Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, sich von den Plätzen zu erheben.
Am 9. März 1994 verstarb der frühere Bundestagsabgeordnete, Parlamentarische Staatssekretär und Wehrbeauftragte Karl Wilhelm Berkhan.
Karl Wilhelm Berkhan — seine Freunde nannten ihn Willi — wurde am 8. April 1915 in Hamburg geboren. Er absolvierte eine Lehre als Maschinenschlosser, besuchte die Technische Lehranstalt in seiner Heimatstadt und war danach als Maschinenbauingenieur tätig. Nach dem Krieg absolvierte er ein Studium der Pädagogik an der Universität Hamburg und wurde zum Studienrat ernannt.
Karl Wilhelm Berkhan hatte sich bereits in seiner Jugendzeit politisch betätigt. Im Jahre 1945 trat er der Sozialdemokratischen Partei bei. Erste parlamentarische Erfahrungen erwarb er als Mitglied der Hamburger Bürgerschaft von 1953 bis 1957. Von 1957 bis 1975 vertrat er als Mitglied der SPD-Fraktion den Hamburger Wahlkreis Altona im Deutschen Bundestag.
Er war in der fünften Legislaturperiode stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses. Im Oktober 1969 wurde er zum Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung berufen. Im Jahre 1975 wurde Karl Wilhelm Berkhan zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gewählt. In diesem Amt hat er sich der deutschen Öffentlichkeit eingeprägt.
Seine Sachkompetenz, Geradlinigkeit und seine aus dem Herzen kommende Menschlichkeit prädestinierten ihn für die Aufgabe, Auge und Ohr des Deutschen Bundestages in der Bundeswehr zu sein. Während er die Vorgesetzten mahnte, die Würde und die Eigenständigkeit der Soldaten zu achten, forderte er diese auf, keine Untertanen, sondern mündige Bürger zu sein. Sosehr es ihm um das Ansehen der Bundeswehr und ihre Integration in die Gesellschaft ging, so stand doch der einzelne Mensch, der Soldat, im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns.
Als er 1980 für seine zweite Amtszeit wiedergewählt wurde, zeigte die übergroße Mehrheit der Stimmen, die für ihn abgegeben wurden, welches Ansehen er sich weit über die Grenzen seiner Fraktion hinaus erworben hatte.
Wir trauern heute um einen verdienten Parlamentarier und Wehrbeauftragten. Seinen Angehörigen sprechen wir unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. Wir werden uns seiner immer mit Zuneigung und Respekt erinnern.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um eine vereinbarte Debatte zur Pflegeversicherung erweitert werden. Diese Debatte soll zu Beginn der Tagesordnung aufgerufen werden. Hierfür sind zwei Stunden vereinbart worden.
Weiterhin ist vereinbart worden, zusätzlich die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses zu den Sammelübersichten 145 und 146 auf den Drucksachen 12/7036 und 12/7037 ohne Debatte zu beraten.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Vereinbarte Debatte zur Pflegeversicherung
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster erhält Bundesminister Blüm das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Jahrzehnte war der Satz „Die Pflegeversicherung kommt" eine Hoffnung, eine Erwartung, ein Versprechen, eine Forderung. Heute ist der Satz „Die Pflegeversicherung kommt" eine Mitteilung.
Noch gestern um diese Zeit war der Satz mit einem Fragezeichen versehen, heute mit einem Ausrufezeichen.
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18778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Bundesminister Dr. Norbert BlümDie Pflegeversicherung kommt. Sie wird die fünfte Säule unserer Sozialversicherung. Nach Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung kommt jetzt die Pflegeversicherung als eine weitere Säule unseres Sozialstaates, um den uns viele Menschen in der Welt beneiden.Es liegt viel Klugheit in der Sozialversicherung: Leistung für Beitrag, das ist besser als Versorgung aus einem anonymen Staatstopf. In der Selbstverwaltung unserer Sozialversicherung ist noch immer ein hohes Maß von Verantwortung investiert. Die Selbstverwaltung ist eine Schule der Partnerschaft. Die Sozialversicherung verträgt sich auch mit der Idee der Subsidiarität: Sie ist auf private Ergänzung angewiesen.Wir stützen mit der Pflegeversicherung die ambulante und die stationäre Pflege, und wir bauen jenes Zwischenfeld zwischen ambulant und stationär aus. Das Leben kennt viele Zwischenstationen und Übergänge. Unser bisheriges System kannte vorwiegend nur die harte Alternative: daheim oder im Heim. Wir wollen dazwischen Kurzzeitpflege- und Tagespflegeplätze fördern. Die Sozialinstitutionen müssen dem Leben folgen, nicht umgekehrt, und das Leben kennt viele Übergänge und Zwischenstationen.Wir wollen alles tun, daß die Menschen, solange sie können und wollen, in ihren vertrauten vier Wänden bleiben können,
in denen sie vielleicht ihr ganzes Leben mit Glück und Unglück, Freud und Leid erlebt hatten. Einen alten Baum verpflanzt man nicht gern. Das ist eine Volksweisheit, die nicht nur für Baumschulen gilt.Deshalb hat die ambulante Pflege Vorrang. Auch der zeitliche Vorlauf erklärt sich dadurch: Die ambulante Pflege wird ab 1. April 1995 in Kraft treten, die stationäre ab 1. Juli 1996. Die Beitragspflicht beginnt am 1. Januar 1995.Meine Damen und Herren, wir begeben uns auch auf Neuland, weil wir zum erstenmal eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik festlegen. Nicht die Beiträge folgen den Ausgaben, sondern die Ausgaben folgen dem festgelegten Beitragssatz. So schöpfen wir mit den Beitragseinnahmen des Jahres 1996 natürlich größere Ausgaben aus als 1991 bei der ersten Vorlage des Entwurfs.Was bringt die Pflegeversicherung ganz handfest? Vielleicht ist eine Handvoll handfester Hilfen mehr wert als ein Sack vieler Worte. Deshalb will ich über die handfesten Hilfen reden.Die 500 000 erheblich Pflegebedürftigen, die bisher keine Leistungen aus der Sozialversicherung erhielten, erhalten in Zukunft eine Geldleistung von 400 DM oder Sachleistungen im Wert von 750 DM.Die 500 000 Schwerpflegebedürftigen, die bisher 400 DM Geldleistungen oder Sachleistungen im Wert von 750 DM erhielten, erhalten mit diesem Gesetz 800 DM Geldleistungen oder 1 800 DM Sachleistungen.Die 200 000 Schwerstpflegebedürftigen — das sind diejenigen, die am stärksten pflegebedürftig sind —erhielten bisher ebenfalls 400 DM Geldleistungen oder 750 DM Sachleistungen. Sie erhalten jetzt 1 300 DM Geldleistungen oder 2 800 DM Sachleistungen, in Härtefällen sogar bis zu 3 750 DM.Meine Damen und Herren, die Anstrengung für diese Pflegeversicherung, auch der Streit, hat sich gelohnt, wenn man daran denkt, daß über 1 Million Menschen von dieser Anstrengung profitieren werden, daß ihre Lebenslage verbessert wird.
In der stationären Pflege werden bis 2 800 DM, in Härtefällen bis 3 300 DM gezahlt.Wir haben eine Anschubfinanzierung für die Investitionen im Pflegebereich in den neuen Bundesländern vorgesehen. Meine Damen und Herren, so traurig es ist: Der Sozialismus hat die Armen schäbig behandelt. Er hat offenbar nur den Produktionsfaktor Mensch gesehen. Um so mehr muß der gemeinsame Sozialstaat dieses große Defizit aufholen,
mit Hilfe in Höhe von 6,8 Milliarden DM in acht Jahren für die neuen Bundesländer.Hinzu kommen Leistungen für die Pflegepersonen. Ich denke, wenn wir über Pflege reden, dürfen wir nie nur über die Pflegebedürftigen reden, sondern wir müssen auch über diejenigen reden, die pflegen.
Wenn die Pflegeperson in der Familie vier Wochen Urlaub machen will, wenn sie einmal Atem holen will, kann sie eine Ersatzkraft für bis zu 2 800 DM im Monat in Anspruch nehmen. Ich denke, daß das eine ganz wichtige Hilfe für diejenigen ist, die oft rund um die Uhr an ihre Aufgabe gefesselt sind. Es ist wichtig, daß sie einmal aufatmen und sich ohne Sorgen regenerieren können.
Was ich ganz wichtig finde, ist, daß diejenigen, die sich für ihre Angehörigen aufopfern, eine ordentliche Unfallversicherung bekommen und einen Anspruch auf Rente. Das ist nicht nur familienpolitisch eine Unterstützung, sondern das dient gerade den Frauen, denen unsere Männerwelt diese Aufgabe zugeschoben hat, die im Alter bisher oft selbst Sozialhilfeempfänger sind.
Ich will gerade bei diesem Thema die Pflegekräfte, die Pflegenden, nicht vergessen, sowohl diejenigen, die im Beruf Pflegende sind, als auch die vielen Amateure unseres Sozialstaates, die in der Familie für ihre Angehörigen da sind. Ob Profi oder Amateur: Das sind die wahren Samariter unseres Sozialstaates. Wir
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18779
Bundesminister Dr. Norbert Blümsollten ihnen heute vom Parlament aus unsere Anerkennung aussprechen.
Es geht bei dem, was wir heute in der Schlußrunde angehen, nicht nur um das Geldverteilen. Es geht bei der Pflegeversicherung nicht nur darum, ein bißchen Geld unter die Leute zu bringen, sondern um eine neue Antwort auf neue Fragen. Es geht um eine Sozialpolitik aus der Nähe. Wir brauchen eine Sozialpolitik aus der Nachbarschaft, beispielsweise die Unterstützung der Sozialstationen. Ich glaube, daß die großen Institutionen, so unverzichtbar und wichtig sie auch sind, Gefahr laufen, zu einer kalten Verteilungsmaschine zu werden, wenn wir nicht eine Infrastruktur nachbarschaftlicher Hilfen, Hilfen aus der Nähe, aufbauen.Meine Damen und Herren, trotz der Pflegeversicherung werden auch weiterhin viel Idealismus und viel Engagement gefordert, damit Menschlichkeit und Freundlichkeit in unserem Sozialstaat Platz haben. Mit Geld allein ist Not nicht zu lindern. Vielleicht ist Einsamkeit eine neue Form von Not; sie läßt sich nicht mit Geld verhindern. Diese Pflegeversicherung soll einen Anschub für eine nachbarschaftliche Sozialpolitik, für eine neue Kultur des Helfens geben. Es bleibt die Familie, die dabei gestützt wird, die Familie als Schule der Solidarität.Vielleicht ist der Dienst für die Schwachen auch die beste Medizin gegen eine Gesellschaft, die Gefahr läuft, zu einer Ich-Verkrampfung zu degenerieren.
Die Heroisierung der Einzelkämpfer — „Jeder ist sich selbst der Nächste" — klappt nur, solange die Einzelkämpfer jung und gesund sind. Ein Staat hat allerdings nicht nur Junge und Gesunde. Deshalb brauchen wir die familiäre Gesinnung und einen neuen Aufbruch in Richtung Solidarität.
