren Mitgliedern näherbringen.
Ich glaube, das ist ganz wichtig.
Nicht ganz glauben kann ich in diesem Zusammenhang eine Äußerung des Konkursverwalters Grub, der den § 648a als uneffektiv bezeichnet, weil er vorher abbedungen werde. Es gibt dort einen Absatz 7, der besagt, daß abbedungene Sicherungen unwirksam sind. Das heißt, selbst wenn in einem Auftragsvertrag so etwas steht, kann eine Sicherung verlangt werden. Und das sollten die Handwerker tun.Meine Damen und Herren, es ist überhaupt keine Frage, daß es auch Mängel gibt. Ein Großteil der CDU/CSU-Fraktion und auch der Freien Demokraten hätte gern gesehen, wenn wir im Rahmen des Insolvenzrechts auch die Bestimmungen des § 613 a Abs. 4 BGB hätten ändern können, damit sie im Konkursfall nicht gelten. Manche Betriebe wären in der Vergangenheit leichter zu retten gewesen und in der Zukunft leichter zu retten, wenn nicht im Konkurs- bzw. im späteren Insolvenzfall die bestehenden Arbeitsverhältnisse zwangsweise übergingen. Dadurch wird manches Unternehmen nicht gerettet, sondern quasi zur Liquidation getrieben, weil ein Übernehmer sich nicht mit den Altlasten belasten will.
Die Bestimmungen des § 613 a Abs. 4 sind sicher gut gemeint gewesen, aber sie sind eher ein Arbeitsplatzkiller als ein Arbeitsplatzerhalter. Lösungen ohne finanzielle Beeinträchtigung der Arbeitnehmer hätte es gegeben; aber — lassen Sie mich das so grob sagen — ideologische Scheuklappen haben eine Reform in diesem Punkt verhindert.
Die neuen Regelungen, die jetzt in die §§ 127 ff. aufgenommen wurden, sind noch vertretbar, machen aber die Fortführung einer Firma nach wie vor schwierig.Richtig ist der Ansatz, die Gläubiger an den Kosten des Insolvenzverfahrens zu beteiligen, wie es bei den mobilen Sicherheiten durchgeführt wurde. Ich hätte mich aber nicht gescheut, lieber Kollege Gres, die Sicherheiten der Grundpfandrechte — meistens von Banken — z. B. auch mit einem Prozent ihres Wertes hinzuzuziehen. Den dagegen vorgebrachten Einwendungen, daß dies den Immobiliarkredit verteuere, wurde durch einfache Berechnungen der Boden entzogen. Die Verteuerungen hätten im Promillebereich gelegen, da nur wenige Prozent der Kredite durch Insolvenzverfahren berührt sind und die Verteuerung sich vielleicht auf 0,01 % beliefe. Die verfassungsrechtlichen Bedenken teile ich im übrigen nicht.Richtigerweise wurde eine Vorphase eingeführt, der dann das Insolvenzverfahren folgt, mit der Maßgabe, zu erhalten oder gegebenenfalls zu liquidieren. Neu wurde die Eigenverwaltung des Schuldners eingeführt. Sie wurde teilweise stark kritisiert, aber sie ist doch sehr sinnvoll, wenn z. B. ein Schuldner unverschuldet in eine Liquiditätskrise gerät und dadurch nicht mehr weitermachen kann. Hier können unter Aufsicht eines Sachwalters die Geschäfte durch den Schuldner fortgeführt werden und kann er selber sein Unternehmen retten.Ein völlig neues, aber richtiges und den Lebensverhältnissen angepaßtes Instrument ist die Restschuldbefreiung. Danach kann der Schuldner, der bisher 30 Jahre lang oder sein ganzes Leben für nicht befriedigte Forderungen haftete und damit letztlich aus dem Geschäftsverkehr gezogen wurde, es sei denn, er hat über Ehefrau, Kinder oder Bekannte Geschäfte getätigt, nach einer Übergangszeit von fünf oder sieben Jahren ins normale Geschäftsleben zurückkehren. Auf Einzelheiten will ich nicht eingehen. Richtig ist jedoch, daß eine solche Restschuldbefreiung dann nicht stattfinden kann, wenn der Schuldner einer Konkursstraftat überführt ist oder bereits ein Insolvenzverfahren hinter sich hat, seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt oder unwahre Angaben macht. Dabei hat der Schuldner das über der Pfändungsgrenze liegende Einkommen über einen gewissen Zeitraum abzutreten und möglichst eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.Folgerichtig wurde für Privatschuldner eine sogenannte Verbraucherinsolvenz eingeführt, damit auch Kleinschuldner nicht ihr Leben lang von Gerichtsvollziehern verfolgt werden. Diese kleine Insolvenz ist entsprechend ausgestaltet und kann nur beantragt werden, wenn im vorhinein eine private Schuldenbereinigung versucht wurde. Ich glaube — und wir werden es nach drei Jahren sicher wissen —, daß von diesen privaten Schuldenbereinigungsverfahren, dem Vorverfahren, viele Gebrauch machen, weil es schneller und kostengünstiger ist als ein offizielles Verfahren. Die Gläubiger werden zu einem solchen Verfahren angehalten, weil sie nun wissen, daß es auch von Amts wegen durchgeführt werden kann, wenn sie sich nicht im Vorfeld mit dem Schuldner einigen.Auch hier sind Schranken eingebaut, daß nicht ohne Sinn und Verstand oder — wie man landläufig sagt — auf Teufel komm raus Schulden gemacht werden, die man dann in einem Verbraucherinsolvenzverfahren erlassen bekommt. Das soll und darf kein Freibrief zum Schuldenmachen sein, sondern ist ein Instrument, aus dem modernen Schuldturm herauszukommen. Ich rate übrigens allen Schuldnern, zu versuchen, schon nach Verabschiedung dieses Gesetzes ein Vorverfahren durchzuführen und gegebenenfalls bereits vorher vernünftige Vereinbarungen zu
Metadaten/Kopzeile:
19128 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Wolfgang Freiherr von Stettentreffen, um den Versuch bei Inkrafttreten dieses Gesetzes nachweisen zu können.Ich teile die Bedenken der Länder, daß es am Anfang zu einem Boom von Verfahren kommt. Dies wird aber im Laufe der ersten Jahre nachlassen, weil wir derzeit einen Rückstau aufweisen. Dabei wird nicht verkannt, daß es zu einer Stellenvermehrung führen wird, die letztlich auch zu Kostenbelastungen führt. Dennoch muß es ein Anliegen des Staates sein, den redlichen Bürgern zu ermöglichen, nach einer Verschuldung ins normale Erwerbsleben zurückzukehren, wenn er dies will und eine entsprechende Zeit Wohlverhalten zeigt. Dies kann nur im Interesse eines sozialen Friedens sein und ist auch Anreiz, zu arbeiten und Geld zu verdienen, anstatt sich mit dem Lebensminimum zu beschränken oder mit der Sozialhilfe zufriedenzugeben oder auf krummen Wegen Geschäfte zu tätigen. Gerade junge Leute, die sich aus Unerfahrenheit oder Leichtsinn überschuldet haben, wird dadurch eine Zukunftsperspektive gegeben. Insoweit darf ich mich auch bei den beiden Justizministern von Baden-Württemberg, Dr. Schäuble, und von Bayern, Herrn Leeb, bedanken, die, durch Vermittlung von Herrn Geis, hier ihren Beitrag geleistet und ihre Bedenken zurückgestellt haben. Ich glaube, das ist gut.Durch dieses neue Gesetz mußten auch in weit über hundert anderen Gesetzen Vorschriften geändert werden, um das Gesetz mit den bestehenden Gesetzen in Einklang zu bringen. So wurde u. a. die Anfechtungsmöglichkeit beim unredlichen Schuldner verbessert, z. B. die Durchgriffshaftung gegebenenfalls auch auf Schneiders Privatvermögen. Auch die ersatzlose Streichung des § 419 BGB will ich hervorheben. Diese Bestimmungen, von Anfang an umstritten, hinderten oft die Verwertung von Vermögen auch im Insolvenzfall, weil die Sorge bestand, daß es sich im wesentlichen um das letzte Vermögen eines Schuldners handelte und dadurch eine Art Durchgriffshaftung drohte. Es war daher oft ein Kredithemmschuh, der nun beseitigt ist.Lassen Sie mich auch den Dank an alle Kollegen der Berichterstattergruppe sagen, aber auch des Rechtsausschusses, den Mitarbeitern des Ministeriums. Es war eine sehr angenehme, kollegiale Zusammenarbeit, in der wir in vielen Stunden zusammensaßen, um dieses Jahrhundertwerk mit zu beraten und auch zu verabschieden.Dieses Gesetz wird, auch wenn es jetzt noch stark kritisiert wird — ich teile teilweise die Kritik — von der Wirtschaft und den Konkursverwaltern angenommen und in wenigen Jahren nicht mehr wegzudenken sein. Es ist ein gutes Gesetz, und es zeigt, daß dieser Bundestag handlungsfähig ist.Danke schön.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Hans de With.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Anfang nocheinmal ein Zahlenwerk: Schon 101 Jahre alt war das geltende Konkursrecht, als der damalige Bundesminister der Justiz, Hans-Jochen Vogel — Herr Kollege Gres hat dankenswerterweise darauf hingewiesen —, schon 1978 den Start zur Reform gab. Dasselbe Jahr, 1978, war es auch, in dem die Amerikaner durch ihren Bankruptcy Reform Act ihr Insolvenzrecht erneuerten, von dem wir ein kleines Stück, um es zuzugeben, abgeschaut haben.Wenn 1997 das hier zu verabschiedende Werk in Kraft tritt, wird die alte Konkursordnung 120 Jahre alt sein. Das belegt ganz klar: Die Zeit für eine Reform ist überreif. Schon 1978 war offenkundig: Erstens. Das geltende Recht war allein auf die Verteilung der noch übriggebliebenen Masse angelegt und nicht etwa auf die Sicherung von Arbeitsplätzen.Zweitens. Der Anspruch auf Verteilung der Masse stand im Grunde — sagen wir es so, wie es ist — auf dem Papier; denn zu 75 % wurden die Konkurse schon damals mangels Masse abgewiesen.Drittens. Selbst die eröffneten Konkurse brachten nichts, weil im Schnitt die Zuteilungsquote um die 5 % herum pendelte und damit das Wort vom Konkurs als Wertvernichter schlimmster Art — es stammt aus der Zeit von vor dem Ersten Weltkrieg — mehr als belegt ist.Viertens. Allenfalls wurden die Gläubiger geschützt, die sich durch Grundstücke oder Eigentumsvorbehalt am beweglichen Vermögen sichern konnten, und diese Sicherungsrechte tragen mit zum Konkurs des Konkurses bei.Fünftens. Es fehlte ein System für den redlichen Kleinschuldner mit einer Restschuldbefreiung, um den — ich sage es so, wie es ist — überschuldeten Häuslebauer, die arbeitslos gewordene Alleinerziehende oder den übervorteilten Ratenzahler aus dem modernen Schuldturm herauszuholen.In all diesen Bereichen schafft das heute zu verabschiedende Gesetz klar Abhilfe. Es stellt erstens auf die Rettung der Arbeitsplätze ab. Zweitens wird die Masse, also das an alle gleichermaßen zu verteilende Vermögen, vergrößert und damit auch den Arbeitnehmern geholfen. Drittens wird das Mobiliarpfandrecht zu 24 % bei der Masse herangezogen, d. h. das Abholen des unter Eigentumsvorbehalt stehenden Rohmaterials und der daraus gewonnenen Produkte ohne jede Beteiligung an der Masse ist damit nicht mehr möglich.Viertens. Es schafft zum ersten Mal ein besonderes, dreistufiges Verfahren für die schuldlos in Not geratene Einzelperson mit der Möglichkeit der Restschuldbefreiung nach sieben Jahren.Natürlich — das sei wiederholt — hätten wir Sozialdemokraten einiges anders gemacht. Unsere Änderungsanträge belegen das. Das gilt für die Arbeitnehmerrechte genauso wie für Verbraucherbestimmungen. Aber ich sage auch: Es ist nicht zu leugnen, daß es seit Hans-Jochen Vogels Auftragserteilung eine kontinuierliche Linie, die nachgezeichnet werden kann, bis zu diesem Gesetzesvorhaben gibt. Ich erwähne auch,. daß es dem hartnäckigen Verhandeln unserer Berichterstatter Hermann Bachmaier und Eckhart
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19129
Dr. Hans de WithPick zu verdanken ist, daß es hier im Sinne der sozialen Gerechtigkeit deutliche Fortschritte gab.Hinzugefügt werden muß aber auch: Es ist gut, wenn ein derart wesentliches Gesetz letztlich gemeinsam erarbeitet worden ist und von einer breiten Mehrheit getragen wird. Es ist gut der Sache wegen, es ist gut für das Parlament.Ich nehme diese Gelegenheit zum Anlaß, meinem Nachnachnachfolger — wenn ich das so sagen darf —, Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Funke, sehr herzlich zu danken; denn es ist wesentlich ihm zu verdanken, daß es hier parteiübergreifend zu dem Werk kam, das wir eigentlich alle gelobt haben. Herr Kollege Funke, vielen Dank; Sie haben es wirklich verdient.
Mit diesem Gesetz werden wir im internationalen Vergleich wieder eine Spitzenstellung erreichen; nicht nur mit der Hervorhebung der Sanierung des bankrotten Betriebes gegenüber — ich sage es etwas salopp — der „Versilberung" des restlichen Vermögens und nicht nur mit der spezifischen Verbraucherinsolvenz; nein, wir bieten im Einzelfall ein Stück mehr Gerechtigkeit.Dazu kommt: Unsere gesamte Volkswirtschaft kann nur profitieren, wenn durch ausgeklügelte Verfahren versucht wird, Betriebe zu retten und Menschen vor dem lebenslang bestehenden Schuldenturm zu bewahren. Daß das für die Justiz keine leichte Aufgabe sein wird, ist schon erwähnt worden: Es kostet Geld; neue Planstellen für Rechtspfleger und für Richter sind einzurichten. Aber es kommt für den Staat auch zu Entlastungen, wenn auch in anderen Töpfen.Ich sage deswegen mit vielen meiner Vorredner: Wir haben an die Länder zu appellieren, nicht nur die auf die Justiz zukommenden Beschwernisse zu beachten, sondern auch die für alle unübersehbaren Vorteile in Betracht zu ziehen. Die Gesetze sind ja nicht zustimmungsbedürftig. Eine Blockade im Bundesrat wäre deshalb entweder ein Pyrrhussieg oder aber — bei einem endgültigen Scheitern — ein Verlust nicht nur für die Betroffenen, sondern letztlich — lassen Sie mich das so formulieren — ein Bankrott für die Gesetzgebung.Vielen Dank.
Als nächster nimmt der Abgeordnete Detlef Kleinert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! 1877 — die Zahl ist mehrfach genannt worden — ist das Vorgängergesetz — jedenfalls die eine Hälfte der beiden Vorgängergesetze — in Kraft getreten. Ich möchte darauf hinweisen, daß es damals kein Telefon gab und daß die Anreise aus den Wahlkreisen nach Berlin erheblich beschwerlicher war als heute der Weg aus den Wahlkreisen nach Bonn. Daraus leite ichden Schluß ab, daß das Gesetz so lange — bei allen immer mehr zutage tretenden Mängeln im Vergleich zu den Anforderungen der modernen Zeit — tauglich geblieben ist, während wir in unserer Zeit dank der Erfindung des Telefons, des Automobils
und einer viel schnelleren Eisenbahn leider eine etwas andere Art, Gesetze zu machen, entwickeln mußten. Immerhin ist das Frankfurter Zimmer im Bundesministerium der Justiz, in dem die Berichterstattergespräche stattgefunden haben, mit dem Frankfurter Schrank, der dort steht und eine gewisse zeitlose Behaglichkeit ausstrahlt, eine Erinnerung an die Zeiten, in denen unsere Vorfahren das Vorgängergesetz geschaffen haben.Darum können wir uns zum wiederholten Male darüber freuen, daß hier interfraktionell sachlich, ordentlich und ruhig gearbeitet worden ist, um ein Gesetz zustande zu bringen, das hier zu Recht von allen gelobt worden ist, das aber, wie ich eben schon angedeutet habe, in unserer Zeit einmal mehr den Kompromißvorstellungen zwischen vermuteten und tatsächlichen Interessen dienen mußte — anders, als das früher bei einem Streben nach Vollkommenheit sowie letzter Konsequenz und Eleganz möglich war. Darum habe ich ähnlich wie der Kollege von Stetten auch für mich persönlich zu beklagen, daß einige der Blütenträume — das ist nun einmal bei Kompromissen so — nicht reifen konnten.Natürlich ist das Verfahren im ganzen effizienter geworden; natürlich ist zutreffend ausgeführt worden, wer alles vernünftigerweise in Zukunft Opfer zu bringen hat, um in erster Linie die Erhaltung von Unternehmen und damit von wirtschaftlicher Substanz sicherzustellen, die sich nicht nur in Warenwerten oder Konten — in diesem Falle übrigens auf verhältnismäßig negativen Konten — äußert, sondern auch im Know-how, in Arbeitsplätzen, in der Tradition, in der Bedeutung einer Marke und anderen Werten, die im Konkurs- oder Vergleichsfall eben verlorengehen, und zwar ersatzlos. Gerade das soll in möglichst vielen Fällen vermieden werden. Wir hoffen, daß es gelingt.Ganz leise ist schon angesprochen worden: Viele haben Opfer gebracht. Es gibt einige, die hier verhältnismäßig wenig Opfer gebracht haben, selbst im Verhältnis zu dem als besonders hartleibig bekannten Fiskus, der nach langen und harten Kämpfen auf sein Vorrecht verzichtet hat. Dafür gebührt, neben vielem anderen, Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Funke besonderer Dank. Nach vielen hartnäckigen Kämpfen hat der Bundesminister der Finanzen einen Verzicht erklärt.Der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine parlamentarische Vertretung in diesem Hause, nämlich die Kollegen von der Sozialdemokratie, haben so weit nicht gehen mögen, gehen können, gehen dürfen — was weiß ich, wie das intern abläuft —,
Metadaten/Kopzeile:
19130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Detlef Kleinert
und deshalb haben wir in § 613a BGB und im Sozialplan immer noch erhebliche Hindernisse für eine vernünftige Rettung von Unternehmen behalten, was wir natürlich bei dem gemeinsam angestrebten Ziel für höchst bedauerlich halten.
Wir hoffen, daß das noch bei passender Gelegenheit, wie einiges andere, nachgebessert wird.Auch die Vergleichsbereitschaft einer Berufsgruppe, die zwar klein, aber edel ist und in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt, die sich bezeichnenderweise im Gravenbrucher Kreis zusammengeschlossen hat — aus einem Grund, der Kennern der Hotelszene bekannt ist —,
ist nicht groß. Diese Berufsgruppe hat verhältnismäßig wenig Opferbereitschaft an den Tag gelegt. Meine Idee, das Honorar für so außergewöhnliche Leistungen wie die Verwaltung einer großen Vermögensmasse in diesen Fällen frei zu vereinbaren, ist leider nicht aufgegriffen worden. Man hält es lieber bequemerweise mit einer Gebührenordnung, die bei den hier in Rede stehenden Streitwerten schlechthin unrealistisch ist und fast diskussionslos dazu führt, daß um die Geldfrage vornehmerweise gegenüber dem Verwalter nicht gestritten wird. Daß der Gläubigerausschuß hier gewisse zusätzliche Möglichkeiten hat, doch etwas zu unternehmen, ist eine Kleinigkeit am Rande, die nicht so sehr ins Gewicht fällt, wie wir das gerne gehabt hätten.Ich möchte gerne auf die aktuelle Lage hinweisen. Die Kollegen, die sich bei den Zeitungen mit den besonders dicken Schlagzeilen in den letzten Tagen— weil sie immer bei gegebenem Anlaß wach werden — mit interessanten Vorschlägen geäußert haben, wie die armen Handwerker in dem Schneider-Konkurs zu retten seien, sind heute hier alle nicht anwesend.
— Macht auch nichts; richtig. — Sie haben auch nicht gewußt, daß wir vor Jahresfrist eine gewisse Verbesserung bei der Handwerkersicherungshypothek, die ich nicht so optimistisch beurteile wie die Frau Bundesjustizministerin, verabschiedet haben. Ich habe damals Bedenken geäußert, ob das Instrument angenommen werden wird. Meine Bedenken sind leider berechtigt. Es hat sich fast nichts verändert. Der Handwerker ist zu schwach, um vom Unternehmer eine entsprechende Sicherstellung zu verlangen, solange er noch um den Auftrag kämpft. Deshalb muß man sich die Geschichte neu überlegen.Ganz zum Schluß — Frau Präsidentin, ich bitte vielmals um Vergebung; ich sehe hier allerlei Lichtzeichen, die mich völlig verwirren —
möchte ich insbesondere die verehrten Kollegen von der Sozialdemokratie, die sich zur Zeit mit dem Gedanken einer 1,5 %igen Vermögensteuer trägt, darauf hinweisen, daß die Zusammenballung vonErbschaftsteuer, Vermögensteuer, Zinsbesteuerung, Gewerbekapitalsteuer einen Teil der Konkurse überhaupt erst verursacht.
Wir sind der Meinung, daß wir, da das Kapital in privaten Händen nun einmal besser aufgehoben ist als in öffentlichen Händen,
in diesem Bereich ohne Rücksicht auf Neidkomplexe zum Handeln kommen müssen, damit im Vorfeld Konkurse vermieden werden, statt daß man in die Lage kommt — das muß man sich mal überlegen —,
Erbschaftsteuer als Familienfremder frühestens in zehn Jahren aus üppigen Erträgnissen eines Unternehmens abbezahlen zu können und ab dem elften Jahr Rückflüsse zu bekommen. In Hongkong rechnet man mit einem kompletten Kapitalrückfluß nach sechs Jahren.
Herr Kleinert, denken Sie an die vielen Leuchten!
Diese Punkte, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, sollten Sie fairerweise bei der Insolvenzordnung beachten.
Ganz zum Schluß kann ich Ihnen das besonders plastisch machen am Beispiel des Kollegen Heuer: Hier Belehrungen über Konkurse im Individualbereich von denjenigen zu empfangen, die am einzigen gesamtvolkswirtschaftlichen Konkurs der Weltgeschichte maßgeblich beteiligt waren, das geht zu weit.
Abschließend in dieser Debatte der Kollege Briefs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bis Anfang der 70er Jahre betrug in der Bundesrepublik die Zahl der jährlichen Firmenpleiten etwa 3 000. Heute liegt diese Zahl weit über 10 000. Konkurse und Vergleiche, die heute nach Angaben des Vereins Creditreform jährlich über 300 000 Arbeitsplätze kosten, sind im wesentlichen wie die Massenarbeitslosigkeit ein Ergebnis der Überkapazitäten, die in allen wesentlichen Wirtschaftszweigen seit dem großen Boom Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre entstanden sind. Überakkumulation, so schrieb damals einer der alternativen Wirtschaftsprofessoren, ist der Kern der strukturellen Wirtschaftsprobleme, zu denen auch Unternehmenszusammenbrüche mit Vergleichs- und Konkursverfahren zählen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19131
Dr. Ulrich BriefsDie hohe Zahl der Insolvenzen ist eine ganz übliche Form der Kapazitätsbereinigung in einer Marktwirtschaft, die nicht durch Mangel, sondern durch Überfluß an Produktion und Produktionsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Nicht zwangsläufiges Ergebnis des marktwirtschaftlichen Prozesses ist es dagegen, wie die Folgen verteilt werden, wer mit wieviel für die Folgen aufzukommen hat. Die Verteilung der Lasten und der Folgen von Insolvenzen ist vielmehr gerade auch eine Frage und eine Aufgabe der rechtlichen Ausgestaltung der relevanten Vorschriften und auch der Vorschriften im Vorfeld, z. B. bei den Rechnungslegungsvorschriften. Ich möchte hinzufügen, daß ich mich zu diesem Redebeitrag gemeldet habe, um eigentlich darauf einmal hinzuweisen.Die derzeitig gültigen Vorschriften und die alteingefahrene Praxis — das ist vielleicht das größere Problem — begünstigen eindeutig die Banken und diejenigen, die sich irgendwie dinglich sichern können. Dienstliefernde Lieferanten oder auch kleine Handwerker am Bau sind dagegen schon wesentlich schlechter dran. Das ist nicht erst seit dem jüngsten großen Bauträgerkonkurs bekannt.Noch schlechter sind die Beschäftigten dran. Erst seit der relativ späten Schaffung des Konkursausfallgeldes haben auch sie in Insolvenzfällen eine gewisse Sicherung.
Ganz schlecht sind — wenn auch nicht unverschuldet — diejenigen dran, die als kleine Gewerbetreibende oder als abhängig Beschäftigte ihr Leben lang unter einem Schuldenberg ächzen müssen und ihr Leben lang nicht mehr aus dem Würgegriff der oft anonymen Gläubiger herauskommen.
Leichtsinn oder auch die Not und Unerfahrenheit dieser Betroffenen, häufig aber auch — das wird zu oft vergessen — wucherische und ausbeuterische Praktiken der Gläubiger haben in solchen Fällen oft zum Insolvenzfall, der lebenslang nachhängt, beigetragen.In diesen letzteren Fällen und auch bei den Lohnforderungen bringt die vorgesehene neugefaßte Insolvenzordnung teilweise Verbesserungen. Das ist durchaus anzuerkennen. Andererseits — da ist die Kritik des bereits genannten Gravenbrucher Kreises, so denke ich, berechtigt — wird der Zugriff der Banken durch Aufgabe des Kopfprinzips in der Gläubigerversammlung noch erhöht.Insgesamt sind die Verbesserungen, die diese Insolvenzordnung bringt, unzureichend. Unzureichend sind z. B. nach wie vor die Mitbestimmungsmöglichkeiten der betroffenen Beschäftigten und der betrieblichen Interessenvertretungen. Unzureichend geregelt sind nach wie vor die Bestimmungen des Verbraucherinsolvenzverfahrens. Unzureichend sind die Bestimmungen, die die Sanierungsverfahren unterstützen können.Problematisch ist auch, daß die Stellung des unabhängigen Insolvenzverwalters geschwächt, die derInsolvenzschuldner jedoch gestärkt wird. Damit werden Inhaber, die oft erst durch ihre Managementfehler den Insolvenzfall herbeigeführt haben, in wesentlichen Aspekten zu bestimmten Faktoren im Insolvenzabwicklungsverfahren.Der ganz große Wurf, das Jahrhundertwerk, wie es soeben genannt wurde, ist meines Erachtens diese Insolvenzordnung nun doch nicht.Ich möchte abschließend auf erhebliche Mißstände im Vorfeld der Entstehung von Insolvenzfällen hinweisen. Nicht selten erscheint es so, als ob sich Insolvenzfälle überhaupt erst im Schatten der völlig unzureichenden Rechnungslegungsvorschriften in Deutschland entwickeln können. Deutsche Unternehmen rechnen sich bekanntlich, wenn es ihnen gutgeht, systematisch arm. Wenn es ihnen schlechtgeht, haben sie vielfältige legale, manipulative Möglichkeiten, z. B. durch Schaffung von Bucherträgen das Ergebnis zu schönen. Das Ergebnis ist, daß im Vorfeld eines solchen Prozesses ein Bild entsteht, aus dem die wesentlichen Informationen über die wirtschaftliche Lage und Entwicklung des Unternehmens gar nicht richtig ersichtlich sind.Das hat auch von einer anderen Seite her Konsequenzen. Deshalb möchte ich darauf noch einmal deutlich hinweisen. Als die Daimler-Benz AG an die New Yorker Börse gehen wollte, hat ihr der Vorstand der New Yorker Börse gesagt: Mit euren deutschen Rechnungslegungspraktiken kommt ihr uns hier nicht rein, werdet ihr nicht auf die amerikanischen Kapitalanleger losgelassen.So mußte die Daimler-Benz AG zunächst einmal 4,5 Milliarden DM an stillen Reserven in Rückstellungen auflösen. Das legt schlaglichtartig offen, welche gewaltigen Mißstände es gerade bei den laufenden Berichterstattungs- und Rechnungslegungsvorschriften in der Wirtschaft gibt.Ich denke, gerade hier müssen wir ansetzen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Beitrag, der dazu führen könnte, daß Insolvenzverfahren, deren Zahl ich ja genannt habe, mit den bekannten unsozialen Folgen in dieser Größenordnung und mit den Folgen, wie wir sie gerade im Fall Schneider erleben, einfach nicht mehr entstehen.Wenn wir so weit sind, daß wir das deutsche Rechnungslegungsrecht und auch das deutsche Steuerrecht — ich glaube, die Insider wissen, was damit gemeint ist — grundlegend reformieren, dann haben wir wirklich ein Jahrhundertwerk vollbracht.Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heuer das Wort.
Ich bitte, mir zu gestatten, mit zwei Bemerkungen auf die Ausführungen von Herrn Kleinert zu antworten.Ich möchte erstens sagen: Er hat noch einmal erwähnt, daß ich aus den bekannten Gründen, nämlich meiner Herkunft aus der DDR, kein Recht hätte, hier zu reden.
Metadaten/Kopzeile:
19132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Uwe-Jens HeuerIch hoffe, daß er das in der nächsten Wahlperiode unterläßt.Zum zweiten möchte ich sagen: Ich bin Herrn Kleinert in gewisser Weise dankbar, daß er das Konkursrecht auf die DDR anwenden will, weil das den Bürgern Ostdeutschlands ihre Lage klarmacht. Es macht deutlich, was von ihnen an Unterhaltsverzicht und Wohlverhaltensforderungen für die nächsten sieben Jahre erwartet wird. Ich hoffe, sie werden Ihnen bei den Wahlen die entsprechende Quittung erteilen.
Ich danke schön.
Wollen Sie antworten, Herr Kleinert?
Nein.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einer Insolvenzordnung, Drucksache 12/2443 und Drucksache 12/7302. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
1 der SPD auf Drucksache 12/7329 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag der SPD ist mit Mehrheit abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.
Ich komme jetzt zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung, Drucksachen 12/3803 und 12/7303. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7330 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes und der Bundeshaushaltsordnung
— Drucksache 12/6720 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 12/7292 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Wieczorek Adolf Roth (Gießen)
Dr. Wolfgang Weng
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Als erster spricht der Kollege Dietrich Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommentatoren auch größerer Zeitungen gefallen sich zur Zeit, ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl, mit der Bemerkung, die beiden größten Parteien im Bundestag würden immer ähnlicher, die SPD sei gewissermaßen eine CDU mit rotem Schal. Wenn man die Abstimmung zum Insolvenzrecht gesehen hat, möchte man diesen Eindruck bestätigen.In der Tat nähert sich die SPD mit der Verzögerung von zwei Jahren in vielen Bereichen allmählich den CDU-Vorstellungen an. Was monatelang blockiert wurde, wird auf Druck der Bürger dann schließlich abgekupfert.
Angesichts vieler politischer Positionen muß man allerdings eher davon reden, daß es ein paar schwarze Federn an der roten Ballonmütze gibt. Auch wenn wir vor jeder Entscheidung zwei Jahre Zeit hätten zu warten, bis die SPD-Nachhut eingetroffen ist, gäbe es gleichwohl immer noch eklatante Unterschiede: auf der einen Seite politische Alternative, auf der anderen Seite ideologische Vergangenheitsbewältigung. Wir stehen für Aufschwung, die SPD sitzt im Bremserhäuschen.Bestes Beispiel dafür ist der Privatisierungskurs in der Opposition. Wir, die Koalitionsfraktionen, wollen durch die vorliegenden Gesetzesänderungen zur Bundeshaushaltsordnung und zum Haushaltsgrundsätzegesetz die Initiative zur Privatisierung öffentli-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19133
Dietrich Austermanncher Unternehmen und Aufgaben deutlich bestärken.
Wir meinen: Privatisierung bietet die Möglichkeit, Aufgaben, die von der öffentlichen Hand wahrgenommen werden, von privaten Unternehmen und freien Berufen rascher und wirtschaftlicher erfüllen zu lassen.Die SPD hält Privatisierung für Teufelszeug. Ihre gewerkschaftlichen Mitstreiter von der ÖTV fürchten den Abschied vom Sozialstaat, so Frau Wulf -Mathies, eine Erosion des öffentlichen Sektors und den Verzicht auf eminent wichtige Vorleistungs- und Unterstützungsfaktoren. — Jeder, der einmal eine Baugenehmigung beantragt hat, lasse sich auf der Zunge zergehen, was aus dem Grundsatz der Baufreiheit geworden ist.Die Herrin der staatlichen Müllmänner erklärt, daß durch Privatisierung öffentlicher Einrichtungen der Staat sich seiner gesellschaftlichen Steuerungsmöglichkeiten beraube. — Eher geht es hier wohl um gewerkschaftliche Kampfinstrumente.Immerhin gesteht die ÖTV zu, daß auch im öffentlichen Dienst Strukturveränderungen nötig sind. Sie schlägt gleichzeitig vor, die hergebrachten Grundsätze des Beamtentums zu überwinden. Dem wollen wir allerdings nicht zustimmen. Uns geht es nicht darum, den Staat abzuschaffen oder die Parlamente aufzulösen. Uns geht es darum, den Staat auf seine eigentlichen Kernaufgaben zu beschränken und private Initiative dort zu ermöglichen, wo sie mindestens genausogut oder besser Daseinsvorsorge im Interesse der Allgemeinheit bewältigen kann. Wir haben zuviel Staat und nicht zuwenig Staat.
Es gibt keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die öffentliche Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen — ausgenommen hoheitliche Aufgaben —, wenn Private dies ebensogut oder sogar — wie in vielen Beispielen inzwischen sichtbar — besser machen können.Der Bund ist bei der Privatisierung in der Vergangenheit mit gutem Beispiel vorangegangen und erfolgreich gewesen. Der Bericht der Bundesregierung zur Verringerung von Beteiligungen und Liegenschaften des Bundes macht folgendes deutlich: In der laufenden Legislaturperiode, also seit 1990, wurden bislang sieben Beteiligungen vollständig, zwei weitere teilweise abgegeben. Privatisierungserlös: 1,7 Milliarden DM.Seit 1982, seit dem Regierungswechsel zu dieser von Helmut Kohl geführten Bundesregierung, sind die Beteiligungen des Bundes von knapp 1 000 auf 400 zurückgeführt worden. Privatisierungserlös: 11,6 Milliarden DM.Mit den bisher größten Reformvorhaben — Bundespost und Bundesbahn — gibt es wegweisende Auf gaben, die über die Legislaturperiode hinaus wirken. Wir setzen diese Aktionen fort. Die Treuhandanstalt wird mit anerkannten Privatisierungserfolgen — über13 500 Privatisierungen — 1994 wohl ihre operative Arbeit beenden. Eine Verringerung bestehender Beteiligungen zum Teil noch in dieser Periode ist nach dem Stand der Vorbereitung bei weiteren 15 großen Unternehmen von der Lufthansa über die Staatsbank der DDR bis zu Wohnungsbaubeteiligungen möglich. Auch aus diesen Privatisierungen wird es alleine bei der Staatsbank etwa fünf Milliarden DM als Erlös für den Haushalt des Bundes im nächsten Jahr geben.Diese Politik wird übrigens von allen, die etwas von Wirtschaft verstehen, unterstützt und begrüßt: Sachverständigenrat, Monopolkommission und Bundesbank.Die Bundesbank sagt dazu in ihrem letzten Monatsbericht: Besonders wird es darauf ankommen, die Verwaltung zu rationalisieren und mehr Aufgaben auf Private zu übertragen, sofern hiermit Kostensenkungen erzielbar sind.
— Ich finde auch.Die finanzielle Größenordnung künftiger Privatisierungen auf Bundesebene liegt angesichts des Fortschritts, den wir inzwischen erreicht haben, eher in einstelliger Milliardenhöhe, bezieht man die Sondervermögen ein, vielleicht in zweistelliger Milliardenhöhe.Höhere Privatisierungserfolge — und das ist das Ziel unserer Gesetzesveränderungen — sind bei Ländern und Gemeinden zu erzielen. Sie haben das größte Privatisierungspotential. Wir wollen, daß dort mehr privatisiert wird. Dabei nehme ich das Thema der Sparkassen auf, das ja für manch einen der Knackpunkt in diesem Bereich geworden ist. Es ist die Entscheidung der Kommunen, ob sie das wollen oder nicht.
— Ja, die Landesbanken, die zum Teil, wie in Schleswig-Holstein, zumindest teilweise privatisiert worden sind. Diese Entscheidungen können und sollen Länder und Gemeinden in eigener Regelung treffen.Wir wollen die öffentliche Hand von eigener Wirtschaftstätigkeit auf allen Ebenen — vom Bund über die Länder bis zu den Gemeinden — entlasten. Diesem Ziel dienen die vorgelegten zwei Gesetzentwürfe.Die Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes zieht Konsequenzen aus der schon jetzt bestehenden Verpflichtung der öffentlichen Hand, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit als oberstes Prinzip anzuerkennen und Nutzen-Kosten-Untersuchungen wirtschaftlicher Betätigung zugrunde zu legen. Manchmal hat man den Eindruck, dieses Gesetz gilt nicht. Wir wollen, daß es durch die jetzt vorgesehenen Veränderungen bestärkt und bestätigt wird.Da ist es nur logisch, daß wir jetzt alle Ebenen der öffentlichen Hand, alle Ebenen des Staates zur Prüfung verpflichten, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätig-
Metadaten/Kopzeile:
19134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dietrich Austermannkeiten durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können.Darüber hinaus soll die Verpflichtung festgelegt werden, in geeigneten Fällen privaten Anbietern die Möglichkeit zu geben, darzulegen, ob und inwieweit sie staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten nicht ebenso gut erbringen. Sie haben als privates Unternehmen gewissermaßen die Möglichkeit zu sagen: Lieber Bürgermeister, lieber Ministerpräsident oder liebe Ministerpräsidentin, wir sind bereit und in der Lage, für diesen Sektor öffentlicher wirtschaftlicher Tätigkeit ein kostengünstigeres Angebot zu machen. — Dieses Angebot muß dann von der öffentlichen Hand geprüft werden. Außerdem soll den privaten Anbietern auch auf Bundesebene in einem sogenannten Interessenbekundungsverfahren das gleiche Recht eingeräumt werden.Wir meinen, das beste und zugleich kostengünstigste Mittelstandsprogramm ist eine zügige Privatisierung in West und Ost.
Dieses Stichwort fehlt wie das der „Deregulierung" übrigens im sogenannten Regierungsprogramm der SPD, das bald abgeheftet werden wird, weil es niemand braucht.Privatisierung ist der erfolgversprechende Versuch, wirtschaftliche Tätigkeiten von den Grundsätzen „Das war schon immer so" und „Wo kämen wir da hin" zu befreien. Entbürokratisierung ist Teil unseres Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung, dessen erste Erfolge, wie die Schlagzeilen in der Presse jeden Tag zeigen, sichtbar sind. Es ist jetzt nicht die Zeit, immer neue Steuern für immer mehr Staatsausgaben zu erfinden: Energiesteuer, Vermögensteuer, Erbschaftsteuer, Arbeitsmarktabgabe, Ergänzungsabgabe und wie dergleichen Strangulierungspläne der SPD für die Wirtschaft lauten. Diese Pläne sind nach Meinung renommierter Wissenschaftler vor allem dazu geeignet, die Investitionslust zu mindern.Wir wollen neben einer leistungsfähigen Verwaltung mit tüchtigen flexiblen Mitarbeitern mehr frischen Wind für private Initiative. Im internationalen Standortwettbewerb hat dabei die Entlastung des Staates von eigener Wirtschaftstätigkeit große Bedeutung. Der erste Schritt unserer Bemühungen war das Beschäftigungsförderungsgesetz 1994; er ist getan. Wer heute noch gegen Privatisierung anrennt, verkennt, daß seit vielen Jahren große Erfolge erzielt worden sind, und dies nicht nur auf Bundesebene. Manchmal hat man den Eindruck, viele Kollegen auf der linken Seite wollen nicht erkennen, daß es inzwischen private Schulen, private Kindergärten, private Krankenhäuser, private Gebäudereinigung und dergleichen mehr gibt. Entbürokratisierung, Effizienzsteigerung, Entlastung der öffentlichen Haushalte und Reduzierung des öffentlichen Korridors haben marktwirtschaftliche Wege ermöglicht und neue mittelständische Existenzen geschaffen. Private Gewinne und damit neue Investitionen werden ermöglicht. Wettbewerb schafft darüber hinaus eine breitere Palette des Angebots.Warum soll es in der heutigen Zeit eigentlich falsch sein, wenn wir die Landesregierung in Schleswig-Holstein auffordern, die Planung einer wichtigen neuen Bundesautobahn, der Ost-West-Autobahn, eine notwendige Lebensader für das nördlichste Bundesland, durch private Planungsbüros vorbereiten zu lassen, wenn die staatliche Kapazität aus falsch verstandener Politik zurückgefahren wurde? Wir sind inzwischen davon überzeugt, daß der Wiederaufbau in den 50er Jahren in der alten Bundesrepublik mit den heute gültigen Gesetzen nicht möglich gewesen wäre. Die gleiche Gesetzesfülle 1950, und wir hätten das Wirtschaftswunder sicherlich nie erlebt. Es wäre erst recht nicht möglich gewesen, wenn die staatliche Regelungspraxis den heutigen Aufgabenkatalog umfaßt hätte.Meine Damen und Herren, im kommunalen Bereich bietet sich ein breites Spektrum für Privatisierung an, z. B. bei öffentlichen Planungen für Leistungen, beim öffentlichen Personennahverkehr, bei Wasser und Abwasser, Elektrizitäts-, Gas- und Abfallwirtschaft; sie sind in vielen Kommunen übrigens bereits privatisiert. Wir wollen die Prüfung, ob das richtig ist, zu einer Pflichtaufgabe machen. Auch der umfangreiche Beteiligungsbesitz von Ländern und Gemeinden bietet Privatisierungsmöglichkeiten.Das von der ÖTV kritisierte Interessenbekundungsverfahren, in dem die Wirtschaft ihre Vorstellungen und Pläne vorlegen kann, räumt privaten Anbietern die Möglichkeit ein, Konzepte vorzulegen, wie sie es selber besser oder mindestens genauso gut wie die Verwaltung machen können.Lassen Sie mich mit einem Zitat unterstreichen, welche Politik wir wollen:Angesichts der angespannten Haushaltssituation der Kommunen, insbesondere in den neuen Bundesländern, sind Überlegungen verständlich, Aufgaben, deren Vollzug für die kommunalen Haushalte defizitmehrend wirken, Privaten zur Erledigung zu übertragen. Die Rückgabe von Dienstleistungen der Gemeinden in die Verantwortung der Bürger ist die Konsequenz des für die Gemeinden gleichermaßen geltenden Subsidiaritätsgedankens. Die Zuweisung von mehr Eigenverantwortlichkeit des Bürgers fordert Initiative und Kostenbewußtsein.Dies ist ein Zitat aus einem Programmpapier der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik, unterschrieben von einem gewissen Klaus Wedemeier, der in dem Vorwort fordert:Schließlich geht es sicherlich auch um einen nicht unerheblichen allgemeinen Wertewandel, der auch in der Kommunalpolitik stattfinden muß.Der Mann hat hier ausnahmsweise recht.
Er bestätigt damit einen Grundsatz, der übrigens seitJahrzehnten in der Gemeindeordnung des LandesSchleswig-Holstein verankert ist. Dort heißt es in § 2,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19135
Dietrich Austermanndaß „Gemeinden zu öffentlichen Aufgaben, zu denen sie nicht gesetzlich verpflichtet sind, nicht selbst erfüllen sollen, wenn sie ebensogut auf andere Weise durch Private erfüllt werden können" .Wir fordern alle Kolleginnen und Kollegen auf, den Vorschlägen der Koalition zu folgen, damit die positiven Nachrichten über die wirtschaftliche Entwicklung, die jeden Tag in der Zeitung stehen, immer zahlreicher werden.
Wer privatem Wirtschaften freien Raum gibt, entlastet den Staat, schafft private Arbeitsplätze und gibt den Menschen in unserem Land Hoffnung. Stimmen Sie dem Aufschwung zu. Stimmen Sie gegen die Vorschläge der SPD!Herzlichen Dank.
Herr Kollege Prof. Dr. Nils Diederich, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In unserer Zeit haben arbeitsplatzschaffende Investitionen und Belebung der Wirtschaft oberste Priorität. Soweit dabei unternehmerisches Handeln gefragt ist, sind wir alle gesellschaftspolitisch verpflichtet, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen — Bund, Länder und Gemeinden.
Wir Sozialdemokraten wollen einen modernen Staat, der sich als Dienstleistungseinrichtung für die Bürger begreift. Länder und Gemeinden sowie die übrigen öffentlichen Körperschaften haben die Verpflichtung, Überregulierung, überflüssige Zentralisierung und Bürokratismus abzubauen und sich auf die Kernaufgaben zu konzentrieren.
Sie haben das in ähnlicher Form formuliert, Kollege Austermann.
Ich denke aber, es gibt einen kleinen Unterschied:
Wir sind der Auffassung, daß öffentliche Dienstleistungen effizient, kostengünstig, aber auch unter Berücksichtigung sozialer Auswirkungen erbracht werden sollten. Ich füge hinzu: Dies hat für uns Vorrang vor der Frage, wer diese Dienstleistung erbringt. Also noch einmal: Effizient und kostengünstig — das kann in vielen Fällen für Privatisierung sprechen —, aber auch unter Berücksichtigung sozialer Auswirkungen. Hier wird man abwägen müssen.
Die Koalition meint nun, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Aufgaben müsse deutlich verstärkt werden, da sich hierdurch, wie es bei Ihnen heißt, die Möglichkeit bietet, derartige Aufgaben effektiver und effizienter von privaten Unternehmen erfüllen zu lassen. Bei Ihnen wird die Privatisierung, die eine Möglichkeit ist, zu einem dogmatischen Lehrsatz.
Wir meinen hingegen, daß die Antwort auf die Frage, wer gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen erbringt, eine Aufgabe sorgfältiger — auch regelmäßiger — Prüfung ist. Ob Aufgaben dem Wettbewerb überlassen werden, im staatlichen Auftrag von Unternehmen der Wirtschaft erfüllt werden, ob neue gesellschaftliche Initiativen und Gruppen bzw. andere Formen der Leistungserbringung gefunden werden oder ob sich der Staat die Leistungserbringung selber vorbehält — wie bisher die Kommune, das Land —, das ist eben eine Frage, die im Einzelfall entschieden werden muß.
Sie enthüllen in Ihrer Begründung, was gemeint ist — Sie haben das ja auch sehr deutlich gesagt —: Sie wollen die Infrastruktureinrichtungen der Länder und Gemeinden im Personennahverkehr, öffentliche Planungsleistungen, die Versorgung mit Wasser, Elektrizität und Gas sowie die Entsorgung von Abwasser und Abfall dem privaten Profit ausliefern. Das ist Ihr oberstes gedankliches Prinzip.
Dabei handelt es sich genau um jene Bereiche, lieber Herr Kollege Thiele, die insbesondere den Kommunen zum Teil beträchtliche Erträge bringen, die sie zur Erfüllung anderer gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Aufgaben, die immer defizitär bleiben werden, einbringen können.
Denken Sie nur daran, daß viele Kommunen versuchen, die Kosten für den öffentlichen Personennahverkehr durch Einnahmen aus anderen Bereichen wirtschaftlicher Betätigung zu erbringen. Das ist durchaus legitim und hat gute Tradition in Deutschland.
Sie wollen auch an die großen überregionalen Industrieunternehmen mit staatlicher Beteiligung herangehen, an Stromversorgungsunternehmen, Banken und Versicherungsunternehmen. Das hat den Deutschen Sparkassen- und Giroverband bereits aufgeschreckt.
Herr Kollege Diederich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?
Aber gerne, wenn sie mir wie üblich nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Selbstverständlich nicht.
Herr Kollege Diederich, ich möchte Sie fragen, ob Sie es für richtig halten — das Beispiel hatten Sie ja gerade erwähnt —, daß in den Stadtwerken gleichzeitig der öffentliche Personennahverkehr und die Gasversorgung angesiedelt sind. Zum Beispiel in Osnabrück macht der öffentliche Personennahverkehr einen Verlust von etwa 15 Mil-
Metadaten/Kopzeile:
19136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Carl-Ludwig Thielelionen DM und der Gasbereich etwa ein Plus von 15 Millionen DM. Das wird dann alles auf einen Haufen geschüttet. Dadurch wird indirekt der öffentliche Personennahverkehr gefördert, ohne daß das überhaupt jemand sieht. Wäre es nicht sinnvoll, daß der Bürger zumindest sieht, welche Kosten auf der einen Seite verursacht werden und von woher auf der anderen Seite der Staat die Deckung für den öffentlichen Personennahverkehr bezieht, nämlich bei den Gaspreisen, die deshalb vermutlich zu hoch sind?
Sie sagen, das ist so, und das muß alles gleich bleiben. Aber dazu kann ich nur erwidern: Ein bißchen mehr Klarheit müßte doch auch im Interesse der Sozialdemokratie sein.
Lieber Kollege Thiele, ich habe darauf hingewiesen, daß das im Einzelfall durchaus geprüft werden muß. Die Stadt Berlin beispielsweise hat jetzt bei den Gaswerken etwas, was man eine Public Private Partnership nennen kann. Sie überlegt das auch für den öffentlichen Personennahverkehr.
In anderen Städten mag die Lage anders sein. Was wir wollen, ist, daß es den einzelnen Vertretungskörperschaften jeweils überlassen wird, zu prüfen, was zu tun ist.
Lassen Sie mich zum Thema zurückkehren. Sie haben den Deutschen Sparkassen- und Giroverband bereits aufgeschreckt. Der Sparkassen- und Giroverband ist ja auch nicht gegen Privatisierung. Er weist aber gleichzeitig darauf hin, daß es im Bankensystem eine durchaus bewährte Aufteilung zwischen Privaten, Öffentlichen und Genossenschaftlichen gibt. Es heißt weiter:
Es ist nicht zu erkennen, wie durch eine Privatisierung der Sparkassen Effizienzgewinne entstehen sollen. Vielmehr führt eine Privatisierung der Sparkassenorganisationen mittelfristig zu ihrem Zerfall als eigenständiger Kreditinstitutgruppe, zu einer Auflösung des bewährten dreigliedrigen Systems in der Kreditwirtschaft und damit zu einem Verlust auf dem Finanzdienstleistungsmarkt.
Später heißt es dann:
Es ist gerade auch aus ökonomischen Gesichtspunkten unverständlich, daß nunmehr über eine Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes und der Bundeshaushaltsordnung die Privatisierung der Sparkassen angestoßen werden soll.
Lieber Kollege Austermann, Sie haben im Bericht des Haushaltsausschusses — den kann jeder nachlesen — etwas kleinlaut zurückgesteckt. Sie haben in einem Nebensatz gesagt, die Sparkassen seien mit der Gesetzesformulierung nicht gemeint. Aber für die Praktizierung des Gesetzes, in dem Sie imperativ zur Privatisierung auffordern, hat diese Einschränkung nur appellativen Charakter. Ich möchte gerne wissen
— Herr Thiele wird dazu vielleicht etwas sagen —, was die Koalition denn nun eigentlich will.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzesvorschlag soll sowohl das Haushaltsgrundsätzegesetz als auch die Bundeshaushaltsordnung ändern. Ein Blick in das Haushaltsgrundsätzegesetz zeigt aber: Bereits jetzt ist der Grundsatz der Sparksamkeit und der Wirtschaftlichkeit im Haushaltsrecht fest verankert. Ferner besteht die Auflage, für geeignete Maßnahmen von erheblicher finanzieller Bedeutung Kosten-Nutzen-Untersuchungen anzustellen. Das ist übrigens seit 1969 so, damals von der Großen Koalition beschlossen.
Herr Kollege Diederich, der Kollege Austermann würde Sie gern etwas fragen.
Aber sehr gern.
Herr Kollege Diederich, können Sie bestätigen, daß im Haushaltsausschuß des Bundestages durch den Staatssekretär Klarheit insoweit geschaffen wurde, als er auf Fragen von Ihrer Seite ausdrücklich gesagt hat, daß die Sparkassen in dieser Gesetzesveränderung nicht angesprochen werden,
daß der Bund nicht beabsichtigt, die Autonomie der Länder und Kommunen in dieser Weise zu beeinträchtigen, sondern daß er sie respektiert? Ist es nicht in der Tat so, daß Sie hier den Eindruck erwecken, durch diese Gesetzesregelung werde ein neuer Rechtszustand geschaffen, der gar nicht vorgesehen ist?
Lieber Kollege Austermann, dann hätte man es bei den bestehenden Formulierungen belassen können und belassen sollen. Ich führe ja gerade aus, daß im Haushaltsgrundsätzegesetz in klassischer Kürze festgehalten ist, was für rationale Entscheidungen bei den Vertretungskörperschaften, also Kommunalparlamenten oder Landesparlamenten, notwendig ist. Es steht Gesetzgebern oder Vertretungskörperschaften frei, auf der Grundlage von rationalen Prüfungen zu entscheiden, wie politischer Wille umgesetzt werden soll. Wir sind uns einig, daß die Privatisierung ein Weg ist, um wirtschaftlicher und sparsamer zu verfahren, aber eben nicht der einzige.Jetzt komme ich zu den Sparkassen. Das Land Berlin hat sich z. B. für einen anderen Weg entschieden. Dort wurde die Sparkasse in eine Bankenholding eingebracht, die schrittweise teilprivatisiert werden soll. Der Unterschied zur Koalition ist, lieber Kollege Austermann, daß wir das als Entscheidung unter Alternativen nach rationaler Prüfung durchführen wollen, während Sie mit einer dogmatischen Vorschrift im Gesetz die Privatisierung de facto als zwangsläufige Folge eines verpflichtenden Prüfungsauftrags festschreiben wollen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19137
Dr. Nils Diederich
An diesem Punkt können wir Ihnen nicht folgen,
zumal Sie seit über zehn Jahren regieren. Sie haben darauf hingewiesen, daß allerlei Bemühungen unternommen werden. Daß Sie das jetzt in der Bundeshaushaltsordnung festschreiben wollen, zeigt nur, wie unsicher Sie in dieser ganzen Frage sind.
Herr Kollege, der Kollege Austermann möchte noch eine Frage stellen.
Aber gern.
Ich möchte noch einmal nachfragen, Herr Kollege: Können Sie erstens bestätigen, daß das Berliner Abgeordnetenhaus die Entscheidung, die Sie eben erwähnt haben, getroffen hat, bevor dieses Gesetz galt, daß das also vorher schon möglich war, und zweitens, daß die Entscheidung darüber, ob privatisiert werden soll, nach wie vor z. B. beim Berliner Abgeordnetenhaus bleibt?
Was Sie feststellen, ist beides richtig. Nur, Sie wollen eben mit der Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes politischen Druck ausüben. Da staune ich insbesondere über die Liberalen; denn die Bezeichnung „liberal" in Deutschland ist in der Geschichte des 19. Jahrhunderts gerade mit der Erringung der Selbstverwaltungsfähigkeit der Gemeinden verbunden.
Wenn also die Liberalen in unserer Geschichte jemals einen Sinn gehabt haben, dann war das ihre Rolle im 19. Jahrhundert,
den autoritären Obrigkeitsstaat zugunsten der bürgerschaftlichen Autonomie aufzubrechen.Aber was Sie jetzt machen, ist im Grunde genommen ein Abrücken vom kooperativen Föderalismus. Sie wollen Ideologien auf Kosten der Länder und der Kommunen durchsetzen.
Genau dies lehnen wir ab. Wir lehnen es ab, ideologische Formeln in ein Verfahrensgesetz wie das Haushaltsgrundsätzegesetz hineinzuschreiben. Wir betonen ausdrücklich — das möchte ich hier noch einmal unterstreichen — die Eigenstaatlichkeit und damit auch die politische Eigenverantwortung und die politische Gestaltungsaufgabe der Länder und Gemeinden.Da ist einiges passiert. Ich habe in der ersten Lesung den Offenbacher Oberbürgermeister Grandke, Sozialdemokrat übrigens, zitiert, der gezeigt hat, wasman tun kann, um die Kommune aus finanzieller Enge herauszuholen.
Der Kollege Türk hat in der ersten Lesung darauf aufmerksam gemacht, daß das Land Brandenburg nach dem Grundsatz verfährt: Prüfung, ob Privatisierung möglich ist. Das ist in den neuen Ländern übrigens sehr viel stärker der Fall als in den alten Ländern, weil man hier die Chance für einen Neubeginn hat.
Es ist schon viel geschehen — auch in Berlin, wie gesagt —, ohne daß es diese Gesetzesänderung gegeben hat.
Ich denke, es ist überflüssig, den Ländern dies zu oktroyieren. Es gibt übrigens Leitlinien des Deutschen Städtetags zur Privatisierung, die in Form und Inhalt von Sachkompetenz und Verantwortungsbewußtsein getragen sind.Nach unserer Auffassung führt diese Gesetzesänderung, die in einen Prozeß eingreift, der unter dem Druck der Ökonomie sowieso passiert, zu einer Überregulierung und zu politischer Entmündigung. Die Pflicht zur Suche nach ausschließlich privatwirtschaftlichen Lösungen wird von Ihnen zum Selbstzweck gemacht. Dem folgen wir nicht.
— Doch.Mit der Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes sollen nämlich — das versuchen Sie ja — eine verbindliche Prüfungspflicht und das sogenannte Interessenbekundungsverfahren eingeführt werden. Sie haben sich mit der Definition dieser Interessenbekundung sehr schwer getan.Sie haben übrigens bei der Gesetzgebung einen Rekord gebrochen; das ist Ihnen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Im Dezember haben wir darüber diskutiert. Am Anfang des Jahres ist Ihre Gesetzesänderung für die Bundeshaushaltsordnung, in der das alles schon steht, in Kraft getreten. In diesem Gesetz — das kann jeder nachlesen — haben wir nun schon die erste Änderung. Das Gesetz ist, glaube ich, am 3. Februar eingebracht worden. 33 Tage also haben Sie gebraucht, um ein Gesetz, das Sie selber formuliert haben, schon wieder zu ändern.
Ich muß sagen, auch das ist ein Rekord. Hektik, Schlamperei, Aktionismus, aber sachlich wenig dahinter.Wie gesagt, Sie wollen eine verbindliche Prüfungspflicht und das Interessenbekundungsverfahren einführen. Sie haben sich mit der Definition sehr schwer getan. Aber im Grunde genommen tragen Sie Eulen
Metadaten/Kopzeile:
19138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Nils Diederich
nach Athen. Die Anwendung der Haushaltsgrundsätze, also auch Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit — ich beziehe mich da auf Ihren Zwischenruf, Herr Kollege Weng —, ist ständige Aufgabe jeder Verwaltung. Eine Verwaltung, die dies nicht tut, kommt ihren Pflichten nicht nach.
Da gibt es Prüfungsorganisationen, die Rechnungsprüfung, die das zu tun hat, und die parlamentarischen Körperschaften, in deren Verantwortung das liegt. Dann müssen wir diese eben einmal auf Trab bringen. Wir können das nicht von oben oktroyieren, wie Sie das wollen.Ich denke auch, daß eine Prüfung, die sozusagen routinemäßig von Amts wegen, etwa bei jeder Haushaltsaufstellung oder wann auch immer, zu folgen hat, gewissermaßen eine Überbürokratisierung zur Folge hat, einen neuen Apparat in Gang bringt, der zu nichts führt.Ich denke, daß die für die Kommunal- und Länderpolitik Verantwortlichen immer prüfen müssen — das werden sie in der Regel auch tun; da, wo die F.D.P. noch vertreten ist, Herr Kollege Weng, werden auch die Vertreter der F.D.P. sicherlich daran mitwirken, daß das geschieht —, ob die Aufgabenerfüllung aus politischen, gesellschaftlichen oder anderen Erwägungen heraus nicht doch besser in kommunaler oder staatlicher Hand bleibt. Nicht nur die Privatisierung, sondern auch das Umgekehrte ist wichtig. Bestimmte Bereiche beispielsweise der kulturellen Aktivität oder der sozialen Dienstleistung sind nicht unbedingt besser in privaten Händen aufgehoben, denn die rein profitorientierte Behandlung kann den eigentlichen Zweck auch verfälschen oder verdrängen.Lieber Kollege Thiele, ich sage Ihnen: Viele Kommunen wären überhaupt nicht mehr in der Lage, bestimmte Aufgaben zu erfüllen, wenn sie nicht die zusätzlichen Möglichkeiten hätten, aus eigener wirtschaftlicher Aktivität Einnahmen zu erzielen.Ich bin durchaus für Wettbewerb in diesem Bereich. Dafür, daß man da auch Preise kontrollieren und zu angemessenen Verhältnissen kommen kann, gibt es genügend Erfahrungen. Ich glaube, dazu braucht man nicht von Bundesseite extra einen Druck auszuüben und eine Rechtfertigungsapparatur zu konstruieren. Denn Sie überlassen ja die Entscheidung den Gemeinden; das hat Herr Austermann hier noch einmal nachgeschoben. Da frage ich mich, welches denn nun der Nutzeffekt Ihrer Vorschrift sein soll. Es ist politisch-plakativ und sonst überhaupt nichts. Das gehört nicht ins Gesetz, sondern vielleicht in Ihr Wahlprogramm.Ich halte das, was Sie hier machen wollen, schlicht und einfach für den Ausfluß einer Zwangsneurose. Ihre Planungsideologie ist inzwischen zu einer Privatisierungssucht verkommen, lieber Kollege. Sie wissen, daß ich der Polemik nur in begrenztem Maße fähig bin,
aber es gibt manchmal Punkte, bei denen man so reden muß. Was Sie da tun, ist illiberal und selbstverwaltungsfeindlich. Der Weg, daß man alles privatisiert, was Gewinne bringt, und alles beim Staat behält, was Verluste bringt, führt zu einer armen öffentlichen Hand im Rahmen einer sehr reichen Gesellschaft.
Ich denke, das sollen wir nicht wollen dürfen. Wir müssen darauf achten, daß die Kommunen in der Lage sind, ihre Aufgaben weiter zu erfüllen.Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Das Interessenbekundungsverfahren wird — das sage ich voraus — kostspielig sein. Es wird auch nicht so sein, daß hier letztlich der kleine örtliche Dienstleister eintritt, sondern es wird so sein — das haben wir ja auch jetzt schon —, daß spezialisierte Großeinrichtungen auf Bundesebene, anonyme Apparate, auftauchen. Diese haben ihre Akquisitionsabteilungen. Solche Einrichtungen werden überall in die Kommunen gehen und fragen: Wo können wir bei einer weiteren kommunalen Aufgabe absahnen?Wir haben diesbezüglich zahlreiche Erfahrungen in den neuen Ländern. Den dortigen Kommunen wurde von zugereisten Westdeutschen aufgeschwatzt, derartige Unternehmen einzuschalten. Solche Unternehmen sind letztlich sehr viel teurer. Ich denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Abwasserentsorgung. Die Kommunen stöhnen unter der Last, die sie sich vor zwei oder drei Jahren aus Mangel an Erfahrung aufgeladen haben. Es ist also wirklich zwiespältig!
Ich stelle zusammenfassend fest: Erstens. Die Gesetzesänderung ist überflüssig. Was die Koalition fordert, ist von der Sache her im Rahmen des bestehenden Haushaltsgrundsätzegesetzes machbar und möglich. Das ist dort sogar schon angelegt. Es bedarf dazu nur des Willens der jeweils örtlich verantwortlichen Politiker.Zweitens. Wir sehen in dem Antrag den Versuch, mit organisatorischen Mitteln einen politischen Willen durchzusetzen. Dort, wo Sie auf Grund des Wählerwillens nicht die Mehrheit haben, wollen Sie es auf administrativem Wege durchsetzen. Eine Privatisierung soll nicht mehr das Ergebnis einer rationalen Entscheidungsfindung sein, sondern als Ergebnis vorgegeben werden. Wir lehnen es ab, dies als ideologische Formel in das Haushaltsgrundsätzegesetz zu schreiben.Drittens. Im Interesse des kooperativen Föderalismus sind wir Sozialdemokraten nicht mehr bereit, den Ländern, die eine eigene Verfassung haben, und den Gemeinden, die nach unser aller Willen weitgehende Selbstverwaltungsrechte besitzen, die Tendenz politisch zu fassender Beschlüsse verbindlich vorzuschreiben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19139
Dr. Nils Diederich
Kurz: Wir Sozialdemokraten lehnen die Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes in der vorliegenden Fassung ab.
Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Kollege Diederich, wir wollen nicht nur über Wirtschaftlichkeit reden, wir wollen einfach mehr Wirtschaftlichkeit. Das ist der Punkt, warum wir hier gesetzgeberisch tätig geworden sind.
Die F.D.P. ist die Partei, die sich für Freiheit und Menschenwürde einsetzt, und der Einsatz für Menschenwürde bedeutet, insbesondere denjenigen, die einen Arbeitsplatz suchen, die Chance zu geben, über ein Mehr an Arbeitsplätzen auch einen Arbeitsplatz erhalten zu können.
Und hierzu besteht der Weg nicht darin, über staatlich finanzierte Konjunkturprogramme beschäftigungspolitische Strohfeuer zu entfachen, die nichts bringen, sondern die Neuverschuldung nur weiter in die Höhe treiben würden. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, der richtige Weg besteht darin, den Staatsanteil zurückzufahren und für mehr Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Hand zu sorgen.
Dies ist die Politik der F.D.P., und ich freue mich, daß wir heute die Veränderung des § 6 des Haushaltsgrundsätzegesetzes und des § 7 der Bundeshaushaltsordnung verabschieden.
Die Politik der Deregulierung und Privatisierung dieser Koalition schafft Freiräume für mehr wirtschaftliche Dynamik und private Initiative. Es ist eben richtig, daß jetzt durch die Novellierung des Haushaltsgrundsätzegesetzes sowie der Bundeshaushaltsordnung ein verpflichtender Prüfungsauftrag festgeschrieben wird. Dem § 6 Haushaltsgrundsätzegesetz wird im Absatz 1 folgender Satz angefügt:
Diese Aufgaben verpflichten zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwekken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können.
Und im Absatz 2 wird das Interessenbekundungsverfahren angefügt. Das bedeutet doch, daß wir nicht sagen, alles muß privat sein, aber es muß geprüft werden, ob es nicht privat besser ist.
Insofern verstehe ich nicht, wie man sich überhaupt gegen ein solches Prüfverfahren wenden kann, mit einer Begründung, die ohnehin nicht nachvollziehbar ist und auf die ich gleich noch zu sprechen komme.
Meine Damen und Herren von der Opposition, diese Grundsätze sind so klar, selbstverständlich und vernünftig, daß ich überhaupt nicht verstehe, weshalb sie von Ihnen abgelehnt werden.
Ihr Kanzlerkandidat setzt sich im Entwurf des SPD- Wahlprogramms dafür ein, daß — und ich zitiere —
die Steuer- und Abgabenquote nicht weiter erhöht werden darf,
der Ausgabenanstieg auf eine Zuwachsrate begrenzt werden soll, die spürbar unter dem Zuwachs des nominalen Bruttosozialproduktes liegt,
die Sicherung bestehender und die Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze zur Hauptaufgabe der Politik gemacht wird .. .
— Herr Diederich, diese Aussagen sind so gut, die könnten sogar von uns sein, und ich bin glücklich, daß Sie die von uns übernommen haben.
Ihr Parteivorsitzender, Herr Scharping, predigt richtigerweise Wasser, und was schütten Sie ihm in das Wasser rein? — Essig, Essig ist das.
Ich frage mich: Warum tun Sie das Ihrem Kanzlerkandidaten überhaupt an? Warum unterstützen Sie ihn nicht beim konkreten Handeln mit solchen vernünftigen Forderungen? Warum haben Sie immer noch nicht gelernt, daß man Vorschlägen der Regierungskoalition zustimmen kann, wenn diese vernünftig sind? Warum betreiben Sie denn hier eigentlich ein Spiel, in dem Unvernunft regiert und mit dem Sie Ihren eigenen Kanzlerkandidaten diskreditieren?
Herr Kollege Thiele, der Kollege Diederich würde Ihnen gerne eine Frage stellen.
Sofort, ich würde nur gern einen Gedanken hier anschließen. — Denn gerade bei den Haushaltspolitikern der SPD handelt es sich im wesentlichen um — aus meiner Sicht — vernünftige Politiker. Warum dann diese Ablehnung und dieser Eiertanz?
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Thiele, würden Sie wenigstens einräumen, daß Sie hier versuchen, über das Haushaltsgrundsätzegesetz in die Entscheidungsautonomie von Kommunen und Ländern politisch einzuwirken und einzugreifen?
Metadaten/Kopzeile:
19140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Nils Diederich
Und haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, daß ich gesagt habe, dies ist einer der Hauptgründe, warum wir es ablehnen? Wir wollen es der politischen Vernunft der jeweiligen Ebene, die ja ihre eigene Legitimation durch die Wähler hat, überlassen. Würden Sie einräumen, daß Sie hier versuchen, den Föderalismus einzuschränken?
Erst eine kurze Bitte an den Präsidenten. Ich bin erstaunt, wenn während einer Zwischenfrage die Uhr springt. Das ist eigentlich hier in diesem Hause nicht üblich. Ich wäre dankbar, wenn sie angehalten werden könnte.
Herr Kollege Diederich, ich bin schon dafür, daß die Wirtschaftlichkeit, die in unseren Gesetzen ohnehin schon beschrieben ist, auch stärker Einfluß auf das konkrete Handeln der öffentlichen Hand findet. Sie sind im Haushaltsausschuß wie ich. Ich bin zusätzlich im Rechnungsprüfungsausschuß. Wir erleben doch in den Fällen, die uns tagtäglich präsentiert werden — dazu kann ich nur sagen: uns werden ja gar nicht alle Fälle präsentiert; eine Reihe von Fällen bleibt schon vorher hängen, weil sie nicht für mitteilungswürdig erachtet werden und überhaupt nur die dicken Dinge nach oben kommen —, daß der Bürger von unserer öffentlichen Verwaltung sicher nicht den Eindruck hat, das, was dort betrieben wird, sei das Traumziel wirtschaftlichen Handelns. Wenn ich den Eindruck der Bürger, mit denen ich mich unterhalte, dazu zur Kenntnis nehme, stelle ich fest: Sogar innerhalb des öffentlichen Dienstes wird zugegeben, hier müsse mehr geschehen. — Das fordern Sie in Ihren Programmen doch auch.
Wir als F.D.P. werden nicht so stark von Wählern aus dem öffentlichen Dienst getragen wie andere Parteien. Aber zementieren Sie die Situation doch nicht, öffnen Sie sie, überprüfen Sie es! Wir wollen lediglich stärker überprüfen. Mehr wollen wir gar nicht. Wir sagen nicht, die öffentliche Hand müsse abgeschafft werden und morgen müsse alles privat geregelt werden. Das ist überhaupt nicht der Fall. Wir fordern: Es muß im Einzelfall überprüft werden, und dann soll die wirtschaftlichere Alternative genommen werden. Dazu muß teilweise auch einmal die Beweislast umgekehrt werden.
Die ganze Buchführung im öffentlichen Dienst muß einmal umgestellt werden. Es geht doch nicht, die Kameralistik mit der normalen wirtschaftlichen Buchführung zu vergleichen. Da muß mehr Bewegung hinein.
Insofern wäre ich glücklich, wenn Sie diesen Grundsätzen zustimmen könnten.
— Ja, natürlich.
Herr Kollege Diederich, diese Form des Dialogs ist eigentlich nicht vorgesehen.
Das stimmt, Herr Präsident, aber ich habe damit überhaupt keine Probleme, wenn Sie mir diese Zwischenbemerkung gestatten.
Es geht nicht darum, ob Sie damit ein Problem haben, Herr Kollege.
Wir hoffen, daß die Länder und Kommunen durch diesen Denkansatz angeregt werden. Wo finden denn Veränderungen statt? Bevor sie irgendwo praktisch stattfinden, muß sich insbesondere etwas innerhalb der Köpfe verändern. Dazu soll hiermit ein Teil beigetragen werden.
Warum die SPD in dieser Frage, dem Einzug wirtschaftlichen Sachverstandes und genauer Vergleichsrechnungen, aus vordergründigem parteitaktischen Kalkül dem im Wege steht, ist doch überhaupt nicht nachvollziehbar. Welches Argument setzen Sie — ausweislich der Drucksache, die wir hier vorliegen haben — dagegen? Zitat: „Es stehe zu befürchten, daß durch die Einführung des Interessenbekundungsverfahrens ein unverhältnismäßig hoher bürokratischer Aufwand notwendig werde."
Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das heißt: Wenn die Wirtschaftlichkeit überprüft wird, ist alleine die Überprüfung ein unverhältnismäßig hoher bürokratischer Aufwand. Das könnte in der Folge doch nur bedeuten: Bitte überprüft nicht, das würde zuviel Bürokratie schaffen! — Daß das nicht richtig sein kann, Herr Kollege Diederich, ist wohl klar. Ich glaube, da stimmen Sie mir sogar zu.
Deshalb kann ich nur sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD: Als ob dieser unverhältnismäßig hohe bürokratische Aufwand nicht schon jetzt von jedem einzelnen Bürger in unserem Lande fast tagtäglich verspürt wird! Wer glaubt, mit einem solchen Argument alles im öffentlichen Dienst und in der öffentlichen Hand zementieren zu müssen, stellt sich nicht als konservativ, sondern als restaurativ dar.Im Vorwort zu Ihrem noch nicht verabschiedeten Wahlprogramm heißt es: „Deshalb treten wir" , die Sozialdemokraten, „für Reformen ein, um die Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft zu einer großen solidarischen Gemeinschaftsaufgabe zu machen" .
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, tun Sie dieses doch konkret! Unterstützen Sie diese Erneuerung, geben Sie die Denkmalpflege öffentlicher Strukturen endlich auf! Geben Sie sich am Ende dieser Debatte doch am besten einen Ruck, und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19141
Carl-Ludwig Thielestimmen Sie dieser vernünftigen Gesetzesänderung zu!
Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf greift ein Lieblingsprojekt konservativer Haushaltspolitik auf, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Die Verfechter dieser Politik berufen sich in ihrer Argumentation auch auf die Finanznot vieler Kommunen, die den Ausverkauf kommunaler Unternehmen angeblich unausweichlich macht. Zum anderen bedienen sie sich dabei des weit verbreiteten Vorurteils, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sei ein Beitrag zu einer dauerhaften Haushaltskonsolidierung.
Bund, Länder und Gemeinden sollen verpflichtet werden, zu überprüfen, ob öffentliche Aufgaben und Leistungen privatisiert werden können. Die privaten Anbieter sollen darlegen können, ob und inwieweit sie diese öffentlichen Aufgaben nicht ebensogut oder besser erbringen können. Der Bund gibt, wie immer, das Tempo vor, um Länder und Gemeinden einem noch stärkeren Privatisierungsdruck auszusetzen. Die überlasteten öffentlichen Verwaltungen sollen künftig Markterkundung betreiben und Angebote Privater prüfen. Und selbst dann, wenn private Anbieter die Preise öffentlicher Unternehmen nicht unterbieten können, soll privatisiert werden können.
Die Koalition will die von ihr finanziell geknebelten Kommunen bis auf das letzte Hemd ausziehen.
Vor allem die Finanznot der ostdeutschen Städte und Gemeinden wird von der Bundesregierung zum Anlaß genommen, auf breiter Ebene die Privatisierung als Allheilmittel zu verkünden. Die PDS hat in einer Studie, die Ihnen bekannt ist, nachgewiesen, daß Ostdeutschland auch bei der Privatisierung von Kommunalvermögen eine Experimentier- und Vorreiterrolle zugedacht werden soll.
Dabei haben die Erfahrungen in alten Bundesländern doch gezeigt, was sich alles hinter einer solchen Privatisierungspolitik verbirgt. Die angeblichen Kostenvorteile der Privatisierung gingen, sofern sie überhaupt längerfristig erhalten blieben, stets auf Kosten der Lohn-, Versorgungs- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sowie auf Kosten der Qualität der Dienstleistungen. Das Wundermittel Privatisierung besteht aus Arbeitsintensivierung auf Kosten der Beschäftigten sowie untertariflicher Bezahlung. Studien der ÖTV zur Privatisierung haben das schlüssig bewiesen.
Weil die PDS den Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung will, lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Wir halten die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Dienstleistungen für einen falschen und gefährlichen Weg. Wir wollen, daß die Städte und Gemeinden mehr Möglichkeiten erhalten, sich eigenständig zu entwickeln. Wir wollen das im Grundgesetz garantierte Recht der Kommunen auf Selbstverwaltung erhalten und verwirklichen.
Öffentliche Unternehmen sind eine wesentliche Grundlage der Selbstverwaltung und unverzichtbarer Bestandteil einer eigenständigen Haushalts- und Finanzwirtschaft. Dazu gehört, daß kommunales Eigentum z. B. an Entsorgungs- und Versorgungsunternehmen erhalten bleibt, damit die demokratische Einwirkung und Kontrolle gesichert ist.
Fragen der Energiepolitik, der Müllvermeidung, des Grundwasserschutzes oder des Vorrangs für den öffentlichen Nahverkehr bestimmen vor allem die Kommunalpolitik. Private Unternehmen haben jedoch nur ihren eigenen Profit im Auge. Sie greifen nur dann zu — dafür gibt es Hunderte von Beispielen im Osten Deutschlands —, wenn es Filetstückchen zu erhaschen gibt, und kümmern sich nicht um übergreifende kommunal- oder regionalspezifische Interessen.
Eine Privatisierung öffentlicher Unternehmen würde die Kommunen weder finanziell sanieren noch handlungsfähiger machen. Vergleichbares gilt auch für Bund und Länder. Das finanzielle Desaster der Städte und Gemeinden haben nicht die kommunalen Unternehmen herbeigeführt. Dafür ist vor allem das Ausbleiben einer längst überfälligen Kommunalfinanzreform verantwortlich zu machen. Deshalb wird auch keine noch so groß angelegte Privatisierungswelle die desolate Finanzsituation in Ostdeutschland beheben können. Und das ist das Hauptproblem, das dieses Parlament zu lösen hat.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Jürgen Echternach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist ein wichtiger Teil unserer Gesamtstrategie, um die strukturellen Schwächen in unserer Wirtschaft zu überwinden und um ihr zu helfen, sich besser auf die veränderte weltwirtschaftliche Lage einzustellen. Dazu gehören auch die Maßnahmen für mehr Deregulierung und private Initiative.Ein wichtiger Bestandteil dieses Maßnahmenbündels ist der vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes. Er verankert die Pflicht zur Suche nach privatwirtschaftlichen Lösungen bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, vor allem, um die erheblichen Privatisierungspotentiale von Ländern und Kommunen zu aktivieren.Der Bund hat für seinen Bereich die Bundeshaushaltsordnung schon zu Beginn dieses Jahres geändert. Er ist damit für seinen Aufgabenbereich bereits einen Schritt voraus. Im Bundesbereich verpflichten schon jetzt die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten durch Ausgliederung, Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können. Dazu ist in geeigneten Fällen in einem Interessenbe-
Metadaten/Kopzeile:
19142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Parl. Staatssekretär Jürgen Echternachkundungsverfahren festzustellen, inwieweit und unter welchen Bedingungen private Lösungen möglich sind.Damit stellen wir von neuem jegliches staatliches Handeln auf den Prüfstand. Die Bundesverwaltung muß sich ab sofort nicht nur bei jeder neuen Aufgabe, sondern auch bei bestehenden Aufgaben Gedanken darüber machen, ob diese Aufgaben von Privaten wirtschaftlicher erfüllt werden können. Für ihre Entscheidung über die öffentliche oder die private Aufgabenerfüllung hat sie jetzt einen gesetzlichen Maßstab, vor dem sie ihre Entscheidungen rechtfertigen muß.Dabei können wir im gesamtwirtschaftlichen Interesse nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Wir dürfen uns nicht mit einer Regelung nur für den Bundesbereich begnügen. Gerade der Bund ist ja bei der Privatisierung in der Vergangenheit stets mit gutem Beispiel vorangegangen.