Pflege ist nicht nur Schicksal — es ist ein Schicksal, das jeden von uns treffen kann —, sondern auch gestaltungsfähig. Deshalb gilt der Satz: Rehabilitation geht vor Pflege. Deshalb gilt der Satz, unsere Mittel auch zur Reaktivierung der Pflegebedürftigen einzusetzen. Deshalb gilt der Satz, daß auch Prophylaxe einen wichtigen Beitrag dazu leistet, Pflegebedürftigkeit zu verhindern.Die Pflegeversicherung schafft auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Ich bin ganz sicher, daß eine Pflegeversicherung viele neue Arbeitsplätze schaffen wird. Die Bundesanstalt schätzt dies auf 150 000 Stellen. Das, was wir heute auf den Weg in die Endrunde bringen, ist erstens ein Programm für die Hilfsbedürftigen, für die Pflegebedürftigen, zweitens ein Programm für in der Sozialversicherung benachteiligte Frauen und für die Familien sowie drittens ein beschäftigungspolitisches Programm.Meine Damen und Herren, es ist viel über die Kompensation gestritten worden. Die Kompensation muß sein. Die Kosten, die am Arbeitsplatz hängen,sind hoch genug; sie können nicht noch weiter erhöht werden. Es wäre widersinnig, einen sozialen Fortschritt anzugehen, der mit der einen Hand neue Leistungen gewährt, mit der anderen Hand aber Arbeitsplätze vernichtet. Das wäre kein Fortschritt, das wäre reaktionär.
Wir meinen es ernst mit dem Umbau des Sozialstaats. Wir verstehen unter Umbau nicht Abbau, sondern man nimmt an der einen Stelle zurück, um an der anderen Stelle mehr tun zu können.Meine Damen und Herren, zu dem Ergebnis von gestern gab es viele Stimmen. Die Stimme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und anderer Wirtschaftsverbände ist die Stimme von schlechten Verlierern; ich nehme ausdrücklich den Wirtschaftsrat der CDU davon aus. Die Mehrheit des Parlaments hat entschieden, nicht die Verbände. Wir haben keinen Verbändestaat; Bonn ist nicht Weimar. Hier im Parlament wird entschieden, was im Sozialstaat Deutschland zu tun ist.
Die Parteien sind nicht so schlecht, wie sie gemacht werden. Sie sind kompromißfähig; das ist das größte Kompliment, das sich das Parlament heute machen kann.
Ich sage es unumwunden: Die Pflegeversicherung ist ein Kompromiß. Die Welt, meine Damen und Herren, ist nie von Kompromißfähigen gefährdet worden; sie ist immer von den arroganten Durchsetzern gefährdet worden.
Der Kompromiß ist die größte Erfindung der Zivilisation. Im Neandertal hatten sie keine Kompromisse; da hatten sie nur große Keulen.
— Nichts gegen das Neandertal. Ich wünsche Ihnen nicht, daß Sie dahin zurückbefördert werden.
Meine Damen und Herren, ich will mich ausdrücklich für die Kompromißfähigkeit bedanken. Ich denke, wir sollten es gar nicht als einen Mangel beklagen, daß wir in schwerer Zeit nach vielem Streit, in Zeiten, die von Wahlkämpfen gekennzeichnet werden, fähig sind, im Interesse der Bürger Lösungen zustande zu bringen. Das ist ein Kompliment für unseren Parteienstaat. Ich sage es noch einmal: An der Stelle erweist sich, so schlecht ist er nicht, wie er von den Besserwissern gemacht wird.
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18780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Bundesminister Dr. Norbert BlümIch habe vielen zu danken; das will ich auch an dieser Stelle sagen. Ich habe viele Stimmen gehört, nicht nur die schlechten. Von einer Stimme will ich berichten. Gestern abend hat mich Walter Arendt angerufen, ein großer Sozialpolitiker, ein großer Sozialdemokrat. Er sagte mir gestern abend: Das ist einer der größten Tage für den Sozialstaat Deutschland.Ich finde es gut, wenn es in unserem Staat Frauen und Männer von solchem Kernholz gibt, die nicht nur in parteipolitischen Kategorien denken, sondern sich immer bewußt sind: Die Parteien sind kein Selbstzweck, sie sind immer nur Mittel zum Zweck. Wir werden nicht danach gefragt, wer recht hatte, sondern danach, wie wir denen helfen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind.
Ich will in den Dank meinen Bundeskanzler einschließen, der sich von jenen nicht hat irritieren lassen, die ihm einreden wollten — angeblich kluge Leute —, daß die Pflegeversicherung Quatsch sei. Das ist kein Quatsch!Ich danke der Verhandlungskommission, die gerade in der Schlußphase die Fäden zusammengeknüpft hat, was nicht ganz leicht war.Ich danke Ihnen, Herr Scharping; ich danke Herrn Dreßler, Herrn Müntefering, Herrn Struck.Ich danke dir, lieber Wolfgang Schäuble, für den großen Einsatz,
dem Kollegen Glos und Ihnen, Herr Solms.
— Erst Herrn Glos, aber auch dem Kollegen Solms, der es nicht leicht hatte.Vielleicht hat es auch manche Stöße gegeben, möglicherweise den einen oder anderen zuviel. Vielleicht hat Julius Cronenberg einen zuviel abbekommen; dann bedaure ich das.Ich danke den Parteivorsitzenden der CSU, der F.D.P.,
auch den Sozialpolitikern, die ja die Hauptlast zu tragen hatten, stellvertretend meinem Freund Louven und Frau Babel.Herzlichen Dank dem Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses, lieber Heribert Blens.Ich will es auch hier sagen: Ich danke den Mitarbeitern des BMA.
Sie sind alle Steilkurven und Steilwände mitgefahren, haben alle Abstürze miterlebt. Wenn wir alle Paragraphen sammeln würden, die wir in den drei Jahren entworfen haben, Sie könnten Bibliotheken damitfüllen. Stellvertretend nenne ich Karl Jung, eine Eiche des Sozialstaats Deutschland.
Ende gut, alles gut. Jetzt stehen wir an der Wiege der Pflegeversicherung. Die einen sagen: Die Augen sind von mir. Die anderen sagen: Mir ähneln die Hände. Wieder andere sagen: Die Ohren sind wie die der Schwiegermutter. Wiederum andere sagen: Wie schön sind die Kompensationsbeinchen. Andere sagen: Wie gut steht ihm doch das private Jäckchen über dem solidarischen Hemdchen.
Ich sage: Laßt uns gemeinsam am Bett stehen. Laßt uns uns gemeinsam freuen und dem Kind wünschen, daß es ein guter, ein starker Nothelfer für die Schwachen wird.
Als nächster spricht der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Rudolf Scharping.Ministerpräsident Rudolf Scharping (von der SPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie immer, wenn man ein gemeinsames Ergebnis erzielt hat, gibt es nur Gewinner. Ich glaube, zunächst und vor allen Dingen haben die gewonnen, die Pflege brauchen oder Pflege leisten, die Menschen, mit denen wir — das war und ist meine persönliche Überzeugung — viel zu lange auf eine wenig achtungsvolle Weise umgegangen sind.Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß mit der jetzt greifbar gewordenen Pflegeversicherung den vielen, vielen Menschen geholfen wird, die zu Hause — wie man so schön sagt: ambulant — Hilfe von Familienangehörigen erhalten, ohne die für sie ein menschenwürdiges Leben nicht vorstellbar wäre.Es ist unbestreitbar, daß mit dieser Pflegeversicherung auch den Familienangehörigen in ganz erheblichem Umfang geholfen wird — durch die Unfallversicherung, durch die Rentenversicherung. Auch dadurch, daß dann, wenn man krank wird oder Urlaub machen möchte, andere Einrichtungen zur Verfügung stehen.Es ist genauso unbestreitbar, daß jenen geholfen wird, die in Altenheimen auf Pflege angewiesen sind. Das soll zwar etwas später geschehen, hat aber auch mit dem Vorrang der häuslichen Pflege und dem Willen zu tun, es so lange wie möglich sinnvoll und möglich zu machen, daß man in seiner gewohnten Umgebung bleiben kann.Meine Damen und Herren, wir haben uns hier im Deutschen Bundestag, aber auch im Bundesrat und an anderer Stelle häufig darüber unterhalten und gestritten, wie gerade deren Lebenssituation ist. Ich bin besonders froh darüber, daß den pflegebedürftigen Menschen und denen, die Pflege leisten, ebenso geholfen wird wie jenen, die bisher in Altenheimen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18781
Ministerpräsident Rudolf Scharping
mit einem schäbigen Taschengeld von gerade einmal 130 DM im Monat zu Rande kommen mußten.
Aus der Sicht der Sozialdemokratie ist der gefundene Kompromiß ein gutes und verantwortbares Ergebnis, was ja nicht bedeutet — so ist das mit Kompromissen —, daß man mit jeder Einzelheit einverstanden ist. Aber darauf kommt es heute auch nicht an.Wenn ich davon spreche, daß dieses Ergebnis ein Gewinn für die Menschen ist, die Pflege brauchen, und für jene, die Pflege leisten, dann will ich hinzufügen, was nach meinem Empfinden zu einer ehrlichen Bilanz gehört: Wenn der jetzt in letzter Minute und unter dem Druck der Verhältnisse zustande gekommene Kompromiß kraftvoll schon im letzten Jahr oder zuvor angesteuert worden wäre, hätten wir dieses Ergebnis für die Menschen auch früher erzielen können. Übrigens auch zum Nutzen des Ansehens der Beteiligten.
— Schauen Sie, ich habe das an niemanden adressiert. Aber ich finde es sehr interessant, daß Sie es gleich wieder adressieren wollen. Ich will deshalb auch der Versuchung widerstehen, Ihnen vorzuhalten, wie vereinbar es denn mit den heutigen Bekundungen über die Qualität des Sozialstaats, der Solidarität, der Selbstverwaltung gewesen wäre, wenn man zu Karenztagen, einer Kürzung der Entgeltfortzahlung oder anderen Maßnahmen gekommen wäre.
Ich stimme dem Bundesarbeitsminister ausdrücklich zu: Das ist ein guter Tag für die betroffenen Menschen und für die Idee des Sozialstaates. Das sage ich mit besonderer Betonung deshalb, weil sich neben dem, was für die Menschen getan wird, natürlich auch Erwartungen an diesen Kompromiß knüpfen. Eine Erwartung ist, daß die daran Beteiligten es wirklich ernst meinen mit der Zielsetzung, daß es bei der gemeinsamen Finanzierung der großen sozialen Sicherungssysteme durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gleichen Teilen bleiben soll.
Auch das will ich nicht näher adressieren. Aber mir ist bekannt, daß es neben den Beiräten beim Finanzminister noch andere Kräfte und Gruppen gibt — auch solche, die sich heute hinter dem Kompromiß versammeln —, die nichts lieber gesehen hätten als den Einstieg in eine andere Form der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme.