Schon seit 1982 hat die Bundesregierung die unternehmerische Tätigkeit des Staates mit dem vollständigen Rückzug des Bundes aus den großen Industriekonzernen VEBA AG, VIAG AG, Volkswagen AG und Salzgitter AG zurückgeführt. In der laufenden Legislaturperiode konnten sieben Beteiligungen, unter anderem die IVG und die Treuarbeit, vollständig privatisiert werden. Damit hat sich die Zahl der unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungen des Bundes und seiner Sondervermögen von 958 im Jahre 1982 auf gegenwärtig unter 400 verringert, also mehr als halbiert. Daneben hat er z. B. die DSL-Bank und die Lufthansa teilprivatisiert. Wir konnten dafür 12 Milliarden DM einnehmen und diesen zusätzlichen finanziellen Spielraum nutzen, um damit andere und wichtigere öffentliche Aufgaben erfüllen zu können. In der nächsten Zukunft zeichnen sich Lösungen, unter anderem für die Rhein-Main-Donau AG, die Neckar AG und die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen, ab. Zentraler Gegenstand unserer Privatisierungspolitik werden außerdem in der Zukunft die Privatisierungen der Deutschen Lufthansa und der Telekom sein.Lassen Sie mich aber auch auf die größte Privatisierungsaktion in der Geschichte unseres Landes, wenn nicht Europas, hinweisen, nämlich die Privatisierung der ehemaligen Staatswirtschaft in den neuen Bundesländern. Die Bundesregierung hat hier über die Treuhandanstalt in den letzten Jahren über 13 500 Staatsbetriebe in wettbewerbsfähige privatwirtschaftliche Strukturen überführt.Damit die Privatisierungsinitiative des Bundes auch in Zukunft ein durchschlagender gesamtwirtschaftlicher Erfolg wird, müssen nun auch die Länder und Kommunen einbezogen werden, müssen auch sie ihre Privatisierungspotentiale ausschöpfen. Die Privatisierung bietet die Chance, Aufgaben, die bisher von der öffentlichen Hand wahrgenommen werden, von privaten Unternehmen rascher und wirtschaftlicher erfüllen zu können.Die beantragte Ergänzung des Gesetzes ist ein Signal an Länder und Kommunen, entschlossener als bisher zu prüfen, ob nicht weitere Aufgaben undLeistungen privatisiert werden können. Bei den Ländern und Gemeinden bietet sich ein breites Spektrum für Privatisierungen an, so z. B. der öffentliche Personennahverkehr, die öffentlichen Planungsleistungen, Wasser und Abwasser sowie die Elektrizitäts-, die Gas- und die Abfallwirtschaft. Länder und Gemeinden sind aufgefordert, über die Privatisierung ihres umfangreichen Beteiligungsbesitzes, z. B. an großen Industrieunternehmen und Stromversorgungsunternehmen, nachzudenken.Sie, Herr Kollege Diederich, haben in diesem Zusammenhang noch einmal das Stichwort Sparkassen angeführt, weil es dort zu Irritationen gekommen ist. Deshalb dazu auch ein klärendes Wort. Die Bundesregierung betrachtet den Sparkassensektor neben den privaten Geschäftsbanken und den Genossenschaftsbanken als einen der drei wichtigen Eckpfeiler im Bankwesen Deutschlands. Ihm kommt gerade unter Wettbewerbsgesichtspunkten eine bedeutende ordnungspolitische Funktion zu. Die Sparkassen spielen traditionell durch ihren regionalen Schwerpunkt eine tragende Rolle für eine ausgewogene regionale Wirtschaftsentwicklung in Deutschland. In Übereinstimmung mit der regionalpolitischen Bedeutung ist Sparkassenrecht Landesrecht. Den Ländern obliegt daher auch die Entscheidung über die Aufrechterhaltung des öffentlich-rechtlichen Sparkassensystems. Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung keine Vorschläge zur Änderung der Rechtsform und Privatisierung der Sparkassen machen.Gesetzestechnisch ist das Haushaltsgrundsätzegesetz das richtige Instrument zur Durchsetzung des Privatisierungsgedankens. Das Haushaltsgrundsätzegesetz enthält gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht von Bund und Ländern. Die Änderung soll jetzt die Länder verpflichten, die Neuregelung in ihre Landeshaushaltsordnungen zu übernehmen. Zur Vermeidung von Auslegungsproblemen haben die Koalitionsfraktionen ihrem Entwurf auch eine Definition des Interessenbekundungsverfahrens beigefügt. Es geht darum, privaten Anbietern überhaupt die Möglichkeit einzuräumen, Konzepte vorzulegen, ob und inwieweit sie öffentliche Aufgaben ebensogut oder besser erbringen können.
Das Interessenbekundungsverfahren zwingt die Verwaltung, den Markt nach wettbewerblichen Grundsätzen zu erkunden. Das Ergebnis dieser Markterkundung ist dann mit den traditionellen staatlichen Lösungsmöglichkeiten zu vergleichen, um eine wirtschaftliche Bewertung der verschiedenen Möglichkeiten zu gewährleisten.Natürlich erliegen wir nicht dem Irrtum, öffentliche Aufgaben seien immer und in jedem Fall durch Private wirtschaftlicher und besser zu erfüllen. Was wir aber wollen, ist, Alternativen ernsthaft zu prüfen, und zu nachvollziehbaren rationalen Entscheidungen zu kommen.
Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf zu unterstützen und an seiner raschen Verabschiedung mitzuwirken. Die erfolgreiche Privatisierungspolitik der Bundesregierung kann ihre wachstums- und beschäfti-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19143
Parl. Staatssekretär Jürgen Echternachgungssichernde Wirkung nur voll entfalten, wenn alle Ebenen des Staates uneingeschränkt mitziehen. Ich bitte daher auch die Bundesländer, im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland mit uns im Bundesrat den gleichen Weg zum gemeinsamen Ziel zu gehen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes und der Bundeshaushaltsordnung auf Drucksache 12/6720. Der Haushaltsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7292, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. — Gegenprobe! — Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen
— Drucksache 12/5354 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)
— Drucksache 12/7334 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Heiner Lehne Dr. Eckhart Pick
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich offenkundig kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Klaus-Heiner Lehne das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter Lesung den Gesetzentwurf über die Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Union vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen. Sie werden sich alle noch daran erinnern können, daß wir vor einigen Monaten im Fernsehen Bilder gesehen haben, wo deutsche Urlauber in Übersee auf den Flughäfen festgesessen haben, weil der Reiseveranstalter, bei dem sie ihre Reise gebucht hatten, in Konkurs gegangen und nicht mehr in der Lage war, die weitere Reise und insbesondere die Rückholung abzuwickeln.Ich glaube, diese Bilder haben uns allen deutlich gemacht, daß es durchaus sinnvoll ist, hier einegesetzliche Regelung zu finden, wie sie auch in der Richtlinie des Rates der Europäischen Union aus 1990 vorgesehen ist.Der Gesetzentwurf ist dann im letzten Jahr durch die Bundesregierung eingebracht worden. Ich möchte sagen, die Beratungen stellten aus meiner Sicht heraus schon so etwas wie eine schwierige Geburt dar. Vieles in dieser Richtlinie der Europäischen Union ist sicherlich so formuliert gewesen, daß die Umsetzung erhebliche Schwierigkeiten verursachte und wir im ständigen Spannungsverhältnis zwischen Notwendigkeiten, die sich einfach aus dem Betrieb eines Reiseunternehmens ergeben, und den Vorschriften dieser Richtlinie gestanden haben. Entsprechend schwierig waren die Beratungen, waren die Gespräche mit den Vertretern der Reisebranche und auch mit den Verbraucherorganisationen.Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der im federführenden Rechtsausschuß einstimmig so verabschiedet worden ist und von dem man, so meine ich, mit Fug und Recht sagen kann, daß die wesentlichen Bedingungen sowohl für eine Verträglichkeit mit der Reisebranche als auch gegenüber der EU-Richtlinie als auch gegenüber den Verbraucherschutzorganisationen erreicht ist. Wir haben, wenn wir diesen Gesetzentwurf hier heute verabschieden, in Zukunft eine Insolvenzabsicherung für deutsche Reisende.
Allerdings war es notwendig, für das Inkrafttreten eine Regelung zu finden, die dazu führt, daß dieses Gesetz erst für Reisen gilt, die nach dem 1. November dieses Jahres angetreten und die nach dem 1. Juli gebucht werden. Anderes war aus organisatorischen Gründen — zum Aufbau der Sicherungssysteme, zum Aufbau der verschiedenen Lösungen, Bankbürgschaften und Versicherungslösung — nicht möglich, so daß wir in der Tat noch immer mit der etwas unglücklichen Situation konfrontiert sind, daß es im Sommer dieses Jahres noch keine Insolvenzabsicherung geben wird. Dies ist ein Übel, das wir aber vor dem Hintergrund der Notwendigkeiten, die sich ergeben haben in Kauf nehmen mußten.Wir haben uns ausführlich Gedanken darüber gemacht, wie die Sicherungssysteme auszugestalten sind. Hier sind insbesondere aus der Branche noch eine Reihe von Vorstellungen geäußert worden, die beiden alternativen Systeme, Bankbürgschaft und Versicherung, zu ergänzen. Es war nach eingehender Prüfung nicht möglich, hier eine weitere Lösung zu finden. Alternativen, wie z. B. die Einführung eines Treuhandkontos, sind nach eingehender Prüfung verworfen worden, weil die Voraussetzungen der EG-Richtlinie hiermit nicht in Übereinstimmung zu bringen gewesen sind.Wir haben auch lange über die Problematik der Informationspflichten diskutiert, weil es hier eine Reihe von Vorschriften in der EU-Richtlinie gegeben hat, die etwas von der Realität entfernt gewesen sind, wenn es z. B. darum ging, aus der EU-Richtlinie abzuleiten, daß schon Monate im voraus konkrete Flugzeiten, beispielsweise bei Charterflügen, angegeben werden müssen, obwohl bekannt ist, daß dies
Metadaten/Kopzeile:
19144 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Klaus-Heiner Lehneüberhaupt nicht möglich ist, weil Flugzeiten durch den Flugplankoordinator teilweise erst in halbjährigem Abstand festgelegt werden und man diese bei Buchung einer Reise schon deshalb gar nicht kennen kann. Hier ist es, glaube ich, dem Ausschuß gelungen, dem Ministerium eine Reihe von Empfehlungen für die Ausgestaltung dieser Verordnung zu geben, um eine möglichst flexible und auch liberale Regelung, die praktikabel ist, zu erreichen.Ich glaube, insgesamt kann man abschließend sagen: Trotz der Komplexität der Problematik, mit der wir es hier zu tim haben, haben wir ein Gesetz auf den Weg gebracht, das wir heute, so hoffe ich, hier einvernehmlich beschließen werden, das den Anforderungen sowohl der europäischen Richtlinie als auch den Bedingungen entspricht, die von Verbraucherschützern und von den Betroffenen der Reisebranche an uns herangetragen worden sind. Ich glaube, wir alle können mit diesem Ergebnis recht gut leben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Dr. Eckhart Pick, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten heute morgen schon das Vergnügen, über Fragen der Insolvenz zu reden. Im Rahmen dieses Tagesordnungspunktes sprechen wir über das Problem der Sicherung von Kunden auf dem Gebiet der Pauschalreise.
Wir haben, glaube ich, in der ersten Lesung das Wesentliche zu den Absichten und den Grundzügen dieser Richtlinie und des vorliegenden Gesetzentwurfs gesagt. Ich möchte heute sagen, daß sich der Bundestag und vor allen Dingen die beratenden Ausschüsse große Mühe gegeben haben, die Pauschalreiserichtlinie vom 13. Juni 1990 beschleunigt, aber mit aller Sorgfalt in der Beratung umzusetzen.
Die erste Lesung hat am 23. September 1993 hier stattgefunden. Es hätte trotzdem schneller gehen können; denn der Rechtsausschuß und die mitberatenden Ausschüsse hatten ihre Beratungen bereits vor der Osterpause beendet. Daß es nicht zu einer Verabschiedung kam, liegt allein an der Tatsache, daß sich die Branche selber nicht einig war, so daß die zweite und dritte Lesung nicht mehr vor der Osterpause stattfinden konnte.
Die Anhörung fand bereits am 8. Dezember des letzten Jahres statt. Hier wurden die Vorschläge der Experten in die weitere Beratung einbezogen. Es ist aber auch klargeworden — auch im Blick auf die Absichten der Branche —, daß es dem Bundestag mit der Umsetzung ernst war. Damit wurde ein heilsamer Druck auf die Verbände ausgeübt, sich insbesondere mit der Umsetzung vertraut zu machen und sich auch über Modelle bei Zahlungsunfähigkeit bzw. Insolvenz eines Reiseveranstalters Gedanken zu machen.
Die Reisebranche hat eine Menge Phantasie entwickelt, mit immer neuen Eingaben die Diskussion zu verlängern — das ist sicher nicht zu beanstanden — und ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Wir sind, glaube ich, bis an die Grenzen des Zumutbaren auf
diese Diskussionswünsche eingegangen und haben ihnen entsprochen.
Ich denke, man muß sagen: Erst in letzter Minute sind die Verbände hier aufgewacht.
Im Vorfeld der Umsetzung — darauf ist hinzuweisen — kam es zu einer bundesweiten Diskussion — Herr Kollege Lehne hat es angesprochen —, weil die Bundesrepublik nicht in der Lage war, die Richtlinie rechtzeitig, zum 31. Dezember 1992, umzusetzen. Daran ist deswegen zu erinnern, weil gelegentlich so getan wird, als wäre der Gesetzgeber ganz frei, das Inkrafttreten beliebig weit hinauszuschieben. Das ist nicht der Fall.
In Zukunft, denke ich — das ist der Wille aller Fraktionen —, wird es keine Fälle wie MP-TravelLine- oder Marlo-Reisen mehr geben.
Die Kunden sollen sicher sein, daß der Reisepreis und die Rückbeförderung im Krisenfall eines Unternehmens gesichert sind. Dafür sorgt nicht nur die gesetzliche Verpflichtung der Veranstalter zur Absicherung dieser Risiken mit dem Nachweis durch einen entsprechenden Sicherungsschein, sondern auch die Bußvorschrift, die in jedem Einzelfall der Zuwiderhandlung bis zu 10 000 DM betragen kann.
Im Mittelpunkt der Diskussion standen dementsprechend die Sicherungsmodelle, die einerseits eine Monopolstellung ausschließen, zum anderen auch mittelständisch strukturierten Verbänden den Zugang zu solchen Sicherungsmodellen gewähren sollen, damit sie im Wettbewerb nicht benachteiligt sind. Wir unterstreichen dies und haben uns diese entsprechenden Voraussetzungen gewünscht.
Ich darf am Schluß sagen: Uns wäre der 1. Juli 1994 als Termin des Inkrafttretens ohne Wenn und Aber im Interesse eines frühen Verbraucherschutzes lieber gewesen. Wir haben uns aber dem Argument nicht verschließen können, daß der 1. November 1994 den Saisonbeginn markiert. Deswegen sind Buchung nach dem 1. Juli und Reiseantritt nach dem 31. Oktober dieses Jahres die wichtigen Daten für die Verbraucher.
Insgesamt ein Fortschritt in puncto Reiserecht, eine erste Ergänzung des Reisevertragsrechts aus den 70er Jahren und für uns trotz aller Bedenken ein Schritt vorwärts in puncto Verbraucherschutz. Wir werden dem zustimmen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Detlef Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der hochgeschätzte Kollege Pick, dessen Sachverstand
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19145
Detlef Kleinert
ich nun wirklich seit Jahren immer mehr zu bewundern gelernt habe,
ist eben einem kleinen logischen Fehler aufgesessen, den ich bei ihm nicht vermutete. Er hat gemeint, auf Grund dieses Gesetzes seien Vorkommnisse wie bei MP-Travel-Line in Zukunft nicht mehr möglich. Das ist mit Sicherheit nicht richtig. Solche Vorkommnisse wird es wieder geben. Nur werden die Kunden, die teurer bezahlen, und die Gesellschaften, die seriös arbeiten, für die Rückholungskosten, die letzten Endes betrügerische Firmen verursacht haben, die mit falsch kalkulierten Preisen ihren Umsatz aufgepustet haben, haften. Das ist ein ganz anderer Sachverhalt.Ob man es begrüßen soll, daß die Seriösen dafür bezahlen, daß sich die Unseriösen hier austoben, ist etwas, was ich aus liberaler Sicht nicht so ohne weiteres unterstreichen möchte.
Wenn jemand in unserer von Leid, Elend und Armut geplagten Gesellschaft eine Reise nach Florida antritt, in Florida sitzenbleibt — nachdem er sich vorher an seinem Stammtisch dessen gerühmt hat, daß er mit einer besonders preiswerten Reise das Schnäppchen des Jahres gemacht hat — und dann vom Rest der Bürger erwartet, daß sie ihn wieder zurückholen, nachdem er sich diese Kleinigkeit gegönnt hat, dann ist das ein Zeichen für übertriebenes Wohlstandsdenken,
aber noch lange kein Grund, ein solches Gesetz zu machen. Wir müssen es aber machen, weil die europäische Verwaltung
nun mal da ist. Und da sie insofern nicht im geringsten durch ein Parlament kontrolliert wird, schickt sie uns eine Richtlinie, die wir dann umsetzen sollen.
Daß es mit der Vorbereitung dieses Gesetzes so lange gedauert hat, liegt zum Teil daran, daß die Sache hochgradig ungeliebt, unpraktikabel und völlig überteuert ist und man nach der Möglichkeit gesucht hat, es etwas vernünftiger und preiswerter zu gestalten, was bei einer von Hause aus unvernünftigen Auflage natürlich sehr schwierig ist. Darum dauert es dann auch länger.
Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen de With?
Ich bitte darum.
Kollege Kleinert, würden Sie mir zustimmen, daß sich damit Ihre gesamte Kritik an die Bundesregierung wendet, diese vertreten durch den Bundesminister der Justiz, der immer durch jemanden aus den Reihen der F.D.P. repräsentiert wurde, denn diese Richtlinie zwingt uns dazu?
Ich habe von Ihrer Fähigkeit zum Zuhören bisher einen viel besseren Eindruck gehabt.
Tatsache ist doch, lieber Herr Kollege de With, daß dieses Ding aus Europa auf uns zugekommen ist,
worüber ich die ganze Zeit spreche, und die Bundesregierung genauso gepeinigt ist wie die Abgeordneten dieses Hauses, die das Ding umsetzen sollen. Da kann ich überhaupt keinen Zusammenhang erkennen.
Bevor wieder die Flackerei losgeht, möchte ich Ihnen gerne noch eines sagen: Wir hatten gestern eine sehr interessante Diskussion im Rechtsausschuß; das sollte doch einer breiteren Öffentlichkeit klarwerden. Einer der klarsichtigsten und am eindrucksvollsten argumentierenden Menschen war der Kollege Hans de With. Es geht um die Frage, ob man, wenn die Kappungsgrenze von 200 Millionen DM, die für den Ausgleich solcher Schäden zur Verfügung stehen soll, überschritten wird, im Wege des Windhundverfahrens, wozu zunächst Herr Kollege Lehne neigte, denen, die zuerst kommen, zahlt und bei 200 Millionen DM aufhört — im übrigen bin ich felsenfest davon überzeugt, daß dieser Betrag nie erreicht werden wird, eine Ansicht, die die beiden anderen Berichterstatter mit mir teilen — oder ob man es so machen soll, wie es gerechter ist — es ist immer ein Anliegen der Sozialdemokratie, alles gerecht zu machen, wobei meistens der Gedanke zu kurz kommt, daß die gerechteren Lösungen immer die verwaltungsmäßig aufwendigeren sind —, nämlich erst abzuwarten, bis alle Schäden da sind, und dann zu verteilen.Das bedeutet, daß Januar-Schäden eines Reisejahres frühestens anderthalb Jahre später aus diesem Topf ausgeglichen werden. Das bedeutet, daß die Idee, jemand würde auf Kosten der jetzt beschlossenen Versicherung aus Florida nach Hause geholt, völlig abwegig ist. Es wird weiterhin auf die Solidarität der Fluglinien und der Reiseunternehmen ankommen, die im Interesse ihres guten Rufes sich von alleine darum kümmern, ohne den Gesetzgeber dazu zu brauchen, weil die Leute nun wirklich in eine echte Notlage gekommen sein würden, wenn diese Beträge nach anderthalb Jahren ausgezahlt werden.Es hat sich also durch die gestrige Diskussion über einen scheinbar formalen Gesichtspunkt — Windhundverfahren oder Verteilung am Ende — ergeben, daß dieses ganze Gesetz die in es gesetzten Erwartungen nicht erfüllen kann, daß es überflüssig ist, daß es viel kostet und daß sich die Schlaumeier hier zu Lasten der Seriösen bedienen wollen. Derartige Veranstal-
Metadaten/Kopzeile:
19146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Detlef Kleinert
tungen haben wir uns von Europa nicht versprochen.
Ich erteile der Kollegin Angela Stachowa das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 24. September vergangenen Jahres sind knapp sieben Monate ins Land gegangen. Das ist nicht allzuviel, wenn man bedenkt, wie kompliziert die Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht erschien und wie lange es dennoch gedauert hat, bis ein erster Gesetzentwurf überhaupt vorlag. Hier war wohl doch der Druck der Öffentlichkeit nach den bedauerlichen, aber sehr medienwirksamen Konkursaffären des letzten Jahres mit all ihren Nachwirkungen, ein nicht zu unterschätzender Katalysator.
Es ist erfreulich, daß innerhalb dieser Zeit unter Einbeziehung der betroffenen Verbände, der Reiseunternehmen, Veranstalter und Verbraucher und unter Anerkennung der verschiedenen Interessen vehement eine Regelung gesucht wurde, die rechtliche Voraussetzungen schaffen soll, damit sich solche Alpträume des vergangenen Jahres für unsere Touristen nicht wiederholen mögen.
Die jetzt vorliegende Fassung des Gesetzentwurfs ist ein kleiner Schritt in diese Richtung.
Sie wird zwar Betrugsmöglichkeiten der schwarzen Schafe der Reisebranche nicht verhindern können, ihnen aber das Leben erschweren.
Der Insolvenzsicherung galt in den vergangenen Beratungen der Ausschüsse das Hauptaugenmerk. Sie soll ein Sicherungssystem für jährlich 25 bis 30 Millionen Pauschalreisen garantieren und betrifft damit naturgemäß alle Beteiligten: die Reisebranche, die Veranstalter und die Reisenden selbst.
Es ist anzuerkennen, daß mit viel Elan akzeptable Lösungen und praktikable Modelle gesucht wurden. Das Ergebnis ist und bleibt dennoch unbefriedigend.. Die Zukunft muß zeigen, ob es tatsächlich gelungen ist, die Interessen aller Beteiligten in Einklang zu bringen.
Die nicht endenden Diskussionen lassen ernste Zweifel aufkommen. Leider werden erst die zukünftigen Statistiken Auskunft darüber geben können, ob kleine Unternehmen über ein ausreichendes Finanzpolster verfügen und die Gelder ihrer Kunden entsprechend absichern können oder ob sie sich lieber rechtzeitig aus dem Geschäft verabschieden werden.
Generell sehe ich unverändert die Gefahr einer zunehmenden Konzentration der Reisebranche, die durch Aufhebung der Vertriebsbindung noch beschleunigt werden wird. Erste Zahlen über das Buchungsverhalten für das Jahr 1994 zeigen, daß sich
viele Verbraucher nach den spektakulären Pleiten des vergangenen Jahres verstärkt den sogenannten großen Veranstaltern zuwenden, was ich bedaure. Man kann leider auch nicht hoffen, daß mit dem Inkrafttreten des Gesetzes die vielen kleinen seriösen und das Angebot bereichernden Reisebüros wieder so frequentiert werden, wie es ihnen zukommt.
Meine allgemeine Genugtuung über das Zustandekommen des Gesetzes muß ich mit weiteren kritischen Bemerkungen relativieren.
Frau Kollegin Stachowa, Sie sind leider schon mit der Zeit zu Ende. Wenn Sie aber noch einen etwas längeren Satz abschließend sagen wollen, tun Sie das.
Eine gewisse Mittelstandsfeindlichkeit wohnt diesem Gesetz immer noch inne. Die jährliche Haftungsobergrenze und die vorgesehenen Sicherungsmodelle führen zu Wettbewerbsverzerrungen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Rolf Olderog das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Trotz allem: Ich denke, wir können aufatmen. Mit der Umsetzung der europäischen Pauschalreiserichtlinie hatten wir im Bundestag eine harte Nuß zu knacken. Ich freue mich darüber, lieber Carl Ewen, daß wir das gemeinsam geschafft haben.Grund zur Freude haben vor allem die Verbraucher, die Reisenden. Hiobsbotschaften von gestrandeten Urlaubern, die ohne Rückreiseticket und ohne Hotelunterkunft an fernen Flughäfen sitzen, wird es in Zukunft nicht mehr geben. Das neue Recht bietet allen Pauschalreisenden einen zuverlässigen Schutz vor Insolvenz und Konkurs der Veranstalter.Auch die Reisebranche — die Veranstalter — kann insgesamt zufrieden sein. Nach vielen Gesprächen war es uns möglich, wesentlichen Forderungen der Branche im Gesetzentwurf Rechnung zu tragen. Die großen Reiseveranstalter, TUI, NUR und die anderen großen, leistungsfähigen, werden keine Probleme haben,
die notwendigen Sicherheiten zu erbringen. Wir hoffen, daß auch all die kleineren Veranstalter, die kleinen und mittleren Betriebe mit dieser jetzt von ihnen verlangten Umstellung fertigwerden; sicher aber können wir nicht sein. Wir haben uns über Monate den Kopf zerbrochen, um gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen Lösungen zu finden.Wie kompliziert die Materie ist, zeigt ja eine ganz ungewöhnliche Tatsache: Der federführende Rechtsausschuß hatte formell seine Beratungen bereits abgeschlossen, ist aber nach einem Gespräch mit dem asr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19147
Dr. Rolf Olderognoch einmal in die Beratungen gegangen und hat einen wichtigen Punkt, den des Inkrafttretens, geändert.Meine Damen und Herren, vom Zusammenbruch von MP-Travel Geschädigte haben Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben. In der Tat ist es so, daß nach den Vorstellungen der europäischen Richtlinie das nationale Gesetz eigentlich bereits am 1. Januar 1993 in Kraft treten sollte. Wer die Beratungen verfolgt hat, weiß jedoch, daß das pure Illusion war. Nicht einmal zum 1. Juli 1994 war das zu schaffen, verehrter Herr Professor Pick.Lange bevor die Bundesregierung den Gesetzentwurf vorgelegt hat, haben wir z. B. in meiner Arbeitsgruppe mit den Vertretern der Bundesregierung, mit den Vertretern der großen Verbände über denkbare Lösungsmöglichkeiten diskutiert, und auch die Branche hat gearbeitet. Also, zu glauben, daß vorher nichts passiert sei, ist ganz bestimmt nicht richtig.Meine Damen und Herren, vielleicht hätte die Zeit bis zum 1. September 1994 ausgereicht. Nur, das wäre für das Inkrafttreten ein extrem ungünstiger, unglücklicher Termin gewesen. Dieser Termin hätte mit Sicherheit eine Reihe von Insolvenzfällen ohne Schutz für die Verbraucher und die Touristen ausgelöst. Auf Grund mangelnder Bonität hätten viele ihr Unternehmen einstellen müssen. Viele laufende Reisen werden durch die Vorkasse finanziert. Gibt es keine Vorkasse mehr, weil man nicht mehr arbeiten darf, dann bedeutet das, daß die durchzuführenden Reisen nicht mehr finanziert sind, und dann landen Pauschalreisende als gestrandete Touristen irgendwo auf fernen Flughäfen.Ergebnis: Wir haben es, glaube ich, richtig gemacht, indem wir als Zeitpunkt des Inkrafttretens den 1. November, also die reiseärmste Zeit, gewählt haben. Ich glaube, das war eine richtige Entscheidung.Ich möchte noch einmal sagen: Wir haben uns wirklich ungeheure Mühe gegeben. Lange bevor Sie sich im Rechtsausschuß damit befaßt haben, haben wir diese Gespräche geführt. Ich kann mich nicht erinnern — ich bin ja lange im Bundestag —, daß ich so viele Gespräche zu einem Gesetz mit Verbänden, Organisationen, Instituten, Vertretern der Regierung und auch zwischen den Fraktionen geführt habe. Wir haben uns bis zum äußersten bemüht. Es war ja auch absolutes Neuland, das wir betreten haben.Das Kernproblem war der Insolvenzschutz. Wir alle waren eigentlich dafür — ich erinnere an die erste Lesung —, ein verbindliches Pflichtmodell für alle zu schaffen. Dagegen gab es kartell- und europarechtliche Bedenken. Wir wollten das Risiko nicht auf uns nehmen, daß unsere Sicherungsinstitute dann vor einem Gericht zum Zusammenbruch gebracht werden. So mußten wir darauf setzen, daß der Markt Lösungen anbieten werde. Das war sehr schwierig. Die Banken haben uns sehr schnell die kalte Schulter gezeigt. Der Verweis an die Hausbanken funktionierte also nicht, obwohl wir möglicherweise jetzt doch noch ein Bankenmodell, das „Tourgarant" - Modell, bekommen. Die Versicherungen waren interessiert, standen aber vor zunächst unlösbaren Problemen. Es hat unendlich viele Gespräche mit allenmöglichen Versicherungen und Versicherungsgruppen gegeben. Das hat sich letztlich doch auch als erfolgreich erwiesen.Meine Damen und Herren, zum Schluß ein Wort zu den großen Reisebüroverbänden DRV und asr. Die Beratungen zu diesem Gesetzentwurf belegen, wie hilfreich, ja, wie unentbehrlich große Interessenverbände heute für eine sachgerechte parlamentarische Beratung sind. Daß gegenwärtig überhaupt zwei Sicherungsinstrumente auf dem Markt sind, verdanken wir ganz entscheidend dem großen Einsatz dieser Verbände. Ich möchte dem Herrn Präsidenten Schneider und dem Herrn Hauptgeschäftsführer Nipper vom DRV ebenso wie Herrn Präsidenten Feibel und Herrn Vizepräsidenten Laepple vom asr sehr herzlich für ihren großen persönlichen Einsatz danken. Natürlich liegt das auch in ihrem persönlichen Interesse, aber wir haben doch den Eindruck gewonnen, daß sie sich sehr stark auch von der öffentlichen Verantwortung, die sie tragen, haben leiten lassen.
Herr Kollege Olderog, Sie sind ein großes Stück über die Zeit.
Herr Präsident, dann will ich auch Schluß machen. Unser Gesetz ist ein Markstein für den modernen Tourismus. Ich hoffe, daß auch wir als Parlamentarier die damit für uns verbundene Prüfung unserer Bonität bestanden haben.
Schönen Dank.
Herr Kollege Carl Ewen, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst kurz auf Herrn Kleinert eingehen, der uns hier ja in gewohnter Manier durch sehr anschauliche Reden erfreut und dabei natürlich auch Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen kann und damit voll im Trend der Zeit liegt. Aber wenn er behauptet, daß die Steuerzahler die Reisen derjenigen bezahlen, die etwa in Florida gestrandet sind, so stimmt das in Zukunft nicht. Das macht schon der Verbraucher, der reist. Der ist zwar insofern auch ein Steuerzahler, aber dieses Geld kommt nicht aus Steuertöpfen. Ich glaube, es ist doch ganz wichtig, zu sagen, daß hier die öffentliche Hand nicht zahlt.
— Hervorragend!Die Reisebüros haben ja auch zugesichert, gegebenenfalls auch ohne Inanspruchnahme der Sicherungsfonds die Kunden so wie bisher zurückzufliegen. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen; denn es wäre ja nicht vorstellbar, daß erst am Ende des Jahres alle Kunden zurückgeflogen werden, weil erst dann gezahlt wird.
Metadaten/Kopzeile:
19148 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Carl EwenDas wäre nicht machbar. Insofern ist hier der Reisebranche auch zu danken.
Dank gilt dem Rechtsausschuß, der trotz sorgfältiger und schon abgeschlossener Beratung in zwei Sitzungen bereit war, sich auf Bitten des Fremdenverkehrsausschusses noch einmal mit dem Gesetzentwurf zu befassen.
— Das ist uns bekannt.
Aber herausgekommen ist nach meiner festen Überzeugung eine Regelung, die allen Reisenden, die nach dem 31. Oktober 1994 eine Reise antreten, die sie nach dem 30. Juni 1994 gebucht haben, einen optimalen Schutz gewährt — Schutz vor finanziellen Schäden, nicht aber Schutz vor Stranden, nicht Schutz vor überbuchten Hotels und nicht Schutz vor sonstigen Mißhelligkeiten. Also: Entgangenen Urlaubsgenuß oder Erschwernisse während des Urlaubs durch Umbuchung von Hotels usw. wird es leider auch in Zukunft geben. Allerdings wird es die finanziellen Folgen eines solchen Strandens durch Insolvenz der Reisebüros oder der Reiseveranstalter dann nicht mehr geben.Zu hoffen ist, daß möglicherweise entstehende Marktmacht wegen fehlender Konkurrenz bei den Versicherern bzw. den Kreditinstituten nicht ausgenutzt wird, um hohe Prämien durchzusetzen. Zu hoffen ist auch, daß die Bereitschaft, Risiken einzugehen, groß genug ist, bisher mit Erfolg am Markt operierenden Veranstaltern durch Absicherung der Kundengelder auch weiterhin eine Chance zu geben.Dem Wunsch der Touristikbranche, alle Veranstalter von Reisen zu verpflichten, sich dem Pauschalreiserecht zu unterwerfen, konnte der Fremdenverkehrsausschuß nicht entsprechen.Ich weise darauf hin, daß wir gemeinsam davon ausgehen, daß unter dem Begriff „gelegentlich veranstalten" ein bis höchstens zwei Reisen im Jahr gemeint sind. Im übrigen müssen die Reisebüros durch ihr Dienstleistungsangebot deutlich machen, daß sie die Aufgabe, spezielle Reisewünsche zu erfüllen und das entsprechende Programm zusammenzustellen, durchaus preisgünstig erfüllen können.Informationen im Reisekatalog werden in Zukunft genauer sein. Zu hoffen ist, daß die Sprache in Katalogen nicht mehr verschleiert als offenbart. Dies gilt dann auch für die verstärkt genutzten elektronischen Informationsmöglichkeiten.Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, Ende 1995 zu berichten, wie sich das Pauschalreiserecht in bezug auf die Entwicklung des Wettbewerbs im Bereich der Sicherungsgelder und auf die wirtschaftliche Situation der Anbieter auf dem Reisemarktunter besonderer Berücksichtigung des Mittelstands auswirkt.
Aus einem solchen Bericht sind dann gegebenenfalls Folgerungen zu ziehen, die bis zur Novellierung des Pauschalreiserechts in einigen Punkten gehen können.Nun gibt es kritische Stimmen, die darauf hinweisen, daß die Umsetzung der europäischen Reiserichtlinie in nationales Recht unverhältnismäßig lange, vielleicht zu lange, gedauert habe. Ich stelle fest, daß sich der Bundestag mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf am 23. September 1993 erstmalig befaßt und dann zügig beraten hat. Die Arbeitsgruppe Fremdenverkehr der SPD-Bundestagsfraktion hat schon lange vorher versucht, praktikable Lösungen zu erkunden. Die Reisebranche und die Versicherer haben lange gebraucht, um Vorschläge zu erarbeiten, die der Zielsetzung der Richtlinie entsprechen und gleichzeitig in die Systematik unseres Reiserechts passen und praktikabel sind.Mit der heutigen Beschlußfassung ist ein Schlußstrich zu ziehen. Meine feste Überzeugung ist, daß das deutsche Reiserecht im Vergleich mit Regelungen in anderen Ländern einen optimalen Schutz für Pauschalreisen bietet. Damit ist dem Verbraucherschutz in hohem Maße Rechnung getragen.
Ich hoffe, daß sich das Gesetz auch in Zukunft bewähren wird.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, unserem Kollegen Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz zur Umsetzung der EGPauschalreiserichtlinie betrifft einen der größten und inzwischen wichtigsten Dienstleistungssektoren der deutschen Wirtschaft. In Deutschland werden alljährlich zwischen 25 und 30 Millionen Pauschalreisen mit einem durchschnittlichen Reisepreis von DM 1 500 verkauft. Trotz weltweiter Rezession boomt die Reisebranche. Auf der Internationalen Tourismusbörse in Berlin wurde von zweistelligen Zuwachsraten berichtet, die selbst Branchenoptimisten überraschten. Mit diesen Zuwachsraten kann sonst kein Industriezweig aufwarten.Kernstück des Ihnen zur Beschlußfassung vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Einführung der Verpflichtung von Reiseveranstaltern, die Vorauszahlungen ihrer Kunden auf den Reisepreis sowie etwaige Mehrkosten der Rückreise durch Abschluß einer entsprechenden Versicherung oder Beibringung einer Bankbürgschaft für den Fall der Insolvenz des Reiseveranstalters abzusichern. Des weiteren konkretisiert das Gesetz die Informationspflichten der Reiseveranstalter.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19149
Parl. Staatssekretär Rainer FunkeDer Gesetzentwurf hat sehr gegensätzliche Reaktionen ausgelöst. Von Teilen der Tourismusbranche wurde er als überflüssig und unzumutbar abgelehnt, obwohl die Branche die zugrunde liegende EG-Richtlinie nach ihrer Verabschiedung seinerzeit als einen tragbaren Kompromiß begrüßt hat. Im Gegensatz dazu bemängelt die Verbraucherseite, daß das Gesetz nicht schon früher, nämlich zu dem in der Richtlinie vorgesehenen Zeitpunkt, dem 31. Dezember 1992, gekommen ist. Nach den aufsehenerregenden Reiseveranstalterinsolvenzen des Reisesommers 1993, die vorhin schon erwähnt worden sind, von denen immerhin 15 000 bis 30 000 Bürger betroffen waren, ist, glaube ich, über die Notwendigkeit der Insolvenzsicherung wohl nicht mehr viel zu sagen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?
Gerne, ja.
Herr Staatssekretär, halten Sie es eigentlich für richtig, daß ein Parlament, hier der Deutsche Bundestag, von der Exekutive Europas, die von der Exekutive der europäischen Staaten, also auch der Exekutive der Bundesrepublik Deutschland, gestellt wird, gezwungen werden kann, Gesetze zu verabschieden, die der einzelne Abgeordnete gar nicht will, und daß dieser Trick der Verwaltung nur dazu führt, daß wir immer stärker überreguliert werden? Müßte in diesem Punkt nicht auch aus Ihrer Sicht dringend etwas geändert werden?
Herr Kollege Thiele, dieses Hohe Haus hat den europäischen Verträgen zugestimmt. In den europäischen Verträgen ist geregelt, daß die Richtlinien, die vom Ministerrat auf Vorschlag der Kommission beschlossen werden, in nationales Recht umzusetzen sind. Viel gefährlicher sind im übrigen die Verordnungen, die gleich nationales Recht werden, indem sie von der Kommission verordnet werden. Diese Richtlinien werden im Ministerrat beschlossen. Da sitzt auch unsere Bundesregierung.
Wenn die Bundesregierung nicht in der Lage ist, gegen eine Richtlinie, die sie nicht will, eine Sperrminorität von 23 Stimmen zustande zu bringen, muß diese Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. Da gibt es überhaupt kein Vertun.
Der Kollege Thiele möchte eine weitere Zwischenfrage stellen. Der Kollege Olderog hat sich ebenfalls zu einer Zwischenfrage gemeldet. — Jetzt meldet sich noch der Kollege
Feldmann. — Sind Sie bereit, alle diese Zwischenfragen zuzulassen?
Ja, natürlich.
— Das ist nicht verabredet, Herr Kollege.
Also zuerst Herr Thiele.
Herr Staatssekretär, halten Sie es denn nicht für denkbar, daß der einzelne Parlamentarier bei den umfangreichen Gesetzen, die wir hier zu verabschieden haben, möglicherweise nicht jede Vorschrift genau übersehen kann, und sollte man nicht für den Fall, daß er die Auswirkungen solcher Regelungen übersieht und nicht genau erkennt, tätig werden, um das Ganze — ich sage einmal: die Verwaltung greift in die Legislative ein — stärker zu diskutieren und möglicherweise wieder rückzuführen?
Herr Kollege Thiele, sicherlich ist das Parlament völlig frei, Beschlüsse, die es einmal gefaßt hat, umzukehren. Dazu bedarf es einer Parlamentsinitiative. Dazu bedarf es dann aber auch entsprechender Initiativen auf europäischer Ebene. Sie sind völlig frei, dies zu unternehmen.
Herr Kollege Olderog.
Herr Staatssekretär, können Sie uns präzise sagen, welcher Vertreter der Bundesregierung die Bundesregierung im Ministerrat vertreten hat und wie sich die Vertreter der Bundesregierung dort bei der Abstimmung verhalten haben?
Herr Kollege Dr. Olderog, Sie wissen, daß es sich hierbei um einen sehr langwierigen Prozeß mit sehr vielen Verhandlungen gehandelt hat.
— Ja. Sie wissen ganz genau, wie diese Abstimmungen verlaufen. In diesem Ministerrat wird die Bundesregierung in der Regel durch den Wirtschaftsminister,gegebenenfalls durch den Außenminister vertreten.
: Aber Herr Kleinert
will das nicht wahrhaben, weil das F.D.P.-Leute sind! — Dieter Wiefelspütz [SPD]: Dasist ja äußerst interessant! — Weitere Zurufevon der SPD — Detlef Kleinert [Hannover][F.D.P.]: Keine der genannten Persönlichkeiten war anwesend!)
Metadaten/Kopzeile:
19150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bitte, Herr Kollege Olderog, zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie uns liebenswürdigerweise auch sagen, wie die Vertreter der Bundesregierung — wenn Sie schon nicht genau wissen, wer das gewesen ist — in der Sache abgestimmt haben?
Das kann ich Ihnen jetzt im einzelnen Fall nicht sagen, weil mich das auch gar nicht zu interessieren hat. Denn die Ministerratsentscheidung ist gefallen. Mit welchem Abstimmungsverhalten die Bundesregierung dort aufgetreten ist, spielt überhaupt keine Rolle.
Wenn die notwendige Mehrheit, Herr Kollege Kleinert, im Ministerrat oder auch im Bundestag zustande kommt, dann sind die entsprechenden Gesetze oder Richtlinien von der Bundesregierung zu vollziehen. Da haben wir überhaupt keine Wahlmöglichkeiten.
Moment, Moment! — Bitte, Herr Kollege Feldmann.
Herr Staatssekretär, ich möchte nur klarstellen, daß wir alle Europa wollen;
nicht daß hier falsche Gedanken aufkommen. Herr Staatssekretär Funke, ist die Bundesregierung bereit, in Zukunft dem Subsidiaritätsgedanken in Brüssel etwas stärker zum Durchbruch zu verhelfen?
Nicht nur etwas, Herr Kollege Feldmann. Wir haben in den Maastrichter Vertrag mit Bedacht das Prinzip der Subsidiarität untergebracht, im übrigen nach langen Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das war nicht ganz leicht. Sie wissen, daß zur Zeit von der deutschen Bundesregierung eine nationale Subsidiaritätsliste erarbeitet wird. Die Gesetze, die auf dieser Subsidiaritätsliste stehen, sollen dann im Ministerrat der Europäischen Union intensiv beraten werden, sowohl was alte Richtlinien angeht, als vor allem auch, was neue Richtlinien angeht. Das Prinzip der Subsidiarität ist für die Bundesregierung unverzichtbar.
Herr Kollege Olderog, bei Fragen hat nicht der Präsident, sondern der Redner zu entscheiden. Ich erlaube mir trotzdem den
Hinweis, daß wir mit dieser Debatte jetzt langsam zu Ende kommen wollen
und daß alles, was jeder sagen wollte, weitgehend gesagt ist.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich frage Sie, ob Sie eine weitere Frage des Kollegen Olderog zulassen.
Trotz Ihres Einwandes würde ich sie gerne zulassen, weil ich solche Fragen ungern verhindern will.
Der Redner ist eine Sache, und die Sitzungsleitung ist eine andere.
Ich appelliere also generell an Sie. — Bitte.
Ich mache es kurz, Herr Präsident. Der Herr Staatssekretär hat uns jetzt aber neugierig gemacht.
Ist die europäische Pauschalreiserichtlinie auf Ihrer Subsidiaritätsliste enthalten,
oder haben Sie sich schon mit der Frage auseinandergesetzt, wie über einen entsprechenden Antrag, diese Richtlinie draufzusetzen, zu entscheiden wäre?
Herr Dr. Olderog, die Pauschalreiserichtlinie wird gerade in nationales Recht umgesetzt. Wenn wir der Auffassung wären, daß sie nicht umzusetzen wäre, weil sie dem Subsidiaritätsprinzip nicht entspricht, dann hätten wir uns zunächst von der Europäischen Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen lassen. Wir sind ja der Auffassung gewesen, daß sie in nationales Recht umzusetzen ist. Ob in Zukunft im Wege der Verhandlung diese europäische Pauschalreiserichtlinie verändert werden kann, muß man abwarten. Aber wir haben sie — zumindest zur Zeit noch — nicht auf der Subsidiaritätsliste.Meine Damen und Herren, ich hatte soeben gesagt, daß hinsichtlich der Notwendigkeit der Insolvenzsicherung in Anbetracht der 15 000 bis 30 000 Bürger, die im letzten Jahr von der Insolvenz von Reiseveranstaltern betroffen waren, wohl kein Zweifel bestehen kann. Die ausnahmslos übliche volle Vorauszahlung der Reisepreise kann wirtschaftlich als Kredit angesehen werden, den auch professionelle Kreditgeber wie z. B. Banken nicht ohne Sicherheit gewähren würden. Diejenigen, die an die Selbstverantwortlichkeit der Verbraucher appellieren, müssen bei realistischer Betrachtung der Fakten zugeben, daß die Möglichkeiten der Reisenden, bei Buchung einer Reise die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19151
Parl. Staatssekretär Rainer FunkeBonität des Reiseveranstalters zu beurteilen, sehr begrenzt sind. Manchmal verlocken auch die schönen Prospekte sehr, Herr Kollege Kleinert. Da gebe ich Ihnen völlig recht.
— Ja, das kommt erschwerend hinzu.Daß die EG-Richtlinie über Pauschalreisen nicht früher in das deutsche Recht umgesetzt werden konnte, ist bedauerlich, war aber in Anbetracht der Gefechtslage, die Sie zum Teil miterlebt haben, wohl nicht zu ändern.
Ich glaube, daß die Ministerien und auch der Deutsche Bundestag das ihnen Mögliche getan haben. Ich möchte den Ausschüssen des Deutschen Bundestages an dieser Stelle für ihre zügige Arbeit ausdrücklich Dank sagen.Die Absicherung von Kundengeldern in der Größenordnung von jährlich immerhin 30 bis 40 Milliarden DM in einer Branche, zu der jeder Gewerbetreibende freien Zugang hat und die durch eine komplizierte Struktur der tätigen Unternehmen gekennzeichnet ist, bildete für alle Beteiligten eine außergewöhnliche und nicht alltägliche Herausforderung. Herr Dr. Olderog, Sie haben erwähnt, wie sich die Struktur der Branche zusammensetzt: von ganz Großen bis zu ganz Kleinen mit einem starken Mittelstandsblock.Die Schwierigkeit der Umsetzung belegt auch die Tatsache, daß die Mehrzahl der anderen EU-Mitgliedstaaten ebenfalls nicht fristgerecht umgesetzt hat. Wir sind das fünfte Land, das diese Richtlinie umsetzt.
Die notwendigen Vorkehrungen zur Schaffung der Insolvenzsicherung sind nunmehr in die Wege geleitet. Ich habe mich vergewissert, daß sie bei gehöriger Anstrengung bis zum Beginn der neuen Reisesaison im Frühherbst 1994 — aber leider auch nicht früher — abgeschlossen sein können. Dem trägt die Inkrafttretensregelung in Art. 4 Rechnung, wonach Sommerreisen noch ohne Sicherungsschein verkauft werden können, während bei Buchungen für die Wintersaison der Reisepreis abzusichern ist.Für Sommerreisen — darauf möchte ich ganz besonders hinweisen — gilt aber die bereits nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestehende Sicherung der Reisenden. Der Reisepreis muß nur gegen werthaltige Reisedokumente gezahlt werden, die dem Reisenden einen Anspruch gegen Hotel und Beförderer gewähren. Jeder Reisende sollte daher im eigenen Interesse Wert darauf legen, sie bei der Zahlung zu erhalten, und bei der Buchung darauf achten, daß sich der Reiseunternehmer vielleicht bereits jetzt freiwillig an einer Insolvenzsicherung beteiligt hat.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Horst Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind im Rechtsausschuß sicherlich nicht glücklich darüber, daß wir Richtlinien auch dann vollziehen müssen, wenn sie nicht unseren Vorstellungen entsprechen. Aber es erscheint mir einfach zu billig, der Bundesregierung hier die Schuld zu geben.
Jeder Richtlinienentwurf wird vorher unserem Parlament zugeleitet. Wir haben im Rechtsausschuß vor einigen Jahren sogar einen Unterausschuß eingerichtet, damit wir uns intensiver mit den Entwürfen der Richtlinien befassen können.
Außerdem: Das Europäische Parlament ist zwar nicht der entscheidende Faktor bei den Richtlinien, wirkt aber mit. Mich würde interessieren, wie z. B. die Liberalen oder die Vertreter der anderen Parteien im Europäischen Parlament zu dieser Richtlinie Stellung genommen haben.
Bevor wir Parlamentarier uns nun gewaltig aufblasen und die Bundesregierung angreifen, müssen wir erst einmal dazu Stellung nehmen, was wir im Vorwege getan haben, um Richtlinien, die uns nicht passen, zu verhindern.
— Doch.
— Gut. Mich würde aber interessieren, wie diese Richtlinie im Europäischen Parlament beurteilt worden ist. Wir Parlamentarier sind nämlich in erster Linie selber aufgerufen, dagegen Stellung zu nehmen.
Ich halte es durchaus für notwendig, diese Debatte intensiver zu führen, wie es Herr Kleinert gesagt hat, aber nicht bei der einzelnen Richtlinie. Vielmehr müssen wir im Zuge einer Europadebatte einmal darüber diskutieren, wie wir das Zustandekommen von Richtlinien verhindern wollen, die uns nicht gefallen — das ist der entscheidende Punkt —, aber nicht hier.
Zur Abgabe einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung erteile ich das Wort der Kollegin Marita Sehn.
Metadaten/Kopzeile:
19152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Gegenteil von „gut" ist „gut gemeint". In diese Rubrik ordne ich den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über die Pauschalreisen.
Nur drei Gründe — Herr Eylmann, es gibt derer noch mehr — für meine ablehnende Entscheidung möchte ich hier nennen:
Erstens. Die Gesetzgebungskompetenz liegt beim Parlament. Es ist nicht in Ordnung, wenn der Beamte der Bundesregierung in Brüssel die Verhandlungen führt und die Entscheidungsfreiheit des Parlaments beschränkt. Wenn dieser Weg der richtige wäre, wäre unsere Parlamentsarbeit unnötig.
Die Kompetenz und Entscheidung hätte dann ausschließlich die Bürokratie. Wollen wir dies wirklich?
Zweitens. Aus Verbrauchersicht lehne ich diese Regelung ab. Der Verbraucher muß automatisch für alle Pauschalreisen, die nach dem 31. Oktober 1994 angetreten werden, die Kosten für die Insolvenzsicherung tragen. Davon hat heute noch keiner gesprochen. Ich habe nur Positives gehört. Aber daß der Verbraucher das bezahlt, ist doch ganz klar. Er hat überhaupt keine Möglichkeit, sich dieser Regelung zu entziehen. Alle zahlen dafür, daß ein paar besonders Kluge besonders preisgünstig Urlaub machen wollen. Wer billig bucht, sollte als aufgeklärter Verbraucher bereit sein, auch das Risiko zu tragen.
Drittens. Ein Blick über unsere Grenzen hinweg macht deutlich, daß die Mehrzahl unserer Partner die Umsetzung noch nicht betrieben hat und Großbritannien, die Niederlande, Frankreich und Portugal große Probleme bei der Umsetzung noch nicht bewältigt haben.
Dem vorliegenden Gesetzentwurf werde ich daher nicht zustimmen.
Ich schließe die Aussprache, die - das wirkt sich auf die später vorgesehene namentliche Abstimmung aus — statt der angekündigten halben Stunde fast genau eine Stunde gedauert hat. Es geht dem Präsidenten hier so wie dem ganzen Parlament: Es gibt einfach Regelungen, denen man sich nicht entziehen kann. Wenn eine entsprechende Zahl von Zwischenfragen gestellt und andere Formen der Interventionsmöglichkeiten genutzt werden, verlängert sich die Debattenzeit.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Durchführung der EG-Richtlinie über Pauschalreisen, Drucksachen 12/5354 und 12/7334 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist mit sehr großer Mehrheit bei wenigen
Gegenstimmen und zwei Enthaltungen in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. — Gegenprobe! — Wer enthält sich? — Der Gesetzentwurf ist bei sechs Gegenstimmen und zwei Enthaltungen angenommen.
Der Rechtsausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern
— Drucksache 12/5468 —
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ilse Janz, Hanna Wolf, Dr. Marliese Doberthien, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung von Frau und Mann
— Drucksache 12/5717 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Frauen und Jugend
— Drucksache 12/7333 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink Ilse Janz
— Meine Damen und Herren, nehmen Sie doch bitte Platz, damit die Kollegen, die sich beteiligen möchten, erfahren, worüber hier debattiert wird. Ich will ungern Namen nennen, aber nehmen Sie doch Platz.
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen sieben Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den Gesetzentwurf der Bundesregierung namentlich abstimmen werden. Das wird allerfrühestens um 13.50/13.55 Uhr der Fall sein. Vermutlich wird es 14 Uhr werden, denn nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, und die Bonner Stunde dauert ja ein bißchen länger. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Claudia Nolte.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Gleichberechtigungsgesetzes der Bundesregierung schließen wir eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19153
Claudia Nolteintensive parlamentarische Beratung ab. Sie war nicht leicht, und so manche Vorbehalte mußten in vielen Sitzungen ausgeräumt werden.Ich möchte an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion und der F.D.P.-Fraktion, die sich auf die Suche nach der besten Lösung eingelassen haben, für ihre konstruktive Zusammenarbeit danken. Mein Dank geht auch an die zuständigen Beamten des Ministeriums, und allen voran an die Ministerin Frau Angela Merkel für die hilfreiche Unterstützung.
Mit diesem Gesetz gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt zur Verwirklichung der verfassungsrechtlich garantierten Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Wem die Interessen der Frauen am Herzen liegen, wird diesem Gesetz zustimmen. Es enthält in seinen wesentlichen Teilen Regelungen zur Frauenförderung, zu den Kompetenzen der Frauenbeauftragten in den Bundesbehörden, zur Erleichterung der Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst sowie zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes und des Bundespersonalvertretungsgesetzes, um dem Betriebsrat bzw. dem Personalrat Einflußmöglichkeiten bei Maßnahmen zur Frauenförderung einzuräumen.Ebenso sind Regelungen enthalten, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer zum Ziel haben, Regelungen, die von der CDU/ CSU-Fraktion sehr unterstützt wurden. Unser Anliegen war es, das Gesetz so verbindlich wie möglich zu formulieren. Dem galten unsere Anstrengungen in den Beratungen, und wir konnten dabei ja auch vieles erreichen.Zwei weitere Schwerpunkte sind das Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, mit dem sich bei uns die Absicht verbindet, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz aus der Grauzone herauszuholen und den Betroffenen eine Handhabe zu geben, sich zu wehren, und das Bundesgremienbesetzungsgesetz, das die angemessene Repräsentanz von Frauen und Männern in Gremien im Einflußbereich des Bundes fördern soll.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt wohl kein Gesetz, in dem nicht Kompromisse geschlossen werden und das Machbare gegenüber dem Wünschenswerten abgewogen werden müßte. Erwartungsgemäß gestaltete sich die Einigung zur Änderung des § 611 a BGB schwierig. Ich möchte für meine Fraktion nochmals zum Ausdruck bringen, daß wir bei der Schadenersatzregelung den Verzicht auf eine Höchstbegrenzung für sachgerechter hielten.Wir als CDU/CSU-Fraktion haben des weiteren immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß wir auch denjenigen gerecht werden müssen, die sich unermüdlich ehrenamtlich für unser Gemeinwohl engagieren. Im sozialen, sportlichen, musischen, kulturellen und nicht zuletzt im politischen Bereichwerden ehrenamtliche Leistungen erbracht, die unseren Dank und unsere Anerkennung verdienen.
Fast zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger sind allein im sozialen Bereich ehrenamtlich engagiert. Sie leisten jedes Jahr insgesamt 265,2 Millionen Stunden freiwillige Hilfe und ersparen damit der Gemeinschaft Kosten in Höhe von über 5 Milliarden DM im Jahr.Eine Aufwertung des sozialen Ehrenamtes innerhalb des Gleichberechtigungsgesetzes war nicht möglich.
Für uns heißt das aber nicht, daß dieses Anliegen zu den Akten gelegt wird, sondern wir werden weitere Möglichkeiten prüfen und nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der uns gleichfalls vorliegende Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes der SPD ist völlig ungeeignet, die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen in unserer Gesellschaft zu fördern. Ihre überzogenen Forderungen und Reglementierungen blockieren nicht nur eine vernünftige Gleichberechtigungspolitik, sie sind auch wirtschaftlich schädlich.
Folgte man Ihrem Vorhaben, ergäbe sich noch mehr Bürokratie in der Verwaltung, würden Entscheidungen gelähmt. Sie wollen Privatunternehmen gesetzlich bevormunden. Schon allein die Vorstellung, daß künftig alle Ausbildungsplätze nach einer starren 50-%-Quote gesetzt werden sollen, zeigt, daß die SPD die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt.
Realitätsferne aber hilft nicht — auch nicht Ihr Geschrei —,
sie führt zu falschen Weichenstellungen.Wir lehnen Ihren Antrag ab und stimmen dem Entwurf der Bundesregierung in der geänderten Ausschußfassung zu.Danke schön.
Ich erteile der Kollegin Dr. Edith Niehuis das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Was lange währt, wird endlich gut, sollte man meinen. Leider gilt das nicht für das Gleichberechtigungsgesetz der Bundesregierung.
Metadaten/Kopzeile:
19154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Edith NiehuisIn der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Frauen und Jugend haben alle Sachverständigen dieses Gleichberechtigungsgesetz vernichtend beurteilt; es ist durchgefallen. Trotz dieses vernichtenden Sachverständigenurteils, an dem auch die Meinen kosmetischen Ergänzungen in der Beratung nichts geändert haben, besteht die Ministerin Merkel darauf, dieses Gesetz heute zu verabschieden.Dieses Gesetz, das das schöne Wort Gleichberechtigung im Namen trägt, wird die Frauen bitter enttäuschen.
Es wird die Frauen bitter enttäuschen, weil es im Kern für 99 % der erwerbstätigen Frauen nicht gilt. Es wird die Frauen bitter enttäuschen, weil es jene Frauen, für die es gilt, nicht vor Benachteiligungen schützen wird. Es wird die Frauen bitter enttäuschen, weil es jungen Frauen keine gleichberechtigte Chance auf einen Ausbildungsplatz gibt.
Wer ein Gleichberechtigungsgesetz vorlegt, das den Namen nicht verdient, hilft den Frauen nicht, sondern schadet den Frauen.
Frau Merkel weiß dieses sehr gut. Eine Frauenministerin, die stolz darauf ist, das Ihrige vorzustellen, wird sich in der Debatte nicht so verstecken, wie es Frau Merkel tut, indem sie sich an das Ende der Debatte stellen läßt.
Frau Kollegin, fairerweise darf ich Sie darauf hinweisen, daß sich Frau Merkel nicht versteckt. Sie ist auf der Regierungsbank sichtbar.
In der Debatte versteckt sie sich. Sie stellt sich nicht den Argumenten.
— Lassen Sie mich das doch so feststellen! Ich möchte das auch weiterhin tun.Wir alle wissen — damit Sie sich wieder beruhigen können —, daß es eine Frauenministerin in einer männerdominierten Politik nicht leicht hat. Doch darum geht es gar nicht.
Wenn sie etwas erreichen will, muß sie sich schon vollmit den berechtigten Interessen der Frauen solidarisieren und für ihre Durchsetzung kämpfen. Dochleider mangelt es bei dieser Frauenministerin in der Regierung genau daran.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Frauen sind es, die im Durchschnitt ein Drittel weniger als ihre männlichen Kollegen verdienen, die in der Regel als letzte eingestellt, als letzte befördert werden, dann aber als erste entlassen werden — trotz gleichwertiger oder besserer Bildungsabschlüsse, die sie heute vorweisen.Das heißt, nach mehr als 40 Jahren Bundesrepublik Deutschland sind die Frauen auf dem Arbeitsmarkt so erheblich benachteiligt, daß die Armut in der Bundesrepublik Deutschland leider ein weibliches Gesicht trägt. Diese Situation ist unwürdig für die Frauen, aber sie ist ebenso unwürdig für einen demokratischen Rechtsstaat.
Einen ersten Schritt werden wir hoffentlich gemeinsam tun, wenn wir in diesem Haus die Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes verabschieden, d. h. den Staat verpflichten, aktiv Frauenförderung zu betreiben. Ich will noch einmal betonen, daß dieser Schritt in diesem Haus notwendig ist. Aber ebenso notwendig sind einfachgesetzliche Maßnahmen. Dazu hätte das Gleichberechtigungsgesetz gehören können, wenn nicht die Frauenministerin selbst gegen eine verbindliche Frauenförderung wäre.Damit bin ich bei der qualifikationsbezogenen Quote. Sie ist die adäquate Antwort auf die geschlechtsspezifischen Rollenklischees, die es in unserer Gesellschaft nach wie vor in erschreckendem Maße gibt, was jüngst auch eine Untersuchung des Frauenministeriums herausgestellt hat. Die qualifikationsbezogene Quote und nicht irgendeine unverbindliche Gleichberechtigungskampagne, die Frau Merkel initiiert, ist die Antwort.
Doch anders als die Frauenunion lehnt die Frauenministerin die Quote strikt ab.
In einem Beitrag der „Frankfurter Rundschau" vom 26. Februar 1993 begründet Frau Merkel ihre ablehnende Haltung wie folgt — Frau Nolte hat es ähnlich gesagt —; ich zitiere:Sie— d. h. die Quotenregelung —behindert die notwendige Flexibilität in der Personalentscheidung und beeinträchtigt unzumutbar den Betriebsfrieden.
Frau Merkel, Sie sind mit dieser Meinung nicht allein. Genauso haben sich jüngst die fünf Wirtschaftsverbände gegen eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes geäußert, worauf Frauen und Frauenverbände empört reagierten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19155
Dr. Edith NiehuisAm 25. März 1994 reagierte die Präsidentin des Katholischen Deutschen Frauenverbandes, Frau Dr. Hansen, auf die Stellungnahme der Wirtschaftsverbände, als diese auch von personellen Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten in den Betrieben redeten, wie folgt:Dabei schrecken die Verbände weder vor logischen Kurzschlüssen noch vor Diffamierung zurück.Sie ergänzt:Nicht die verstärkte Förderung von Frauen, sondern derart bornierte Äußerungen stellen eine ernsthafte Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland dar.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte nicht.Äußerungen zur Frauenförderung, wie Sie sie tun, Frau Merkel, werden vom Katholischen Deutschen Frauenbund als unlogisch, diffamierend und borniert bezeichnet. Sie sollten sich als Frauenministerin dringend überlegen, auf welcher Seite Sie stehen: auf der Seite derer, die, ideologisch verbrämt, mit scheinheiligen wirtschaftspolitischen Argumenten weiterhin Rollenklischees gegen die Frauen verbreiten, oder auf der Seite der berechtigten Interessen von Frauen, wie es sich für eine ordentliche Frauenministerin gehören würde.
Mittlerweile spüren die Frauen in der Bundesrepublik Deutschland, daß sie sich auf ihre Frauenministerin nicht verlassen können.In der Geschichte Deutschlands gab es zweimal den Aufruf der Frauen, landesweit zu streiken. Das war 1911 zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts, und das war 1994, im März, nach zwölf Jahren Kohl-Regierung. Frauen solidarisierten sich in vielen Aktionen am 5. und 8. März; aber sie solidarisierten sich nicht mit der Frauenministerin. Frau Merkel wurde auf dem Bonner Münsterplatz von diesen Frauen ausgepfiffen. Ich sage Ihnen: Diese Frauen haben sehr gut gewußt, warum.Und wer, wie Sie es tun, am 12. November 1992 in einem Artikel in der „Rheinischen Post" über die Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt den Frauen rät, sie müßten Druck machen, wenn sie vorankommen wollen, sich aber am 8. März 1994, wenn Frauen Druck machen wollen, gegen den Frauenstreiktag ausspricht mit der Begründung — nachzulesen in der „Bonner Rundschau" —, er beziehe sich viel zu einseitig auf die Arbeitswelt, der spielt bei diesem Hü und Hott nicht nur mit den Sorgen und Nöten der Frauen, sondern hat auch Wesentliches, was zur Frauendiskriminierung gehört, nicht verstanden.
Wenn Sie als Frauenministerin den Frauenstreiktag diskriminieren, weil er sich zu einseitig auf die Arbeitswelt beziehe, dann sitzen Sie, Frau Merkel, in diesem Fall jenen Ideologen auf, die mit diesem Argument stets versuchen, die Frauen nach dem diffamierenden Motto zu spalten, wer sich für erwerbstätige Frauen einsetze, diskrimiere zugleich die nichterwerbstätigen Frauen; dieses ist blanker Unsinn.
Es geht in dieser Debatte eben nicht urn die Pflege von Ideologien, sondern um Chancengleichheit, aber auch um Tatsachen und Zahlen. Als der sächsische Sozialminister Geisler im März seinen Sozialbericht vorstellte, hat er mit Stolz darauf verwiesen, daß die Frauen in den neuen Bundesländern im Durchschnitt ein Viertel mehr Rente als die westdeutschen Rentnerinnen beziehen und gesagt, daß dies dank der durchgängigen Erwerbsbiographie und der hohen Frauenbeschäftigung in der ehemaligen DDR so sei.
Ich sage Ihnen: Bei 60 % Anteil der Frauen an der Arbeitslosenzahl in den neuen Bundesländern wird es in Zukunft keinem sächsischen Sozialminister mehr möglich sein, so eine Bilanz vorzulegen.
Weil in unserem System die individuelle Erwerbstätigkeit von zentraler Bedeutung auch für alle weiteren existenzsichernden sozialen Leistungen ist — ich habe bisher überhaupt keine Vorlage der Bundesregierung gesehen, mit der sie diesen Zusammenhang verändern will —, kommt der Benachteiligung von Frauen im Erwerbsleben eine zentrale politische Bedeutung zu.Das gilt auch, Frau Nolte, für den Wiedereinstieg in den Beruf nach einer Familienarbeit. Sie haben das Beispiel Ehrenamt genommen. Ich sage Ihnen: Was da im Laufe der Zeit mit dem Gleichberechtigungsgesetz passiert ist, ist schlimm. Sie geben diesen Frauen, die nach einer Familienarbeit wieder in den Beruf einsteigen möchten, nicht mehr die Chance, ihre Qualifikation für den Wiedereinstieg zu nutzen, sondern Sie verlassen auch diesen von Ihnen immer vertretenen Weg.
Sie hätten eine so gute Gelegenheit gehabt, mit dem Gleichberechtigungsgesetz eine zentrale politische Maßnahme hier vorzuführen. Sie haben diese Chance nicht genutzt. Sie haben Millionen Frauen in Ost und West mit diesem Gleichberechtigungsgesetz im Stich gelassen,
Metadaten/Kopzeile:
19156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Edith Niehuisund das in einer Zeit, in der Arbeitsplätze knapp geworden sind und in der die wirtschaftliche Situation schwieriger wird. Gerade jetzt hätten die Frauen ein gutes Gleichberechtigungsgesetz sehr gut gebrauchen können. Weil Frauen in Ost und West so ein Gesetz nicht verdient haben, werden wir diesem Gesetz nicht zustimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Frau Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes stellt fest: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. " Die rechtliche, vor allem aber wirtschaftliche und soziale Realität entspricht den Anforderungen dieser Verfassungsbestimmung bis heute nicht. Nach einschlägigen Untersuchungen gilt in Ost- wie in Westdeutschland nach wie vor:Das Durchschnittseinkommen berufstätiger Frauen ist erheblich niedriger als das der Männer.Die Abschottung der Berufe nach dem Geschlecht ist immer noch sehr stark. Dienstleistungsberufe werden vorwiegend von Frauen, technikorientierte Berufe bzw. Metall- und Elektroberufe überwiegend von Männern ausgeübt.Frauen sind häufiger in den unteren und seltener in den oberen Berufspositionen vertreten als ihre männlichen Kollegen.Frauen üben wesentlich seltener als Männer qualifizierte Tätigkeiten im Bereich neuer Technikenaus.Frauen nehmen seltener an Weiterbildungsmaßnahmen teil. — Der verfassungsrechtliche Gleichberechtigungsgrundsatz harrt also immer noch der Verwirklichung.Wir verabschieden heute ein Gesetz, das eine wichtige Lücke schließt. Dieses Gesetz strebt an, erstens die berufliche Förderung von Frauen, die in der Bundesverwaltung oder in den Bundesgerichten tätig sind, zweitens die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer und drittens die verstärkte Mitwirkung von Frauen in Gremien. Diese Ziele sollen verwirklicht werden durch Förderpläne und Frauenbeauftragte, durch Ergänzungen des Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrechts, durch mehr Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmervertretungen im Bereich Frauenförderung, durch Änderung der Schadenersatzregelung in § 611a BGB sowie durch Regelungen zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und durch Bestimmungen zur Berufung und Entsendung von Frauen und Männern in Gremien, auf die der Bund Einfluß hat. Das vorliegende Gesetz kann also durchaus zu einem schlagkräftigen Instrument für die faktische Durchsetzung der Gleichberechtigung werden, wenn es richtig umgesetzt wird. Ich beschränke mich hier auf drei zentrale Punkte.Erstens. Die wichtigste Neuerung sind die verbindlichen Zielvorgaben für die Frauenförderpläne, die in allen Dienststellen erstellt werden müssen. Nach drei Jahren muß dann vor der nächsthöheren Dienststelle der Dienststellenleiter Rechenschaft über die Erfüllung der verbindlichen Zielvorgaben ablegen. Die verbindlichen Zielvorgaben für die Frauenförderung, wie wir sie vorsehen, haben den Vorteil, daß der Einstellende oder Befördernde bei jeder einzelnen Entscheidung frei ist, die jeweils qualifizierteste Person — Frau oder Mann — auszuwählen. Lediglich nach Ablauf des festgelegten Zeitraums muß die Vorgabe erreicht werden. Da die Zielvorgaben für die zeitliche und numerische Frauenförderung verbindlich ausgestaltet sind, da Sanktionen ausgelöst werden, wenn die Nichterfüllung der Kriterien nicht durch überzeugende Gründe gerechtfertigt werden kann, ist ein nachdrücklicher Anreiz für den Einstellenden bzw. Befördernden gegeben, sich um qualifizierte Bewerberinnen zu bemühen. Ob die Sanktion, die wir vorsehen, wirkungsvoll ist, wird die Zukunft erweisen. Machen wir uns doch nichts vor, meine Damen und Herren, auch von der SPD: Entscheidungen, die Einstellungen und Beförderungen betreffen, sind auch bei formal gleichwertigen Leistungsausweisen zum großen Teil subjektiv begründet. Deshalb gibt es immer Möglichkeiten, gesetzliche Vorgaben zu unterlaufen.Das gilt natürlich auch für eine qualifikationsbezogene Quotierung, wie sie von der SPD vorgeschlagen wird. Denn, wenn die Weisung gilt, bei gleicher Qualifikation bevorzugt Frauen einzustellen und zu befördern, dann droht die Gefahr, daß Qualifikation so definiert wird, daß die Auswahl auf die Person zutrifft, die man haben will.
Zweitens. Die nächste wichtige Verbesserung des Regierungsentwurfs durch die Koalitionsfraktionen betrifft den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Hier muß der öffentliche Dienst Vorreiter für die private Wirtschaft sein. Das ist sicherlich der frauenfreundlichste Teil des Gesetzes. Der Anspruch auf familiengerechte Arbeitszeiten, auf Teilzeitarbeitsplätze und auf die spätere Rückkehr zur vollen Stundenzahl ist ein Schritt in die richtige Richtung zur Flexibilisierung der individuellen Lebensarbeitszeit.
Alle Stellen müssen grundsätzlich auch für Vorgesetzten- und Leitungsfunktionen in Teilzeitform ausgeschrieben werden. Teilzeitbeschäftigung darf das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19157
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rinkberufliche Fortkommen nicht beeinträchtigen, und sie darf sich nicht nachteilig auf die dienstliche Beurteilung auswirken.In der Beratung durch die Koalitionsfraktionen wurde erreicht, daß bei der Ablehnung einer Teilzeitstelle zwingende dienstliche Belange angeführt werden müssen. Das bedeutet eine hohe Hürde. Auf Betreiben der F.D.P. sind die Kriterien für Einstellung, beruflichen Aufstieg und Qualifikation im öffentlichen Dienst — nämlich Eignung, Befähigung und fachliche Leistung — unangetastet geblieben. Allerdings ist ein Benachteiligungsverbot bei Hemmnissen für den beruflichen Aufstieg, nämlich im Blick auf Kindererziehungszeit und häusliche Pflege, explizit formuliert worden.Drittens. Eine weitere wesentliche Veränderung: Die Frauenbeauftragte muß nicht nur — wie im ursprünglichen Regierungsentwurf — bestellt, sondern sie kann auch von den weiblichen Beschäftigten gewählt werden. Jede Behörde hat also die Möglichkeit, zwischen Bestellung und Wahl plus Bestellung. Dadurch wird die Zusammenarbeit der Frauenbeauftragten mit der Dienststellenleitung verbessert, und es wird verstärkt zum Ausdruck gebracht, daß ihre Tätigkeit zur Aufgabe der Dienststelle gehört.Insgesamt gilt, meine Damen, meine Herren, daß der jetzige Gesetzentwurf überflüssigen bürokratischen Aufwand und Mißbrauchsmöglichkeiten zu verhindern sucht. Dies gilt im besonderen für den § 611 a BGB, eine Sanktion für Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot wegen des Geschlechts. Gerade auf Betreiben der F.D.P. wurde die Zahl der möglichen Anspruchsberechtigten reduziert und die Höhe der möglichen Entschädigung begrenzt.
Ich verhehle nicht, daß die F.D.P.-Fraktion lieber über einen Gesetzentwurf mit erheblich weniger Reglementierungen abstimmen würde.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte weiterreden.
Fazit: Meine Damen, meine Herren, dieses Gesetz löst nicht alle Probleme der strukturellen Benachteiligung von Frauen im Beruf und in der Gesellschaft. Aber es ist ein Einstieg, um die Chancen der Frauen in einigen Bereichen des Arbeitslebens zu verbessern. Unser Gesetzentwurf setzt eher auf Anreize, der SPD-Entwurf demgegenüber auf Dirigismus und Strafen. Im SPD-Entwurf ist ein vernünftiger Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen von Frauen und den plausiblen Interessen der privaten Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes nicht hergestellt. In einem Punkt stimme ich allerdings mit der SPD überein: Von der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern sind wir in dieser Gesellschaft noch weit entfernt.
Die F.D.P. ist aber für andere Mittel und Wege als die SPD. Nicht schon die Förderung von Frauen löst die Probleme der strukturellen Benachteiligung, sondern nur eine grundlegend neue Definition der traditionellen Geschlechterrollen. Das Haupthindernis für die Gleichstellung von Frauen und Männer in dieser Gesellschaft ist die bis heute gültige Unvereinbarkeit von Familienarbeit und Berufsarbeit.
Die traditionelle Rollenverteiligung im familiären Alltag ist immer noch so, daß die Erziehung eines Kindes, unabhängig davon, ob die Mutter erwerbstätig ist oder nicht, vorrangig Aufgabe der Frau ist. Mit anderen Worten: Solange nicht die berufliche Arbeit einerseits und die Arbeit in der Familie andererseits auf Männer und Frauen gleichberechtigt aufgeteilt sind, solange bleibt die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben und von Männern im Familienleben bestehen.
Wir müssen hier die Grundfrage beantworten: Wie erreichen wir, daß Männer mehr Familienarbeit leisten? Der Rechtsanspruch auf qualifizierte Kinderbetreuungsmöglichkeiten ab 1996 ist ein wichtiger Schritt zur Gleichstellung.
Der andere, aber wichtigere Schritt muß die Flexibilisierung der individuellen Wochenarbeitszeit, Jahresarbeitszeit und Lebensarbeitszeit sein, wie die F.D.P. das schon lange fordert.
Erst sie ist die Voraussetzung für eine wirkliche Gleichberechtigung; denn sie gibt Männern und Frauen die Möglichkeit, ihr gemeinsames Zeitbudget so zu verwenden, daß Berufs- und Familienarbeit ohne Diskriminierung der Frauen vernünftig aufgeteilt werden können.
Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Geschäftslage möchte ich sagen: Nach den mir vorliegenden Wortmeldungen wird es etwa kurz vor 14 Uhr zu der beantragten namentlichen Abstimmung kommen.
Ich erteile nunmehr unserer Frau Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, dessen Vorteil in weiten Bereichen allein darin besteht, dem unbefriedigenden Ist-Zustand bei der Teilhabe von Frauen an Berufen im öffentlichen Dienst Legitimität zu verschaffen.Der mit der Erarbeitung und Diskussion dieses Gesetzentwurfs verbundene hohe zeitliche Aufwand wäre zweifellos einer besseren Sache wert gewesen. Weil die Koalitionsfraktionen das in Anbetracht ihrer Zielstellung, Frauen zu fördern, ohne Männerprivilegien anzutasten, natürlich wissen, haben sie den Gesetzentwurf mittels undemokratischer Geschäftsordnungsspielchen durchgezockt. Nachdem die Opposition bereits in der ersten Lesung ihre Kritik am
Metadaten/Kopzeile:
19158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Petra Blässhalbherzigen Versuch geäußert hatte, die bestehende Benachteiligung von Frauen in einem eng begrenzten Bereich etwas abzumildern, reichte die CDU/CSU-Fraktion mehr als 20 Änderungsanträge ein, von denen nach dem Prinzip des Überraschungseies der größte Teil in die Rubrik „Spielzeug für Emanzipationsblockierer" gehört.Obwohl auch die Sachverständigenanhörung im Ausschuß für Frauen und Jugend die Defizite bestätigte, wurden die entscheidenden Mängel bis heute nicht behoben. In Anbetracht der feststehenden Mehrheiten in diesem Hause hat sich die PDS/Linke Liste deshalb entschlossen, heute ihrerseits Änderungsanträge zur Abstimmung zu stellen, wohl wissend, daß auch derartige Reparaturversuche aus einem zahnlosen Entwurf kein Gesetz mit Biß machen werden.Wir halten die Frauenförderung, die nur auf den Sektor des öffentlichen Dienstes bezogen ist, in Anbetracht des Ausmaßes, das die Benachteiligung von Frauen im Erwerbsleben bereits erreicht hat, für völlig unzureichend. Die Tatsache, daß Frauen zur Zeit einen unproportional hohen Anteil an den Arbeitslosen ausmachen und dies besonders auf die frauenfeindlichen Praktiken der privaten Wirtschaft zurückzuführen ist, verlangt doch geradezu nach deren Einbeziehung in den Geltungsbereich staatlich sanktionierter Frauenförderung. Das Scheinargument, dies im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft nicht leisten zu können, und die Unterstellung, damit sozialistischer Mißwirtschaft Tür und Tor zu öffnen, sind bei Gegnern wirklicher Gleichstellung ebenso beliebt wie falsch. Ich erinnere nur an die starre und sehr klare Antidiskriminierungsgesetzgebung in den Vereinigten Staaten.Im übrigen hat der Vertreter eines Großkonzerns bei der Sachverständigenanhörung im Ausschuß für Frauen und Jugend durchaus bewiesen, daß frauenfördernde Maßnahmen, so unzureichend sie auch sind, keine Wettbewerbsnachteile bedeuten müssen.Um die Beseitigung von Benachteiligung der Frauen im Erwerbsleben aktiv voranzubringen, fordern wir eine positive Diskriminierung von Frauen durch Quotierung. Diese soll einer wirklichen Geschlechterparität dienen, worunter wir nicht nur eine Chancen-, sondern auch eine Ergebnisgleichheit ohne Anpassung an männliche Muster und Werte verstehen.Wir fordern ferner, bei der Festlegung von Kriterien für die bevorzugte Einstellung von Frauen das durch Sozialisation erworbene weibliche Arbeitsvermögen als positives Beurteilungskriterium anzuerkennen, um die in der Gesellschaft noch vorhandene Unterbewertung der vorrangig durch Frauen geleisteten Familien- und Hausarbeit zu beseitigen.Natürlich stellen wir heute erneut den Antrag, endlich alle ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse zu verbieten und jede Stunde Arbeitszeit unter den Schutz des Arbeits- und Sozialrechts zu stellen.Sie sehen: Die Skala der Artikel des Entwurfs, die dringend geändert werden müßten, ist weit. Ich kann nur noch auf zwei weitere Dinge eingehen. Das erste betrifft die Rechtsstellung der Frauenbeauftragten, die im Regierungsentwurf mehr als Handlangerin der Arbeitgeber ausgestaltet ist. Zumindest die Wahl durch alle weiblichen Beschäftigten, die Unabhängigkeit, die bezahlte Freistellung der Frauenbeauftragten und die ausdrückliche Beschränkung dieser Funktion und ihrer Vertretung auf weibliche Beschäftigte halten wir für unverzichtbar.Zum Abschluß muß ich erneut die Art und Weise ansprechen, in der die Regierung das Problem der sexuellen Belästigung angehen will. Trotz vielfältiger Kritik ist die Formulierung, daß Frauen eine sexuelle Belästigung erkennbar ablehnen müssen, noch immer erhalten. So viel frauenfeindliche Grundeinstellung in einem Entwurf, der zumindest dem Namen nach Diskriminierung aufheben will, ist eine Unverschämtheit.Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, daß die vielen Wahlen in diesem Jahr Frauen die Gelegenheit geben, dafür die rote Karte zu zeigen.Ich danke.
Meine Damen und Herren, gemäß § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung hat jetzt das Wort zu einer Zwischenbemerkung unser Kollege Jürgen Koppelin.
Ich wollte vorhin bei der Rede der Kollegin Dr. Niehuis darauf aufmerksam machen, daß das, was sie für die SPD gefordert hat, nämlich die Quote, ja wohl so nicht stimmen kann. Ich darf aus den „Kieler Nachrichten" vom Montag zitieren. Es geht um einen Bericht über den SPD-Landesparteitag in Schleswig-Holstein, Frau Kollegin. Da heißt es:
Vergeblich mühte sich da der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rudolf Dreßler, die Nord-Genossen zur Mäßigung zu bringen.
— Das gelingt sowieso nicht. Dann heißt es weiter:
Für eine Zerreißprobe — — so sagt Dreßler —
„bis in den letzten Ortsverein" könne da allein die Forderung nach der Frauenquote in der Privatwirtschaft führen.
Und dann weiter:
Doch der Mahner blieb weitgehend ungehört.
Ich wollte zumindest das dem Plenum doch zur Kenntnis geben.
Zu einer Entgegnung, die nach der Geschäftsordnung zulässig ist, hat jetzt das Wort unsere Frau Kollegin Dr. Edith Niehuis.