Meine Damen und Herren, gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten muß der Sozialstaat seine Qualität beweisen. Nach unserem Empfinden — das sage ich auch mit Blick auf mancherlei Kritik aus der Wirtschaft — ist der Sozialstaat nicht der Lazarettwagen hinter der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern gleichberechtigtes Gestaltungsprinzip der Gemeinschaft und als solches die Garantie dafür, daß jeder einzelne im Alltag die im Grundgesetz beschriebene und festgelegte Würde des Menschen auch erfahren kann.
An diesen Kompromiß knüpft sich auch die Erwartung, daß das — wie wir es in den Verhandlungen immer genannt haben — Regel-Ausnahme-Verhältnis tatsächlich eingehalten wird und alle Beteiligten den ernsten Willen haben, den Ausgleich der Arbeitgeberkosten nicht dadurch zu suchen, daß man die Arbeitnehmer 100 % des Beitrages bezahlen läßt, sondern dadurch, daß man auf einen Feiertag verzichtet.Ich appelliere insbesondere an jene Landesregierungen und Landesparlamente, die im Vorfeld dieses Kompromisses hier Widerstand signalisiert haben, jetzt im Interesse einer einheitlichen vernünftigen Lösung sozialstaatlicher Probleme in Deutschland diesen Widerstand aufzugeben; das müßte besonders leichtfallen, wenn man über viele Feiertage verfügt.
Das wäre auch deshalb sinnvoll, weil dann von den Überprüfungsklauseln, die wir vereinbart haben, im Jahre 1995 nicht Gebrauch gemacht werden müßte.Meine Damen und Herren, ich will überhaupt nicht verschweigen, daß es im Rahmen dieses Kompromisses vermutlich für alle, auch für die Sozialdemokraten, Einsichten in Notwendigkeiten hat geben müssen und daß mancher mit seinen Vorstellungen zurückstecken mußte — ob das nun die Vorstellung war, daß man von vornherein auf zwei Feiertage verzichtet, oder ob das die Vorstellung war, daß man grundsätzlich hätte ausschließen müssen, daß es für den Fall der Ausnahme — nämlich der Ausnahme eines nicht gestrichenen Feiertages — zur hundertprozentigen Übernahme der Beiträge durch die Arbeitnehmer kommt.Ich sage noch einmal: So ist das mit Kompromissen. Ich beweine das in keiner Weise. Es ist tatsächlich so, daß man in Fällen wie bei dieser Frage, von der alle — wie ich finde: zu Recht — gesagt haben, sie sei als die fünfte Säule der Sozialversicherung von ganz zentraler Bedeutung, die Fähigkeit behalten muß, seine eigenen Vorstellungen in einen Kompromiß einzubringen, daß man aber nicht die Erwartung haben darf, die eigenen Vorstellungen seien der Inhalt des Kompromisses.Insofern — da stimme ich Norbert Blüm auch ausdrücklich zu — sind der Wille, die Fähigkeit zum Konsens in einer Demokratie viel mehr, als manche glauben, die das gern abmalen würden als faulen Kompromiß und als eine Möglichkeit, Gegensätze, unterschiedliche Auffassungen, die ja bestehen, einfach zuzukleistern. Das ist viel mehr als nur das Zukleistern oder der faule Kompromiß. Ich bin, die Sozialdemokratie ist mit diesem Ergebnis zufrieden — im Interesse der betroffenen Menschen.Ich will ausdrücklich sagen, daß man dabei vielen zu danken hätte, insbesondere denen, die schon vor
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18782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Ministerpräsident Rudolf Scharping
vielen Jahren erkannt haben, daß eine Pflegeversicherung dringend notwendig werden würde,
jenen Frauen und Männern, die schon in den achtziger Jahren die Idee propagiert haben
und die zu jenem Zeitpunkt von vielen kritisch, teilweise belächelt, begleitet wurden nach dem Motto: Nun hätten die Sozialpolitiker wieder einmal eine Schnapsidee, welche Wohltat man noch unter das Volk bringen könne. Es hat sich herausgestellt, daß diese Frauen und Männer damals die Entwicklung richtig eingeschätzt haben und daß die Bedürftigkeit nach Pflege heute rund 2 Millionen Menschen betrifft, für die eine Lösung jetzt gefunden wird, Gott sei Dank und — ich sage es noch einmal — in letzter Minute.
Es ist auch jenen zu danken, die das Vorhaben über viele Jahre hinweg konsequent und hartnäckig verfolgt haben. Damit da kein falscher Zungenschlag hineinkommt: Dazu gehört der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rudolf Dreßler, genauso wie der amtierende Bundesarbeitsminister.
Indem ich diese beiden lobe, will ich niemanden, der sonst an den Verhandlungen beteiligt war, zurücksetzen. Aber ich möchte doch sehr deutlich machen, daß beide auf sehr unterschiedliche Weise Widerstände zu überwinden hatten. Daß sie überwunden wurden, ist ein gemeinsamer Erfolg.Ich finde, man kann heute sagen: Allen Widrigkeiten, allem Gezerre in den letzten Monaten zum Trotz, gibt es heute ein gutes, ein verantwortbares Ergebnis. Darüber können sich insbesondere diejenigen freuen, die Pflege brauchen oder die Pflege leisten.Es sollte die Einsicht vorherrschen, daß bei der Weiterentwicklung des Sozialstaates in den wirtschaftlich möglichen Grenzen — das ist ja unbestreitbar — heute ein ganz wichtiger Schritt gemacht wird. Daß es gelungen ist, diesen Schritt bei sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen trotz der vor uns liegenden Wahlkämpfe jetzt zu tun, ist vielleicht auch ein Hinweis darauf, daß wir uns bei allen parteipolitischen Gegensätzen in den zentralen Fragen des Gemeinwesens — das sind nicht nur, aber eben auch die zentralen sozialpolitischen Fragen — die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln bewahren sollten. Das macht den Streit über andere Fragen in der Sache erstens erträglicher, zweitens glaubwürdiger und drittens für die Bürgerinnen und Bürger fruchtbarer und nachvollziehbarer.In diesem Sinne: Es ist für die betroffenen Menschen, für den Sozialstaat ein guter Tag und für die beteiligten Parteien vielleicht auch eine Mahnung, es früher und konsequenter zu versuchen, wenn es um Gemeinsamkeit in überragenden Fragen geht.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eugen Gerstenmaier, einer der großen Präsidenten des Deutschen Bundestages, hat — wenn ich es richtig im Gedächtnis habe — seine Memoiren überschrieben: „Zeit zum Frieden, Zeit zum Streit". Heute ist nicht Zeit zum Streit.Ich denke, wir haben ein gutes gemeinsames Ergebnis erzielt, ein Ergebnis, das Norbert Blüm und Ministerpräsident Scharping gewürdigt haben. Wir sind froh, daß nun nach so langen, intensiven Bemühungen und Auseinandersetzungen feststeht, daß die Pflege kommt.Die Frage, warum es so lange gedauert hat — nicht nur in den letzten Wochen und Monaten, sondern über Jahre; man könnte ja darüber nachdenken, warum man es in den 80er Jahren gefordert und nicht schon in den 70er Jahren gemacht hat —, hat etwas damit zu tun, daß es so ungeheuer schwierig ist und immer gewesen ist. Es war ja nicht nur ein Gezerre zwischen verschiedenen Gruppierungen oder Interessen, sondern es war und bleibt objektiv ungeheuer schwierig, vor allem jetzt, in einer Zeit, in der die wirtschaftlichen Belastungen und Anforderungen schwieriger geworden sind, als sie in den 70er und 80er Jahren waren. Im Gefolge der Überwindung der Belastungen nach 40 Jahren Teilung und Sozialismus in der ehemaligen DDR war es besonders schwierig.Auf der einen Seite bestreitet niemand, daß wir endlich — und deshalb jetzt — eine bessere Vorsorge für das Risiko der Pflegebedürftigkeit und Hilfe für die Pflegebedürftigen und ihre Familien schaffen müssen. Aber niemand kann auch bestreiten, daß jede Erhöhung der Kosten der Arbeit in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, in der wir uns Sorgen über den Arbeitsmarkt machen, von niemandem leicht zu verantworten ist. Deswegen war es so schwierig. Deswegen haben wir so lange damit gerungen, ob es eine andere Form als die der umlagefinanzierten Pflegeversicherung geben könne. Es gibt sie nicht. Es hat sie nicht gegeben.Ich will noch einmal erläutern, warum es sie nicht gibt und nicht geben konnte. Wir hätten bei jedem anderen System als dem der Umlagefinanzierung keine Lösung für die Menschen, die heute schon pflegebedürftig sind, und ihre Familien geschaffen. Wir können ja jetzt nicht die Pflegeversicherung einführen, damit sie in 30 Jahren für künftige Pflegebedürftige und ihre Familien Leistungen erbringt. Wenn man diese heute einbeziehen will, mußte man auf die Umlage kommen.
Wer sagt, das sei zu teuer, der hätte bei einer Kombination von Kapitalsammelverfahren und Umlagefinanzierung zwei Pflegeversicherungen finanzieren müssen, was vermutlich nicht billiger und nicht weniger belastend geworden wäre. Deswegen hat sich am Ende die Erkenntnis durchgesetzt, daß es eine andere Form als die der Umlagefinanzierung nicht geben kann.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18783
Dr. Wolfgang SchäubleDann mußten wir einen Weg finden, eine Verschlechterung der Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung und der Perspektiven am Arbeitsmarkt bei Einführung der umlagefinanzierten Pflegeversicherung zu verhindern. Dieses war nicht aus Jux und Dollerei oder Rechthaberei nötig, sondern aus dem einzigen Grund, daß wir in einer wirtschaftlich schwierigen, angestrengten Zeit nichts tun dürfen, was die Chancen, für mehr Menschen Arbeit zu finden und zu behalten, verschlechtern würde. Das war die objektive Aufgabe.
Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Bitte.
Herr Kollege Schäuble, Sie sagten gerade, es hätte keine andere Möglichkeit außer der umlagefinanzierten Pflegeversicherung gegeben, weil ansonsten die jetzt Betroffenen nichts bekommen hätten. Wollen Sie damit bestreiten, daß der Bundestag bei entsprechendem politischen Willen nicht in der Lage gewesen wäre, eine steuerfinanzierte Pflegeabsicherung zu beschließen, die sofort für alle in Kraft tritt? Hätte der Bundestag diese Möglichkeit gehabt oder nicht?
Ich frage dies, weil Sie ja sozusagen gesagt haben, daß es nicht einmal die Möglichkeit gegeben hätte.
Herr Kollege Seifert, natürlich kann der Bundestag grundsätzlich beschließen, Pflegebedürftigen oder wem auch immer aus den Steuereinnahmen Geld zur Verfügung zu stellen. Das wäre dann allerdings keine Versicherung. Ich aber rede von der Pflegeversicherung, und Versicherung heißt ja, daß Beiträge aufgebracht werden müssen, die den Leistungsberechtigten, den Anspruchsberechtigten zugute kommen. Das geht eben nicht aus der Steuer.Wenn ich von der Pflegeversicherung rede, gibt es die beiden Alternativen: Entweder man sammelt nach dem Prinzip, mit dem man Lebensversicherungen betreibt, das Kapital an und zahlt es später aus, oder man macht das Umlageprinzip, mit dem wir unsere sozialen Sicherungssysteme finanzieren. Hinsichtlich dieser beiden Alternativen haben wir lange gerungen. Wir haben uns davon überzeugt, daß nur das Umlagefinanzierungssystem geht, weil man sonst die heute schon Anspruchsberechtigten in ein solches Versicherungssystem nicht einbeziehen kann. Daran führt, glaube ich, kein Weg vorbei.
Nun will ich noch einmal etwas zu dem sagen, was sich unter dem Stichwort Kompensation — ein furchtbares Wort — verborgen hat und was ja so als Gezerre verstanden worden ist. Das ist doch in Wahrheit das Ringen zwischen den beiden gleich wichtigen Gesichtspunkten gewesen, einerseits nichts zu tun, was die Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung und die Beschäftigung verschlechtert, und andererseits gleichzeitig die Pflegeversicherung zu schaffen. Dabei mußte ein vernünftiger und tragfähiger, beiden Gesichtspunkten Rechnung tragender Weg gefunden werden.Wir sind ja manchmal in der Gefahr, daß wir auch von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht verstanden werden, weil wir unsere Fachbegriffe haben. Kompensation, Kompensation — man konnte es ja nicht mehr hören. Aber in Wahrheit ging es darum, etwas Richtiges zu tun, ohne auf der anderen Seite Schaden anzurichten,
was ja bei der Begrenztheit der politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Mittel immer, bei jeder Entscheidung so ungeheuer schwierig ist.Deshalb sollte man vielleicht auch gerade an diesem Tag, an dem wir Grund haben, uns gegenseitig für die Fähigkeit zum Kompromiß und zum Konsens zu danken, daran erinnern, daß es nicht nur ein Gezerre ist, sondern daß es ein Ringen um sachlich richtige und verantwortbare Lösungen ist. Das verbirgt sich dahinter. Deswegen ist es so schwierig gewesen.Ich glaube, daß wir einen verantwortbaren Weg gefunden haben, nicht nur die Pflegeversicherung jetzt zu schaffen, sondern zugleich Nachteile für die wirtschaftliche Entwicklung und für den Arbeitsmarkt auf diesem Weg zu vermeiden.
Ich glaube auch, daß wir es, nachdem sich herausgestellt hat, daß wir keinen anderen Weg zur Einigung, zum Konsens finden, richtig gemacht haben, dabei zu bleiben, das Problem —jedenfalls in der Regel— über Feiertage zu lösen.Weiter ist richtig, daß wir in dem Respekt vor der Zuständigkeit der Landesgesetzgeber für die Frage von Feiertagen oder nicht gesagt haben: Es muß dabei bleiben, wir als Deutscher Bundestag, als Bundesgesetzgeber können uns nicht in die eigenverantwortliche Zuständigkeit der Landesgesetzgeber einmischen. Wir können sie auch nicht verpflichten. Das tun wir auch nicht mit dieser Regelung.
Wir können sie bitten. Wir können Erwartungen und Hoffnungen aussprechen, aber wir dürfen uns zugleich nicht — und das war auch schwierig — als Bundesgesetzgeber aus der Verantwortung herausreden, indem wir sagen: Das können ja die Länder machen. Das ist das, was mit Kompensation zu kurz beschrieben ist.Deswegen mußten wir eine Regelung finden — das war am Schluß auch noch schwierig —, mit der der Bundesgesetzgeber seiner Verantwortung, bei Einführung der Pflegeversicherung dennoch die Wirt-
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18784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Dr. Wolfgang Schäubleschaft nicht zu beschädigen und die Arbeitsplätze nicht weiter zu gefährden, gerecht wird. Das ist die Kombination zwischen den beiden Elementen. Das sind alles keine oberflächlichen, einfach geschäftsmäßige Kompromisse, sondern es ist eine Vereinbarung, bei der beiden Gesichtspunkten jeweils Rechnung getragen werden mußte.Ich denke, daß wir im Ergebnis auch insoweit der Eigenverantwortung der deutschen Länder Rechnung getragen haben und uns gleichzeitig als Bundesgesetzgeber nicht aus der Verantwortung dafür, daß die wirtschaftliche Entwicklung nicht beschädigt wird, herausgestohlen haben. Vielmehr werden wir mit dieser Regelung unserer Verantwortung gerecht. Deswegen ist es auch insoweit ein gutes Ergebnis.Ich finde, es ist darüber hinaus ein gutes Ergebnis, daß es gelungen ist — da müssen auch Bund und Länder zusammenwirken —, daß wir, Bund und Länder gemeinsam, in den nächsten acht Jahren für die Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern jeweils 800 Millionen DM, insgesamt 6,4 Milliarden DM zur Verfügung stellen.
Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Vollendung der deutschen Einheit.Norbert Blüm hat es schon gesagt — man muß gelegentlich daran erinnern, weil so vieles nostalgisch zugedeckt werden soll —: Die Trostlosigkeit der Hinterlassenschaft des totalitären Sozialismus in der früheren DDR zeigt sich gerade auch an dem skandalösen Zustand der Einrichtungen für die Schwachen unter den Menschen in den neuen Bundesländern.
Mit diesen 6,4 Milliarden DM kann in den nächsten acht Jahren ungeheuer viel in kurzer Zeit getan werden, um auch für pflegebedürftige Menschen und ihre Familien die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland zu erreichen.
— Herr Kollege Seifert, ich streite mit Ihnen besonders ungern, wie jedermann verstehen wird, und über dieses Thema noch einmal ungern. Aber machen Sie es mir nicht zu schwer, dabei zu bleiben.
Es war übrigens nie strittig zwischen denjenigen, die sich um eine Lösung bemüht haben, daß wir den Vorrang für die häusliche Pflege schaffen wollen. Es ist gut, daß der Vorrang für die häusliche Pflege jetzt auch in diesem Ergebnis verankert ist.
Wir werden mit den Problemen unserer freiheitlichen Gesellschaft nicht gut zu Rande kommen, wenn wir die freiwillige Solidarität nicht stärken. Wo, wennnicht in der Familie, wird denn freiwillige Solidarität gelebt? Wo gibt es freiwillige Solidarität zwischen Starken und Schwachen, zwischen den Generationen, wenn nicht in der Familie? Deswegen müssen wir die Familien stärken. Die staatlich verordnete Solidarität wie im totalitären Sozialismus hat miserable Ergebnisse gezeigt. Deswegen: Vorrang für die häusliche Pflege, Stärkung der Familie.
Ich finde es auch gut, daß wir nach den Aussagen der Bundesanstalt für Arbeit mit der Einführung der Pflegeversicherung — ich habe es kürzlich in einem anderen Zusammenhang erwähnt — doch davon ausgehen können, daß mindestens 150 000 neue zusätzliche Arbeitsplätze im privaten Bereich geschaffen werden. Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es ein Anlaß, noch einmal darüber nachzudenken, ob wir nicht gemeinsam die Bemühungen verstärken sollten, im privaten Bereich mehr Arbeitsplätze zu schaffen, damit wir auch Arbeit für alle erreichen.
Ich bin skeptisch, Herr Kollege Dreßler, gegenüber den Berechnungen, wieviel die Politik dafür tun kann, in welcher Zeit wieviel Arbeitsplätze geschaffen werden oder wieviel Arbeitslosigkeit verringert wird, zumal man mit solchen Vorhersagen immer den Eindruck erweckt, als könne die Politik etwas machen, was sie gar nicht kann. Das kann sie in der Sozialen Marktwirtschaft, in der freiheitlichen Demokratie nicht. Aber daß wir im tertiären Bereich — Handwerk, Handel, Dienstleistungen, private Haushalte — viele zusätzliche Arbeitsplätze brauchen und bekommen können, wenn wir uns darauf konzentrieren, scheint mir unbestreitbar richtig und notwendig zu sein. Ich möchte bei dieser Gelegenheit dafür werben, daß wir dies auch tun.
Es ist gut, daß wir jetzt zu einer Entscheidung gekommen sind. Niemand hätte verstanden, wenn sie noch einmal vertagt worden wäre. Die gesetzgeberischen Einzelheiten werden mit der Beschlußfassung heute umgesetzt. Wenn dem Antrag der Fraktionen dieses Hohen Hauses zugestimmt wird, ist die politische Entscheidung klar. Der Vermittlungsausschuß hat eine entsprechende Empfehlung gegeben.Ich möchte mich auch bei allen bedanken — ich muß das jetzt nicht im einzelnen ausführen —, daß wir dieses Ergebnis erreicht haben. Es hat den Eindruck widerlegt, daß die politischen Parteien, Mehrheit und Minderheit, zur Einigung und zu Entscheidungen nicht fähig seien. Es widerlegt übrigens auch den Eindruck, daß Kompromisse in der Sache falsch seien.
Das, was wir als Kompromiß, als Grundlage für eine Einigung erreicht haben, ist in der Sache vertretbar und richtig. Es zeigt, daß wir selbst in Wahljahren zu Entscheidungen fähig sind. Es zeigt, daß die Demo-
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Dr. Wolfgang Schäublekratie funktioniert, und sie funktioniert unabhängig von Wahlterminen.Es zeigt übrigens noch eines: daß man in den bewährten Regelungen zwischen Mehrheit und Minderheit und auch unterschiedlichen Mehrheiten von Bundesrat und Bundestag zu Lösungen kommen kann und daß es deswegen all des Geredes, daß wir eine andere Koalition brauchen, überhaupt nicht bedarf. Es funktioniert so gut und richtig.
Aber es ist für alle nicht einfach. Wir müssen auch immer sehen, daß der Streit, den wir in der Demokratie zu führen haben — sie funktioniert nicht, wenn der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Gruppierungen nicht vorhanden ist; das ist das Wesensmerkmal der parlamentarischen Demokratie —, nicht das einzige ist. Vielmehr ist die Verantwortung für unser Land und die Menschen unseres Landes eine gemeinsame, egal auf welcher Seite in diesem Haus oder ob man im Bundesrat oder Bundestag sitzt.Daß wir zu dieser gemeinsamen Verantwortung fähig sind, ist auch ein gutes Zeichen an diesem Tag. Dafür möchte ich mich insbesondere auch bei den Kollegen der Sozialdemokratischen Partei und Fraktion bedanken. Es war schwierig. Wir haben es uns nicht leichtgemacht; dafür war es objektiv zu schwierig. Aber es ist gut gelungen.Meine Damen und Herren, Sie werden vielleicht Verständnis haben, daß an diesem Tag mein letztes Wort ein Wort des Dankes an Norbert Blüm ist.