Herr Kollege Koppelin, erstens lese ich nicht die „Kieler Nachrichten", und zweitens war ich nicht auf dem Landesparteitag der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19159
Dr. Edith Niehuisschleswig-holsteinischen SPD. Insofern kann ich dazu nichts sagen.Was ich verteidigt und vorgestellt habe, ist das Gleichstellungsgesetz der SPD-Bundestagsfraktion, das wir hier angenommen haben. Insofern kann sich das, was Sie hier erzählt haben, mit dem, was ich gesagt habe, überhaupt nicht decken.
Meine Damen und Herren, noch eine Zwischenbemerkung, diesmal von unserer Frau Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast.
Ich würde jedem Kollegen, der auf einen Landesparteitag oder auf andere regionale Ereignisse Bezug nimmt, raten, sich nicht aus der Presse, sondern bei den dort Anwesenden aus erster Quelle zu informieren. Dann hätten Sie, Herr Kollege Koppelin, erfahren, daß der Kollege Dreßler sehr wohl gehört wurde und nach der Diskussion mit einem derartig langen Beifall der Delegierten bedacht wurde, daß er sich noch einmal extra erheben mußte.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt unsere Frau Kollegin Dr. Maria Böhmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich merke, in der SPD-Fraktion ist doch eine gewisse Unruhe aufgekommen, dank des Hinweises des Kollegen Koppelin.
Trotzdem sollten wir uns vielleicht wieder unserem ureigensten Thema zuwenden.Bevor ich das aber tue, möchte ich doch noch eine Bemerkung machen. Wir Frauen reklamieren so oft, einen anderen politischen Stil zu haben. Als ich das erste Mal hier im Parlament die Haushaltsdebatte — Stichwort: Frauenpolitik — verfolgt habe, sind mir schon die ersten Zweifel gekommen. Ich muß sagen: Sie kommen mir so manches Mal. Frau Niehuis, wir haben im Ausschuß, so denke ich, in großer Sachlichkeit und auch ein Stück aufeinander hörend diskutiert. Aber ich habe heute doch mit großem Bedauern festgestellt, daß Sie die Auseinandersetzung in der Sache Mn zu einer Auseinandersetzung um die Person der Frauenministerin verlagert haben. Das halte ich nicht für gerechtfertigt.
Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob Ihnen die Sachargumente ausgehen.
Schwierige Verhandlungen liegen hinter uns, und die Frage, ob es gelingt, das Zweite Gleichberechtigungsgesetz durchzusetzen, hat sich in der Tat nicht nur einmal im Laufe der Beratungen gestellt. Wir haben mit so manchem Gegenargument zu kämpfen gehabt, und auch so manches Wunderliche war dabei: Es gab die Forderung nach Männerförderung,
es gab ein Phantom des Bewerbungstourismus, es gab auch das Gespenst des Mißbrauchs, aber es gab vor allen Dingen Geschäftsordnungsdebatten. Insofern haben wir uns im Frauenausschuß dreimal darum bemüht, dieses Gesetz zu verabschieden. Es ist im Plenum in der vergangenen Woche abgesetzt worden, was ich an und für sich mit großem Bedauern gesehen habe, denn die Debatte, die wir heute führen, hätten wir schon letzte Woche führen sollen.
Die Phantasie an der Stelle von Verhindern und Behindern hat oft keine Grenzen gekannt. Ich wünsche mir die Phantasie jetzt, bei der Durchsetzung der Gleichberechtigung in der Lebenswirklichkeit. Alle sind dazu gefordert.
Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück — so wurde vor kurzem in einem Filmbericht die Situation der Frauen in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt in Deutschland gekennzeichnet. Aber wir Frauen machen in der Tat derzeit die Erfahrung, daß wir gegen so manchen Rückschritt zu kämpfen haben. Wenn es Rückschritt gibt, müssen wir dagegen Flagge zeigen, und deshalb ist es so wichtig, dieses Gleichberechtigungsgesetz heute zu verabschieden und nicht irgendwann oder in vier Jahren, worauf es die SPD ganz deutlich anlegt. Heute gilt es, für Frauen in Deutschland Flagge zu zeigen, um Benachteiligungen abzubauen und um bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu schaffen.
Die zentrale frauenpolitische Erfahrung lautet: Maßnahmen zur beruflichen Förderung von Frauen reichen allein nicht aus, notwendig ist die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und zwar nicht nur für Frauen, auch für Männer ist sie notwendig. Diese Erkenntnis setzt der Gesetzentwurf um.Wir sind zur Zeit in einer Phase enormer Strukturveränderungen in Wirtschaft und Verwaltung. Wir sollten diese Strukturveränderungen auch als Chance begreifen, sie für Frauen zu nutzen und die Weichen dafür zu stellen, daß der Strukturwandel die Lebensvorstellungen von Frauen in Zukunft besser berücksichtigt. Da sind Flexibilität und neues Denken angesagt. Die alten Rezepte taugen nicht immer, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen.
Metadaten/Kopzeile:
19160 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Maria BöhmerFrauenförderung darf nicht isoliert betrachtet werden. Wir brauchen eine Verbindung von Frauenförderung und Personalplanung. Hier hat die Bundesfrauenministerin mit großer Hartnäckigkeit ein Konzept verfolgt, das die Frauenförderung in den Dienststellen des öffentlichen Dienstes des Bundes verankert.
Ich sage dafür ganz herzlichen Dank, denn ich glaube, das ist nicht nur für den öffentlichen Dienst beispielgebend, es ist darüber hinaus auch eine deutliche Anregung für den Bereich Wirtschaft. Wir haben in den Beratungen durchgesetzt, daß wir verbindliche Zielvorgaben haben, daß wir Frauenbeauftragte mit entsprechenden Kompetenzen haben, die, um ihre Akzeptanz bei den Betroffenen, sprich: bei den Frauen, zu erhöhen, jetzt nicht nur bestellt, sondern auch gewählt werden können. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir haben auch deutliche Fortschritte im Bereich Teilzeitarbeit gemacht und damit Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erzielt.
Dieser Gesetzentwurf bringt erstmals einen grundsätzlichen Rechtsanspruch für Teilzeitbeschäftigung und für Beurlaubte und Teilzeitbeschäftigte einen Abbau von Benachteiligung. Hierin sehe ich einen großen Fortschritt, den dieses Gesetz für alle bringt.
Ich meine auch, daß wir es mit einem noch beachtlichen Entwicklungspotential gerade im öffentlichen Dienst zu tun haben. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten im unmittelbaren Bundesdienst beträgt zur Zeit 11,4 %. Da ist noch viel Luft drin, da kann noch viel geschehen. Dafür haben wir jetzt dieses Gesetz als Grundlage.Hinzu kommt, daß sich Teilzeitarbeit in Zukunft nicht mehr nur für diejenigen realisiert, die in weniger attraktiven Positionen sind. Sie wird nicht mehr für die Telefonistin und die Sachbearbeiterin allein attraktiv sein, auch die Abteilungsleiterin und der Abteilungsleiter werden in Zukunft für Teilzeitarbeit alle Möglichkeiten eröffnet erhalten. Ich glaube, da gilt es die Tabus zu brechen, die wir in diesem Bereich noch haben.Ich möchte noch einige Worte zum Gesetzentwurf der SPD sagen, denn Sie loben ihn stets. Daher bin ich auch ein Stück neugierig auf die Anhörung gewesen. Sie haben uns empfohlen, wir sollten die Anhörung berücksichtigen. Wir haben das in etlichen Punkten getan.Ich kann Ihnen nur nahelegen, noch einmal im Anhörungsprotokoll nachzulesen. Denn das, was die Experten — wohlgemerkt, die Experten, die gerade Sie eingeladen hatten — sagten, ist eine Entzauberung des Traums der SPD von einem umfassenden Gleichberechtigungsgesetz.
— Liebe Frau Wolf, Sie sagen immer: In diesemGleichberechtigungsgesetz ist eine Quote gegeben.Sie wissen, daß die Vertreterin der ÖTV in aller Deutlichkeit gesagt hat: Es sind zwar verbindliche Regelungen enthalten, aber keine Quoten. — Das ist sehr deutlich mit Blick auf den Gesetzentwurf der SPD gesagt worden.
— Gerne, ich empfehle Ihnen, die Seiten 57/89 nachzulesen. Der einzige Punkt, bei dem Sie mit der Quote recht haben, ist der Vorschlag, die Ausbildungsplätze zu 50 % an junge Frauen und zu 50 % an junge Männer zu vergeben.Die „Süddeutsche Zeitung" steht bekanntermaßen nicht in dem Verdacht, gegen Frauenförderung zu sein. Sie hat sich in einem Artikel recht ausführlich mit diesem Ansatz beschäftigt und schreibt — ich zitiere —:... flächendeckendes Halbe-Halbe bei der Vergabe von Lehrstellen per Gesetz? Da fassen sich Ausbildungsleiterinnen und Personalchefs an den Kopf. Auch weibliche Azubis finden, daß mit diesem Ansatz, gleiche Rechte zu erreichen, das Problem zu pauschal angegangen, zu kurzsichtig und wenig situationsbezogen betrachtet werde.Die „Süddeutsche Zeitung" weist die „Rasenmäher-Methode" vom flächendeckenden LehrstellenHalbe-Halbe per Gesetz als garantiert untauglich zurück.
Sie hatten den Experten Dr. Klaus Bertelsmann eingeladen. Er hat sich mit dem in der Tat spannenden Ansatz der Auftragsvergabe befaßt. Bertelsmann sagt: Die Auftragsvergabe ist im SPD-Entwurf angesprochen, allerdings in einer Weise, wie sie wohl schwer wirksam werden kann. — Ich frage mich: Warum soll das alles so glänzen, wenn es nur so schwer wirksam wird?Ich denke, wir sollten zu pragmatischen Regelungen kommen, zu Regelungen, die eine Chance haben, die Situation der Frauen in der Lebenswirklichkeit, im Beruf in der Tat zu verbesseren. Ich sage: Dann greift das Gesetz, das die Bundesregierung vorgelegt hat und das wir im Ausschuß beschlossen haben.
Trugbilder helfen nicht weiter, liebe Kolleginnen, und schon gar nicht in der Frauenpolitik. Trugbilder werden uns von der SPD in vieler Beziehung leider oft vorgegaukelt. Wer in die Länder sieht, weiß, wie mancher lila Luftballon, den sie aufsteigen lassen, zerplatzt.Ich kann nur sagen: Das SPD-Parteiprogramm ist ein trauriges Kapitel. Denn in ihm wurde zunächst überhaupt nichts zu Frauenfragen gesagt; erst auf heftigste Intervention von Ihnen hat Scharping diesem Problembereich einen Absatz gewidmet.
Ich lese manchmal SPD-Programme. Sie sind ab undzu ganz spannend, besonders an der Stelle, an der klarwird, daß die SPD für die Mehrheit der Frauen, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19161
Dr. Maria Böhmernicht berufstätig sind, keine Zeile übrig hat. Das halte ich für einen Offenbarungseid Ihrer Partei.
Mit dem Gleichberechtigungsgesetz kommt die Bundesregierung einem dreifachen Auftrag nach, und zwar dem Auftrag, der aus dem Einigungsvertrag, aus der Koalitionsvereinbarung und aus der Empfehlung der Verfassungskommission stammt. Mit der Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes machen wir heute einen wichtigen Schritt voran in punkto bessere Verwirklichung von Gleichberechtigung im Lebensalltag. Wir werden eine namentliche Abstimmung haben, und ich darf alle daran erinnern, daß sie mit ihrer Stimmabgabe deutlich machen, wie ernst sie es mit Frauenförderung meinen. Wer dieses Gesetz ablehnt, tut den Frauen in Deutschland keinen Gefallen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Frau Hanna Wolf.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Dr. Böhmer, es ist schön, daß Sie unsere Papiere so ausführlich lesen; besser wäre es gewesen, Sie hätten auch aus Ihrer Erfahrung als langjährige Frauenbeauftragte mehr übernommen. Was nützt das Lesen, wenn man daraus nichts lernt?
Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen aber noch etwas zum Ablauf der Beratung der vorliegenden Gesetzentwürfe sagen: Die SPD-Fraktion mußte sich im federführenden Ausschuß für Frauen und Jugend ausreichende Beratungszeit dadurch erstreiten — das Gesetz sollte auch ohne Rücksicht auf die mitberatenden Ausschüsse durchgepeitscht werden —, daß sie unter Protest den Ausschuß verließ und den Geschäftsordnungsausschuß zur Gewährung der ihr versagten parlamentarischen Rechte anrief. Dieser gab uns dann auch recht. Die Beschlußfassung wurde aufgehoben und eine erneute Beratung verlangt.Das heute von der Bundesregierung eingebrachte sogenannte Zweite Gleichberechtigungsgesetz liegt in einer Fassung vor, die so tut, als sei seit der Einbringung vor einem halben Jahr nichts geschehen — nicht die massive Kritik von Frauenpolitikerinnen, Gewerkschafterinnen, Juristinnen, nicht die Sachverständigenanhörung im Frauenausschuß des Bundestages, in der selbst die von der Koalition benannten Sachverständigen die Unzulänglichkeit des Regierungsentwurfs herausstellten.Beispielsweise äußerte sich Dr. Ute Sacksofsky, tätig beim Bundesverfassungsgericht und von Ihnen benannte Sachverständige, wie folgt:Was der Regierungsentwurf regelt, ist Frauenförderung ohne Biß.Oder Professor Battis, auch von Ihnen benannt:Der Regierungsentwurf ist weit hinter dem zurückgeblieben, was man verfassungsrechtlich hätte machen können.Frau Dr. Böhmer, „hätte machen können" ! —Rechtsanwalt Dr. Bertelsmann faßte wie folgt zusammen:Der Regierungsentwurf ist nicht nützlich, aber er ist auch nicht schädlich.Ich meine aber, eine Frauenministerin, die ein nutzloses Gesetz einbringt, schadet den Frauen. Sie hat ihren Auftrag nicht erfüllt, sie hat die Gleichstellung von Frauen nicht vorangebracht.
Schon der Titel Ihres Gesetzes ist irreführend: „Gesetz zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern" . Damit fühlen sich alle Frauen angesprochen. Tatsächlich ist eine Frauenförderung aber nur für 1 % der erwerbstätigen Frauen vorgesehen — Sie sehen, ich habe schon etwas aufgerundet, wir hatten noch weniger ausgerechnet —, für 99 % geschieht nichts; denn das Gesetz gilt nur für die Bundesbeamtinnen und sonstigen Beschäftigten des Bundes.
Durch die Privatisierung der Bundesbahn und die geplante Privatisierung der Bundespost hat sich der Anwendungsbereich von zunächst 3 % auf 1 % der weiblichen Erwerbsbevölkerung reduziert. Das sind im wesentlichen die Frauen in den Bundesministerien und in der Bundeswehr.Jetzt wird Frau Merkel kommen und sagen, daß das nicht stimme. Im Bereich der sexuellen Belästigung gilt Ihr Gesetz, Frau Merkel, zwar auch für die Privatwirtschaft, aber Sie werden doch wohl nicht behaupten wollen, daß das Frauenförderung ist. Und die Schadenersatzansprüche im Falle von Benachteiligungen bei Einstellung und Beförderung gehen in Ihrem Gesetz hinter das heute geltende Recht zurück. Ich bleibe dabei: Sie haben keine einzige Frauenförderungsmaßnahme für 99 % der erwerbstätigen Frauen vorgesehen.So sieht es auch der DGB. Ich zitiere ein Mitglied des DGB-Bundesvorstandes, Regina Görner — sie ist nicht Mitglied der SPD —:Damit macht sich die Bundesregierung frauenpolitisch völlig lächerlich.Deswegen haben wir heute auch namentliche Abstimmung verlangt, weil wir diese Frauenverdummung hier nicht mitmachen wollen, und wir werden deswegen auch dagegenstimmen.
Meine Damen und Herren, haben wir dafür in der Verfassungskommission die endlosen Debatten zur Neufassung des Art. 3, zur Gleichberechtigung geführt? Die Verfassungskommission hat folgendes beschlossen:
Metadaten/Kopzeile:
19162 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Hanna WolfDer Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.Dieser Verfassungssatz ist nicht auf 1 % der weiblichen Erwerbsbevölkerung beschränkt. Nein, er betrifft alle Frauen — egal, in welchem Arbeitsverhältnis. Er betrifft auch und gerade die Frauen, die keinen Arbeitsplatz finden, weil ihnen Männer vorgezogen werden — egal, ob von öffentlichen oder von privaten Arbeitgebern.Der Verfassungssatz richtet sich auch gegen die gängige Praxis, Frauen als letzte einzustellen, schlechter zu bezahlen und als erste zu entlassen, wie es jetzt überall geschieht. Diskriminierungen im Erwerbsleben, ob in den Behörden oder in den Betrieben, sollen abgeschafft und die Gleichberechtigung durch aktive Frauenförderpolitik erreicht werden, so der Geist dieses neuen Verfassungsartikels — wenn er denn kommt.Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf der SPD für ein Gleichstellungsgesetz haben wir ein solches Konzept für eine aktive Gleichstellungspolitik vorgelegt. Frauenfreundliches Handeln wird honoriert, frauenfeindliches, diskriminierendes Verhalten wird mit Sanktionen belegt. Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, mögen das Bürokratismus nennen. Ich nenne das gelungene Frauenpolitik.
Unser Gesetzentwurf läßt nicht mehr zu, daß Frauen die Hauptleidtragenden der Arbeitslosigkeit sind. Frauen müssen an Arbeitsförderungsmaßnahmen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit beteiligt werden. Frauen dürfen bei Entlassungen nicht überproportional betroffen sein. Frauen müssen bei gleichwertiger Qualifikation gegenüber Männern bevorzugt eingestellt und befördert werden.
Außerdem sehen wir eine 50%ige Ausbildungsplatzquote für Frauen vor. Dabei bleiben wir auch. Das ist — gerade auch von den Gewerkschaften — eine seit langem erhobene Forderung und eine sehr wichtige Passage in unserem Gesetz.
Frauenförderung gilt bei uns für den öffentlichen Dienst und die Privatwirtschaft: In Betrieben und Behörden müssen Frauenförderpläne erstellt werden, die verbindliche Vorgaben zur Frauenförderung enthalten. Frauenbeauftragte müssen eingesetzt werden, um die Durchsetzung der Frauenförderpläne zu gewährleisten und Diskriminierungen entgegenzuwirken. Frauenbeauftragte werden von den weiblichen Beschäftigten gewählt und mit dem Recht auf Freistellung von anderen Aufgaben ausgestattet. Sie haben umfangreiche Initiativ- und Mitwirkungsrechte.Durch eine Beweislastumkehr bei Diskriminierungen von Frauen und durch Schadensersatzansprüche in Höhe von mindestens drei Monatsgehältern wird diskriminierenden Einstellungs- und Beförderungspraktiken effektiv entgegengewirkt. Dagegen werden Unternehmen, die Frauen gezielt fördern, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt. Ich denke, das ist eine vernünftige Position. Die Unternehmen werden merken, daß sie sehr gut damit fahren, wenn sie Frauen fördern.
In unserem Gesetz werden Frauen am Mitbestimmungsprozeß durch eine Quotierung der Betriebs- und Personalräte beteiligt. Darüber hinaus wird endlich dem weitgehenden Ausschluß von Frauen in öffentlichen Entscheidungsgremien ein Ende gemacht. Wir führen die Quote für die obersten Bundesgerichte, für Hochschulgremien, Rundfunkanstalten und andere Gremien im Bereich des Bundes ein. Die Diskussion um die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts haben wir gerade lebhaft im Zusammenhang mit § 218 miterlebt. Die SPD hat endlich dafür gesorgt, daß jetzt tatsächlich mehr Frauen am Bundesverfassungsgericht sind. Aber wir wollen das durch ein Gesetz regeln: Quotierung auch bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, Sie sehen, daß die Quote bei uns ein zentrales Instrument zur Herbeiführung der Gleichstellung von Frauen und Männern ist. Obwohl Sie selbst in Ihren Parteien landsmannschaftliche und andere Quoten haben, diffamieren Sie ausgerechnet die Frauenquote als angeblich frauenfeindlich. Das lassen Sie sich, Frau Merkel, auf Ihrem Hamburger Parteitag auch noch unwidersprochen vorbeten.
Da hat wirklich ein klarstellendes Wort von Ihnen gefehlt.
Hätten Sie in Ihren Parteien — wie wir — die Frauenquote, dann kämen auch bei Ihnen in den nächsten Bundestag mehr Frauen und nicht — wie jetzt — weniger. Vielleicht gibt Ihnen das zu denken. Kommen diese Kolleginnen von Ihnen deswegen nicht wieder, weil sie weniger qualifiziert waren? Wann kapieren eigentlich auch die Frauen bei Ihnen mehrheitlich, daß sie hier einfach immer nur durch Männerseilschaften ausgebootet werden und daß dies mit der Qualifikation dieser Kolleginnen nichts zu tun hat?
— Wo ich lebe? Gott sei Dank in der SPD. Wir haben die Quote.
Wenn Sie in Ihren Parteien die Frauenquote nicht einführen, wenn Sie die Frauenquote als generelles Instrument der Frauenförderung ablehnen, dann werden Sie nie vorankommen, nicht als Partei und nicht die Frauen in Ihren Parteien. Liebe Kolleginnen von der Koalition, es könnte mir eigentlich egal sein, aber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19163
Hanna Wolfich bin der Überzeugung, mehr Frauen auch in Ihren Parteien würden der Politik guttun.
Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf macht Schluß mit den ewigen Bitten und Appellen, den Soll- und Kann-Vorschriften, auf die sich der Regierungsentwurf beschränkt. Die Bundesregierung macht Oberflächenretusche, sie hat kein Konzept und, so meine ich, will es auch nicht haben.Die Frauenbeauftragte gibt es bei Ihnen nur zum Nulltarif — dafür hat schon die F.D.P. gesorgt —, denn es muß überall gespart werden, und hier ganz besonders bei Frauen. Freistellung ist praktisch unmöglich. Ihre so großgeschriebene Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur Betreuung von Kindern gibt es nur dann, wenn dienstliche — oder wie es jetzt heißt: zwingend dienstliche — Belange dem nicht entgegenstehen. In unserem Entwurf dagegen haben Frauen und Männer mit Kindern einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und Beurlaubung ohne Wenn und Aber.Ich komme zum Schluß. Die große gesellschaftliche Reform des Ehe- und Scheidungsrechts in den 70er Jahren kam von der SPD.
Ich sage Ihnen: Auch die zweite große gesellschaftliche Reform, die Gleichstellung von Frauen, wird wieder von der SPD eingeleitet werden. Eine — davon gehe ich nach den Bundestagswahlen aus — SPDgeführte Regierung wird dieses Gleichstellungsgesetz wieder einbringen und umsetzen.
Der Frauenstreiktag am 8. März stand unter dem Motto „Uns reicht's! " Am Wahltag im Oktober werden die Frauen sagen: „Uns reicht diese Bundesregierung."
Meine Damen und Herren, Kollege Konrad Weiß möchte seine Rede gerne zu Protokoll geben.') Kann ich Übereinstimmung feststellen? — Danke sehr.
Dann erhält zu diesem Tagesordnungspunkt zuletzt unsere Frau Kollegin Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen und Jugend, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Art. 3 unseres Grundgesetzes sagt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Dies ist in unser Rechtssystem umgesetzt, aber es ist keine tatsächliche gesellschaftspolitische Realität; das ist heute an vielen Stellen gesagt worden.Deshalb, meine Damen und Herren und auch liebe Frau Niehuis, haben wir uns parteiübergreifend dafür entschieden, in Art. 3 des Grundgesetzes eine Ergänzung vorzunehmen, die sich mit der tatsächlichen') Anlage 2Gleichberechtigung befaßt. Sie wissen genausogut wie ich, daß Frauen aus CDU, SPD und F.D.P. daran gleichermaßen beteiligt waren. Ich bitte, das dann auch zu sagen.Es gibt gemeinschaftliche Interessen von Frauen in diesem Parlament. In der Diskussion über dieses Gesetz habe ich aber immer wieder bemerkt, daß es auch die Frage gibt: Was ist eigentlich Gleichberechtigung, und welche Wege wählen wir, um die Gleichberechtigung durchzusetzen? — Liebe Frau Niehuis, es ist einfach so, daß es in der politischen Realisierung unterschiedliche Ansätze gibt. Darüber müssen wir diskutieren, und wir haben sie auch gegenseitig zu akzeptieren.
Deshalb halte ich nichts davon, hier zu polemisieren und die Interessen von Frauen auseinanderzudividieren, denn Sie sprechen nicht für alle Frauen, wie auch ich nicht für alle Frauen spreche. Deshalb werden wir weiter politischen Streit haben.
Aber eines, Frau Niehuis, müßten wir am Ende der Legislaturperiode eigentlich voneinander wissen: Ich drücke mich vor den Auseinandersetzungen nicht.
Daß ich hier heute zum Schluß spreche, ist z. B. auch ein Ergebnis meines Lernens. Sie von der SPD-Seite haben nämlich in der haushaltspolitischen Debatte Bundesfinanzminister Waigel kräftig beschimpft, als er in der zweiten und dritten Lesung eines Haushalts einmal nicht als letzter gesprochen hat. Sie haben gesagt, er schätze nicht die Argumente der Opposition und drücke sich davor, darauf einzugehen. Sie müssen sich schon einigen, wann wer sprechen soll. Dann werden wir versuchen, auch darauf einzugehen.
Meine Damen und Herren, „Beharrlichkeit führt zum Ziel" , das ist ein altes Sprichwort. Beharrlichkeit war notwendig, um diesen Gesetzentwurf heute hier miteinander diskutieren zu können.Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Die gesellschaftlichen Realitäten haben sich seit der deutschen Einheit verändert, und dem muß natürlich auch ein Gleichberechtigungsgesetz in dieser Legislaturperiode Rechnung tragen. Wir stehen heute vor der Aufgabe, die politischen, die sozialen und die wirtschaftlichen Voraussetzungen für das nächste Jahrtausend zu schaffen. Dies hat die Bundesregierung in wesentlichen Gesetzentwürfen in den letzten Wochen getan.
Natürlich müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen: Ist es richtig, daß wir in einer Zeit, in der wir Deregulierung auf unsere Fahnen geschrieben haben, ein weiteres Gesetz machen, ein Gesetz zum Schutz und zur Förderung von Frauen? Ich habe immer wieder gesagt: Weil wir in unserer gesellschaftspolitischen Realität ungleiche Zustände haben, genau deshalb ist es wichtig, daß wir auch in dieser
Metadaten/Kopzeile:
19164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bundesministerin Dr. Angela MerkelZeit für Frauen weitere Gesetze machen, und deshalb beantworte ich diese Frage mit einem Ja. Aber daß sie in einer Zeit, in der Deregulierung notwendig ist, gestellt wird, das verstehe ich. Darüber müssen wir miteinander argumentieren.
Der Referentenentwurf dieses Gesetzes hat schon vor zwei Jahren wesentliche Dinge enthalten, die in der heutigen politischen Diskussion von außerordentlicher Wichtigkeit sind. Wir haben damals gesagt: Für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit notwendig. Damals sind wir an vielen Stellen auf erhebliche Vorbehalte gestoßen. Heute können wir sagen: Die Frauenpolitik war auf diesem Feld ein wirklicher Vorreiter. Teilzeitarbeit ist heute ein Diskussionsgegenstand nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer.Dies führt mich übrigens zu der Aussage, die ich für die Gleichberechtigungspolitik insgesamt als ganz wesentlich betrachte: Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft werden wir nur durchsetzen, wenn Männer und Frauen Änderungen in ihrem Leben vornehmen. Das heißt, auch die Männer müssen sich mehr auf Familienarbeit, auf Teilzeitarbeit und auf flexiblere Vereinbarkeit von Beruf und Familie einstellen.
Frau Niehuis, wenn Sie immer wieder sagen — Frau Wolf von der SPD und auch viele andere tun das genauso —, „Frauen in der Bundesrepublik Deutschland sind nichts weiter als enttäuscht über diesen Gesetzentwurf ", dann kann ich Ihnen nur erwidern: Sie vertuschen vor den Frauen, daß dieser Gesetzentwurf deutliche Fortschritte bringt.
Er bringt Fortschritte in den gesetzlichen Regelungen des öffentlichen Dienstes, der für andere Bereiche vorbildlich ist. Aber er bringt auch Fortschritte in Bereichen der Wirtschaft, so bei der sexuellen Belästigung, so bei der Fortentwicklung des § 611 a BGB und so beim Gremienbesetzungsgesetz, Frau Niehuis, nach dem sehr viel mehr Frauen in Zukunft mit darüber entscheiden werden, wie die Bundesregierung ihren Sachverstand in Gesetze umgießt.Ich bitte Sie einfach: Täuschen Sie doch nicht die Frauen in dieser Republik! Sagen Sie: Dieses Gesetz ist ein erster Schritt.
Es ist noch nicht der letzte Schritt. Tun Sie doch nicht so, als sei es ein Rückschritt. Es ist ein Fortschritt.
Frau Minister, lassen Sie Zwischenfragen zu? Es gibt zwei Wortmeldungen.
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege von Stetten.
Frau Ministerin, Sie haben in dem Gesetzentwurf zunächst stehen gehabt: keine Kosten. Jetzt heißt es: keine größeren Auswirkungen auf Kosten im öffentlichen und privaten Leben. Stimmen Sie mit mir darin überein, daß in § 16 des Frauenfördergesetzes, Rechtsstellung der Frauenbeauftragten, festgehalten wird, daß es nicht zu einer Stellenvermehrung kommen darf? Stimmen Sie mit mir darin überein, daß nach § 611a BGB kein allgemeines Schmerzensgeld für die Diskriminierung nach Geschlecht gegeben werden darf, sondern daß es um die geschlechtsspezifische Benachteiligung bei einer Bewerbung geht und daß im Rahmen des praktizierten Richterrechts entsprechende Summen bereits ausgeworfen werden?
Herr von Stetten, ich möchte hier noch einmal betonen, daß keine zusätzlichen Kosten entstehen, weil keine neuen Stellen geschaffen werden. Die Frauenbeauftragten in den Ministerien und nachgeordneten Bundesbehörden werden vielmehr im Rahmen der Stellenpläne arbeiten. Es wird so sein, daß diese Leistungen durch die Umstrukturierung der Verwaltung, wie das auch bei anderen zusätzlichen Aufgaben der Fall ist, erbracht werden. Das ist mit dem Bundesfinanzminister so abgestimmt, und daran halten wir uns.
Zum zweiten sage ich schon vorweg etwas zum § 611 a BGB. Es ist so, daß es in der Tat um eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Frau geht, die schon heute in der Rechtsprechung berücksichtigt wird. Das heißt, es geht nicht darum, andere Dinge zu pönalisieren, sondern um die Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Frau entsprechend der heutigen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte.
Frau Minister, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Koppelin?
Frau Ministerin, ich darf an die Frage des Kollegen von soeben anschließen. Sind Sie fest davon überzeugt, daß es keine großen Kosten bei diesem Gesetz gibt? Wenn ich dieses Gesetz lese, stelle ich überall fest, daß noch mehr Kosten kommen. Ich könnte Ihnen viele Beispiele nennen. Wie kommen Sie zu der Erkenntnis, daß es so gut wie keine Mehrkosten geben wird?
Wir haben sehr intensiv miteinander darüber diskutiert, was in Sachen Frauenförderung in den obersten Bundesbehörden bereits geschieht und was noch geschehen kann. Wir wissen, daß durch Umstrukturierung und durch Prioritätensetzung in der Verwaltung sehr wohl Aufgaben verlagert werden können. Ich erinnere nur an die deutsche Einheit. Dadurch ist in den Verwaltungen ein enormer Mehraufwand entstanden, der in keiner Weise einen entsprechenden Stellenzuwachs zur Folge hatte. Der Haushaltsausschuß hat einen Sparbeschluß gefaßt: 1 % Stellenkürzung. Auch das erfordert, daß Aufgaben der öffentlichen Verwaltung eventuell anders
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19165
Bundesministerin Dr. Angela Merkelorganisiert werden. Deshalb sage ich nochmals: Ich gehe davon aus, daß das, was wir in der Gesetzesbegründung gesagt haben, weiterhin Gültigkeit hat, daß es sich nicht geändert hat.
Frau Minister, eine Sekunde! — Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau Ministerin hat noch fünf Minuten Redezeit. Ich mache folgende Feststellung: Die Opposition hört ruhig und gelassen zu, was die Frau Ministerin zu erzählen hat. Auf der rechten Seite des Hauses und auf der Regierungsbank ist zuviel Unruhe. Es gibt ganze Versammlungen. Ich bitte Sie, noch fünf Minuten in Ruhe zuzuhören.
Bitte, Frau Minister.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Heftige Diskussionen — wir haben das soeben gemerkt — haben die Bestimmungen zum § 611 a des Bürgerlichen Gesetzbuches ausgelöst. Ich gehe davon aus, daß die deutsche Wirtschaft Einstellung und Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern nach Recht und Gesetz, so wie es heute schon ist, vornimmt und daß nicht pausenlos Ausnahmeregelungen zur Anwendung kommen.
In mancher Diskussion hatte ich den Eindruck, als würden hier dauernd Rechtsverstöße zu erwarten sein. Ich kann das so nicht teilen.
Wir haben nach vielen Diskussionen einen vernünftigen Kompromiß gefunden. Für mich ist in dieser Frage ganz besonders wichtig — wer hier behauptet, wir gingen hinter die gültige Rechtslage zurück, sagt nicht die Wahrheit —, daß durch dieses Gesetz erstmals sichergestellt wird, daß jede Stelle geschlechtsneutral ausgeschrieben werden muß, daß also Männer und Frauen zur Bewerbung aufgefordert werden müssen. Diesen Zustand haben wir heute leider noch nicht überall.
Mit diesem Gesetz werden also deutliche Verbesserungen für Frauen wirksam. Die Frauenförderung in der Bundesverwaltung wird auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Ich sage es noch einmal: Wir haben heute in den über tausend beratenden Gremien der Bundesregierung nur 6,7 % Frauen. In der Hälfte dieser Gremien haben wir keine einzige Frau. Deshalb bin ich stolz darauf, daß es uns gelungen ist, Verfahren vorzuschlagen, mit denen sichergestellt ist, daß in Zukunft mehr bzw. überhaupt erst Frauen in den Gremien sein werden, die die Bundesregierung beraten.
Das ist ein Fortschritt für alle Frauen in diesem Land. Auch das möchte ich in Richtung Opposition noch einmal sagen.
Zweitens. Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeitgestaltung werden in Zukunft kein Grund mehr sein, Abschied von Beruf und Karriere nehmen zu müssen. Weiterbildung in der Familienphase wird möglich sein. Auch das ist ein Fortschritt, gerade für jüngere Frauen, die in ihrem Beruf beginnen.
Drittens. Die Position der Frauen auf dem Arbeitsmarkt wird durch die Änderung des Arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetzes verbessert.
Viertens — ein ganz wichtiger Fortschritt —: Der Schutz aller Beschäftigten in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz verbessert die Rechtssicherheit von Frauen, gerade von Frauen in nicht festen Anstellungsverhältnissen, von jungen Frauen und von Frauen, die nicht über die allerhöchste Qualifizierung verfügen. Es gibt nur wenige Länder auf dieser Erde, die solche Schutzvorschriften haben. Mir ist völlig unverständlich, warum gerade Sie von der Opposition immer wieder argumentiert haben, das sei gar nichts.
Fünftens. Durch das Bundesgremienbesetzungsgesetz wird es — wie ich schon gesagt habe — einen deutlichen Anstieg der Zahl von Frauen in den Gremien geben. Mit ähnlichen Regelungen hat man es in Belgien und Dänemark geschafft, in kurzer Zeit einen Frauenanteil von 30 % in den Gremien zu erreichen.
Warum, meine Damen und Herren von der Opposition, sollen wir nicht auch einmal aus dem Ausland lernen? Ich verstehe nicht, warum Sie hiergegen opponieren.
Deshalb muß ich sagen: Dieser Gesetzentwurf ist bei allem, was wir mit ihm noch nicht realisiert haben — ich möchte hier auch sagen, ich hätte mir mehr gewünscht —, ein deutlicher Fortschritt für die Frauen in diesem Lande. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, müssen schon wissen, ob Sie es sich leisten können, in dieser Legislaturperiode lieber nichts für die Frauen zu tun, indem Sie sich der Zustimmung hier verweigern.
In der von Ihnen beantragten namentlichen Abstimmung werden Sie deutlich machen, ob Sie einen Fortschritt für die Frauen in diesem Lande wollen oder ob Sie lieber keinen wollen und statt dessen in der Frauenpolitik polemisieren, die dies nicht verdient hat.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie noch um zwei Minuten kollegiale Geduld, um eine Kurzintervention der Kollegin Antje Steen anzuhören.
Metadaten/Kopzeile:
19166 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Vizepräsident Hans KleinBitte, Frau Kollegin Steen.
Frau Ministerin Merkel, ich möchte Sie fragen, was Sie bisher für die Gleichstellung von uns Frauen hier in diesem Parlament getan haben. Ein aktueller Anlaß: Ich komme eben in dieses Parlament und stelle fest, daß auf der Tagesordnung „Rednerliste" steht,
und das in diesem Zusammenhang, wo hier nur Frauen diskutiert haben. Ich frage Sie, Frau Ministerin Merkel — oder muß ich sagen: Herr/Frau Minister Merkel? —: Was tun Sie eigentlich für uns Frauen in diesem Parlament?
Zur Beantwortung Frau Ministerin Merkel.
Liebe Frau Kollegin, eine kurze Bemerkung. Ich hatte immer den Eindruck, daß sich das Parlament nach seinem Selbstverständnis um solche Dinge selbst kümmert.
Aber selbstverständlich, Frau Kollegin, hat sich die Bundesregierung mit diesem Thema befaßt und in einer Vorlage eines Rechtsspracheberichts in gemeinsamer Federführung von Frauen- und Justizministerium festgelegt, daß man sich im öffentlichen Bereich und in allen anderen Bereichen um geschlechtsneutrale Formulierungen bemühen sollte.
Ich füge noch ganz persönlich hinzu: Mir ist es egal, ob man „Frau Minister" oder „Frau Ministerin" sagt. Aber damit unterscheide ich mich von mancher anderen in diesem Lande.
Wir kommen zur Abstimmung
— meine Damen und Herren, bitte hören Sie sich doch an, worüber wir jetzt abstimmen — über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Drucksachen 12/5468 und 12/7333 Nr. 1. Dazu liegen sieben Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor, über die wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für den Antrag Drucksache 12/7337? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Drucksache 12/7338: Wer stimmt dafür? — Dagegen? — Wer enthält sich? — Abgelehnt.Drucksache 12/7339: Dafür? — Dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Drucksache 12/7340: Wer stimmt dafür? — Dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Drucksache 12/7341: Dafür? — Dagegen? — Enthaltungen? — Abgelehnt.Drucksache 12/7342: Dafür? — Dagegen? — Enthaltungen? — Abgelehnt.Wer stimmt für den Antrag Drucksache 12/7343? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.Damit sind alle Änderungsanträge abgelehnt.Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Wer lehnt ab? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung.') Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. —Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? Diese Frage beschleunigt in jedem Fall das Verfahren. —Sind alle Stimmen abgegeben? —Das ist offensichtlich der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Meine Damen und Herren, die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen. Das Ergebnis dieser Abstimmung werden wir Ihnen später bekanntgeben.") Wir setzen jetzt die anderen Abstimmungen fort.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Gleichstellung von Frau und Mann auf Drucksache 12/5717. Der Ausschuß für Frauen und Jugend empfiehlt auf Drucksache 12/7333 Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5717 abstimmen, also nicht über die Ausschußempfehlung, sondern über den Gesetzentwurf der SPD.Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer lehnt ihn ab? — Wer enthält sich der Stimme? —Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:— Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines . . . Strafrechtsänderungsgesetzes — Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität —
— Drucksache 12/192 —*) Erklärungen zur Abstimmung siehe Anlagen 3 und 4 **) Seite 19169A
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19167
Vizepräsident Hans Klein— Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hermann Bachmaier, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Harald B. Schäfer , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes — Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität— Drucksache 12/376 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/7300 —Berichterstattung:Abgeordnete Hermann Bachmaier Jörg van EssenAndreas Schmidt
Zum Entwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrg der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7331 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Andreas Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst das Gleichberechtigungsgesetz und jetzt das neue Umweltstrafrecht — damit zeigen die Regierungskoalition, ihre Fraktionen und die Regierung, daß sie auf allen wesentlichen Feldern der deutschen Politik auch kurz vor einer Wahl handlungsfähig und entscheidungsfreudig sind.
Meine Damen und Herren, das Umweltstrafrecht will ich so überschreiben: Was lange währt, wird endlich gut.Das heute zu verabschiedende Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität geht in der Tat auf einen Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zurück, der bereits zu Beginn des Jahres 1990 vorgelegt worden ist.Das neue Umweltstrafrecht dokumentiert meines Erachtens sehr überzeugend, daß die Bundesregierung und die sie tragende Koalition ihrer Verantwortung für unsere Umwelt auch im Bereich des Strafrechts gerecht werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Fassung der Beschlußempfehlung und des Berichtes des Rechtsausschusses erhält die Bundesrepublik Deutschland — daran kann es keinen Zweifel geben — das schärfste Umweltstrafrecht in der gesamten Welt.Aber, meine Damen und Herren, und auch dies möchte ich hier sehr deutlich unterstreichen, unserer Verantwortung für das Gemeinwohl werden wir letztlich nur dann gerecht, wenn wir die Umwelt zwar auch durch Strafandrohung schützen, dabei aber nicht außer acht lassen, daß wir in einer hochtechnologisierten Industrienation leben. Mit dem Gesetzentwurf leisten wir einen entscheidenden strafrechtlichen Beitrag zum Umweltschutz, ohne in einen unverhältnismäßigen Strafrechtsaktionismus zu verfallen, der langfristig gesehen die Umwelt nicht mehr schützen, ganz sicher jedoch Arbeitsplätze kosten würde.Dieser verantwortungsbewußte Interessenausgleich zwischen dem notwendigen Umweltschutz und dem Wirtschaftsstandort Deutschland wird beispielsweise in dem Verzicht deutlich, Bagatellkriminalität zu regeln. Die Aufnahme der Bagatellkriminalität in das Umweltstrafrecht, so wie es von einigen gefordert worden ist, würde nur zu einer Überlastung der zuständigen Strafverfolgungsbehörden und damit im Ergebnis zu einer weniger effektiven Verfolgung führen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich ausdrücklich dazu, die Umwelt auch mit Hilfe des Strafrechts zu schützen. Die immer wieder geäußerte Kritik, das moderne Strafrecht sei zu einem Instrument gesellschaftlicher Konfliktlösung verkommen und habe nicht mehr seine ursprüngliche Funktion als Ultima ratio, entspricht nicht meiner Vorstellung eines modernen, verantwortungsbewußten Rechtsstaates. In einer modernen Gesellschaft muß die Gesetzgebung auf Fehlentwicklungen auch mit Hilfe des Strafrechts reagieren können, zumal unsere Umwelt ein hochrangiges Gut ist, das es auch für zukünftige Generationen zu schützen gilt. Daß das Umweltstrafrecht im Gegensatz zu den meisten anderen Bereichen des Strafrechts besonderen Wert auf die Allgemein- und nicht so sehr auf die Individualrechtsgüter legt, ist, so glaube ich, in der Natur der Sache begründet.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun einige Punkte nennen, wie wir die Umwelt durch das neue Strafrecht besser schützen wollen.Erstes Beispiel: Bisher war der Boden im Gegensatz zu Wasser und Luft nicht unmittelbar durch das Strafrecht geschützt. Mit dem neuen Umweltstrafrecht schließen wir diese Gesetzeslücke, die bisher eine Ahndung bei denjenigen Bodenverunreinigungen verhinderte, die nicht zu einer nachweisbaren Grundwasserverunreinigung führten oder auf einer Lagerung gefährlicher Stoffe beruhten.Der alltägliche Fall, daß ein Autobesitzer Altöl in den Boden abläßt, wird nunmehr erstmals unter den Straftatbestand des neuen § 324 a StGB fallen. Mit dieser Norm wird der bisher nur unzureichend geschützte Boden ausdrücklich unter strafrechtlichen Schutz gestellt. Dieser Beitrag des Strafrechts entspricht nicht nur den dringenden Wünschen der Wissenschaft und der Praxis, sondern orientiert sich auch an den Forderungen des 12. Internationalen Strafrechtskongresses.Ein ganz besonderes Anliegen des Gesetzentwurfes in der vorliegenden Fassung ist es, den illegalen Mülltourismus wirksamer zu bekämpfen. Hier sind insbesondere die Änderungen der §§ 326 und 328 StGB zu nennen, die in Zukunft helfen sollen, den kriminellen Machenschaften verantwortungsloser Müllschieber das Handwerk zu legen. Mit der Androhung einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren wird auch die Chance eröffnet — das, so finde ich, ist ganz wichtig —, daß das Gesetz auch die gewünschte und notwendige präventive Wirkung entfaltet. Es geht ja
Metadaten/Kopzeile:
19168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Andreas Schmidt
nicht nur um Strafe, es geht auch um Prävention, um Straftaten in diesem Bereich von vornherein im Sinne der Umwelt zu verhindern.Ein weiterer entscheidender Punkt ist, daß das neue Umweltstrafrecht nicht nur auf eine bessere Sanktionierung spektakulärer Ereignisse aus dem Bereich des Mülltourismus oder der chemischen Industrie abzielt. Es ist leider so, daß jeder einzelne noch so kleine Verstoß gegen die Umweltnormen in der Gesamtheit aller Verstöße großen Schaden an der Schöpfung und der Umwelt verursachen kann. So ist es denn nur folgerichtig, wenn eine Privatperson, die z. B. meint, den alten Kühlschrank auf einer wilden Müllkippe im Wald abladen zu müssen, mit der ganzen Härte des Gesetzes zu rechnen hat.Der Gesetzentwurf trägt der Tatsache Rechnung, daß der zunehmende unerlaubte Umgang mit Kernbrennstoffen und anderen gefährlichen Stoffen ganz erhebliche Gefahren für unsere Umwelt in sich birgt. Daher stellt der Gesetzgeber nicht nur auf die Verarbeitung, sondern auch auf die Lagerung, Verpackung, Beförderung oder Versendung und schließlich auf die Auspackung dieser Stoffe ab. Das war bisher nicht so. So wird beispielsweise zukünftig auch ein Transportunternehmer bei vorsätzlichen Verstößen gegen diese Norm mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssen.Darüber hinaus sanktioniert der vorliegende Gesetzentwurf Umweltschädigungen in Biotopen mit seltenen Pflanzen und Tieren durch eine Strafandrohung von bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben ja zwei Gesetzentwürfe vorliegen. Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion orientiert sich in einigen Bereichen ziemlich klar an dem Entwurf der Bundesregierung. In den Bereichen, in denen er sich unterscheidet, werden die Unterschiede zwischen der Koalition und der Opposition sehr deutlich. Ich glaube, es ist sehr gut, daß Unterschiede deutlich werden.Der CDU/CSU-Fraktion geht es um einen effektiven Umweltschutz in — ich betone: in — einer Industrienation. Der SPD-Opposition geht es in Teilbereichen, dort, wo wir uns deutlich unterscheiden, nicht um effektiven Umweltschutz, sondern meines Erachtens um eine Umweltideologie.Dieser Unterschied, meine Damen und Herren, zwischen uns und Ihnen, zwischen einem effektiven Umweltschutz und einer Umweltideologie, wird insbesondere darin deutlich, daß Sie mit aller Macht daran festhalten wollen, eine eigene Amtsträgerstrafbarkeit einzuführen. Die Normierung einer eigenen Amtsträgerstrafbarkeit wäre für den Umweltschutz unseres Erachtens mehr als kontraproduktiv. Sie würde im Ergebnis nur zu einer Absicherungsmentalität der Umweltbehörden führen, die die Verwaltungsstellen nahezu lähmt oder gar zur Abwanderung qualifizierten Personals führen könnte.
Gerade aber weil die Polizei und die Staatsanwaltschaft unbedingt auf die Kooperation mit den Umweltbehörden angewiesen sind, verbietet sich im Interesseeines effektiven Umweltschutzes die Einführung einer eigenen Amtsträgerstrafbarkeit.Bei diesem Streitpunkt, so finde ich, wird der Unterschied zwischen praktischer Vernunft einerseits und Ideologie andererseits sehr deutlich. Im übrigen, meine Damen und Herren, ist es nach dem geltenden Strafrecht bereits jetzt möglich, Amtsträger strafrechtlich zu belangen, wenn dies in der Sache gerechtfertigt ist. Wenn ein Mitarbeiter einer Umweltbehörde gegen besseres Wissen eine Genehmigung für einen Industriebetrieb erteilt, die mangels Erfüllung umweltrechtlicher Aufgaben eigentlich hätte versagt werden müssen, so kann dieser bereits nach der geltenden Rechtslage strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.Auf Grund der geltenden oder der bestehenden Garantenstellung gilt dies auch für den Fall, wo einem Amtsträger deliktisches Verhalten von Betrieben bekannt wird, er aber trotzdem nicht dagegen einschreitet. Auch in diesem Fall kann er bereits jetzt, ohne daß es eines eigenen Delikts bedarf, im strafrechtlichen Sinne zur Verantwortung gezogen werden.Ich will abschließend sagen, daß das neue Umweltstrafrecht nur einer der wichtigen Beiträge dieser Bundesregierung und dieser Koalition zum besseren Schutz unserer Umwelt ist. Es gibt viele andere Gesetze, die wir für die Umwelt, für die Schöpfung hier eingebracht und verabschiedet haben. Entscheidend wird daher weiterhin sein, daß es uns gelingt, die Menschen, vielleicht auch mit Hilfe dieses Gesetzes, für Umweltfragen noch stärker zu sensibilisieren.Für die zunehmende Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Verantwortungsträger spricht u. a. die Zahl von 25 882 erfaßten Umweltstraftaten im Jahr 1992. Damit, meine Damen und Herren, setzt sich die Steigerung der Verfolgung, die in den alten Bundesländern seit langem zu beobachten ist, in den neunziger Jahren für die gesamte Bundesrepublik Deutschland erfreulich fort.Ich bin sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß dieses Umweltstrafrecht dazu beitragen wird, nicht nur die Aufklärungsrate bei Umweltstraftaten zu verbessern, sondern auch die Zahl der Verurteilungen zu erhöhen, wo es auf Grund der Gesetzgebung nunmehr gerechtfertigt ist.Ich will abschließend noch einmal sagen: Ich glaube, daß die Verabschiedung dieses neuen Umweltstrafrechts ein ganz wichtiger und wesentlicher Beitrag ist, um die Umwelt in Zukunft besser zu schützen, um die Schöpfung auch für die zukünftigen Generationen zu bewahren.Mit diesem Gesetzentwurf wird die Bundesregierung und wird die Koalition, werden wir der Verantwortung für die Umwelt gerecht; aber — ich sage es noch einmal — wir werden auch unserer Verantwortung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für die Arbeitsplätze in unserem Land gerecht.Ich danke Ihnen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen gern das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gleichberechtigungsgesetzes, Drucksachen 12/5468 und 12/7333, bekanntgeben: Abgegebene Stimmen 540; mit Ja haben gestimmt 288, mit Nein 227; der Stimme enthalten haben sich 25 Kolleginnen und Kollegen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 539; davon:ja: 288nein: 226enthalten: 25JaCDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-GünterDr. Bauer, WolfBaumeister, Brigitte Belle, MeinradBierling, Hans-DirkDr. Blank, Joseph-Theodor Dr. Blens, HeribertBleser, PeterDr. Blüm, NorbertBöhm , Wilfried Dr. Böhmer, MariaBörnsen , Wolfgang Bohlsen, WilfriedBrähmig, KlausBühler , Klaus Büttner (Schönebeck), HartmutBuwitt, DankwardCarstens , Manfred Carstensen (Nordstrand),Peter HarryDehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deres, KarlDeß, AlbertDiemers, Renate Dörflinger, Werner Dr. Dregger, Alfred Ehlers, Wolfgang Eichhorn, MariaEngelmann, Wolfgang Eppelmann, RainerErler , Wolfgang Eylmann, HorstEymer, AnkeFalk, IlseDr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, JochenDr. Fell, Karl H.Fischer , Dirk Fischer (Unna), Leni Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-JoachimGanz , Johannes Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geiger, MichaelaGeis, NorbertDr. von Geldern, Wolfgang Gibtner, HorstGlos, MichaelDr. Göhner, ReinhardGötz, PeterGres, Joachim Grochtmann, Elisabeth Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-PeterDr. Grünewald, Joachim Günther , Horst Frhr. von Hammerstein,Carl-Detlev Harries, Klaus Haschke ,GottfriedHaschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, RainerHauser , Otto Hauser (Rednitzhembach),HansgeorgHedrich, Klaus-Jürgen Heise, ManfredDr. h. c. Herkenrath, Adolf Dr. Herr, NorbertHiebing, Maria AnnaHintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, JoachimDr. Hoffacker, Paul Hollerith, JosefDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, SiegfriedHüppe, Hubert Jaffke, Susanne Dr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, RainerJung , Michael Junghanns, UlrichDr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, SteffenDr.-Ing. Kansy, Dietmar Kauder, VolkerKeller, PeterKiechle, IgnazKlein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Kossendey, ThomasKraus, RudolfKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, ArnulfKronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, KarlDr. Lammert, Norbert Lamp, HelmutDr. Laufs, PaulLaumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Lenzer, Christian Limbach, EdithaLink , Walter Lintner, EduardDr. Lippold , Klaus W.Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, SigrunLohmann , WolfgangLouven, JuliusLummer, Heinrich Dr. Luther, MichaelMaaß , Erich Männle, UrsulaMagin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marten, GünterMeckelburg, Wolfgang Meinl, RudolfDr. Merkel, Angela Michalk, MariaMichels, Meinolf Dr. Möller, FranzMuller , Elmar Nelle, Engelbert Neumann (Bremen), Bernd Niedenthal, ErhardNitsch, Johannes Nolte, ClaudiaOst, FriedhelmOswald, Eduard Otto , Norbert Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, PeterPesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeifer, AntonPfeiffer, AngelikaDr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Pofalla, RonaldDr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Raidel, HansRau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert Riegert, KlausDr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),HanneloreRoitzsch , Ingrid Romer, FranzDr. Rose, KlausRossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Dr. Rüttgers, JürgenSauer , Helmut Sauer (Stuttgart), RolandSchätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Schell, ManfredSchemken, Heinz Scheu, GerhardSchmalz, UlrichSchmidbauer, Bernd Schmidt , ChristianDr.-Ing. Schmidt ,JoachimSchmidt , Andreas Dr. Schmidt, Christa Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),Hans PeterDr. Schneider , OscarDr. Schockenhoff, Andreas Graf von SchönburgGlauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,ReinhardSchulhoff, Wolfgang
Schulz , Gerhard Schwalbe, ClemensDr. Schwörer, Hermann Seesing, Heinrich Seibel, WilfriedSikora, JürgenSkowron, Werner H. Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter Dr. Sprung, Rudolf Steinbach, ErikaDr. Stercken, Hans Dr. Frhr. von Stetten, WolfgangStockhausen, KarlDr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, MichaelDr. Süssmuth, Rita Susset, EgonSzwed, Dorothea Tillmann, FerdiDr. Töpfer, KlausDr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, GunnarVerhülsdonk, Roswitha Vogt , Wolfgang Dr. Voigt (Northeim),Hans-PeterDr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, HorstGraf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr. Warrikoff, Alexander Wetzel, KerstenDr. Wilms, Dorothee Wilz, BerndDr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, Fritz Wonneberger, Michael Wülfing, ElkeYzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaDr, Babel, Gisela Baum, Gerhart Rudolf Bredehorn, Günther Engelhard, Hans A. Dr. Feldmann, Olaf
Metadaten/Kopzeile:
19170 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Friedrich, HorstFunke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGallus, GeorgGenscher, Hans-Dietrich Günther , Joachim Homburger, BirgitDr. Hoth, SigridDr. Hoyer, Werner Leutheusser-Schnarrenberger, SabineLühr, UweDr. Ortleb, RainerPeters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , ManfredSchmidt , Arno Dr. Schwaetzer, Irmgard Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, SigridDr. von Teichman, Cornelia Timm, JürgenTürk, JürgenWalz, IngridDr. Weng , WolfgangWürfel, UtaFraktionslosHackel, Heinz-Dieter Dr. Krause , Rudolf KarlNeinCDU/CSUBrudlewsky, Monika Hinsken, ErnstKarwatzki, Irmgard Molnar, ThomasDr. Ramsauer, Peter Werner , Herbert Würzbach, Peter KurtSPDAdler, BrigitteAndres, GerdAntretter, RobertBachmaier, HermannBarbe, AngelikaBecker , Helmuth Becker-Inglau, IngridBerger, HansBernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, RudolfBlunck , Lieselott Bock, TheaDr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, AnniDr. Brecht, EberhardBüchner , Peter Dr. von Bülow, Andreas Büttner (Ingolstadt), Hans Bulmahn, EdelgardBurchardt, Ursula Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, PeterDr. Däubler-Gmelin, Herta Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, RudolfEbert, EikeDr. Ehmke , Horst Eich, LudwigDr. Elmer, KonradEsters, HelmutEwen, CarlFerner, ElkeFischer , EvelinFischer , Lothar Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, NorbertGilges, Konrad Gleicke, IrisGraf, GünterGroßmann, Achim Haack ,Karl Hermann Habermann, Michael Hacker, Hans-Joachim Hampel, Manfred Hanewinckel, ChristelDr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, KlausDr. Hauchler, Ingomar Heistermann, Dieter Heyenn, GüntherHiller , Reinhold Dr. Holtz, UweHuonker, Gunter Ibrügger, Lothar Iwersen, Gabriele Jäger, RenateJanz, IlseDr. Janzen, Ulrich Jaunich, HorstDr. Jens, UweJung , Volker Kastner, Susanne Kirschner, Klaus Klappert, MarianneDr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, SiegrunDr. Knaape, Hans-Hinrich Kolbe, ReginaKolbow, Walter Koltzsch, RolfKubatschka, Horst Dr. Kübler, Klaus Kuessner, Hinrich Kuhlwein, Eckart Lambinus, UweLange, Brigittevon Larcher, Detlev Leidinger, Robert Lennartz, KlausDr. Leonhard, Elke Lörcher, ChristaDr. Lucyga, Christine Maaß , Dieter Marx, DorleMascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Mehl, UlrikeMeißner, HerbertDr. Mertens , Franz-JosefDr. Meyer , Jürgen Mosdorf, SiegmarMüller , Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Dr. Niehuis, EdithDr. Niese, RolfNiggemeier, Horst Odendahl, Doris Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan Opel, ManfredOstertag, Adolf Dr. Otto, Helga Palis, KurtPaterna, PeterDr. Penner, Willfried Pfuhl, AlbertDr. Pick, Eckhart Purps, RudolfReimann, Manfred von Renesse, Margot Rennebach, RenateReuschenbach, Peter W. Reuter, BerndRixe, GünterSchanz, DieterScheffler, Siegfried Schily, OttoSchluckebier, Günter Schmidbauer , HorstSchmidt , Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schnell, Emil Schöler, WalterSchreiner, OttmarSchulte , BrigitteDr. Schuster, R. Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, RolfSeidenthal, Bodo Sielaff, HorstSimm, ErikaSinger, JohannesDr. Skarpelis-Sperk, SigridDr. Soell, HartmutDr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, WielandSteen, Antje-Marie Steiner, Heinz-Alfred Stiegler, LudwigDr. Struck, Peter Tappe, Joachim Terborg, Margitta Thierse, Wolfgang Titze-Stecher, UtaToetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, SiegfriedDr. Vogel, Hans-Jochen Vosen, JosefWagner, Hans Georg Wallow, HansWaltemathe, Ernst Walter , Ralf Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weiler, Barbara Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Welt, JochenDr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, IngeDr. Wetzel, Margrit Weyel, GudrunDr. Wieczorek, Norbert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, DieterWimmer ,HermannDr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, HannaZapf, UtaDr. Zöpel, ChristophF.D.P.Dr. Blunk , Michaela Friedhoff, Paul K.Grünbeck, Josef Grüner, Martin Heinrich, Ulrich Dr. Hitschler, WalterIrmer, UlrichKleinert , Detlef Koppelin, JürgenSchüßler, Gerhard Schuster, Hans Sehn, Marita Thiele, Carl-Ludwig Zywietz, WernerPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Enkelmann, DagmarDr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth Dr. Gysi, GregorDr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, UllaDr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Philipp, Ingeborg Dr. Seifert, Ilja Stachowa, AngelaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, IngridPoppe, GerdSchulz , Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, VeraFraktionslosDr. Briefs, UlrichEnthaltenCDU/CSUBlank, RenateBrunnhuber, Georg Göttsching, Martin Jäger, ClausDr. Jüttner, Egon Köhler , Hans-UlrichDr. Meyer zu Bentrup, ReinhardReddemann, Gerhard Wittmann , SimonF.D.P.van Essen, JörgDr. Guttmacher, Karlheinz Hansen, DirkDr. Hirsch, BurkhardDr. Graf Lambsdorff, Otto Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Otto ,Hans-JoachimParr, DetlefDr. Röhl, KlausDr. Schmieder, Jürgen Dr. Schnittler, Christoph Dr. Starnick, JürgenDr. Thomae, Dieter Wolfgramm , TorstenFraktionslos Lowack, OrtwinDer Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19171
Vizepräsident Hans KleinHerr Kollege Hermann Bachmaier, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jahren ist bekannt, daß unser Umweltstrafrecht effizienter ausgestaltet werden muß. Der Deutsche Juristentag hat bereits im Jahre 1988 das geltende Recht auf den Prüfstand genommen und detaillierte Vorschläge zur Verbesserung des materiellen Rechts gemacht. Die empirischen Daten liegen seit Jahren auf dem Tisch, ohne daß bis heute daraus notwendige Konsequenzen gezogen worden wären.
Die polizeilich erfaßten Delikte sind zwar in den letzten 20 Jahren sprunghaft gestiegen. Aber Dreiviertel der eingeleiteten Verfahren werden eingestellt. Wenn es dennoch zur Bestrafung kommt, so sind die ausgeworfenen Strafen in aller Regel geringe Geldstrafen. Die wirklich schwarzen Schafe, die um ihres wirtschaftlichen Vorteils unseren natürlichen Lebensgrundlagen erheblichen Schaden zufügen, werden nur selten gefaßt und angemessen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Neben den nach wie vor vorhandenen Vollzugsdefiziten liegen die durch viele Untersuchungen belegten Mängel auch an den spezifischen Schwächen des geltenden materiellen Umweltstrafrechts.
Meine Damen und Herren, wir wissen natürlich auch, daß das Umweltstrafrecht kein Allheilmittel gegen die immer mehr um sich greifende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen sein kann. Das Umweltstrafrecht ist nicht dazu da, legislative und administrative Defizite bei der Durchsetzung verbesserter Umweltstandards auszugleichen. Es kann weder als Lückenbüßer noch als Nothelfer herangezogen werden. Die Funktion des Strafrechts besteht darin, groben Schädigungen und schweren Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen auch mit den schärfsten Sanktionsmöglichkeiten, die der Staat aufzubieten hat, mit den Mitteln von Geld- und Freiheitsstrafen sowie den anderen strafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten, zu begegnen.
Bereits am Ende der letzten Legislaturperiode wurden die heute abschließend zur Beratung anstehenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung und der SPD-Bundestagsfraktion eingebracht. Im federführenden Rechtsausschuß zogen sich die Beratungen lange hin. Mittlerweile wurden zwei Sachverständigenanhörungen durchgeführt, zuletzt vor anderthalb Jahren in Weimar. Insbesondere bei der letzten Anhörung, in Weimar, haben zahlreiche Sachverständige dem Gesetzentwurf der SPD recht eindeutig den Vorrang vor den Lösungsansätzen der Koalition gegeben. Wo darin Ideologie zu finden sein soll, müssen Sie mir, sehr verehrter Herr Kollege Schmidt, erst einmal zeigen. Im Gegenteil, wenn ich mir Ihren Abfalltatbestand, zu dem ich noch komme, anschaue, dann weiß ich, welche Ideologie hier obwaltet. Deshalb möchte ich Vorwürfe dieser Art zurückweisen.
Bis in die Schlußberatungen des Rechtsausschusses wurden, so besonders gravierend im Bereich der strafrechtlich zu ahnenden Luftverschmutzung, noch Aufweichungen des Regierungsentwurfs seitens der Koalition vorgenommen. Lange Zeit blieb überhaupt unklar, ob es noch in dieser Legislaturperiode zur
Verabschiedung eines novellierten Umweltstrafrechtes kommen würde. Es kreißte ein Berg und gebar allenfalls ein Mäuslein. Auf der Strecke blieb, wie es in einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" hieß, die geschundene Umwelt. Die Möglichkeiten, die das Strafrecht im Kampf gegen Umweltverschmutzung und Umweltvergiftung bieten könnte, bleiben weitgehend unausgeschöpft. Wir werden deshalb diesem Reformstückwerk nicht zustimmen.
Die zentralen Anliegen des SPD-Entwurfes stellen wir heute nochmals als Änderungsanträge zur Abstimmung. Wir haben die Umweltstraftatbestände in unserem Entwurf so neu gefaßt, daß reine Bagatellverstöße nicht mehr dem Strafrecht sondern ausschließlich dem Bußgeldrecht unterworfen werden, so daß die Strafverfolgungsorgane sich nicht weiter verzetteln müssen, sondern sich auf die ökologisch wirklich bedeutsamen und gravierenden Umweltdelikte konzentrieren können.
Wir haben sämtliche Straftatbestände überarbeitet und systematisch so neu gefaßt, damit die Anwendung in der Praxis erleichtert und bei allen Umweltdelikten die gleichen rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Im Gegensatz zum Regierungsentwurf haben wir die besonders nachhaltigen und rücksichtslosen Umweltstraftaten als Verbrechen eingestuft, so daß derartige Täter mit einer Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren zu rechnen haben. Damit tritt auch eine wesentliche Verlängerung der Verjährungsfrist dieser Delikte ein, so daß sich Umweltkriminelle dieses Kalibers nicht schon nach wenigen Jahren in Sicherheit wiegen können, sondern noch lange mit strafrechtlicher Ahndung zu rechnen haben.
Wir Sozialdemokraten haben außerdem in unserem Entwurf die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß bei Umweltkriminalität im gewerblichen Bereich endlich auch die wirklich Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können, und — entsprechend auch den Empfehlungen des Juristentages — den auch immer wieder im Zusammenhang mit der Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten als Hindernis empfundenen § 14 Abs. 2 des Strafgesetzbuches neu gefaßt.
Außerdem haben wir eine Anregung des Bundesrates aufgenommen und einen Tatbestand zur Aufnahme in das Strafgesetzbuch beantragt, der die Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen unter Strafe stellt. In unserem ursprünglichen Entwurf war dieses Fehlverhalten als Ordnungswidrigkeit schon erfaßt.
Die von der Koalition vorgenommenen Verbesserungsversuche im Bereich der strafbaren Abfallbeseitigung müssen so lange Stückwerk bleiben, solange durch diesen Tatbestand lediglich Abfälle, nicht aber auch der Umgang mit gefährlichen Wirtschaftsgütern unter Strafe gestellt wird. Wir haben, auch entsprechend dem Vorschlag des Deutschen Juristentages, diesen Tatbestand auf den umweltgefährdenden Umgang mit gefährlichen Wirtschaftsgütern ausgedehnt, weil es hinsichtlich der strafrechtlichen Relevanz ausschließlich auf die Gefährlichkeit des Gutes und nicht auf seine jeweilige wirtschaftliche Bedeutung ankommen kann. Dadurch wird auch den unter Umweltkriminellen so beliebten Manipulationen, mit
Hermann Bachmaier
denen Abfälle in Wirtschaftsgüter umdeklariert werden, ein Riegel vorgeschoben.
Wir halten es für unausweichlich, einen eigenständigen Straftatbestand für Amtsträger in das Strafgesetzbuch einzufügen, und zwar für Amtsträger, die vorsätzlich oder leichtfertig die ihnen zum Schutz der Umwelt obliegenden Pflichten verletzen, wie dies übrigens im Referentenentwurf zu dem heute von Ihnen vertretenen Regierungsentwurf auch enthalten war. Was hier an Ideologie beinhaltet sein soll, ist mir völlig unerklärlich, wie ich bereits gesagt habe.
Auch wenn der Bundesgerichtshof in Einzelfällen die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Amtsträgern aus einzelnen Tatbeständen des Umweltstrafrechtes hergeleitet hat, bedarf es eines Straftatbestandes, der für alle Amtsträger bezüglich aller Umweltdelikte in gleicher Weise relevant ist. Sie wissen, daß es hier bis heute Unterschiede zwischen den §§ 324, 325 und anderen unterschiedlich ausgestalteten Delikten gibt.
Da lediglich vorsätzliches und leichtfertiges Verhalten unter Strafe gestellt wird, grenzt dieser Straftatbestand die gesetzlich zulässigen Ermessensspielräume von Umweltbeamten in keiner Weise ein. Wie uns viele im Umweltbereich tätige öffentliche Bedienstete erklärt haben, könnte sich dieser Tatbestand letztlich sogar schützend für die Betroffenen auswirken, weil mit Hinweis auf diesen Straftatbestand unziemlicher Druck und sachfremder Einfluß besser als bisher zurückgewiesen werden können.
— Ich gebe nur weiter, was mir gesagt worden ist. Ich weiß, das gefällt Ihnen nicht, obwohl Ihre Fachleute Ihnen geraten haben, es uns gleichzutun und die Amtsträgerhaftung in den Entwurf aufzunehmen
— und das nicht nur im Bundesjustizministerium, sondern in der Fachwelt überhaupt —, weil es sonst zu Ungleichgewichten kommt. Es bedarf dringend dieses Straftatbestandes, durch den pflichtbewußte Beamte in keiner Weise eingeengt werden.
Meine Damen und Herren, trotz aller Mängel bei der Ausgestaltung der einzelnen Tatbestände war es ein großes Verdienst des Gesetzgebers und des damaligen Bundesjustizministers Vogel und seines Staatssekretärs Hans de With, der heute hier ist, im Jahre 1980, daß das Umweltstrafrecht aus der nebenstrafrechtlichen Versenkung herausgeholt und in das Kernstrafrecht übernommen wurde. Dadurch erst hat das Umweltstrafrecht seine heutige Bedeutung erlangt.
Jetzt gilt es nach den gemachten Erfahrungen, das geltende Umweltstrafrecht effizienter auszubauen. Selbstverständlich kann das Umweltstrafrecht — darauf möchte ich noch einmal hinweisen — selbst dann, wenn es, wie wir es wünschen, von seiner allzu strengen Verwaltungsakzessorietät befreit werden würde, allenfalls flankierenden Schutz bei groben und kriminellen Umweltverstößen bieten.
Das Umweltstrafrecht ist auch kein Mittel gegen die vielen Schäden, die unseren natürlichen Lebensgrundlagen ganz legal alltäglich zugefügt werden.
Umweltkriminalität ist häufig eine gesteigerte und besonders häßliche Form der Wirtschaftskriminalität, da viele Schäden, die der Umwelt aus Gründen wirtschaftlichen Vorteils zugefügt werden, nicht wieder behoben oder beseitigt werden können.
Lassen Sie uns deshalb heute einen entscheidenden Schritt tun, um die längst erkannten Mängel des geltenden Rechts zu beseitigen, damit dieser wichtige strafrechtliche Bereich endlich auch die nötige Wirksamkeit zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen entfalten kann.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Novellierung des Unweltstrafrechts ist in der letzten Legislaturperiode des Bundestages durch Zeitablauf nicht beschlossen worden; auch dieses Mal gab es einen starken Druck, von diesem Vorhaben abzusehen. Ich habe mich für eine Verabschiedung des Gesetzes eingesetzt, obwohl auch ich das Gewicht der Argumente der Gegner anerkenne.Der Wirtschaftsstandort Deutschland darf durch gesetzliche Vorgaben nicht so stranguliert werden, daß in ihm nicht mehr die Mittel erwirtschaftet werden können, die zu einer Verbesserung der Umwelt — und das ist kostenintensiv — benötigt werden.
Das Strafrecht ist die Ultima ratio, das letzte Mittel. Es muß sich an dieser Aufgabenstellung messen lassen. Ich bin der Auffassung, daß wir einen vernünftigen Mittelweg gefunden haben. Einerseits werden Lücken geschlossen und festgestellte Defizite im strafrechtlichen Schutz der Umwelt beseitigt; andererseits haben wir überspannte Forderungen abgewehrt und einleuchtende Änderungen während des Beratungsverfahrens vorgenommen.Um mit letzterem zu beginnen: Es gibt weiterhin keine Strafbarkeit von Amtsträgern. Der Vorsitzende des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, Professor Dahs — ihn möchte ich hier mit Ihrer Zustimmung zitieren — hat dazu völlig überzeugend ausgeführt, daß eine solche Strafbarkeit endgültig zu einer Lähmung der Umweltverwaltung führen, die Genehmigungsverfahren kaum noch akzeptabel verlängern und die Abwanderung qualifizierter Beamter weiter steigern würde. Das wäre ein Ergebnis, das im gesamten Bundesgebiet, aber insbesondere in den neuen Bundesländern nicht hinnehmbar ist.
Wir haben in § 324 a wie in § 325 und § 328 StGB die strafrechtlichen Bestimmungen gegenüber dem Re-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19173
Jörg van Essengierungsentwurf entschärft, ohne daß der strafrechtliche Schutz der Umwelt dadurch zu schwach geworden wäre. Als Beispiel dafür mag § 325 StGB dienen. Solange die Freisetzung von Schadstoffen das Kriterium des bedeutenden Umfangs außerhalb des Betriebsgeländes nicht erreicht, sind schützenswerte Belange der Allgemeinheit nicht verletzt.Im übrigen sei der Hinweis gestattet, daß durch die Verwaltungsakzessorietät sichergestellt ist — und wir behalten sie bei —, daß Entwicklungen im Umweltverwaltungsrecht auch im strafrechtlichen Bereich Wirkung entfalten. Wir als F.D.P. werden uns hier weiter für Deregulierung einsetzen.Zu den neuen Vorschriften, die mir besonders wichtig sind, zählt in erster Linie die neue einheitliche Bodenschutzvorschrift des § 324a StGB. Damit wird die Rechtseinheit in Deutschland wiederhergestellt; denn bisher gab es eine strafrechtliche Bodenschutzvorschrift nur im ehemaligen Strafgesetzbuch der DDR. Das ist übrigens ein weiteres Beispiel dafür, daß bei der Verwirklichung der Rechtseinheit in Deutschland westdeutsche Regelungen nicht einfach übergestülpt werden.Die Ausweitung des Luftverunreinigungstatbestandes um die Tathandlung des Freisetzens von Schadstoffen beseitigt die bisherige praktische Unanwendbarkeit des geltenden § 325. Wir gleichen im übrigen die Vorschrift an die ähnlichen über Gewässer- und Bodenverunreinigung an und tragen auch durch diese Angleichung zu einer besseren Verständlichkeit der strafrechtlichen Pflichten bei.Eine weitere beklagenswerte Lücke wird durch die Schaffung einer Strafvorschrift gegen die ungenehmigte grenzüberschreitende Verbringung gefährlicher Abfälle beseitigt. Dem illegalen Abfalltourismus, der insbesondere die wirtschaftlich schwachen Länder im Osten trifft, wird damit ein notwendiger strafrechtlicher Riegel vorgeschoben.Wer das verantwortungslose Verhalten von gewissen Tankwagenfahrern sieht, wird die Ausdehnung und Verschärfung des Tatbestandes über die Gefährdung schutzbedürftiger Gebiete, insbesondere von Wasserschutz- und Naturschutzgebieten, in § 329 StGB begrüßen. Auch das ist für mich sehr wichtig: Wir erweitern die Regelungen über die tätige Reue und schaffen damit einen Anreiz für eine rechtzeitige Gefahrenabwehr.Insgesamt ist uns ein abgewogener Entwurf gelungen, der zusammen mit weiteren Gesetzgebungsvorhaben in dieser Legislaturperiode deutlich macht, daß die Koalition den Schutz der Umwelt verbessert, ohne in Dogmatismus zu verfallen und berechtigte Interessen der Wirtschaft zu mißachten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ingeborg Philipp.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh darüber, daß der Begriff „Umweltkriminalität" Eingang in dieAmtssprache der Bundesrepublik gefunden hat. Es ist mir klar, daß dafür viel Kleinarbeit geleistet werden mußte, bis es soweit war. In den heutigen Gesetzentwürfen wird die Benennung der Probleme weiter konkretisiert. Das ist wichtig, aber eigentlich müßte noch viel, viel mehr getan werden. Dazu will ich etwas sagen.Die Industrieländer exportieren Pestizide in viele Länder der Dritten Welt. Nur selten sieht man Reportagen über Krankheiten und Leid, das damit angerichtet wird. Ich habe noch deutlich einen Bericht vor Augen über das Krankwerden und Sterben von Frauen, die wertvolle Blumen für den Export in die Industrieländer züchten, schneiden und verpacken. Sie leiden — und einige sterben — durch unsere umweltschädigenden Pestizide. Auch das gehört in den Bereich der Umweltkriminalität und sollte bald in Gesetzestexte gefaßt werden.
Gestern habe ich hier in Bonn eine Buchvorstellung mit Ernesto Cardenal erlebt. In seinem neuen, 600 Seiten umfassenden Gedichtband „Kosmischer Gesang " betrachtet er die Probleme unserer Erde und der Menschheit in kosmischer Dimension. Dieser Band wird zunächst mit Teilausgaben bekanntgemacht. Gestern haben lateinamerikanische Sänger und Musiker diese Lesung umrahmt. Gedankentiefe Texte und sensible Umsetzung in Musik sind ihre Gaben für uns. Müssen wir wirklich Leid und Tod über andere Völker bringen, und sind wir schon stumpf geworden für die Schönheiten des Lebens und die Verantwortung, die wir dafür haben?Wir müssen umdenken. Unsere Industrie, besonders die chemische Industrie, muß sich der Herausforderung stellen, Verantwortungsethik zu praktizieren. Dazu gehört nicht nur, daß umweltschädigende Exporte nicht mehr getätigt werden, sondern eine umfassende Umstellung des Produktionsprofils. Clinton und Gore beginnen ihren Weg mit einer klar benannten politischen Umsetzung von Verantwortungsethik. Die chemische Industrie sollte nicht zurückbleiben. Gorbatschow hat sich für Fehlentwicklungen im Kommunismus entschuldigt. Auch die chemische Industrie sollte das tun und mit einem konstruktiven Nachdenken beginnen.Es ist klar, daß eine Umstellung des Produktionsprofils nicht von heute auf morgen geschehen kann. Aber halten unser Planet und die Menschheit die Belastungen noch lange aus, die wir in den Industrieländern verursachen? Es ist fünf vor zwölf. Das sollten wir klar erkennen und begreifen.Vor kurzem war in der Reihe „Gott und die Welt" ein 30minütiger Beitrag zu sehen, der die Verantwortung für unsere Erde durch gute Texte, Bilder und Wortbeiträge von Peter Dürr und einem Pfarrer klarmachte. Morgen wird im Kunstmuseum die Präsentation des Buches „Rettungsaktion Planet Erde " stattfinden. Über 10 000 Kinder und Jugendliche aus 75 Ländern der Erde haben daran mitgewirkt. In Wort und Bild gestaltet wurde das Buch von einem Herausgeberteam junger Menschen aus 21 Ländern. Am „Earth Day " — das ist der morgige Tag — wird das Buch
Metadaten/Kopzeile:
19174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Ingeborg Philippweltweit in verschiedenen Sprachen vorgestellt werden, hier in Bonn durch Bundeskanzler Kohl. Dieser Beitrag zur Umsetzung der Agenda 21 wurde durch die UN initiiert, und wir sollten dafür auch weiter viel tun.Im Bundestag müssen wir gleichfalls viel tun. Dazu gehört der vorliegende Gesetzentwurf. Aber eine sehr große Arbeit zur weiteren Erkenntnis der Lage und zu einem angemessenen Problembewußtsein muß noch geleistet werden. Es ist noch nicht da.Ich danke.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rudolf Krause .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte ist eigentlich inhaltlich eine Fortsetzung der Umweltdebatte vom letzten Freitag. Aber ich vermisse Mitglieder des Umweltausschusses, des Wirtschaftsausschusses und natürlich auch die kleine Gruppe der GRÜNEN, die hier wohl vertreten sein sollten.
Deutschland hat das mildeste Strafrecht gegen viele Arten von Kriminalität, die wir importieren, aber es hat das schärfste Strafrecht gegen eine an sich schon überreglementierte Produktion. Lassen Sie mich fünf Punkte dazu sagen:
Erstens. Eine strafbewehrte deutsche Nationalökologie kann, wie streng auch immer, das globale Ökosystem dieses Planeten nicht retten,
Aber wenn sie ins Abseits läuft, stranguliert sie die deutsche Nationalökonomie, die deutsche Wirtschaft. Eine Produktionsverlagerung in andere Länder auf Grund überhöhter deutscher Umweltauflagen führt in der Ökobilanz dieser Erde immer zu wesentlich stärkeren Umweltverschmutzungen, Umweltvergiftungen, als wenn diese Produktion mit milderen Auflagen in Deutschland durchgeführt würde.
Zweitens: Eigendiskriminierung der deutschen Wirtschaft. Was bei uns zu produzieren unter Strafe gestellt wird, muß auch beim Import unter Sanktionen gestellt werden; sonst ist dies kein Beitrag für das Ökosystem dieses Planeten, sondern nur eine Eigendiskriminierung der deutschen Wirtschaft. All die hier genannten 300er-Paragraphen sind nur wirksam gegen die Produktion in Deutschland, auch gegen Abfallimporte, aber nicht gegen Produktimporte. Ich habe gesehen, wo die Blumen gebunden werden, die Sie genannt haben und die wir hier im Winter verkaufen. Das ist ein Pestizidimport in unsere Wohnstuben.