Manchem von uns, Herr Kollege Solms, Michael Glos, ist er im Laufe der letzten drei Jahre gelegentlich fast schon auf die Nerven gegangen. Sie werden das nachempfinden können.
— Das verstehe ich. — Aber, Herr Kollege Struck, ich habe es in den letzten Wochen gelegentlich gedacht, und gestern habe ich es wirklich empfunden: Wenn er nicht mit einer solchen unerschütterlichen und manchmal nervenaufreibenden Hartnäckigkeit und Zähigkeit für die Pflegeversicherung gestritten und unermüdlich und immer wieder dafür gekämpft hätte, dann hätten wir sie nicht erreicht. Deswegen, Norbert Blüm, herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Hermann Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind einen langen Weg gegangen. Der Weg war von Steinen gepflastert. Die Verhandlungen waren schwierig. Sie waren deshalb so schwierig, weil wir von unterschiedlichen Positionen über die Technik, über das Modell, über das Finanzierungssystem einer einzuführenden Pflegeversicherung ausgegangen sind. Aber wir hatten vom Grundsatz her nie Streit, daß eine Pflegeversicherung eingeführt werden müsse.Der Volksmund sagt: Was lange währt, wird endlich gut. Ich glaube, daß wir, auch auf Grund der Intensität der Beratungen, ein wirklich gutes, ein vorzeigbares, insbesondere aber ein den Nöten der pflegebedürftigen Menschen gerecht werdendes Modell, einen vertretbaren Kompromiß, gefunden haben.
Deswegen sage ich für meine Fraktion ausdrücklich, daß wir das vorliegende Verhandlungsergebnis begrüßen, unterstützen und alles dazu beitragen werden, um es möglichst schnell in Gesetzesform zu bringen und umzusetzen.Meine Damen und Herren, ich möchte das aufgreifen, womit Herr Schäuble gerade geendet hat, und ein persönliches Wort an den Kollegen Norbert Blüm richten. Er hat es uns nicht leicht gemacht.
Ich muß das wirklich sagen. Er hat mit unvergleichlicher Hartnäckigkeit und Geduld, die manchmal bis an die Besessenheit grenzte, die Verhandlungen geführt und, wenn sie zu scheitern drohten, nie nachgelassen, neue Wege zu finden und das Gespräch wieder aufzunehmen.
Aber was das Entscheidende ist und was uns immer wieder dazu gebracht hat, Geduld zu wahren, uns zusammenzureißen und weiter zu verhandeln, war, daß er bei aller Entschlossenheit und Besessenheit die Kompromißfähigkeit nie verloren hat. Das hat es uns dann schließlich möglich gemacht, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Aber man muß als Verhandlungsbeteiligter sagen: Es gab schon Situationen, in denen man die Sache hinschmeißen wollte. Deswegen will ich noch einmal auf einige wenige Punkte eingehen, die zum Ausdruck bringen, warum die Verhandlungen so schwierig waren und welche verschiedenen Positionen in Übereinstimmung zu bringen waren.Daß die Pflegenotwendigkeit vorhanden ist, ist unbestritten. Das zeigt ja schon die Bevölkerungsentwicklung in unserem Lande. Die Zahl der über 80jährigen, die heute bei drei Millionen steht, wird in zwei Jahrzehnten bei etwa 4,5 bis 5 Millionen liegen. Je mehr alte Menschen im Lande sind, desto mehr werden natürlich in die Situation der Pflegebedürftigkeit kommen können.Eine Zahl, die das am besten ausdrücken kann, ist die: Mitte der dreißiger Jahre gab es im Deutschen Reich zwei oder drei Hundertjährige. Heute gibt es in der Bundesrepublik nahezu 4 000 Hundertjährige bei etwa der gleichen Bevölkerungszahl. Das zeigt ganz deutlich und plastisch, wie sich die Situation entwikkelt hat.
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Dr. Hermann Otto SolmsWir wußten also alle: Eine Pflegeversicherung muß eingeführt werden. Es gab aber zwei grundsätzliche Modelle. Das Basismodell dieses Kompromisses ist ein Umlageverfahren, wie es bei den anderen Sozialversicherungssystemen üblich ist, in dem aber die Beitragsbelastung an den Arbeitsplatz anknüpft. Es gab ein anderes Modell, welches wir bevorzugt hätten, nämlich eine Art Haftpflichtversicherung, ein Kapitaldeckungsverfahren, in dem sich jeder Mensch individuell gegen sein eigenes Risiko versichert — unabhängig davon, ob er Beschäftigter ist oder nicht. Das hätte natürlich die zusätzlichen Kosten des Arbeitsplatzes nicht gebracht, hätte die Arbeitskosten nicht erhöht.Dafür gab es keine Mehrheit. Deswegen ging es für uns darum, die negativen Seiten des Umlageverfahrens einzugrenzen. In beiden Verfahren gibt es negative Seiten. Herr Schäuble hat auch darauf hingewiesen: Beim Kapitaldeckungsverfahren hätten wir natürlich keine Lösung für die jetzt Pflegebedürftigen oder für die in den nächsten Jahren pflegebedürftig Werdenden gehabt, sondern diese wären weiterhin auf den Steuerzahler angewiesen gewesen.Worum ging es also? Welche Risiken galt es zu begrenzen? Das Wichtigste: Die damit zwingend verbundene Erhöhung der Belastung der Arbeitsplätze mußte ausgeglichen werden. Das ist die Kompensationsfrage, die bis zum Schluß die umstrittene Frage war. Ich bin sehr zufrieden, daß es jedenfalls bei den klassischen Parteien Allgemeingut geworden ist, daß diese zusätzliche Belastung auszugleichen sei. Die Frage, wie hoch dieses Ausgleichsvolumen ist, haben wir außer Streit gestellt, indem wir gesagt haben: Das sollen Fachleute errechnen, in diesem Fall der Sachverständigenrat; wir werden uns dann danach richten.Für die F.D.P. ist es wichtig, daß dieser Ausgleich gelungen ist. Deswegen halte ich die Kritik des Arbeitgeberverbandes für ausgesprochen unglaubwürdig.
Er sagt jetzt, das sei ein mißlungenes Werk, obwohl er in seinen Eingaben zu diesem Thema selber gesagt hat, daß eine Kompensation von zwei Feiertagen oder Urlaubstagen ausreichend sei.
Da muß man schon einmal die Kirche im Dorf lassen, meine Damen und Herren. Dieser Kompromiß ist, auch was die Interessen der Arbeitgeber betrifft, äußerst verantwortlich, und deswegen bekennen wir uns dazu.
Das zweite, was wichtig war, war die Gefahr einer automatischen Kostenexplosion, die mit einem solchen neuen Sozialwerk verbunden sein könnte. Diese haben wir begrenzt, und zwar einvernehmlich begrenzt, indem wir gesagt haben: Wir definieren den Beitragssatz der Versicherten, nicht jedoch die Leistung, so daß sich der Beitragssatz nicht automatisch, wie bei den Holländern vervielfachen und eineKostenexplosion, die dann wiederum die Wirtschaft und Arbeitswelt belasten müßte, auch nicht eintreten kann.Das dritte war, daß wir das gegliederte Versicherungssystem, das wir in diesem Lande haben und das durch Wettbewerb bessere Leistungen als ein zentralisiertes System erbringt, erhalten und nicht aufs Spiel setzen. Die Gefahr der Einführung einer Volksversicherung, die zwischendurch von manchen gefordert worden war, ist damit abgewendet worden. Dies ist ebenfalls ein Erfolg dieser Verhandlungen gewesen.Ich will jetzt nicht weiter auf die Einzelheiten eingehen. Für uns sind dies wichtige Gründe. Wichtig ist aber auch, daß es gelungen ist, den Vorrang der häuslichen Pflege gegenüber der stationären Pflege durchzusetzen. Es ist wirklich ein Allgemeingut, und davon sind wir alle überzeugt, daß es richtig ist, daß wir den Menschen, wenn irgend möglich, die Chance eröffnen, auch im Pflegefall ihr Haus, ihre Wohnung, ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen zu müssen. Das geht nur, wenn die Infrastruktur flächendeckend in der ganzen Bundesrepublik aufgebaut wird, um diese häusliche Pflege durch Sozialstationen und ähnliche Einrichtungen sicherzustellen. Auch das ist gelungen.Deswegen möchte ich abschließend sagen: Für die F.D.P.-Fraktion ist dies ein gutes Ergebnis. Wir werden dieses Ergebnis unterstützen. Ich glaube auch, daß es damit gelungen ist, deutlich zu machen, daß die Koalitionsfraktionen dem gerecht werden, was die Bürger von ihnen erwarten, nämlich, wenn man die Regierungsmehrheit hat, auch die Probleme anzupakken und zu lösen, die bei den Bürgern als dringend lösungsbedürftig angesehen werden.
Ich glaube — da möchte ich die SPD ausdrücklich einschließen —, daß es ein Erfolg für die Demokratie ist, daß die klassischen Parteien gezeigt haben, daß sie über alle Unterschiedlichkeiten hinweg in der Lage sind, die Gemeinsamkeiten zu erkennen und notwendige Lösungen gemeinsam zu beschließen. Das ist das, was diese klassischen Parteien vereint. Nur dadurch können eine Stärkung der Demokratie und eine Stärkung unseres erfolgreichen Systems der repräsentativen Demokratie gelingen.Ich hoffe, daß die Bürger dies erkennen werden und daß damit die Gefahr der Zunahme extremistischer Gruppen zusätzlich gebannt wird.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste freut sich über jede Mark, die Bedürftigen zugute kommt. Armut zu verhindern ist eines unserer wichtigsten Anliegen. Deswegen arbeiten wir trotz prinzipiell
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Dr. Ilja Seifertunterschiedlicher Ansichten in den Ausschüssen sehr aktiv mit.
— Das wissen Sie so gut wie ich.