Drittens. Gut finde ich die Änderung der §§. 330 a und b. § 330b betrifft die tätige Reue. In § 330a Abs. 1 heißt es: „Wer Stoffe, die Gifte enthalten ... , verbreitet oder freisetzt und dadurch die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung" usw. Das gilt ohne Einschränkung, also auch für Nikotin, für Rauschgifte. Hierzu gibt es keine Ausnahmeregelung, keinen Absatz 4. Es gilt aber auch — ich sage das bei aller Brisanz — für aidsinfizierte Einwanderer und den Import anderer Schäden und Krankheiten, die
nach den Buchstaben des Gesetzes auch erfaßt werden.
Viertens. Dieses Gesetz ist nicht unzureichend, weil es zuwenig regelt, sondern weil es sich nur auf Deutschland bezieht. Wenn wir das schärfste Umweltstrafrecht auf dieser Welt haben, heißt das doch, daß wir dafür sorgen müssen, daß ein homogenes, ein gleiches Umweltstrafrecht auf dieser Erde existiert; sonst nützt es dieser großen Erde gar nichts. Am kleinen Deutschland, am deutschen Wesen wird beim Umweltstrafrecht die Welt eben nicht genesen.
Zum Schluß: Als Republikaner bin ich bestimmt kein Internationalist, aber ich fordere die Harmonisierung des internationalen Umweltrechtes und des internationalen Umweltstrafrechtes. Deutschland soll weiterhin eine Vorreiterrolle haben, 10 bis 20 % plus oder minus ja, aber ein nationalökologischer Wirtschaftsmasochismus führt zu mehr Arbeitslosen, und acht Millionen sind genug.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, unserem Kollegen Rainer Funke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, wieder zum Thema zurückzufinden. Das heute zu verabschiedende Gesetz hat seine Grundlagen in einem Gesetzentwurf aus der letzten Legislaturperiode. Ich hatte schon damals das Vergnügen, als Abgeordneter im Rechtsausschuß an der Novellierung mitwirken zu können. Daß sich das etwas länger hingezogen hat, liegt sicherlich auch an der Kompliziertheit der Materie, aber auch sicherlich daran — Herr Kollege Bachmaier, da gebe ich Ihnen recht —, daß hier unterschiedliche Interessen auszugleichen sind. Es ist überhaupt nicht zu leugnen, daß wir hier einen Interessenausgleich vornehmen müssen.Es kann auch nicht bestritten werden, daß die Bedrohung unserer Umwelt und damit unserer Lebensgrundlagen immer mehr zunimmt. Dem kann sich auch der Gesetzgeber in strafrechtlicher Hinsicht nicht verschließen. Praktische Erfahrungen, empirische Untersuchungen und wissenschaftliche Erörterungen hatten in den letzten Jahren in Teilbereichen Mängel und Probleme des im Jahre 1980 neugestalteten Umweltstrafrechts aufgezeigt. Das nunmehr vorliegende Gesetz enthält deshalb wesentliche Verbesserungen und Verschärfungen des Umweltstrafrechts und des Umweltordnungswidrigkeitenrechts.Der Tatbestand der Bodenverunreinigung in § 324 a StGB, der in diesem Bereich zur Wiederherstellung der Rechtseinheit in Deutschland führt — darauf hat der Kollege van Essen bereits hingewiesen —, wird eine zentrale Vorschrift des Umweltstrafrechts werden. Sie beseitigt in den alten Bundesländern den bisher nur mittelbaren und lückenhaften Schutz des Bodens gegen Beschädigung. Hier wird das neue Gesetz eine wesentliche Verbesserung bringen.Die Strafvorschrift der Luftverunreinigung wird im Gegensatz zur derzeitigen Lage erheblich an Bedeutung gewinnen. Das gilt insbesondere für den Emis-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19175
Parl. Staatssekretär Rainer Funkesionstatbestand in § 325 Abs. 2 StGB in der Fassung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses trotz der Einschränkungen gegenüber dem Regierungsentwurf. Dieser Tatbestand ist praktikabel ausgestaltet und wird in zahlreichen Fällen, die bisher und künftig durch § 325 Abs. 1 StGB nicht erfaßt werden, Anwendung finden und so einen erheblichen Beitrag zum Schutz der Luft leisten.Die Strafvorschrift der umweltgefährdenden Abfallbeseitigung in § 326 StGB, die in der Praxis bereits heute eine erhebliche Rolle spielt, wird generell erweitert und im Strafmaß verschärft. Hervorheben möchte ich den Absatz 2 dieser Vorschrift, durch den der verbotene und ungenehmigte Im- und Export von gefährlichem Abfall unter Strafe gestellt wird.Diese Regelung setzt das Basler Übereinkommen und eine entsprechende, am 6. Mai dieses Jahres in Kraft tretende Verordnung des Rates der Europäischen Gemeinschaft zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen um. Hiermit wird dem illegalen Abfalltourismus endlich ein Riegel vorgeschoben.Die Verlagerung unserer Abfallprobleme auf die Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa — worauf schon Herr Kollege van Essen hingewiesen hat — sowie vor allem auf die Länder der Dritten Welt ist und darf keine Lösung sein. Deutschland muß künftig in diesem Bereich endlich aus den Schlagzeilen der in-und ausländischen Presse herauskommen.
Ein weiterer Eckpunkt der Reform ist die Erweiterung des § 328 StGB um gefährliche radioaktive Stoffe. Durch die Neufassung der Absätze 1 und 2 dieser Vorschrift wird auf den vermehrt zu beobachtenden Schmuggel und den Vertrieb dieses Materials aus den Staaten Osteuropas rasch reagiert.Was die Kritik der Opposition an der Ausgestaltung der neuen Strafvorschrift über den illegalen Umgang mit gefährlichen Stoffen und Gütern im § 328 Abs. 3 StGB als konkretes Gefährdungsdelikt statt nach dem Regierungsentwurf als Eignungsdelikt angeht, will ich mit Nachdruck darauf hinweisen, daß diese Regelung auch in der Fassung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses über das geltende Recht hinausgeht.Spektakuläre Unfälle mit gefährlichen Stoffen und Gütern, wie beispielsweise die unvergessene Katastrophe von Herborn, werden künftig auch durch diese Vorschrift mit erfaßt. Die Vorschrift wirkt zudem einem weiteren Übel, nämlich der Tarnung von gefährlichen Abfällen als Wirtschaftsgüter, entgegen. Das gilt z. B. auch für den gesamten Seeverkehr. Das gilt auch für den Hamburger Hafen, von dem ich weiß, daß dort gelegentlich falsch deklarierter Abfall in die Dritte Welt entsorgt wird.Dem Strafrecht kommt auch und gerade im Umweltrecht nur eine flankierende und ergänzende Funktion zu. Dem Umweltverwaltungsrecht ist unter den Gesichtspunkten der Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung sowie aus praktischen Erwägungen heraus der Vorrang einzuräumen. Das Umweltstrafrecht soll lediglich die staatlichenZiele des Umweltrechts schützen und durchsetzen. Deshalb ist an dem Grundsatz der Verwaltungsakzessorietät im Umweltstrafrecht grundsätzlich festzuhalten. Das zur Abstimmung anstehende Gesetz sieht eine Lockerung der Verwaltungsakzessorietät bei rechtsmißbräuchlichen Verhaltensweisen nur in den Fällen vor, in denen sie zur Vermeidung unerträglicher Rechtsfolgen notwendig ist.Dieses Gesetz wird das bisherige Umweltstrafrecht schlagkräftiger ausgestalten. Nur wenn Vergehen oder Verbrechen an der Natur wirksam geahndet werden, lassen sich potentielle Täter abschrecken. Darüber hinaus wird dieses Gesetz zu einer weiteren Verfestigung des Umweltbewußtseins in allen Bereichen unserer Gesellschaft führen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Axel Wernitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 14 Jahre ist es her, daß die sozialliberale Bundesregierung und Koalition die wichtigsten Tatbestände zum Schutz der Umwelt in das Strafgesetzbuch aufnahm und daß somit die Umwelt als Rechtsgut im Kernstrafrecht anerkannt wurde. Diese Reform von 1980 markierte einen wichtigen Einstieg und einen bedeutsamen Schritt auf dem Weg zu einer angemessenen Ahndung von Umweltschäden. Vor allem aber kam es damals darauf an, gerade auch unter dem Blickwinkel der hier mehrfach erwähnten Prävention und des vorsorgenden Umweltschutzes das öffentliche Bewußtsein für die immense Schädlichkeit von Umweltbelastungen zu schärfen.In der Zwischenzeit — und das war nicht anders zu erwarten; das wird dem heute zu verabschiedenden novellierten Gesetz ähnlich gehen — haben sich in der Praxis Lücken und Schwachstellen des geltenden Umweltstrafrechts gezeigt. Wohl werden mehr und mehr Umweltdelikte polizeilich registriert, aber durch die zuständigen Staatsanwaltschaften werden — wie Kollege Bachmaier hier schon erwähnt hat — rund drei Viertel der Umweltstrafverfahren eingestellt. Die sogenannten großen Fische oder schwarzen Schafe — welches Beispiel aus der Tierwelt man immer wählt —, die Umweltdelikte rücksichtslos und aus Gewinnsucht begehen, werden zu selten gefaßt und angemessen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Neben Vollzugsdefiziten liegt dies eben auch an den spezifischen Defiziten des geltenden Umweltstrafrechts.Zwar ist dies bereits seit Jahren bekannt, dennoch gelang es in der letzten Legislaturperiode nicht mehr, das Umweltstrafrecht entsprechend zu modernisieren und zu effektivieren.Heute stehen wir nun nach den über Jahre gehenden Ausschußberatungen vor der parlamentarischen Beschlußfassung. So einmütig die Notwendigkeit einer Reform des Umweltstrafrechts auch hier im Hause allseits bejaht wird und bis zu dieser Debatte auch bejaht wurde, so sehr gehen zwischen Koalition und SPD-Fraktion die Meinungen darüber auseinan-
Metadaten/Kopzeile:
19176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Axel Wernitzder, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Unser Paket an Änderungsanträgen zum vorliegenden Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Umweltkriminalität dokumentiert dies.Nach unserer Überzeugung muß derjenige, der unsere natürlichen Lebensgrundlagen in krimineller Weise schädigt, streng bestraft werden. Umweltkriminalität darf sich nicht lohnen.
Unter anderem war und ist ein umfassender Schutz des Umweltmediums Boden dringend geboten. Dies ist hier auch schon angesprochen worden. Der Boden ist ein wesentlicher Teil des Naturhaushaltes und bildet die natürliche Lebensgrundlage für Menschen, Tiere und Pflanzen. Der Schutz des Bodens vor den Gefahren übermäßiger Nutzung und Verunreinigung gerade in einem so dichtbesiedelten und hochindustrialisierten Land wie Deutschland ist von größter Bedeutung.Positiv anzumerken — ich darf das unterstreichen, was hier von mehreren Rednern gesagt wurde — ist, daß mit dem einheitlichen Straftatbestand der Bodenverunreinigung — § 324 a StGB — in diesem Bereich die Rechtseinheit in Deutschland wiederhergestellt wird. Gleichwohl war bisher — wenn wir die Situation in der Altbundesrepublik sehen — auch der strafrechtliche Schutz des Bodens begrenzt. Seine Verunreinigung war nur strafbar, wenn sie durch umweltgefährdende Abfallbeseitigung begangen wurde oder Folge einer anderen Straftat war, wenn nachhaltige Eingriffe in Naturschutzgebiete erfolgten oder durch Freisetzen von Giften Menschen schwer gefährdet wurden.
Mit unserem Entwurfstext wird ein Tatbestand eingeführt, der die unbefugt begangene nachhaltige Bodenverunreinigung allgemein unter Strafe stellt. Damit wird nicht nur die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Rechtsgüter Wasser, Boden und Luft zum Ausdruck gebracht; vielmehr werden dadurch auch Strafbarkeitslücken geschlossen, die in der Praxis auftraten, wenn z .B. auf Grund des Umgangs mit gefährlichen Stoffen erhebliche Bodenverunreinigungen eintraten, aber die Schadstoffe nicht oder nicht nachweisbar zu einer Grundwasserverunreinigung führten, so daß auch der einschlägige § 324 StGB nicht eingreifen konnte.Es ist im übrigen nicht angemessen, mit dem Erlaß einer einschlägigen Strafnorm zuzuwarten, bis weitere verwaltungsrechtliche Regelungen für den Schutz des Bodes erarbeitet sind. Allerdings sind — zumindest vorübergehend — einzelne Lücken im strafrechtlichen Bodenschutz nicht auszuschließen, solange eine umfassende Normierung des Bodenschutzes noch nicht erfolgt ist.Vor diesem Hintergrund möchte ich an den aktuellen Antrag auf der Drucksache 12/6747 der SPD-Bundestagsfraktion vom 3. Februar dieses Jahres erinnern, mit dem wir die Bundesregierung aufforderten und auffordern, das angekündigte und seit vielen Jahren überfällige Bodenschutzgesetz und die entsprechenden Verordnungen unverzüglich vorzulegen.
Die Dringlichkeit einer bundesgesetzlichen Rahmen-Regelung für einen vorsorgenden Bodenschutz in Verbindung mit den entsprechenden landesrechtlichen Aktivitäten ist gerade heute offenkundig. Deshalb sollte die Bundesregierung bei dieser Gelegenheit erklären, ob sie an ihrem Vorhaben festhält oder nicht. Das jüngste Gespräch zwischen Umweltminister Töpfer und dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber in München dürfte wohl eher das Aus für das Bodenschutzgesetz in dieser Legislaturperiode markiert haben.Das heute zu novellierende Umweltstrafrecht sieht weiter ein Verbot des ungenehmigten grenzüberschreitenden Ex- und Imports von gefährlichem Abfall vor. Damit soll einem illegalen Abfalltourismus das Handwerk gelegt werden, der vor allem die Länder der Dritten Welt und Osteuropas belastet und wiederholt auch Deutschland negative Schlagzeilen gebracht hat. Ich weise in dem Zusammenhang auch auf das Ausführungsgesetz zum Baseler Abkommen hin, mit dem ein Schritt getan worden ist, der wichtig und unverzichtbar war.Die SPD-Fraktion ist darüber hinaus jedoch der Auffassung, daß der Anwendungsbereich des hier einschlägigen § 326 StGB allgemein auf den umweltgefährdenden Umgang mit gefährlichen Gütern auszuweiten ist. Auch das hat Hermann Bachmaier schon erwähnt. Ich darf das aus der Sicht der Umweltpolitiker noch einmal unterstreichen. Die von der Koalition konzipierte Begrenzung auf Abfälle würde wiederum zu erheblichen Lücken im strafrechtlichen Umweltschutz führen.Meine Damen und Herren, es gäbe eine breite Palette weiterer Punkte. Ich will mir das hier versagen. Dabei denke ich etwa an die Erweiterung der Strafvorschrift gegen die Luftverunreinigung. Auch hier gibt es Anmerkungen und konstruktive Präzisierungen seitens der SPD-Fraktion.Man kann sicher — das war mit ein zentrales Anliegen der SPD-Fraktion — über die Einführung eines § 329a StGB, nämlich die Strafbarkeit fehlerhaften Amtswalterhandelns, konstruktiv streiten. Aber ich bitte herzlich darum, lieber Kollege Schmidt, hier nicht die Keule des Ideologievorwurfs undifferenziert zu erheben. Das ist zu niedrig gegriffen und vielleicht auch zu niedrig geschlagen.Meine Damen und Herren, gelegentlich der Mitberatung dieses Gesetzgebungsvorhabens im Umweltausschuß hat die Koalitionsseite damit argumentiert, daß die lange Vorbereitungs- bzw. Vorlaufzeit dem Gesetzentwurf gut getan habe, also frei nach dem Motto — es wurde bei einem anderen Gesetzentwurf hier schon zitiert —: Was lange währt, wird endlich gut.
Herr Kollege Wernitz, es gibt den Wunsch zu einer Zwischenfrage des Kollegen Klejdzinski.
Ja, bitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19177
Herr Kollege Wernitz, Sie haben einerseits vom Bodenschutz und andererseits vom Schutz der Luft gesprochen. Meine Frage: Müßte konsequenterweise nicht auch der Meeresboden bzw. das Wasser oder der Nahbereich in eine solche Strafbestimmung grundsätzlich mit auf genommen werden?
Mit Sicherheit.
Denn bisher geht man darauf nicht ein, bzw. es ist inhaltlich auch noch nicht so auskristallisiert worden.
Sie haben recht. Die Problematik des Meeresbodens würde die Dimension der Schwierigkeiten hier aber noch potenzieren. Auch das muß man bei dieser Gelegenheit sagen. Aber Sie weisen zu Recht auf ein Problem hin, das bereits seit Jahr und Tag in der Diskussion ist.
Meine Damen und Herren, ich darf zu dem Sprichwort „Was lange währt, wird endlich gut" zurückkommen. Wir bieten Ihnen mit unseren Anträgen in der zweiten Lesung die Gelegenheit, dazu beizutragen, daß dies guten Gewissens gesagt werden kann. Wir würden damit gemeinsam eine effektivere Ahndung von Umweltkriminalität sicherstellen und damit einen entscheidenden Beitrag zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen leisten. Ich bin allerdings skeptisch, ob dieses Sprichwort die Mehrheit heute hier erreicht.
Vielen Dank.
Als nächster spricht unser Kollege Horst Eylmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich mit dem Begriff der Nationalökologie nicht viel anfangen kann und die GRÜNEN heute als politische Diskussionspartner ausfallen, weil sie dem Thema offenbar so wenig Bedeutung beimessen, daß sie gar nicht erst kommen, muß ich mich in erster Linie mit dem Kollegen Bachmaier auseinandersetzen.
— Es macht mir ausgesprochen Freude. — Er hat mit dem Temperament, das ihn auszeichnet und das die Diskussion in der Regel unterhaltsam macht, und auch mit der grob vereinfachenden Forschheit, die die Überzeugungskraft seiner Argumente manchmal etwas vermindert, den Entwurf als unzureichend bezeichnet. Er hat gesagt, der Berg habe gekreißt, und ein Mäuslein, ein strafrechtliches Mäuslein, sei herausgekommen.
Ich schließe daraus, daß Ihnen ein strafrechtlicher Elefant lieber gewesen wäre.
Natürlich hat auch das Argument nicht gefehlt, na ja, es seien nur die Wirtschaftskreise gewesen, die das verhindert hätten. Sie haben im übrigen die Verbände des öffentlichen Dienstes vergessen, die sich massiv gegen die Amtsträgerhaftung gewandt haben.Ein Argument haben Sie aber völlig vergessen, nämlich die Einwendungen, die von seiten der liberalen Strafrechtspflege erhoben worden sind. Das verwundert mich um so mehr, als Sie doch sonst — das nehmen Sie für sich in Anspruch — durchaus ein Sprachrohr dieser Richtung sind. Ich lese Ihnen einmal vor, was der DAV, der Deutsche Anwaltverein,
zum Regierungsentwurf gesagt hat:Der Entwurf leidet unter einer eklatanten Überschätzung der Funktionen des Strafrechts bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben zum Umweltschutz. Hierbei kann der Entwurf zwar auf eine traditionell irrationale Resonanz rechnen. Jedoch begründet gerade dies die Gefahr einer umweltverträglichen Fehlinvestition staatlicher Regelungsenergien.Mich überrascht nun, daß Sie sich heute auf der Seite der traditionell irrationalen Resonanz befinden und daß Sie diese liberale Kritik eigentlich überhaupt nicht aufnehmen. Mit der Kritik in dieser Einseitigkeit identifiziere ich mich zwar nicht; aber es gehört zur Vollständigkeit dazu, daß man sie erwähnt.
Ich will nur einige grundsätzliche Überlegungen, die uns bei dieser Frage wohl anstehen, hier artikulieren. Wir haben in der Strafrechtspolitik im Augenblick zwei Richtungen. Die einen reden der Entkriminalisierung das Wort; denken Sie an die Kommission in Hannover, die auch gerade von Anhängern der liberalen Strafrechtspflege besetzt worden ist. Auf der anderen Seite gibt es überall, einmal hier, einmal dort, die Neigung, das Strafrecht als Instrument gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen einzusetzen. Dabei müssen wir uns, wenn wir über die Frage „Was ist richtig? Was ist falsch?" entscheiden wollen, immer vor Augen halten: Das Strafrecht muß praktisch handhabbar bleiben. Es nützt überhaupt nichts, Straftatbestände zu schaffen, mit denen die Praxis nachher nicht arbeiten kann, die auf dem Papier stehenbleiben, die symbolisches Strafrecht sind.
Das Entscheidende ist der Vollzug. Weil wir beim Vollzug der Gesetze wegen ihrer Formulierung in einigen Punkten Schwierigkeiten hatten, haben wir das mit diesem Entwurf ausgebügelt.Außerdem, Herr Kollege Bachmaier: Die Bürger müssen einsehen, daß etwas strafbar ist. Der Gesetzgeber kann zwar diese Einsicht befördern, indem er etwas unter Strafe stellt. Aber das muß für die Bürger nachvollziehbar bleiben. Ich glaube, daß wir nichts erreichen, wenn wir die Bürger — in welchem Bereich
Metadaten/Kopzeile:
19178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Horst Eylmannauch immer — mit einer abgestuften, immer enger werdenden Wand von Strafvorschriften umstellen. Wir können nicht jeden unter Strafe stellen, der in irgendeiner Weise, die uns allen ebenfalls sehr leicht passieren kann, einen großen Schaden hervorruft. Das haben wir ja im Strafrecht. Kleine Versehen können große Schäden hervorrufen. Deshalb verlagern wir die strafrechtliche Grenze immer weiter in Richtung Bürger, ohne daß ein Schaden hervorgerufen zu sein braucht. Ich nenne das Stichwort „abstrakte Gefährdungsdelikte". Wenn wir auf diesem Wege fortfahren, dann entwerten wir nach meiner Auffassung das Strafrecht.Es gibt schon den ironischen Vorschlag, die angstfreie Daseinsgewißheit unter strafrechtlichen Schutz zu stellen. Sozialdemokraten lassen sich besonders leicht vom Impetus allgemeiner Volksbeglückung in Vorschläge hineintreiben, bei denen man noch von Glück reden kann, wenn sie wirkungslos bleiben.
In vielen Fällen sind sie aber sogar kontraproduktiv und richten mehr Schaden als Nutzen an.
Ein typisches Beispiel ist Ihr Vorschlag, den Sie ja mit aller Hartnäckigkeit verfolgen, die Amtsträgerhaftung einzuführen. Sie würde mehr schaden als nützen,
weil sich die Amtsträger in unseren Behörden bei jeglicher Neuerung äußerst schwer tun würden — wir erreichen ja mehr Umweltschutz, indem wir immer wieder neue Produktionsformen erfinden und auch zulassen —, den Innovationen zu vertrauen. Das wäre ein Schaden für die Umwelt und kein Nutzen.
Herr Kollege Eylmann, Sie haben sicherlich gemerkt, daß der Kollege Bachmaier eine Zwischenfrage zu stellen wünscht.
Aber mit großem Vergnügen.
Wunderbar.
Herr Eylmann, wenn Sie gerade nicht auf die Amtsträgerhaftung zu sprechen gekommen wären, hätte ich fast gedacht, Sie redeten vom Entwurf der Koalition. Jetzt die Frage: Ist Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß wir in unserem Gesetzentwurf entsprechend der Anregung auch weiter Juristenkreise — des Juristentages usw. — die Bagatellverstöße aus dem Strafrecht entfernt und in das Ordnungswidrigkeitenrecht verlagert haben? Dies zieht sich wie ein roter Faden durch unseren Entwurf. Ist Ihnen das entgangen, oder haben Sie vielleicht doch aus Versehen den falschen Entwurf genommen?
Nein, ich habe schon den richtigen Entwurf im Auge, Herr Kollege Bachmaier,
für dessen Verabschiedung ich mich, wie Sie wissen, sehr eingesetzt habe. Bagatelistrafrecht ist ein weites Feld. Wenn wir das fortführen, dann landen wir bei der Entkriminalisierung. Man muß mit aller Sorgfalt betrachten: Was ist wirklich eine Bagatelle, und was ist nur dem Anschein nach eine Bagatelle, aber in Wahrheit der Einstieg in schwerere Straftaten? Das ist ein schwieriges Thema, das wir an dieser Stelle nicht vertiefen sollten. Aber Sie weichen dem Problem aus.
Es geht mir darum, daß Sie in Ihrem Entwurf in vielen Bereichen, was die Strafbarkeit angeht, über unseren Entwurf massiv hinausgegangen sind. Deshalb wird sich die Kritik, die gerade von der liberalen Strafrechtspflege gekommen ist, noch viel mehr gegen Ihren Entwurf richten.
Ich wiederhole — lassen Sie mich das zum Schluß sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren —: Wir alle neigen manchmal dazu, vorschnell das Strafrecht ausweiten zu wollen. Ich will mich da gerne einschließen. Ich würde mir jedoch wünschen, daß wir, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir das tun sollten, das nie ohne Skrupel tun. Das Strafrecht ist ein scharfes Schwert. Wir dürfen die Schranken des Strafrechts nicht zu nahe und zu eng an den Bürger heranbringen. Es gibt eine Fülle anderer gesetzlicher Möglichkeiten, vielleicht sogar mit größerer Aussicht, das angestrebte Ziel zu erreichen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Umweltkriminalität auf den Drucksachen 12/192 und 12/7300, Buchstabe a. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7331 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? —
Wer stimmt dagegen? —
Das Präsidium kann sich nicht darauf einigen, daß wir eine Mehrheit haben. Deshalb verfahren wir nach unserer Geschäftsordnung: Wir lassen einen Hammelsprung stattfinden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19179
Vizepräsidentin Renate SchmidtIch bitte Sie, den Raum zu verlassen. Ich bitte die Schriftführer, die Türen zu besetzen. — Das ist kein Anlaß zur Erheiterung.
— Wir hätten zählen können. Dann wäre es eindeutig gewesen. Sie haben recht, Herr Kollege. Das wäre dann aber wiederum von jemandem angezweifelt worden, wahrscheinlich von Ihrer Seite, weil die Mehrheitsverhältnisse im Moment vergleichsweise eindeutig waren.
Ich bitte darum, nach unserer Geschäftsordnung zu verfahren. Verlassen Sie bitte den Raum. Ich bitte die Schriftführer, die Türen zu besetzen.Ich darf nun mit der Abstimmung beginnen. Wenn ich es richtig sehe, sind die Schriftführer auf ihren Plätzen. Ist alles klar? —Ich bitte diejenigen, die dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7331 zustimmen, durch die Ja-Tür, die dem Antrag nicht zustimmen, durch die Nein-Tür, und diejenigen, die sich enthalten wollen, durch die Tür „Enthaltungen" zu gehen.Die Abstimmung ist eröffnet.Wünscht noch jemand abzustimmen? — Ich darf dann bitten, daß ich von den Schriftführern gegebenenfalls eine Nachricht über das Ergebnis bekomme.Ich bitte, die Türen zu schließen und schließe hiermit die Abstimmung.Ich darf bitten, mich mit den vielfältig geäußerten Wünchen, daß es nicht mehr Hammelsprung heißen solle, zu verschonen oder einen anderen Vorschlag zu machen.
Ich darf das Abstimmungsergebnis vorlesen. An der Abstimmung haben 361 Kolleginnen und Kollegen teilgenommen. Mit Ja haben 131 gestimmt, mit Nein 230. Enthalten hat sich niemand. Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit deutlicher Mehrheit angenommen.Der Rechtsausschuß empfiehlt unter dem Buchstaben b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/7300, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/376 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19a bis h und zum Zusatzpunkt 2:19. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 7. November 1991 zum Schutz der Alpen
— Drucksache 12/7268 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger AusschußSportausschußAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismusb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Rabattgesetzes und der Verordnung zur Durchführung des Rabattgesetzes
— Drucksache 12/7271 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußRechtsausschußAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismusc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung und zur Änderung von Vorschriften auf den Gebieten der Land- und Ernährungswirtschaft— Drucksache 12/7133 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für GesundheitHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Lettland über den Luftverkehr— Drucksache 12/7189 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehre) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 17. März 1992 zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen
— Drucksache 12/7190 —
Metadaten/Kopzeile:
19180 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Vizepräsidentin Renate SchmidtÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Gesundheitf) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke ListeÄnderung des Bundesentschädigungsgesetzes— Drucksache 12/7256 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnungg) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller , Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Erhaltung der biologischen Vielfalt und Schutz gefährdeter Tropenholzarten— Drucksache 12/6420 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeith) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert Werner , Monika Brudlewsky, Claus Jäger und weiterer Abgeordneter Ausbau der sozialpolitischen Maßnahmen zur Förderung der Bereitschaft zur Annahme ungeborener Kinder in Konfliktlagen und zur Förderung der Familie— Drucksache 12/7098 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß Schutz des ungeborenen Lebens
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für GesundheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau HaushaltsausschußZP2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung des bundeseigenen Grundstückes in München an der Heidemannstraße— Drucksache 12/7146 —Überweisungsvorschlag: HaushaltsausschußInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Es gibt keine Einwände. Dann ist es so beschlossen.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, würden Sie es mir ein bißchen erleichtern, damit ich hier nichtherumbrüllen muß, sondern es etwas leiser sagen kann, und, soweit Sie hier wegmüssen, den Saal leise verlassen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20 a bis 20 d auf:20. Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme der Beamten und Arbeitnehmer der Bundesanstalt für Flugsicherung— Drucksache 12/6372 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/7085 —Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrüggerbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 6 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/7200 —Berichterstattung:Abgeordnete Werner Zywietz Wilfried BohlsenErnst Waltematheb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Dezember 1979 über die Anerkennung von Studien, Diplomen und Graden im Hochschulbereich in den Staaten der europäischen Region— Drucksache 12/4077 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 12/7217 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Dorothee Wilms Dr. Peter GlotzUlrich Irmerc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend zu der Unterrichtung durch die BundesregierungZweiter Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Gleichstellungsstellen in Bund, Ländern und Kommunen— Drucksachen 12/5588, 12/7066 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Dr. Marliese DobberthienDr. Margret Funke-Schmitt-Rinkd) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 147 zu Petitionen— Drucksache 12/7254 —
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19181
Vizepräsidentin Renate SchmidtWir kommen als erstes zum Tagesordnungspunkt 20 a und damit zur Abstimmung — ich meine mit der Bitte um etwas weniger Lautstärke auch die Regierungsbank — auf den Drucksachen 12/6372 und 12/7085.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig bei wenigen Enthaltungen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig bei einer Enthaltung angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20c, Drucksachen 12/5588 und 12/7066.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20 d auf der Drucksache 12/7254. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung ? — Gegenprobe? — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung bei wenigen Stimmenthaltungen angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20 b auf der Drucksache 12/4077. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7217, dem Gesetzentwurf unter Berücksichtigung der Anlagen 2 und 3 zuzustimmen. Bei den Anlagen 2 und 3 handelt es sich um Vorbehalte, die bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde erklärt werden sollen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen?— Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig ohne Enthaltungen angenommen.
— Entschuldigung, das habe ich nicht gesehen, Herr Kollege. Damit ist dieser Gesetzentwurf bei einer Gegenstimme angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde— Drucksachen 12/7295, 12/7327 —Wir kommen als erstes zu der Dringlichen Frage der Frau Kollegin Vera Wollenberger:Treffen Pressemeldungen vom 20. April 1994 zu, wonach die Bundesregierung für die durch die Hochwasserkatastrophe in Thüringen und Sachsen-Anhalt entstandenen Schäden 20 Mio. DM zur Verfügung stellen will, und beabsichtigt die Bundesregierung, angesichts der besonderen Lage in den neuen Ländern, darüber hinaus noch weitere Mittel unverzüglich zur Verfügung zu stellen oder andere Arten der Soforthilfe zu leisten?
Frau Präsidentin, ich darf die Frage wie folgt beantworten: Es ist zutreffend, daß die Bundesregierung den Ländern Thüringen und Sachsen-Anhalt angesichts der Hochwasserkatastrophe eine Soforthilfe von jeweils 10 Millionen DM zur Verfügung gestellt hat. Diese Hilfe soll in Sachsen-Anhalt insbesondere für ergänzende Schwerpunktmaßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft und Verkehr eingesetzt werden. In Thüringen sollen die Mittel für kommunale Straßen, Sportanlagen und die Landwirtschaft mit dem Schwerpunkt Gartenbau verwendet werden.
Die Bundesregierung hat den betroffenen Ländern zu den Einzelheiten Gespräche angeboten. Die Länder haben den Vorschlag aufgegriffen. Die Gespräche werden heute nachmittag fortgesetzt.
Hinzuweisen ist auch darauf, daß auf Grund einer mit dem Bundesminister der Finanzen getroffenen Rahmenregelung die obersten Finanzbehörden der Länder die Möglichkeit haben, den Geschädigten bei Naturkatastrophen durch steuerliche Maßnahmen zur Vermeidung unbilliger Härten entgegenzukommen. Ferner besteht für gewerbliche Betriebe die Möglichkeit, Investitionszuschüsse im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung" und Überbrückungskredite aus dem Mittelstandsprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau für diese Zwecke einzusetzen.
Der Bund hilft den betroffenen Regionen auch durch den tatkräftigen Einsatz von Technischem Hilfswerk und Bundeswehr. Seit dem 13. April sind in den Überschwemmungsgebieten Ortsverbände des Technischen Hilfswerkes aus den betroffenen Bundesländern sowie aus Niedersachsen mit über 1 000 Helfern und umfangreicher technischer Ausstattung im Einsatz. Schwerpunkt der Einsätze ist die Region Staßfurt. In enger Zusammenarbeit mit Feuerwehr, Bundeswehr und Bevölkerung wurden insbesondere Hochwasserdämme errichtet und gesichert.
Ingesamt möchte die Bundesregierung all denen danken, die sich in vorbildlicher Weise für die Gemeinschaft engagiert und dazu beigetragen haben, daß Leib und Gut vieler Mitbürger gesichert wurden.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Wollenberger.
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, welche Auswirkungen das Hochwasser auf die Landwirtschaft im Thüringer Becken hatte, und gibt es spezielle Hilfe für die Landwirte dort?Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Kollegin, ich sagte Ihnen schon, daß das Land Thüringen von den 10 Millionen DM, die wir zur Verfügung stellen wollen, einen Großteil für die Landwirtschaft und die laufenden Programme des Freistaates Thüringen einsetzen will. Darüber hinaus hat mich der Landwirtschaftsminister dahin gehend informiert, daß er sich auch bemühen wird, insoweit auch Programme der EG zu belegen, damit den Landwirten dort geholfen werden kann.Generell aber ist es heute noch schwer, die Schäden insgesamt oder auch individuell abzuschätzen. Ich war gestern selbst in der Region Erfurt und habe mir
Metadaten/Kopzeile:
19182 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bundesminister Friedrich Bohldas dort angeschaut. Dadurch, daß das Wasser noch nicht abgeflossen ist, ist es den betroffenen Landwirten noch gar nicht möglich zu sagen, wieweit Auswaschungen stattgefunden haben, wieweit das Saatgut verfault ist und vieles andere mehr. Es ist im Moment offensichtlich nicht möglich, einen umfassenden Überblick über die Schäden zu haben.
Nein, keine zweite Zusatzfrage. Aber jetzt hat der Kollege Brecht eine Zusatzfrage.
Herr Kollege Bohl, wie erklären Sie sich die Tatsache, daß aus Kreisen der Regierung anfangs eine andere Zahl als 10 Millionen sickerte, und diese Zahl 20 Millionen dann am 18. April auch über die Tagesschau ausgestrahlt wurde?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Das kann eigentlich nur ein Mißverständnis sein. Die Bundesregierung hat am Montag auf Wunsch des Herrn Bundeskanzlers entschieden, daß sowohl für den Freistaat Thüringen als auch für das Land Sachsen-Anhalt jeweils 10 Millionen als Soforthilfe zur Verfügung gestellt werden. Das sind also zusammen 20 Millionen DM. Es mag sein, daß es da in der Kommunikation irgendwie Mißverständnisse gegeben hat. Aber die Bundesregierung hat da immer eine eindeutige und klare Position gehabt.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Körper.
Herr Bundesminister, mich würde einmal interessieren, nach welchen Kriterien die Bundesregierung sich bei dem Hochwasser in Thüringen und Sachsen-Anhalt zu dieser Soforthilfe mit jeweils 10 Millionen entschlossen hat, neben den von Ihnen auch genannten steuerlichen Erleichterungen und somit Hilfen. Ich möchte Sie daran erinnern, als wir die Bundesregierung aus der Sicht des Landes Rheinland-Pfalz bezüglich des DezemberHochwassers mit verheerenden Schäden auf eine sogenannte Soforthilfe, wie sie jetzt praktiziert wird, angesprochen und um sie gebeten haben, hat die Bundesregierung das abgelehnt. Ich weiß nicht, ob das dem Gleichheitsgebot und der Gleichbehandlung der Bundesländer entspricht.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege, ich darf Ihnen dazu wie folgt antworten: Ich habe im Laufe des Montags fernmündlich Kontakt sowohl mit der Staatskanzlei in Thüringen als auch mit der Staatskanzlei in Sachsen-Anhalt gehabt. Auf Grund der dort entwickelten Überlegungen bezüglich der jeweiligen Landeshilfe war ich der Auffassung, daß es richtig sei, dem Herrn Bundeskanzler zu empfehlen, jeweils 10 Millionen DM zu nennen. Ich gebe gerne zu, daß ich das jetzt nicht exakt auf Heller und Pfennig begründen kann, aber nach pflichtgemäßem Ermessen war das, glaube ich, eine adäquate Zahl. Was Ihre Frage angeht, warum wir in Rheinland-Pfalz nichts gemacht und uns hier zu dieser Soforthilfe entschlossen haben, möchte ich Ihnen folgendes sagen: Nach der grundgesetzlichen Ordnung hat die Bundesregierung ja keine Kompetenz. Wo keine Kompetenz vorhanden ist, da ist ein Finanzierungsverbot gegeben.
Wie auch mein gestriger Besuch in den Hochwassergebieten gezeigt hat, ist doch folgendes festzustellen: Wir haben dort noch keine so eingefahrene, ausgebaute Verwaltung, keine Strukturen, wie das in den alten Ländern der Fall ist. Der Einsatz von THW, Bundeswehr und Feuerwehr hat natürlich noch Koordinierungsbedarf. Es ist unverkennbar, daß wir noch keine eingespielten Strukturen haben. Ich habe feststellen müssen, daß es mit der Meldung der Hochwasserpegel offensichtlich Probleme gegeben hat.
Wenn Sie mit Betroffenen sprechen, wie Sie es gestern getan haben, werden Sie feststellen, daß es für die Betroffenen natürlich ein Unterschied ist, ob sie seit 45 Jahren oder länger einen Gewerbebetrieb haben oder ob sie gerade eine solche Existenzgründung hinter sich haben und nun ihre Existenz durch das Hochwasser einfach weggeschwemmt wurde. Herr Kollege, vor diesem Hintergrund kann man, glaube ich, durchaus sagen, daß eine differenzierte Betrachtung angebracht ist. Deshalb sollten wir zu dieser Soforthilfe fähig sein.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Matschie.
Herr Minister Bohl, Sie selbst haben gesagt, daß sich die Schadenshöhe noch nicht voll abschätzen läßt. Wäre die Bundesregierung bereit, die Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, noch zu erhöhen, wenn sich erweist, daß die bisher vorgesehenen unzureichend sind?Wird in dem Zusammenhang eventuell auch daran gedacht, da unterstützend einzugreifen, wo Schäden nicht über Versicherungsleistungen abgedeckt werden können, beispielsweise auch im Bereich von Hauseigentum?Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege, wir stehen mit den Ländern in sehr intensiven Gesprächen. Ich habe in diesen Minuten die Chefs der Staatskanzleien bei mir im Bundeskanzleramt zu Besuch. Wir bereden alles. Die Bundesregierung wird sicherlich versuchen, auch die Schäden, die an Bundeseinrichtungen entstanden sind — also beispielsweise an den Bundesfernstraßen —, möglichst vorrangig und zügig zu beheben, d. h. die Bundesregierung wird sich auch hier bemühen, in Vorleistung zu treten.Sie sehen aber schon angesichts der Frage Ihres Kollegen zuvor, wie vermint das Gelände ist. Wenn die Bundesregierung jetzt mehr tun wird, könnte das natürlich als Präjudiz aufgefaßt werden, auch in anderen Ländern noch etwas zu tun, vielleicht sogar noch ex tunc zu tun. Das veranlaßt mich zu allerhöchster Zurückhaltung. Ich kann da also nichts in Aussicht stellen. Allerdings ist die Bundesregierung immer auf der Seite der Menschen. Wir werden zu jeder Zeit prüfen, ob aus der Not heraus noch etwas erforderlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19183
Bundesminister Friedrich Bohlist. Da wollen wir uns keineswegs grundsätzlich verweigern. Ich möchte aber nichts in Aussicht stellen und falsche Hoffnungen wecken. In erster Linie sind hier die Länder gefordert. Da bitte ich Sie um Verständnis.
Als nächstes folgt die Zusatzfrage des Kollegen Büttner.
Herr Bundesminister, ist denn sichergestellt, daß gemeinsam mit den Ländern die Auszahlung der Beträge relativ schnell und unbürokratisch erfolgen wird?
Sind der Bundesregierung schon einige Folgeschäden im Bereich Staßfurt bekannt? Denn bei Ihrem gestrigen Besuch werden Sie festgestellt haben, daß da eine besondere geologische Situation gegeben ist: Die Stadt sinkt bekanntlich Jahr für Jahr um zwei Zentimeter; sie ist ausgehöhlt wie Schweizer Käse. Der zusätzliche Wassereinbruch könnte bedeuten, daß weitere Senkungen eingetreten sind. Gibt es dazu schon erste Erkenntnisse?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Nein, die gibt es noch nicht. Auch ich habe dort zur Kenntnis nehmen müssen, daß durch den Bergbau — wenn ich das so verkürzt formulieren darf — ganz offensichtlich besondere Probleme in dieser Region vorhanden sind. Darüber wird man sicherlich gemeinsam mit dem Land reden müssen.
Natürlich brauchen wir diese Bestandsaufnahme jetzt einfach. Wenn die Bestandsaufnahme vorliegt, dann wird man sicherlich weitersehen. Auf alle Fälle wird unbürokratisch ausgezahlt. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat ja noch ein besonderes Programm aufgelegt, in dessen Rahmen die Landräte u.nd Oberbürgermeister und Bürgermeister einen besonderen Betrag zur Verfügung haben, den sie ohne Antragstellung auszahlen können. Ich glaube, die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat hier sehr weitsichtig gehandelt. Ministerpräsident Bergner, mit dem ich darüber gesprochen habe, wird sicherlich alles tun, um eine unbürokratische Auszahlung zu ermöglichen.
Ähnliches gilt für Thüringen. Dort konnte ich mit Innenminister Schuster und auch mit Ministerpräsident Vogel entsprechende Klarstellungen vornehmen. Dort wird ab Montag die Antragstellung erfolgen können. Die Bevölkerung des Freistaates Thüringen ist gestern durch eine Regierungserklärung des Innenministers über das informiert worden, was Sache ist und welche prozeduralen Dinge zu beachten sind, so daß ich sagen möchte: Die beiden Landesregierungen haben eigentlich in vorbildlicher Weise auf diese Herausforderung, die sicherlich ungewohnt war und ist, reagiert.
Als nächstes eine Zusatzfrage des Kollegen Hampel.
Herr Bundesminister, ich freue mich, daß die Bundesregierung so schnell bereit war, Hilfe zu leisten. Sie haben aber in Ihren Ausführungen gesagt, daß seitens der Bundesregierung keine Kompetenz und damit eigentlich auch ein Finanzierungsverbot gegeben ist. Ich frage Sie: Aus welchem Haushaltstitel werden diese 20 Millionen DM bereitgestellt?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Diese Haushaltsmittel werden aus den allgemeinen Finanzmitteln zur Verfügung gestellt. Es wird sicherlich auch im Haushaltsausschuß — da bin ich ganz sicher — eine Unterstützung für diese besondere Finanzierung geben.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Schwalbe.
Herr Bundesminister, ich hatte ja Gelegenheit, gestern mit Ihnen die Hochwassergebiete zu besuchen, und konnte mich dabei davon überzeugen, daß insbesondere das Technische Hilfswerk aus den alten Bundesländern vor Ort sehr aktiv war, weil ja in Sachsen-Anhalt und Thüringen die Hilfsorganisationen noch nicht so aufgebaut sind. Ich frage Sie: Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten — auch auf Grund einer Auswertung der Hochwasserkatastrophe —, das Technische Hilfswerk weiter zu unterstützen, so daß dort entsprechende Mittel für den Aufbau bereitstehen?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Ja, Herr Kollege Schwalbe, es ist völlig richtig: Ich hatte gestern ebenfalls Gelegenheit, mit der Landesvorsitzenden des THW von Sachsen-Anhalt darüber zu sprechen. Die Bundesregierung wird sicherlich — vertreten durch den Bundesinnenminister — hier nach Mitteln und Wegen suchen, um das THW auch in den neuen Ländern auf den Stand zu bringen, daß solchen Herausforderungen begegnet werden kann. Die technische Ausstattung des THW ist ja in der Tat derart, daß damit dort beachtliche Leistungen möglich sind.
Ich will noch einmal, an dieser Stelle betonen, daß bei meinen Gesprächen großer Respekt vor der Leistung der Bundeswehr sichtbar wurde. Allein in der Region Staßfurt sind 800 Bundeswehrsoldaten — bei insgesamt 2000 Helfern in dieser Region — im Einsatz,
und alle Beteiligten haben herzlich gedankt.
Nun eine weitere Zusatzfrage, diesmal der Kollegin Weyel.
Herr Minister, damit nicht ein falscher Eindruck entsteht: Wir begrüßen bei der Größe der Katastrophe ausdrücklich, daß in den beiden Ländern geholfen wird.
Aber ich muß in bezug auf die Begründung, die Sie eben in der Antwort auf die Frage des Kollegen Körper gegeben haben, doch noch einmal nachfragen. Sie haben die unterschiedliche Behandlung der alten und
Metadaten/Kopzeile:
19184 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Gudrun Weyelder neuen Länder damit begründet, daß der Bund im Falle von Rheinland-Pfalz keine Kompetenz hatte. Wollen Sie damit sagen, daß der Bund in den neuen Ländern noch Kompetenz hat?
Und zweitens: Bleiben Sie bei der Aussage, daß die Einrichtungen der Selbsthilfe in den neuen Ländern unfähiger sind als in den alten? Ich möchte das doch bestreiten.
— Doch, genau das hat er gesagt.Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Kollegin, ich bin sehr dankbar, zum einen dafür, daß Sie offensichtlich auch für Ihre Fraktion betonen, daß Sie das unterstützen, was die Bundesregierung getan hat. Das war sicherlich eine wichtige und wertvolle Klarstellung. Das zweite: Ich muß Ihnen zugeben: Nach Prüfung der Bundesregierung haben wir für diese Fälle eigentlich keine Finanzierungskompetenz. Das ist in der Tat richtig. Aber die Bundesregierung setzt darauf, daß der Haushaltsausschuß des Bundestages diese Vorgehensweise der Bundesregierung billigt. Wenn ein politischer Konsens da ist, sollte es möglich sein, so etwas zu tun.Was den letzten Teil Ihrer Frage angeht, kann ich eigentlich nur mißverstanden worden sein. Schauen Sie, es ist doch ganz klar: Wenn Sie z. B. in der Bonner Region oder auch in Ihrer Heimatregion, Frau Kollegin Weyel, das Technische Hilfswerk, die Feuerwehr und viele andere Hilfseinrichtungen seit vielen Jahren bei ähnlichen Anlässen im Einsatz sehen, wenn Übungen durchgeführt werden, wenn seit vielen Jahren Katastrophenschutzübungen — ich war ja nun auch jahrzehntelang in der Kommunalpolitik tätig — stattgefunden haben, ist das doch ein eingespielteres Verfahren, als wenn man in den neuen Ländern, wo wir das alles erst zum erstenmal gehabt haben, eine solche Herausforderung bestehen soll.Das hat doch nichts mit der Fähigkeit oder mit der Leistungsbereitschaft der Menschen vor Ort zu tun, sondern schlicht und einfach damit, daß Übung den Meister macht. Das muß man doch in Rechnung stellen. Weil wir das in Rechnung stellen, sind wir der Auffassung, daß wir besondere Hilfen seitens des Bundes geben sollten.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kronberg.
Sehr geehrter Herr Kollege Bohl, mich würde Ihr Eindruck von Ihrem gestrigen Besuch bei uns im Wahlkreis zusammen mit dem Kollegen Otto und mir interessieren, und zwar in bezug auf den Einsatz der Bundeswehr und des Technischen Hilfswerks. Ich meine nicht die Koordinierung, sondern die Einsatzbereitschaft dieser Einheiten.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Ich habe schon in anderem Zusammenhang anzudeuten versucht, daß sich die Soldaten und die Mitarbeiter des THW, auch der anderen Rettungsorganisationen, in vorbildlicher Weise eingesetzt und im Grunde genommen rund um die Uhr Dienst getan haben. Ich konnte z. B. mit den Soldaten der Bundeswehr sprechen, die — ich hoffe, ich werde jetzt nicht mißverstanden — sogar sehr froh waren, nicht Kasernenbetrieb zu erleben, sondern vor einer echten Herausforderung zu stehen, die sich eigentlich richtig mit Freude dieser körperlichen Anstrengung unterzogen haben und die dafür dankbar waren.
Ich kann auch sagen, daß sich die Bevölkerung — das habe ich von allen Bürgermeistern gehört, mit denen ich gesprochen habe — vorbildlich verhalten hat, daß der Gemeinschaftsgeist, der dabei sichtbar wurde, allgemein gelobt wurde. Vor diesem Hintergrund — ich sage es noch einmal — kann man nur voller Respekt davon sprechen, was die Menschen in diesen schweren Tagen in Thüringen und SachsenAnhalt bewältigt haben.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Minister, Sie haben vorhin vom lobenswerten Einsatz des THW gesprochen. Die Bundesregierung erarbeitet ein Konzept, das den dramatischen Abbau des THW vorgibt. Die Ehrenamtlichen fühlen sich übergangen. Zieht die Bundesregierung aus diesen Einsätzen, die so vorbildlich waren, Konsequenzen für das Konzept des THW in der Zukunft?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Die Bundesregierung ist immer in der Lage, auf neue Gegebenheiten angemessen zu reagieren.
Nun eine Zusatzfrage der Kollegin Hoth.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ich möchte ausdrücklich begrüßen, daß die Bundesregierung trotz der angespannten Haushaltslage direkte finanzielle Mittel für die betroffenen Bürger in den neuen Bundesländern bereitgestellt hat, denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, es müßte Ihnen allen klar sein, daß wegen des nach wie vor geringeren Einkommensniveaus in den neuen Bundesländern auch steuerliche Maßnahmen nur ganz bedingt greifen.Genauso wie es notwendig ist, direkte finanzielle Hilfen bereitzustellen, ist es aber auch notwendig, dies möglichst schnell zu tun.Deshalb hat sich die F.D.P. bereits in der gestrigen Sitzung des Haushaltsausschusses nach einer beratungsreifen Vorlage erkundigt, die aber gestern abend noch nicht vorgelegt werden konnte.Meine Frage deshalb an den Minister: Wann rechnen Sie damit, daß eine Vorlage in den Haushaltsausschuß kommen wird und wir darüber im Haushaltsausschuß abschließend, so hoffe ich, beraten können?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19185
Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin natürlich jetzt nicht in der Lage, einen exakten Termin sozusagen aus dem Handgelenk heraus zu nennen. Aber ich habe mich in diesen Sekunden mit dem Finanzministerium abgestimmt: Wir werden es unverzüglich tun. „Unverzüglich" wird bedeuten, so denke ich, daß es noch nicht in der nächsten Sitzungswoche sein kann; aber im Mai wird es vorgelegt.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Lambinus.
Herr Minister, ich möchte auf die Ursprungsfrage zurückkommen, bei der es um die Gleichbehandlung der einzelnen Bundesländer ging. Ich darf Sie deshalb, Bezug nehmend auf Ihr Schreiben vom 14. Januar an den Kollege Körper, in dem Sie schreiben, daß der Bundesminister der Finanzen am 27. Dezember 1993 breit angelegte Steuererleichterungen, z. B. Sonderabschreibungen, steuerfreie Rücklagen, Reduzierung der Einkommensteuer für Landwirte usw., für Rheinland-Pfalz angekündigt hat, fragen, was aus dieser Ankündigung wurde.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Bezüglich Rheinland-Pfalz?
Ja.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Da gilt sie weiterhin.
Sie ist nur angekündigt.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Nein. Herr Kollege, es ist ganz eindeutig, daß der Bundesfinanzminister mit der Erklärung vom 27. Dezember die geltende Rechtslage dargestellt hat. Aus der geltenden Rechtslage ergeben sich die steuerlichen Begünstigungen oder Möglichkeiten, die dort niedergelegt wurden. Im Rahmen dieser Möglichkeiten können die Geschädigten sozusagen ihre Interessen wahrnehmen.
Das unterscheidet uns in der Tat von der Situation in Sachsen-Anhalt und in Thüringen, wo die Menschen auf Grund der Besonderheiten, die jetzt nicht noch einmal dargelegt werden müssen, weniger oder gar keine Steuern zahlen und damit natürlich steuerliche Vergünstigungen auch nicht in Anspruch nehmen können, so daß wir dort mehr Direkttransfer brauchen, als das in den alten Ländern der Fall ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Klejdzinski.
Es muß nicht sein, aber es kann sein.
Ich frage jetzt noch einmal nach. Wir wollen uns nicht darüber streiten, Herr Minister, was angekündigt ist. Meine Frage lautet: Gibt es einen Erlaß der zuständigen Oberfinanzdirektion, der eindeutig erklärt, die und die steuerlichen Erleichterungen können in Anspruch genommen werden?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege Klejdzinski, es gibt eine Rahmenvereinbarung des Bundesfinanzministeriums mit allen oberen Finanzbehörden in den Ländern, die das beinhaltet, was Sie in dem Papier — ich vermute einmal, daß Sie das entsprechende Papier in der Hand halten — wiederfinden. Das ist aber nicht etwas, was nun gesetzgeberisch neu geregelt werden müßte, sondern ist geltende Rechtslage respektive entsprechende Interpretation und Auslegung der bestehenden Rechtslage.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen mir nicht vor. Weitere Fragen aus diesem Geschäftsbereich gibt es ebenfalls nicht. Herzlichen Dank, Herr Bundesminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen steht Frau Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 41 des Kollegen Dr. Walter Hitschler:
Sieht die Bundesregierung weitere Möglichkeiten, die aus einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme resultierenden nachteiligen Auswirkungen auf die persönlichen Lebensumstände betroffener Land- oder Forstwirte abzumildern?
Herr Kollege, das Verfahren zur Vorbereitung und Durchführung städtebaulicher Entwicklungsmaßnahmen sieht für die betroffenen Land- und Forstwirte eine Reihe von Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten sowie Hilfen und Rechtsansprüche vor, die nachteilige Auswirkungen auf die persönlichen Lebensumstände und die wirtschaftliche Zukunft von betroffenen Land-und Forstwirten vermeiden helfen und abmildern.So soll die Entwicklungsmaßnahme möglichst frühzeitig mit allen Betroffenen erörtert werden, damit sie zur Mitwirkung gewonnen werden. Die Gemeinden sind gesetzlich verpflichtet, die Auswirkungen der Entwicklungsmaßnahme mit den Betroffenen zu erörtern, insbesondere wie nachteilige Auswirkungen vermieden oder abgemildert werden können. Die Gemeinde hat den Betroffenen auch bei ihren Bemühungen, nachteilige Auswirkungen zu vermeiden oder abzumildern, zu helfen.Besonders hinzuweisen ist auch auf die Verpflichtung der Gemeinde, bei der Inanspruchnahme landwirtschaftlicher oder forstwirtschaftlicher Flächen geeignetes Ersatzland zur Verfügung zu stellen, und zwar auch aus gemeindeeigenen Beständen. Daneben ist bei Enteignungen eine Entschädigung auf Antrag des Eigentümers in geeignetem Ersatzland zwingend vorgeschrieben, wenn es zur Sicherung seiner Berufstätigkeit, seiner Erwerbstätigkeit oder zur Erfüllung der ihm wesensgemäß obliegenden Aufgaben erforderlich ist.Die Gemeinde kann auch die Einleitung eines Flurbereinigungsverfahrens beantragen. Schließlich können von städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen betroffene Land- und Forstwirte die Übernahme der gesamten Betriebsgrundstücke verlangen, wenn es ihnen aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr zugemutet werden kann, die Grundstücke zu behalten und den Betrieb weiterzuführen.
Metadaten/Kopzeile:
19186 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bundesministerin Dr. Irmgard SchwaetzerAngesichts dieser zahlreichen im Gesetz vorgesehenen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zusätzliche gesetzliche Maßnahmen oder sonstige Instrumente als nicht notwendig an.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Hitschler.
Frau Minister, ist die Bundesregierung bereit, über Modelle oder Konstruktionen nachzudenken, diejenigen Landwirte, denen durch eine solche städtebauliche Entwicklungsmaßnahme die Erwerbsgrundlage auf Dauer entzogen wird, in die Investitionstätigkeit der Baumaßnahme einzubeziehen und ihnen die Möglichkeit zu geben, die Mittel, die sie durch den Verkauf von Grund und Boden erlangen, dort steuergünstig anzulegen, um sie sozusagen in die wohnungswirtschaftlichen Absichten der Entwicklungsmaßnahme einzubeziehen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Für das Bundesbauministerium, Herr Kollege, kann ich Ihnen selbstverständlich zusagen, daß die Bundesregierung bereit ist, auch über weitergehende, über die gegenwärtigen Möglichkeiten hinausgehende Möglichkeiten nachzudenken, um sicherzustellen, daß dieses Instrument auf jeden Fall seine städtebauliche Wirkung entfalten kann.
Danke schön.
Frau Kollegin Peters, bitte.
Frau Ministerin, sind Ihnen Zahlen bekannt, die Entwicklungsmaßnahmen betreffen, die nach dem 1. Mai 1993 in Angriff genommen worden sind? Mich interessieren natürlich besonders die Zahlen, die sich auf landwirtschaftlichen Grund und Boden erstrecken. Um die Frage von Herrn Hitschler aufzunehmen: Wie ist dort vorgegangen worden? Oder liegen Ihnen keine Erkenntnisse vor?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, die genauen Zahlen der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen, auch die Zeitpunkte, zu denen sie eingeleitet worden sind, werden derzeit vom Deutschen Städtetag und vom Städte- und Gemeindebund bei den Gemeinden abgefragt. Ein Ergebnis dieser Umfrage liegt uns noch nicht vor. Aus sehr vorläufigen Erkenntnissen wissen wir, daß inzwischen weit über 100 städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen eingeleitet wurden, aber wann sie begonnen worden sind, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Ein Großteil dieser Entwicklungsmaßnahmen ist im landwirtschaftlichen Bereich in Angriff genommen worden.
Zu dieser Frage liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.
Wir kommen damit zur Frage 42 des Kollegen Peter Götz:
Nachdem die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme nach den §§ 165 ff. des Baugesetzbuches als ein effizientes Instrument zur Baulandbereitstellung gilt, frage ich, hält die Bundesregierung die Möglichkeiten der Mitwirkung für die betroffenen Eigentümer für ausreichend?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, durch die Regelung des § 137 Baugesetzbuch wird eine sehr frühzeitige Beteiligung der betroffenen Privaten sichergestellt. Die Entwicklungsmaßnahme soll mit den Eigentümern, Mietern, Pächtern und sonstigen Betroffenen möglichst frühzeitig erörtert werden. Dies beinhaltet, sowohl deren Mitwirkungsbereitschaft anzuregen als auch sie im Rahmen des Möglichen zu beraten.
Betroffen sind vor allem die Eigentümer der im Entwicklungsbereich gelegenen Grundstücke, da in förmlich festgelegten Entwicklungsbereichen die Gemeinde grundsätzlich alle Grundstücke zu erwerben hat.
So geht es im Rahmen dieser Beteiligung auch um die Ermittlung der Mitwirkungs- und Verkaufsbereitschaft der betroffenen Eigentümer. Für diese besteht auch die Möglichkeit, die Grunderwerbspflicht der Gemeinde abzuwenden, indem sie sich verpflichten und auch dazu in der Lage sind, das Grundstück binnen angemessener Frist entsprechend den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme zu nutzen.
Auch die Regelung zum Sozialplan aus § 180 Baugesetzbuch sieht vor, daß die Gemeinde Vorstellungen entwickeln und mit den Betroffenen erörtern soll, wie nachteilige Auswirkungen auf die persönlichen Lebensumstände der in dem Gebiet wohnenden und arbeitenden Menschen möglichst vermieden oder gemildert werden können. Zu den Einzelheiten habe ich soeben bereits Ausführungen gemacht.
Im Rahmen der Durchführung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme hat die Gemeinde nach § 166 Abs. 1 Baugesetzbuch für den städtebaulichen Entwicklungsbereich ohne Verzug Bebauungspläne aufzustellen. Wie bei jedem anderen Bebauungsplan sind auch hier die Regeln der Bürgerbeteiligung anzuwenden. Die Gemeinde hat aber die Möglichkeit, die Beteiligungsverfahren im Rahmen des Bauleitplanverfahrens mit der Beteiligung nach § 137 Baugesetzbuch zu verbinden.
Durch die Regelungen des Baugesetzbuchs sind also ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten für die betroffenen Eigentümer bereits ab einem sehr frühen Zeitpunkt gewährleistet.
Die Zusatzfrage, Herr Kollege.
Frau Ministerin, sind Ihnen Fälle bekannt, in denen diese frühzeitige Mitwirkung bei den Städten und Gemeinden nicht erfolgt ist?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, es ist auch dem Bundesbauministerium gelegentlich über Klagen berichtet worden, die sich in der Anfangsphase einer Diskussion über die Einrichtung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme ergeben haben.Ich denke, daß das auf eine gewisse Unsicherheit in der Anwendung eines Instruments zurückzuführen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19187
Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzerist, das in dieser spezifischen Ausformung erst seit dem 1. Mai des vergangenen Jahres besteht. Insofern sind wir natürlich auch daran interessiert, mögliche Unsicherheiten über die Anwendung zu beseitigen.Das ist die Begründung dafür, daß auch in vielen Fällen Informationsveranstaltungen mit den Gemeinden durchgeführt werden, um sicherzustellen, daß keine rechtsmißbräuchliche Anwendung erfolgt.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Götz.
Sehen Sie es auch so, daß es durchaus sinnvoll erscheint, wenn die Anwendungshilfen zur städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme, die seit mehreren Monaten von der ARGEBAU herausgegeben worden sind, auch den Gemeinden entsprechend zur Verfügung gestellt werden, bzw. ist Ihnen bekannt, ob die Gemeinden bereits diese Anwendungshilfe an der Hand haben?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, da wir ja als Bundesregierung ein hohes Interesse daran haben, daß die Gemeinden möglichst frühzeitig auch darüber informiert werden, wie die Anwendung zwischen Bund und Ländern vereinbart woren ist, ist in den Kommunalinformationen der Bundesregierung dieser Vorschlag für Erlasse veröffentlicht worden. Das heißt: Über die Informationen der Bundesregierung ist er den Gemeinden zugänglich geworden.
Nicht alle Länder haben diese Erlasse bereits förmlich auf den Weg gebracht, was ich bedaure. Aber, wie gesagt: Die Information über das, was darinsteht, ist allen Gemeinden zugänglich.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Frage 43 des Kollegen Götz:
Welche Bedeutung hat bei Anwendung der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme die Vorschrift des § 169 Abs. 4 Baugesetzbuch , nach der für Eigentümer land- und forstwirtschaftlich genutzter Grundstücke als Mindestentschädigung der außerlandwirtschaftliche Verkehrswert im Sinne von j 4 Abs. 1 Nr. 2 der Wertermittlungsverordnung zu zahlen ist, und sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen diese Vorschrift zur Anwendung gekommen ist?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, für den Regelfall der Inanspruchnahme land- oder forstwirtschaftlich genutzter Grundstücke im städtebaulichen Entwicklungsbereich gilt als Grundregel, daß der Eigentümer als Entschädigung den Verkehrswert erhält, der sich für sein Grundstück ohne Aussicht auf die Entwicklungsmaßnahme, deren Vorbereitung und Durchführung gebildet hat.
Da die Entwicklungmaßnahmen in den meisten Fällen in Gebieten durchgeführt werden, in denen sich bereits auf Grund des allgemeinen Siedlungsdrucks ohne Aussicht auf die Maßnahme Bauerwartungsland gebildet hat, wird auch dieser Wert Basis der Entschädigung sein. Wenn die Anwendung dieser Grundregel allerdings zu dem Ergebnis führt, daß sich für eine Fläche lediglich der sogenannte innerlandwirtschaftliche Verkehrswert ergibt, so liegt ein Sonderfall vor.
Die Regelung im § 169 Baugesetzbuch, die in solchen Fällen anzuwenden ist, besagt, daß nicht der eigentlich gegebene innerlandwirtschaftliche Verkehrswert entschädigt wird, sondern der höhere Wert des begünstigten Agrarlandes. Dieser ist identisch mit dem außerlandwirtschaftlichen Verkehrswert.
Die Anwendung der Sonderregelung ist also ein äußerst seltener Ausnahmefall. Dies hat sich auch bereits im Planspiel „Städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen" angedeutet, das 1993 im Auftrag des bayerischen Staatsministeriums des Innern durchgeführt wurde. Genauere Zahlen liegen der Bundesregierung nicht vor. Es läuft jedoch derzeit eine allgemeine Umfrage des Deutschen Städtetages und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, auf die ich bereits hingewiesen habe.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Sind der Bundesregierung Fälle — wie Sie sagen, mit wenigen Ausnahmen Sonderfälle — im einzelnen bekannt, in denen die Sondernorm des § 169 Abs. 4 des Baugesetzbuches greift und eine andere als im Wohnbaulandgesetz von 1993 vorgesehene Bestimmung angewendet wurde, also nicht der außerlandwirtschaftliche Wert als Mindestwert herangezogen worden ist?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Es hat, Herr Kollege, einen Fall einer rechtsmißbräuchlichen Anwendung der früher geltenden Regelung des Baugesetzbuches gegeben, die aber von dem für diese Region zuständigen Oberverwaltungsgericht außer Kraft gesetzt worden ist. Dieser Fall hat zu erheblicher Beunruhigung unter Landwirten generell geführt. Mit den Auswirkungen dieser Diskussion sind wir insgesamt auch heute noch beschäftigt.
Erste Hinweise aus der Umfrage des Deutschen Städtetages und des Städte- und Gemeindebundes bestätigen aber unsere Einschätzung, daß in ca. 90 % der Fälle Entschädigungsleistungen nach dem Wert von Bauerwartungsland gezahlt werden, auch weil sich ein entsprechender Wert bereits gebildet hat, und auch nur in einem geringen Teil der restlichen ca. 10 % der Fälle die Sonderregelung über den außerlandwirtschaftlichen Wert angewendet werden müßte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Kollegen Götz.
Der Hintergrund meiner Frage war, inwieweit die Bundesregierung es für notwendig erachtet, Veränderungen in einem Bereich vorzunehmen, der insgesamt eine ganz marginale, eine untergeordnete Rolle spielt und in dem, wenn ich Sie richtig verstanden habe, bei einer mißbräuchlichen Anwendung die Rechtsaufsicht zu Recht eingeschritten ist und Korrekturen vorgenommen hat.Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, die Bundesregierung sieht keinen Bedarf für eine Novellierung dieser Vorschrift des Baugesetzbuches. Sollte sich allerdings, sagen wir einmal, ein Konsens dahin gehend ergeben, daß mit einer klar-
Metadaten/Kopzeile:
19188 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzerstellenden Formulierung die Handhabbarkeit dieses Instruments weiter erhöht wird und damit gleichzeitig eine Beruhigung im landwirtschaftlichen Bereich eintritt, wäre die Bundesregierung durchaus bereit, eine solche klarstellende Formulierung, die aber am eigentlichen Rechtsgehalt des Baugesetzbuchs nichts ändert, mitzutragen.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Peters.
Frau Ministerin, als wir dieses Gesetz noch diskutiert haben, also im ersten Vierteljahr des Jahres 1993, haben, wie mir und sicher auch Ihnen bekannt geworden ist, Städte und Gemeinden Entwicklungsmaßnahmen schon beschlossen. Es waren sehr viele Entwicklungsmaßnahmen dabei, die sich wirklich auf das flache Land erstreckten. Ich meine solche Fälle wie den eines Bauerndorfs mit 400, 500 Einwohnern, dem eine Entwicklungsmaßnahme mit 3 000, 4 000 oder 5 000 Einwohnern, sage ich einmal sehr billig, angeklatscht wurde. Sind diese Dinge eigentlich zum Tragen gekommen, und können Sie mir einmal beantworten, ob diese Fälle bei der Verabschiedung des Gesetzes berücksichtigt worden sind?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme, die in der gegenwärtigen Situation im wesentlichen dazu angewandt wird, zusätzliches Bauland für Wohnungsbau bereitzustellen, ist natürlich immer nur in Abstimmung mit den Zielen der Landesplanung zu sehen und durchzuführen.
Mir ist nicht bekannt, daß solche Fälle, wie Sie sie gerade beschrieben haben, genehmigt worden wären. Daß es hier Ansätze gegeben hat, ist allerdings auch uns bekannt geworden.
Ich möchte allerdings auf einen zusätzlichen Aspekt hinweisen. Die Ziele der Landesplanung, aber auch die Landesentwicklungsplanungen mancher Länder, die zum großen Teil in den 70er und 80er Jahren erstellt worden sind, sind nicht auf den Zuwanderungsdruck vor allem im Umfeld der Ballungsgebiete zugeschnitten, so daß sich daraus für manche der Gemeinden in den Ballungsrandzonen erhebliche Probleme bei ihrer eigenen Entwicklung ergeben. Es entstehen dadurch aber auch erhebliche Probleme in den Ballungsgebieten insgesamt, zusätzliches Bauland für Wohnungsbau auszuweisen. Deswegen plädieren wir dafür, daß in diesem Zusammenhang von einer Vorschrift Gebrauch gemacht wird, die mit dem Baulandgesetz neu eingeführt worden ist: von der Möglichkeit, von den Zielen der Landesplanung abzuweichen, wenn das der Befriedigung eines dringenden Wohnbedarfes dient.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Hitschler.
Frau Ministerin, trifft es zu, daß einige Gemeinden den neuen Text des § 169 Abs. 4 des Bundesbaugesetzes in der Öffentlichkeit falsch ausgelegt haben, so daß es zu Irritationen, wie sie soeben geschildert wurden, gekommen ist? Ohne den materiellen Restgehalt dieser Vorschrift ändern zu wollen: Ist die Bundesregierung nicht doch bereit, um der Rechtsklarheit willen eine Änderung vorzusehen nach dem Motto der Prozessionen nach Lourdes: „Ob es hilft, weiß man nicht; schaden tut es in keinem Fall."
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, wenn irgend etwas der Rechtsklarheit dient und zusätzliche Beruhigung in diesem Bereich schafft, ist die Bundesregierung selbstverständlich gerne bereit, eine solche Klarstellung, die den materiellen Gehalt nicht verändert, mitzutragen.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor.
Die Fragen 44 und 45 des Kollegen Thomas Molnar werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Auch die Fragen 46 und 47 des Kollegen Jürgen Sikora werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 48 des Kollegen Hans Raidel:
Liegen der Bundesregierung Kenntnisse darüber vor, in welchem Umfang die Kommunen den zugunsten des nachträglichen Dachgeschoßausbaus eingeräumten Entscheidungsspielraum beim Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz ausnutzen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, nach § 4 Abs. 1 des Maßnahmengesetzes zum Baugesetzbuch kann nunmehr von einschränkenden Vorgaben zum Dachgeschoßausbau auch bei Bebauungsplänen aus der Zeit vor 1990 befreit werden. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Baugenehmigungsbehörden von dieser Vorschrift, für deren Anwendung ein großer Bedarf besteht, umfangreich Gebrauch machen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Raidel?
Nein.
Dann rufe ich die Frage 49 des Kollege Raidel aufIst der im Mustereinführungserlaß der ARGEBAU gegebene Hinweis zur zulässigen Überschreitung der Geschoßfläche als „kein atypischer Sachverhalt", der sich „nicht auf Einzelfälle beschränkt", dahin gehend zu verstehen, daß dies auch auf Neubaugebiete zutrifft, und in welchem Maße haben die Länder dem Appell des Deutschen Bundestages entsprochen, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen nachträglichen Dachgeschoßausbau durch Abbau überzogener landesrechtlicher Anforderungen, etwa bei Stellplatz- und Aufzugsnachweis, Mindesthöhe- und Brandschutzforderungen, zu verbessern?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, der Befreiungstatbestand des § 4 Abs. 1 des Maßnahmengesetzes zum Baugesetzbuch bezieht sich auf alle Bebauungspläne, bei denen die Baunutzungsverordnung in einer bis zum 26. Januar 1990 geltenden Fassung zugrunde gelegt worden ist. Die Vorschrift kann daher auch auf einen beabsichtigten Dachgeschoßausbau in Neubauvorhaben auf der Grundlage von Plänen aus dieser Zeit angewendet werden und ist nicht auf Ausbaumaßnahmen im Bestand beschränkt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19189
Bundesministerin Dr. Irmgard SchwaetzerSoweit bei neu aufzustellenden Bebauungsplänen die Baunutzungsverordnung in ihrer aktuellen Fassung anzuwenden ist, ist die Zulässigkeit eines Dachgeschoßausbaues zu ermöglichen. Das bedeutet, daß auch hier in erheblichem Umfange zusätzliche Möglichkeiten zur Schaffung von Wohnraum gegeben sind, die von den Gemeinden angewendet werden können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Kollegen Hitschler.
Frau Ministerin, nachdem der Kollege Raidel nur nach den Konsequenzen für die Länder gefragt hat, darf ich einmal nach den Erfahrungen bezüglich der Anwendung in einzelnen Städten, insbesondere solchen Städten, wo die Wohnungsnot in der Öffentlichkeit immer als am größten dargestellt wird, fragen. Wie verhält es sich beispielsweise in der Landeshauptstadt München?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ohne hier jetzt exemplarisch auf einzelne Städte ganz besonders eingehen zu wollen: Es wäre schon wünschenswert, wenn Städte, wie z. B. München oder auch Frankfurt, in größerem Umfange davon Gebrauch machen würden, Dachgeschoßausbau nach den erleichterten Möglichkeiten des jetzt veränderten Baugesetzbuch-Maßnahmengesetzes zuzulassen, und von den Befreiungstatbeständen z. B. bei dem Nachweis eines Stellplatzes, von den Befreiungsvorschriften für den Einbau von Aufzügen und von der Möglichkeit der Überschreitung der Geschoßflächenzahl, um genau diesen Dachgeschoßausbau zu genehmigen.
Der Bundesgesetzgeber hat also eine Menge an Flexibilität in diesem Bereich geschaffen, der dazu dienen kann, schnell zusätzlichen Wohnraum gerade in den besonders bedrängten Städten zu gewinnen.
Eine weitere Zusatzfrage zu dieser Frage vom Herrn Kollegen Klejdzinski.
Frau Ministerin, meinen Sie ernsthaft, daß man auf Stellplätze verzichten könnte, insbesondere unter der Maßgabe, daß gerade die Innenstädte, wenn sie alte Bausubstanz haben, kaum Stellplätze für Pkws zur Verfügung stellen können und die Städte in diesen Bereichen durch Autos zugestellt sind, beispielsweise auf Gehwegen, so daß eine Frau mit Kinderwagen nicht mehr durchkommen kann?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege Kledjzinski, es ist gängige Praxis der Städte, auf den Nachweis eines Stellplatzes zu verzichten, aber dafür hohe Ablösesummen zu verlangen.
In den Bereichen, die Sie angesprochen haben, können damit allerdings nur unter größten Schwierigkeiten überhaupt irgendwelche Möglichkeiten zur Unterbringung von Autos geschaffen werden. Sie müssen auch nicht sofort geschaffen werden. Denn die Gemeinden sind frei, zu welchem Zeitpunkt sie die
Ablösesumme zur Schaffung von zusätzlichen Parkmöglichkeiten verwenden.
Insofern hat sich zumindest in manchen Städten eine Praxis herausgebildet, bei der das Einfordern von Ablösesummen — zum Teil von mehreren 10 000 DM — und das Schaffen von Stellplätzen so weit auseinanderliegen, daß der Sinn nicht mehr gegeben war. Wir haben im Zusammenhang mit dem Maßnahmengesetz die Freistellung generell verankert, damit die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum zumindest nicht mehr durch größere Ablösesummen verhindert wird.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor.
Dann kommen wir zur Frage 50 des Kollegen Werner Dörflinger:
Welche Gründe sind nach Auffassung der Bundesregierung für die offensichtlich schleppende Umsetzung des Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes durch einige Lander maßgebend gewesen, und sieht die Bundesregierung dadurch einen bundeseinheitlichen Verwaltungsvollzug des Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes gefährdet?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, soweit ersichtlich, liegt die teilweise verzögerte Umsetzung des Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes sowie des Mustererlasses insbesondere in Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bau- und den Umweltressorts der Länder begründet, die sich nicht darüber einigen können, in welcher Form die naturschutzrechtlichen Eingriffsregelungen im Rahmen der Bauleitplanung zu prüfen sind. Vollzugsschwierigkeiten des Investitionserleichterungsund Wohnbaulandgesetzes dürften dabei vor allem in den Ländern entstehen, in denen der Mustererlaß zur Anwendung des Gesetzes noch nicht vorliegt und deren Verwaltungen daher hinsichtlich Auslegung und Anwendung einzelner Vorschriften nicht über die benötigten Hilfestellungen zur Umsetzung verfügen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Frau Minister, haben Sie nicht den Eindruck, daß die Tatsache, daß dieses wichtige Gesetz nicht in ausreichendem Maße umgesetzt worden ist, dazu beitragen könnte, daß manche Mittelinstanz und manche Sonderbehörde in ausgelatschten ideologischen Pfaden der Vergangenheit herummacht und nicht zur Kenntnis genommen hat, daß wir auf dem Wohnungsmarkt eine dramatisch veränderte Situation haben?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, zumindest ist eine solche Vermutung nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man die praktische Handhabung des Gesetzes vor Ort sieht. Die bekommen wir immer wieder vorgetragen. Insofern halte ich es für dringend erforderlich, den Einführungserlaß möglichst rasch zu verabschieden und überall zur Anwendung zu bringen, und zwar möglichst in der Form, auf die wir uns in der ARGEBAU geeinigt haben. Die Länder, die diesen Mustereinführungserlaß bisher noch nicht auf den Weg gebracht haben, planen zum Teil weitreichende Veränderun-
Metadaten/Kopzeile:
19190 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzergen dessen, was zwischen Bund und Ländern abgestimmt worden ist, und zwar im wesentlichen zu Lasten des Wohnungsbaus. Ich denke, daß der Effekt des Gesetzes, aber auch der Wille des Gesetzgebers — nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch im Bundesrat, der diesem Gesetz zugestimmt hat — dadurch nicht befördert wird. Vielmehr wird dem Ziel entgegengewirkt, was ich sehr bedaure.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.
Halten Sie es vor dem Hintergrund, den Sie eben schilderten, nicht für sinnvoll, wenn sich mancher Landtag, der sich manchmal über Mangel an Beschäftigung beklagt, eines solch wichtigen Themas annimmt und von der politischen Seite her Einfluß auf die Bürokratie nimmt, damit das, was Bundestag und Bundesrat gemeinsam gemacht haben, im Interesse der Menschen auch umgesetzt wird?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Ich wünschte mir in der Tat mehr öffentliche Wirksamkeit einer Diskussion über dieses wichtige Gesetz. Denn es bietet soviel Handhabe, die Voraussetzungen dafür rasch zu realisieren, daß die noch bestehenden Engpässe auf dem Wohnungsmarkt überwunden werden können, so daß es schon wichtig wäre, daß auf allen Ebenen — Baulandausweisung ist ein Punkt, wo der Bundesgesetzgeber, aber auch der Verordnungsgeber des Landes und die aktive Kommune gefordert sind — eine größtmögliche Aktivität entsteht. Ich sehe in vielen Gemeinden die Bereitschaft, zusätzliches Bauland auszuweisen. Aber die praktischen Schwierigkeiten des Vollzugs, die wir auch heute diskutieren, stehen dem weit entgegen.
Eine Zusatzfrage dazu vom Kollegen Horst Kubatschka.
Frau Ministerin, wo sind die größeren Schwierigkeiten, auf seiten der Kommunen und ihren Planern oder auf seiten der Eigentümer der Grundstücke und Häuser?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Weder noch, Herr Kollege. Die größten Schwierigkeiten sehe ich im Moment im Vollzug, darin, daß die Erleichterungen zur Verkürzung vom Planungsverfahren, die wir mit Zustimmung der SPD im letzten Jahr auf den Weg gebracht haben, in den Ländern noch nicht in vollem Umfange umgesetzt worden sind oder zum Teil so umgesetzt worden sind, daß sie den Zielen des Gesetzes entgegenlaufen.
Wir hatten gestern in der Fragestunde schon eine längere Debatte über die Anwendung der naturschutzrechtlichen Abwägungsregelung. Einige Länder haben die Schwierigkeiten bei der Baulandausweisung in der Umsetzung dieses Gesetzes durchaus vergrößert, was ich bedauere.
Weitere Zusatzfragen liegen dazu nicht vor.