Trotzdem, was hier vorliegt, hat mit realer Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen oder im höheren Lebensalter nicht viel zu tun. Eine wirklich soziale und solidarische Pflegeabsicherung wäre eine wichtige Form des Nachteilsausgleichs. Die Weigerung, das Gleichstellungs- und Nachteilsausgleichsgebot ins Grundgesetz aufzunehmen, hat hier aber fatale Folgen.Sie werden sich noch wundern, wenn wir beispielsweise am 5. Mai, dem inzwischen traditionellen Aktionstag der Menschen mit Behinderungen, wieder auf die Straße gehen und Ihnen nicht für dieses heutige Werk danken. Die Menschen werden Ihnen sagen: Das ist ein fauler Kompromiß. Sie werden Gleichstellung und Nachteilsausgleiche fordern, also eigentlich Selbstverständliches.Sie werden sagen, daß der Sozialstaat die Pflegefrage anders beantworten muß. Jetzt haben die Länder den Schwarzen Peter. Ich bin gespannt, wer den Karfreitag, den Ostermontag, Himmelfahrt, den Pfingstmontag oder so etwas, was immer auf einen Wochentag fällt, streichen wird oder ob es tatsächlich, was zu befürchten ist, bei 100 % Zahlung der arbeitenden Menschen bleibt — wohlgemerkt: derjenigen, die nicht allzuviel verdienen.Ihr Kompromiß bringt die Menschen in diesem Land zudem gegeneinander auf. Diejenigen, die sich noch ein mittleres oder geringes Einkommen erarbeiten dürfen, zahlen vollständig, also 100 %, für diejenigen, die auf assistierende oder anleitende Pflege angewiesen sind. Die Reichen müssen nur sich selber versorgen. Nur dem selbstverständlichen Solidaritätsgefühl der meisten arbeitenden Menschen in Stadt und Land untereinander ist es zu verdanken, daß sich der Unmut bisher noch nicht massiv gegen die ganz Schwachen richtet. Was aber, so frage ich Sie, wenn die Not noch größer wird? Gegen wen richtet sich dann die Wut?Ihr Kompromiß — das ist vielleicht das Allerschlimmste — ist der erste Schritt bei der Demontage des Sozialstaates. Herr Dreßler gibt sogar zu, daß er weiß, was für einen faulen Kompromiß die SPD hier aus ziemlich durchsichtigen wahltaktischen Gründen eingegangen ist, wenn er verspricht, nach der nächsten Wahl — er meint die Bundestagswahl — die 100%ige Finanzierung durch die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die Angestellten zu korrigieren.
— Das hat er gestern gesagt. Sie brauchen doch bloß die Zeitung zu lesen.Daß die vielgepriesenen Leistungen nicht ausreichen — auch wenn jetzt 100 DM draufgelegt worden sind —, habe ich hier schon mehrfach gesagt. 25 Einsätze pro Monat für erheblich Pflegebedürftige lassen genauso wie 75 Einsätze für Schwerstpflegebedürftige fünf bis sechs Tage im Monat einfach unter den Tisch fallen, selbst dann, wenn man unterstellt, daß ein bis drei Stunden pro Tag ausreichen würden. Siewissen allerdings so gut wie ich, daß das nicht der Fall ist. Wenn man Menschen wirklich helfen will, kann man das nicht auf je eine Stunde beschränken. Das ist viel, viel komplizierter.Und dann, meine Damen und Herren, was heißt denn eigentlich in Ihrem heutigen Antrag: „Über die übrigen Leistungen wie Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Pflegehilfsmittel, Zuschüsse zu pflegebedingtem Umbau der Wohnung und unentgeltliche Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen besteht ebenfalls Einigkeit"? Worin besteht denn diese Einigkeit? Daß Umbau der Wohnung, Nachtpflege, Kurzzeitpflege, betreutes Wohnen usw. sehr wichtige Dinge sind, steht außer Frage. Aber sagen Sie bitte einmal: Worin besteht zwischen Ihnen Einigkeit? Das steht in Ihrem Antrag gar nicht drin. Besteht die Einigkeit vielleicht darin, daß Sie nicht offen sagen wollen, daß das alles nicht geregelt ist?
Eine andere Frage: Sie finanzieren den investiven Nachholbedarf für ostdeutsche Pflegeeinrichtungen aus Einsparungen in der Kriegsopferversorgung. Ist das vielleicht der Grund, daß bis heute noch nicht einmal die Hälfte der Kriegsopfer in Ostdeutschland, die zu DDR-Zeiten nicht anerkannt waren, die ihnen zustehende Anerkennung und erst recht die ihnen zustehenden Leistungen erhalten?
Das ist ein Skandal, den sogar der VdK seit Jahren kritisiert, und das ist nun wirklich kein Verband, der z. B. mir sehr nahe steht.
Zudem ist die Gefahr, daß in den Ländern, die eigene Pflegegesetze haben, diese jetzt abgebaut werden, sehr groß. Gehen Sie nach Berlin und fragen Sie die Menschen mit Behinderungen, wieviel Angst sie haben. Sie haben Angst, daß das Landespflegegesetz abgeschafft wird und, wenn es ganz schlimmt kommt, auch noch die Telebus-Regelung.Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten, das Pflegeproblem so zu lösen, daß es einen wirklichen Fortschritt in sozialstaatlicher Hinsicht gäbe. Vier Punkte möchte ich hier noch einmal nennen: Das erste und Wichtigste wäre, vom Prinzip der Pflicht des Staates zur Bedarfsdeckung auszugehen. Sozialhilfe ist auch dann entwürdigend, wenn es ein paar Monate länger dauert, bis nach einem arbeitsreichen Leben das Angesparte durch Pflegebedarf aufgebraucht ist.Der zweite Punkt ist, daß die Verfügungsgewalt über die dem Menschen zustehenden Summen auch in seine Hände gehört. Die Verfügungsgewalt — das heißt nicht unbedingt, daß das Geld ausgezahlt werden muß; denn ich weiß ja auch, daß es durchaus sehr unsolidarische Angehörige gibt, die das Geld gern für andere Zwecke abzweigen. Die Verfügungsgewalt den Menschen in die Hände zu geben heißt, daß sie selbst bestimmen können, wer das Geld bekommt. So wie ein 80jähriger Mensch selbstbestimmt entschei-
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Dr. Ilja Seifertden kann, wie er sein Testament anfertigt, kann er auch entscheiden, wie das Geld ausgegeben wird.Der dritte Punkt — auch das ist nicht richtig geregelt — ist: Die Pflegearbeit muß wirklich als Arbeit anerkannt werden. Das heißt: ordentlicher Lohn und z. B. Einbeziehung in die Arbeitslosenversicherung und in der Rentenversicherung nicht nur maximal 0,75 Entgeltpunkte, sondern richtig, der Leistung angemessen, berechnet. Pflegearbeit wird in Ihrem Entwurf immer noch als zweit- oder drittrangig gesehen; das muß eben von der Familie mit gemacht werden, und die bekommt einen kleinen Zuschuß. Nein, es ist Arbeit, und die muß als solche auch bewertet und moralisch und finanziell anerkannt werden.Und dann — das ist der letzte Punkt — kann man auch über die Finanzierung reden. Hier geht es darum, daß alle entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten einbezogen werden. Alle heißt: auch diejenigen, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen sind. Alle, das heißt insbesondere: die, die wirklich gut verdienen in diesem Lande. Das sind die Bundestagsabgeordneten, die Minister, die Manager in den großen Betrieben, und es sind die, die durch Spekulation und durch andere Möglichkeiten wirklich sehr viel Geld verdienen können und nicht nur sich selbst versichern sollten, sondern mit denen solidarisch sein sollen, die nicht die Möglichkeiten haben, großes Geld zu verdienen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe, daß Sie begreifen: Hier muß anders gehandelt werden als so, wie Sie es mit der heutigen Vorlage tun.
Als nächster spricht der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Pflegekompromiß, der heute von einer übergroßen Mehrheit des Deutschen Bundestages bestätigt werden wird, ist eine große Chance endgültig vertan, die Chance zu einer tiefgreifenden sozialen Reform,
die Chance, jenen Menschen wirksam zu helfen, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind.Die Pflegeversicherung hätte der Einstieg in eine wirkliche Neuordnung sein können, die den sozialen Gegebenheiten ausgangs dieses Jahrhunderts gerecht wird. Mit diesem Anspruch waren die Sozialpolitiker in der SPD, aber auch manche aus der CDU doch eigentlich auch angetreten. Doch am Ende ging es nicht mehr um die Pflegeversicherung, sondern allein um die Macht.Ich habe mit Respekt verfolgt, Herr Kollege Dreßler, wie Sie bis zuletzt um das Reformprojekt Pflegeversicherung gerungen haben. Ich kann mir vorstellen, wie es nun nach diesem dürftigen Ergebnis in Ihnen aussieht. Sie wissen, daß dieser Kompromiß nichts taugt und daß er den Weg für umfassende Reformen verbaut hat. Sie und alle Reformpolitiker in der SPD werden sich fragen, ob dieses Ergebnis den hohen Preis wert ist, den Sie gezahlt haben.Die SPD hatte sich unter der Führung ihres Kanzlerkandidaten in eine ausweglose Lage manövriert. Herr Scharping meinte offenbar, sich ein Scheitern der Pflegeversicherung nicht leisten zu können. Statt abzuwarten und nach den Wahlen eine sachgerechte und anspruchsvolle Reform durchzusetzen,
wollte er einen schnellen Erfolg, dessen Wirkungslosigkeit sich erst nach den Wahlen herausstellen wird.Die Union hat sich dabei elegant ihrer Verantwortung entledigt. Denn falls Herr Schäuble im nächsten Jahr noch das Sagen hat,
kann er alle offenbar werdenden Mängel der Pflegeversicherung der SPD in die Schuhe schieben, die dann nicht reformwillig genug war. Falls aber die SPD regieren sollte, wird ihr die CDU-Opposition dann diesen Kompromiß genüßlich um die Ohren hauen. In seinem Machtdrang ist Herr Scharping blindlings in alle Fallen getappt, die ihm Herr Schäuble aufgestellt hatte. Die Verlierer sind die Reformpolitiker in der SPD.
Aber vielleicht ist dieser neuerliche Kompromiß zwischen Schäuble und Scharping nun tatsächlich der Auftakt zur Großen Koalition, von der die beiden offenbar schon lange träumen: endlich nicht mehr angewiesen sein auf kleine, lästige Partner, die das Regieren unbequem machen, endlich nicht mehr Rücksicht nehmen müssen auf die Reformpolitiker in den eigenen Reihen, endlich klotzen statt kleckern.Scharping und Schäuble wollen keine Reform, sie wollen so weitermachen wie bisher. Sie scheuen die Auseinandersetzung mit der unbequemen Realität. Sie fürchten die Aufweichung verkrusteter Strukturen, die Veränderung. Scharping und Schäuble sind konservative Zwillinge, die an die Macht wollen, aber keine Vision für unser Land haben.
Anders, meine Damen und Herren, kann ich mir diese Anpassung der SPD, die bis zur Selbstverleugnung geht,
nicht erklären. Dieser Prozeß hat mit der Wiedervereinigung begonnen.Nun ist es zweifellos ehrenwert und vernünftig, nach einem breiten Konsens zu suchen.
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Konrad Weiß
Dagegen ist nichts zu sagen, und dagegen sage ich auch nichts. Ich habe auch nichts gegen Kompromisse. Was ich kritisiere und was mich besorgt macht,
das ist die Selbstaufgabe, der Ausverkauf der eigenen Ideale, die Selbstverstümmelung bis zur Unkenntlichkeit.In wesentlichen Politikfeldern ist die SPD längst nicht mehr von der CDU zu unterscheiden. Ich fürchte, das ist nicht nur Wahlkampfmaskerade, sondern ein anhaltender Nivellierungsprozeß, der für die politische Kultur in unserem Lande schädlich ist und der die Demokratie gefährdet.
Ich bin mir im übrigen bewußt, daß auch meine eigene Partei davon infiziert ist. Ich sehe sehr wohl die Balken im eigenen Auge.