Wir kommen zur Frage 51 des Kollegen Werner Dörflinger:
Hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, ob und welche Länder bei der Veröffentlichung von dem Text des Mustereinführungserlasses der ARGEBAU abgewichen sind oder vorhaben, dies zu tun?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, von den Ländern, die den Mustererlaß bereits umgesetzt haben, hat das Land Hessen Abweichungen hinsichtlich der Erläuterungen der umweltrechtlichen Regelungen in bezug auf die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung und Umweltverträglichkeitsprüfung vorgenommen bzw. angekündigt. Berlin hat auf Erläuterungen zur Eingriffsregelung verzichtet. Bayern hat einen vorläufigen eigenständigen Erlaß herausgegeben, ohne inhaltlich wesentlich vom Mustererlaß abzuweichen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Dörflinger.
Frau Minister, Sie haben eben Hessen erwähnt. Wie beurteilen Sie vor dieser generellen Aussage die Praxis z. B. des Regierungspräsidiums in Gießen, Gemeinden, die einen aus dem Flächennutzungsplan heraus entwickelten Bebauungsplan aufstellen, zu verpflichten, für die mit dem Bebauungsplan fixierte Menge an Gelände das Eineinhalbfache an Ausgleichsfläche zur Verfügung zu stellen, das Eineinhalbfache dessen, was mit dem B-Plan als Wohnbaufläche ausgewiesen werden soll?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, diese Praxis widerspricht zweifellos dem Kriterienkatalog, der in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Städtetag und dem Städte- und Gemeindebund für die Anwendung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung aufgestellt worden ist. Sie widerspricht selbstverständlich den Zielen einer zügigen Baulandausweisung zu angemessenen Preisen. Man darf sich doch nichts vormachen: Je mehr Ausgleichsland ausgewiesen werden muß, desto teurer wird das Bauland, und desto höher werden die Mieten der Häuser, die auf diesem Bauland errichtet werden. Insofern widerspricht eine solche Praxis selbstverständlich den Zielen des Baulandgesetzes, nämlich möglichst rasch und auch möglichst preiswert Bauland für den Wohnungsbau bereitzustellen.
Eine Zusatzfrage.
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, einer solchen Entwicklung, wie sie sich jetzt im Land Hessen abzeichnet, entgegenzusteuern, vor allen Dingen auch im Hinblick auf mögliche Praktiken in anderen Ländern, die nachfolgen könnten, und wenn ja, in welcher Form?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, Sie wissen, daß die verabschiedete Fassung des Baulandgesetzes ein Kompromiß zwischen Bundestag und Bundesrat gewesen ist. Zu meinem Bedauern hat die Mehrheit der Länder im Bundesrat im Vermittlungsausschuß durchgesetzt, daß ein Abweichen von der bundesgesetzlichen Regelung in dieser Beziehung möglich ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19191
Bundesministerin Dr. Irmgard SchwaetzerUm das gesamte Planungsinstrumentarium zur Anwendung gelangen zu lassen, haben wir alle dieser Möglichkeit einer abweichenden Regelung zugestimmt. Jetzt liegt es an der hessischen Landesregierung — gerade in den Ballungszentren im Lande Hessen gibt es ja durchaus gravierende Probleme der Baulandbereitstellung —, dafür zu sorgen, daß der Wunsch nach stärkerem Wohnungsbau, und zwar in Richtung preiswerter Wohnungen, nicht nur ein Wunsch bleibt, sondern Realität wird. Wir haben hier ein klassisches Beispiel dafür, wie wenig die Relevanz von Umweltregelungen und deren Kosten für die Kosten des Wohnens gesehen, diskutiert und berücksichtigt wird.
Jetzt lasse ich noch zwei Zusatzfragen zu; dann sind wir am Ende der Fragestunde angekommen. Als nächstes kommt die Zusatzfrage des Kollegen Hitschler, dann noch die des Kollegen Kuhlwein.
Frau Ministerin, halten Sie es angesichts dieser hessischen Praxis überhaupt noch für möglich, im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus preiswerten Wohnraum zu schaffen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, da diejenigen, die auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind, ja keine höheren Einkommen haben, wird der Betrag an Subventionen pro Wohnung, den der Steuerzahler zur Verfügung stellen muß, höher. Das heißt, diese Umweltmaßnahmen beinhalten, daß für jede Wohnung mehr Steuermittel aufgewendet werden müssen, damit Haushalte mit einem kleinen Einkommen angemessenen Wohnraum erhalten. Schon deswegen halte ich es für äußerst wichtig, daß gerade die Auswirkungen solcher, wie ich finde, sehr exzessiven Umweltregelungen auf die Kosten des Wohnens transparent gemacht werden.
Nun die letzte Zusatzfrage, nämlich die des Kollegen Eckart Kuhlwein.
Frau Bundesministerin, nachdem Sie sich eben so stark dafür gemacht haben, daß weniger Ausgleichsflächen für bebaute Flächen geschaffen werden: Teilen Sie die Auffassung, daß es langfristig für alle teurer wird, vor allem auch für unsere Kinder, wenn kein Ausgleich für bebaute Flächen geschaffen wird, so daß immer mehr Natur in der ohnehin dichtbesiedelten Bundesrepublik Deutschland zerstört wird?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Sie wird mir natürlich immer wieder von Menschen gestellt, die genauso wie Sie und ich, in guten Wohnverhältnissen leben. Ich glaube, daß dies ein Grundwiderspruch auch der wohnungspolitischen Diskussion ist, die in der Bundesrepublik Deutschland stattfindet. Ich muß Ihnen ganz klar sagen: Bei der Zuwanderung, die die westlichen Bundesländer seit 1988 erlebt haben, ist eine Bewältigung der Wohnungsprobleme überhaupt nicht möglich, ohne daß zusätzliche Flächen für den Wohnungsbau ausgewiesen werden. Wir haben im vergangenen Jahr mit dem
Baulandgesetz eine, wie ich finde, sehr sorgfältig zwischen den naturschutzrechtlichen und umweltschutzrechtlichen Belangen und den Belangen der Wohnungssuchenden abgewogene Regelung eingeführt. Diese abgewogene Regelung wird zugunsten eines Faktors von einzelnen Ländern, wie ich finde, schlecht angewendet. Es ist eine Regelung gegen die Wohnungssuchenden.
Es ist doch völlig klar, Herr Kollege, daß der Zuzug der uns in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch bevorsteht, nämlich noch einmal ca. 4 Millionen Deutsche aus Osteuropa, in den Baulücken der 80er Jahre nicht zu bewältigen ist. Deshalb ist es zwingend erforderlich, eine solche Abwägung zwischen naturschutzrechtlichen Belangen und den Belangen der Wohnungssuchenden so vorzunehmen, daß ein Ausgleich stattfindet und nicht die eine Seite so bewertet wird, daß letztlich das Wohnen unbezahlbar wird.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Die beiden letzten Fragen dieses Geschäftsbereiches werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herzlichen Dank, Frau Bauministerin.
Wir sind damit auch am Ende der Fragestunde angekommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde
Lage in Gorazde und Hilfe der Bundesregierung für die bedrohten Menschen
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat eine Aktuelle zu diesem Thema beantragt.
Ich möchte Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, darauf hinweisen, daß auf der Tribüne der Oberbürgermeister der Stadt Tuzla, Herr Selim Beslagic, mit Begleitung Platz genommen hat.
Wir freuen uns, daß Sie heute Gast im Deutschen Bundestag sind.
In Tuzla haben bis heute bosnische Bürger katholischen, orthodoxen und muslimischen Glaubens zusammengelebt, zusammengearbeitet und sich auch gemeinsam gegen die tödlichen Gefahren verteidigt.
Wir wünschen Ihnen, Herr Oberbürgermeister, und Ihrer Begleitung Mut und Tatkraft für die schwierige Lage, die Ihre Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger jetzt zu meistern haben. Herzlichen Dank, daß Sie hier bei uns sind!
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Vera Wollenberger.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Die Menschen vor Ort glauben zum erstenmal seit langer Zeit mindestens an die Möglichkeit eines
Metadaten/Kopzeile:
19192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Vera WollenbergerFriedens", sagte Außenminister Kinkel vorige Woche an dieser Stelle in seiner Regierungserklärung.Die Menschen von Gorazde konnten ihn wegen des Granatfeuers auf die Stadt nicht hören. „Hier herrscht die Hölle auf Erden", schildert ein Amateurfunker die Lage der 65 000 Eingeschlossenen. Es muß wirklich nicht weniger als die Hölle sein, wenn der Bürgermeister der Stadt, Ismel Brija, über Funk die NATO auffordert, Gorazde endlich zu bombardieren, um die „ qualvolle Agonie, in der wir uns befinden, endlich zu beenden".So sieht das „eingetretene positive Momentum" — Zitat des Herrn Kinkel — wirklich aus, das der Außenminister vorige Woche unbedingt zu erhalten wünschte.Während hier im Plenarsaal je nach Temperament und Laune beschwichtigt, schöngeredet oder Wahlkampf gemacht wurde, sind in Gorazde die Grundwerte der westlichen Demokratie in Trümmer gelegt worden.Während Karadzic Gorazde bombardieren ließ, teilte er den Medien mit, er tue dies nur, um aus der Stadt eine sichere, entmilitarisierte Zone zu machen. Pflichtschuldigst wurden seine Statements in der Welt verbreitet, zur besten Sendezeit im Fernsehen, während die Hilferufe der Betroffenen über die Tickermeldungen nicht hinauskommen.Seit 1991 läßt man Karadzic, Milosevic & Co. ungehindert ihr Großserbien herbeibomben. Seit 1991 läßt man sie Absprachen brechen, Zusagen nicht einhalten, die Zivilbevölkerung massakrieren.Monatelang wurde die Öffentlichkeit mit Scheinverhandlungen der sogenannten UN-Vermittler Stoltenberg und Owen hinters Licht geführt. Wie sehr Herrn Stoltenberg bei seinem Wirken das Wohl Serbiens am Herzen liegt, hat zuletzt seine abwehrende Reaktion auf die Vorschläge von Präsident Clinton deutlich gemacht. Durch Sanktionen, Drohungen und Bombardements könnte der Krieg nicht beendet werden, sekundiert ihm Karadzic, der ungestraft behaupten darf, seine Einheiten würden „nur zurückschießen".Er sagt das zu einer Zeit, da sich Europa darauf vorbereitet, mit Pomp den 45. Jahrestag des Beginns der Offensive gegen eine Armee zu feiern, die ihre Eroberungen begann, indem sie „seit 5 Uhr morgens zurückschoß".Seit 1991 fehlt es am politischen Willen, die serbische Aggression zu stoppen. Es fehlt am politischen Willen, die eigenen Beschlüsse in die Tat umzusetzen. Das hat die Katastrophe von Gorazde herbeigeführt und nicht, daß es unmöglich war, eine drittklassige Armee daran zu hindern, mit Gewalt eine Politik der Eroberung und der ethnischen Säuberungen fortzusetzen.Mit dem Dreistufenplan von Präsident Clinton würde sich noch einmal Handlungsspielraum ergeben, vorausgesetzt, dieser Plan wird endlich in die Tat umgesetzt. Die schweren Waffen der Serben auszuschalten, ihre Nachschublinien in Bosnien abzuschneiden hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon vor einem Jahr gefordert.Jetzt, wo von Clinton ein ähnlicher Vorschlag kommt, ist es für Gorazde bereits zu spät. Nicht zu spät wäre es aber für die anderen UN-Schutzzonen. Ich denke, es ist höchste Zeit, allerhöchste Zeit, daß es die UNO nicht länger duldet, daß Menschen in UNO- Schutzzonen schutzlos ihren Mördern preisgegeben werden, oder, wenn sie ihre Schutzzone nicht schützen will, wenigstens nicht länger verhindert, daß sich diese Menschen selbst verteidigen können.Ich erinnere daran, daß die Verteidiger von Gorazde vor einem Jahr im Vertrauen auf die UNO ihre schwere Artillerie abgegeben haben. Das Resultat können wir heute im Fernsehen betrachten. Heute bleibt für Gorazde nur noch die Möglichkeit, die Menschen sofort zu evakuieren, und zwar mit allen notwendigen Mitteln. Das ist das zynische Resultat unrühmlicher westlicher Appeasement-Politik. Die Serben werden ihr Ziel der ethnischen Säuberung und gewaltsamen Eroberung mit UNO-Hilfe erreichen. Dafür ist auch Außenminister Kinkel mitverantwortlich, der, statt zu handeln, beschwichtigt und schöngeredet hat. Deshalb fordere ich unseren Außenminister, der heute leider nicht da ist,
auf, endlich den politischen Willen aufzubringen, den Völkermord in Bosnien zu beenden.
Als nächster spricht der Abgeordnete Heinrich Lummer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eine Aktuelle Stunde zu einem Thema, das uns viel Sprachlosigkeit, ein Stück Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit demonstriert hat. Auch die Worte derjenigen, die die Aktuelle Stunde beantragt haben, werden den Menschen in Gorazde nicht helfen.
Das ist die Situation, in der wir uns hier und heute finden, und das erfüllt einen natürlich mit einer unglaublichen Bitterkeit, so daß man manchmal keine Neigung und Lust mehr hat zu reden.Aber das alles hat uns einige Lehren vermittelt. Ich glaube, dies müssen wir bedenken und uns selber vor Augen führen, ehe wir so lapidare Schuldzuweisungen treffen wie „Man läßt sie da hängen" oder „Es fehlt am politischen Willen". Es hat sicherlich viel guten Willen gegeben, aber es gibt jene, die heute Taten fordern und gestern noch der Untätigkeit das Wort geredet haben, gesagt haben, die Außenpolitik müsse total entmilitarisiert bleiben.Eine der bitteren Lehren ist die, daß es wohl mit einer entmilitarisierten Außenpolitik nicht gehen kann, sondern daß derjenige, der den Frieden bewahren will, auch bereit sein muß, ihn wiederherzustellen. Er muß bereit sein, auch eine Eskalation in Kauf zu nehmen; denn dies wird nicht von den Gutwilligen, sondern von den Bösewichten bestimmt. Es bleibt immer noch richtig: Man kann nicht in Frieden leben,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19193
Heinrich Lummerwenn dies dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Dies ist eine dieser Lehren.Ich kann für mich in Anspruch nehmen, zu einem Zeitpunkt den Einsatz militärischer Mittel gefordert zu haben, als das noch Sinn machte, als es noch realistisch und vernünftig war, vor fast zwei Jahren. Heute ist das alles viel problematischer und schwieriger geworden.Meine Damen und Herren, wir müssen auch jene Lehre zur Kenntnis nehmen, die uns für künftige Zeiten Unglaubliches kosten kann. Wenn sich jemand die Geschichte der Drohungen, der Beschwichtigungen, der ungezählten Waffenstillstände, der Brüche derselben, der Demütigungen — ich selber komme mir so vor — vor Augen führt, weiß er doch: Wenn man Politik macht und dabei, gerade hier, Versprechungen abgibt, dann muß man es glaubwürdig tun, dann muß man das durchstehen. Sonst verliert jede Abschrekkungsstrategie, die den Frieden bewahren will, ihren Sinn und ihre Chance. In dieser Situation finden wir uns heute.Nun gibt es einige, die fordern, das Waffenembargo aufzuheben, einige, die sagen, man solle die Leute evakuieren. Alles das kommt auf den Tisch. Aber sind das Lösungen? — Ich meine, wir sind heute in der Situation — weil wir, und zwar allesamt, das Richtige und Notwendige nicht getan haben —, daß heute sogar die Möglichkeiten fehlen, humanitäre Hilfe in ausreichendem Umfange zu leisten. Die Voraussetzung auch für humanitäre Hilfe wäre gewesen, daß man sich im richtigen Moment auch mit militärischen Aktionen engagiert hätte. Wir sind ja bereit gewesen — und sind es nach wie vor —, das alles zu leisten, was humanitär nur denkbar ist. Wir sind diejenigen, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Die Bereitschaft bleibt ja doch im Grundsatz bestehen. Wir sind bereit, vor Ort zu helfen und zu tun, was immer da möglich sein wird.Aber sicherlich müssen wir auch vorsichtig sein mit guten Ratschlägen an andere, weil wir uns selber zum Teil gebunden haben. Immerhin gibt es eine Partei hier im Hause, die in ihrem Programm gesagt hat, wir dürften unser Militär nicht einmal für friedensbewahrende Maßnahmen, etwa als Blauhelme, einsetzen. Das muß man alles sehen. Wir können dann nicht anderen in einem bestimmten Sinne gute Ratschläge erteilen.
— Ich meinte nicht Sie! Haben Sie das Programm der PDS nicht gelesen? — Entschuldigung!Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben im Moment nur die Chance, die Offerten anzunehmen, die der amerikanische Präsident gemacht hat. Es gibt Gespräche auf höchster Ebene. Denn eines ist ja klar: Es gibt einen Erkenntnisprozeß, der dazu geführt hat, daß man jetzt wohl an den Punkt kommt, wo Handeln zwingend geboten ist.Wenn dies Schule macht, frage ich mich, wie wir künftig überhaupt noch friedensbewahrend tätig sein können. Wir jedenfalls sollten den Menschen in Bosnien-Herzegowina, wir sollten der Öffentlichkeit inDeutschland, wir sollten den Vereinten Nationen und denjenigen, die noch mehr Verantwortung tragen als wir, deutlich machen, daß wir Deutschen bereit sind, im Rahmen unserer Möglichkeiten alles zu geben, was irgendwie denkbar ist. Daran soll es keinen Zweifel geben.Man stelle sich die Situation vor, daß der Bürgermeister von Gorazde meint, die humanitärste Lösung sei möglicherweise, einen anständigen Tod zu sterben! Für den ist vielleicht Evakuierung gar nicht die richtige Lösung. Wie zynisch und wie unerträglich ist das alles geworden!Die gegenwärtige Situation also verlangt, daß die internationale Gemeinschaft vereint und entschlossen vorgeht. Aber dies auszusprechen wird nun manchen veranlassen zu sagen: Das alles haben wir schon gehört. — Trotzdem sehe ich keine andere Möglichkeit als ebendiese.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich werde Sie bei so einem Thema nicht in Ihren Redebeiträgen unterbrechen, weil es mir schwerfällt. Ich bitte Sie aber um Disziplin und darum, die Redezeit tatsächlich einzuhalten.
Als nächster hat der Kollege Dr. Eberhard Brecht das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns erreichen gegenwärtig keine Bilder aus Gorazde. So können wir uns nur sehr schwer ein Bild davon machen, wie es in der Stadt wirklich aussieht. Wir kennen aber die Berichte der UNO-Flüchtlingsorganisation, die uns sagen: Obwohl deren Mitarbeiter täglich mit solchen Dingen konfrontiert sind, ist das, was sie dort an menschlichem Leid gesehen haben, bisher für sie einmalig. Eine Stadt, überfüllt mit Flüchtlingen, eine Stadt mit mehr als 300 Toten, mit mehr als 1 000 Verletzten; eine Stadt, die nicht mehr in der Lage ist, ihre Verletzten zu versorgen, weil Wasser fehlt, weil Strom fehlt und weil das Krankenhaus zu einem großen Teil zerstört ist.Die bosnischen Serben laden große Schuld auf sich. Mit der linken Hand unterschreiben sie einen Waffenstillstand, um die rechte Hand freizuhaben, damit sie weiter schießen können.Und die UNO? Ist die UNO auf den Hügeln von Gorazde gestorben? Nein, gestorben ist sie noch nicht; aber sie hat einen schweren Vertrauensverlust hinnehmen müssen.Mehr und mehr geht eine Saat auf, die auf einem falschen Konzept des Sicherheitsrates beruht. Es ist das Rezept, auf der einen Seite eine Verantwortung für die Integrität, für den Schutz dieses Landes Bosnien-Herzegowina zu verweigern und auf der anderen Seite den bosnischen Muslimen das Recht auf Selbstverteidigung zu nehmen.Selbst die wenigen partiellen Sicherheitsgarantien, die gegeben werden, werden mal so und mal so ausgelegt. Wenn der britische UNO-Botschafter Sir David Hannay sagt: Wir haben mit der Sicherheitsratsresolution 836 überhaupt keine Garantien übernommen, so trifft das zu, wenn er als NATO-Vertreter
Metadaten/Kopzeile:
19194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Eberhard Brechtspricht; aber es trifft nicht zu, wenn er als Mitglied des Sicherheitsrates spricht.
Ich möchte den entscheidenden Passus aus der Resolution 836 noch einmal zitieren: Die UN-Schutztruppen in Ex-Jugoslawien werden ermächtigt, als Antwort auf den Beschuß der Schutzzonen oder auf bewaffnete Einfälle in die Schutzzonen die „erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Anwendung von Gewalt."Während sich die Briten auf politische Ausdauer verlassen, haben wir jetzt eine andere Politik bei den Amerikanern. Die Amerikaner wollen ihre BosnienPolitik neu konzipieren. Der russische Präsident wendet sich aus innenpolitischen Erwägungen heraus gegen eine konsequentere Haltung gegenüber den bosnischen Serben. Er findet kein Wort zu den Vorgängen, die sich jetzt in Sarajevo abgespielt haben, als nämlich bosnische Serben die ursprünglich abgegebenen Waffen wieder zurückeroberten.Meine Damen und Herren, ich möchte fünf Anregungen geben, oder Vorschläge machen — einen richtigen Begriff kann ich dafür angesichts der schwierigen Situation gar nicht finden — die mir geeignet erscheinen, die Glaubwürdigkeit der UNO wiederherzustellen und auch den bosnischen Muslimen zu helfen.Erstens. Die humanitäre Hilfe in Bosnien muß verstärkt werden, speziell für Gorazde, d. h. der UNO- Konvoi, der sich jetzt von Sarajevo aufgemacht hat, muß auch seinen Bestimmungsort erreichen.Zweitens. Entsprechend den Vorschlägen von Präsident Clinton sollten wir das Sicherheitsminimum für die Schutzzonen auch anerkennen. Dieses geschieht eigentlich viel zu spät. Man muß darauf hinweisen, daß sich die amerikanische Regierung bisher geweigert hat, mehr Blauhelme zu stellen und auch der stellvertretende Verteidigungsminister Warren jetzt eine sehr unvernünftige Diskussion über die Kosten der Peace keeping operations eröffnet hat.Drittens. Es soll eine Konsistenz hergestellt werden zwischen den Resolutionen, die vom Sicherheitsrat verfaßt werden, und dem Handeln der Mitglieder des Sicherheitsrates.Viertens — und das ist meine sehr persönliche Meinung —: Ich glaube nicht, daß die Philosophie, die Boutros-Ghali verfolgt, nämlich eine Verschmelzung von Maßnahmen nach Kapitel VI und VII, möglich ist, denn in dem Moment, wo ich nach Kapitel VII Zwangsmaßnahmen durchsetze, begeben sich alle, die sich unter Kapitel VI in der entsprechenden Region befinden, in die Geiselhaft derjenigen, gegen die sich die Maßnahmen nach Kapitel VII richten.Schließlich sollte der Sicherheitsrat, so meine ich, nachdenken über die Inanspruchnahme des Art. 51 der Charta in Kombination mit der selektiven Anwendung eines Waffenembargos als Bestandteil von Maßnahmen und Kapitel VII der UN-Charta.Meine Damen und Herren, in Bosnien wächst ein Krebsgeschwür, dessen Metastasen all das zerstören können, was uns als Chance für eine bessere politische Welt nach dem Ende des Kalten Krieges erschien.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe in dieser Sache keine Lust mehr zu rhetorischen Formeln. Frau Kollegin Wollenberger, ich glaube, wir sollten aufhören, uns hieraus gegenseitig innenpolitische Knüppel zu schneiden. Wenn Sie wissen wollen, wo der Außenminister ist: Er ist in Washington, um eine gemeinsame Haltung der europäischen Außenminister mit den Amerikanern in dieser Sache, über die wir hier reden, herbeizuführen. Sie sollten das nicht kritisieren.
Es gibt im übrigen weniges festzustellen.Erstens. Der Angriff der Serben auf Gorazde, auf die Sicherheitszone der Vereinten Nationen, ist ein Kriegsverbrechen,
nicht mehr und nicht weniger. Am Ende dieses Vorganges muß stehen, daß diejenigen, die dafür verantwortlich sind, als Kriegsverbrecher behandelt werden.
Zweitens. Kein Staat darf in einer zivilisierten Völkergemeinschaft Gewalt oder Gegengewalt ausüben, außer auf dem Boden der Charta der Vereinten Nationen,Drittens. Was zu geschehen hat, kann nicht ein Einzelstaat entscheiden, sondern es geht um eine Entscheidung der Vereinten Nationen, des Generalsekretärs, des Sicherheitsrates; aber sie müssen sie treffen.Ich habe Zweifel, ob militärische Mittel zu einer anderen Entwicklung geführt hätten. Ich glaube, daß sie im gegenwärtigen Zeitpunkt wenig bringen werden. Es sind Geiseln da. Es ist eine Bevölkerung da, die dort lebt und dort weiterleben will und wird. Man muß sich fragen, ob eigentlich alle Mittel ausgeschöpft worden sind — ich weiß nicht, ob alle Mittel ausgeschöpft worden sind —, um zu einer wirksamen totalen Blockade dieses Gebietes zu kommen.
Viertens. Was wir erleben, ist eine Herausforderung der Vereinten Nationen und damit der Völkergemeinschaft. Wenn sich die Vereinten Nationen in dieser Auseinandersetzung nicht durchsetzen, dann werden sie das Schicksal des Völkerbundes erleiden,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19195
Dr. Burkhard Hirschdann werden sie ihr Ansehen und am Ende ihre Existenz verlieren. Wenn sie sich nicht durchsetzen, dann wird das eine Herausforderung und eine Ermutigung für alle Aggressoren der Zukunft sein.Fünftens. Wir müssen dafür sorgen, daß der Internationale Gerichtshof nicht nur zusammentritt, sondern daß die Kriegsverbrecher, einschließlich des Herrn Karadzic, vor dieses Gericht gestellt werden und daß jeder von ihnen weiß, daß sie vor dieses Gericht gestellt werden, sobald sie die Grenzen ihres eigenen Landes verlassen. Wenn wir in Zukunft Kriegsverbrechen und Völkermord verhindern wollen, dann geht das nur, indem wir die individuelle Verantwortung nicht nur betonen, sondern durchsetzen.
Sechstens. Die Serben dürfen nicht behalten, was sie mit Gewalt erobert haben.
Wenn wir das dulden, dann ist für alle deutlich, daß auch in Europa, daß in dieser Welt weiter Grenzen mit Gewalt und mit Kriegen verändert werden können.Darum muß alles getan werden, um dieses Kriegsgebiet politisch, wirtschaftlich und international vollkommen zu isolieren. Wenn das wegen der Nachbarn nicht gelingt, dann müssen wir die Nachbarn zwingen, sich zu entscheiden, auf welche Seite sie sich stellen wollen.Siebtens. Natürlich muß alles getan werden, um auch die humanitäre Hilfe, die wir mehr leisten — das ist unstreitig — als alle europäischen Nachbarn, fortzuführen, in Mostar und sonstwo, auch zum Aufbau des Gebietes, in dem nicht mehr Krieg herrscht. Ich denke, daß wir auch unsere eigenen Regeln für Bürgerkriegsflüchtlinge in diesem Zusammenhang endlich in Ordnung bringen müssen.
Als nächste hat die Kollegin Angela Stachowa das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage in Gorazde und die Hilfe der Bundesregierung ist das Thema der heutigen Aktuellen Stunde. Damit konzentriert sich der Deutsche Bundestag im Moment, wie so oft in jüngster Vergangenheit, auf ein — wenn auch sehr düsteres unter den vielen — Ereignis in der leidvollen „nachjugoslawischen" Geschichte. Die tagtäglichen Schreckensmeldungen aus diesem Bereich Südosteuropas sind kaum noch zu übertreffen.Kriegsverbrechen und brutalste Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören im ehemaligen Jugoslawien zum blutigen Alltag. Sie wurden von allen Konfliktparteien begangen. Jeder realistisch und aufmerksam diese Ereignisse verfolgende Politiker muß dies eingestehen. Ich kann nur hoffen, daß diese Verbrechen und diese Verbrecher irgendwann nach allgemeingültigen Normen des Völkerrechts gerichtet werden.Die jüngsten Informationen über die Lage im Bürgerkrieg im verwüsteten Bosnien sind außerordentlich widersprüchlich. Meldungen über Gasangriffe der bosnischen Serben auf ein Krankenhaus in Gorazde stehen Erklärungen der so Beschuldigten über fortdauernde Verletzungen des Waffenstillstandes durch die moslemische Seite gegenüber. Einerseits bereitet sich die NATO auf neue Luftangriffe vor, andererseits beteuern die Konfliktparteien, daß endlich eine politische Lösung gefunden werden müsse. Ob das die Serben wirklich ernst meinen, scheint nach den gestrigen Meldungen über gezielte Angriffe auf eindeutig zivile Einrichtungen sehr offen.Es ist zu fragen: Sind dort militärische Kräfte außer Kontrolle geraten, die ihren eigenen politischen Führern und deren Ambitionen nicht mehr folgen?
Meinen es die politischen Führer eigentlich ernst mit ihren Friedensbeteuerungen? Das sind Fragen, die auch hier im Raum stehenbleiben.
Ich möchte betonen, wie es an dieser Stelle von uns schon öfter getan wurde: Nichts wäre verhängnisvoller als anzunehmen, daß durch Schläge aus der Luft oder durch andere militärische Gewalteinsätze der Bürgerkrieg in Bosnien oder ein Bürgerkrieg irgendwo sonst auf der Welt beendet werden könnte.
Heute morgen war im Fernsehen von russischen Militärs zu hören, daß ihrer Meinung nach Luftangriffe keine befriedigende, schon gar keine befriedende Lösung bringen, ein offener Kampf am Boden aber den Einsatz von mindestens 70 000 UN-Soldaten erfordere — mit allen Konsequenzen, die ein Bodenkrieg mit sich bringt.Ich glaube, noch nie seit dem Zerfall der jugoslawischen Föderation und dem Beginn des Bürgerkriegs war die Lage so dramatisch, angespannt und gefahrvoll wie gegenwärtig. Es genügen ein Funke, ein weiterer unbedachter oder gezielt provokativer Schritt, um eine militärische Eskalation bisher nicht gekannten Ausmaßes mit unabsehbaren Folgen für dieses geschundene Land, den Balkan und darüber hinaus zu entfachen.Meine Damen und Herren, Mostar und Sarajevo gestern, Gorazde heute, morgen eine andere Stadt. Chaos und Anarchie, Tod und Verderben wechseln nur den Ort, wenn dieser Krieg als solcher nicht beendet wird. Ich bezweifle, daß dies mit Bomben der NATO im Auftrag der UNO möglich sein wird. Für einen Moment, einen winzigen in der Geschichte der Menschheit vielleicht, aber nicht auf Dauer.Ich meine, es gilt, mit nichtmilitärischem Druck auf alle Beteiligten seitens der UNO, der Europäischen
Metadaten/Kopzeile:
19196 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Angela StachowaUnion und Rußlands darauf hinzuwirken, daß endlich stabile Waffenstillstandsvereinbarungen zustande kommen.Der Gedanke einer internationalen Konferenz über Sicherheit und Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien bzw. eines Gipfeltreffens mit Beteiligung der Europäischen Union, der USA und Rußlands sollte auch in dieser zugespitzten Situation nicht aus dem Auge gelassen und von der Bundesregierung mitgetragen, unterstützt und forciert werden.Der Verzicht auf militärische Gewaltakte ist unseres Erachtens eine unabdingbare Voraussetzung für eine friedliche Lösung. Die nach den NATO-Luftangriffen in der vergangenen Woche eingetretene Eskalation des Krieges und deren schlimme Folgen für die Menschen sollten eine Lehre sein, die niemand mißachten darf. Bei allen Entscheidungen müssen Leben und Überleben der Menschen, gleich welcher Nation oder Religion, egal ob als Einheimischer oder UN-Soldat, im Vordergrund stehen.Ich möchte mit einem Zitat aus einem Artikel aus der heutigen „Zeit" mit der Überschrift „Gorazde: Wo die Welt keine Hilfe weiß" enden:Ob sich die sechs UN-Sicherheitszonen in Bosnien mit einigen Luftangriffen dauerhaft schützen lassen, bleibt mehr als zweifelhaft. Es wäre schon viel erreicht, wenn durch Diplomatie und Druck ihr Zusammenbrechen verzögert würde — und sei es nur in Gorazde.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Kollegin Ursula Seiler-Albring, das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die verheerende Lage in Gorazde wurde von meinen Vorrednern in all ihrer Brutalität und Grausamkeit geschildert. 65 000 Menschen sind auf engstem Raum zusammengepfercht. Als Folge des serbischen Beschusses sind über 300 Tote und mehr als 1 100 Verletzte zu beklagen.Der Bundespräsident hat recht: Die serbischen Angreifer sind Kriegsverbrecher.
Wir suchen nach Wegen und Instrumenten, diese ungeheure Herausforderung der zivilisierten Welt durch Akte der Barbarei nicht unbeantwortet bleiben zu lassen. Was können wir Deutsche, was kann die Bundesregierung tun, um dazu beizutragen, diese Barbarei zu beenden? Sicher können wir Deutsche nicht mit den Säbeln unserer Verbündeten rasseln. Es wären nicht unsere Soldaten, die in Gefahr oder auch in den sicheren Tod gehen würden. Was wir aber tun können — das tun wir gerade in diesen Stunden —, ist, in allen Foren, in den Vereinten Nationen, in der NATO, in der Europäischen Union, im bilateralen Gespräch mit unseren Verbündeten und Rußland zur Herstellung einer einheitlichen Front der internationalen Staatengemeinschaft gegen die serbische Aggression beizutragen.Bundesaußenminister Kinkel — dieses, Frau Wollenberger, hätte ich Ihnen jetzt dann gerne gesagt — befindet sich augenblicklich auf einer Reise nach Washington. Dort wird er mit Außenminister Christopher über die Verwirklichung der Vorschläge des amerikanischen Präsidenten von gestern beraten. Die Bundesregierung hat die grundlegenden Aussagen von Präsident Clinton begrüßt. Sie ist der Auffassung, daß die von ihm geforderten Maßnahmen zu denjenigen Optionen gehören, mit denen versucht werden muß, die Serben zur Vernunft zu bringen.Der Kern der Vorschläge des amerikanischen Präsidenten besteht darin, daß — wie im Falle Sarajevos — auch in den übrigen Schutzzonen schwere Waffen verboten werden sollten und, sollten sich die Serben diesem Verbot widersetzen, ihnen Luftangriffe der NATO drohen. Ferner — dieses wurde von einigen Kollegen hier ja auch angesprochen — müssen die Sanktionen gegen die Serben überprüft und, wo notwendig, verstärkt werden.Der Bundeskanzler hat sich angesichts der schlimmen Nachrichten aus Gorazde telefonisch mit Präsident Jelzin in Verbindung gesetzt. Beide unterstützen die französische Anregung, die Bemühungen um eine Regelung des Bosnien-Konfliktes dadurch zu aktivieren und zu intensivieren, daß Vertreter Rußlands, der Vereinigten Staaten, der UNO und der Europäischen Union gemeinsam eine neue diplomatische Initiative ergreifen sollen.Diese Anregung steht auch im Einklang mit den Beschlüssen des Außenministerrats der Europäischen Union vom Montag dieser Woche. Dort hat Außenminister Kinkel zusammen mit seinen Kollegen die Zusammenführung aller diplomatischen Anstrengungen in dem Konflikt des ehemaligen Jugoslawien, die ja hier auch von Ihnen, Herr Dr. Brecht, dringend gefordert wurde, nachdrücklich befürwortet.Alle Genannten sind besorgt, daß eine diplomatische Offensive allein die Serben nicht beeindrucken wird und diese ihr Verhalten nicht ändern. Wir stehen deshalb vor der Frage, wie diplomatisches Handeln mit geeigneten militärischen Mitteln verstärkt und so der notwendige Nachdruck geschaffen werden kann. Alle sehen dies, aber auch die damit verbundenen Risiken.Demgemäß gibt es beachtliche Unterschiede in den nationalen Positionen. Diejenigen Staaten, die im ehemaligen Jugoslawien Truppen für UNPROFOR zur Verfügung gestellt haben, sind verständlicherweise zu Recht besorgt, daß ihre Truppen bei einer Intensivierung militärischen Handelns als Geiseln in hohem Maße gefährdet sind. Aus Äußerungen von russischen Diplomaten wissen wir, wie schmerzlich sie erfahren mußten, von den Serben mit leeren Versprechungen abgespeist worden zu sein. Dennoch ist mit Rücksicht auf die schwierige innenpolitische Situation in der Russischen Föderation nicht ohne weiteres mit russischem Einverständnis zum Einsatz schärferer militärischer Mittel zu rechnen. Jedenfalls hat Präsident Jelzin eine solche Entscheidung von der Abstimmung mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen abhängig gemacht.Die Diskussion im NATO-Rat in den vergangenen beiden Tagen hat gezeigt, daß die Anforderung des
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19197
Staatsministerin Ursula Seiler-AlbringGeneralsekretärs der Vereinten Nationen, die NATO möge sich bereit erklären, militärische Schläge aus der Luft gegen serbische Ziele durchzuführen, aus ähnlichen Erwägungen weiterer Klärung bedarf.Entscheidend, meine Damen und Herren, wird alles von der amerikanischen Haltung abhängen. Die Aufgabe der diplomatischen Anstrengungen der nächsten Tage muß nun darin bestehen, diese verschiedenen Initiativen schnellstens auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es hat schon eine Reihe bilateraler Abstimmungsgespräche zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten gegeben, auch zwischen Präsident Mitterrand und dem Bundeskanzler. Dies ist geschehen, um die Koordination diplomatischer Anstrengungen mit überzeugenden militärischen Drohungen zu gewährleisten.Denn eines ist sicher: Die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten kann es sich nicht noch einmal leisten, von den Serben wegen unwirksamer Drohungen vorgeführt zu werden.Die Bundesregierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um auf die Herbeiführung einer solchen einheitlichen Front mit einer überzeugenden Politik, die von der nötigen Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit getragen wird, hinzuwirken.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Freimut Duve das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach einer dritten Reise durch Bosnien und durch die genannten Städte bin ich mehr und mehr zu der Auffassung gekommen, daß eine Wurzel des Dramas darin liegt, daß wir alle sehr, sehr unterschiedliche Lagebeurteilungen haben. Wir sagen immer, es gebe unterschiedliche Zielsetzungen und unterschiedliche Motive. Das stimmt zwar auch, aber ich empfinde mehr und mehr, daß von allen Seiten sehr verschiedene Dinge über das gesagt werden, was dort eigentlich los ist.Darum erlauben Sie bitte die Darstellung einer Szene: Ende März trifft die serbische Artillerie die orthodoxe Kirche in Tuzla, bisher durch den Krieg völlig unbeschädigt. Einen Tag später steht ein Baugerüst auf Anordnung des muslimischen Bürgermeisters, der heute unser Gast ist, der in der bedrängten Stadt auch seinen serbischen Mitbürgern zu Hilfe kommt. Die Kirche wird repariert. Ich war selbst dabei und habe es gesehen.Szenen aus allen von den bosnischen Serben eroberten Gebieten: Über 1 000 Moscheen sind zerstört worden, zerschossen oder gesprengt. Die Friedhöfe werden bis zur Unkenntlichkeit geschändet und verwüstet, die Erinnerung an das Leben wird verstümmelt. Die Überlebenden werden drangsaliert, Massaker an ganzen Familien finden in diesen Gegenden zwei Jahre nach der Eroberung bis heute noch statt, so in Banja Luka vor wenigen Wochen.Unter dem Kommando der Kriegsverbrecher Karadzic und Mladic haben Bosnier muslimischer Herkunft keine Überlebenschance in den eroberten Gebieten, auch dann nicht, wenn der Sieger die Stadt erobert hat. Das ist die Lage. Darum ist das Wort von den Kriegsverbrechern, das der Bundespräsident gebraucht hat, völlig richtig. Alles, was wir an Abkommen über Kriegsführung im Rahmen des Roten Kreuzes haben, wird zerschossen und kaputtgemacht. Das sind Kriegsverbrecher.
Die Lage, die ich beschrieben habe, erklärt auch die Gründe für den Verzweiflungsschrei des Bürgermeisters von Gorazde, den ich gestern abend am Telefon mitgehört habe: „Bombardiert bitte unsere Stadt, NATO und UNO, damit wir in Würde sterben können. " Das ist keine Verzweiflung aus Angst vor dem Täter nur, sondern das ist die feste Überzeugung, daß es, wenn man verloren hat, für diese Menschen kein Leben hinterher gibt. Darum haben sie auch gar keine Chance etwa der Übergabe, wie sie Hamburg oder andere Städte 1945 hatten. Diese Chance ist den Menschen nicht mehr gegeben, und das in der UNO- Schutzzone.Alle Pläne der UNO, alle Vorschläge der Herren Vance und Owen haben diesen Ermordungsauftrag der Tschetniks außer acht gelassen. Dies ist kein Bürgerkrieg, kein Krieg zur Eroberung von Land und Leuten, dies ist ein Krieg der Vernichtung und Vertreibung der dort lebenden Menschen. Das ist das Kriegsziel, nicht die Überwindung von Menschen, um sie nachher als Untertanen zu haben. Insofern ist auch das Wort von Kriegsparteien unangebracht. Nein, diese terroristische Soldateska will einen Teil der bosnischen Bevölkerung endgültig vernichten, sei es durch Mord oder Vertreibung. Das ist nicht die Beschreibung eines Motivs oder eines Wunsches, sondern die Beschreibung der Wirklichkeit der letzten zwei Jahre.
Wir haben zugestimmt, daß den davon Bedrohten keine Waffen geliefert werden dürfen, mit denen sie sich hätten verteidigen können. Wir, auch meine Partei, haben der Welt erklärt, daß wir Deutschen uns an der Verteidigung der Menschen in Bosnien nicht beteiligen werden — weil wir nicht dürfen aus verfassungsrechtlichen Gründen, weil wir nicht sollen aus historischen Gründen und weil wir nicht wollen aus politischen Gründen. Das ist eine legitime Position, und wir sollten nicht versuchen, daraus in unserem Land parteilich Vorteile zu ziehen. Es ist eine Position, die man einnehmen kann; ich persönlich habe sie von Anfang an nicht geteilt.Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, der Sieger steht fest, schon seit langem: Karadzic und der Vertreibungsterror. Die Verlierer stehen auch fest: Verlierer ist die Zivilität Bosniens, Verlierer ist Europa und Verlierer ist die UNO. Wir müssen uns jetzt auf die Aufnahme der Vertriebenen und auf die Hilfe bei der Sicherung der Restgebiete Bosniens konzentrieren. Tuzla kann das gleiche Schicksal erleben. Es gibt bisher kein wirkliches Haltesignal für alle anderen Schutzzonen der UNO.
Metadaten/Kopzeile:
19198 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Freimut DuveWenn die Eroberung von Gorazde ein Ergebnis haben könnte, dann das, daß das Stoppschild für die Terroristen endlich deutlich hochgehalten wird. Aber auch daran kann ich nicht mehr glauben.Mit wem es die Welt zu tun hat, meine Damen und Herren, zeigt die Geschichte der orthodoxen serbischen Gemeinde in Tuzla, die ich zum Schluß noch zu Ende erzählen will. Nach der Reparatur der Kirche erklärte das orthodoxe Oberhaupt in Belgrad, alle Taufen, die der nach Tuzla zurückgekehrte Pope an serbischen Kindern in Tuzla inzwischen vollzogen hätte, seien ungültig, weil dieser Pope ein Verräter sei. Denn er sei auf die andere Seite zurückgekehrt. Er darf jetzt dort nicht mehr tätig sein. Er ist zurückgerufen worden. — Wir haben selbst von deutschen Freunden gehört, in Tuzla gäbe es KZs für Serben. Ich habe mit der Gemeinde gesprochen, und es gab hier im Lande auch Menschen, die solche Propaganda übernommen haben. — Diese Kirche ist heil geblieben. Dort will man keine muslimische oder serbische Gesellschaft sein, sondern man will bosnische Gesellschaft sein, eine moderne Industriegesellschaft, in der Menschen aller Religionen zusammenleben müssen, denn sonst hat diese Gesellschaft keine Chance in unserer industriellen Modernität.Der Pope ist wieder weg. Die serbische Gemeinde ist zwei Jahre ohne Betreuung gewesen. Dieses Verdikt des Oberpopen in Belgrad ist Fundamentalismus. Fundamentalismus findet wahrlich nicht nur in der islamischen Welt statt, sondern auch woanders.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Christian Schmidt.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Als der Bischof von Banja Luka vor einigen Wochen hier in Bonn war und wir ein Gespräch miteinander hatten, hat er eine Karte seiner Diözese ausgebreitet und die kaputtgeschossenen Kirchen — Ort für Ort — eingezeichnet. Er hat an mich die Frage gerichtet, ob er denn noch eine Hoffnung für seine katholischen kroatischen Glaubensbrüder in Banja Luka haben könne. Ich bin ihm die Antwort schuldig geblieben, weil die Frage, die sich dahinter verbirgt, nämlich die Frage nach der Möglichkeit des Zusammenlebens nach dem Konflikt — Kollege Duve hat das ja gerade sehr deutlich angesprochen —, für uns ungeklärt und ungelöst ist.Wer Ivo Andric und seinen Roman „Die Brücke über die Drina" liest, der Jahrhunderte des Konflikts gerade an diesem Fluß, an dem auch Gorazde liegt, beschreibt, der bekommt eine Ahnung davon, welche Schwierigkeiten aus den Jahrhunderten bestehen, Schwierigkeiten, von denen zu befürchten ist, daß sie auch in Zukunft bestehen werden. Die Frage ist: Haben wir seit den Zeiten der osmanischen Herrschaft etwas dazugelernt? Gab es da nicht einen Immanuel Kant und eine Schrift „Zum ewigen Frieden"? Gab es nicht die Forderung nach der Weltregierung, nach der Weltexekutive, die über die Vereinten Nationen in unser geltendes Völkerrecht eingegangen ist? — Ja, es gibt sie. Und wenn heute jemand sagt, militärische Mittel — mit welchen Verdrehungen, Verrenkungen und Verbeugungen auch immer das begründet wird — seien nicht die Mittel, die einzusetzen wären, dann muß man fragen: Welche Mittel haben denn bisher gewirkt? Können wir denn so sicher sein, daß Verhandlungen, von Herrn Owen und anderen geführt, zum Erfolg, zum Frieden führen? Die Frage beantwortet sich von selbst. Ich würde deshalb sehr vorsichtig sein, den Einsatz militärischer Mittel auszuschließen.Natürlich tun wir uns hier in Deutschland schwer. Die beiden vergangenen Tage in Karlsruhe haben ein Bild davon geliefert, wie wir mit dieser Frage umgehen. Vielleicht ist auch die Diskussion, die wir jetzt führen müssen um die Frage des Grundsätzlichen, die Frage der Verantwortung eines freien Landes in der freien Welt für diejenigen, die ihrer Freiheit beraubt sind, eine Frage zur Besinnung bei uns in Deutschland. Es ist vielleicht auch eine Frage zur Besinnung darüber, ob wir unseren Teil der Verantwortung, der die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten redlich und gut nachkommt, nicht ausdehnen müssen.Da geht natürlich die Frage an manche, die hier gesprochen haben und noch sprechen werden, wie sie es denn halten mit diesen Verantwortlichkeiten, die auch auf uns zurückschlagen. Ist es denn so, daß es um Gorazde und, Herr Bürgermeister, um Tuzla alleine geht? Die Analyse der Lage zeigt doch, daß es hier um Europa geht.Der Botschafter Bulgariens, der heute vormittag mit mir gesprochen hat, hat mir gesagt: Wir haben den Eindruck, von Europa abzudriften, weil sich der serbische Sperriegel dazwischenlegt. — Ich sage: der Sperriegel des Unrechts sich dazwischenlegt. Und wenn Gorazde und andere Schutzzonen nicht verteidigt werden sollten, wer garantiert uns denn dann, daß der Kosovo nicht auf der nächsten Seite dieses Buches steht?Das heißt: Tua res agitur! Unsere Angelegenheiten werden dort mitentschieden. Europa wird nichts anderes übrigbleiben, als diesen Konflikt, der immer mehr an Schärfe gewinnt, der keine Dimension der Humanität, in welcher Weise auch immer, mehr aufnimmt, vor sich hinschwelen zu lassen.Das ist die eigentliche Frage auch an uns. Und das ist auch das, was in diesem speziellen Punkt — nicht bei dem Leiden der Bevölkerung — Gorazde von Kigali unterscheidet. In beiden Städten wird momentan rücksichtslos gemordet. Kigali ist schlimm und betrifft die Weltgemeinschaft genauso wie Gorazde. Aber Gorazde betrifft Europa in seiner Substanz. Gorazde ist eine europäische Stadt, Ivo Andric ein europäischer Schriftsteller, und es ist auch eine europäische Aufgabe, nicht nur den Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation die schwierigen Aufgaben zu überlassen. Nach meiner festen Überzeugung kann es nur darum gehen, das, was die NATO 40 Jahre lang bewiesen hat, daß nämlich Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19199
Christian Schmidt
Abschreckung zur Erhaltung des Friedens und zum Nichtgebrauch von Waffen führen können, auch in Zukunft — wenn es sein muß, und es muß wohl sein, mit militärischen Schlägen — zu unterstreichen.Si vis pacem, para bellum! Die schwerwiegende Erkenntnis: „Wenn du den Frieden erhalten willst, mußt du im Notfall auch für den bewaffneten Konflikt gerüstet sein", bleibt uns nicht erspart. Das ist die eigentliche Lehre, die ich aus den schrecklichen Nachrichten, die wir aus Gorazde und anderen Teilen Bosniens hören, uns allen anempfehle: darüber in aller Ruhe, aber auch in aller Ernsthaftigkeit nachzudenken und manches Scharmützel, das auch im Hinblick auf das kommende halbe Jahr geführt werden sollte, nicht zu führen, sondern auf die Ebene der Verantwortung Deutschlands einzuschwenken. Und das heißt, daß wir in der Völkergemeinschaft unseren ungeschmälerten Beitrag zur Lösung solcher Konflikte leisten müssen. Das mag bitter für uns und bitter für manche sein. Die Erkenntnis zeigt uns, daß kein Weg daran vorbeiführt.Vielen Dank.
Nächster Redner ist unser Kollege Ulrich Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegen Ende dieser Aktuellen Stunde fühle ich mich ratloser als je zuvor. Es ist klar, daß wir keine Rezepte haben. Ich fühle mich dem Bürgermeister von Tuzla und seiner Begleitung gegenüber fast etwas beschämt, weil wir ihm nichts mit auf den Weg geben können, als daß wir erneut unser Entsetzen, unseren Abscheu artikulieren, ohne daß wir konkret etwas beitragen können. Und da gerade wir als Deutsche aus den Gründen, die hier schon angesprochen worden sind, weniger beitragen können als andere, frage ich mich, ob es überhaupt richtig gewesen ist, diese Aktuelle Stunde zu beantragen und dann anzusetzen. Wir verbessern ja die Stituation nicht dadurch, daß wir immer wieder unsere Hilflosigkeit betonen.
Was können wir sagen? — Herr Kollege Brecht hat darauf hingewiesen, daß die Vereinten Nationen einen erheblichen Vertrauensverlust angesichts der Entwicklungen in und um Gorazde erlitten haben. Das ist sicher richtig, aber wir müssen doch erkennen, daß die Vereinten Nationen nur das Ansehen haben können, das ihnen von denen verliehen wird, die ihre Mitglieder sind und die Beschlüsse der Vereinten Nationen umzusetzen hätten. Die Vereinten Nationen sind ja kein Abstraktum, sondern es sind die Mitgliedstaaten. Ich fürchte, daß wir für Bosnien nicht viel werden tun können.
Natürlich muß man erwägen, welche militärischen Einsätze gegebenenfalls noch etwas helfen könnten. Nun kann ein Problem nie mit militärischen Mitteln gelöst werden. Militärische Schläge können allenfalls flankierend helfen, um politische Lösungen, die versperrt scheinen, vielleicht doch wieder möglich zu machen.
Es ist hier auch angeklungen, daß gegebenenfalls Bodentruppen eingesetzt werden müßten. Es wurde die Zahl 30 000 genannt. Meine Damen und Herren, ich fürchte, wer überhaupt überlegt, in Bosnien Bodentruppen einzusetzen, muß mit wesentlich höheren Zahlen rechnen. Ich fürchte, die realistischere Zahl wäre 300 000. Wer will es verantworten, auch nur 30 000, geschweige denn 300 000 Soldaten dort in eine Situation zu schicken, in der möglicherweise nichts anderes geschähe, als daß sie selber verheizt würden?
Meine lieben Kollegen, ganz nüchtern sollten wir vielleicht ein paar Feststellungen treffen, die Bosnien wahrscheinlich auch nicht helfen werden, die aber vielleicht zur Analyse beitragen können.
Erstens. Rußland ist und bleibt eine Großmacht. Wir sollten es begrüßen, daß Präsident Jelzin — entgegen Irritationen der letzten Woche — jetzt doch klargemacht hat, daß Rußland bereit ist, seine Verantwortung auch in dieser Situation wahrzunehmen.
Zweitens — ich wiederhole das —: Militärische Schläge lösen keine politischen Probleme, sondern können allenfalls flankierend eingesetzt werden.
Drittens — das ist eine Folgerung, die Bosnien wohl auch nicht mehr hilft —: Sollte es, was ja zu befürchten ist, irgendwo auf der Welt zu ähnlichen Situationen kommen, dann müßte sich die Staatengemeinschaft doch ernsthaft überlegen, ob man nicht durch frühzeitigeres Krisenmanagement und gegebenenfalls frühzeitigeres Eingreifen durch eine Weiterentwicklung unseres Völkerrechts dazu beitragen könnte, daß Menschen an anderen Plätzen der Welt das bittere Schicksal Bosniens erspart bleiben möge.
Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Karsten Voigt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte in der vorigen Woche habe ich gesagt, daß meiner Meinung nach die Einsätze der NATO im Auftrage der Vereinten Nationen völkerrechtlich zulässig und politisch und moralisch legitim seien.
Dieser Meinung bin ich auch heute.
Frau Wollenberger hat am Beginn dieser Debatte mit Hinweis auf die gleichen Prinzipien, die ich auch in der vorigen Debatte ausgesprochen habe und in dieser Debatte ebenfalls aussprechen werde, Kampfeinsätze, Bombardements gegen die Serben gefordert und gleichzeitig die Vereinten Nationen, die NATO und die Bundesregierung scharf kritisiert.Obwohl ich die moralischen Gründe von Frau Wollenberger und auch ihre Art der Bewertung der Konsequenzen aus der deutschen Geschichte teile, komme ich in wichtigen Teilaspekten zu unterschiedlichen Konsequenzen in bezug auf die Kritik an diesen Institutionen. Daß eine solche moralische Debatte wichtig ist, ist selbstverständlich. Daß sie zu unter-
Metadaten/Kopzeile:
19200 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Karsten D. Volgt
schiedlichen Konsequenzen führen kann, dafür ist die Debatte innerhalb des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der beste Beweis; ich sage das ohne Vorwurf. Beide Flügel innerhalb Ihrer Partei führen den Kampf gegeneinander — Sie sind in einer Minderheitenposition, was respektabel ist — überwiegend mit moralischen und historischen Argumenten in bezug auf die deutsche Geschichte und kommen zu völlig gegensätzlichen praktischen Schlußfolgerungen.Ich teile, wie gesagt, Ihre moralische Position und Ihre Bewertung, welche Schlußfolgerungen aus der deutschen Geschichte zu ziehen sind, aber ich bewerte das Verhalten der Institution NATO partiell deshalb anders, weil Politik etwas anderes ist als nur die Äußerung von Betroffenheit und Empörung und auch mehr und anderes ist als nur die moralische Bewertung. Wir müssen gleichzeitig die zweiten und dritten Schritte mit bedenken, die die Konsequenzen unseres Handelns sind, das wir empfehlen.Ich weise einfach darauf hin: So unbefriedigend das Verhalten der NATO ist, der Tatbestand, daß, bevor ein Handeln der NATO erforderlich ist, darüber ein Konsens hergestellt werden muß, ist selber ein friedenstiftendes Element. Gerade weil der Erste Weltkrieg in Sarajevo begonnen hat, ist der Tatbestand, daß jeder der Mitgliedstaaten der NATO auf Alleingänge in dieser Frage verzichtet, ein Schutz vor einem neuen europäischen Krieg und ein Schutz vor einer weiteren, die Grenzen Bosniens und des früheren Jugoslawiens überschreitenden militärischen Eskalation.Das zweite: Soweit es die Vereinten Nationen betrifft, kann man einen Konsens in bezug auf die Aktion nur herstellen, wenn nicht ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats widerspricht. Deshalb wird schon im Vorfeld z. B. auf Rußland Rücksicht genommen. Ich bedaure die Haltung Rußlands — ich komme darauf gleich noch — in dieser Frage; ich teile deren Bewertung nicht. Aber der Tatbestand, daß solche Entscheidungen nur im Konsens unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates gefällt werden können, ist auch ein Schutz vor Mißbrauch. Viele hier im Parlament — damals Sie mit anderen geschlossen — waren — ob das richtig oder falsch war, lasse ich jetzt dahingestellt - beim Golfkrieg der Meinung, daß der Sicherheitsrat sein Instrumentarium mißbraucht habe. Ich war nicht unbedingt dieser Meinung; das ist aber eine andere Frage. Wenn man in diesem Fall das Konsenserfordernis im Sicherheitsrat anprangert, muß man sich darüber klar sein, was es bei künftigen Krisen bedeuten kann, wenn es solche Schutzfunktionen nicht gäbe.Das dritte. Obwohl ich Ihre historische Bewertung der Schlußfolgerungen aus der deutschen Geschichte teile, ist der Tatbestand, daß das deutsche Militär nur eingesetzt werden kann, wenn das auf verfassungsrechtlich einwandfrei geklärter Basis geschieht, ein wichtiger Beitrag zum inneren Frieden und auch eine der Schlußfolgerungen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Verhalten des deutschen Militärs. Deshalb ist es nach meiner Meinung nach wie vor unverantwortlich, vor der Klärung der verfassungsrechtlichen Frage für den Einsatz deutschen Militärs zu plädieren. Auch danach ist die Erwägung, ob ein Einsatz politisch legitim ist, vor dem Hintergrund zu prüfen, ob ein Einsatz deutscher Truppen eskalierend oder friedensfördernd wirkt. Nach meiner Meinung wirkt er eskalierend.Zuletzt: Es ist — so bitter es ist — in Wirklichkeit auch jetzt noch wahr, daß eine dauerhafte Friedenslösung nur am Verhandlungstisch erreicht werden kann. Das Problem bei den jetzt von den Russen — und von Herrn Irmer — vorgeschlagenen und unterstützten Verhandlungen ist, daß die Verhandlungen als Camouflage für weitere Aggressionen dienen können. Deshalb ist die Position der Russen in bezug auf Verhandlungen nur glaubwürdig, wenn sie gleichzeitig mit ihrem Einsatz zur Verweigerung der militärischen Erfolge der Serben verbunden ist. Dieser Punkt — ich spreche dabei jetzt nicht die deutsche Position an — ist eine ernsthafte Frage an die Russen. Sie von der PDS haben sie falsch beantwortet. Denn wenn man den militärischen Erfolg in einer solchen Lage nicht verweigert — ich sagte, ich komme, was die praktischen Schlußfolgerungen als Forderung angeht, auf das zurück, was Frau Wollenberger gesagt hat —, dann bedeutet das, daß keine Verhandlungslösung möglich ist. Solange ein Aggressor glaubt, er könne militärische Erfolge erzielen, so lange ist eine Verhandlungslösung leider nicht realistisch. Nachdem die Sanktionen — ich komme damit auf den Ausgangspunkt zurück — und die politische Warnung, ausgedrückt durch einen sehr begrenzten militärischen Einsatz vorige Woche, nicht gezogen haben, ist der nächste Schritt zur Verweigerung des militärischen Erfolges leider die einzige Möglichkeit, um eine Verhandlungslösung vorzubereiten, weil sonst der Aggressor weitere Aggressionen begehen wird.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Andreas Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Kollege Stefan Schwarz kann jetzt leider nicht hier sein, weil er versucht, telefonischen Kontakt mit Gorazde herzustellen. Er hat mich deshalb gebeten, hier einiges kurz mitzuteilen, was ich auch tun will.Der Kollege Schwarz hat um 15.15 Uhr mit dem bosnischen Ministerpräsidenten Silajdzic telefoniert. Dieser hat ihm folgendes mitgeteilt: Die Radikalserben haben den Bosniern in Gorazde ein neues Ultimatum gestellt, daß sie bis 16 Uhr die Verteidigung der Stadt aufgeben. Wenn sie dies nicht tun, wird mit allen Mitteln weitergekämpft, wird es keine Verhandlungen mehr geben. — Ich möchte das mitteilen, weil mich Stefan Schwarz darum gebeten hat.Ich glaube, daß die brutalen Vorgänge um die moslemische Stadt Gorazde uns alle gleichermaßen erschüttern. Da wird es keine Unterschiede geben. Ich gehe davon aus, daß wir alle das Gefühl haben, unserer Verantwortung nicht gerecht zu werden, wenn wir zu diesen brutalen Kriegsverbrechen hier nur unsere Befindlichkeit zum Ausdruck bringen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19201
Andreas Schmidt
Gorazde ist meines Erachtens bereits jetzt ein Symbol für das Versagen der Politik der Vereinten Nationen, aber auch für das Versagen der Politik der Europäischen Union. Ich bin kein Militärexperte, aber ich hoffe sehr, daß die NATO im Auftrag der Vereinten Nationen im Sinne der Menschlichkeit sehr bald Luftstreitkräfte einsetzen wird, um den bestialischen Kriegsverbrechern in Gorazde Einhalt zu gebieten.Pazifismus — dies wird meines Erachtens hier sehr deutlich — ist jedenfalls keine Antwort auf Brutalität und Unmenschlichkeit. Die Forderung der GRÜNEN, die NATO abzuschaffen, ist vor diesem Hintergrund geradezu grotesk. Diese Forderung orientiert sich an einer Illusion und nicht an der Realität.
Pazifismus ist in der realen Situation keine Strategie für mehr Menschlichkeit, sondern im Ergebnis eine Strategie zur Kapitulation vor Brutalität und Gewalt.
Meine Damen und Herren, die brutalen Vorgänge in Gorazde unterstreichen erneut die Forderung der Union, im Rahmen einer UN-Reform einen internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrecher einzurichten. Die verantwortlichen Kriegsverbrecher müssen wissen, daß die Weltgemeinschaft sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen wird.Gorazde liegt nicht irgendwo, Gorazde liegt mitten in Europa. Die Lehre, die wir jetzt daraus ziehen müssen, heißt nicht „weniger Europa" , sondern, wie ich finde, „mehr Europa".
Das Europäische Parlament muß endlich die Kompetenz erhalten, eine gemeinsame europäische Außenpolitik zu formulieren und gegenüber den nationalen Außenpolitiken der Mitgliedsländer durchzusetzen. Die Idee der Vision Europas ist doch nicht in erster Linie eine wirtschaftliche. Nicht der Gemeinsame Markt steht an erster Stelle, sondern die Idee von Frieden und Menschenrechten sowie die Ideale des Humanismus. Aber wie können wir Deutsche uns glaubwürdig für eine gemeinsame europäische Außenpolitik einsetzen, wenn wir uns nicht einmal im Deutschen Bundestag einig sind, daß wir uns nach der Wiedervereinigung zu unserer internationalen Solidarität bekennen müssen?Unser außenpolitischer Spielraum in dieser Frage ist durch die Blockadehaltung der SPD deutlich eingeschränkt. Ich will hier keine Parteipolitik machen; aber ich finde, auch dieser Punkt gehört zu unserem Thema. Ich bin ganz sicher: Bei der Analyse der serbischen Kriegsverbrechen über den Grad der westlichen Entschlossenheit ist die Blockadehaltung der Sozialdemokratischen Partei eine konstante Größe in ihrem Kalkül. — Das ist meine feste Überzeugung; ich finde, das muß man auch an dieser Stelle sagen dürfen. — Solange Sie sich gegen die Beteiligung deutscher Soldaten bei den AWACS-Aufklärungsflügen wenden, so lange werden Sie Ihrer Verantwortung gegenüber den schrecklichen Vorkommnissen in Gorazde nicht gerecht.Ich will hier — ich sage das noch einmal — nicht den Anlaß nutzen, um Parteipolitik zu machen. Verstehen Sie das als Appell, daß Sie sich in der Frage der UNO-Einsätze bewegen, damit wir hier eine gemeinsame Haltung darstellen, nach außen tragen und unseren Einfluß in der Europäischen Union und innerhalb der UNO stärken können, damit beide Institutionen in dieser Frage zu einer entschlosseneren Haltung finden.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen in der Aktuellen Stunde liegen nicht vor.
Ich habe jetzt aber die Wortmeldung der Frau Kollegin Vera Wollenberger gemäß § 30 der Geschäftsordnung. Bitte, Frau Kollegin Wollenberger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Kollege Hirsch hat mich in seinem Beitrag aufgefordert, zu unterlassen, den Aufenthalt unseres Außenministers Kinkel in Washington zu kritisieren. Ich stelle fest, daß ich das nicht getan habe. Ich habe die Regierungserklärung des Außenministers kritisiert. Diese Regierungserklärung kann jeder hier im Hause nachlesen. Wenn man sich die kleine Mühe macht, die Aussagen in der Regierungserklärung mit den Meldungen des Tages zu vergleichen, dann kommt man zu der Feststellung, daß die Aussage, in dieser Regierungserklärung werde schöngeredet, weder dümmlich noch unwahr, sondern einfach zutreffend ist.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts.Ich rufe nunmehr Punkt 7 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr
a) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen , Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Dionys Jobst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Höhere Attraktivität des Fahrradverkehrsb) zu dem Antrag der Abgeordneten Heide Mattischeck, Robert Antretter, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFörderung des Fahrradverkehrs— Drucksachen 12/4816, 12/2493, 12/5725 —Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Börnsen
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre
Metadaten/Kopzeile:
19202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Vizepräsident Helmuth Beckerund sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Wolfgang Börnsen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist gar nicht einfach, nach einem so ernsthaften und traurigen Thema auf eine Thematik umzuschalten, die einen ganz anderen Hintergrund und Sachverhalt hat. Ich will es trotzdem versuchen und darf um Ihr Verständnis bitten. Es gehört zum parlamentarischen Alltag, daß es unterschiedlichste Themen gibt, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben.Mein Thema heute ist die Verkehrspolitik, genauer: die höhere Attraktivität des Fahrradverkehrs. Unsere Familienministerin — Sie wissen es — ist ebenso daran beteiligt wie der Ministerpräsident Rudolf Scharping, wie Dieter Thomae von der F.D.P., Karl Hermann Haack von der SPD oder Sigrun Löwisch von den Christdemokraten und viele hundert andere Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause. Viele treten in die Pedale, einige wenige in Bonn, aber viele zu Hause, alle nach dem Motto: Fahren wir durch Stadt und Mark, denn Radeln macht die Wadeln stark!Radfahren befindet sich im Aufwind, aber nicht nur bei uns: Die ganze Welt setzt auf das Rad. Als Personentransportmittel ist das Fahrrad weltweit führend. 100 Millionen Fahrräder werden jährlich produziert. Sein Abstand vor dem Auto hat sich seit 1970 verdreifacht. Jeder Zehnte auf der Welt fährt ein Auto, aber 80 % fahren Fahrrad.Mit der Entstehung der Umwelt- und Fitneßbewegung ist das Radfahren bei uns geradezu explodiert. Als Fortbewegungsmittel in der Freizeit hat das Rad einen Vorzugsrang, weil es manchem ein besonderes Freiheitsgefühl vermittelt. Das Selber-Erstrampeln bei Wind und Wetter ist das große Vergnügen. Gesund, geschmackvoll gestylt, als Arme-LeuteGefährt passé, erlebt das Rad bei uns eine Renaissance ohnegleichen. Gab es vor 20 Jahren noch 30 Millionen Räder zwischen der Flensburger Förde und dem Bodensee, sind es heute wenigstens 60 Millionen. Ihr Anteil als Verkehrsmittel liegt seit Jahren konstant bei 10 %. Aber die Strecke, die mit dem Rad zurückgelegt wird, hat sich auf fast 7 Milliarden Fahrten gesteigert. Auch clevere Fahrradkuriere haben daran ihren Anteil.Als Touren- und Freizeitfahrzeug gewinnt es zunehmend an Bedeutung. Das gilt auch für den Berufsverkehr. Städte mit einem Radfahranteil von 20 % sind heute bei uns keine Seltenheit mehr. Zentren wie Erlangen, Freiburg und Troisdorf radeln bereits an 40 % heran. Als fahrradfreundliche Stadt zu gelten ist ein Imagegewinn. Glücklich der Bürgermeister wie in Offenburg oder in Münster, der einen goldenen Lenker als Auszeichnung für seine Stadt in Empfang nehmen kann und nicht die rostige Speiche bekommt, wie in Essen geschehen.Die Union begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich. Sie will dieses umweltfreundliche, gesundheitsfördernde, platz- und energiesparende Verkehrsmittel gefördert wissen. Es löst nicht unsere Verkehrskonzentration, aber es kann zur Entspannung der Lage, zur Entlastung der Straße und zur Erneuerung unserer Verkehrsphilosophie gut beitragen.Die Entwicklungschancen für das Rad sind noch lange nicht ausgeschöpft. Fast jeder zweite Weg, der bei uns mit dem Auto zurückgelegt wird, ist kürzer als 5 km. In Mittel- und Großstädten, so finden Fachleute, könnte der Fahrradanteil bis 40 % gesteigert werden, in Kleinstädten bis 20 %. In Kombination mit dem ÖPNV sind noch ganz andere Größenordnungen — da gebe ich Lisa Peters recht — denkbar. So schätzen Fachleute, daß sich rund 25 bis 35 % aller Nahverkehrswege vom Pkw auf das Rad verlagern lassen.Bis zu einer Entfernung von 2,5 km sind Auto und Rad in der Stadt nahezu gleich schnell, was den Autofahrer manchmal ärgert. Bei 5 km hat das Vierrad nur dann vor dem Drahtesel die Nase vorn, wenn es unverzüglich einen Parkplatz findet, sonst nicht.Förderlich für den Fahrradverkehr sind auch wetterunabhängige, diebstahlsichere Parkpavillons, wie bereits modellhaft in ersten Städten, so in Bielefeld, erstellt werden.Wer Energie sparen, die Umwelt schonen und die Gesundheit fördern will, muß mehr auf das Fahrrad setzen.
Doch mit Menge und Masse, mit Tempo und Tatendrang der Zweiradfans, Freizeitgenießer und mancher Pedalfanatiker wachsen auch die Risiken, Unfälle und Konflikte. Wenn die Fußgängerpassage als Trainingsstrecke für die Tour de France genutzt wird, wenn jeder dritte Radfahrer, so nachgewiesen, Einbahnstraßen in falscher Richtung durchfährt, wenn jeder vierte bei roter Ampel die Rechtsabbiegung trotzdem praktiziert, dann ist es notwendig und förderlich, daß sich der DVR, die Verkehrswacht, der ADFC und andere der Radfahrer als bevorzugter Zielgruppe ihrer Verkehrssicherheitsarbeit annehmen. Pedalritter sind gefordert und nicht Pedalrowdys.
Herausforderung sind aber auch die Unfallzahlen: Waren es 1981 noch 1 069 getötete Radler, so ist die Zahl 1992 auf 702 gesunken. Damit ist ein absoluter Tiefstand erreicht, nach seit Jahren deutlichem Rückgang. Diese erfreuliche Entwicklung gilt aber nicht für die Anzahl der Verletzten; sie ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Jeder vierte Radfahrer verunglückt mindestens einmal im Jahr; die Dunkelziffer ist viermal höher. Jeder zwölfte Verkehrstote und jeder siebente Verunglückte ist ein Radfahrer. Das sind Zahlen, die alarmieren, ist ein Zustand, der Handeln verlangt.Trainierte Treter machen auch mit dem Rad ein hohes Tempo. 30 bis 40 km/h sind keine Seltenheit. Die Unfälle bei diesen High-Tech-Radlern sind um so schwerer. Besonders Schädelfrakturen treten häufig auf. Nach Ansicht der Unfallforscher könnten 80 % der schweren Kopfverletzungen durch Helme verhindert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19203
Wolfgang Börnsen
werden. Bei vielen gehört der Kopfschutz bereits zur selbstverständlichen Sicherheitsausstattung, doch noch nicht bei der Mehrheit. Eine Kampagne für den Helm, ob Soft- oder Hartschale, ist nicht nur hilfreich, sondern auch erforderlich. Bei Kindern bin ich für die Pflicht.
Jahr für Jahr werden annähernd 100 von ihnen beim Radfahren getötet. Es ist unsere Aufgabe, Kinder davor zu schützen.Zur Realität gehört aber auch, daß der Radfahrer nicht nur der „Gejagte" im Straßenverkehr ist, sondern oft genug auch „Jäger", wie eine neuere Untersuchung sie betitelt. Bei jedem dritten Unfall sind Radfahrer Hauptverursacher. Die „Piraten der Pedale" patzen durch die Benutzung der falschen Straßenseite, durch Fehler beim Abbiegen, Vorfahrtsverletzung, Verkehrsuntüchtigkeit und überhöhte Geschwindigkeit.
— Ich komme auch zu einem guten Ende.Radfahrer verfügen über keine Knautschzone. Viele Radfahrer leben gefährlich. Grund dafür ist oft eine fehlende Verkehrsmoral nicht nur bei den Autofahrern, sondern auch bei den Radlern selbst. Nicht das Unwissen über die Verkehrsregeln, sondern deren Ignorieren steht oft im Vordergrund.Experten weisen darauf hin, daß viele Radverkehrsanlagen nicht angenommen werden, weil zu große Umwege, zu lange Ampelrotphasen und zu unbequeme Wege zugemutet werden. Häufig sind die Bordsteine nicht abgeschrägt, die Wege zu eng und zugeparkt.
— Das auch. — Es gilt, die noch oft bestehenden Mängel in der Radverkehrsinfrastruktur zügig zu beseitigen.Uns allen liegt an einer Verbesserung des Radverkehrs. Eine einseitige Verteufelung der Autofahrer durch Radfetischisten ist dabei ebenso falsch wie umgekehrt eine Desinformation der Autofahrer über die vermeintlichen Radrowdys.
Herr Kollege Börnsen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Gern, Herr Kollege.
Bitte, Herr Kollege.
Kollege Börnsen, beispielsweise im Hinblick auf das Problem des Helmtragens: Halten Sie es für notwendig oder wünschenswert, daß wir die Straßenverkehrs-Ordnung im Hinblick auf eine verstärkte Berücksichtigung des Fahrradverkehrs ändern oder ergänzen?
Herr Kollege Otto, es ist eine Schlußfolgerung aus den vorgelegten Papieren aller Fraktionen, daß die Straßenverkehrs-Ordnung in dieser Richtung geändert wird.Auch auf Bundesebene sind die Rahmenbedingungen für den Fahrradverkehr weiter zu verbessern. Die Beschlußempfehlung der Koalition zum Fahrradtourismus gehört bereits dazu, in der Maßnahmen wie die Erarbeitung einer einheitlichen Radverkehrswegweisung und die verbesserte Radmitnahme in Bus und Bahn eingefordert werden.Bereits in den vergangenen zehn Jahren hat die Bundesregierung im Rahmen der Aufgabenteilung von Bund, Ländern und Gemeinden, wie ich finde, Beachtliches für die Attraktivität des Radverkehrs geleistet.Mit einem Kostenaufwand von 1,1 Milliarden DM sind insgesamt 3 200 km Radwege entlang den Bundesstraßen gebaut worden. Bis zum Jahr 2000 werden in den alten Bundesländern weitere 3 000 km, in den neuen Ländern 1 500 km Radwege entstehen. Insgesamt sind hierfür 1,5 Milliarden DM veranschlagt.Auch das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, das in diesem Jahr ein Volumen von 6,28 Milliarden DM erreicht, ist geeignet, in den Ländern und Gemeinden die Anlage von Parkplätzen zum Umsteigen vom Pkw auf das Fahrrad und den Bau von Radwegen an innerörtlichen Straßen zu fördern.Ich finde, auch die Deutsche Bundesbahn — jetzt die Deutsche Bahn AG — hat bereits eine ganze Menge für die Förderung des Fahrradverkehrs getan. Allein 1992 wurden ca. 45 000 Fahrräder in den Interregio-Wagen mitgeführt. Noch ist nicht alles ausreichend geregelt, noch ist das Mitnahmeangebot nicht überall vorhanden, noch fehlt es an Park- und Unterstellplätzen für Räder an Bahnhöfen. Dafür ist noch viel zu tun.Bei der föderalen Aufgabenteilung in unserem Land kann der Bund aber nur den Rahmen schaffen. Länder und Gemeinden sind aufgefordert, diesen Rahmen mit Leben zu erfüllen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten.5,7 Millionen Fahrräder wurden 1992 in Deutschland verkauft. Der Durchschnittspreis betrug 620 DM. Zubehör, Beleuchtung und Ersatzteile eingeschlossen lag der Jahresumsatz des Wirtschaftsfaktors Rad 1992 bei 4,6 Milliarden DM. 4,4 Millionen Räder wurden im vergangenen Jahr in unsrem Land hergestellt. Vom Magdeburger Mega-Rad bis zum Mountainbike ist erstklassige Technik Trumpf. Wir liegen in der Weltproduktion an fünfter Stelle. Ich begrüße es, daß unser dem Fahrrad gegenüber aufgeschlossener Verkehrsminister Wissmann dazu beiträgt, daß in der Produktion weiterhin auf Qualität, Komfort und Sicherheit gesetzt wird und nicht Billigprodukte wie z. B. bei Kinderrädern angeboten werden. Da gibt es oft mehr Ramsch als Klasse, mehr Glitzer und weniger solide Technik. Das ist das Geld nicht wert.Man darf auch nicht vergessen: In Deutschland werden pro Jahr 500 000 Fahrräder von „Klemm und Klau" abgeräumt. Es ist notwendig, ein zentrales Registrierungssystem zu schaffen, damit die Ermitt-
Metadaten/Kopzeile:
19204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Wolfgang Börnsen
langen für die Polizei vereinfacht werden. So geht es auf jeden Fall nicht weiter.Wir von der Union finden es notwendig, folgenden Handlungsbedarf zu befriedigen: Wir brauchen vom Bund den Rahmen für ein Fahrradverkehrskonzept. Wir brauchen Eckdaten für einen Radwegeplan. Wir brauchen ein bundesweit einheitliches Radwegenetz, das auch den Tourismus berücksichtigt, in Kooperation mit den Ländern und den Gemeinden.Wir brauchen zur besseren Ermittlung bei Fahrraddiebstählen ein zentrales Registrierungssystem. Wir brauchen einen Verbund der verschiedenen Verkehrsträger, vom Rad über das Auto bis zum ÖPNV, bei den Ländern und den Gemeinden.Schließlich brauchen wir einen Sicherheits- und Qualitätsstandard bei Fahrrädern, der dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht.Außerdem sollte — darüber sind wir mit allen anderen Fraktionen einig — dem Verkehrsausschuß alle fünf Jahre eine Bestandsaufnahme über die Situation des Fahrradverkehrs in Deutschland vorgelegt werden, damit das Parlament nachfragen und vertiefen kann, wo Probleme noch nicht gelöst worden sind.Ich glaube sehr wohl, daß das Fahrrad, das in der 8. Legislaturperiode noch ein Randthema war, jetzt zu einem wichtigen Thema, zu einem Hauptthema geworden ist. Das hat das Fahrrad verdient.Es ist — um damit abzuschließen — auch zu begrüßen, daß sich unser Umweltausschuß mit dem Thema befaßt und jetzt sogar Diensträder für die Bundestagsabgeordneten fordert. Ich glaube, es ist besser, daß wir auf eigenen Rädern aktiv werden, nicht zu Diensträdern zurückgehen. Das Motto: „Fahren wir durch Stadt und Mark, denn Radeln macht die Wadeln stark" gilt auch für die Abgeordneten. Es ist hilfreich, wichtig und förderlich.Danke schön.
Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist unsere Kollegin Heide Mattischeck.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Der Herr Börnsen hat es mir Gott sei Dank abnehmen können, den Übergang von einem so schwierigen zu einem trotz allen Ernstes etwas heiteren Thema zu vollziehen; denn Radfahren macht Spaß. Es ist zwar auch ein ganz ernstes Thema, das haben wir so eben gehört, und dazu will ich auch noch etwas sagen, aber es macht auch Spaß. Ich hoffe nur, daß das die meisten von uns wissen und täglich erfahren können.Wenn man den Kollegen Börnsen gehört hat und sich diese wunderschöne Broschüre der Bundesregierung anschaut — ich empfehle ungern Dinge, die die Bundesregierung macht, aber diese Broschüre ist wirklich sehr schön —,
könnte man denken, die Fahrradwelt in Deutschland sei in Ordnung. Eigentlich fehlt in dieser Broschüre überhaupt nichts. Nur ist die Realität leider nicht so, wie sie in dieser schönen Broschüre geschildert wird. Ich hoffe, wir schaffen es gemeinsam, das zu ändern.Ich würde trotzdem ganz gern mit zwei Feststellungen beginnen, die beweisen, daß sich in den letzten 100 Jahren im Bewußtsein der Öffentlichkeit hinsichtlich des Fahrrades einiges verändert hat.In den Oberpolizeilichen Vorschriften für Radfahrer im Königreich Bayern aus dem Jahr 1898 war im § 12 nachzulesen:Jeder Radfahrer muß eine von der Ortspolizeibehörde seines Wohnortes, falls er seinen Wohnort in Bayern nicht hat, seines Aufenthaltortes ausgestellte, auf seinen Namen lautende Fahrkarte bei sich führen und auf Erfordern den Aufsichtsbeamten vorzeigen.Personen, welche sich nicht im Besitze eines solchen Ausweises befinden, dürfen auf öffentlichen Wegen, Straßen und Plätzen nicht radfahren.Natürlich war diese Ausweiskarte nicht einmal kostenlos.Wenn ich das noch sagen darf, weil ich es ganz nett finde: Im Verbund mit der heute vormittag geführten Debatte über die Gleichstellung der Frauen kann ich auf den unaufhaltsamen Fortschritt im Sinne der Frauen verweisen.Die Fahrradzeitschrift „Radler und Radlerin" bot im Jahr 1900 eine Alternative für die Kleidung der sportlichen Frau an. Ich zitiere:An der Innenseite des Rockes der Frau, am Vorderseitenteil des Sitzes des Doppelringes ist das Zugseil befestigt. Es läuft zwischen den Beinen der Dame hindurch zu dem am hinteren Rockteil etwas tiefer sitzenden einfachen Ring, von dort zurück zum zweiten Auge des Ringes und endlich durch eine Öse im Rock nach außen.
Bevor die Dame das Rad besteigt, zieht sie an der Schnur oder dem Band. Dadurch wird sofort der hintere Teil des Rockes eingezogen, während die beiden Rückseiten in gleichmäßiger Weise— man kann es sich vorstellen —nach den Seiten verteilt werden. Die Dame kann nun ihren Sitz im Sattel einnehmen, ohne sich später einmal in den Pedalen erheben oder das Kleid ordnen zu müssen.Sie erkennen, liebe Kollegen und Kolleginnen: Es hat sich in 100 Jahren doch einiges im Sinne des Fortschritts verändert.Nun aber zu den vorliegenden Anträgen, die sich in den 90er Jahren dieses Jahrhunderts mit der Förderung — nicht mit der Behinderung — des Fahrradfahrens beschäftigen. Es ist vieles von dem, was ich jetzt zum Teil vielleicht wiederholen werde, schon gesagt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19205
Heide MattischeckDas zeigt auch die Tatsache, daß wir uns in vielen Dingen — zumindest in der Beschreibung — doch sehr einig sind, leider aber in den Folgerungen daraus nicht.Der größte Teil der Verkehre, so hat der Verband der Automobilindustrie festgestellt, ist nicht substituierbar. Diese Behauptung ist aus den Erfahrungen einiger Modellstädte und auch in der Statistik überhaupt nicht nachweisbar.Rund 70 % aller Pkw-Fahrten werden in einem Entfernungsbereich von 0 bis 10 km zurückgelegt. Die Fahrten mit einer Länge bis zu 2 km machen schon beinahe 25 % aus. Rund die Hälfte aller Fahrten haben eine Länge von bis zu 5 km. Dabei ist gerade der Abgasausstoß der Pkw bei niedrigen Temperaturen schädlicher; das wissen wir.Diese Zahlen machen deutlich, welch großes Potential für die Verkehrsarten des sogenannten Umweltverbundes, also für den öffentlichen Nahverkehr, für das Zu-Fuß-Gehen, vor allem aber — davon ist heute die Rede — für das Fahrradfahren vorhanden ist, zur Erhöhung der Sicherheit im Verkehr, zur Verbesserung unserer Umwelt und, nicht zu vergessen, der Gesundheit beizutragen.Zu den Unfallzahlen will ich hier nichts sagen. Natürlich ist es so, wie der Kollege Börnsen gesagt hat, nämlich daß die Unfallzahlen bei den Radfahrern und Radfahrerinnen, auch die tödlichen Unfälle, zurückgegangen sind. Aber ich meine, auch eine Zahl von 70 000 verletzten Radfahrern und Radfahrerinnen, ein großer Teil davon Kinder, muß uns durchaus Anlaß geben, noch mehr zu tun.Die Behauptung, die immer wieder aufgestellt wird, die Unfälle mit Verletzungs- und Todesfolgen seien allein auf das leichtsinnige Verhalten der Radfahrer und auf Übertretungen der Straßenverkehrs-Ordnung zurückzuführen, greift zu kurz — nicht, weil es beides nicht gäbe, sondern deshalb, weil auch die Mehrzahl der Autounfälle letztlich auf die Verletzung der Straßenverkehrs-Ordnung und auf nicht angepaßte Geschwindigkeit, auf menschliches Fehlverhalten, zurückzuführen ist.
Das gilt also für alle Verkehrsteilnehmer, nicht nur für die Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen.
Der Schutz der schwachen Verkehrsteilnehmer muß also weiterhin im Vordergrund stehen.Im Durchschnitt legt jeder Einwohner in der Bundesrepublik jährlich mehr als 10 000 km zurück, mehr als 80 % davon mit dem Pkw. Wir haben dazu einiges gehört. Diese hohe Verkehrsleistung wird häufig mit beruflicher Notwendigkeit begründet. Aber nur bei ca. 21 % — das sagt die Statistik — handelt es sich um Berufsverkehr. Das sind Durchschnittswerte, innerhalb deren natürlich ganz unterschiedliche Lebens- und Wohnsituationen von Menschen erfaßt sind. Trotzdem gibt es ein großes Potential zum Umsteigen.Mit unserem Antrag „Förderung des Fahrradverkehrs" — der jetzt übrigens bald zwei Jahre alt wird; der Antrag der Koalitionsfraktionen ist ein Jahr später, also im April 1993, gefolgt — wollten wir etwas dazu beitragen, daß das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel seinen hohen Stellenwert und die notwendige Unterstützung dazu erhält. Der Bundesgesetzgeber kann und muß entsprechende gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen setzen. Es ist richtig — der Kollege Börnsen hat das gesagt —, daß vor allem Länder und Kommunen aufgefordert sind, das Ihre für die Förderung des Fahrradverkehrs zu leisten. Aber auch der Bund ist gefordert. Nicht umsonst hat der Bundesverkehrsminister diese schöne Broschüre aufgelegt.
Wenn er damit nichts zu tun hätte, hätte er diese schöne Broschüre ja auch nicht aufzulegen brauchen.Die Förderung des Fahrradverkehrs muß im Rahmen einer umweltgerechten Verkehrspolitik wesentlich größere Bedeutung erhalten. Das haben auch Sie, Herr Börnsen, betont. Allerdings sind wir der Meinung, daß der Bund seine Verantwortung wahrnehmen muß.Wir sollten im Rahmen der europäischen Verkehrspolitik auch unsere Nachbarn beachten. Die niederländische Regierung hat schon im Jahre 1991 einen sogenannten Masterplan aufgelegt, der in die gesamte Verkehrspolitik integriert ist und der sich bemüht, die Kompetenzen, die auch in den Niederlanden unterschiedlich verteilt sind, zwischen den Kommunen, den Bezirken und dem Bund sinnvoll zu koordinieren.Auch bei uns wäre dies eine Aufgabe für den Bund. Wir haben unseren Antrag so verstanden, daß der Bund die Kompetenzen von Kommunen, Ländern und Bund zusammenfaßt und in einem integrierten System sozusagen die Moderationsfunktion übernimmt, um für all das, was notwendig ist und was auch Sie gesagt haben — von der Schaffung eines Verkehrsleitsystems über die Durchsetzung eines bundesweiten Radwegenetzes bis hin zu den Änderungen in der Straßenverkehrs-Ordnung und der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung —, eine Sammelfunktion wahrzunehmen, damit in wenigen Jahren vernünftiges Fahrradfahren in der Bundesrepublik insgesamt möglich wird.Wir als SPD-Fraktion fordern ein Bund-LänderDringlichkeitsprogramm zur Verbesserung der Sicherheit des Fahrradverkehrs. Wir wissen, was alles dazugehört; ich habe soeben Beispiele genannt.Das Fahrrad muß - auch das gehört in diesen Zusammenhang — technischen Mindestnormen entsprechen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, diese vorzulegen. Dazu gehört genauso, daß die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung zur Vermeidung von schweren und tödlichen Unfällen dahin gehend verändert wird, daß bei Kraftfahrzeugen Aufprallteile durch konstruktive Maßnahmen, z. B. durch das Versenken der Scheibenwischer und das Abrunden der Dach- und Seitenkanten, sicherer werden. Da
Metadaten/Kopzeile:
19206 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Heide Mattischeckgibt es entsprechende Untersuchungen der Bundesanstalt für Straßenwesen.Daß das Fahrrad darüber hinaus einer Imageförderung bedarf, beweisen Beispiele aus Städten, die für ihren guten Ruf als fahrradfreundliche Städte gerühmt werden. Sie beweisen nachhaltig, daß eine Imageförderung dazu beiträgt, daß das Fahrrad besser und mehr genutzt wird.Ich will noch sagen, daß viele Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung heute realitätsfern sind und nicht mehr den Bedürfnissen des Fahrradverkehrs entsprechen, z. B. der Zwang, Fahrradwege, auch wenn sie ausreichend breit sind, nur in einer Richtung befahren zu dürfen, oder die generelle Benutzungspflicht von Radwegen. Ich weiß, daß es bei uns unterschiedliche Meinungen darüber gibt. Aber das muß man diskutieren, wobei man auch die Erfahrungen einiger Städte nutzen und sich auf sie berufen sollte.Anreize sollten — das will ich zum Schluß sagen — auch in finanzieller Hinsicht geschaffen werden, z. B. dadurch, daß die Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale umgewandelt wird. Das ist eine Forderung, die die SPD auch in ganz anderen Zusammenhängen erhoben hat. Das wäre dringend notwendig, um die Nachteile zu beseitigen, die es für umweltbewußte Fahrradfahrer und für diejenigen gibt, die deshalb Fahrrad fahren, weil sie gar keine andere Möglichkeit haben. Man sollte sie belohnen, wenn sie sich entsprechend umweltfreundlich und umweltbewußt verhalten.
Ich komme damit zum Schluß. Meine Zeit ist abgelaufen, wie ich sehe.
Ich möchte noch einmal betonen: Gerade für kurze Entfernungen ist das Fahrrad das geeignete Verkehrsmittel. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das erkannt. Deshalb muß der Fahrradverkehr durch Verbesserung der Rahmenbedingungen und durch mehr finanzielle Mittel gefördert werden.Förderung des Fahrradverkehrs bedeutet aber auch die Bündelung einer Vielzahl von Maßnahmen. Hier könnte der Bund initiativ werden. Ich habe vorhin schon darauf verwiesen, daß wir von unseren niederländischen Nachbarn lernen und versuchen sollten, auch bei uns eine Art von Masterplan aufzustellen.Fahrradverkehr muß — damit ist, denke ich, ein Anfang gemacht worden — ein fester Bestandteil von Verkehrsdiskussionen und Verkehrspolitik werden. Er darf nicht weiterhin bestenfalls geduldet sein.Ich habe einiges genannt, was in unserem Antrag enthalten ist. Leider hält sich der Antrag der Koalitionsfraktionen mehr im Allgemeinen und in der Beschreibung. Wir haben keine Veranlassung gesehen, diesem Antrag zuzustimmen.
Es sind keine konkreten Forderungen darin enthalten.Wir werden diesen Antrag deshalb ablehnen undunseren Antrag, der ja keine Mehrheit findet, am17. Oktober wieder einbringen. Dann haben wir sicherlich eine größere Chance.Ich bedanke mich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Horst Friedrich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt ein altes Sprichwort: Man soll die Feste nicht feiern, bevor sie tatsächlich vorhanden sind. Über die Debatte nach dem 17. Oktober sollten wir zu gegebener Zeit nachdenken.
Radfahren ist für mich wie langsames Fliegen, eine sanfte Bewegung. Die Landschaft kannst du erst auf dem Rad richtig wahrnehmen, wenn alles ein wenig langsamer geht. Früher wußte ich gar nicht so richtig, was Wälder sind, Flüsse, Berge und Täler.Damit Sie nicht so sehr erschrecken: Das stammt nicht von mir, sondern von Fritz Teufel. Das war der bekannte 68er Kommunarde. Aber es ist, glaube ich, wichtig, auch so etwas einmal einzuführen.Die Kontra-Aussage dazu ist die Angst der älteren Bevölkerung vor den — ich versuche, mich geschlechtsneutral auszudrücken — Pedalrittern und Pedalburgfräulein, die sich im innerstädtischen Verkehr entgegen jeglichen Regeln verhalten und eine Situation der Bedrohung schaffen.Diese Bandbreite ist der Rahmen, in dem wir uns über die Probleme des Fahrradverkehrs unterhalten, wobei grundsätzlich festzustellen ist, daß ja in der generellen Bemühung um die Verbesserung des Fahrradverkehrs eigentlich zwischen allen Parteien keine Unterschiede sind. Wie immer liegt der Teufel im Detail, und es wird — wie immer — die Frage sein, was nun letztendlich der richtige Weg ist, wobei allerdings festgestellt werden muß, daß die Bundesregierung nicht unbedingt der richtige Adressat für die weiteren Aktivitäten zur Verbesserung des Fahrradverkehrs ist, weil die Zuständigkeit überwiegend im Landesbereich und im kommunalen Bereich liegt.Da hat der Bund zunächst einmal seine Hausaufgaben gemacht. Zum einen unterstützt er seit 1981 mit einem speziellen Radwege-Programm den Bau von Radwegen an Bundesstraßen. Wir haben bis zum Jahre 1990 knapp 3 000 km Radwege mit einem Kostenaufwand von rund 1 Milliarde DM gebaut. Es ist geplant — das ist schon gesagt worden —, weitere 3 000 km mit einem Kostenaufwand von 1,5 Milliarden DM zusätzlich zu bauen. Das Wesentliche, glaube ich — und darauf sollte man hinweisen —, sind die Änderungen im Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, nicht nur die Aufstockung des Finanzrahmens, sondern auch — das ist das Wesentliche für das Fahrrad — die Beseitigung von administrativen Hemmnissen und von Bagatellgrenzen, die Eröffnung und Erweiterung des Förderkataloges, in dem es jetzt möglich ist, auch Fahrradhaltestellen bei Punkten des öffentlichen Personennahverkehrs zu fördern. Aber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19207
Horst Friedrichdas muß man vor Ort verwirklichen. Es nützt eben nichts, dem Bund mit dem Finger zu drohen, wenn man die Möglichkeiten, die man hat, nicht umsetzt. Da ist jeder in seiner Gemeinde als Kommunalvertreter gefragt, das, was er darf, zu verwirklichen.Die Bundesbahn ist seit 1989 dabei, das Angebot von Wägen für die Mitnahme von Fahrrädern auf Reisen zu erhöhen. Das ist mit Sicherheit noch nicht gänzlich ausreichend. Aber man kann nicht von heute auf morgen von einer Behördenbahn alles verlangen. Ich habe große Hoffnung, daß die Bahnreform das noch weiter unterstützt.Die Problematik der Verteilung des Verkehrs ist schon angesprochen worden. Einen Aspekt sollte man nicht überschätzen: Neben dem Nahverkehr wird ein großer Zuwachs im Fahrradverkehr wahrscheinlich im Freizeitverkehr stattfinden. Die größten Steigerungsraten finden da statt. Auch das ist in einer Betrachtung schon kommentiert worden. Wir haben weitgehende Radwegenetze ausgeschildert.Die Grundintention des Antrags der Koalition, den wir unterstützen, ist, keine neuen Überwachungstatbestände zu schaffen und keine neuen administrativen Hemmnisse zu machen, sondern mit Augenmaß das umzusetzen, was Aufgabe des Bundes ist. Das ist in der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses deutlich dokumentiert. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung auch zu dieser Beschlußempfehlung. Ich habe, liebe Kollegin Mattischeck, die Befürchtung, daß sonst auf europäischem Wege eine Richtlinie ergeht, die im Inhalt und in der Schwerverständlichkeit dem nahekommt, was Sie uns als Gebrauchsanweisung aus dem Jahre 1900 vorgelesen haben.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, der letzte Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Dr. Klaus Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das realisierbare Potential der Verlagerung von Auto- und Nahverkehr auf das Fahrrad ist viel größer, als die meisten Autofahrer noch glauben. Denn angesichts der Tatsache, daß rund die Hälfte aller Autofahrten im Entfernungsbereich von 3 km verbleiben, müssen wir die in der Bundesrepublik verfügbaren ca. 60 Millionen Fahrräder im Mittel eher als stillgelegt denn als benutzt betrachten.
Das ist um so ärgerlicher, als beim Vergleich mit dem Ausbau des ÖPNV eine Vervielfachung des Radverkehrs wesentlich schneller und kostengünstiger zu erreichen wäre. Ich will dabei allerdings auch die witterungs- und topographiebedingten Nachteile des Radfahrens nicht wegideologisieren. Trotzdem ist es an der Zeit, das Rad aus der Nische des Freizeitmobils herauszuholen und zu einem vollwertigen Transportmittel zu machen. Eine Einigung der beiden Antragsteller auf einen interfraktionellen Antrag wäre, glaube ich, in diesem Sinne sicher ein glaubhaftes Zeichen für das Fahrrad gewesen, während die heute kontroverse Abstimmung über die Anträge der Sache schaden wird.
Sicher ist der Ausbau des Radwegenetzes entlang der Bundesstraßen auf über 15 000 km bis zum Jahre 2000 zu begrüßen. Aber das Schattendasein des Radverkehrs innerhalb der Städte scheint bis dahin bis auf wenige Ausnahmen, z. B. die Stadt Münster, vorprogrammiert zu sein. Verkehrsberuhigung und Tempolimit 30 — ich weiß nicht, ob es bei der SPD angesichts des Programms noch weiter gilt, aber ich hoffe es — können die Nutzung des Rads sicherer und damit attraktiver machen. Für die schnelle Ausweitung und Verknüpfung des Radwegenetzes werden so auch kostengünstige optische Hervorhebungen als Radweg auf den Straßen ausreichen. Gleichzeitig müssen Bahn- und Gemeindeverkehrsfinanzierung ein Investitionsprogramm für sichere Unterstellplätze ermöglichen.
Doch auch neue finanzielle Anreize werden den Radverkehr schnell attraktiver gestalten. Warum installieren wir nicht einfach eine neue Entferungspauschale im Berufsverkehr, wie sie z. B. heute schon in Edinburgh in Schottland praktiziert wird? Dort sollen umgerechnet 65 Pfennig pro Kilometer Radweg angerechnet werden können, während gleichzeitig die Pauschale für das Auto deutlich abgesenkt wird.
Die konsequente Neuorientierung der Verkehrspolitik im Nahbereich zugunsten des Rades schafft Innovationsimpulse und damit letztendlich zusätzliche Arbeitsplätze.
Herr Kollege Dr. Feige, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krause?
Ja, bitte.
Bitte, Herr Kollege Krause.
Herr Kollege, als ernst zu nehmenden Ökologen möchte ich Sie folgendes fragen: Wie beurteilen Sie die medizinischen Erkenntnisse, daß auf Radwegen neben Bundesfernstraßen wegen des wesentlich längeren Verbleibs auf dieser Strecke und der gleichzeitigen Hyperventilation beim aktiven Fahrradfahren zum Bewältigen einer Strecke von 5 km über die Lunge etwa das 10- bis 20fache dessen an Schadstoffen aufgenommen wird, was man aufnimmt, wenn man sich ruhig im Auto verhält und diese Strecke mit dem Wagen fährt?
Herr Krause, dieses ist kein Argument, das für das Autofahren spricht, sondern ganz im Gegenteil: Es spricht gegen das Autofahren. Denn es ist doch eben mit Ihren eigenen Worten gesagt worden, daß gerade das Auto auf den Radfahrer die Belastung ausübt, daß das Autofahren in dieser Auseinandersetzung das negative Moment ist.
Metadaten/Kopzeile:
19208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Klaus-Dieter FeigeDamit ist für mich durch Ihre eigenen Worte noch einmal ausdrücklich begründet worden, daß Radfahren gesund ist.
meldet sich erneut zu einer Zwischenfrage)
Herr Abgeordneter Dr. Feige?
Ich glaube, die eine Frage reicht.
Die konsequente Neuorientierung der Verkehrspolitik im Nahbereich zugunsten des Rades schafft Innovationsimpulse und damit letztendlich zusätzliche Arbeitsplätze. Neue Servicestationen und Fahrradverleiher ziehen daraus ebenso Nutzen wie der Einzelhandel. So können z. B. neue Verkehrsdienste das Einkaufen mit dem Fahrrad mit den bequemen Güteranlieferungen nach Hause verbinden.
Fahrradfahren wird darüber hinaus jedoch erst dann sein Kümmerdasein überwinden, wenn schließlich auch Bundeskanzler und Minister — und nicht nur einige wenige Abgeordnete — bei einer öffentlichen Dienstfahrt auf dem Fahrrad beobachtet werden können. Bis dahin ist, glaube ich, noch ein wahnsinnig weiter Weg.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, zu diesen Mutmaßungen möchte ich jetzt keinen Kommentar machen, obwohl mir das auf der Zunge liegt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zu einer höheren Attraktivität des Fahrradverkehrs, Drucksache 12/5725 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4816 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zum Antrag der Fraktion der SPD zur Förderung des Fahrradverkehrs, Drucksache 12/5725 Nr. 2: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/2493 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit der gleichen Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 8 und zum Zusatzpunkt 4:
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten AntjeMarie Steen, Karl Hermann Haack , Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Eindämmung der mit der Tierseuche Rinderwahnsinn verbundenen Gesundheitsgefahren
für den Menschen auf den Menschen
— Drucksache 12/7154 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
EG -Ausschuß
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Vorbeugende Maßnahmen gegen das Risiko der Übertragung der Rinderseuche BSE auf den Menschen
— Drucksache 12/7322 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
EG -Ausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich möchte die Aussprache eröffnen und bitte, daß wir dafür die notwendige Aufmerksamkeit und Ruhe herstellen. Zunächst erteile ich unserer Kollegin Antje-Marie Steen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Stinkendes Fleisch in Kühltruhen, mit Pflanzenschutzmitteln belastete Babykost, Aflatoxin auf Pistazien, Krebsgifte im Olivenöl, Salmonellenvergiftung durch Eier und Geflügelfleisch — es kann und muß einem den Appetit verschlagen.Zu einem erheblichen Anteil an der Zunahme der Risiken, durch Lebensmittel in der Gesundheit gefährdet zu werden, tragen wir allerdings alle gemeinsam durch unsere EB- und Ernährungsgewohnheiten bei. Wir erwarten preiswerte Lebensmittel, den täglichen Genuß von Fleisch, das ständige Angebot von Früchten und Gemüse auch außerhalb ihrer üblichen Wachstumsperiode. Also nehmen wir z. B. Massentierhaltung in Kauf, dulden quälerische Tiertransporte, verschließen die Augen vor den Gefahren der Verfütterung von Tiermehl an Pflanzenfresser, lassen höhere Grenzwerte im Trinkwasser durch Pflanzenschutzmittel zu.Das können und dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über Lebensmittelskandale diskutieren. Wenn wir diese unsere Lebensgewohnheiten nicht verändern, motivieren wir auch die Erzeuger dieser Produkte nicht zu umweltverträglichen Herstellungsverfahren, geben ökologisch ausgerichteten Landwirtschaftsbetrieben keine Perspektive, mit ihren weniger belasteten, unter Beachtung des größtmöglichen Schutzes
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19209
Antje-Marie Steender Umwelt erzeugten Lebensmitteln auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein.
— Ich denke, das ist ein Thema, das uns alle berührt; denn wir sind nicht unschuldig an den Skandalen, die wir als solche bezeichnen. Ich werde schon zum Thema kommen; Sie werden schon Ihre Freude haben.Allerdings muß auch die Politik ihre Verantwortung zum Schutz der menschlichen Gesundheit übernehmen. Wir haben im Zusammenhang mit der heutigen Thematik großen Zweifel daran und an der schnellen Handlungsbereitschaft der Bundesregierung.
Schwierig genug war es bereits bisher, die Bundesregierung zum aktiven Handeln zu bewegen. Sehr befriedigend sind die Ergebnisse bis heute auch nicht.
Seit Bekanntwerden der Gefährdung — spätestens seit 1989 —, die von der als Rinderwahnsinn bezeichneten Tierseuche ausgeht, ist diese Bundesregierung ständig, gerade von seiten der SPD-Fraktion, zu Maßnahmen aufgefordert worden, die sicherstellen sollten, daß ein Übergreifen der Seuche auf deutsche Tierbestände vermieden wird und der Schutz der Verbraucher vor der Infektion mit der Jacob-Creutzfeldt-Erkrankung gewährleistet ist.Aber unzureichende und dann auch abwiegelnde Erklärungen und Aktionen bestimmten die Politik der Bundesregierung. Zum Beispiel erfolgte in England ein Fütterungsverbot von Tiermehl an Widerkäuer bereits 1988, Frau Limbach. Der Landwirtschaftsminister Jürgen Borchert erläßt eine Eilverordnung zum Fütterungsverbot von Tierkörpermehl im März 1994. Und noch im Oktober 1993 hält der Berichterstatter der EU-Kommission alle Maßnahmen für ausreichend und sieht keinen weiteren Handlungsbedarf.Während Presse und Fernsehen über die möglichen Umgehungswege der Kontrollen für Fleischimporte aus England berichten und somit deutlich machen, daß Tiermehle und BSE-kontaminiertes Fleisch durchaus den Weg in die Bundesrepublik über andere EU-Länder oder Drittländer finden können, beharrt der Bundesgesundheitsminister auf seiner Erkenntnis, daß ein genereller Importstopp nicht vonnöten sei. Dabei unterläßt er es, auf einen Bericht des BGA vom Juni 1993 hinzuweisen, in dem u. a. genau dieses generelle Importverbot für britisches Rindfleisch gefordert wird.Ich frage Sie, Herr Minister, warum Sie erst ein halbes Jahr später — und das auch nur durch den verstärkten Druck der Öffentlichkeit und unser ständiges Nachfragen — endlich ein Symposium zur BSE veranstalten und eingestehen, daß die angebotenen Maßnahmen, den Schutz der Bevölkerung vor den möglichen Risiken einer BSE-Übertragung wirksam zu gewährleisten, nicht ausreichen; so Ihre Erklärung am 31. März 1994. Sie müssen sich schon nachsagen lassen, daß Sie Warnungen nicht sofort aufgenommen haben, ihnen nicht konsequent nachgegangen sind.
Bereits 1990 — nur zur Erinnerung — warnte der Bundesverband praktischer Tierärzte in einem Schreiben an den damaligen Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit:Eine Übertragung der Krankheit auf den Menschen ist bis heute nicht mit Sicherheit auszuschließen.Da gibt es in Großbritannien bereits ein generelles Verbot spezifizierter Rinderinnereien von Kälbern über sechs Monaten für den menschlichen Genuß. In Deutschland besteht lediglich ein Importverbot für Gehirn und spezielle innere Organe; der Verzehr, die Verwertung bleiben allerdings möglich, und das bei den bekannten Tatbeständen der illegalen Praktiken der Verbringung. Zu deutlich werden hier auch Parallelen zur Blutprodukteproblematik. Mein Kollege Knaape wird noch darauf eingehen.BSE ist bis heute eine Krankheit mit vielen Unbekannten. Vor allem trägt der noch immer nicht identifizierte Erreger zur Verunsicherung der Bevölkerung bei.
Nachgewiesen ist bis heute die Übertragbarkeit auf 50 verschiedene Tierarten, darunter auch solche, die der menschlichen Spezies sehr ähnlich sind. Kürzliche Meldungen über die Häufung der Jacob-CreutzfeldtErkrankungen im Raum Trier, aber auch in anderen europäischen Ländern lassen die Vermutung zu, daß ein kausaler Zusammenhang zwischen BSE und Jacob-Creutzfeldt-Syndrom besteht.Wir fordern Sie, Herr Minister Seehofer, deshalb auf, endlich wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Gesundheit, aber auch der Tiergesundheit zu ergreifen. Unser Antrag formuliert dazu konkrete Maßnahmen. Unter anderem muß neben dem sofortigen Verbot der Einfuhr, Ausfuhr und Verarbeitung von Rindern und Kälbern sowie der daraus stammenden Erzeugnisse auch die Einfuhr von Rinderembryonen und Spermen aus Großbritannien untersagt werden. Ziel dieses Verbotes muß einerseits die Vermeidung der Ausbreitung einer Tierseuche sein, andererseits muß eine Übertragung von BSE auf den Menschen durch die Nahrung weitgehend ausgeschlossen sein.
Frau Kollegin Steen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krause ?
Nein.Da in Einzelfällen Hinweise bestehen auf eine horizontale bzw. vertikale Übertragung von Kühen auf das Kalb, müssen neben einer generellen Kennzeichnung der Tiere aus kontaminiertem Bestand auch deren Entfernung und Ausmerzung im Verdachtsfalle sofort erfolgen. Nur so sind Verbraucher vor einer unklaren Infektionslage zu schützen und ist ein schneller Zugriff auf die Erzeugerbetriebe mög-
Metadaten/Kopzeile:
19210 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Antje-Marie Steenlich. Bei der sehr langen Inkubationszeit von bis zu zehn Jahren kann auch ein späteres Erkranken der Kälber durchaus erfolgen.Der Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. greift nach meiner Einschätzung in dem Punkt „Einschränkung des Verbringens von Rindfleisch aus England" zu kurz. Wenn Sie fordern, nur Fleisch von Rindern, die jünger als 3 Jahre sind und aus BSE-freien Beständen seit mindestens 4 Jahren stammen, auf dem deutschen Markt zuzulassen, dann ist das zur heutigen Situation nur eine zeitliche Verlängerung der Lebenszeit dieser Kälber, aber es sagt nichts über die Ungefährlichkeit des Fleisches aus. Es gibt bis heute keine gesicherten Nachweisverfahren, die eine Kontrolle durch die Lebensmittelprüfämter ermöglichen; auch reichen anscheinend Inaktivierungsverfahren von z. B. 133 Grad bei Tiermehlen nicht aus. Es gibt zuverlässige Erkenntnisse, daß die Viren auch eine Hitzebehandlung von 350 Grad überleben.
Man kann ja verstehen, daß Sie als Regierungskoalition nicht Ihre Minister im Regen stehen lassen wollen; aber in Kenntnis der ganzen Verbringungsmöglichkeiten von BSE-kontaminiertem Fleisch und Fleischprodukten bei Unterlaufen der Kontrollen nutzt uns auch eine amtliche Bescheinigung, wie Sie sie fordern, nichts, zumal wenn sie vom entsendenden Land ausgestellt wird.Ganz und gar unverständlich erscheint uns, Herr Minister, Ihre Untätigkeit im Bereich der Einrichtung einer international arbeitenden Koordinierungsstelle und der ausreichenden Aufstockung der Forschungsmittel für die Finanzierung der angewandten und begleitenden Forschung. Bereits 1993 forderten wir Sie auf, hier sicherzustellen, daß die erforderliche Forschung langfristig finanziell gesichert wird. Notwendig sind vor allem die Entwicklung und Erprobung von Nachweisverfahren für BSE, die Durchführung von Inaktivierungsstudien, die Entwicklung und Überprüfung von Präventionsmaßnahmen sowie die Erregerisolierung.Selbst in Ihrem Haus bestehen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Prüfverfahren des Entsenderlandes, hier England; deshalb ist es um so wichtiger, daß eine außerhalb von Großbritannien tätige internationale Kontrollstelle die Datenlage in Großbritannien und der EU einer kritischen Überprüfung unterzieht und durch ein Monitoringsystem die Verbraucher vor gesundheitsgefährdenden Produkten schützt.Angesichts der Tatsache, daß seit Anfang der 80er Jahre bis zum Importverbot 1989 ca. 5 000 lebende Rinder aus England nach Deutschland importiert wurden und hier auch noch zur Zeit leben, da es sich überwiegend um Highland- oder Gallowayrinder handelt, müssen die Verbraucher geschützt und durch die Kennzeichnung der Tiere vor einer unklaren Infektionslage bewahrt werden. Das gilt vor allen Dingen für in dieser Zeit eingeführtes und eingelagertes Fleisch, dessen Weiterverwendung und Vertrieb verhindert werden muß. Zumindest erscheint es uns angebracht, eine Überprüfung der Fleischlager auf aus England importiertes Rindfleisch anzuordnen, um auszuschließen, daß durch diese eingelagerte Ware eine Gefahr für die Verbraucher ausgeht.
Bestätigt sich der Verdacht auf BSE-verseuchtes Fleisch, muß es entsorgt werden.
Ein dringender Handlungsbedarf zur Vermeidung gesundheitlicher Risiken ergibt sich für den Bereich der aus Organen von Rindern und Schafen hergestellten Arznei- und Kosmetikmittel. Es genügt keineswegs, Verfahren einzuleiten, um sicherzustellen, daß Arzneimittel, Kosmetika, Sera und Impfstoffe ohne Produkte von Rindern aus britischen Beständen hergestellt werden. Es ist auch für bereits im Handel befindliche Produkte im Nachprüfverfahren diese Sicherheit herzustellen. Besonders alarmierend ist dabei der Bereich der sogenannten Altpräparate, für die keine Deklarationspflicht bestand und die noch im Handel sind.Es ist übrigens mehr als befremdlich, daß es bis heute bei der Herstellung von Frischzellenpräparaten keine Nachweispflicht des Herstellers gibt, die eine Organentnahme von BSE-unverdächtigen Tieren belegt. Wir fordern auch hier eine Zulassung dieser Präparate nach dem Arzneimittelgesetz.Unser Antrag sieht noch weiteren Regelungsbedarf vor; wir werden dazu im beratenden Gremium, dem Gesundheitsausschuß, vortragen.Es liegt uns fern, mit der Beschreibung der Risiken, die sich aus dem Verzehr und der damit möglichen Ausbreitung der BSE ergeben, Panik bei den Verbrauchern und Verbraucherinnen zu erzeugen. Allerdings muß sich die Regierung schon den Vorwurf gefallen lassen, viel zu zögerlich und dann auch noch kontrovers zwischen den verantwortlichen Ministerien, dem Landwirtschafts- und dem Gesundheitsministerium, auf die berechtigten Bedenken von seiten der Öffentlichkeit und der Wissenschaft eingegangen zu sein und damit ein Stück weit zur Verunsicherung aller beigetragen zu haben.Ihre Ankündigungen, Herr Minister, nun aber endlich handeln zu wollen, erscheinen uns, wie so oft, als Aktionismus. Wie anders soll man es bezeichnen, wenn Sie im Februar im Agrarausschuß ankündigen, nun ohne Erwägung der Konsequenzen notfalls einen nationalen Alleingang für ein Einfuhrverbot zu machen, gleichzeitig aber in Ihrem Bericht an den Rat der EU vom 15. März 1994 die Kommission ersuchen, innerhalb von drei Monaten einen Bericht zu erstatten bzw. geeignete Vorschläge vorzulegen? Nehmen Sie hier nicht bewußt Risiken in Kauf, die für die Verbraucher unabsehbare gesundheitliche Folgen nach sich ziehen können?Im Abwägungsprozeß zwischen gesundheitlichen und ökonomischen Interessen kann es nur zu einem sofortigen Importverbot als nationalem Alleingang kommen. Wenn die EU es deutschen Landwirten zumutet, zur Eindämmung der Schweinepest ihre Bestände vom Markt zu nehmen, obwohl von diesem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19211
Antje-Marie SteenFleisch keine Gefahr für die menschliche Gesundheit bekannt ist, ist es auch britischen Rinderzüchtern zuzumuten, auf Exporte nach Deutschland zu verzichten. 1990 ist das bereits im Verbund mit Frankreich versucht worden, allerdings auf massiven Druck der Engländer nach zwei Monaten wieder aufgegeben worden.Handeln Sie jetzt! Machen Sie Gebrauch von den Möglichkeiten des Kabinetts zur Abwehr gesundheitlicher Gefahren für die Menschen in der Bundesrepublik, und sprechen Sie ein Importverbot aus. Die SPD-Fraktion ist bereit — das kann ich Ihnen zusichern —, mit Ihnen gemeinsam über Wege und Vorgehensweisen nachzudenken und diese zu praktizieren. Eines aber können wir uns angesichts der jüngsten Lebensmittelskandale auf keinen Fall leisten, nämlich die Bürger und Bürgerinnen mit ihren Verunsicherungen allein zu lassen.Wir werden Sie bei allen Maßnahmen zum vorbeugenden Gesundheitsschutz unterstützen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Editha Limbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Mitte der 80er Jahre BSE, Rinderwahnsinn, in Großbritannien auftrat, schien noch sicher zu sein, daß ein Risiko der Übertragung auf den Menschen nicht zu befürchten sei. Selbst die Übertragung auf andere Tierarten schien ausgeschlossen zu sein. Heute wissen wir — das haben wir auch bei dem internationalen Symposium Anfang Dezember 1993 in Berlin wie schon vorher im Gesundheitsausschuß im Oktober 1993 durch die Fachleute gehört —, daß mit letzter Sicherheit die Übertragung der Krankheit auf den Menschen nicht ausgeschlossen werden kann.Nachdem nachgewiesen wurde, daß die Barriere zwischen Wiederkäuern und anderen Tierarten — Nager, Großkatzen — durch den BSE-Erreger überschritten werden kann, darf niemand außer acht lassen, daß auch die Infektion vom Rind zum Menschen möglich sein könnte; nicht nachgewiesen ist, aber möglich sein könnte.Wir wissen auch, daß die Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, die entsprechende Krankheit beim Menschen mit einer sehr langen Inkubationszeit und leider noch keiner Heilbehandlung, im Versuch von Menschen auf Tiere übertragbar ist. Wer würde da wagen, auszuschließen, daß auch der umgekehrte Weg möglich ist?Diese neue Risikobewertung durch Fachleute — nicht durch die Politik; dafür sind wir auch nicht kompetent —
erfordert zusätzliche Vorsorgemaßnahmen. Deshalbbin ich auch dankbar dafür, daß wir heute im Plenumdes Deutschen Bundestages anhand der vorliegenden Entschließungsanträge diskutieren können. Ich denke, in einem sind wir uns alle einig: Wir fordern zusätzliche Maßnahmen.
Im Namen meiner Fraktion möchte ich allerdings dem Bundesgesundheitsminister und auch dem Landwirtschaftsminister danken, daß sie bereits auf europäischer wie auf nationaler Ebene die Initiative ergriffen haben. Man mag darüber streiten, ob das sechs Wochen vorher oder vielleicht auch zwei Monate vorher hätte sein können. Eindeutig ist jedenfalls: Es wurden Initiativen ergriffen.
Es war z. B. auch nicht ohne deutschen Einfluß, daß die EG-Kommission seit 1990 ein Importverbot für über sechs Monate alte lebende Rinder und Einschränkungen für den Import von Rindfleisch aus dem Vereinigten Königreich ausgesprochen hat.Es ist in der Tat auch richtig, daß die Engländer schon seit 1988 die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer und seit 1990 auch die Ausfuhr von Tiermehl in die EU untersagen. Man darf aber nicht übersehen, daß bei uns für die Herstellung von Tiermehl andere Vorschriften gelten als in England.
Ich habe ein paar kurze Maßnahmen genannt. Ich sage auch offen: Das genügt uns nicht. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, bedauern zutiefst, daß die europäischen Gesundheitsminister den Vorschlägen, die Bundesminister Seehofer gemacht hat, nicht folgen wollten und noch keine Beschlüsse gefaßt haben. Deshalb unterstützen wir auch die Bemühungen der Bundesregierung im Agrarrat, der am 25. April tagt, weitere Regelungen zum vorsorgenden Gesundheits- und Verbraucherschutz zu erreichen.
Ich verhehle nicht, daß ich ein bißchen skeptisch bin, obwohl auch der Verbraucherrat beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Entsprechendes gefordert und unterstützt hat.
Auf nationaler Ebene gibt es auch schon eine Reihe von Initiativen und Maßnahmen. So sind z. B., weil viele Arzneimittel Ausgangsstoffe vom Rind enthalten, schon 1991 Empfehlungen an die Hersteller von Arzneimitteln gegangen. Diesen Empfehlungen hat sich die EU übrigens 1992 angeschlossen.Seit dem vergangenen Jahr wurden die Vorarbeiten für die Verordnungen aufgenommen, die die Sicherheit bei Säuglings- und Kleinkindernahrung erhöhen sollen. Diese liegen jetzt beim Bundesrat und bei der Europäischen Union zur Notifizierung. Wir haben ferner die Meldepflicht für die Creutzfeldt-JacobKrankheit in Vorbereitung.Das Bundesgesundheitsamt hat den Auftrag, entsprechende Empfehlungen auch für die Herstellung
Metadaten/Kopzeile:
19212 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Editha Limbachvon Kosmetika zu erarbeiten. Auf die erlassene Verordnung, die das Verbot, Tiermehl und tiermehlenthaltende Futtermittel an Wiederkäuer zu verfüttern, sichert, ist schon hingewiesen worden, wenn auch kritisch. Ich sehe es positiv, daß das erfolgt ist. Allerdings habe ich persönlich Zweifel, ob wir nicht auch an den Punkt kommen, wo wir nicht nur Wiederkäuer, sondern auch andere Tierarten bei der Verfütterung im Auge behalten müssen.Wir begrüßen alle diese Maßnahmen ausdrücklich, stellen aber gleichzeitig fest, daß darüber hinaus weitere Schritte erforderlich sind. Wir wollen, daß sich unsere Menschen darauf verlassen können, daß sie nur Rindfleisch aus gesunden Beständen angeboten bekommen.
Deshalb fordern wir auch die Bundesregierung auf, bei der Europäischen Union ein Exportverbot von Fleisch von Rindern aus England, die vor dem 1. Januar 1990 geboren wurden, zu verlangen. Darüber hinaus sollte Fleisch von jüngeren Tieren nur dann in die übrigen EU-Staaten verbracht werden dürfen, wenn die Tiere aus Beständen stammen, in denen seit mindestens vier Jahren kein einziger BSE-Fall aufgetreten ist. Das ist eine Voraussetzung, die durch eine amtliche Bestätigung nachzuweisen ist.Natürlich kann man Zweifel haben, ob es immer gelingt, jeden Mißbrauch zu verhindern. Die haben wir aber bei unserem eigenen Handel auch. Da sollten wir gegenüber englischen Behörden nicht mißtrauischer sein als gegenüber unseren eigenen.Ich denke allerdings auch, daß ein vollständiges und wirksames Ausfuhrverbot für britisches Tiermehl in Drittstaaten wichtig ist, mindestens solange nicht Verfahren angewandt werden, die die Abtötung möglicher Erreger auch sichern. Für uns selbst werden wir auch ein Schlachtverbot für aus England nach Deutschland verbrachte Rinder brauchen, die zwischen 1986 und 1990 eingeführt wurden. Wir brauchen eine lückenlose Registrierung dieser Bestände, auch um die eigenen Bestände und den Verbraucher zu schützen.Natürlich ist mir bekannt, daß die BSE-Problematik in manchen unserer Partnerländer in der Europäischen Union weniger gravierend gesehen wird. Das darf uns aber nicht daran hindern, die notwendigen Schritte zum vorbeugenden gesundheitlichen Verbraucherschutz zu tun.
Deshalb erkläre ich hier ausdrücklich, daß wir Minister Seehofer voll unterstützen, daß wir Minister Borchert allen Erfolg bei den Verhandlungen im Agrarministerrat wünschen, daß wir aber auch beim Nichtzustandekommen europäischer Regelungen auf nationale Maßnahmen bestehen müssen.
Deshalb fordere ich, falls auf EU-Ebene kein einheitliches Vorgehen erreicht werden kann, auch die Bundesregierung sehr nachdrücklich auf, das Notwendige notfalls im Alleingang zu veranlassen.
Übrigens werde ich in dieser Haltung auch durch die Entschließung des Europäischen Parlaments bestärkt, das schon Anfang des vergangenen Jahres die damaligen Schritte der EG-Kommission gegen die Verbreitung von BSE für nicht ausreichend erklärt hat. Damit ist für mich deutlich, daß jedenfalls im parlamentarischen Raum nicht nur bei uns in der Bundesrepublik, sondern auch in Europa Handlungsbedarf gesehen wird.
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen. Wir brauchen wirklich dringend mehr Erkenntnisse über Ursachen, Auswirkungen, Verbreitung und auch über denkbare Vorsorgemaßnahmen im Zusammenhang mit dieser Hirnerkrankung, mit dem Rinderwahnsinn. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, durch Umschichtung ausreichend Forschungsmittel für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen und sich auch bei der Europäischen Union für eine Verbesserung der Koordinierung und Mittelverteilung zu bemühen.
Wir reden auch über die notwendige Eindämmung einer Tierseuche, wenn wir heute miteinander diskutieren; aber wir reden natürlich vor allem über den gesundheitlichen Verbraucherschutz. Deshalb halte ich auch in vollem Bewußtsein des Diskriminierungsverbots in der Europäischen Union den Gedanken eines Qualitätssiegels der deutschen Fleischproduzenten für durchaus überlegenswert. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen sich allerdings darauf verlassen können, daß solch ein Siegel nicht nur dem Marketing, sondern in erster Linie der gesunden Ernährung dient.
Sonst würden sie auch nichts um diesen Qualitätshinweis geben. Ich bin aber davon überzeugt, daß unsere Landwirtschaft und unsere Fleischproduzenten in der Lage sind, ein solches Siegel zu vereinbaren und auch zu garantieren. Denn es liegt auch im Interesse der betreffenden Produzenten, daß trotz der Sorge vor Erkrankung gesunde Produkte weiterhin vom Markt angenommen werden.Abschließend — ich habe bewußt etwas Zeit für den Kollegen Michels gespart — möchte ich feststellen: Die Bürgerinnen und Bürger können sich darauf verlassen, daß wir unsere Verantwortung für den vorsorgenden Gesundheitsschutz sehr ernst nehmen.
Meine Damen und Herren, jetzt erhält unser Kollege Dr. Dieter Thomae das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Oberste Priorität muß die Gesundheitsvorsorge gegenüber ökonomischen Interessen haben. Wir alle wissen: Seit 1989 gibt es BSE-Fälle in England, und diese Fälle haben sich gehäuft. Heute sind 120 000 solcher Fälle bekannt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19213
Dr. Dieter ThomaeWir stellen auch in der Bundesrepublik Deutschland solche Fälle fest. Frau Limbach sagte schon, das Erstaunliche sei, daß sich der Virus vom Schaf über die Katzen auf die Rinder weiter ausbreite. Hier wird es bedenklich, weil alle Erkenntnisse der Vergangenheit zeigen, daß Viruserkrankungen immer vom Tier auf den Menschen übergegangen sind. Hier müssen wir Gesundheitspolitiker jetzt mit aller Macht achtgeben, daß wir die richtigen Entscheidungen fällen. Denn wir alle keimen das Stichwort Aids. Das können wir uns in diesem Lande nicht mehr leisten. Daher stellen wir folgende Forderungen auf:
Erstens. Mit aller Konsequenz muß ein Verbot von Tiermehl in der Europäischen Gemeinschaft durchgesetzt werden. Hier bitte ich wirklich alle Minister, die dafür zuständig sind, aktiv zu werden und dafür zu sorgen, daß diese Importverbote auch wirklich eingehalten werden.Zweitens muß, wie der Entschließungsantrag dies vorsieht, festgehalten werden: Importe von Rindfleisch nur mit Qualitätsbescheinigungen.
Mir als Gesundheitspolitiker liegt besonders am Herzen, daß die Bevölkerung nicht durch Arzneimittel gefährdet wird, die aus Rinderteilen hergestellt werden.
Diese Arzneimittel müssen einer stärkeren Kontrolle unterzogen werden. Ich schlage vor, wir orientieren uns an der Schweizer Gesetzgebung und eventuell an der französischen Gesetzgebung; denn in diesen Ländern sind schon eindeutige Maßnahmen zur Sicherheit der Patienten getroffen worden.
Herr Kollege Thomae, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?
Bitte schön.
Bitte, Herr Kollege Kalb.
Herr Kollege, darf ich Sie zur Klarstellung fragen, weil Sie das gerade in freier Rede vorgetragen haben: Sie fordern ein Verbot von Tiermehl? Oder meinten Sie ein Verbot der Verfütterung von Tiermehl?
Ja.
Eine weitere Forderung ist die Erfassung der Bestände in Deutschland, damit man in der Tat schnellstens reagieren und eventuelle Zusammenhänge herbeiführen kann. Sie kennen das Problem Trier. Hier gibt es Unsicherheiten. Man vermutet, man spekuliert. Aber eine absolute Verbindung zwischen der BSE und der Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, meine Damen und Herren, ist noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit festgestellt worden. Aber der Spielraum verengt sich immer mehr.
Fernerhin: Wenn wir Sicherheit bekommen wollen, müssen wir forschen. Wir müssen finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Ich denke, hier sind die Universitäten und das Bundesgesundheitsamt gefordert. Es wird gegenwärtig schon geforscht, aber es geht darum, die Forschung zu intensivieren. Wir können ja nicht sagen, daß in diesem Bereich nichts passiert ist, sondern in der Anhörung des Ausschusses haben uns die Experten gesagt, welche Ergebnisse sie schon in der Vergangenheit erzielt haben.
Vorletzter Punkt: Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt bald in der Europäischen Union wieder eine entscheidende Funktion. Dies sollte, denke ich, auf die höchste Ebene gehoben werden, damit hier eine europäische Regelung herbeigeführt werden kann.
Letzter Punkt: Die deutschen Verbraucher, meine Damen und Herren, entscheiden letztlich, welches Fleisch sie verzehren.
Ich bin auch der Meinung, ein Qualitätssiegel wäre ein positives Ergebnis in dieser Thematik.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren! Jetzt erteile ich das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Verdacht, daß die Rinderseuche BSE auch für Menschen eine reale Gefahr darstellt, ist dicht, und wir sollten uns deshalb tunlichst so verhalten, als wäre er bewiesen.
Die Hauptursache für die Ausbreitung der Seuche war die systematische Vergabe von Tiermehlen an Rinder — gewonnen auch von erkrankten Tieren — als zusätzlichem Proteinträger, die sich natürlicherweise — auch daran sollte man an dieser Stelle erinnern — von Grünfutter ernähren. Diese unphysiologische Art und Weise der Ernährung hat nun zu unerwarteten und zum Teil verheerenden Folgen geführt.
— Gut, vorläufig in England. Grund für diese Art der Tierhaltung ist ein Geschäftsgebaren, das vor allem an Profit orientiert ist, ohne schwerwiegende Gesundheitsgefahren für den Menschen zu bedenken.Seit 1985 sind in England mehr als 100 000 Rinder an dieser für diese Tierart neuen Erkrankung durch den Genuß von infiziertem Fleisch zugrundegegangen.Inzwischen wird das im Volksmund als Rinderwahnsinn bezeichnet, und die Erkrankung verbreitet Erschrecken. Das erfolgt nicht ohne Grund, handelt es sich doch dabei um eine Erkrankung, die ungewöhnlich gefährlich und momentan unheilbar ist und deren Erreger nicht bekannt und damit auch nicht nachweisbar ist.
Metadaten/Kopzeile:
19214 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Ursula FischerIch erinnere an dieser Stelle daran, daß sich Gefahren für den Menschen sehr oft zuerst bei Tieren zeigen; denn die Replikationszeiten der Tiere sind kürzer. Die Auswirkungen — auch für den Menschen — sind sehr oft dort ablesbar. Beispielsweise war sehr viel früher die Retrovirusgenese bei Hühnerleukose bekannt. Eine Gefahr für den Menschen wurde damals auch lange Zeit von der Hand gewiesen. Mehrere Beispiele wären an dieser Stelle zu nennen.Die bisherigen in England selbst und im Rahmen der EU getroffenen Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Krankheit gingen und gehen davon aus, daß eine Übertragung auf den Menschen nicht zu befürchten ist. Allerdings wurde von Wissenschaftlern schon immer — auch vom BGA seit 1989 — eingeräumt, daß, wenn eine solche Ansteckung wider Erwarten doch möglich sein sollte, die Folgen für den Menschen katastrophal seien. Die Ansteckung würde dann, wie gesagt, über den Genuß von infiziertem Rindfleisch oder durch den Umgang mit anderen Produkten vom Rind — wie Arzneimitteln oder Kosmetika — erfolgen.Inzwischen hat sich dieser Verdacht auch in dieser Hinsicht in bedrohlicher Weise verdichtet. Der Erreger hat offensichtlich seine Eigenschaften gewandelt — wie das diese Erreger ja so an sich haben — und ist nun in der Lage, die Krankheit bei weiteren Tierarten, die bisher ebenfalls als nicht bedroht galten, hervorzurufen. Besonders alarmierend ist für mich dabei, daß nunmehr mit Hauskatze, Puma und Gepard auch solche Tiere über die Nahrungsaufnahme erkrankten, die stammesgeschichtlich weit von den Wiederkäuern entfernt sind.Auch wenn andere Indizien durchaus noch für die Hoffnung sprechen, daß die Barriere vom Rind zum Menschen doch nicht überwunden wird, kann dies nach den Erfahrungen der Wissenschaft schon lange nicht mehr mit gebotener Sicherheit ausgeschlossen werden.Hinzu kommt, daß das gleiche inzwischen auch für den Übertragungsweg vom Muttertier zum Kalb gesagt werden muß, der bisher ebenfalls nicht für möglich gehalten wurde. Damit besteht in der Tat ein neuer und höchst dringlicher Handlungsbedarf; denn es ist eine Situation entstanden, mit der es nicht mehr zu vereinbaren ist, daß nach wie vor, wenn auch an bestimmte Bedingungen gebunden, sowohl lebende Rinder als auch Fleisch aus England in die EU und in andere Staaten auf dem Kontinent verbracht werden. Nerven,. Lymphgefäße usw. lassen sich — das ist bekannt —niemals völlig von Fleisch trennen. Es müssen spätestens jetzt alle Maßnahmen von der Annahme ausgehen, daß die BSE doch den Menschen betrifft. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, wir sind nun einmal ein Teil der Natur und ihren Gesetzen unterworfen. Spätestens jetzt muß der Grundsatz gelten und auch durchgesetzt werden: im Zweifelsfalle Priorität für die gesundheitliche Vorsorge und nicht für die ökonomischen Interessen einer europäischen Agrarlobby.Meine Damen und Herren, wir haben in der Tat keine andere Wahl, als alle Vorkehrungen so anzulegen, als wäre die Übertragung auf den Menschen eine ganz reale Gefahr. Eine in vieler Hinsicht konsequente Gesundheitsberichterstattung hätte uns — das möchte ich an dieser Stelle wirklich anführen — möglicherweise sehr viel schneller zu entsprechenden Konsequenzen gebracht. Heutige Versäumnisse werden später entweder gar nicht mehr oder nur noch nach schrecklichen Opfern korrigierbar sein. Aids könnte sich im Vergleich dazu als geradezu harmlos erweisen. Sollten sich dagegen jetzt getroffene Sicherheitsmaßnahmen im Lichte genauerer Erkenntnisse nach einiger Zeit als nicht notwendig herausstellen, wäre ihre Aufhebung vergleichsweise problemlos. Deswegen verstehe ich auch nicht, wieso Verdachtsfälle, die irgendwo mit der Gefahr für den Menschen untermauert sind, nicht sehr viel schneller zu Reaktionen führen.Es ist deshalb auch richtig, daß Gespräche mit der EU und speziell auch mit der britischen Seite möglichst fortzusetzen sind. Ich denke, man sollte in diesen Verhandlungen sehr fair sein, denn natürlich ist es einleuchtend, daß primär Lösungen angestrebt werden müssen, die die Europäische Union als Ganzes, aber auch andere Länder und Kontinente in die Betrachtungen einbeziehen. Wenn das nicht möglich ist — die jüngsten Ereignisse geben zu dieser Sorge bekanntlich Anlaß, auch wenn ich nach den heutigen Nachrichten doch etwas optimistischer gestimmt bin —, dann sollte in diesem Fall auch ein Alleingang Deutschlands unsere Unterstützung finden.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Krause das Wort.
Nachdem die SPD-Kollegin mich nicht hat fragen lassen, möchte ich doch darauf hinweisen, daß Nr. 5 des SPD-Antrags zumindest epizootiologisch widersprüchlich ist. Der letzte Beitrag war im Gegensatz zum ersten schon von Fachkenntnis gekennzeichnet.Ich möchte doch sagen: Es gibt keine Beweislastumkehr. Wenn man weder Erreger noch Antikörper nachweisen kann, ist das noch lange kein Hinweis darauf, daß sich kein infektiöses Agens im Fleisch befindet. Gerade bei so einem Erreger, der nur aus wenigen Oligoproteiden besteht und bei dem keine speziesspezifische Anfälligkeit angenommen werden kann, muß auf Grund von industriellem Mischfutterkannibalismus schon mit einer vielleicht sogar jahrzehntelangen Infektion in Beständen rechnen.Zweitens. Das Einfuhrverbot und der Vergleich mit der Schweinepest beides hätte von mir stammen können. Ich kann das natürlich nur unterstützen. Gerade angesichts der Schweinepest, bei der Menschen nicht gefährdet sind und bei der in der ehemaligen DDR Pestfleisch in die Büchse kam und Hauptabnehmer westdeutsche Handelsketten waren, ohne daß sich hier einer auch nur hätte kratzen müssen, muß man sich wirklich fragen, inwieweit hier, wo es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19215
Dr. Rudolf Karl Krause
sich um englisches Rindfleisch handelt, ein anderer Maßstab angelegt wird als dann, wenn es sich um für Menschen unbedenkliches Schweinefleisch aus Niedersachsen handelt.Ein letztes. Herr Kollege Thomae und Frau Dr. Fischer, Sie haben den Vergleich zu Aids gebracht. Es ist wirklich beschämend, daß epizootiologisch gerechtfertigte Maßnahmen — ich meine, Sie haben recht — ergriffen werden, um die Tiere zu schützen, aber im Zusammenhang mit Aids bei Blutkonserven oder auch bei der Infektion in einer fahrlässigen Weise verfahren wird, als wäre die menschliche Gesundheit weniger wert als die unserer Tiere.
Ich erteile dem Abgeordneten Meinolf Michels das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meldungen über Gesundheitsgefährdungen durch Lebensmittel sind dank unseres Überwachungssystems zwar nicht unser täglich Brot, treten aber — das ist leider so — hin und wieder auf.Bei der BSE ist aber alles anders. Man beobachtet die Tierseuche BSE jetzt schon seit sieben Jahren in England. Das vorhandene Wissen ist mehr als unbefriedigend. Die Liste der ungeklärten Fragen ist länger als die der gelösten. Ich will hier nur einige Fragen ansprechen.Der Erreger ist bisher noch nicht bekannt.
Sollte sich die jüngste Meldung bestätigen, daß es sich um ein Prion-Eiweiß und nicht um ein Virus handelt, macht dies die Lage nicht einfacher. Es gibt bis heute keinen verläßlichen und praktikablen Test zum Nachweis des Erregers. Der Übertragungsweg ist nicht geklärt; allein die Möglichkeit der Übertragung des BSE-Erregers auf andere Tierarten ist aber höchst bedenklich.Zur Risikoabschätzung gehört auch die Tatsache, daß die lange Inkubationszeit von in der Regel zwischen vier bis acht, ja bis zu zwölf Jahren vor Ende dieses Jahrzehnts keine gesicherten Erkenntnisse über eine mögliche Beziehung von BSE zur Creutzfeldt-Jacob-Krankheit des Menschen ermöglicht. Ich lehne es ab, daß, wie jüngst auf Grund der Krankheitsfälle in Rheinland-Pfalz geschehen, ungeprüft ein Zusammenhang zwischen BSE und der menschlichen Erkrankung hergestellt wird.
Ich stelle aber fest: Das Restrisiko ist zwar auch nach naturwissenschaftlichen Regeln nie auszuschließen; hier aber haben wir ein Risiko von besonderer Qualität.Was ist zu tun? Die Politik hat die Pflicht zur gesundheitlichen Fürsorge für die Bevölkerung. Ich teile voll die Einschätzung: Im Zweifel immer für die Sicherheit.
Im Fall der BSE ist es die Pflicht zur Vorsorge. Ich verweise hier auf die Aussagen führender Experten, daß eine Fehleinschätzung der BSE verheerende Folgen haben könnte.Halbheiten sind deshalb fehl am Platze. Konsequente Politik ist gefordert. Ich begrüße die bereits getroffenen Maßnahmen der Minister Seehofer und Borchert. Beide waren in Europa nicht nur die ersten, sondern auch die, die sich am gründlichsten für die Interessen der Verbraucher eingesetzt haben.
Unser Antrag zielt jetzt darauf ab, den Verbraucherschutz in Deutschland zu verstärken und diesen Schutz EU-weit zu praktizieren. Die Minister Seehofer und Borchert haben dabei unsere volle Rückendekkung. Sollte sich die Kommission nur zu Halbheiten bewegen lassen, ist der nationale Alleingang als zweitbester Weg unbedingt und unverzüglich einzuschlagen.
Wenn BSE auch in erster Linie ein gesundheitspolitisches Problem ist, so betrifft es natürlich auch die Landwirtschaft. Undifferenzierte Bedenken gegen den Verzehr von Rindfleisch allgemein bringt unseren deutschen Landwirten wirtschaftlichen Schaden.
Sie, die deutschen Landwirte, sind noch nie auf die Idee gekommen, Rinder mit Tierkörpermehl zu füttern. Es besteht keinerlei Risiko beim Verzehr heimischen Rindfleisches. Deshalb muß die Herkunft von Fleisch insgesamt kenntlich gemacht und seine Anonymität beendet werden.
Ich halte es für ein schweres Defizit, daß auf Grund des derzeitigen Bescheinigungssystems der EU der Ursprung des Fleisches nicht mehr erkennbar ist.
Der Verbraucher muß endlich wissen, woher das Fleisch kommt. Er muß sich über die Qualität und das eventuell vorhandene BSE-Risiko selbst informieren können.
Aus der Sicht der Landwirtschaft kann ich die Verbraucher nur dazu aufrufen, an der Fleischtheke Angaben über die regionale Herkunft des Fleisches zu verlangen.
Die Landwirtschaft leistet bundesweit dazu ihren Beitrag durch Markenfleischprogramme, bei denen die Tiere unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen und auch vermarktet werden. Dieses Angebot der Landwirtschaft sollte die Bevölkerung nicht zuletzt im Interesse ihrer eigenen Sicherheit nutzen.
Metadaten/Kopzeile:
19216 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Meinolf MichelsLiebe Kolleginnen und Kollegen, vor einiger Zeit habe ich mich zwei Tage in England aufgehalten, um das Auftreten dieser Krankheit in einem landwirtschaftlichen Betrieb sowie die Maßnahmen zur Bekämpfung vor Ort kennenzulernen. Das Resultat dieses Besuchs möchte ich zusammenfassen: Uneingeschränkte Vorsicht muß für uns Priorität haben.Schönen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Hans-Hinrich Knaape das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das brisante Problem, das heute erneut das Parlament beschäftigt, ist ein lange bekanntes, aber auch wieder unterschätztes Risiko des Gesundheits- und des Verbraucherschutzes. Wurden die Virushepatitiden sowie HIV durch Mängel und Fahrlässigkeit und wahrscheinlich auch durch Vorsatz im pharmazeutisch-ärztlichen Bereich und nicht nur durch Sexualpraktiken übertragen, so begegnet uns jetzt bei der Bovinen Spongiformen Enzephalopathie eine neue Qualität, deren Dimension noch nicht abzuschätzen ist. Ebenso wie bei HIV ist die Wirkung des unbekannten Erregers nach Übertragung auf den Menschen tödlich. Aber hier findet die Übertragung nicht auf dem Blutwege statt, sondern — das ist das Neue — durch die Nahrungskette.
Sehr kritisch müssen wir uns diesem Problem stellen, Fehler im Handeln auf verschiedenen Ebenen aufdecken und uns dazu bekennen und sie verändern.
Erstens. Nicht erst seit 1985, als die Bovine Spongiforme Enzephalopathie im Vereinigten Königreich ausbrach, wird Tierkörpermehl — bis zum Verbot 1988 — an Wiederkäuer, also an Pflanzenfresser, verfüttert. Warum, aus welcher Motivation heraus, müssen wir Menschen eigentlich natürliche Nahrungsketten von Tier und Mensch verändern?
Bereits 1980 wurden im betroffenen Land die virusinaktivierenden Maßnahmen durch Hitze bei der Tierkörpermehlgewinnung verändert. Die an Scrapie verendeten Schafe wurden schon lange vorher und werden auch noch heute in die Tiermehlproduktion einbezogen. Sie durften von 1990 bis 1991 in England zwar nur als Dünger verwendet werden. Aber wer garantiert, daß sie nicht auf dem internationalen Markt zu erlangen sind und von dort Fleisch von Tieren, an die dieses Mittel verfüttert wurde, nach Deutschland kommt? Die analoge Erkrankungsform beim Menschen, die Creutzfeldt-Jacob-Erkrankung, hat eine lange Latenzzeit von 5 bis 35 Jahren. Wenn das, was wir vermuten, eintritt: Was steht uns dann bevor?
Zweitens. Die übertragbaren Spongiformen Enzephalopathien belehren uns, daß sie ebenso wie die HIV-Infektionen des Menschen nicht nur für unsere, sondern auch für die folgende Generation eine ernstzunehmende Bedrohung sein können.
Die aufwendigen Analysen des HIV-Untersuchungsausschusses lehren uns ebenso wie jetzt bei der Bovinen Spongiformen Enzephalopathie, daß namhafte Wissenschaftler ihr Spezialgebiet zwar umfassend überblicken aber das heißt gleichzeitig auch: meist nur äußerst eingeengt. Der Informationsfluß von diesen Wissenschaftlern zur koordinierenden Oberbehörde, dem Bundesgesundheitsamt, und von dort zum Bundesministerium für Gesundheit muß durch regelmäßige Berichterstattung an das Parlament seitens des Bundesgesundheitsamtes und des Bundesgesundheitsministeriums über anstehende sowie latente und mögliche Risiken im Interesse eines vorbeugenden Gesundheitsschutzes für den Verbraucher ergänzt werden.
Das Fazit ist doch, daß unsere Fühler unter Einbeziehung des Parlaments zur Erfassung von gesundheitsgefährdenden Risiken sensibiliert werden müssen.
Drittens. Im Februar 1989 formulierte eine Untersuchungskommission in Großbritannien:
Nach heutiger Erkenntnislage ... wird BSE für die menschliche Gesundheit keine Folgen haben. Dennoch, sollten unsere Abschätzungen dieser Wahrscheinlichkeiten falsch sein, wären die Folgen äußerst ernsthaft.
Das Wissen ist gewachsen. Die Gefahr besteht jetzt. Aber seit dieser Erkenntnis sind fünf Jahre verstrichen. In den seit dieser Zeit getroffenen Sicherheitsmaßnahmen wiederholen sich Fehler, die auch bei der HIV-Übertragung durch Blut und Blutprodukte vorliegen.
Das Fazit ist, daß eingefahrene Denk- und Handlungsschablonen korrigiert werden müssen und schnelleres Handeln in kürzerer Zeit notwendig ist.
Zum Schluß: Als Opposition gehen uns die Maßnahmen des Gesundheitsministers natürlich nicht weit genug, wie unserem Antrag zu entnehmen ist. Trotzdem müssen wir anerkennen, daß der Gesundheitsminister hier und vor dem Rat der Europäischen Union vorbeugende Maßnahmen durchsetzen will bzw. schon veranlaßt hat.
Sie spiegeln sich im Entschließungsantrag der Koalition wider und werden weitgehende Sicherheit für den Verbraucher von Rindfleischprodukten — aber nur vor bekannten mit BSE durchseuchten Tierbeständen — bieten.
Eine konstruktive Zusammenarbeit seitens der SPD wird signalisiert; denn die Verantwortung müssen wir alle tragen, trotz unterschiedlicher Auffassungen im Detail.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19217
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Dr. Knaape, ich möchte Ihnen als Oppositionspolitiker ausdrücklich für diese sehr verantwortungsvolle Rede danken.
Ich glaube, sie war angemessen gegenüber dem Problem, mit dem wir es zu tun haben. Ich hätte mir die gleiche Rede auch von der Frau Kollegin Steen gewünscht.
Das Problem ist nämlich ohnehin schwierig, und es ist in den letzten Tagen noch ernster geworden.Ich habe vor drei Stunden eine Agenturmeldung mit der Überschrift bekommen: „Hirnerkrankung führte in Großbritannien zum Tod von 48 Katzen". Ich zitiere:An einer dem Rinderwahnsinn vergleichbaren Hirnerkrankung sind in den vergangenen vier Jahren in Großbritannien 48 Katzen gestorben. Der Tod der Tiere sei seit Mai 1990 in unterschiedlichen Abständen bekanntgeworden, bestätigte am Donnerstag— also heute —in London ein Sprecher des Landwirtschaftsministeriums. Die Katzenkrankheit wird in Anlehnung an den Rinderwahnsinn BSE ... als FSE bezeichnet.Da es sich bei FSE nicht um eine meldepflichtige Erkrankung handele, könne nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, daß alle Todesfälle registriert wurden, so das Ministerium. Es gehe davon aus, daß verseuchtes Tierfutter die Erkrankung übertragen habe.Meine Damen und Herren, damit ist auch in der Praxis eine Befürchtung, die in der Wissenschaft ohnehin vorhanden war, leider bestätigt worden, daß nämlich nicht nur die Übertragung der bekannten Scrapie-Krankheit auf das Rind erfolgt ist — was vor zehn Jahren niemand angenommen hat; vor zehn Jahren wäre man ausgelacht worden —, sondern daß zunehmend auch die Barriere zwischen Rind und anderen Tierspezies, und zwar Tierspezies, die den Menschen näher stehen, übersprungen worden ist.Deshalb geht es bei diesem Thema natürlich um den Schutz von Tierbeständen, aber es geht zunehmend auch um den Schutz der Menschen.
Kein verantwortungsvoller Politiker kann auf diesem Gebiet auch nur das geringste Risiko eingehen.
Frau Kollegin Steen, wenn wir uns schon auf das kleinkarierte, typisch parteipolitische Gewäsch einlassen, wer jetzt wann zu früh oder zu spät gehandelt hat — ich hätte es nicht getan —, möchte ich einmal darauf hinweisen, daß die neue Risikobewertung desBundesgesundheitsamtes nach einem internationalen Symposium am 2. Dezember 1993 erfolgt ist.Noch im gleichen Monat habe ich im EG-Gesundheitsministerrat in Brüssel das Thema angesprochen.
Damals wurde vereinbart, daß die Deutschen mit den Briten bilateral versuchen, einen Vorschlag für Europa zu erarbeiten, der zu zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen führt. Diese bilateralen Gespräche haben zweimal ergebnislos stattgefunden. Nach dem zweiten ergebnislosen Gespräch habe ich in Brüssel eine Sondersitzung des EG-Gesundheitsministerrates beantragt. Am 30. März hat diese Sitzung stattgefunden. Normalerweise hätte sie erst Mitte des Jahres stattgefunden.Mit dem Kollegen Borchert — Frau Steen, auch das, was Sie dazu gesagt haben, war völlig falsch — haben wir im übrigen eine totale Übereinstimmung in allen einzelnen Maßnahmen und Vorgehensweisen.
Wenn Ihnen vielleicht irgendein Pförtner in einem Ministerium etwas Abweichendes sagt, ist das nicht die Haltung der Bundesregierung. Auch das möchte ich einmal sagen.Wir haben eine total übereinstimmende Meinung. Auch der Kollege Borchert hat es im Agrarrat wiederholt angesprochen; er wird es auch nächste Woche wieder ansprechen.Ich möchte aber unmißverständlich sagen: Wenn uns die Europäische Union in der nächsten Woche nicht die feste Zusage gibt, daß es zu einem gemeinsamen europäischen Handeln kommt — auch mir wäre es lieber, wenn alle zwölf Länder gemeinsam handeln,
weil dies für die Sicherheit der Bevölkerung und für die Tiere immer besser ist als nationale Alleingänge —,
dann ist lange genug verhandelt, lange genug geredet worden, dann werde ich national handeln.
Das heißt im Klartext, daß ich dann dem Bundeskanzler unverzüglich eine Verordnung, die im Bundesrat zustimmungspflichtig ist, zuleiten werde mit der Bitte, daß im Mai die Entscheidung dazu im Kabinett herbeigeführt wird. Wer die Verabschiedung dieser Verordnung verhindert oder verzögert, der muß dann auch die gesundheitspolitische Verantwortung übernehmen. Wer mich überhaupt an der Entscheidung hindert — auch das sage ich in aller Öffentlichkeit —, der muß mir die Verantwortung für diesen Bereich nehmen.
Ich bin nach diesen Verhandlungen seit Dezember 1993 nicht bereit, noch länger zuzuwarten. Auch bin
Metadaten/Kopzeile:
19218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Bundesminister Horst Seehoferich nicht bereit, Entscheidungen unter dem Blickwinkel der Europawahl am 12. Juni unter sachfremden Gesichtspunkten zu treffen. Wir müssen für die Menschen entscheiden!
Das zum Verfahren.Nun, meine Damen und Herren, zur Konkurrenzsituation „Gesundheitsschutz für die Bevölkerung und Auswirkungen auf den Rindfleischmarkt". Ich sage dies gerade vor dem Hintergrund, daß hier ein führender Mittelständler, Ernst Hinsken, anwesend ist. Das zeigt wieder einmal das große Interesse auch des Mittelstandes an diesem Thema.
Meine Damen und Herren, ich bin zutiefst überzeugt: Wenn wir nicht handeln, setzen wir Mißtrauen und zerstören Vertrauen.
Das hat für den Rindfleischmarkt in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa insgesamt weitaus verheerendere Wirkungen, als wenn wir die Öffentlichkeit mit Argumenten, mit Fakten aufklären, unsere Handlungskompetenz unterstreichen und der Bevölkerung nach erfolgter Tat sagen können, daß sie beruhigt das Rindfleisch essen kann, das in der Bundesrepublik Deutschland auf den Markt kommt.
Wir haben in vielen Sektoren eine ähnliche Entwicklung; ich erinnere nur an die Nematoden im Fisch. Solange die Politik nicht gehandelt hatte, gab es rapide Abstürze am Markt. Nach dem politischen Handeln hat sich der Markt wieder sehr schnell erholt. Deshalb ist die sicherste Maßnahme für den Rindfleischmarkt — wenn man eine solche Maßnahme überhaupt unter Marktgesichtspunkten beurteilen kann — eindeutiges Handeln. Das wird Beruhigung, Vertrauen und Sicherheit in der Bevölkerung wiederherstellen. Deshalb ist es höchste Zeit, daß wir national handeln, wenn Europa es nicht tut.Unabhängig von dem Marktargument aber müßte die Gesundheitsvorsorge ohnehin Priorität vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten haben.
Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen— das ist vom Landwirtschaftsminister schon perfekt und umfassend geregelt —, daß diese Tierseuche aus Großbritannien exportiert wird.
— Nicht exportiert wird! Ich bin für den Zwischenruf dankbar. Es ist 19.30 Uhr; da ist die Konzentration nicht so wie um 6.30 Uhr.Meine Damen und Herren, daneben müssen wir sehen, daß heute niemand eindeutig ausschließen kann, daß diese Krankheit auf den Menschen übertragbar ist. Ich stimme allen Rednern zu, die sagen: Wir müssen unsere politischen Maßnahmen so aus-richten, als wäre die Krankheit übertragbar. Das ist Gesundheitsvorsorge. Bei der Frage „Gesundheitsvorsorge" kommt es nämlich nicht allein darauf an: Wie wahrscheinlich ist die Übertragung auf den Menschen? — das ist ein Argument, sondern wir müssen auch die Frage beantworten: Wie groß ist der potentielle Schaden, wenn denn die Übertragbarkeit tatsächlich gegeben sein sollte?Hier ist von Herrn Dr. Knaape schon die Einschätzung der britischen Wissenschaftler geäußert worden, die gesagt haben: Ja, wenn wir uns mit unserer Einschätzung täuschen, dann bedeutet das eine Katastrophe für die Menschen.Wer dieses Risiko eingehen will, dem sage ich in aller Deutlichkeit: Das wäre ein nicht zu verantwortendes Experiment am Menschen,
und zwar ein nicht zu verantwortendes Experiment am Menschen mit allen Konsequenzen für die Staatshaftung und auch strafrechtlich.Ich wiederhole hier: Ich habe keine Lust, in einigen Monaten oder in einigen Jahren vor einem Untersuchungsausschuß oder vor dem Staatsanwalt zu erscheinen, um mich zu rechtfertigen, warum wir vielleicht nicht rechtzeitig gehandelt haben, möglicherweise wegen einer Europawahl am 12. Juni oder weil wir national nicht die Kraft dazu hatten.
Ich sage noch einmal: Der potentielle Schaden wäre gewaltig, wenn sich die Restzweifel bestätigen sollten, daß diese Krankheit auf den Menschen übertragbar ist. Deshalb muß die Gesundheitsvorsorge ohne Wenn und Aber absolut Vorrang haben.Herr Kollege Krause, Herr Dr. Thomae hat schon recht, wenn er den Vergleich mit HIV und Aids anstellt, und zwar nicht, weil die beiden Krankheiten in ihrem Verlauf, in ihrer Auswirkung und ähnlichem vergleichbar wären, sondern weil die wissenschaftlichen Erkenntnismuster Anfang der 80er Jahre bei HIV und jetzt Anfang der 90er Jahre bei BSE beinahe deckungsgleich sind; die wissenschaftlichen Erkenntnismuster insofern, als man sagt: Man kann es zwar nicht beweisen, aber man kann es auch nicht ausschließen.Während es Anfang der 80er Jahre über lange Strecken so war, daß man gesagt hat, solange man es nicht beweisen kann, können wir auch keine Eingriffe und politische und gesetzgeberische Maßnahmen rechtfertigen, wird heute wieder so argumentiert, und zwar auf der europäischen Ebene, daß man uns entgegenhält: Weil es noch nicht bewiesen ist, können wir zusätzliche Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge nicht verantworten.Meine Damen und Herren, das ist der grundsätzliche Dissens zwischen Deutschland und der Europäischen Union, und dabei ist hier der Rinderwahnsinn nur ein Beispiel; denn ich bekomme in dieser Woche die Nachricht, daß sich die Europäische Union — was die Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Babynahrung betrifft — auf den Standpunkt stellt, daß unser nationaler Sicherheitsstandard nicht Maßstab
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19219
Bundesminister Horst Seehoferfür die europäische Harmonisierung sein kann, weil der Grenzwert von 0,01 Milligramm pro Kilogramm wissenschaftlich nicht fundiert ist.Ja, meine Damen und Herren, wenn wir uns in der Europäischen Union jetzt einmal auf diese Regel einlassen, daß allein der wissenschaftliche Beweis für Sicherheitsstandards maßgeblich ist, dann müssen wir natürlich — wenn wir hier bei BSE nachgeben — bei der Babynahrung, bei verstrahlten Lebensmitteln, bei neuartigen Lebensmitteln, bei Gentechnik-Lebensmitteln usw. auch nachgeben. Wir können nicht beim Rinderwahnsinn sagen, wir brauchen uns nicht nach der Gesundheitsvorsorge zu richten, bei der Babynahrung ist es plötzlich wieder der Wert von 0,01, obwohl er natürlich wissenschaftlich nicht eindeutig eine Gesundheitsgefährdung beinhaltet. Das, meine Damen und Herren, ist eine Nagelprobe für den Gesundheitsschutz in der Europäischen Union.
Vorsicht und Umsicht sollten hier die Marksteine unseres Vorgehens sein. Vorsicht ist, wie von den Vorrednern der Koalition und von Herrn Dr. Knaape ausgeführt, daß wir von der Übertragbarkeit der Krankheit ausgehen und alles tun, daß diese Tierseuche aus dem Vereinigten Königreich nicht auf den Kontinent exportiert wird.Wir haben Gott sei Dank in der Bundesrepublik Deutschland nur zwei Rindererkrankungen, und dabei handelt es sich um Rinder, die aus Großbritannien stammen. Wir haben also Gott sei Dank dieses Problem hier nicht, und wir sollten alles tun, daß es bei uns nicht zum Problem wird.
Deshalb ist das keine Panikmache und keine Hysterie, sondern verantwortungsvolle Vorsicht, und gleichzeitig müssen wir auch Umsicht walten lassen. Wir müssen hier mit Argumenten, mit Fakten arbeiten. Bei diesem schwierigen Thema kann man ja wirklich nicht mit gutem Gewissen irgendeiner Seite Versäumnisse vorwerfen, auch den Bundesländern nicht, sondern es ist auf allen Ebenen sofort nach dem neuen wissenschaftlichen Erkenntnisstand vom Dezember gehandelt worden. Wir als Politiker sollten einmal die Kraft aufwenden, nicht in diese kleinkarierte parteipolitische Auseinandersetzung zu fallen, Frau Steen,
sondern mit Fakten und Argumenten zu arbeiten.
Ich möchte mich hier einmal in aller Öffentlichkeit bei allen Journalisten der Bundesrepublik Deutschland bedanken, die in diesem Fall BSE, im Gegensatz zu manchen Berichten im letzten Herbst zu HIV und Aids, die Öffentlichkeit außerordentlich korrekt und mit Fakten gefüttert informiert haben. Das ist Umsicht.
Auch wir als Politiker müssen umsichtig umgehen.Wir müssen der Bevölkerung sagen: Es gibt keinenGrund für Panik, es gibt keinen Grund zur Hysterie.Die Maßnahme, die wir treffen, ist eine Vorsorgemaßnahme.Die Bevölkerung kann sich darauf verlassen, daß wir, wenn Europa nicht mitmacht, national alle Möglichkeiten ausschöpfen, um der Bevölkerung guten Gewissens sagen zu können: Wir haben das Notwendige getan, um Gesundheitsgefahren abzuwehren. Ich bin bestimmt kein Nationalist, sondern sehr für den Binnenmarkt und für freien Handel. Aber solange diese Entscheidungen in Europa in der Schwebe sind, solange nicht klar ist, zu welchen gemeinsamen Kraftanstrengungen wir in Europa imstande sind und solange wir national noch nichts Ausreichendes unternommen haben, bleibt die eindeutige Empfehlung an den deutschen Verbraucher, daß er gut beraten ist, wenn er sich im Markt auf deutsche Produkte konzentriert.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/7154 und 12/7322 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD — er liegt Ihnen auf Drucksache 12/7154 vor — soll zusätzlich an den EG-Ausschuß überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Marliese Dobberthien, Hanna Wolf, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung für Hausangestellte im Rahmen des Mutterschutzgesetzes
— Drucksachen 12/3625, 12/7316 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Edith Niehuis
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Auch das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich der Abgeordneten Frau Maria Eichhorn das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, die Debatte zu beginnen. Aber selbstverständlich tue ich das sehr gerne.Bei der ersten Lesung zum Thema „Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung für Hausangestellte im Rahmen des Mutterschutzgesetzes" wurde von meiner Fraktion deutlich gemacht, daß sie einer Lösung des Problems sehr aufgeschlossen gegenübersteht. Gleichzeitig wurde aber auch festgestellt, daß es dazu unterschiedliche Positionen gibt.