Vor allem aber ist es ein Problem der beiden Volksparteien, die viel zu breit gefächert sind und inzwischen durch ihre Verwechselbarkeit die Bürgerinnen und Bürger verwirren und verärgern.Der Pflegekompromiß ist ein weiteres Glied in der Kette, durch die sich SPD und CDU aneinander gefesselt haben. Am Beginn stand das fatale Einknikken der SPD in der Frage der Kompensation. Bis zur Stunde ist nicht erwiesen, daß das notwendig war. Daß die Arbeitgeber durch einen Beitrag zur Pflegeversicherung unzumutbar belastet würden und dies die Wirtschaft aufs schwerste geschädigt hätte, ist eine rührselige Legende, die auch durch ständiges Wiederholen nicht wahrer wird.Jetzt werden die Kosten für die Pflegeversicherung ausschließlich den Arbeitnehmern aufgebürdet. Das ist ein Rückfall in die soziale Steinzeit. In den Ländern, die einer Feiertagsstreichung nicht zustimmen werden, wird der Schwarze Peter den Tarifpartnern zugeschoben, die zu Recht ihren Widerstand angekündigt haben und sich den Eingriff in ihre Autonomie verbitten.Mit diesem Kompromiß wurde leichtfertig ein bewährtes Prinzip unserer Sozialpolitik aufgegeben, die paritätische Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Im Widerspruch zu den Grundüberzeugungen der Sozialdemokratie und auch im Widerspruch zur katholischen Soziallehre wurden die Eigentümer einseitig aus ihrer Sozialpflicht entlassen. Ist es wirklich ausgeschlossen, daß dies der Beginn eines radikalen Umbruchs ist, in dessen Ergebnis die Soziallasten ausschließlich den Arbeitnehmern aufgebürdet werden sollen? Ich finde, die an diesem Kompromiß beteiligten Parteien haben die Pflicht, deutlich und ohne Schönfärberei den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, was auf sie zukommt, und nicht zu verschweigen, daß ausschließlich die Arbeitnehmer die Finanzierung zu tragen haben.Im übrigen halte ich die psychologische Wirkung der Kompensationsdebatte für verheerend. Ich stelle mir einmal vor, wie es sein muß, als Pflegebedürftiger monatelang zu hören, was für eine unerträgliche Lastund wie beschwerlich für die Gesellschaft ich bin, daß ich durch meine Pflegebedürftigkeit die Lohnnebenkosten unverschämt erhöhe, den wirtschaftlichen Aufschwung belaste und den Standort Deutschland gefährde, daß ich lästig bin.Ich finde es beschämend, wie in der Pflegedebatte mit dem Ehrgefühl und der Würde alter und behinderter Menschen umgegangen wurde. Ich habe die Sorge, daß durch den Kostenpoker die soziale Verantwortung und das Verständnis für Pflegebedürftige in unserer Gesellschaft nicht gewachsen, sondern geschwunden ist. Wir haben zu sehr die Menschen, um die es uns geht, aus den Augen verloren.Vielleicht hätte ich dem Kompensationsmodell dennoch, wenn auch zähneknirschend, zugestimmt, wenn die Pflegeversicherung wenigstens bedarfsgerecht ausgestattet worden wäre. Aber bei diesem Kompromiß — das muß doch ausgesprochen werden, auch wenn es unbequem ist — bleiben die Pflegebedürftigen auf der Strecke. Ich glaube nicht, daß in diesem Fall weniger besser ist als nichts, wie uns weisgemacht werden soll. Es ist ein Einstieg, der den Fortschritt versperrt.Diese Pflegeversicherung ist nicht mehr als eine Grundversorgung; die tatsächlich notwendigen Leistungen werden nicht gewährt. Diese Pflegeversicherung ist nicht bedarfsgerecht. Mittlere und schwere Pflegefälle werden qua Gesetz unterversichert und sind weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen. Genau das wollten wir doch aber nicht, denn im Klartext heißt das: Es müssen zwar zusätzliche Beiträge gezahlt werden, aber es werden dafür nicht mehr Leistungen erbracht.Auch künftig werden die Angehörigen oder das Vermögen zur Finanzierung von Pflegeleistungen, soweit es den Anteil an der Sozialhilfe betrifft, herangezogen. Die Einzahlungen in die Pflegeversicherung werden nicht dazu beitragen, die Altersarmut zu beseitigen.
Zwar wurden im jetzt geschlossenen Kompromiß die Leistungen geringfügig erhöht, aber sie reichen nicht zur vollen Deckung aus. Gerade bei Pflegebedürftigen, die zu Hause gepflegt werden müssen, sind erhebliche Deckungslücken zu befürchten.Wir haben uns von Anfang an gegen eine Deckelung der Leistungen gewandt und Konzepte für bedarfsgerechte Pflegeleistungen vorgelegt. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Fraktion DIE GRÜNEN bereits 1984, vor zehn Jahren, ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz in den Bundestag eingebracht hat. In dieser Legislaturperiode hat die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Entwurf eines Pflegegesetzes eingebracht, durch das nicht nur bedarfsgerechte Leistungen garantiert gewesen wären, sondern auch vorausschauend ein Finanzstock für den zukünftigen Pflegebedarf aufgebaut worden wäre.Ziel unserer Pflegekonzeption war und ist es, den Betroffenen volle Wahlfreiheit zu garantieren und die Selbstbestimmung in Würde und Freiheit zu ermöglichen. Wir halten den Umbau der Pflegestrukturen für
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Konrad Weiß
dringend erforderlich. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt ausdrücklich die Forderung der Verbände, die eine deutliche Hilfe von der Politik erwarten, damit das gesellschaftliche Ansehen der Pflegearbeit, der professionellen wie der unentgeltlich geleisteten, aufgewertet wird. Die Pflege muß bundeseinheitlich geregelt werden. Ihre Refinanzierung muß die Absicherung wirklich auch gewährleisten.All das leistet dieser Pflegekompromiß nicht. Es fehlte nicht an Alternativen, sondern am politischen Willen. Dieses Ergebnis ist zu mager, als daß man ihm mit gutem Gewissen zustimmen könnte. So wichtig und so notwendig auch nach unserer Auffassung eine Pflegeversicherung ist, diesem Kompromiß können und wollen wir nicht zustimmen.Ich halte es für unsere Pflicht, in dieser verlorenen Schlacht die Fahne der Opposition hochzuhalten und den Bürgerinnen und Bürgern durch unser Gegenvotum zu signalisieren, daß dieser Kompromiß ganz und gar unbefriedigend und eben nicht besser als nichts ist. Auch durch ein Nein kann man Realismus und Augenmaß beweisen, zumal wir genug Alternativen angeboten haben.
Als nächster hat der Kollege Rudolf Dreßler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An einem solchen Vormittag, wenn man sich die Reden anhört, wenn man über Jahre dabeigewesen ist, wenn man das Ergebnis Revue passieren läßt, vom Ausgangspunkt bis zum jetzigen Kompromiß, kommt man nicht darum herum, sich mit einem Satz aus der Rede des Kollegen Schäuble zu beschäftigen. Dieser Satz lautete: Wir brauchen keine andere Koalition, es läuft.
Wissen Sie, meine Damen und Herren, wenn ich beim Jahre 1988 beginne, ist es völlig unstrittige Ergebnislage: Ob Rentenreform, ob Renten-Überleitungsgesetz, ob Gesundheitsstrukturreform — ohne den Willen und die Kompromißfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie wäre auf dem Wege der Sozialgesetzgebung in dieser Zeit nichts passiert.
Ein solcher Satz des Kollegen Schäuble animiert, wenn man in diesem Thema steckt und sich engagiert, einen Rückblick auf die Geschichte der Pflegeversicherung zu wagen. Da ist es nun einmal unabweisbar, Herr Schäuble — auch dann, wenn ein Kompromiß gefunden wurde und man ihn vertritt —, daß ein SPD-Gesetzentwurf des Landes Hessen, SPD-regiert, 1986 in den Bundesrat eingebracht, unter Ihrer Federführung niedergestimmt wurde.
Es ist unstrittig, Herr Schäuble, daß ein Gesetzentwurfder SPD-Bundestagsfraktion, im Jahre 1988 in diesesHaus eingebracht, unter Ihrer Federführung niedergestimmt wurde.
Anders ausgedrückt, Herr Schäuble: Wenn es Ihre Gegenwehr zur Realisierung von Pflege in den vergangenen Jahren nicht gegeben hätte, wäre sie schon lange im Gesetzblatt, und den Menschen wäre geholfen worden.
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen: zu dem, was in den letzten Jahren — man muß von Jahren sprechen — zu dem Ringen um einen Kompromiß in diesem Staate kommentiert wurde.Es wurde uns allen pausenlos vorgeschrieben, wir seien unfähig zum Kompromiß. Ich finde diejenigen, die so etwas — ich sage: leichtfertig — schreiben oder senden, können die Arbeit dieses Parlaments in den letzten Jahren nicht ernsthaft miterlebt haben. Dabei spielt es keine Rolle, ob man Kompromisse, die hier geschlossen worden sind, begrüßt oder abgelehnt hat. Tatsache ist, daß dieses Parlament in wesentlichen, diesen Staat berührenden Fragen in den letzten Jahren die Fähigkeit und den Willen zum Kompromiß immer gemeinsam mit großen Mehrheiten aufgebracht hat.Es wurde uns vorgeworfen, wir hätten ein Gezerre veranstaltet. Ich glaube, daß diejenigen, die mit diesem Begriff in den letzten Jahren leichtfertig Inflation betrieben haben, übersehen haben, daß es um das Ringen unterschiedlicher politischer Standpunkte für einen Kompromiß und für eine gesellschaftliche Fortentwicklung gegangen ist. Wenn man so etwas kommentiert, sollte man wenigstens seriös bleiben und sich an den Dingen orientieren, die hier wirklich passieren.Ich will an dieser Stelle eines klar sagen: Wenn denn einmal — heute Gott sei dank nicht — in wichtigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen unterschiedliche Parteien nach langer Zeit des Ringens nicht zu einem Konsens finden können, dann ist auch das ein Ergebnis demokratischer Prozesse.
Nun, es ist richtig, daß es lange gedauert hat. Viele Menschen, vielleicht auch viele der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die sich schwerpunktmäßig um andere wichtige politische Themen kümmern, haben sich gefragt, warum. Aus meiner Sicht hat es auch deshalb so lange gedauert, weil das Ringen meiner Fraktion, der SPD-regierten Länder, der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten um eine Lösung für die Pflegebedürftigen in eine Richtung gelenkt werden sollte, die eine Zustimmung rechtfertigt und den Abschluß eines Pflegegesetzes möglich macht.Es ist nun einmal unstrittig und heute von der Ergebnislage, Herr Weiß, im Gegensatz zu Ihrer hier soeben aufgestellten These sehr wohl zustimmungsfä-
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Rudolf Dreßlerhig, wenn in diesen Monaten Menschen als Sachleistung für häusliche Pflege nicht 1 500 DM, sondern 1 800 DM im Monat und Schwerstpflegebedürftige nicht 2 250 DM, sondern 2 800 DM im Monat bekommen — wenn sie besonders hart betroffen sind, bis zu 3 750 DM. Diese Spanne, die wir in Wochen, in Monaten durchzusetzen versucht haben, ist für jedes einzelne Schicksal existentielle Grundlage, das Leben besser, anders, vielleicht auch ein Stück freier zu gestalten, als das bis jetzt durch unsere Gesetzgebung der Fall war.