Metadaten/Kopzeile:
19220 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Maria EichhornUm mehr Klarheit zu bekommen, hat das Bundesministerium für Frauen und Jugend bei den betroffenen Verbänden eine Umfrage gestartet. Die Fragebogenaktion richtete sich an Berufs- und Frauenverbände sowie weitere Interessenvertretungen. Ziel war, sowohl statistische Aussagen und Grundlagen als auch eine Bewertung der gegenwärtigen und zukünftigen möglichen gesetzlichen Ausgestaltung des Kündigungsschutzes zu erhalten. 16 Verbände haben reagiert; die Mehrzahl von ihnen jedoch nur allgemein dergestalt, daß sie kaum über Zahlen verfügen. Die Angaben basierten oft auf Einzelfällen. Daher konnten keine verwertbaren Aussagen über Zahlen, Situationen und Interessen der Hausangestellten zusammengestellt werden.Allerdings wurde von den Verbänden pauschal gefordert, schwangere Hausangestellte im Kündigungsschutz den anderen Arbeitnehmern gleichzustellen. In der Tendenz haben sich die Verbände mit Mehrheit für eine Änderung des § 9 Abs. 1 Mutterschutzgesetz ausgesprochen, zum Teil jedoch mit Einschränkungen. So wurde z. B. auf den geringen Spielraum der Organisation des Familienhaushalts hingewiesen. Daraus läßt sich folgern, daß möglicherweise eine höhere Anzahl genehmigter Kündigungen nach § 9 Abs. 3 Mutterschutzgesetz, also der Kündigungen in besonderen Fällen, zu erwarten ist.Auf Grund der Umfrage lassen sich aber verläßliche Zahlen weder für Kündigungen noch für Ausnahmekündigungen feststellen. Wir kennen allerdings die vom Bundesversicherungsamt registrierten Kündigungsfälle, die mit 261 im Jahr 1991 relativ gering sind.Es ergeben sich auch keine zuverlässigen Zahlen hinsichtlich des Anteils der Hausangestellten, die in häuslicher Gemeinschaft mit der Familie leben. Zumindest differieren sie sehr stark zu den Zahlen der Sonderauswertung der Volkszählung von 1987, nach der nur 10,4 % aller Hausangestellten eine Wohnungseinheit mit der Arbeitsstätte bilden. Diese Zahlen sind nicht unwichtig, da die Kündigung des Arbeitsplatzes oft auch mit der Kündigung der Wohnung verbunden ist.Da die Umfrage keine eindeutigen Ergebnisse brachte und weil wir uns um die Sache sehr bemüht haben, meine Damen und Herren von der Opposition, hat die Arbeitsgruppe Frauen und Jugend meiner Fraktion, der Fraktion der CDU/CSU, im Januar dieses Jahres noch eine zusätzliche Anhörung zum Thema Kündigungsschutz für Hausangestellte veranstaltet. Bei der Anhörung, zu der sechs Verbände anwesend waren, war auch eine Tendenz zur Änderung des Kündigungsschutzes für Hausangestellte sichtbar.Es wurden jedoch auch Zweifel und insbesondere von der Arbeitgeberseite Bedenken geäußert. Unüberhörbar war bei dieser Anhörung die Forderung nach der Anerkennung des Privathaushalts als Betrieb.Sie sehen also, wir haben uns sehr gründlich um das Thema bemüht. Ich möchte nun noch einmal alle Für und Wider in bezug auf eine Änderung des Mutterschutzes einander gegenüberstellen.Für eine Änderung der mutterschutzrechtlichen Sondervorschriften für Hausangestellte sprechen:Erstens. Bessere Sicherung des Arbeitsplatzes für die Hausangestellte während des Mutterschutzes und des anschließenden Erziehungsurlaubs. Die Schwangere bleibt im Arbeitsverhältnis und muß sich nicht mit Arbeits- und Wohnungsproblemen befassen.Zweitens. Vermeidung materieller und immaterieller Konfliktlagen mit Gefahren für Mutter und Kind. Damit wird dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag des Art. 6 Grundgesetz und den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch vom Mai letzten Jahres Rechnung getragen.Drittens. Aufhebung der Benachteiligung von Hausangestellten gegenüber anderen Arbeitnehmerinnen. Besonders der Berufsverband katholischer Arbeitnehmerinnen in der Hauswirtschaft sieht im fehlenden Kündigungsschutz für vollzeitbeschäftigte Schwangere eine Diskriminierung der Arbeitnehmerinnen im Privathaushalt. Daneben besteht eine Benachteiligung für Teilzeitbeschäftigte in der Vorenthaltung des Mutterschutzlohnes bei schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverboten.Eine Benachteiligung besteht besonders darin, daß nur die teilbeschäftigte Arbeitnehmerin, die im Haushalt tätig ist, keinen Lohnersatz erhält, während für erzieherische und pflegerische Tätigkeit Lohnersatz gewährt wird.Viertens. Einschaltung des zuständigen Gewerbeaufsichtsamtes im Falle einer Kündigung nach § 9 Abs. 3 Mutterschutzgesetz. Die derzeitige Regelung sieht für hauswirtschaftliche Arbeitnehmerinnen keine Einschaltung des Gewerbeaufsichtsamtes vor. Die Arbeitnehmerin ist auf sich gestellt und muß ihre Rechte allein durchsetzen.Aber es gibt natürlich auch gewichtige Argumente gegen eine Änderung insbesondere von § 9 Mutterschutzgesetz. Auch diese Argumente möchte ich anführen:Erstens. Nachteile für die schwangere Hausangestellte wegen des Wegfalls der Sonderunterstützung im Falle einer Änderung von § 9 Mutterschutzgesetz.Zweitens. Zunehmende Ausnahmekündigungen der Arbeitgeber in Familienhaushalten beim Gewerbeaufsichtsamt. Im Falle der dann zulässigen Kündigung wird nur noch Arbeitslosengeld an Stelle der bisherigen Sonderunterstützung für Hausangestellte gezahlt.Drittens. Künftige Beschäftigungshindernisse für die Hausangestellten und daher verstärktes Ausweichen in illegale Beschäftigungsverhältnisse ohne jeden Schutz für die betroffenen Frauen.Schließlich viertens. Materielle und immaterielle Belastung der Arbeitgeber durch die Änderung der Vorschriften. Die teilweise finanzielle Entlastung durch die Beteiligung am Umlageverfahren nach dem Lohnfortzahlungsgesetz für Kleinbetriebe heben diese Belastung nicht auf.Das Bundesministerium für Frauen und Jugend hat mittlerweile einen Entwurf zur Änderung des Mutter-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19221
Maria Eichhornschutzgesetzes vorgelegt. Er befindet sich zur Zeit in der Abstimmung und wird demnächst in den Ausschüssen beraten.Meine Damen und Herren, die Mutterschutzregelungen für Hausangestellte stammen aus den 50er Jahren. Damals kannte man noch keine moderne Technik. Nach mehr als 40 Jahren hat sich die Arbeits- und Beschäftigungssituation im Privathaushalt deutlich verändert. Das Dienstmädchen und das Kindermädchen gehören der Vergangenheit an. Heute beschäftigen wir im Privathaushalt die Zugehfrau, die Tagesmutter, die Hauswirtschafterin und die Haushälterin mit ganz unterschiedlichen Beschäftigungszeiten. Nur noch eine kleine Zahl der Hausangestellten sind Vollzeitbeschäftigte, die überwiegende Zahl der Haushalte beschäftigt Teilzeitkräfte. Für Frauen, die einen qualifizierten Abschluß im hauswirtschaftlichen, erzieherischen oder pflegerischen Bereich nachweisen können, ist der Arbeitsplatz Privathaushalt kaum noch interessant. Deswegen arbeiten solche Frauen lieber in einem Hotel oder in einem Heim. Gerade für jüngere Frauen aber muß der Arbeitsplatz Privathaushalt wieder attraktiver werden.
Meine Damen und Herren, weil wir der Meinung sind, daß wir uns dieses Themas annehmen müssen und dies nicht einfach im Schnellverfahren lösen können, haben wir diese Dinge in unserer Arbeitsgruppe und auch im Rahmen der Umfrage des Ministeriums sehr intensiv behandelt. Ich denke, es war richtig und notwendig, weil die Argumente von den verschiedenen Seiten zu vielfältig sind. Ich meine, unsere Aufgabe ist es jetzt, in den nächsten Wochen den veränderten Bedingungen bei der Änderung des Mutterschutzgesetzes Rechnung zu tragen. Dazu bitte ich Sie alle um Ihre Mitarbeit.
Das Wort hat nunmehr Frau Dr. Marliese Dobberthien.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Eichhorn! Die Mitarbeitszusicherung sollen Sie von uns gerne haben. An uns hat es bisher nicht gelegen, daß der Antrag ständig verzögert wurde.
Die Bundesministerin für Frauen und Jugend hat im Zusammenhang mit dem § 218 hervorgehoben, daß es eine Gesamtverantwortung aller zum Schutze werdender Mütter gibt. Dazu will Frau Merkel Schutzbestimmungen, wie das Mutterschutzgesetz, möglichst konsequent angewendet wissen. Im Mai 1993 wurde ein Antrag von uns zur Erweiterung des Mutterschutzgesetzes und zur Lohnfortzahlung debattiert. Dieser Antrag enthält nichts anderes als die Forderung nach jener von der Ministerin selbst verlangten konsequenten Geltung von Mutterschutzbestimmungen für alle Arbeitnehmerinnen.Seit fast einem. Jahr aber schmort dieser Antrag in den Ausschüssen. Wiederholt haben wir darauf gedrungen, endlich ordnungsgemäß im Ausschußberaten zu können. Unsere Bemühungen blieben jedoch erfolglos. Eine Beratung kam nicht zustande. Sowohl im federführenden Ausschuß als auch in den mitberatenden Ausschüssen wurde der Antrag zwar mehrfach auf die Tagesordnung gesetzt, aber genauso häufig wieder abgesetzt. Nun haben wir das Mittel der Debattenerzwingung ergreifen müssen. Wir fragen uns natürlich: Warum diese x-fache Vertagung? CDU/ CSU und F.D.P. haben ihre Mehrheit wiederholt dazu benutzt, eine parlamentarische Beratung zu blockieren. Eine sachliche Begründung für dieses Verhalten lag nicht vor und vermochte daher auch nicht zu überzeugen. Vielmehr scheint es nur um taktische Fragen zu gehen. Das Problem ist weiß Gott kein großes Problem. Ich frage mich: Wieviel Zeit braucht diese Bundesregierung noch, um ein vergleichsweise einfaches Problem zu regeln?
Dieser Debatte vorausgegangen ist eine sehr zögerliche erste parlamentarische Behandlung unseres Anliegens. Zwischen Einbringung und erster Debatte lag ein halbes Jahr. Bei anderen Problemen geht das viel schneller. Dabei ist das Thema nicht neu, und ein Handlungsbedarf wurde auch von der Bundesregierung schon seit längerem konstatiert. Der damalige Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze räumte bereits im Februar 1992 die Reformbedürftigkeit der fraglichen Mutterschutzbestimmungen ein. Anläßlich der ersten Lesung unseres Antrages berichtete Frau Dr. Böhmer über einschlägige Aktivitäten von Frauen ihrer Fraktion, die aber offenbar bisher nicht zum Erfolg führten. Und meine F.D.P.-Kollegin Frau Dr. Semper hat interessanterweise für das BMFJ angekündigt, daß bis Ende Mai 1993 die Fachverbände gefragt seien und im Juni ergänzende statistische Unterlagen vorliegen sollten.Doch was ist geschehen? Gesetzgeberisch haben wir nichts in der Hand. Und sonst? Frau Eichhorn, Sie sagen, es gäbe einen Entwurf. Na schön. Es freut mich, wenn es einen Entwurf gibt. Aber die Legislaturperiode neigt sich dem Ende zu. Ich hoffe, wir kommen noch dazu, nicht nur zu beraten, sondern auch zu verabschieden.
— Wir wissen, was es heißt: „Entwürfe". Die sind bei Ihnen meist sehr strittig. Ich fürchte, nach bewährter Manier wird letztlich wieder alles einmal fröhlich ausgesessen, und das ist nicht hinzunehmen.
Die betroffenen Schwangeren müssen sich verlassen und verraten vorkommen. Glaubt die Bundesregierung etwa, daß die Frauen es nicht merken, wenn sie an der Nase herumgeführt werden?Worum geht es? Es geht darum, schwangeren Hausangestellten den gleichen Schutz zu gewähren wie allen anderen schwangeren Arbeitnehmerinnen. Das ist der beste Schutz des Lebens. Werdenden Müttern muß die Möglichkeit eröffnet werden, ohne existentielle Sorgen ein Kind zu erwarten. Dazu
Metadaten/Kopzeile:
19222 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Marliese Dobberthienbedarf es entsprechender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, wie auch Frau Merkel weiß.Reformen sind überfällig. Es paßt einfach nicht mehr in die Zeit, wenn schwangeren Hausangestellten nach Ablauf des fünften Monats gekündigt werden darf und sie Gefahr laufen, obendrein auch noch ihre Bleibe im Privathaushalt zu verlieren. Es paßt einfach nicht in die Zeit, wenn sie von der Lohnfortzahlung ausgeschlossen werden, wenn sie schwanger und teilzeitbeschäftigt durch Hausarbeit gefährdet sind. Und es paßt nicht in die Zeit, eine Lohnersatzleistung zwar bei erzieherischer und pflegerischer Tätigkeit, nicht aber bei gesundheitsgefährdenden Formen der Hausarbeit zu gewähren.Eine Begründung für diese verwirrende und unterschiedliche Behandlung gibt es nicht. Sie ist nicht nur sozialpolitisch verfehlt, sondern überdies auch frauenfeindlich. Darum frage ich: Wie lange glauben Sie denn eigentlich eine solche Diskriminierung aufrechterhalten zu können, statt sie zügig zu ändern? Finanziell ist dank der U-2-Umlagefinanzierung für Kleinbetriebe kein wesentliches Hindernis mehr vorhanden, wenngleich es hier doch Probleme gibt.Darum frage ich: Warum dulden Sie, daß schwangere Hausangestellte weiterhin von dieser Fonds-Regelung ausgegrenzt bleiben? Die Bundesregierung, die von der Verantwortung gegenüber werdenden Müttern redet, hätte hier Gelegenheit, sie zu beweisen. Aber Taten läßt sie bisher vermissen.Der gravierende Unterschied zwischen den Regierungsfraktionen und der SPD ist es: Während sie das Problem schönreden und sich hinter Zahlen verstekken, wollen wir diese Reformen. Frau Merkel — sie ist leider nicht da, aber ich bitte, es ihr auszurichten— : Ein berechtigtes Anliegen läßt sich doch nicht durch Aussitzen wegdrücken! Die Ministerin muß doch in diesem Punkt nicht dem Kanzler nacheifern.
Warme öffentliche Worte zu verlieren und neue Überlegungen über eine Tausend-Mark-Begrüßungsprämie für Neugeborene anzustellen — heute von Frau Rönsch und Frau Merkel angekündigt — oder das Loblied der Mutterschaft zu singen, das ist preiswert, aber leider nicht genug. So sieht das auch der Bundesverband katholischer Arbeitnehmerinnen. Er verlangt die Beendigung der Benachteiligung schwangerer Hausangestellter. Gleiches fordert auch die Gewerkschaft Nahrung — Genuß — Gaststätten. Genau diesen Forderungen kommt unser Antrag nach.In diesem Sinne ist auch die gemeinsame Erklärung der Sozial- und Tarifpartner zum Mutterschutzgesetz gehalten, welche die Katholischen Frauenverbände jüngst an die Frauenministerin gerichtet haben. Aber all dies scheint nichts zu nützen.Ein seltener Fall: Eine Ihnen zweifelsohne näherstehende katholische Klientel stellt Forderungen auf, die nach dem Willen der SPD längst erfüllt worden wären. Es drängt sich der Eindruck auf: Sie bleiben untätig, nur weil der Antrag von der SPD kommt. Dies ist keineArt, Politik zu machen. Eine solche Verzögerungsstrategie ist auch kein Politikersatz.Ihre Hinhaltepolitik hat böse Auswirkungen. Jährlich verlieren zwischen 2 500 und 3 000 schwangere Hausangestellte ihren Arbeitsplatz; das sind die Angaben des katholischen Berufsverbandes. Sie werden in die Unsicherheit entlassen, trotz Erwartung eines Kindes. Was dies für Alleinerziehende bedeutet, speziell was diese Aussicht für Frauen in einem Schwangerschaftskonfliktfall heißt, brauche ich hier hoffentlich nicht näher zu erklären.Diese Art der Politik ist weder christlich noch sozial. Darum fordere ich Sie auf, endlich zu handeln.
Das Wort erteile ich nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Sigrid Semper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von der SPD eingebrachte Antrag, den Kündigungsschutz und die Lohnfortzahlung im Fall der Schwangerschaft einer Hausangestellten neu zu gestalten, wird durch eine Änderung des Mutterschutzgesetzes erfolgen müssen. Da aber auch in diesem Bereich die einzelnen rechtlichen Regelungen in einem engen Zusammenhang stehen, muß darauf geachtet werden, daß eine einzelne Änderung nicht zu einem Ungleichgewicht führt, das in keiner Weise beabsichtigt worden ist.Änderungen in der Position der Arbeitnehmerinnen bedeuten gleichzeitig neue Bedingungen für den Arbeitgeber, hier: den Privathaushalt. Die Liberalen stehen dazu, daß die Frage der Anerkennung des Haushalts als Betrieb gründlich diskutiert wird, wobei, wenn möglich, die steuersystematischen Probleme einer positiven Lösung zugeführt werden können.
Die von dem Bundesministerium für Frauen und Jugend durchgeführte Befragung der für dieses Problem zuständigen Verbände hat kein einheitliches Bild ergeben. Es ist sicherlich für einige Verbände besonders zu bedenken, inwieweit die geltende Regelung mit der Möglichkeit des Beschäftigungsverbotes nach dem fünften Schwangerschaftsmonat im Sinne einer Angleichung an die allgemeinen Regelungen für schwangere Arbeitnehmerinnen aufgegeben werden müßte. Damit entfiele gleichzeitig die Zahlung des bisherigen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts bereits nach dem fünften Schwangerschaftsmonat.Jedoch ist sicherlich zu überprüfen, ob der Privathaushalt in früheren Zeiten in jedem Fall mit großen körperlichen Anstrengungen in Verbindung zu setzen ist. Die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte — wie schon von meinen Vorrednern gesagt — haben auch in diesem Bereich zu großen Erleichterungen geführt. Für viele ist der Privathaushalt ein äußerst angenehmer und humaner Arbeitsplatz.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19223
Dr. Sigrid SemperDie Probleme hinsichtlich der Ausnahme vom allgemeinen Kündigungsschutz für schwangere Arbeitnehmerinnen sind neu zu überdenken. Eine Neuregelung des Kündigungsschutzes im Sinne einer Angleichung an den allgemeinen Kündigungsschutz für schwangere Arbeitnehmerinnen schützt vor dem Verlust des Arbeitsplatzes bis zum vierten Monat nach der Entbindung. Ob eine derartige Regelung mit den Bedürfnissen des Privathaushalts vereinbar ist und wie die Situation der Arbeitnehmerin, die einen neuen Arbeitsplatz sucht, zu beurteilen ist, muß intensiv beraten werden. Auch hier gilt, daß zuviel Schutz das Arbeitsplatzangebot eher negativ beeinflußt.Schon jetzt müssen wir davon ausgehen, daß viele Arbeitsplätze in Privathaushalten nicht offiziell besetzt werden. Es werden keine Arbeitsverhältnisse begründet, die den Frauen eine rentenversicherungsrechtliche Absicherung ermöglichen. Nach Schätzungen ist davon auszugehen, daß ca. 100 000 Arbeitsplätze in Privathaushalten angeboten werden könnten. Gerade im Hinblick auf die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen ist der Bedarf an Arbeitsplätzen für den privaten Haushalt von besonderer Bedeutung.
Eine Entlastung der Frauen, die eine Berufstätigkeit aufnehmen wollen, ist in vielen Fällen eine absolute Notwendigkeit. Die so oft beschworene Doppelbelastung der berufstätigen Mutter ist eine Folge ihrer mangelhaften Entlastung. Wer bereit ist, einen Teil seines Einkommens für die Übernahme von häuslichen Tätigkeiten durch Dritte zu verwenden, der hat für seine eigene berufliche Tätigkeit den Rücken frei und wird den weitverbreiteten Vorurteilen entgegentreten können, daß die beruflichen Leistungen von Frauen durch die zusätzlichen familiären Belastungen gemindert sind und Frauen deshalb in qualifizierten Berufen mit entsprechenden Leistungsaufgaben nicht eingesetzt werden können.
Die Familienarbeit, die von uns allen als wichtig angesehen wird, darf nicht, wenn sie durch Dritte erledigt wird, herabgewürdigt werden. Es ist nicht ehrenrührig, Dienste in seinem eigenen Haushalt zu erbringen, anscheinend aber wohl für einige ideologisch Festgelegte, wenn diese durch Dritte geschieht.Etwas kann doch sozial positiv nicht nur dann sein, wenn soziale Transferleistungen beschlossen werden. „Sozial" sollte es vielmehr genannt werden, wenn Arbeitsplätze geschaffen werden, mit denen andere ein Einkommen erzielen, das ihnen eine individuelle Lebensmöglichkeit gestattet.
Abschließend möchte ich feststellen: Die F.D.P. ist für eine umfassende Beratung aller Punkte, die mit den Privathaushalten als Arbeitgebern und den Hausangestellten als Arbeitnehmern zusammenhängen. Gesetzliche Neuregelungen dürfen nicht zu mehr Bürokratie und Unübersichtlichkeit führen und müssen in ihren Folgewirkungen genau abgeschätzt werden.Danke.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute zur Beratung stehende Problem des unzureichenden Kündigungsschutzes für Hausangestellte wirft auf mehrere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in denen Frauen nach wie vor benachteiligt werden, Schlaglichter.Es ist ein nicht mehr zu begreifender Anachronismus, daß in deutlichem Gegensatz zum grundgesetzlichen Gleichheitsgebot Frauen nur deshalb, weil sie eine bestimmte Tätigkeit, nämlich Hausarbeit, verrichten, deutlich schlechter gestellt sind als alle anderen berufstätigen Frauen.Die Tatsache, daß bis heute in diesem Hause und in seinen Ausschüssen versucht wurde — oder eben auch nicht —, einer Lösung dieser Frage mit Nichtbefassung aus dem Wege zu gehen, zeigt doch schon, daß selbst diejenigen, die noch am ehesten vom sogenannten Dienstmädchenprivileg unseres Steuerrechts profitieren — ich gehe davon aus, daß eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses das tun —, Haus- und Familienarbeit als minderwertig und deshalb auch nicht voll schutzwürdig ansehen.Der alte patriarchale Arbeitsbegriff, der die gesellschaftlich notwendige Arbeit willkürlich in wichtige, wertschaffende, männliche Produktions- und unwichtige, weibliche Reproduktionsarbeit unterteilte und den zu ändern wir ständig fordern, ist nach wie vor gesellschaftlicher Konsens. Deshalb ist es längst an der Zeit, daß wir deutliche Zeichen für die Veränderung dieser Praxis setzen. Solche Schritte wären z. B. die Änderung des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlungspraxis für Hausangestellte, die Beseitigung der steuerlichen Absetzbarkeit für Hausangestellte, das Verbot ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse, die Vergesellschaftung und existenzsichernde Bezahlung von Familien- und Hausarbeit und die stärkere Heranziehung der Männer zur Reproduktionsarbeit.Sehr verwundert, muß ich sagen, bin ich über die Haltung der Koalition speziell in dieser Frage heute. Schließlich geht es ja nicht nur um die Frage eines Ausbaus von Arbeitnehmerinnenrechten, sondern auch um die Frage, ob die bisherige Regelung mit den Leitsätzen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch vereinbar ist. Für Hausangestellte stellt allein die Tatsache der Schwangerschaft ja bereits eine so einschneidende Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse dar, daß sich die Frage der zumutbaren Belastungen sehr viel schärfer als für andere Frauen stellt. Außerdem würden private Arbeitgeberinnen in Zukunft Gefahr laufen, sich bei Kündigung einer schwangeren Hausangestellten der Nötigung im besonders schweren Fall — Drohen mit einem erheblichen Nachteil — oder der Mitverursa-
Metadaten/Kopzeile:
19224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Barbara Höllchung eines Abbruchs schuldig zu machen. Ich denke, das wollten Sie ja gerade nicht. Aber Ihre konkrete Praxis sieht eben anders aus.Bei all diesen Ungereimtheiten stellt sich wirklich die Frage, weshalb hier eine Änderung offensichtlich nicht gewollt ist. Wer sind die 6 %, die in den Genuß der steuerrechtlichen Absetzbarkeit kommen, und über welche Lobby verfügen sie im Bundestag? Offensichtlich über eine einflußreichere als die betreffenden Frauen. Wenn es nicht die Persönlichkeitsrechte so vieler Frauen beträfe, könnte man über diese Situation eigentlich nur lachen. Die Regierungskoalition weigert sich, klar zutage liegende Ungerechtigkeiten für die Hausangestellten zu beseitigen, obwohl sie mit der Steuerreform 1990 das unrühmliche Dienstmädchenprivileg erst wieder eingeführt und damit das Problem geschaffen hat.Die Opposition, die sich ausdrücklich gegen die steuerliche Absetzbarkeit dieser Tätigkeiten ausspricht, ist im Interesse der Frauen als einzige tatsächlich bereit, sich auch mit diesen Folgen auseinanderzusetzen.Aus diesen Gründen unterstützt die PDS/Linke Liste ausdrücklich den Antrag der SPD.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Ilja Seifert und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des AltschuldenhilfeGesetzes
— Drucksache 12/7054 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß gemäß j 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Iris Gleicke, Dr. Ulrich Janzen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Novellierung des Altschuldenhilfegesetzes
— Drucksache 12/6746 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden.
Dann erteile ich zunächst dem Abgeordneten Dr. Ilja Seifert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland herrscht Wohnungsnot, keine Not an Wohnungseigentum. Seitdem die staatlichen Fördermittel der DDR für den kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbau durch den politischen Willen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD in Ost und West seinerzeit mit dem ersten Staatsvertrag zur Währungsunion zu privatwirtschaftlichen Altschulden mutierten, haben die Menschen in Ostdeutschland ein zusätzliches Problem: die sogenannten Altschulden. Die regierungsamtlichen Lösungen sind bekannt, machbare Vorschläge der PDS wurden unisono abgelehnt.Dafür kam das im Rahmen des sogenannten Solidarpakts leider auch mit der SPD ausgekungelte Altschuldenhilfegesetz. Im Mittelpunkt der Kritik daran steht der Zwang zur Veräußerung von mindestens 15 % des Wohnungsbestandes.
Das betrifft praktisch alle kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen.Diese Privatisierungspflicht zwingt unter großem zeitlichen Druck zur Veräußerung von Wohnungen unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten und der sozialen Situation der Mieterinnen und Mieter bzw. der Genossenschaftsmitglieder. Sie werden dadurch verängstigt, unter Entscheidungszwang gestellt oder der Gefahr der Überschuldung und des Verlustes der Wohnung durch unseriöse Beratung und durch unseriöse Verkaufspraktiken ausgesetzt. Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten werden nach dem Gesichtspunkt des verordneten Wohnungsverkaufs und nicht nach baulichen Aspekten durchgeführt.Die Wohnungsprivatisierung infolge des Altschuldenhilfegesetzes bindet umfangreiche personelle, materielle und finanzielle Kräfte in Wohnungsunternehmen, Kommunen, in den Ländern und beim Bund, und zwar Kräfte, die eigentlich für die Lösung der dringenden Wohnungsprobleme fehlen. Der Druck auf schnelle Privatisierung führt zudem zum verstärkten Streben nach dem Verkauf an Dritte.Statt also die Bildung von selbstgenutztem Wohneigentum zu fördern — Herr Dr. Hitschler, das ist immer Ihre Hauptforderung —, verhindert die Regierung mit dem Altschuldenhilfegesetz das gerade. 10 000 hinter dem Rücken der Mieterinnen und Mieter an Großinvestoren verscherbelte Wohnungen in Ost-Berlin, und das alles völlig legal, zeigen deutlich, wohin der Hase läuft.Unser Vorschlag ist nun, nachdem Sie alle anderen weitergehenden abgelehnt haben, daß Wohnungsunternehmen, die Altschuldenhilfe nun einmal in Anspruch nehmen, von der Verpflichtung zur Privatisierung bzw. Veräußerung entbunden werden.
Deshalb soll jetzt wenigstens § 5 des Altschuldenhilfegesetzes, also die Privatisierungs- und Veräußerungspflicht und die Abführung von Erlösen, gestrichen werden. Damit sind die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen sowie die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19225
Dr. Ilja SeifertKommunal- und Länderverwaltungen in Ostdeutschland wenigstens wieder in der Lage, ihre finanziellen, materiellen und personellen Kräfte auf die zügige Sanierung und Modernisierung des vorhandenen Bestandes zu konzentrieren, ohne die Menschen zu überfordern.Die Gesetzgeber des Altschuldenhilfegesetzes begründeten die Zwangsprivatisierung u. a. auch damit, daß sich die Wohnungsunternehmen für diese Entschuldung durch die Abführung an den sogenannten Erblastentilgungsfonds zu beteiligen haben. Diese Abführung würde mit unserem Vorschlag entfallen.Von den Einnahmeverlusten von ungefähr 1 bis 3 Milliarden DM — auch das Bauministerium spricht inzwischen von höchstens 4 Milliarden DM in zehn Jahren — stehen geringere Ausgaben zur Propagierung der Privatisierung, geringere Steuerabschreibungen für den Erwerb von Wohnungen aus dem Bestand und geringere Ausgaben für den kommunalen Erwerb von Sozialwohnungen und von Belegungsrechten als Ausgleich für den veräußerten — ehemals volkseigenen — Bestand gegenüber.In der Gesamtrechnung — das müßte eigentlich der Finanzminister hören und sich darüber freuen — ist also sogar ein positiver Saldo zu erwarten, wenn Sie unserem Antrag — wie immer zu erwarten ist — zustimmen werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine sinnvolle Bildung von selbstgenutztem Wohneigentum durch Mieterinnen und Mieter in Ostdeutschland wird durch unser Erstes Altschuldenhilfe-Änderungsgesetz nicht behindert. Wir sind seit eh und je im Gegenteil dafür, daß Eigenheime, Reihenhäuser und andere überschaubare Wohnungseinheiten von den Nutzerinnen und Nutzern in Eigenverantwortung errichtet werden können, und zwar von denjenigen, die für sich und ihre Familien einen solchen Lebensmittelpunkt wünschen.Es ist doch schließlich eine Tatsache, daß die Wohneigentumsquote schon jetzt sehr stark differiert. So waren beispielsweise 1989 in der ehemaligen DDR 17,6 % der Wohnungen genossenschaftliches und 25,9 % privates Eigentum. In der ehemaligen BRD dagegen waren nur 4 % der Wohnungen genossenschaftliches und 41,5 % privates Eigentum. Das sind wohlgemerkt Zahlen von 1989.In Ballungsräumen Westdeutschlands liegt der Eigentumsanteil deutlich unter der Wohneigentumsquote manch anderer Regionen in Ostdeutschland. So ist die Quote in Thüringen höher als die in Nordrhein-Westfalen.Folgt man der Logik der Bundesregierung — Herr Staatssekretär Günther, Sie können nachher vielleicht etwas dazu sagen —, daß die Zwangsprivatisierung mittels des Altschuldenhilfegesetzes notwendig sei, weil die Menschen in Ostdeutschland ihre Wohnungen kaufen wollen, sich aber die Kommunen und Unternehmen dagegenstellen, so müßte als nächstes die Regierung ein Gesetz auf den Tisch legen, mit dem alle kommunalen und genossenschaftlichen Unternehmen, und zwar in Ost- und Westdeutschland, gezwungen werden, Wohnungen zu verkaufen, falls die Mieterinnen und Mieter das möchten. Das istnatürlich genauso albern wie das von Ihnen vorgebrachte Argument; das liegt ja schließlich auf der Hand.Daß es in deutschen Städten seit über 150 Jahren charakteristisch ist, zur Miete zu wohnen, scheint diese Regierung völlig vergessen zu haben.Übrigens: Ich lebte schon einmal unter einer Regierung, die immer glaubte, alles besser zu wissen, die immer glaubte, besser zu wissen, was für das Volk gut ist. Auch diese Besserwisser erließen selbstherrlich Gesetze und betrieben einen gewaltigen propagandistischen Aufwand, uns Bürgerinnen und Bürgern die Gesetze anschließend schmackhaft zu machen. Bekanntermaßen weiß jeder, was aus dieser Regierung geworden ist.
— Es gibt Menschen, die lernen können. Und es gibt Menschen, die können es nicht, sehr verehrter Herr Kollege.Ich möchte mich nun aber den Kolleginnen und Kollegen zuwenden. Ihr Novellierungsantrag ist zwar halbherzig, aber immerhin wollen Sie den pauschalen Privatisierungszwang etwas mildern. Das findet ohne weiteres meine Zustimmung. Aber sagen Sie mir bitte einmal, warum Sie diesem unsäglichen Altschuldenhilfegesetz erst zugestimmt haben. Sagen Sie mir bitte einmal, warum Sie noch immer nur geringfügige Veränderungen im Sinne von Härtefallregelungen wollen.
— Eben, Sie haben doch dem Solidarpakt zugestimmt und damit diesem Quatsch.Sagen Sie mir bitte, warum Sie immer noch nicht die Kraft aufbringen, den Fehler, den Sie ja inzwischen selbst erkannt haben, zu korrigieren. Sagen Sie mir bitte, warum Sie nicht gemeinsam mit uns den Menschen in Ostdeutschland die Angst vor dieser unsinnigen Zwangsprivatisierung nehmen wollen.Angesichts der herrschenden Wohnungsnot und der knappen Kassen in den öffentlichen Haushalten müssen vorhandene Kapazitäten auf wohnungspolitische und nicht auf vermögensbildende Maßnahmen konzentriert werden. Die Annahme unseres Gesetzesvorschlages wäre ein Schritt in diese Richtung. Ich bitte Sie, diesen Schritt gemeinsam mit uns zu gehen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rolf Rau das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Altschuldenhilfegesetz hat am 31. Dezember 1993 seine Feuertaufe insofern bestanden, als allein rund 90 % der über 4 200 Antragsberechtigten im Sinne des Altschuldenhilfegesetzes - Wohnungsunternehmen, Kommunen, Genossenschaften und private Vermieter — einen Antrag auf Altschuldenhilfe gestellt haben. Nur gut
Metadaten/Kopzeile:
19226 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Rolf Raudie Hälfte davon hat neben der Zinshilfe auch die Teilentlastung beantragt und unterliegt damit der Privatisierungsauflage nach dem Altschuldenhilfegesetz.Herr Kollege Seifert, einen Gesetzeszwang kann ich nicht feststellen.
— Es kommt darauf an, aus welcher Ecke man liest.Am 20. Oktober 1993 haben wir im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau einen einstimmigen Beschluß gefaßt und den Unterausschuß zur Privatisierung des Wohnungsbestandes in den neuen Ländern aus der Taufe gehoben. Zahlreiche Aktivitäten, Gespräche, Sitzungen und Informationsreisen wurden durchgeführt, um der Gesamtproblematik des Altschuldenhilfegesetzes auf die Spur zu kommen.Dieser Unterausschuß ist gebildet worden, damit die Begleitung der Privatisierung in den neuen Ländern unter wohnungspolitischen Gesichtspunkten erfolgt. Insbesondere sollten Erfahrungen und Probleme bei der Anwendung des Altschuldenhilfegesetzes aufgenommen werden.Ich sage schlicht und einfach: Dies ist allen Beteiligten gelungen. Mit dem heutigen Datum stehen noch die Bereisung von Rostock in Mecklenburg-Vorpommern und von Spremberg in Brandenburg aus.
Herr Abgeordneter Rau, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Seifert zu beantworten?
Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr Dr. Seifert.
Aber Herr Hitschler, seien Sie heute doch nicht so böse mit mir.
Herr Kollege Rau, können Sie als Vorsitzender dieses Unterausschusses mir bestätigen, daß in den bereisten ostdeutschen Bundesländern überall, jedenfalls in den Ballungszentren, deutlich wurde, daß es sehr schwierig ist, den geforderten 15%igen Anteil an die Mieterinnen und Mieter zu verkaufen, daß es in einigen Gegenden, insbesondere in Berlin, unmöglich war und daß deswegen doch ein gewisser nicht unbedeutender Zwang auf die Unternehmen ausgeübt wurde — einfach durch das Vorhandensein dieses Gesetzes, bei dem sie nicht die Wahl hatten, es anzunehmen oder nicht?
Wir haben gemeinsam festgestellt, daß es viele gute Beispiele gibt; ich kann nur darauf verweisen. Sie haben in Ihrer Frage schon relativiert, daß es einen „gewissen Zwang" gibt. Ich schließe nicht aus, daß man Menschen manchmal zu ihrem Glück etwas zwingen muß. Ich gehe davon aus, daß gerade die Frage der Privatisierung auch einStückchen Weg ist, um Kapital für unsere Bürger in den neuen Bundesländern zu bilden, was es vorher nicht gab. Ich glaube, das ist ein guter Weg.
Unabhängig von den noch ausstehenden Reisen konnten wir erste Erfahrungen sammeln. Insofern, meine sehr verehrten Damen und Herren der Opposition, verstehe ich Ihre Eile nicht, daß mit den Anträgen vom 9. März 1994 die PDS/Linke Liste und vom 3. Februar 1994 die SPD schon Korrekturen und Neuerungen auf den Weg bringen wollten.Wie Sie selber und wie wir gemeinsam erfahren konnten — ich nenne jetzt konkrete Beispiele —, haben wir herausragende Ergebnisse erleben können, ob in Syrau, in Frohburg oder Neukieritzsch. Wir haben praktikable Lösungen in anderen Städten und Gemeinden erfahren können, haben in Halle-Neustadt, besonders bei den großen Scheiben der Plattenbauweise, Probleme erfahren dürfen, haben die wirtschaftlich unterschiedlichen Auffassungen in Erfurt erlebt und haben Gutes über Seebach gehört. Aber wir mußten auch sehen, daß es unterschiedliche Auffassungen in Fragen der Privatisierung im Zusammenhang mit Sanierung und Modernisierung gibt.All diese Dinge machen deutlich, daß die Strukturen und die regionalen Gegebenheiten, aber auch die Herangehensweise zu unterschiedlichen Effekten führen. Festzustellen ist allerdings — und das ist auch nachweisbar —, daß bei der KfW, beim Bauministerium und bei den Länderministerien eine gute und ausreichende Aufklärung für die Altschuldenhilfe vorhanden war, die Ausschlußfrist nach dem 31. Dezember 1993 bei allen Veranstaltungen, Verlautbarungen und Presseerklärungen deutlich unterstrichen wurde und insofern hier eine Verlängerung — auch aus heutiger Sicht — absolut nicht erforderlich ist, sondern daß wir damit nur Irritationen den Weg ebnen würden.Insofern will ich auch keine Zeit mit meinem Beitrag verschwenden und dem Antrag der PDS/Linke Liste eine klare Absage erteilen. Es ist weder wirtschaftlich noch in der Verantwortung der gesamtdeutschen Entwicklung verantwortbar, hier in diesem Sinne zu verfahren.
Unser politisches Ziel, den Bürgern in den neuen Bundesländern bei der Privatisierung ihrer Wohnung auch die Möglichkeit einzuräumen, Kapital anzulegen — ich wiederhole mich jetzt —, muß vorrangig berücksichtigt werden, und es steht in der Verantwortung der Genossenschaften und Gesellschaften, die Bürger umfangreich und qualitativ gut aufzuklären und sie bei der Privatisierung sinnvoll zu begleiten.
Wir sprechen bei Genossenschaften von Veräußerungen und nicht von Privatisierung.Andere Formen der Privatisierung — mieternahe Lösungen wie die Gründung von Genossenschaften, Investorenfonds oder auch Verkäufe an Dritte — sind auf diesem Weg natürlich nicht auszuschließen, um
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19227
Rolf Raudie Liquidität der Unternehmen auf der einen Seite zu gewährleisten und andererseits aber auch den Möglichkeiten Rechnung zu tragen, die sich aus der Einkommensentwicklung sowie aus regionalen und strukturellen Möglichkeiten ergeben.
Hier läßt § 5 des Altschuldenhilfegesetzes Spielraum. Ich halte es für legitim, es in die Hände des Lenkungsausschusses zu legen, daß zwischen den Ländern und dem Bund hier klare Schritte vereinbart werden, so daß auch in dieser Frage eine Gesetzesänderung nicht erforderlich ist und durch Transparenz und geradlinige Aussagen Fragen, die uns die Genossenschaften und Gesellschaften gestellt haben, Beantwortung finden.
Ich habe volles Verständnis dafür, daß die Mieterprivatisierung oder Mieterveräußerung eine Menge Arbeit und Aufwand in den Wohnungsunternehmen erfordert. Eine umfassende Aufklärung zum Objekt, zum Umfeld, zur Modernisierung und Sanierung, zur Finanzierung und zu den späteren Aufwendungen im Vergleich zu den Mieten und Ähnlichkeiten muß sorgfältig erfolgen.
So wären Unmut und Verunsicherung kein Argument mehr.Die gewünschten Genossenschaftsneugründungen müssen wirtschaftlich sorgfältig geprüft und beraten sein und sollten meiner Ansicht nach dort erfolgen, wo auch hier die Mieter vorher zum Erwerb von Eigentumswohnungen ausführlich befragt und beraten wurden. Dort, wo sie teilweise zugestimmt haben, ergibt sich eine gute Mischung von privatem und genossenschaftlichem Eigentum. Das heißt also: Gemischte Nutzung der Wohnhäuser und Mischwohngebiete wären auch aus der sozialen Struktur heraus ein zukunftsträchtiges Unternehmen. Dabei sind Beträge erforderlich — so denke ich, und ich will diese Meinung ruhig äußern —, die pro Wohnung bei rund 10 000 DM Kaufpreis liegen müßten.
Poolverkäufen oder Investorenlösungen ist bei Punkthochhäusern oder extrem großen Wohnscheiben schon jetzt zuzustimmen; denn hier sind das Privatisierungsinteresse und die Privatisierungsmöglichkeit auf Grund der Gegebenheiten sehr gering. Hier sollten wir die Möglichkeiten zur Sonderabschreibung für Investoren in den neuen Bundesländern bis 1996 ausnutzen.
— Es gibt, glaube ich, auch solide Unternehmer.Ich möchte in diesem Zusammenhang auch an § 4 Abs. 7 erinnern, dem gemäß die Wohnungsunternehmen jährlich über den Stand ihres Investitionsprogramms und der Ergebnisse der Privatisierung zu berichten haben, um auch denen Rechnung zu tragen, die gegebenenfalls auf eine 15%ige Quote in zehn Jahren nicht hinarbeiten konnten.Sie sehen, meine Damen und Herren, daß das Altschuldenhilfegesetz in seiner jetzigen Form — untersetzt durch begleitende Entscheidungen im Lenkungsausschuß — durchaus in der Lage ist, die Probleme zu fassen und sie im Sinne unserer Mitbürger zu bewegen. Dazu zähle ich auch die erforderliche Beschleunigung der Kreditvertragsabstimmung zwischen der DKB und den Wohnungsunternehmen.Wenn es nach unseren weiteren Erfahrungen trotzdem noch Dinge geben sollte, die sich gegebenenfalls im Zusammenhang mit der Privatisierung an Mieter und der Privatisierung an Dritte bezüglich der Füllung des Erblastfonds ergeben, so würde ich dieses Thema gern im Ausschuß ausführlich beraten, und zwar nachdem unsere Erfahrungen abgeschlossen sind, um dann eventuell weitere Schritte zu unternehmen.Ich glaube aber, daß wir im Rahmen der Möglichkeiten nach nunmehr vier Monaten Arbeit mit diesem Gesetz schon auf einen guten Weg gekommen sind und daß wir auch ein bestimmtes Maß an Ruhe brauchen und nicht ständig Novellierungen und Korrekturen erforderlich sind. Das schließt nicht aus, daß neue Erkenntnisse später auch zu neuen Ergebnissen führen.Ich möchte aber noch einen Punkt dringend ansprechen. Der schlechte Zustand der Wohnungen in den neuen Bundesländern erfordert — zur maßvollen Mietanhebung nach Sanierung und Modernisierung — auch neue Schritte. Dieser Wunsch geht besonders von hier aus an die jungen Länder und ist heute nicht das erste Mal geäußert, sondern für die Stabilisierung des Wohnungsmarktes ein dringendes Erfordernis.
Wir brauchen Länderförderprogramme, gespeist aus der 1 Milliarde DM des Bundes für den sozialen Wohnungsbau, die vorrangig für die Wohnungsbaumodernisierung einzusetzen sind, um dort auch mietpreisgebunden Wohnraum bereitstellen zu können. Diese Position ist zwar nicht direkt mit dem Altschuldenhilfegesetz in Zusammenhang zu bringen, ist aber im Rahmen der Privatisierung besonders dort, wo Mischeigentum entsteht, erforderlich.Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Ulrich Janzen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Seifert, ich möchte Sie bitten, jetzt einmal sehr genau hinzuhören, damit Sie
Metadaten/Kopzeile:
19228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Ulrich Janzendie Unterschiede zwischen meiner kritischen und Ihrer fundamentalistischen Haltung erkennen.
Wir haben uns hier zu einer kurzen Debatte zusammengefunden, um über die Folgen von Schulden, die sogenannten Altschulden, zu beraten, die auf das Konto finanzpolitischer Fehler der früheren DDR-Regierung zurückgehen und im vergangenen Jahr zu dem Altschuldenhilfegesetz geführt haben.
Es wäre sicherlich sinnvoller, sich mit dem Schuldenberg zu befassen, den die jetzige Bundesregierung finanzpolitisch zu verantworten hat, oder mit den Schulden, die täglich in der Zeitung stehen. Aber eine halbe Stunde Debattenzeit würde dabei nicht reichen, um aus dem Schneider zu kommen.
Eine solche Debatte würde sicherlich ein abendfüllendes Trauerspiel werden.
Herr Dr. Janzen, der Abgeordnete Hitschler möchte daraufhin eine Frage stellen.
Herr Dr. Hitschler, ich würde bitten, daß wir uns darüber gelegentlich einmal austauschen.Ich möchte mich auf einige wenige Bemerkungen beschränken, die sich ausschließlich mit den Folge- und Randerscheinungen des Altschuldenhilfegesetzes befassen.Eine erste Feststellung: Da gibt es zunächst einmal zwei Ausschüsse für dieses Gesetz. Das sind der Lenkungsausschuß als Regierungsgremium und der Unterausschuß „Privatisierung des Wohnungsbestandes in den neuen Ländern" des Bundestages mit Beobachterfunktion. Beide Ausschüsse wurden nicht etwa von der Opposition gefordert, was von der Sache her sicherlich verständlich gewesen wäre, nein, sie sind Kinder der Regierung und ihrer Koalitionsfraktionen. Sagen Sie mir bitte: Bei welchem Gesetz hat es das schon einmal gegeben, und warum ist dies gerade jetzt erforderlich? Die Antwort liegt auf der Hand: Unsicherheit, ein schlechtes Gewissen oder sogar der Glaube, mit der Vortäuschung des Einsatzes zusätzlicher demokratischer Elemente dem angestrebten Ziel leichter näherzukommen.
Soweit eine einleitende analysierende Bemerkung zur Methode der Gesetzesumsetzung.Ich möchte nun einige Gedanken zur Fehleinschätzung der Gesamtsituation in den neuen Ländern folgen lassen. Sie drückt sich in den einzelnen Festlegungen des Gesetzestextes aus und wird übrigens auch in den Protokollen des Unterausschusses klar ablesbar.Die im Altschuldenhilfegesetz zum großen Teil wenig sinnvollen Festlegungen haben sich inzwischen als Zeitzünderbomben entpuppt, die sich bei frühzeitiger Analyse der Ausgangssituation hätten vermeiden lassen können. Wo liegen denn die Ursachen für die heutige Situation?Erstens: die Wohnung als Ware.
Ich liege sicher nicht falsch mit der Behauptung, daß der eigentliche Lebensraum des Menschen, gewissermaßen die Privatsphäre, seine Wohnung ist. „My home is my castle", heißt es so schön. Ich behaupte deshalb weiter, daß gerade in der ehemaligen DDR die Wohnung zum Rückzugsort vor unerträglicher politischer Bevormundung wurde.
Dort fanden die offenen Gespräche mit den Freunden statt. Dort richtete man es sich trotz aller Schwierigkeiten so ein, wie man es konnte oder es sich wünschte. Dort war man noch Mensch. Dies war auch so mitten in den Großsiedlungen oder gerade dort besonders. Diese Teilgeborgenheit war begleitet und geschützt von der nahezu unmöglichen Kündbarkeit, wenn man die Wohnung einmal zugeteilt erhalten hatte. Falls die persönlichen Lebensziele keinen Ortswechsel erforderten, richtete man sich in ihr in der Regel auf Lebenszeit ein.Das Wissen um diese Gegebenheiten halte ich für außerordentlich wichtig.
Sie wurden jedoch bei der Gesetzesformulierung in all jenen Passagen, die vom Verkauf an Dritte handeln, völlig ignoriert.
Deshalb ist auch für viele Mieter das plötzliche Erwachen gekommen, indem sie feststellen müssen: Ihre Wohnung ist ja nichts weiter als eine Ware und nicht, wie sie bisher glaubten, ihr persönlicher unantastbarer Lebensraum.Zweitens. Die völlig gegensätzlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in Ost und West drücken sich besonders in der Raumordnungs-, speziell jedoch in der Wohnungspolitik aus: maximale Individualisierung mit Eigentumsbildung auf der einen Seite und Kollektivierung unter staatlicher Hülle auf der anderen, Einfamilienhäuser hier, Großsiedlungen dort. Jetzt wird versucht, per Gesetz einen Wandel herbeizuführen. Das ist der gedankliche Fehler der Verfass er.
Selbstverständlich kann man sich Ziele setzen, auch Programme entwickeln, um diese Ziele zu erreichen. Aber über Druck gleiche Verhältnisse auf der Grundlage unterschiedlicher Voraussetzungen herstellen zu wollen, das kann nicht funktionieren.Im übrigen ist das auch sehr teuer. Vergessen Sie bitte nicht, daß in den alten Ländern Eigentumswohnungen mit den ihnen innewohnenden Qualitäts- und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19229
Dr. Ulrich JanzenQuantitätsansprüchen fast ausschließlich schon als solche konzipiert und gebaut wurden. Nun soll im Osten versucht werden, die dortigen Wohnungen, die in Qualität und Größe den Status einer Sozialwohnung besitzen, administrativ zu verwandeln. Wohlgemeinte Aufwertungen durch Modernisierungen haben vergleichsweise natürlich den Pferdefuß, daß durch die inzwischen erheblich gestiegenen Baupreise die Schere zwischen Preis und Wert gleicher Wohnungen in West und Ost in Zukunft weiter auseinandergehen wird —
eine nochmalige zusätzliche späte Nachkriegsbenachteiligung für die ostdeutsche Bevölkerung.Drittens. Besonders schwerwiegend ist die pauschalisierte Forderung an alle Wohnungsunternehmen gleichermaßen, 15 % des Bestandes zu veräußern, trotz unterschiedlicher Bedingungen. Es ist gleich, ob es sich um eine Kleinstadt in Sachsen, um Ballungsgebiete wie Halle-Neustadt oder Berlin-Marzahn oder gar um Kommunen in Grenzregionen zu Polen, wo schon jetzt viele Wohnungen leerstehen und demzufolge wohl kaum Kaufbedarf besteht, handelt. Das kann nicht funktionieren, und das wird auch nicht funktionieren, jedenfalls nicht mit den Paragraphen des jetzigen Gesetzes.Viertens. Mit dem Unterausschuß haben wir gemäß seines Auftrags den Beginn der Umsetzung des Gesetzes begleitend beobachtet. Der Entwurf des Zwischenberichts über die bisherige Tätigkeit bestätigt die Folgen der von mir hier dargelegten Ursachen und damit auch den gegenwärtigen Ist-Zustand. Ich warne deshalb in diesem Zusammenhang vor jeglicher Schönfärberei. Ich warne ebenso vor der Verunglimpfung des Frustes der Bevölkerung mit dem schon oft gehörten Wort Unruhestiftung.Beides bringt uns keinen Schritt weiter.
Nur sachliche Analysen, wenn auch verspätet und nachträglich, und die daraus abgeleiteten realen Möglichkeiten können uns helfen. Ich glaube, daß dies auch die Meinung der Koalition ist, diese aber bisher noch nicht weiß, wie sie sich aus der gegenwärtigen Klemme befreien kann.
Wir haben deshalb auch für Sie ein erstes Hilfsmittel in Form eines Novellierungsantrags zum Altschuldenhilfe-Gesetz vorgelegt und hoffen besonders im Interesse der Betroffenen auf kurzfristige Entscheidungen in den verantwortlichen Gremien.Hier kurz die Schwerpunkte des Antrages:Erstens. Wohnungsunternehmen in Ballungsgebieten und in strukturschwachen Regionen, die eine für Privatisierungen nicht geeignete Mieterstruktur besitzen, sollen ein Anrecht auf gesonderte Prüfung haben.Zweitens. Bei Privatisierung an Dritte sind ein langfristiges Wohnrecht der Betroffenen und Kappungsgrenzen für Mieterhöhungen vertraglich zu vereinbaren.Drittens. Die Wohnungsunternehmen müssen ihre Realisierungskonzepte ohne zeitlichen Druck durchführen können, d. h. die progressiven Abführungen an den Erblastenfonds sind durch eine einheitliche Abgabenhöhe im gesamten Privatisierungszeitraum zu ersetzen.Viertens. Die Privatisierungspflicht wird bei Genossenschaften auf ihre Mitglieder beschränkt.Fünftens. Die Aus- und Neugründung von Genossenschaften ist der Einzelprivatisierung gleichzusetzen.Es muß der Druck weg. Die Mieter müssen ihre innere Ruhe und Sicherheit wiedererlangen. Vor allem bedarf es für die Wohnungsgenossenschaften in der Behandlung des Gesetzes, besonders aber in der Gleichstellung bei den Komplexen Eigentum und Wohnungsbauförderungssysteme eines Umdenkens. Die SPD wird verhindern, daß es in Ostdeutschland wegen der Altschuldenregelung zu Privatisierungen mit zerstörerischen, sozial unverträglichen Wirkungen kommt. Unser Antrag ist der erste Schritt auf diesem Weg.Ich danke Ihnen für das anstrengende Zuhören.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Lisa Peters.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren! Meine Damen! Wir haben hier im Moment leider nur eine Kurzrunde. Das bedaure ich außerordentlich. Wir haben den Antrag der PDS und den Antrag der SPD auf Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu beraten. Ich möchte hier die Meinung unserer Fraktion sagen, die sicher in einigen Punkten von der Ihrer Fraktion, Herr Janzen, abweicht.Meine Damen und Herren, bis zum 31. Dezember 1993, also vor rund dreieinhalb Monaten, mußten die Wohnungsunternehmen ihre Anträge auf Altschuldenhilfe stellen. Diese Anträge mußten noch nicht mit allen erforderlichen Unterlagen befrachtet sein. Sie konnten nachgereicht werden. Wir konnten uns im eingerichteten Unterausschuß davon überzeugen, daß auch so verfahren wurde. Das Altschuldenhilfe-Gesetz ist im Rahmen des Solidarpakts als Kompromiß ausgehandelt worden, als politische Lösung der Altschuldenfrage für die Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern. Der Bundestag und die Bundesländer haben zugestimmt. Ich betone das hier ausdrücklich.Bereits kurze Zeit, nachdem das Gesetz zur Anwendung kam, wurden der Gesetzentwurf der PDS am 9. März und der Novellierungsvorschlag der SPD am 3. Februar 1994 eingebracht. Ich gehe davon aus, daß diese Papiere einige Zeit der Bearbeitung verlangen. Wenn ich das voraussetze, kann ich einfach feststellen, daß Sie dem erzielten Kompromiß keine Chance lassen. Das jedenfalls ist meine Meinung und auch die meiner Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
19230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Lisa PetersWir alle sind uns einig, meine Herren und meine Damen, daß in die Wohnungswirtschaft Ruhe kommen muß. Herr Janzen, da stimme ich Ihnen zu. Denn der Wohnungsbau und damit auch die Wohnungswirtschaft sind derzeit das Rückgrat der Wirtschaft in Ost und West.
Frau Abgeordnete Peters, Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. Der Abgeordnete Dr. Seifert würde gerne eine Zwischenfrage von Ihnen beantwortet sehen. Sind Sie einverstanden?
Herr Seifert, vielleicht warten Sie noch ein bißchen ab und stellen anschließend die Zwischenfrage. Ich will sie dann gerne beantworten.
Noch nie wurden so viele neue Wohnungen gebaut wie im Jahre 1994. Noch nie wurden so viele Wohnungen instand gesetzt und saniert wie derzeit in den neuen Bundesländern.
— Das stimmt, Herr Dr. Krause. — 87 % aller Wohnungsunternehmen, Kommunen, Genossenschaften usw. haben einen Antrag auf Zinshilfe und Teilentlastung gestellt.
Es ist bekannt, daß die Unternehmen, die keinen Antrag gestellt haben — auch das wurde uns bei unseren Reisen beantwortet —, in der Regel eine Schuldenbelastung von unter 150 DM pro Quadratmeter oder nur geringfügig mehr haben.
Deshalb, meine Herren und meine Damen, sagen wir, daß das Gesetz jetzt nicht novelliert werden muß. Man muß immer ganz deutlich sagen, daß nur 15 % des Wohnungsbestands privatisiert werden sollen, nicht 85 %. Dazu hat man zehn Jahre Zeit, bis zum Jahre 2003. Man muß sich also nicht unter Druck setzen lassen. Wer bis zum 31. Dezember 1995 privatisiert, also in den nächsten eindreiviertel Jahren, muß nur 30 % des Erlöses an den Erblastentilgungsfonds abführen. Wer bis zum 31. Dezember 1996 privatisiert, muß 40 % abführen.
Es muß noch einmal deutlich gesagt werden, daß diese Regelung von den Ländern gewollt war. So ist es uns gesagt worden. Von der Bundesregierung waren andere Vorschläge gemacht worden.
Jetzt kommt es darauf an, daß sich alle Wohnungsunternehmen dieser Aufgabe annehmen, daß den Mietern keine Angst gemacht wird und eine gute, umfassende und individuelle Beratung der einzelnen Mieter erfolgt. Das kann man in großen Unternehmen nicht nebenher machen. Dazu müssen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Sachkenntnis und mit großem Einfühlungsvermögen ausgewählt werden. Ich weiß, daß dies den kleinen Unternehmen manchmal leichter fällt und daß sie sich dieses Gesetzes eher angenommen und sich zügig informiert haben.
Eine Novellierung ist deshalb heute nicht ins Auge zu fassen. Das Gesetz muß erst einmal zur Anwendung kommen. Dann, wenn das Unternehmen überwiegend große Wohnblocks hat, ist auch dies möglich.
Ich meine, man sollte einmal in die alten Bundesländer gucken. Dort gibt es außerordentlich viele Mietshäuser, die halb privatisiert sind, in denen es zur Hälfte Wohnungseigentümer und zur Hälfte Mieter gibt. So etwas kann man in den großen Wohnblocks gut in die Wege leiten.
Zu den neuen Bundesländern habe ich eine andere kleine Zahl: 22 % der Bürger und Bürgerinnen im Alter um die 40 sind Eigentümer einer Wohnung. Wir meinen, daß diese Rate in beiden Teilen vergrößert werden muß. Eigentum an einer Wohnung ist ein Stück Sicherheit, ein Stück Geborgenheit; sie bedeutet auch Wertzuwachs.
Die F.D.P.-Fraktion bringt deswegen klar zum Ausdruck, daß sie dafür eintritt, daß möglichst viele Bürger und Bürgerinnen eine Wohnung als Eigentum erwerben können. Darauf ist unsere Politik abgestellt. Wir sind davon überzeugt, daß das Altschuldenhilfe-Gesetz dazu viele Möglichkeiten bietet. Es muß nur zügig, aber ganz besonders mit einfühlsamer Hand
angewendet werden. Das ist auch bei den Wohnungsgenossenschaften möglich.
Wir werden uns deshalb weiterhin aktiv dafür einsetzen, wir werden das Ganze unterstützen, und wir sind auch von der Richtigkeit voll überzeugt.
Danke schön.
Frau Abgeordnete Peters, Sie haben jetzt die Möglichkeit, von Dr. Seifert eine Frage gestellt zu bekommen und von Herrn Hitschler, wenn Sie das wollen.
Erst die Frage von Herrn Dr. Seifert, wenn ich diese noch beantworten darf und kann.
Bitte schön, Herr Dr. Seifert.
Entschuldigung, Herr Seifert. In fünf Minuten muß man das leider so runterrasseln. Ich hätte gerne auch acht Minuten Zeit gehabt.
Frau Peters, ich kenne die Situation, nur wenig Redezeit zu haben. — Ich hoffe, daß Sie keine Schwierigkeiten in Ihrer Fraktion bekommen, wenn Sie mir meine Frage beantworten. Herr Hitschler hat Ihnen ja zugerufen, Sie sollten es bleibenlassen.Trotzdem die Frage: Wollen Sie bitte bestätigen, daß wir nicht erst im März unseren ersten Altschuldenhilfe-Änderungsantrag eingebracht haben, sondern bereits im Herbst vergangenen Jahres den Vorschlag unterbreitet haben, ein Altschuldenübernahmegesetz zu verabschieden, das diesen Zwang von
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19231
Dr. Ilja Seifertden Genossenschaften und von den Gesellschaften nehmen und den Kommunen Belegungsrechte und Mietpreisbindungen verschaffen würde?
Herr Seifert, das mag gerne sein. Aber wir reden jetzt über die Dinge, die seit dem 1. Januar dieses Jahres gelten, und darauf habe ich abgehoben. Dazu haben Sie heute einen Antrag und die SPD einen Novellierungsvorschlag eingebracht.
Es ist klar ersichtlich, daß das, was im Solidarpakt ausgehandelt wurde, die unterste Grenze war. Denn die Wohnungen mit 150 DM pro Quadratmeter zu belasten, ist nach meiner Ansicht, Herr Seifert, eine einmalige Chance. Das ist auch tragbar, wenn man das alles in Ordnung bringt. Das ist machbar; man muß es auch ein bißchen wollen.
Keiner hatte doch damit gerechnet, daß die Wohnungen plus/minus null übergeben worden wären. Das wäre dem Westen gegenüber ungerechtfertigt gewesen, wo jeder, der gebaut hat — wohnt er nun selber in seinem Haus oder ist er der Vermieter —, mit einer Schuldenlast dasitzt.
Nun kommt Herr Dr. Hitschler mit seiner Frage.
Verehrte Frau Kollegin Peters, wie beurteilen Sie denn die Chancen unserer Mitbürger in den neuen Bundesländern
— der Bundesbürger —, in den nächsten 100 Jahren noch einmal so günstig zu Wohneigentum zu kommen wie durch die Möglichkeit, diese Wohnungen jetzt zu erwerben, vorausgesetzt, daß die Kommunen keine Mondpreise von ihren Mietern verlangen, sondern sie, wie es der Einigungsvertrag auch vorsieht, zu sozialverträglichen Preisen an die Mieter veräußern? Das Altschuldenhilfegesetz sieht ja gottlob einen Verkauf vorrangig an die Mieter der Wohnungen vor.
Herr Dr. Hitschler, ich hatte Ihnen das Wort nicht zu einer Kurzintervention, sondern zu einer kurzen Frage gegeben. — Bitte schön.
Nachdem der Präsident seine Meinung gesagt hat, will ich das, Herr Kollege Hitschler, kurz beantworten.
— Entschuldigung, man darf einen Präsidenten überhaupt nicht rügen. Ich nehme das alles zurück, Herr Cronenberg; das war nicht so gemeint.
Ich kann nicht ganz 60 Jahre zurückdenken, Herr Dr. Hitschler, aber 55 Jahre. Das ist mir alles noch sehr geläufig, und das waren wirklich bewegte Zeiten. Aber 100 Jahre im voraus zu denken, das vermag ich ebenfalls nicht. Also betrachten wir einmal die nächsten zehn oder 20 Jahre. Da würde ich einfach sagen: So günstig, wie derzeit Wohnungen angeboten werden, werden Käufer in den neuen Ländern sicher nicht mehr an eine Wohnung kommen.
Das hat verschiedene Gründe.
Ich würde den Bürgern und Bürgerinnen dort empfehlen, sich das sehr sorgsam zu überlegen, sich gut beraten zu lassen und dann einen Vertrag abzuschließen, wenn sie das irgendwie schaffen können. Das sind schon ordentliche Preise, wenn die Gemeinden und Städte den Grund und Boden nur mit einem ganz kleinen Aufschlag zu dem, wie sie ihn erworben haben, weitergeben.
Danke schön.
Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Joachim Günther das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Jahr liegt der Solidarpakt hinter uns. Ich glaube, daß nach damals zähen Verhandlungen die Lösung der Altschuldenfrage, die doch alle sehr bedrängt hat, geschafft wurde. Wir müssen ganz eindeutig sagen, daß diese großzügige Teilentlastung von 31 Milliarden DM und die 7 Milliarden DM Zinshilfe zur damaligen Zeit von allen Beteiligten anerkannt wurde.
Genauso klar muß man sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob heute noch einmal eine so großzügige Entlastung erreicht werden könnte, wie es vor einem Jahr der Fall gewesen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen inzwischen — das wurde von verschiedenen Rednern dargestellt —, wie viele der kommunalen Genossenschaften und Gesellschaften einen Antrag auf Teilentlastung und Zinshilfe gestellt haben: rund 90 % allein auf die Zinshilfe, über 50 % auf die Teilentlastung. Das bedeutet im Endeffekt, daß bei diesen 50 % eine 15 %ige Privatisierung in Frage kommt. Ich bin ganz sicher, daß diese 15%ige Privatisierung auch im Interesse der Bürger in den neuen Bundesländern ist.
Wir wissen, daß diese Privatisierung bereits ein Auftrag des Einigungsvertrags gewesen ist. Wir wissen auch — das war die Frage, die Herr Dr. Hitschler eben gestellt hat —, daß sich jetzt die einmalige Chance bietet, diese Wohnungen zu günstigen Bedin-
Metadaten/Kopzeile:
19232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Parl. Staatssekretär Joachim Günthergungen an den Mieter als Eigentümer weiterzuverkaufen.
— Erzählen Sie doch nicht so etwas. Ich glaube, Herr Dr. Seifert, wir sind uns doch, wenn Sie ehrlich sind, von der Sache her einig. Sie sind zum Teil bei den Besuchen im Osten Deutschlands dabei gewesen: Wenn eine Kommune oder auch ein Unternehmen verantwortungsbewußt handelt, dann können Sie für 1200 DM pro Quadratmeter modernisierte und instandgesetzte Eigentumswohnungen erhalten. Das werden Sie in Zukunft nicht mehr erreichen. Das finde ich sozialverträglich, nicht das andere.
Zwei Worte noch, weil ich nun einmal bei den Wohnungen bin. Herr Dr. Janzen, Sie sagen: Die Wohnung war zu Zeiten der DDR ein Rückzugsort, um sich eine gewisse Nische zu erhalten. Ich möchte Ihnen vom Prinzip her nicht widersprechen. Ich glaube, über eines sind wir uns doch einig: Wir wollen diesen Rückzug auf keinen Fall in Wohnungen, wie sie zu DDR-Zeiten bestanden: mit Trockenklo auf halber Etage und fließendem Wasser an den Wänden. Deshalb müssen wir im Wohnungsbereich etwas tun. Dazu leistet im Endeffekt auch die Privatisierung einen wesentlichen Beitrag.
Die Mieterprivatisierung ist sicher ein nicht einfaches Unterfangen. Eines wird immer wieder vergessen: Wir haben zehn Jahre Zeit, um das Ganze durchzuführen. Wir wollen, daß es schneller geht, um diese Chance im gegenwärtigen Augenblick zu nutzen.Herr Großmann, Sie selbst kennen doch Genossen Ihrer Partei, die große Wohnungsunternehmen im Osten führen und uns vormachen, daß dies in kurzer Zeit umsetzbar ist, wenn der Wille im jeweiligen Unternehmen vorhanden ist.
Meine Damen und Herren, der Privatisierungserfolg hängt davon ab, wie man an diese Aufgabe herangeht und wie die Unternehmen mit den jeweiligen Mietern das Gespräch führen. Da nützen Emotionen und Verunsicherungen nichts, sondern nur detaillierte Auskünfte.Ein Wort — ich habe nur noch eine Minute — zu den Genossenschaften. Ich glaube, die Genossenschaften sind eigentlich diejenigen Unternehmen, die zu günstigsten Konditionen auf Grund der Zuordnung des Grund und Bodens per Gesetz ihre Ausgangssituation im Osten erhalten haben.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Frage zu beantworten?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Großmann.
Herr Staatssekretär, damit wir uns hier nicht zerstreiten: Sind Sie bereit zuzugeben, daß in unserem Antrag diese 15 % nicht generell in Frage gestellt werden, daß es also nicht um die Frage „Privatisierung — ja oder nein?" geht, sondern nur darum, daß es unter Umständen — oder sogar höchstwahrscheinlich — einige Wohnungsunternehmen gibt, die auf Grund der Struktur ihres Wohnungsbestandes diese 15 % auch in zehn Jahren nicht privatisieren können?
Herr Großmann, das erkenne ich vollkommen an. Sie wissen, daß ich keiner bin, der ständig auf bestimmten Ritualen herumreitet. Dort, wo sich absolut keine Lösungen anbieten, muß es zu Ausnahmelösungen kommen.
Ich glaube aber, im Moment hat die Privatisierung zu den Konditionen für den Mieter den Vorrang, und dann reden wir über die Ausgangslösung, die das Gesetz vorsieht.
Ein Wort zum Schluß. Meine Damen und Herren, es nützt nichts, diese Anträge wieder auf den Weg zu bringen. Sie würden zusätzliche Verunsicherungen bei den Mietern und bei den Vermietern bringen. Sie würden die Unternehmen warten lassen, diese Umsetzung zügig voranzutreiben. Wir wissen, wie lange sie in der Hoffnung gelebt haben, daß die Schulden generell erlassen werden. Das bringt uns nicht voran. Die klaren Entscheidungen liegen jetzt vor, und wir wollen sie umsetzen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/7054 und 12/6746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall, und ich kann das als beschlossen feststellen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, Ingrid Köppe, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleichstellung von Menschen mit Behinderungen— Drucksache 12/6981 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19233
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergDer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann kann ich dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Menschen mit Behinderungen werden in unserem Land noch immer in vielen Lebensbereichen diskriminiert. Auch der Deutsche Bundestag nimmt sich erst zu später Stunde Zeit, um den Problemen von Behinderten Gehör zu schenken.
Die Diskriminierung beginnt bei der neuerdings an deutschen Universitäten wieder diskutierten Frage, ob schwerbehinderte Neugeborene überhaupt ein Lebensrecht haben. Ich unterstütze nachdrücklich die soeben gestellte Forderung des Forums der behinderten Juristinnen und Juristen, das Lebensrecht für Behinderte ausdrücklich in das Grundgesetz aufzunehmen.
Angesichts der Erfahrung mit der massenhaften Ermordung Behinderter im Dritten Reich wissen wir, wie leicht aus einer akademischen Debatte verbrecherisches Handeln werden kann.Ich habe in der DDR einen Film über körperbehinderte Kinder gedreht. Der Protagonist meines Filmes war ein Junge, der mit offenem Rückgrat geboren worden war. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben und den Eltern geraten, den Jungen nicht am Leben zu lassen. Die Eltern haben das nicht akzeptiert. Der Vater ist, weil kein Krankenwagen zur Verfügung stand, mit dem Neugeborenen auf dem Arm mit der Eisenbahn von Vetschau nach Leipzig gefahren, wo der Junge operiert wurde.Ich habe ihn zwölf Jahre später als einen lebensfrohen, glücklichen Menschen kennengelernt, der zwar sein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen ist, aber von einer Lebensfreude und Lebenskraft war, die mich beschämt hat.
— Und ist. So ist es. — In vielem war und ist er Gleichaltrigen überlegen. Später hat er studiert, hat geheiratet und sich aktiv für die Belange Behinderter eingesetzt, und er tut dies auch heute noch.Unsere gemeinsame Aufgabe muß es sein, alle, aber auch alle nur denkbaren Voraussetzungen zu schaffen, damit Behinderten ein gleichberechtigtes Leben in unserer Gesellschaft möglich wird.Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat daher von Anfang an die Forderung unterstützt, ein Verbot der Benachteiligung von Behinderten ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Regierungsparteien verweigern dies u. a. mit der Begründung, dadurch würden ungerechtfertigte Hoffnungen erweckt. Durch die Aufnahme Behinderter in die Verfassung verkomme diese zu einem „Warenhauskatalog", erklärten Vertreter der Regierungsfraktionen am 4. Februar 1994 im Deutschen Bundestag.Der Kollege Dr. Hitschler fragte in dieser Debatte, ob man bei diesem Verfassungsverständnis dann nicht nur sozial benachteiligte Gruppen aufnehmen müßte, sondern auch — ich zitiere — „andere Gruppen, die in unserer Gesellschaft im Alltagsleben in gewisser Weise benachteiligt sind, beispielsweise Linkshänder und Brillenträger".Herr Irmer, gleichfalls F.D.P., ergänzte — ich zitiere wiederum —: „Das wäre folgerichtig. Man könnte da in die einzelnen Verästelungen gehen, und dann könnte jemand kommen und sagen, daß das dann auch die Kleinwüchsigen oder die Glatzköpfigen sind. "Gerade dieser kurze Dialog im Deutschen Bundestag war ein typisches Beispiel für die allgegenwärtige Diskriminierung von Behinderten in unserer Gesellschaft. Wer bis dahin nicht von der Notwendigkeit eines im Grundgesetz verankerten Diskriminierungsverbots überzeugt war, mußte es nach den Auslassungen der Kollegen Dr. Hitschler und Irmer sein. Das — erlauben Sie mir diese persönliche Bemerkung — war wirklich keine Sternstunde des Liberalismus.Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat im vorliegenden Antrag die Mindestanforderungen an ein Antidiskriminierungsgesetz für Menschen mit Behinderungen skizziert. Kernbereiche sind dabei Beschäftigung und berufliche Rehabilitation, insbesondere die Förderung behinderter Frauen, behindertengerechtes Bauen und Wohnen, öffentlicher Personennahverkehr und Telekommunikation. Auch im Sozialrecht soll nicht weiterhin einseitig in Beton und ausgrenzende Einrichtungen investiert werden. Statt dessen sind Unterstützungsangebote für die einzelnen Behinderten, vor allem durch Betroffene selbst, zu fördern. Dazu gehört für uns unabdingbar die Einführung einer bedarfsangemessenen und solidarischen Pflegeabsicherung.Ende 1991 gab es in den alten Bundesländern 5,37 Millionen amtlich anerkannte Schwerbehinderte, davon etwa ein Viertel mit einem Behinderungsgrad von 100 %. Die Sozialkürzungen der vergangenen Jahre, insbesondere in den Bereichen des Gesundheitswesens und der Arbeitsförderung, trafen Behinderte hart.Die soziale Lage von Menschen mit Behinderungen wird jedoch auch mehr und mehr durch Maßnahmen unterhalb der Gesetzesebene beeinträchtigt. So zeichnet sich seit einiger Zeit ab, daß — in der Folge einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. April 1993 — die Sozialhilfeträger auf die Ersparnisse von Menschen zurückgreifen, die in Werkstätten für Behinderte beschäftigt sind.
— Sie haben recht, Herr Kollege Seifert. — Mir ist u. a. ein Fall bekanntgeworden, in dem sogar eine Schmerzensgeldabfindung eingesetzt werden mußte.
Diese völlig verfehlte Sparpolitik steht im Widerspruch zu den Grundgedanken und Zielen der Ein-
Metadaten/Kopzeile:
19234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Konrad Weiß
gliederungshilfe. Betroffen sind potentiell 140 000 Menschen, die noch immer für einen Lohn von ca. 220 DM im Monat bis zu acht Stunden täglich arbeiten. Indem Behinderte für die Beschäftigungsmöglichkeit in einer Werkstatt für Behinderte nun auch noch bezahlen müssen, wird die Ausgliederung von Menschen mit Behinderungen aktiv befördert und eine Eingliederung geradezu verhindert.Die historische Chance, in den ostdeutschen Bundesländern auch neue Modelle, vor allem der ambulanten und dezentralen Hilfe, flächendeckend zu installieren, wurde nicht genutzt. Statt dessen werden vor allem Aussonderungseinrichtungen — Heime, Werkstätten für Behinderte, Sonderschulen etc. — gebaut.
— Ja. — Behinderte, die zuvor in normalen Betrieben gearbeitet haben, wurden in Sonderwerkstätten ausgesondert. Die jedem Behinderten zustehende Invalidenrente wurde gestrichen.Die Bundesregierung betreibt nach wie vor die traditionelle Politik als Sozialpolitik mit Entsorgungsmentalität. Es geht ihr darum, die Behinderten irgendwie unterzubringen und zu versorgen, um die Gesellschaft möglichst behindertenfrei zu halten. Integration wird allenfalls als Anpassung der behinderten Menschen an eine von Nichtbehinderten geprägte Umwelt betrieben. Emanzipation und aktive Selbstbestimmung werden geradezu verhindert.Wegen der Nichterfüllung der Pflichtquote für die Beschäftigung Schwerbehinderter hatte der Bund für das Jahr 1992 15,1 Millionen DM Ausgleichsabgabe zu zahlen. Mehr als 6 600 Pflichtarbeitsplätze des Bundes waren nicht mit Schwerbehinderten besetzt.
Ich denke, wir als unmittelbar für den Bund verantwortliche Parlamentarier dürfen das nicht mit einem Achselzucken hinnehmen, sondern sollten gemeinsam von der Bundesregierung und den Bundesbehörden verlangen, bei der Beschäftigung von Behinderten mit gutem Beispiel voranzugehen.
Auch die neue Pflegeversicherung ist als soziotechnokratisches Modell konzipiert, das die Selbstbestimmung und Individualität von Behinderten rigoros beschränkt.
Von den Betroffenen selbst beschaffte Pflegekräfte werden nicht finanziert. Es müssen Vertragsdienste der Pflegekassen in Anspruch genommen werden. Urlaub für Pflegebedürftige im Ausland wird nicht mehr möglich sein, weil die Leistungen bei Auslandsaufenthalten eingestellt werden. Dies läuft auf ein faktisches Reiseverbot für Behinderte, die persönliche Hilfen benötigen, hinaus. Bei Heimunterbringung werden höhere Leistungen erbracht als bei ambulanter Hilfe, was einen Sog in die Heime hervorrufen wird.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verstehen Behindertenpolitik als von Behinderten und durch Behinderte formulierte Politik. Behindertenpolitik darf nicht länger allein als Sozialversorgungspolitik verstanden werden, sondern muß vor allem Bürgerrechtspolitik sein.
Die Behinderten müssen in allen Lebensbereichen gleiche Rechte haben und vor allem auch die Möglichkeit bekommen, diese durchzusetzen. Menschen mit Behinderung haben ein Anrecht auf eine nicht behindernde Umwelt.
Dem sozialen Rechtsstaat kommt dabei die Aufgabe zu, die Rahmenbedingungen für eine möglichst uneingeschränkte Entfaltung der Persönlichkeit sowie für die demokratische und soziale Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Dem soll der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Ihnen vorliegt, dienen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit zu später Stunde.
Als nächste hat das Wort unsere Kollegin Gertrud Dempwolf.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Weiß, ich schätze Ihre Art, und ich schätze oft auch Ihre Erfahrungswerte. Aber ich habe heute den Eindruck, daß Sie nicht von der Bundesrepublik Deutschland sprechen, sondern noch im geteilten Deutschland sind.Und da gebe ich Ihnen recht: Ich habe auch bis zur Wende Rollstühle nach Nordhausen gebracht und dort Behinderte betreut. Es gab damals dort ein siebzehnjähriges Mädchen, das in ihrem ganzen langen Behindertenleben noch niemals in der Innenstadt war. Der Vater hatte eine Karre mit vier Rädern gebaut, und auf dieser Karre wurde das Mädchen transportiert, bis es von uns einen Rollstuhl bekam.Das waren schlimme Zustände, und es ist gut, daß sich in der Zwischenzeit vieles geändert hat.
Es ist nicht richtig, wenn Sie heute sagen, daß Behinderte in der Bundesrepublik diskriminiert werden. Dagegen verwahre ich mich ganz energisch. Behinderte sind Bürger mit allen Rechten und mit allen Pflichten.
— Das habe ich ja selbst erlebt. Da gab es nicht einmal einen Rollstuhl. Da gab es alles das nicht, was ich heute in Ihrem Antrag lese.Wir haben Sonderkindergärten, die Sie als nicht gerecht empfinden; Sie sagen, daß den Kindern der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19235
Gertrud Dempwolfnormale Weg hier versperrt wird. Herr Kollege Weiß, wir haben Sonderkindergärten — und ich stehe dazu —, um diese behinderten Kinder ganz besonders zu fördern.
Frau Kollegin Dempwolf, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert beantworten?
Nein, ich habe nur fünf Minuten.
Das wird nicht angerechnet.
Ich muß gleich bei Ihnen da oben sitzen, und meine Kollegen warten darauf, daß sie abgelöst werden. Wir können uns nachher weiter darüber unterhalten.
Wir haben beim Personennahverkehr noch einiges zu tun; da gebe ich Ihnen recht. Der Großteil des behindertengerechten Bauens findet in öffentlichen Gebäuden statt, und dort, wo heute neu gebaut wird, wird behindertengerechtes Bauen berücksichtigt. Darauf achten wir sehr stark.
Die behindertengerechten Wohnungen sind bei uns in der Überzahl.
Herr Kollege Weiß, ich komme aus Hannover. Ich betreue einige Behindertengruppen und bin ständig mit diesen Leuten in Kontakt. Was Sie vorhin hier vorgetragen haben, sehen die tatsächlich Behinderten nicht so. Sie wollen nicht Menschen einer anderen Klasse sein, sondern wollen wie jeder andere normale Mensch leben.
Die Bundesregierung hat im Laufe der Jahre für Behinderte schon sehr viel getan. Wir haben in der Bundesrepublik seit 30 Jahren die „Lebenshilfe"; sie feiert heute ihren dreißigsten Geburtstag. Es sind Milliardenbeträge an Spenden aus der Bevölkerung gekommen. Es ist sehr vieles für Behinderte besonders aus diesem Fonds getan worden.
Das alles bezog sich auf Ihre Rede. Ich habe mein Konzept noch gar nicht benutzt.
Vielleicht in aller Kürze noch folgendes. Insgesamt verfügt unser Land auch im internationalen Vergleich und trotz aller — wie ich zugebe — Verbesserungsnotwendigkeiten über ein umfassendes Sozialleistungssystem besonders für Behinderte. Wir werden in Kürze den Dritten Behindertenbericht im Ausschuß beraten, und ich denke, Herr Kollege Weiß, daß wir uns darüber noch ausgiebig werden unterhalten können.
Ich bedanke mich.
Als nächste hat die Kollegin Regina Kolbe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde sprechen wir heute über die Belange von Menschen mit Behinderungen. Leider steht bis heute eine Politik zur Beseitigung bestehender Nachteile von Menschen mit Behinderungen vor Grenzen, und zwar vor den Grenzen in den Köpfen der Menschen.Abweichungen von der körperlichen Norm und von der Leistungsfähigkeit, aber auch Ängste vor einer möglichen eigenen Behinderung sind im weitesten Sinne in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema. Solange eine Behinderung den Sonderstatus Krankheit erfährt, der nur von Fachleuten behandelt und therapiert werden kann, wird eine wahrhafte Integration nicht zu erreichen sein. Grundprinzip muß Gleichstellung und Selbstbestimmung sein, um Ausgrenzung und Isolation zu verhindern. Dafür muß die Gestaltung des Lebensumfelds an den Bedürfnissen der Behinderten ausgerichtet werden und nicht umgekehrt.
Deshalb muß Behindertenpolitik als eine Querschnittaufgabe betrachtet werden.Für jeden, der politisch Verantwortung trägt, ob im Gemeindeparlament oder hier in Bonn, muß dieses zur Selbstverständlichkeit werden. Behindertenpolitik kann und darf keine alleinige Aufgabe der Arbeits- und Sozialausschüsse sein. Die Berücksichtigung behindertenpolitischer Belange ist keine wohlfahrtsstaatliche Angelegenheit, sondern ein Bürgerrecht.
Ein wesentlicher Schritt auf diesem Weg ist die Verankerung eines Benachteiligungsverbotes far Behinderte in der Verfassung. Daß die Frage eines Benachteiligungsverbotes nichts mit einem Warenhauskatalog zu tun hat, beweist z. B. die Tatsache, daß einige Bundesländer, wie Berlin, Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, entsprechende Passagen in ihren Landesverfassungen eingeführt haben. Auch das Saarland wird dieses demnächst in seiner Landesverfassung haben. Ich gehe davon aus, daß die genannten CDU-regierten Bundesländer nicht gegen ihre eigenen Landesverfassungen bei der Abstimmung im Bundesrat votieren werden.Die SPD hat einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem das Benachteiligungsverbot verankert ist. Ein Benachteiligungsverbot würde grundsätzlich die materiellen Rechte der Behinderten stärken, die Integration fördern und eine Wertentscheidung zugunsten Behinderter darstellen.
Das Flensburger Urteil wäre dann nicht mehr möglich.Weitere wichtige Bestandteile der Gestaltung des Lebensumfeldes von Menschen mit Behinderungen sind barrierefreies Wohnen, Freizeitgestaltung, Mobilität und Reisen. Ein entsprechender Antrag der SPD liegt dem Bundestag zur Beratung vor. Bis heute sind
Metadaten/Kopzeile:
19236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Regina Kolbegemeinsame Beschlüsse aus der letzten Wahlperiode, die alle Fraktionen gefaßt haben, von der Bundesregierung nur halbherzig umgesetzt worden.
Meine Damen und Herren, zahlreiche Hürden sind zu überwinden. Eine Integration schon in Schule und Kindergarten ist wichtig. Oftmals scheitert diese aber an der fehlenden Barrierefreiheit.Öffentliche Neubauten müßten grundsätzlich schon bei der Planung eine behindertengerechte Ausgestaltung berücksichtigen. Zwingend wäre deshalb eine Veränderung der Bundesbauverordnung und entsprechender Länderbauverordnungen für öffentliche Bauten.
Eine Baugenehmigung sollte z. B. nicht erteilt werden können, wenn entsprechende DIN-Vorschriften bei der Planung nicht berücksichtigt würden.
Wie zwingend diese Forderung ist, kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Der neue Plenarsaal ist bei seiner Eröffnung durch die Medien gegangen. Aber wenn Sie sich diese Rampe ansehen: 11 % Gefälle. Laut DIN-Norm dürften es nur 6 % sein. Im Juli 1990, aus gegebenem Anlaß, hat man im Prinzip erst angefangen, das zu berücksichtigen. Man hat bei der Bauplanung des Plenarsaals die Anliegen Mobilitätsbehinderter und sensorisch beeinträchtigter Menschen nicht berücksichtigt.
— Ja, davon gehe ich aus.
Übrigens, lange hat es gedauert, aber bald werden behinderte Menschen nicht mehr den Lieferanteneingang am Langen Eugen benutzen müssen. Die Lösung ist so einfach. Wieviel Jahre mußte darauf gewartet werden?Ein zweites Beispiel, wo der Bund seiner Vorbildfunktion als Gesetzgeber nicht gerecht wird, ist die Beschäftigung von Schwerbehinderten. Seit 1990 muß nämlich schon die Ausgleichsabgabe gezahlt werden. Es nützen auch Appelle an die Privatwirtschaft und an die Länder nichts, wenn man seine eigenen Gesetze nicht ernst nimmt.In diesem Hause wurde heute das Gleichstellungsgesetz der Bundesregierung verabschiedet. Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf die Defizite dieses Gesetzes eingehen. Daß Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen benachteiligt sind und werden, ist eine Tatsache. Auch die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen wird allgemein anerkannt.Ich übertreibe also nicht, wenn ich davon spreche, daß Frauen mit Behinderungen eine doppelte Benachteiligung erfahren.
Frauen mit Behinderungen scheinen nicht so gesellschaftsfähig zu sein wie Männer mit Behinderungen. Das läßt sich einfach an Zahlen verdeutlichen. Nur 41 % der Frauen leben in Partnerschaften oder sind verheiratet. Bei den Männern sind es 76 %. Nur 18 % der Frauen mit Behinderungen sind erwerbstätig. Deshalb sind arbeitsmarktpolitische Förderkonzepte für Frauen mit Behinderungen dringend notwendig. Vor allem der Arbeitsplatz bietet die Möglichkeit für ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben.
Auch der Zugang zur beruflichen Rehabilitation muß verändert werden. Der Anspruch auf berufliche Rehabilitation darf nicht mehr allein von der vorhergehenden Erwerbstätigkeit abhängig gemacht werden. Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, daß körperliche Schädigungen erst dann zur Behinderung werden, wenn der Betroffene eine Benachteiligung auf Grund seiner Schädigung in der Gesellschaft erfährt.
Soziale und gesellschaftliche Aspekte in Verbindung mit den Merkmalen der Schädigung bewirken also gemeinsam das Phänomen der Behinderung. Viele Minderwertigkeitsgefühle entstehen erst durch die Erfahrung in der Gesellschaft und nicht durch die Behinderung an sich.Meine Damen und Herren, angesichts der täglichen leidvollen Erfahrungen der Diskriminierung und der zahlreichen gewalttätigen Übergriffe gegenüber Menschen mit Behinderungen müssen wir dringend ein Zeichen zur Gleichstellung setzen. Ein erster wesentlicher Schritt ist meines Erachtens die Position behinderter Menschen in unserer Gesellschaft zu stärken.
Dieser liegt meines Erachtens nach in der verfassungsrechtlichen Verankerung eines Benachteiligungsverbots. Wir sollten als Parlamentarier diese Chance nicht versäumen.Danke.
Nun spricht unsere Kollegin Dr. Eva Pohl.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kernpunkt des hier von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegten Antrages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist die Forderung nach einer Aufnahme der Gruppe der Behinderten in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes, also unter jenen Gruppen und Minderheiten in unserer Gesellschaft,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19237
Dr. Eva Pohldie besonders vor Benachteiligung zu schützen, ausdrücklich zu achten oder zu fördern sind.Mit diesem Antrag greift BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erneut eines j ener Benachteiligungsverbote auf, die im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission in den letzten zwei Jahren ausführlich erörtert wurden und, da sie in der Kommission ohne die erforderliche Zweidrittelmehrheit blieben, letztendlich auch keine Empfehlung zur Aufnahme in unser Grundgesetz erhielten.Lassen Sie mich noch einmal die drei Hauptaspekte herauspräparieren, die gegen eine Empfehlung zur Erweiterung des Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes sprachen.Erstens, Auch ohne eine explizite Erwähnung in Art. 3 besteht eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung durch das in Art. 20 verankerte Sozialstaatsprinzip.
Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verspricht jedwedem sozial Benachteiligten ein Höchstmaß an sozialer Chancengleichheit. Aus diesem Grunde sehen wir keinen verfassungsrechtlichen Änderungsbedarf.Zweitens. Die Aufnahme eines Gleichbehandlungsgebotes für behinderte Menschen hätte ohne Zweifel präjudizierenden Charakter für andere Gruppen der Gesellschaft wie Kranke, Obdachlose oder Verbrechensopfer. Diesen genannten Gruppen hätte man die Aufnahme in das Grundgesetz schwerlich verweigern können. Unsere Verfassung hätte dadurch ernsthaft Schaden nehmen können.
Drittens. Mit der Aufnahme eines Diskriminierungsverbotes zugunsten Behinderter wären — das muß ehrlicherweise auch gesagt werden — Erwartungen geweckt worden, die der Staat nicht hätte befriedigen können.
Die Enttäuschung bei den Betroffenen wäre beizeiten urn so größer gewesen.Glauben Sie denn ernsthaft, daß durch die bloße Aufnahme eines Diskriminierungsverbotes die tatsächliche Lebenssituation von behinderten Mitbürgern verändert würde?
Sie haben gerade selbst gesagt: Die Schranken sind im Kopf der Menschen. Aber die können Sie nicht per Gesetz niederreißen.Meine Damen und Herren, wir haben dieser Tage den Dritten Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation erhalten. Dieses umfangreiche Werk zeichnet ausführlich und, wie ich meine, objektiv die momentane Situation der Behinderten nach.
Frau Kollegin Pohl, würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ich möchte erst meine Rede beenden; denn ich kann mir denken, welche Frage Frau Kolbe stellt. Die beantworte ich ihr mit dem kommenden Satz.
Trotz erheblicher Verbesserungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten für unsere behinderten Mitbürger erreicht wurden — ich denke dabei vor allem an die größer gewordene Mobilität —, bleibt nach dem Studium des Berichts ein etwas bitterer Geschmack zurück. Auf zu vielen Feldern sehen wir noch zuwenig Licht und zuviel Schatten, auch wenn die Entwicklung auf dem richtigen Weg fortschreitet.
Ich möchte hier insbesondere mein absolutes Unverständnis darüber äußern, daß der Großteil der öffentlichen Arbeitgeber die vorgesehene Mindestquote für die Beschäftigung von Schwerbehinderten nicht zu erfüllen vermag.
Aber, meine Damen und Herren, bei diesen offenkundigen Defiziten — das ist das Entscheidende in diesem Zusammenhang — handelt es sich — wie es der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission treffend formulierte — „um Vollzugsdefizite der einfachen Gesetzgebung bzw. um Alltagsprobleme im normalen mitmenschlichen Umgang, die sich nicht auf der Ebene des Grundgesetzes lösen ließen". Dort müssen wir ansetzen. Dort werden wir auch Erfolg haben.
Aus diesen Erwägungen muß die F.D.P.-Fraktion den Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ablehnen.
Ich bedanke mich.
Nun hat der Kollege Dr. Ilja Seifert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Sozialfälle, verehrte Kollegin, von denen Sie gerade sprachen, sind Menschen, die u. a. behindert sind, nicht Behinderte, die u. a. Menschen sind. Das ist ein gewaltiger Unterschied.Der Dritte Bericht zur Lage der Behinderten in der Bundesrepublik Deutschland — ich würde mich
Metadaten/Kopzeile:
19238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Ilja Seifertfreuen, wenn der Herr Kollege Regenspurger auch etwas sagen würde; aber er darf hier ja offenbar nicht reden —
— oder er will nicht reden; vielleicht hat er auch Angst davor —
weist darauf hin, daß trotz vieler unbestreitbarer Fortschritte in den letzten Jahren eine tatsächliche Chancengleichheit von Behinderten mit Nichtbehinderten allerdings noch immer nicht erreicht ist.Vielfach fühlen sich behinderte Menschen von einer neuen Behindertenfeindlichkeit und von Verwertungs- und Brauchbarkeitsdiskussionen offen bedroht. Die Schlußfolgerung aus dieser Feststellung müßte lauten: Aufnahme eines Diskriminierungsverbotes und eines Nachteilsausgleichsgebotes in das Grundgesetz.Insofern stimme ich dem Antrag des BÜNDNISSES 90 mit Freuden zu, würde Sie, Herr Weiß, allerdings bitten, für Art. 3 Abs. 4 des Grundgesetzes folgende Formulierung vorzuschlagen: „Maßnahmen zur Förderung von Frauen und Menschen mit Behinderungen zum Ausgleich bestehender Nachteile sind keine Bevorzugung wegen des Geschlechts bzw. wegen der körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigung." Das wäre nur logisch.Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zeigt sich besonders im Arbeitsleben. Das wurde hier schon mehrfach betont. Da ich nicht so viel Redezeit habe wie Sie, werde ich das jetzt nicht weiter ausführen.Aber besonders diskriminiert — und zwar mit höchstrichterlicher Hilfe — sind Menschen mit geistiger Behinderung. Ich bin nicht unbedingt ein Anhänger von Werkstätten für Behinderte. Sie erfüllten ihre Aufgabe, nämlich die Vorbereitung auf den ersten Arbeitsmarkt, wohl noch nie. Dennoch boten und bieten sie ein gewisses Maß an Arbeit und sozialer Kommunikation; letzteres ist nicht zu unterschätzen. Jetzt sollen die in Werkstätten für Behinderte Beschäftigten für ihren Arbeitsplatz auch noch selbst zahlen. Welch ein Sozialstaat!Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom April vergangenen Jahres — man stelle sich vor, das hätte ein DDR-Gericht getan — könnte Ausgangspunkt für die rigideste Beschneidung aller Leistungen für Menschen mit Behinderungen werden. Ich frage: Ist zu erwarten, daß jetzt auch Mobilitätshilfen, z. B. der Berliner Telebus, oder Hilfsmittel nur noch bei Heranziehung des Vermögens gewährt werden? Ich betrachte dieses Urteil als einen generellen staatlichen Angriff auf Ersparnisse, Eigentum und Alterssicherung von Menschen mit Behinderungen.Es gäbe zwei Möglichkeiten, wirkliche Gleichheit herzustellen. Entweder bringen in Zukunft alle Minister, Abgeordneten und Richter so lange ihr Geld zur Arbeitsstelle, bis sie unter den Sozialhilfesatz fallen — dann wäre reale Gleichheit gegeben —, oder Menschen mit Behinderungen wird eine reale Gleichheit zugestanden. Das könnte man u. a. dadurch erleichtern, daß es im Grundgesetz festgelegt wäre.Keine Sorge: Wir haben genügend Kraft, uns dann auch die Rechte, die wir brauchen, zu erkämpfen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nun hat Frau Parlamentarische Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Vertreterin des Bundesministeriums für Familie und Senioren, das für Fragen der sozialen Eingliederung und gesellschaftlichen Teilhabe behinderter Menschen zuständig ist, möchte ich auf einige Schwerpunkte der gegenwärtigen Diskussion über die Situation behinderter Menschen und ihrer Angehörigen eingehen.
Gleichberechtigtes Zusammenleben behinderter und nichtbehinderter Menschen muß das Ziel aller sozialpolitischen Maßnahmen sein.
Darüber besteht weitgehend Einigkeit zwischen den gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen. Einigkeit, Herr Kollege Seifert, besteht auch darüber, daß die volle Integration behinderter Menschen in vielen Bereichen unseres Alltags noch nicht erreicht ist. Dagegen gibt es über die Mittel und Wege, wie dieses Ziel zu erreichen ist und was in einem bestimmten zeitlichen Rahmen realistischerweise umgesetzt werden kann, sehr unterschiedliche Vorstellungen, über die auch gestritten werden muß, um schließlich unter den gegenwärtigen Bedingungen praktikable und dennoch zukunftsorientierte Weiterentwicklungen zu ermöglichen.
Herr Kollege Weiß, ich möchte hervorheben, daß das Grundgesetz für unser Land jedem einzelnen Menschen das Recht auf ein Leben in Würde, auf körperliche Unversehrtheit und auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit garantiert. Diese Grundrechte schließen niemanden aus. Menschen mit Behinderungen, welcher Art und Schwere auch immer, haben daran genauso teil wie Menschen ohne Behinderungen. Die von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und auch von seiten vieler Behindertenverbände erhobene Forderung nach einem eigenen Gleichstellungsgesetz für Behinderte läßt meines Erachtens diese bereits gegebene Garantie unserer Verfassung außer acht.
Frau Staatssekretärin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert gestatten?
Ja, bitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19239
Herr Kollege.
Frau Staatssekretärin, den eben von Ihnen geschilderten Fakt kennt ja jeder. Ich frage Sie: Will die Regierung nicht irgendwann einmal anerkennen, daß, wenn so viele Menschen mit Behinderungen und fast alle Organisationen von Menschen mit Behinderungen sich diskriminiert fühlen und wünschen, im Grundgesetz besonders berücksichtigt zu werden, weil sie glauben, damit ihre Situation verbessern zu können, dann die Regierung das irgendwann einmal ernst nehmen müßte?
Herr Kollege Seifert, ich glaube nicht, daß die Behinderten in Deutschland sich grundsätzlich alle diskriminiert fühlen; das sagen auch die Behindertenverbände nicht. Sie wollen, daß weitere Fortschritte erzielt werden hin auf ein integriertes Leben so normal wie möglich. Sie meinen, daß mit einer Grundgesetzformel dies vorangetrieben werden könnte. Ich gehe in meinem Beitrag noch darauf ein, worin ich Wege dafür sehe.Zu den Feststellungen und Forderungen des vorliegenden Antrags, der im übrigen manche Ansatzpunkte enthält, über die wir im Deutschen Bundestag weitgehend Konsens haben, will ich nicht im einzelnen und erschöpfend Stellung nehmen, schon deshalb nicht, weil hier die Zuständigkeit vieler Ressorts berührt ist. Aber es ist unbestritten, daß es trotz vieler beachtlicher Fortschritte — davon war schon die Rede —, die wir in der Politik für Behinderte und ihre Angehörigen verzeichnen können, noch immer Defizite gibt, die einer tatsächlichen Chancengleichheit im Wege stehen. Ich verweise auf die angeführten zahlreichen Barrieren bei öffentlichen Verkehrsmitteln, die festzustellenden Vernachlässigungen bei behindertengerechten Konzepten, beim Bau von öffentlichen Gebäuden usw.; das will ich gar nicht wiederholen.Auch die besondere Benachteiligung behinderter Frauen muß stärker ins Bewußtsein gerückt werden und erfordert gezielte Maßnahmen. Zum Beispiel wird nur etwa ein Drittel aller beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen von behinderten Frauen in Anspruch genommen. Das hat Gründe: Ein häufig zentral organisiertes wohnortfernes Rehabilitations- und Umschulungsangebot kann gerade Frauen mit Familienpflichten eine Teilnahme erschweren oder unmöglich machen. Oder denken wir an Mütter behinderter Kinder: Auch diesen muß die Möglichkeit gegeben werden, neben Betreuung und Pflege ihres Kindes eigene Lebensperspektiven zu haben.Erfolgversprechendere Ansatzpunkte, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die geforderte Chancengleichheit sehe ich, sieht die Bundesregierung in Schritt für Schritt möglichen Änderungen konkreter Gesetze in den verschiedenen Rechtsbereichen, mit denen eingliederungshemmende Regelungen abgebaut werden können. Diesen Weg haben wir bisher beschritten. Er hat die Fortschritte gebracht, von denen die Rede ist. Eben ist der Dritte Bericht zur Gleichstellung der Behinderten und zur Entwicklungder Rehabilitation von Herrn Seifert angesprochen worden. Dieser Bericht stellt das alles dar.
Gleichwohl, liebe Kollegen, Herr Seifert, muß man sicher darüber nachdenken, ob es bei der Einordnung des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts in das Sozialgesetzbuch IX etwa die Möglichkeit gibt, ein Verbot zu normieren, Menschen wegen ihrer Behinderung zu benachteiligen.
— Gut, es muß die richtige Stelle sein. Davon reden wir hier ja.
Die Überlegungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen, aber auf jeden Fall müßte durch angemessene Übergangsvorschriften der Versuch gemacht werden, praktikable Wege zur Umsetzung zu finden. Indem man es hineinschreibt, sind sie noch nicht da und auch nicht finanziert und noch nicht gesetzlich geregelt.
Die ungelösten Probleme der Eingliederung behinderter Menschen ebenso wie die zweifellos erreichten Fortschritte sind Gegenstand des Berichts, von dem die Rede war.Meine Damen und Herren, leben so normal wie möglich — das ist eine heute schon für sehr viele Menschen selbstverständliche Forderung geworden, doch hat sie von ihren Anfängen in den 70er Jahren bis heute einen langen und beschwerlichen Weg genommen. Durch die anhaltend rasante Entwicklung von Medizin und Technologie erhält die Forderung neue Aktualität und eine neue Dimension: Viele betroffene Eltern, viele behinderte Erwachsene, aber auch andere politisch bewußte Bürgerinnen und Bürger machen sich Sorgen, daß durch die ständig sich erweiternden Möglichkeiten von Diagnostik und medizinischen Eingriffen die Akzeptanz behinderten Lebens und eines solidarischen, nicht aussondernden Miteinanders in der Gesellschaft beschädigt wird. Solchen Diskussionen muß rechtzeitig und entschieden entgegengetreten werden. Es steht keinem von uns zu, über Lebensqualität im Zusammenhang mit Behinderung zu urteilen. Die wieder neu belebte öffentliche Diskussion über Euthanasie und Sterbehilfe zeigt, daß das Ziel der Integration und Normalisierung immer wieder gefährdet ist.
Meine Damen und Herren, in der angespannten Finanzsituation ist es schwieriger geworden, Verbesserungen im sozialpolitischen Bereich,
Metadaten/Kopzeile:
19240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonküber deren Notwendigkeit nicht gestritten werden müßte, in praktische Maßnahmen umzusetzen. Wenn also derzeit eher kleine Schritte getan werden können, so ist damit natürlich nicht gesagt, daß wir nicht weiterdenken sollten. Wir tim es, und deswegen sage ich Ihnen, Herr Seifert: Die Koalition und die Bundesregierung denken zur Zeit intensiv darüber nach, wie man auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das Sie angesprochen haben, reagieren kann. Wir sehen realistische Wege der Reaktion. Wir stehen in Verhandlungen mit dem Bundesrat, dessen Zustimmung erforderlich ist. Ich hoffe — und davon gehe ich aus —, daß wir in dieser Frage noch eine Regelung in den nächsten Wochen, also vor Ende der Legislaturperiode, erreichen können.
— Deswegen sage ich es ja heute abend schon.Ich denke, es besteht Einigkeit, daß es eine Gesamtverantwortung der Gesellschaft für ihre schwächeren Mitglieder gibt, die es zwingend erforderlich macht, Konzepte der Hilfe und Unterstützung weiterzuentwickeln. Diese Politik werden wir fortsetzen.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 12/6981 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 a bis c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15. Dezember 1992 über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE
— Drucksache 12/7137 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 13. Januar 1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen
— Drucksache 12/7206 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Ausschuß für Wirtschaft Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom 13. Januar 1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen
— Drucksache 12/7207 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen einen irgendwie gearteten Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Herrn Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.
— Entschuldigung, ich habe mich geirrt. Als erster hat der Kollege Würzbach das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine verbundene Debatte. Zu dem Komplex KSZE wird mein Kollege Ruck reden. Ich will mich den Chemiewaffen zuwenden und über das Übereinkommen reden, das in Zukunft die Entwicklung, die Herstellung, die Lagerung und den Einsatz chemischer Waffen verbieten soll. Das Übereinkommen legt die Vernichtung aller bestehenden chemischen Waffen überall in der Welt fordernd fest.Kollege Schäfer, es ist, so glaube ich, gerade bei dieser Debatte — bei aller Gepflogenheit, das Parlament zuerst sprechen zu lassen — ziemlich egal, wer zuerst redet. Eines möchte ich aber zu Beginn sagen: Bei diesen beiden Themen hat besonders Deutschland — und hier die Bundesregierung — enorm viel Zeit und Kraft und alle Möglichkeiten, die man diplomatisch und politisch nutzen kann, eingesetzt, um diese beiden Dinge zum Erfolg zu bringen.Ich möchte für meine Fraktion unserer Bundesregierung hierfür Anerkennung zollen.
Der Kollege Ruck wird das bei der KSZE wiederholen, und ich sage das ganz deutlich für den Bereich der chemischen Waffen. Ich finde, das sollten wir auch hier im deutschen Parlament tun, denn international macht überhaupt keiner unserer Partner einen Hehl daraus, daß es die Deutschen waren, die hier ganz besonders erfolgreich gearbeitet haben.Dieses Abkommen wird erstmals in der Geschichte dieser schlimmen Waffen — der chemischen Waf-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19241
Peter Kurt Würzbachfen — die Chance geben, eine chemiewaffenfreie Welt zu schaffen, wenn sich wirklich alle Staaten hier anschließen und den Vertrag einhalten. Ich möchte uns gem daran erinnern, daß das ein Ziel gewesen ist — das hört sich fast unglaublich an —, an dem Regierungen, Nationen und einzelne Personen seit über 100 Jahren gearbeitet haben. Seitdem man damals entdeckte, was man mit diesen schlimmen chemischen Waffen durch kriegerischen Einsatz machen kann, haben sich Menschen, Regierungen und Staaten bemüht, diese Waffen zu ächten, wenn auch nur mit mittelmäßigem Erfolg.1874 ist die sogenannte Brüsseler Deklaration beschlossen worden. 1907 waren diese Waffen Bestandteil der Haager Landkriegsordnung. Und wir Deutsche wissen besonders — mit unseren heutigen Freunden und Partnern, den Franzosen — um die Einsätze von Lost, also von Senfgas, und ähnlichem.Nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahre 1925, ist das Genfer Protokoll verabschiedet worden, das die gewaltige Schwäche darin hatte, daß mächtige Staaten sogenannte Ausnahmeklauseln verabschieden konnten, also Vorbehalte, die das gewaltig abschwächten, beispielsweise mit dem Erfolg, daß nur der Ersteinsatz verboten war — eine Geschichte, die an bestimmte NATO-Doktrinen in der Zeit des Ost-West-Konflikts erinnert, als wir noch chemische Waffen hatten und dies uns auch zu eigen gemacht hatten.Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Nuklearwaffen im Mittelpunkt, und die chemischen Waffen waren zunächst in den Hintergrund gerückt. Dann gab es 1972 die Abmachungen über die B-Waffen, und nun verhandeln wir in Genf inzwischen 20 Jahre über dieses Übereinkommen. Als die Deutschen 1992 den Vorsitz übernommen hatten, ist in den ganz wichtigen, bis dahin scheinbar unlösbaren Schlüsselfragen eine Lösung gefunden worden.Inzwischen haben — das ist ein großer Erfolg — im November 1992 in der Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen über 150 Staaten diesem Abkommen zugestimmt, und das ohne Gegenstimme — ein großartiges Ergebnis, dem nun die Ratifikation folgen muß. Hierzu waren allerdings bisher nur sehr wenige Parlamente — weniger als Finger an einer Hand! — bereit. Deshalb begrüße ich, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland nunmehr die Ratifikation eingeleitet haben.Die Ausführungsgesetze dazu sind schwierig. Wir haben ein gutes erarbeitet. Ich hoffe, daß auch andere Staaten dies bald tun. Wir, Herr Kollege Schäfer, sollten bei unseren befreundeten Regierungen darauf hinwirken, daß möglichst schnell die geforderten 65 Staaten ratifizieren; denn dies ist als Hürde eingebaut, damit dieses Übereinkommen überhaupt in Kraft treten kann. Ist es dann in Kraft, haben wir mit diesem Übereinkommen ein Modell für eine Kooperation im Bereich der Rüstungskontrolle weltweit und verbieten erstmals in einer wirklich wasserdichten Form eine gesamte schlimme Waffenkategorie in allen Ländern dieser Erde.Dieses Übereinkommen beinhaltet — auch dies ein Unterschied zu früheren ähnlichen Abkommen überandere Waffenarten — Verifikationsbestimmungen, die sehr gründlich sind und, wenn sie ordentlich angewandt werden, keine Umgehung auf irgendwelchen Schleichwegen für den einen oder anderen Staat zulassen.Sie beinhalten Hilfen für Staaten, die dies selber technisch oder auch finanziell nicht können, sie beinhalten — ganz wichtig und sehr selten in solchen Verträgen — Sanktionen bis hin zum Anruf des Sicherheitsrates, und — auch ein Unterschied zu anderen Verträgen auf dieser Ebene — sie behandeln alle Staaten gleich. Es gibt hier also keine Sonderklausel für die Supermächte, keine Sonderklausel für die Kernwaffenstaaten, wie wir dies im Augenblick bei der Nichtverbreitung auf dem nuklearem Gebiet haben.Das Übereinkommen sieht sehr gründliche Industrieinspektionen vor. Das war einer der Punkte, die das Abkommen lange verzögerten und bei denen gerade Deutschland eine Menge an ganz praktischer Handhabung in dieses Übereinkommen eingebracht hat. Ich will hier gern hinzufügen, daß das aus der Sicht der Wirtschaft, der Industrie natürlich die Gefahr von Industriespionage beinhaltet, wenn internationale Inspektoren hier freien, unangemeldeten und uneingeschränkten Zugang haben. Es ist gut, daß die Staaten nun bereit sind, auch dieses mögliche Risiko, das zum Nachteil in einem anderen Bereich führen könnte, einzugehen.Dieses Verbot ist umfassend. Es bezieht sich auf die Entwicklung, die Herstellung, den Erwerb, die Lagerung wie die Weitergabe der chemischen Waffen. Es ist äußerst erfreulich, daß hier kein Bereich ausgeschlossen ist. Besonders gut ist, daß nach diesem Vertrag alle heute irgendwo auf der Welt vorhandenen Waffen vernichtet werden müssen — alle, überall, egal, wem sie gehören. Es ist sogar so, daß ein Staat, der in irgendeinem anderen Staat Waffen hinterlassen hat, die ihm einmal gehörten, die Verantwortung dafür trägt, daß die dort zurückgelassenen Waffen vernichtet werden.Ich will nur mit einer Nebenbemerkung darauf aufmerksam machen, daß das für manchen manches Problem mit sich bringen wird. Ich denke an Rußland.
— Es wird teuer sein. Das ist für manche ein Problem, bei uns im Augenblick auch, Kollege Feldmann. — Das gilt auch für den Irak, wenn Sie an den jüngsten Krieg beispielsweise in Kuwait denken, für China und andere Staaten.Dieses Übereinkommen sieht vor, daß alle Bestände erfaßt werden, auch solche, die vor 1946 konstruiert und irgendwo ausgelagert wurden. Hiervon gibt es — das ist der einzige von mir anzumerkende gravierende Mangel an diesem Übereinkommen — ein paar Ausnahmen. Ich weiß, daß man die Verhandlungen zu einem Erfolg führen wollte, und dennoch, Kollege Schäfer, bitte ich, hier noch etwas zu unternehmen. Dazu muß ja nicht die ganze Prozedur wiederholt werden, sondern man kann in den gebildeten Exekutivkomitees —klug, daß dies ausdrücklich ermöglicht wurde! — nachverhandeln.
Metadaten/Kopzeile:
19242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Peter Kurt WürzbachHier ist ausdrücklich vorgesehen, daß wir uns nicht für die chemischen Waffen zu interessieren haben, die vor 1977 irgendwo in der Erde vergraben wurden, oder für die, die vor 1985 — und beides sind Zeiträume, die ziemlich eng an der Gegenwart dran sind — irgendwo im Meer versenkt worden sind. Dies sollten wir nachbessern — mit allem Nachdruck. Wir sollten hier eine Meldepflicht einführen. Ich will — ich komme aus Schleswig-Holstein; man könnte auch andere Regionen nehmen — nur einmal auf die Ostsee hinweisen. Jeder weiß, was dort an riesigen Mengen, an Tonnen gegen Ende des Krieges von verschiedenen Seiten versenkt wurde. Es sollte versucht werden, dies nachzubessern.
Der Zeitraum dafür, daß diese chemischen Waffen vernichtet werden, beträgt zehn Jahre. Es ist ein ausdrückliches Verbot festgeschrieben, wie die Vernichtung nicht erfolgen darf, nämlich durch offenes Abbrennen oder wieder durch Versenken oder durch Vergraben. Für die Zukunft sind diese Dinge eingeschlossen.Auch mit vernichtet werden müssen diejenigen Fabrikanlagen, die bisher dazu benutzt wurden, um solche Waffen herzustellen. Ich stelle fest, daß kein Vertrag im Abrüstungs- und Rüstungskontrollbereich so weitreichend und umfassend formuliert ist wie dieser.Die Inspektoren haben weitgehende Rechte. Die einzelnen Staaten haben die Pflicht, nationale Gesetze zu erlassen, nach denen eine Bestrafung bei Verstoß gegen die aufgegebenen Vorschriften möglich ist. Die Vereinten Nationen richten eine Organisation ein, die das Verbot der chemischen Waffen zu überwachen hat. Sie soll in Den Haag eingerichtet werden. Hier frage ich einfach einmal: Konnte man nicht bei der deutschen Energie, die wir eingebracht haben, auch Bonn mit für diese neue Institution, die erst angedacht ist, ins Gespräch bringen?
Die Laufzeit dieses Vertrages ist unbefristet. Dies ist gut und befreit uns von komplizierten Nachverhandlungen.Ich wünsche mir, daß auch die Staaten aus dem Nahen Osten — die mit Blick auf die Waffen, die in Israel vorhanden sind, bisher Abstand davon genommen haben — diesem Übereinkommen beitreten. Ich wünsche mir sehr, daß der Gaseinsatz der Serben in der brutalen Form wie jüngst — das spielte auch heute nachmittag hier eine Rolle — nicht manche Staaten dazu führt, von einem solchen Übereinkommen doch Abstand zu nehmen. Ich wünsche mir, daß die technischen Gegebenheiten, chemische Waffen zu vernichten, noch weiter ausgebaut werden — u. a. auch bei uns in Deutschland. Ich wünsche mir, daß die Ratifikation bei uns und in anderen Ländern der Welt jetzt zügig vorangeht, daß wir gezielte projektbezogene — wie sehr erfolgreich mit Rußland praktiziert — Zusammenarbeit durchführen und alle Altbestände erfaßt werden.Es war ein langer Weg, wie ich mit meinen Eingangsbemerkungen, bezogen auf das Datum vor 100 Jahren, deutlich machen wollte. Wir sind an einem guten Ziel angelangt. Ich empfehle, daß wir diesen Vertrag annehmen und ihn ratifizieren.
Und nun spricht der Kollege Gernot Erler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag leitet heute durch die erste Beratung eines Einbringungs- und Ausführungsgesetzes die Ratifizierung des Chemiewaffenübereinkommens ein. Alle Parteien im Bundestag werden der Ratifizierung, so hoffe ich, zustimmen.
Die SPD unterstützt mit Nachdruck, daß die Bundesrepublik frühzeitig ihren Beitrag zur Umsetzung dieses herausragenden Rüstungskontrollabkommens leistet. Es kann frühestens am 13. Januar 1995 — also zwei Jahre nach der Pariser Zeichnungskonferenz vom 13. Januar 1993 — in Kraft treten, aber erst dann, wenn 180 Tage nach der Hinterlegung der 65. Ratifikationsurkunde verstrichen sind.Es ist erfreulich, daß schon im Januar 1993 130 Staaten gezeichnet haben. Bis heute sind es 157. Aber - der Kollege Würzbach hat darauf hingewiesen — bisher sind erst die Urkunden von fünf Ländern hinterlegt, nämlich Fidschi, Mauritius, Seychellen, Schweden und Norwegen. Drei weitere haben zwar das Ratifizierungsverfahren abgeschlossen, aber die Urkunden bisher nicht hinterlegt. Das sind Estland, Saudi-Arabien und Oman. In den USA, in Frankreich und in Australien ist die Ratifikation unterwegs. In Deutschland beginnt heute das Verfahren, das noch vor der parlamentarischen Sommerpause abgeschlossen werden soll.Das Chemiewaffenübereinkommen stellt einen Meilenstein in der Rüstungskontrolle dar. Es erhebt einen globalen Wirkungsanspruch und legt unterschiedslos allen beitretenden Ländern gleiche Rechte und Pflichten auf. Es verlangt die weltweite Bestandsvernichtung sowie ein Entwicklungs- und Produktionsverbot für eine komplette Kategorie von Massenvernichtungswaffen, abgesichert durch ein ebenso umfassendes wie mutiges Verifikationsregime.Erinnern wir uns: Es waren 1915 deutsche Soldaten, die in Ypern zum erstenmal Giftgas eingesetzt haben. Die Opfer waren 5 000 britische und französische Soldaten. Im Ersten Weltkrieg sind dann 100 000 Tonnen Giftgas eingesetzt worden. Dies passierte wieder im Abessinischen Krieg 1935/36. Im Zweiten Weltkrieg wurde kein Giftgas eingesetzt. Es tauchte in der Öffentlichkeit dann wieder in der Substanz „Agent Orange" im Vietnamkrieg, dann im ersten Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak, in besonders erschütternder Weise auch in der Bombardierung von Kurden durch den Irak in Halabdschah 1988 auf. Es drohte auch im zweiten Golfkrieg aufzutauchen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19243
Gernot ErlerSeit dem Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925, das den Einsatz von C-Waffen verbot, hat es jetzt fast 70 Jahre gedauert, bis die Welt einen neuen Anlauf macht, sich endgültig von der Plage und Bedrohung chemischer Waffen freizumachen. Allein diese Zeitdimension und dieser Anspruch belegen den historischen Charakter des Abkommens.Allerdings muß ich hinzufügen, daß es unseres Erachtens noch zwei gravierende Hindernisse für die tatsächliche Umsetzung des Chemiewaffenübereinkommens gibt.Der erste Punkt ist die notwendige Vollständigkeit des Beitritts, um tatsächlich die Globalität der Durchsetzung zu erreichen, denn für den Erfolg des Chemiewaffenübereinkommens reicht nicht die Ratifizierung durch eine ausreichende Zahl von Staaten, an der wir nicht zweifeln. Nach amerikanischen Unterlagen gibt es derzeit wahrscheinlich 17 Besitzer von C-Waffen. Schwerpunkte sind außer Südafrika Länder des Nahen Ostens, nämlich Ägypten, Saudi-Arabien, Iran, Irak, Libyen, Syrien und Israel, und Ostasiens, nämlich China, Indien, Pakistan, Nordkorea, Südkorea, Thailand und Indonesien. Offiziell eigene Bestände zugegeben haben nur die Vereinigten Staaten — sie haben 30 000 t, davon 12 000 t in Form von 3 Millionen Stück Munition — und die Russische Föderation in der Erbfolge der Sowjetunion mit 40 000 t, mit vielen Ungewißheiten über die Details. In Erfüllung der UN-Resolution 687 werden derzeit die irakischen Potentiale zerstört.Wenn wichtige Länder nicht ratifizieren, besteht allerdings die Frage, ob die globale Durchsetzung des Abkommens möglich ist, denn viele der zeichnungswilligen und ratifikationswilligen Länder werden ihr Verhalten letztlich von dem Verhalten anderer Länder und gerade von solchen, die potentielle C-WaffenBesitzer sind, abhängig machen. Hier ist also noch eine politische Leistung zu erbringen.Das zweite Hindernis ist im Bereich der technischen Kapazitäten und der Kosten der Vernichtung zu sehen. Die Vereinigten Staaten besitzen heute überhaupt die einzige funktionierende großtechnische Beseitigungsanlage für C-Waffen, nämlich auf dem Johnston-Atoll. Auch sie ist gelegentlich außer Betrieb. Es gibt Pläne für die Errichtung von acht weiteren Beseitigungsanlagen direkt bei den Lagerstätten, die größte bei Tooele in Utah, wo allein 42 % der amerikanischen Giftgasbestände lagern. Tests laufen dort seit August 1993. Es gibt die Aussicht, daß die Vereinigten Staaten diese Beseitigungsstätten bis zum Jahr 2000 tatsächlich hergestellt haben werden und dann mit der Zielgröße von zehn Jahren ihre Aufgaben bis zum Jahr 2005 erfüllen können. Aber es gibt auch Bürgerprotest und technische Probleme, die auch das reichste Land der Welt vor eine erhebliche Aufgabe stellen.Viel schlimmer sieht es in der Russischen Föderation aus. Hier ist bisher keine Anlage in Betrieb. Es ist eine, nämlich in Tschapajewsk, 1989 fertiggestellt worden, sie wird, auch wegen Protesten der Bevölkerung, heute aber nur für Trainingsprogramme genutzt. Im Kambarka in Udmurtien und in Novotscheboksarsk in Tschuwaschien sind weitere Anlagen in Bau, die aber auch von Bürgerprotesten begleitet werden. Die größten Chancen auf Verwirklichung hat eine Pilotanlage in Gornij im Saratov-Oblast, die mit deutscher und amerikanischer Hilfe gebaut wird und möglicherweise bis Ende dieses Jahres fertig sein kann. Aber es gibt große Zweifel, ob Rußland, das die Möglichkeit zur Verlängerung auf 15 Jahre in Genf durchgesetzt hat, auch in einem Zeitraum von 15 Jahren die Vernichtung dieser 40 000 t technisch tatsächlich bewältigen kann.
Deswegen — Herr Feldmann, Sie haben mir das Stichwort gegeben — ist es wichtig, zu sehen, daß es bei der Abrüstungshilfe, an der sich auch Deutschland nach einem Vertrag vom Dezember 1992 beteiligt,
Probleme gibt. 1993 haben wir 2,5 Millionen DM für C-Waffen-Abrüstungshilfe ausgegeben. Im ganzen Bundeshaushalt 1994 sind nur 9 Millionen DM für diese Abrüstungshilfe eingestellt. Vor wenigen Tagen, genau am 18. April, hat es in Bonn Verhandlungen mit der russischen Seite gegeben, die gerade im C-Waffen-Bereich — leider — keine tatsächlich förderungswürdigen Projekte ergeben haben.
Hier ist also noch konkreter Handlungsbedarf. Wir haben immer wieder gefordert, daß sich die Bundesregierung stärker bei der Abrüstungshilfe engagiert.Die Kosten werden immens sein. Für Amerika schätzt man einen Aufwand von 9 Milliarden Dollar. Die Schätzungen für Rußland schwanken zwischen 9 und 15 Milliarden Dollar. Aber es ist ebenfalls ein Problem für die kleinen Länder; denn auch die Verifikationsmaßnahmen kosten. Schätzungen gehen hier von 130 bis 140 Millionen Dollar pro Jahr aus. Der russische Spezialist Kunzewitsch hat vorgerechnet, daß die Russische Föderation, weil die Inspektionen von den besuchten Ländern bezahlt werden müssen, im Laufe der Implementierung des Verfahrens wahrscheinlich 500 Millionen Dollar alleine nur für die Inspektionen zahlen muß. Es darf nicht sein, daß Geld für die Produktion von Waffen immer da ist, aber ein solches Abrüstungsabkommen womöglich an Kostenproblemen scheitert.Meine Damen und Herren, auch Deutschland hat ein paar technische Probleme. Ich will das hier nur antippen. Wir haben noch ungefähr 7 000 Giftgasgranaten zu beseitigen. Für einen Teil davon — genau für 42 t mit Adamsit gefüllte Granaten — fehlt uns im Augenblick die technische Fazilität.Ich bin der Meinung, wir sollten weiterhin Motor und Beispiel bei der Chemiewaffenbeseitigung sein. Dazu gehört, daß wir unsere eigenen Probleme erst einmal technisch bewältigen. Da müssen wir uns noch ein bißchen anstrengen. Aber — darin stimme ich nochmals dem Kollegen Würzbach ausdrücklich zu — die Bundesrepublik hat bei dem Abkommen insbesondere im Jahr 1992 Großes geleistet. Botschafter Hartmann und seine Leute, aber auch die Bundesre-
Metadaten/Kopzeile:
19244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Gernot Erlergierung — das will ich hier ausdrücklich sagen — haben eine anerkennenswerte Leistung erbracht. Wir sollten da fortfahren. Wir sollten bei diesem Thema Motor und Beispiel bleiben und heute mit klarer Mehrheit den Ratifizierungsprozeß einleiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun spricht der Kollege Dr. Olaf Feldmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute im Plenum nicht zum erstenmal mit den C-Waffen. Ich wäre bereit gewesen, meine Rede zu Protokoll zu geben; denn wir waren uns in diesem Hause immer einig, daß die Ächtung von C-Waffen für Deutschland von großer Bedeutung ist.Ich begrüße für die F.D.P.-Fraktion den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zum CWaffen-Übereinkommen und zum Ausführungsgesetz. Eine weltweite Ächtung der C-Waffen war und ist für uns Liberale immer vorrangiges Ziel gewesen.
Deshalb haben wir Forderungen nach C-Waffenfreien Zonen immer abgelehnt. Es ist uns besonders wichtig, das C-Waffen-Übereinkommen schnellstens zu ratifizieren; denn dieses Übereinkommen ist ein globales und umfassend verifizierbares Modell für eine kooperative Sicherheitspolitik und ist wegweisend für zukünftige Rüstungskontrollmaßnahmen. Erstmals wird das Verbot einer ganzen Kategorie von Massenvernichtungswaffen einem Kontrollsystem unterstellt, das nicht nur den militärischen Bereich umfaßt, sondern auch in den zivilen Bereich eingreift. Das macht die Sache schwierig und zeitraubend. Daher müssen die Staaten mit entwickelter Chemieindustrie wie Deutschland nationale Umsetzungsregelungen vor Inkrafttreten des Übereinkommens erarbeiten.Ich will darauf besonders hinweisen und nochmals betonen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn die C-Waffen-Konvention insgesamt zum frühestmöglichen Zeitpunkt — das ist der 13. Januar 1995 — in Kraft treten soll — das wollen wir alle —, dann müssen 180 Tage vorher — also ein halbes Jahr vorher, nämlich bis zur Sommerpause, Anfang Juli 1994 —65 Ratifizierungsurkunden beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt werden. Es ist also höchste Zeit auch für uns. Denn bisher haben, wie bereits gesagt, erst fünf Länder ratifiziert.Deutschland war bisher Vorreiter bei den Bemühungen um die Beseitigung von C-Waffen. Ich schließe mich dem Lob des Kollegen Erler an die Regierung für die schnelle Einleitung des Ratifizierungsverfahrens an
und freue mich über den Beifall von der Opposition.
Das C-Waffen-Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten, alte C-Waffen-Bestände zu melden, Inspektionen zuzulassen sowie die Bestände zu beseitigen. Das Übereinkommen hat daher auch Auswirkungen — Kollege Erler, Sie haben darauf hingewiesen — auf die bei uns lagernden C-Waffen-Bestände. Vielleicht würde eine Privatisierung der Anlage in Munster — darum geht der Streit im Augenblick — zu einem etwas schnelleren Tempo der Vernichtung bringen.Mit dem Ausführungsgesetz sollen die notwendigen innerstaatlichen Rechtsgrundlagen geschaffen werden, um die nach dem C-Waffen-Übereinkommen vorgesehenen Verifikationen im zivilen Bereich durchführen zu können. Wir unterstützen vorbehaltlos die Auflage, auswärtigen Inspektoren die Kontrolle in deutschen Betrieben zu ermöglichen. Meine Damen und Herren, die Rechte der betroffenen Unternehmen — ich will das an dieser Stelle ausdrücklich betonen — werden durch die Kontrollmaßnahmen nicht beeinträchtigt. Der Verband der Chemischen Industrie wurde bereits bei der Ausarbeitung der deutschen Verhandlungsposition beteiligt und hat das Verhandlungsergebnis gebilligt.Liebe Kollegen, erst die Ratifizierung durch uns — mit dem Beginn heute im Deutschen Bundestag — gibt der Bundesregierung die notwendige Legitimation, andere Staaten zur Ratifizierung aufzufordern, damit das Übereinkommen insgesamt schnellstmöglich in Kraft treten kann.In diesem Zusammenhang darf ich an das neue russische Parlament appellieren, die Ratifizierung zügig durchzuführen. Denn in Rußland lagern, wie schon mehrfach gesagt, ca. 40 000 C-Waffen. Ich glaube, nicht nur die Vorredner, sondern wir alle stimmen überein, daß Rußland diese Lasten alleine nicht schultern kann. Wir müssen Rußland dabei helfen. Das liegt auch in unserem ureigenen Interesse. Das Ja der Bundesrepublik zum C-Waffen-Übereinkommen, das wir heute übereinstimmend erklären wollen, muß daher auch ein klares Ja zu mehr Abrüstungshilfe sein.Mit 10 Millionen DM brutto — Herr Erler, Sie haben es bereits gesagt, und nach den Haushaltskürzungen sind es ja nur noch 9 Millionen DM — ist die deutsche Abrüstungshilfe bisher, so schön und so gut dieser eigene Titel auch ist, recht mager ausgestattet. Wir haben bei der Abrüstungshilfe Nachholbedarf. Ich stimme Ihrer Forderung nach mehr Mitteln für den Abrüstungsfonds ausdrücklich zu, Herr Kollege Erler. Vergessen wir nicht: Die Abrüstungshilfe zur Beseitigung der C-Waffen dient unserer eigenen Sicherheit.
Noch ein Wort zum vorliegenden KSZE-Abkommen. Das Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren zwischen den KSZE-Staaten trägt zur strukturellen Festigung der KSZE bei. Dieses Übereinkommen gibt den Mitgliedstaaten ein Instrument zur Schlichtung und Beilegung von Streitigkeiten innerhalb der KSZE. Denn dieses Übereinkommen sieht einen Gerichtshof sowie zwei Verfahrensarten vor, auf die ich kurz eingehen will.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19245
Dr. Olaf FeldmannDas Vergleichsverfahren ermöglicht, für jede Streitigkeit ein Verfahren einseitig einzuleiten. Das Ergebnis dieses Verfahrens ist für die Parteien allerdings nicht bindend.Das Schiedsverfahren kann nur dann durchgeführt werden, wenn beide Seiten zuvor eine Unterwerfungserklärung abgegeben haben. Maßgabe für die bindende Entscheidung der Schiedsgerichtsbarkeit ist ausschließlich das Völkerrecht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns sicher einig: Wir wollen die Stärke des Rechts vergrößern und nicht die der Waffen. Der Krieg auf dem Balkan zeigt, daß dies überfällig ist. Beide uns heute vorliegenden Übereinkommen können — das hoffen wir — den weltweiten Friedensprozeß positiv beeinflussen.Die F.D.P. stimmt der Überweisung an die Ausschüsse zu.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat Herr Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.
Frau Präsidentin! Ich darf zu dem, was die Kollegen vorher gesagt haben, noch einige Anmerkungen machen.Zunächst darf ich sagen, daß wir mit der Vorlage des Gesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen und eines ergänzenden Ausführungsgesetzes deutlich machen wollen, daß wir die parlamentarische Zustimmung zur Ratifikation eines der bedeutendsten Abrüstungsabkommen der letzten Jahre möglichst bald vollziehen wollen.
Es ist völlig zu Recht gesagt worden — ich bedanke mich dafür —, daß mit dem Chemiewaffenabkommen in der Geschichte der multilateralen Abrüstung ein ganz großer Durchbruch zur umfassenden Ächtung einer ganzen Kategorie von Massenvernichtungswaffen gelungen ist. Herr Kollege Würzbach hat auch den Anteil der Bundesregierung konkret gewürdigt. Ich bin dankbar und darf das hier in aller Klarheit sagen, daß über die Grenzen der Regierungsparteien hinweg hier deutlich geworden ist — ich hoffe, daß alle Seiten des Hauses das auch anerkennen —, was in sehr mühseligen Verhandlungen mit sehr vielen Staaten und mit sehr vielen unterschiedlichen Interessen geleistet werden konnte.Zum ersten verbietet das Übereinkommen jeglichen Einsatz chemischer Waffen. Es geht deshalb über das Genfer Protokoll von 1925 hinaus, das nur die Verwendung von chemischen Waffen in internationalen bewaffneten Konflikten geächtet hat.Zum zweiten verlangt das Übereinkommen die Vernichtung aller auf dem Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten vorhandenen Chemiewaffen und Einrichtungen zu ihrer Herstellung innerhalb von zehn Jahren. Ihre Vernichtung wird unter Kontrolle einer bereits im Aufbau befindlichen internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen mit Sitz inDen Haag erfolgen. Herr Kollege Würzbach, wir können nicht alles nach Bonn holen. Wir bemühen uns, eine ganze Reihe von Institutionen nach Bonn zu holen. Einiges wird hoffentlich gelingen; aber es gelingt nicht alles.
Zum dritten untersagt das Übereinkommen nicht nur die Entwicklung, die Produktion und die Weitergabe chemischer Waffen, sondern es verpflichtet die Vertragsstaaten auch, Maßnahmen zu ergreifen, um die Verbreitung chemischer Waffen zu verhindern.Es ist hier bereits über das wegweisende Verifikationssystem gesprochen worden. Ich darf noch einmal sehr deutlich unterstreichen, daß das Verbot der Entwicklung und Herstellung solcher Waffen weit in den zivilen Bereich hineinreicht — das hat zunächst einige Schwierigkeiten gemacht, wie Sie wissen — und daß nun im Übereinkommen Chemikalien aufgelistet sind, die zwar für friedliche Produktionen benötigt werden, aber auch für die Produktion chemischer Waffen verwendbar sind.Zum erstenmal in der Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle erfaßt ein Rüstungskontrollabkommen einen gesamten Industriezweig. Die deutsche chemische Industrie, der Verband der Chemischen Industrie, hat von Anfang an die Verhandlungen über das Übereinkommen sehr positiv begleitet und mit dazu beigetragen, daß wir Vorschläge machen konnten, die beispielsweise in den USA akzeptiert worden sind.Wir haben die Gesetzentwürfe aus vier Gründen als eilbedürftig eingestuft:Erstens. Wir wollen unseren eigenen nationalen Sicherheitsinteressen dienen. Als Erbe des Kalten Krieges und auch infolge von Konflikten in der Dritten Welt gibt es auf unserer Erde — das ist hier sehr deutlich ausgeführt worden — immer noch sehr große Bestände an diesen Waffen. Kollege Erler hat sich die Mühe gemacht, eine ganze Reihe von Staaten aufzuzählen und auch die Probleme aufzuzeigen, die diese Staaten zum Teil haben und/oder uns aus den verschiedensten Gründen noch machen werden. Eine Vernichtung aller Bestände auf der Grundlage des Übereinkommens trägt in erheblichem Maß auch zu unserer Sicherheit bei.Zweitens unterstreicht die frühzeitige Ratifikation unsere Vorreiterrolle und das nachdrückliche Engagement der Bundesregierung bei der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Deutschland hat im Protokoll zum Brüsseler Vertrag schon 1954 auf die Herstellung von Chemiewaffen verzichtet. Es hat diesen Verzicht im Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 bekräftigt.Mit einer frühzeitigen Ratifikation werden wir auch wiederholten Aufrufen der Staatengemeinschaft gerecht. Zuletzt haben die Staats- und Regierungschefs der NATO am 11. Januar dieses Jahres zur frühzeitigen Ratifikation des Chemiewaffenübereinkommens aufgerufen.
Metadaten/Kopzeile:
19246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Staatsminister Helmut SchäferSchließlich — das ist mir sehr wichtig — verschafft uns eine zügige Ratifikation hier die politische Legitimation, bei anderen Staaten für deren zügige Ratifikation einzutreten.
Ich darf hier ausdrücklich sagen — die Zahlen sind ja genannt worden —, daß es des ausdauernden Engagements der Bundesregierung bedürfen wird, urn mehr Staaten dazu zu bringen, schneller zu ratifizieren. Ich darf Sie, alle Fraktionen des Deutschen Bundestags, herzlich bitten, dabei mitzuwirken und Ihre Einflußmöglichkeiten auch international für eine schnellere Ratifikation dieses Abkommens einzusetzen.Noch einige Erläuterungen zum vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zum Übereinkommen vom 15. Dezember 1992 über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE. Die Stärkung des Grundsatzes, Streitigkeiten ausschließlich mit friedlichen Mitteln beizulegen, war von jeher auch zentrales Anliegen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Nun sind auf Grund der Veränderungen auf unserem Kontinent Chancen auch für die Schaffung effektiver Instrumente zur friedlichen Streitbeilegung eröffnet.Das nicht unbeträchtliche Konfliktpotential gerade auch in Mittel- und Osteuropa verdeutlicht die Notwendigkeit, neben politisch bindenden Mechanismen auch ein rechtlich bindendes Instrument zur Verfügung zu stellen. Vor diesem Hintergrund zielt die deutsch-französische Initiative darauf ab, den KSZE- Staaten zur Beilegung von Streitigkeiten eine Vergleichs- und Schiedsinstanz an die Hand zu geben. Nach seinem Inkrafttreten wird das Übereinkommen die KSZE in einem ihrer wichtigsten Aufgabenbereiche, der Konfliktprävention, stärken.Meine Damen und Herren, ich glaube bei allem, was in diesem Verfahren noch an gewissen Hemmschwellen vorhanden ist, und der Tatsache, auf die Kollege Feldmann hingewiesen hat, daß die Parteien zuvor eine Unterwerfungserklärung abgegeben haben: Wir werden mit diesem Instrument in der KSZE im Sinne der Prävention mehr bewirken können. Es geht darum, daß die KSZE mehr und mehr den Aufgaben, die sie sich gestellt hat, gerecht wird. Dafür ist dieses Instrument sehr wichtig.Meine Damen und Herren, es ist zu Recht gesagt worden, daß wir mit diesem wichtigen Abrüstungsabkommen über die Chemiewaffenbeseitigung einen ganz entscheidend wichtigen Prozeß einleiten und ihn zu Ende bringen. Damit aber ist natürlich das Problem der Abrüstung und Abrüstungskontrolle nicht gelöst. Der Jahresabrüstungsbericht hat deutlich gemacht, daß wir auf der Agenda auch nach Beendigung des Ost-West-Konflikts noch eine Fülle wichtiger Themen stehen haben. Ich darf noch einmal deutlich sagen: Die Bundesregierung will in den kommenden Jahren ganz entschieden — das drückt sie in ihrem Abrüstungsbericht aus — dazu beitragen, die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen zum obersten Ziel der Agenda zu machen. Auch das wird vielleicht nach dem Gelingen dieses Chemiewaffenübereinkommens leichter werden.Mir ist bewußt, Herr Kollege Feldmann, meine Damen und Herren, daß die Konversion, die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen, gerade in Rußland, aber nicht nur dort große finanzielle Anstrengungen erfordern wird. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß wir uns bei diesen Anstrengungen möglicherweise mehr beteiligen müssen.Sie sitzen neben einem Vertreter des Haushaltsausschusses, Herrn Kollegen Weng, der Ihnen wahrscheinlich schon soeben bei der angeregten Unterhaltung mit Ihnen deutlich gemacht hat, daß das nicht so einfach sein wird. Ich darf an das erinnern, was ich neulich gesagt habe: Deutschland stellt natürlich im Hinblick auf den Aufbau dieser Staaten erheblich mehr Mittel zur Verfügung als fast alle unsere Freunde und Nachbarn. Wir müssen eine gewisse Arbeitsteilung haben; wir können nicht in allen Bereichen mit noch höheren Mitteln — ich glaube, ich spreche in Ihrem Sinne, Herr Weng, wenn ich das jetzt sage — neue Versprechungen machen. Wir leisten im Vergleich zu den meisten europäischen Staaten und auch zu den Vereinigten Staaten von Amerika sehr viel mehr für den Aufbau Rußlands und vieler Staaten in Osteuropa. Ich glaube, dann müssen wir diesen Staaten aber auch sagen: Ihr müßt bei dem Umbau der Massenvernichtungswaffen etwas mehr tun, als beispielsweise wir es können! Wir sind an der Grenze unserer Möglichkeiten angelangt. Trotzdem wissen wir, wie schwierig das Problem ist, und wissen wir, daß wir auch in Zukunft zur Lösung dieses Problems beitragen müssen.Vielen Dank.
Frau Kollegin Lederer, Sie haben jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fälle sind wahrlich relativ rar, in denen wir Gesetzentwürfen der Bundesregierung zustimmen können. In der zweiten bzw. in der dritten Lesung ist das diesmal natürlich der Fall. Wir begrüßen die Regelungen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE wie auch die Ratifizierung und die Umsetzung des Chemiewaffenübereinkommens.Ich will auch angesichts der späten Stunde und der knappen Besetzung des Plenums, was vielleicht bei der zweiten und dritten Lesung zeitlich einfach anders organisiert werden kann, auf ein paar Punkte eingehen, und zwar auf kritische Punkte, bei denen wir meinen, daß auf jeden Fall noch nachverhandelt bzw. etwas mehr erreicht werden muß.Im Hinblick auf die KSZE erscheint uns eines von Bedeutung, und zwar der Widerspruch zwischen der Rhetorik und der finanziellen Ausstattung der KSZE. Das heißt, es wird allenthalben betont, welche Bedeutung die KSZE hat. Ich erinnere an das Wort des Bundesaußenministers, wonach die KSZE die Kultur des Gewaltverzichts entwickelt habe, was wir nur unterstreichen können, aber auf der anderen Seite die Ausstattung der KSZE zur Umsetzung ihrer Aufgaben nach wie vor äußerst dürftig ist. Und in Konkurrenz zu anderen Institutionen wie UNO, NATO, NATO-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19247
Andrea LedererKooperationsrat, WEU, Europäische Union etc. wird dann, wie ich glaube, deutlich, daß die Bundesregierung leider doch nicht in dem Maße auf die KSZE zu setzen versucht, wie es erforderlich ist. Wir denken, daß hier ganz andere Prioritäten gesetzt werden müßten, anstatt über internationale Bundeswehreinsätze im Rahmen anderer Institutionen zu diskutieren.Zum Chemiewaffenübereinkommen, das wir — wie ich nur noch einmal betonen kann — überaus begrüßen, ist folgendes zu sagen: Zum einen gibt es — das ist vielleicht eine Nebensächlichkeit — für mich einfach einen Widerspruch: Warum ist der Einsatz von Reiz- und Tränengasen innerhalb der Bundesrepublik zulässig, wenn diese andererseits in diesem Übereinkommen unter die Ächtung fallen? Ich glaube, man müßte darüber nachdenken, warum das so ist, und man sollte eine entsprechende Änderung herbeiführen.Ein weiterer Problempunkt, den ich nennen will, ist die Tatsache, daß einzelne Staaten relativ uneingeschränkt darüber entscheiden können, in welcher Art und Weise die Vernichtung der Waffen und Anlagen erfolgt. Angesichts der Gesundheits- und Umweltrisiken halten wir das für problematisch. Ich glaube, auch hier sollte eigentlich in weiteren Verhandlungen noch einiges erreicht werden.Ein dritter Punkt, der hier mehrmals angesprochen worden ist, ist die Tatsache, daß die Vernichtung von Waffen natürlich überaus teuer ist. Die 1993 als Unterstützung bewilligten 4 Millionen DM der Bundesrepublik an Rußland beispielsweise sind angesichts der anfallenden Kosten von 8 bis 9 Milliarden DM nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn wir vielleicht einige der Mittel, die jetzt zur Ausstattung bundesdeutscher Krisenreaktionskräfte zur Verfügung gestellt werden, dafür nutzen würden, auch in diesem Bereich mehr zu tun, dann wäre für den Frieden eigentlich mehr getan als durch die Maßnahmen, die die Bundesregierung leider anpeilt.Der nächste Punkt, den ich ansprechen will — ich habe das Protokoll des Unterausschusses für Abrüstung nachgelesen, das ich sehr deprimierend fand —, betrifft die Tatsache — auch das ist erwähnt worden —, daß Chemiewaffen, die vor 1977 vergraben und vor 1985 im Meer versenkt worden sind, nicht unter dieses Abkommen fallen. Wenn man nachliest, welche Folgen bereits bekannt sind — ich glaube, ich habe vom Kollegen Feldmann den Zwischenruf gehört: Hoffentlich kommen diese Sachen nicht hoch —, dann wird deutlich, daß da zum Teil natürlich einiges hochkommt. Man kann also nur ahnen, wie schlimm es sein könnte, wenn das so bleibt. Da müssen wir leider feststellen, daß die Bundesregierung offenkundig nicht mit der Vehemenz versucht hat, auch solche vergrabenen oder versenkten Waffen zu erfassen, wie es erforderlich gewesen wäre, und das gerade angesichts der Verantwortung, die dieses Land hat.
Wir hoffen wirklich sehr, daß auch hier, wie es schon angesprochen worden ist, noch einmal nachverhandelt und mit aller Vehemenz darauf gedrängt wird,daß auch solche Fakten Gegenstand des Abkommens sind.Ansonsten werden wir im Rahmen der zweiten und der dritten Lesung beiden Gesetzentwürfen zustimmen.
Nun hat der Kollege Dr. Christian Ruck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es fällt schwer, in den Tagen der schwierigen Lage in Gorazde über friedliche Streitbeilegung zu sprechen. Aber wenn wir uns an die erfolgreichen Maßnahmen solcher Bemühungen auf Zypern, in Namibia oder in El Salvador erinnern, erscheint die Diskussion über neue Formen dieser Streitschlichtung nicht ganz sinnlos.Auch die KSZE hat kleine, dennoch wichtige und hoffnungsvolle Missionen zur friedlichen Streitbeilegung und Konfliktvorbeugung unternommen, und dies vielfach auch mit deutscher Mitwirkung, wie in Georgien, in Estland, der Republik Moldau und seit neuestem auch in Tadschikistan. Das sind natürlich bescheidene Anfänge in der KSZE. Sie haben ihre Wirkung dennoch bisher nicht verfehlt und sind ein Signal dafür, daß die KSZE mehr sein kann und will als ein zeitraubender Debattierklub. Wir sollten die KSZE darin bestärken und unterstützen.Eine neue Möglichkeit dazu ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE. Damit wird, wie erwähnt, eine neue Vergleichs- und Schiedsinstanz für Streitigkeiten der KSZE-Staaten errichtet und ein Streitbeilegungsverfahren geschaffen, das zumindest in wichtigen Teilen für die Parteien des Übereinkommens obligatorisch ist. Dies geht vor allem auf eine deutsch-französische Initiative zurück. Nachdem das Auswärtige Amt hier schon mehrmals zu Recht gelobt wurde, darf auch ich mich im Namen meiner Fraktion
ganz herzlich für das Engagement und die Power bedanken, mit der Sie das hinbekommen haben.
Das ist, wie gesagt, eine deutsch-französische Initiative. Doch entspricht dies dem Wunsch besonders der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, die bislang kaum Erfahrung im Umgang mit internationalen Gerichtshöfen sammeln konnten. Vor dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs haben sich die Länder des damaligen Ostblocks regelmäßig vehement gegen jede Form zwischenstaatlicher Gerichtsbarkeit gewehrt. Der Nachholbedarf hat nun zu diesem Übereinkommen geführt, das als eines der ganz wenigen KSZE-Dokumente bisher mehr ist als eine politische Verpflichtung und im vereinbarten Schiedsverfahren auch völkerrechtliche Bindung hat. Für viele der neuen Demokratien im Osten ist dies ein großer Schritt. Die Tatsache, daß Deutschland und
Metadaten/Kopzeile:
19248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Dr. Christian RuckFrankreich dabei maßgebliche Hebammendienste geleistet haben, ist, glaube ich, ein gutes Zeichen für mehr Vertrauen zwischen Ost und West. Wir sollten jedenfalls im Deutschen Bundestag keinen Zweifel daran lassen, daß wir den vorliegenden Gesetzentwurf ohne Wenn und Aber verabschieden werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur fortgeschrittenen Stunde an dieser Stelle noch einige Sätze zur KSZE vorbringen, weil ich das für sehr wichtig halte. Der KSZE geht es ähnlich wie den Vereinten Nationen: Nach dem Ende des Kalten Krieges war sie von den Erwartungen heillos überfordert. Nun droht die Enttäuschung in Resignation umzuschlagen. Dies wäre falsch; denn sowohl die UNO als auch die KSZE haben ihre neuen Spielräume durchaus genutzt. Für die UN wären umfassende Maßnahmen wie z. B. in Kambodscha noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen.Die KSZE hat sich in den letzten vier Jahren einen ordentlichen organisatorischen Unterbau geschaffen, ein permanentes Entscheidungsgremium und ein einheitliches Sekretariat in Wien mit einem deutschen Landsmann als Generalsekretär. Ihr 1992 ernannter Hoher Kommissar für nationale Minderheiten hat eine zunehmend wichtige Funktion, vor allem in den neuen östlichen Demokratien, z. B. in Estland.Die tatkräftig geleistete internationale Aufbauhilfe der KSZE in vielen Ländern, ihre mittlerweile fast ein Dutzend laufender oder unmittelbar bevorstehender operativer Missionen zur Konfliktprävention und die Einsetzung des Gerichtshofes, aber z. B. auch die im Vergleich zur UNO sehr hohe Zahlungsmoral ihrer Mitglieder geben, glaube ich, auch für den Deutschen Bundestag Anlaß, die KSZE ernster zu nehmen und sie in ihrem weiteren Aufbau aktiv zu unterstützen.Dies gilt vor allem für zwei Bereiche, nämlich die Verbesserung der materiellen und personellen Infrastruktur und die krisenfeste Koordination mit anderen internationalen Organisationen.Die Infrastruktur ist nach wie vor ein Torso. Das wird im operativen Engagement besonders deutlich. Die KSZE braucht hier mehr qualifiziertes Personal mit spezieller Ausbildung. Wir diskutieren ja auch bei uns die Einrichtung einer Ausbildungsstätte für Blauhelme, die auch ausländischem Personal offenstehen sollte. Diese könnte auch zur Vorbereitung und Schulung von KSZE-Missionären dienen. Eine weitere Möglichkeit wäre, im Auswärtigen Amt ein Kontingent von Leerstellen für deutsche KSZE-Spezialisten vorzuhalten, die im Bedarfsfall aktiviert werden könnten.Ausbaubedürftig ist auch die Analysekapazität der KSZE zur frühzeitigen Erkenntnis, wo etwas anbrennen könnte. Schließlich ist mit aller Vorsicht zu überlegen, ob die Arbeit der KSZE erleichtert würde, wenn ihre verschiedenen Einrichtungen nicht über halb Europa verstreut wären.Die Gefahr, daß ein Ausbau der KSZE-Infrastruktur gleichzeitig eine neue Superbürokratie bedeutet, die uns als einem der bedeutendsten Beitragszahler wie ein Klotz am Bein hängt, ist nicht akut. Das KSZE-Personal umfaßt derzeit rund hundert fest Bedienstete. 70 % der Geldmittel werden für operative Aufgaben verwendet. Unser Beitragsanteil beträgt zur Zeit gerade einmal 10 % dessen, was wir dem Europarat stiften.Wichtig ist jedoch, daß wir Parallelarbeit so weit wie möglich vermeiden. Dies bedeutet eine bessere Koordination, und zwar zum einen mit der Europäischen Union und dein Europarat, wenn es um Menschenrechts- und Minderheitenfragen geht. Hier hat die KSZE teilweise klare komparative Vorteile. Politisch fast noch wichtiger ist jedoch eine funktionierende Arbeitsteilung mit den Vereinten Nationen, vor allem im Bereich von peace-keeping und peace-enforcement.Das anfänglich leicht gestörte Verhältnis zwischen UN und KSZE ist in letzter Zeit sehr pragmatischen Ansätzen einer verstärkten Kooperation gewichen, bei der sich folgende Arbeitsteilung herauskristallisieren könnte: Die KSZE als anerkannte regionale Abmachung im Sinne der UN-Charta leistet in ihrem Geltungsbereich und im Rahmen der friedlichen Streitbeilegung die Vorfeldarbeit auf einer niedrigeren Interventionsschwelle und natürlich auch unter Zuhilfenahme von UN-Einrichtungen, z. B. im Bereich der Früherkennung.Ist jedoch eine Konfliktbeilegung ohne Zwangsmaßnahmen aussichtslos, kann die KSZE auf die Vereinten Nationen und deren Möglichkeiten nach den Kapiteln VI und VII der Charta zurückgreifen. Dieser Übergang von einer horizontalen auf eine vertikale Aufgabenverteilung zwischen UN und KSZE im Sinne einer flexible response setzt zweierlei voraus: erstens eine bessere politische und technische Verknüpfung der Gremien beider Organisationen und zweitens, daß die UN mehr Biß bekommt im Sinne der Vorstellungen, die wir im Deutschen Bundestag vor einigen Monaten verabschiedet haben. Unter diesen Bedingungen aber könnte eine solche Arbeitsteilung zum Vorbild auch für eine wirksamere präventive Diplomatie in anderen Teilen der Welt werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, von der Öffentlichkeit eher unbemerkt, hat die KSZE in den letzten Jahren bemerkenswerte erste Schritte bei der friedlichen Streitbeilegung in ihrer Region getan. Für viele der neuen Demokratien im Osten mit ihrer eigenen Nachkriegsgeschichte war dies ein langer Weg, auf den sie stolz sind. Dort ist die KSZE mehr als im Westen eine internationale Organisation, mit der man sich identifiziert, weil sie auch die eigene Handschrift trägt.Die KSZE hat noch ein erstaunliches Potential, das stärker genutzt werden könnte. Der neue Gerichtshof kommt hinzu. Viele Instrumente der KSZE sind auch auf innerstaatliche Konflikte zugeschnitten, die zunehmen werden, und dies in einer Region, die nach Meinung vieler Experten ein besonderes Pulverfaß ist.Weder kann die KSZE die UN ersetzen, noch können beide gar die NATO ersetzen. Die Katastrophe in Ex-Jugoslawien zeigt, wie verheerend es sein kann, wenn hinter den Regeln der friedlichen Streitbeilegung nicht der feste Wille der einzelnen Staaten steht, Leben und Freiheit bedrohter Menschen notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Eine größere Einbindung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19249
Dr. Christian Ruckund Stärkung der KSZE könnte aber wenigstens dazu beitragen, daß sich nicht vor unserer Haustür solche Katastrophen häufen.
Als letzter hat nun der Kollege Freimut Duve das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Es ist spät. Es wäre jetzt interessant, Herr Kollege, über sehr viele Fragen, die sich zu dem Verfahren und dem Gesetzesvorschlag ergeben, zu diskutieren. Das werden wir im Ausschuß machen.
Ich begrüße es, daß es das Gesetz gibt. Ich möchte an dem Tag, an dem wir hier über die Wirklichkeit in KSZE-Mitgliedstaaten, nämlich über Gorazde, diskutiert haben und gleichzeitig über dieses Traumgebilde eines funktionierenden Schlichtungsverfahrens und Gerichtshofs sprechen, einfach nur aus der Präambel zitieren:
In Bekräftigung ihrer feierlichen Verpflichtung, Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen, und ihres Beschlusses, Mechanismen zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Teilnehmerstaaten zu entwickeln, eingedenk dessen, daß allein schon die vollständige Verwirklichung aller KSZE-Prinzipien und -Verpflichtungen ein wesentliches Element zur Verhinderung von Streitigkeiten zwischen den Teilnehmerstaaten ist...
Wenn man diese Sätze liest und gleichzeitig sieht, daß drei Mitgliedstaaten — bei einem ruht die Mitgliedschaft — in das verwickelt sind, was wir heute diskutiert haben, dann sieht man die ungeheure Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit von machtpolitischen Auseinandersetzungen und dem, was sich Staaten im Wortlaut von völkerrechtlichen Selbstverpflichtungen erarbeiten.
Man kann dann eigentlich nur sagen: Wir müssen den Weg weitergehen. Wir haben gesehen, daß so Rechtsgeschichte entstanden ist, überall, immer mit dieser Fiktion, daß eines Tages einmal danach und nicht nach dem Faustprinzip gehandelt wird. Es ist ein bißchen eine Sisyphosdiskussion. Aber ohne Sisyphos fällt der Stein auf uns alle. Deshalb bringen wir das ein und hoffen, noch ein bißchen über die Fragen, die mit dem Gesetz verbunden sind, diskutieren zu können.
Ich wünsche einen schönen Abend.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung auf den Drucksachen 12/7137, 12/7206 und 12/7207 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Gesetzentwürfe zum Chemiewaffenübereinkommen auf den Drucksachen 12/7206 und 12/7207 sollen zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Darm sind die Überweisungen so beschlossen.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, gestatten Sie mir vielleicht eine ganz kleine Anmerkung. Ich glaube, daß die letzten zwei oder drei Tagesordnungspunkte Gegenstand wichtiger Debatten waren. Wir haben sie hier in einem Kreis diskutiert, der deutlich kleiner ist, als der Kreis gewesen wäre, wenn wir dieselben Vorlagen in den Ausschüssen in öffentlicher Sitzung diskutiert hätten. Es lag an Ihnen, daß das nicht in öffentlicher Sitzung im Ausschuß diskutiert worden ist; wir haben ja nach unserer Geschäftsordnung die Möglichkeit, das heute noch zu tun. Ich glaube, wir würden uns alle einen Gefallen erweisen, wenn wir jetzt nicht so verfahren würden wie bei den nächsten zwei Tagesordnungspunkten. Zu diesen Tagesordnungspunkten 13 und 14 wurde gebeten, daß die Kollegen ihre Redebeiträge zu Protokoll geben.Wir sollten uns vornehmen, bei solchen Tagesordnungspunkten das zu tun, was wir tun wollen, anstatt uns diese Art von Debatten hier laufend anzutun.Ich habe das deshalb hier gesagt, weil es vielleicht dazu dient, dies einmal etwas zu verbreitern. Sie müssen in den Ausschüssen tätig werden. Hier ist es dann zu spät. Es ist auch zu spät, im Ältestenrat darüber zu diskutieren, sondern die Initiative muß von Ihnen in den Ausschüssen ausgehen. Mir ist es eigentlich Wurscht, ob ich hier oder in meinem Büro arbeite. Aber ich glaube, wir tun der Sache keinen Dienst, wenn wir in dieser Art und Weise weitermachen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Seeschiffahrt— Drucksache 12/6153 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/6859 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Margrit Wetzelb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz, Dr. Margrit Wetzel, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNotwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Öltankerunfällen und deren katastrophale Folgen für Mensch und Naturzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wilfried Bohlsen, Dr. Rolf Olderog, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Manfred Richter , Horst Friedrich, Ekkehard Gries, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Prävention und Bekämpfung von Öltankerunfällenzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. GregorGysi, Dr. Barbara Höll und der Gruppe derPDS/Linke Liste Verbesserung der Sicherheit
Metadaten/Kopzeile:
19250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994
Vizepräsidentin Renate Schmidtvon Tankschiffen zum Schutz von Menschen und der Umwelt— Drucksachen 12/4267, 12/4307, 12/5265, 12/6736 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Margrit WetzelIch erbitte Ihre Zustimmung, daß die Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden dürfen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es wird so verfahren.*)Ich komme damit zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Seeschiffahrt auf den Drucksachen 12/6153 und 12/6859. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu den Anträgen der Fraktion der SPD und der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Vermeidung und Bekämpfung von Öltankerunfällen auf der Drucksache 12/6736. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe A seiner Beschlußempfehlung, die Anträge auf den Drucksachen 12/4267 und 12/4307 zusammenzufassen und in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Unter Buchstabe B seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/6736 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Verbesserung der Sicherheit von Tankschiffen zum Schutz von Menschen und der Umwelt für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.*) Anlage 5Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:
— Drucksache 12/7135 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaub) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der vertraglichen Nutzungen von Erholungsgrundstücken— Drucksache 12/7229 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
FinanzausschußAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauAuch hier bitten die Kollegen und Kolleginnen, ihre Redebeiträge zu Protokoll geben zu dürfen. Gibt es dafür Einverständnis? — Das ist der Fall.* )Damit komme ich zu den Abstimmungen. Hier wird interfraktionell Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/7135 und 12/7229 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 22. April 1994, 9 Uhr ein.Ich wünsche Ihnen eine schöne, gute Nacht und noch erfreuliches Arbeiten.Die Sitzung ist geschlossen.