Das Ringen, einer Pflegeperson — das ist ja die andere Gruppe in diesem Prozeß, es gibt ja nicht nur die Pflegebedürftigen, sondern auch ihre Angehörigen, die Pflegepersonen — einmal im Jahr einen Urlaub zu ermöglichen, der bezahlt wird, und zwar mit einem Betrag bezahlt wird, von dem man annehmen kann, daß er diesen Urlaub überhaupt ermöglicht, rechtfertigt eine wochen-, eine monatelange Verhandlung. Das haben wir von 2 100 auf 2 800 DM erhöhen können, und zwar für Menschen, für die das Thema Urlaub abstrakt ist, die wissen, was es bedeutet, über viele, viele Jahre keinen Urlaub machen zu können, die wissen, daß sie als pflegende Personen, die über Jahrzehnte eine der größten gesellschaftlichen Leistungen erbracht haben, ohne daß sie der Staat anerkannte, und die wissen heute, daß sie demnächst wirklich Urlaub machen können, daß dieser Urlaub bezahlt wird und daß sie Rentenansprüche haben werden. Dafür lohnt sich ein solches Ringen,
und dafür lohnt sich auch eine Zustimmung. Und es gibt vieles, vieles andere mehr.Ich will ein Wort sagen zu einem Satz, den der Sozialminister heute morgen en passant hier eingefügt hat, der, glaube ich, ein Stück Sozialgeschichte in dieses Kapitel Pflege hineinintegriert, ein Kapitel, das gestern faktisch erst fünf Minuten vor Beendigung der Verhandlungen abgeschlossen werden konnte. Es ist für viele ein abstrakter Begriff, aber für jene, die sich um die Materie kümmern, und für die Tausende von Menschen, die davon betroffen sind, ist es ein existentieller Punkt, nämlich der gesetzliche Anspruch auf Rehabilitation vor Pflege.
Das ist ein ganz wesentlicher Markstein, der in dieses Gesetz integriert werden konnte.
Herr Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?
Bitte.
Herr Kollege Dreßler, Sie sind vorhin, als ich das Wort erhielt, hinausgegangen.
So haben Sie wahrscheinlich nicht gehört, was ich gesagt habe.
Sie haben jetzt sehr eindringlich die Leistung derjenigen gelobt, die diese Pflegearbeit leisten, und Sie haben die Ihrer Ansicht nach hervorragenden Möglichkeiten genannt, die denen jetzt geboten werden.
Sagen Sie bitte: Warum haben Sie, warum hat die SPD nicht wenigstens versucht — ich kritisiere ja gar nicht, daß Sie es nicht erreicht haben, sondern daß Sie es nicht ernsthaft versucht haben, nicht einmal in Ihrem eigenen Gesetzentwurf —, diesen Menschen zumindest auch eine Arbeitslosenversicherung zukommen zu lassen? Denn wenn sie nach 20 Jahren zum Arbeitsamt gehen, bekommen sie nicht einmal eine Umschulung bezahlt.
Herr Kollege Seifert, manche nennen mich pragmatisch, ich nenne mich selbst — bezogen auf die Situation in diesem Parlament — Realist, weil ich zu denen gehöre, die der festen Überzeugung sind, daß nicht nur Wählerinnen und Wähler mit ihrem Wahlergebnis vier Jahre leben müssen, sondern auch politische Parteien.Und ich gehöre zu denjenigen, die der festen Überzeugung sind, daß die Oppositionsrolle in einem Parlament ein ganz wichtiger Verfassungsauftrag ist.Und unter diesen Gesichtspunkten, Herr Seifert, gab es für mich einen Kristallisationspunkt, den Versuch zu machen, in diesem Kompromiß nichts festzuschreiben, was nicht nach vorne hin veränderbar ist, jede Art von Integration rückwärtsgewandter Schritte, die durch andere Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler nicht mehr reparabel sind, zu verhindern. Nach dem, was ich vom Thema weiß — soweit wie ich es beurteilen kann —, ist dies der sozialdemokratischen Seite voll gelungen —
voll gelungen!Das bedeutet unter dem Gesichtspunkt des Stichwortes Arbeitslosenunterstützung, daß das natürlich ein wichtiger Punkt ist, Herr Seifert. Aber da halte ich es mit einer alten Lebensweisheit: Das Bessere ist der Feind des Guten. Das, was auf den Weg gebracht worden ist, bremst den von Ihnen hier eingebrachten Tatbestand nicht nur nicht ab, sondern es läßt Raum für eine Situation, in die — so hoffe ich jedenfalls — dieses Parlament nach dem 16. Oktober kommen kann. Aber das, Herr Seifert, ist nicht Sache eines einzelnen Bürgers Dreßler allein, sondern dazu brauchen wir ein paar Millionen mehr, die uns diese Gelegenheit ab dem 16. Oktober eröffnen.
Meine Damen und Herren, ich will für unsere Seite noch einmal klarstellen — nicht einfach nur so dahergeredet, sondern in tiefer Überzeugung —, daß die während der Pflegeverhandlungen über Monate, ja über Jahre unternommenen Versuche, gesellschaftspolitische Sachverhalte dieses Staates zu verändern, in eine andere, aus meiner Sicht rückwärts gewandte Richtung zu lenken, ohne daß es in Wahrheit um Pflege, um Hilfe für Pflegebedürftige ging, wobei die Stichworte „Tarifautonomie" und „Individualisierung
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Rudolf Dreßlerdes Arbeitsrechts" ins Spiel gebracht wurden, und die Tarifautonomie innerhalb dieser Gesetzgebung zu knacken, ohne Erfolg geblieben sind.Das ist für Pflegebedürftige zugegebenermaßen ein abstrakter Tatbestand, aber für die gesamte Gesellschaft eine der wichtigsten Errungenschaften in diesem Gesetzgebungs- und Kompromißverfahren, daß die SPD verhindert hat, daß ein Stück Gesicht unserer Gesellschaft nach rückwärts gedreht wird, sondern daß wir die Tarifautonomie erhalten konnten.
Genauso verhält es sich mit den Versuchen, das kollektive Arbeitsrecht zu individualisieren. Wir haben insoweit wirklich jede Anstrengung unternommen — und dieses war auch richtig —, um unser Land vor weiteren gesellschaftspolitischen Verunstaltungsattacken zu bewahren.Ich empfehle jedem, der sich wirklich ernsthaft mit diesem Kompromiß auseinandersetzt, ihn mit dem zu vergleichen, was CDU/CSU und F.D.P. mit ihrer Mehrheit gegen uns ursprünglich haben durchsetzen wollen. Das Gesetzesprojekt, das der Vermittlungsausschuß gestern in seinen Grundzügen verabschiedet hat, schlägt — das ist unstrittig — ein neues Kapitel unserer Sozialgeschichte auf. Das, was wir gestern gemacht haben, ist gut für die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und für Schwestern und Pfleger. Es ist auch gut für unsere sozialstaatlichen Grundsätze, die eine Privatisierung von Lebensrisiken vermeiden. Und es ist auch gut für den sozialen Frieden, der nicht auch noch durch Mißbrauch einer Pflegegesetzgebung zusätzlich gefährdet worden ist.Es ist, wie ich das gestern formuliert habe, unserer Hartnäckigkeit zu verdanken, auch Kritik ertragen zu können, um das, was wir für die weitere Entwicklung für gefährlich hielten, zu verhindern. Es steht nichts von diesen gesellschaftspolitischen Grundsätzen zur Disposition.Bleibt der Punkt, der mir am meisten Sorgen gemacht hat, bleibt der Punkt, den wahrscheinlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Landes Bayern nun auszubaden haben,
bleibt die Lücke in der einheitlichen Beitragsaufbringung innerhalb unseres Staates. Die Zustimmung zu diesem Punkt — das will ich ausdrücklich sagen — fällt mir schwer, aber angesichts der durchgesetzten Verbesserungen für die betroffenen Menschen hielt ich letztlich eine Ablehnung dieses Kompromisses nicht für vertretbar.Für mich steht fest, daß sich der beharrliche Einsatz und auch unsere Standfestigkeit im Vermittlungsverfahren für die Pflegebedürftigen gelohnt haben. Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen das Fenster der Verwundbarkeit unseres Sozialstaates nicht ganz schließen können. Dieses Fenster vollends zu schließen ist Sache eines nächsten Bundestages.Ich will von dieser Stelle aus ausdrücklich an die bayerische Landesregierung appellieren, sich ihreablehnende Haltung bitte noch einmal zu überlegen, damit wir in unserem Staat eine Gleichheit in der Aufbringung von Beiträgen und eine Gleichheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unseren Sozialsystemen nicht verlieren.
Als nächster hat unser Kollege Michael Glos das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die jetzt vereinbarte Pflegeversicherung war von Beginn an das Ergebnis eines Kompromisses, wobei sich die Regierungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P. selbst nicht leicht getan hat, eine Lösung zu finden, die allen Beteiligten gerecht wird. Deswegen ist es schwierig gewesen, eine Lösung zu finden, die allen gefällt.Herr Dreßler hat sich sehr um Bayern gesorgt. Er hat auch noch einmal versucht, die Rolle seiner Partei beim Zustandekommen des Pflegekompromisses darzustellen, und hat die Geschichte der Pflegeversicherung aufgewärmt. Dabei habe ich allerdings vermißt, Herr Dreßler, daß Sie erwähnt haben, daß es der Freistaat Bayern war, der sehr frühzeitig eine Gesetzesinitiative im Bundesrat zur Einführung der umlagefinanzierten Pflegeversicherung eingebracht hat.
Trotz aller Mängel, die man beklagen kann — ich werde anschließend noch ein paar Mängel dieses Entwurfes aus meiner Sicht darstellen —, glaube ich doch, daß man insgesamt sagen kann, daß die jetzt gefundene Lösung für die Pflegebedürftigen, für ihre Angehörigen, aber auch für die Wirtschaft und damit für die Arbeitsplätze bei uns im Land ein Sieg der Vernunft ist.
Wir freuen uns auch, daß die Leistungskraft der Kommunen durch spürbare Entlastung bei der Sozialhilfe wieder gestärkt wird. Wir, die CSU, haben als Kommunalpartei, die wie keine andere Partei in den Gemeinden, Städten, Kreisen und Bezirken Bayerns verankert ist, gerade darauf immer großen Wert gelegt.
Vor allem aber stärkt die erlösende Einigung im Bereich der Pflege zwischen der Koalitionsmehrheit im Bundestag und der SPD-Mehrheit im Bundesrat — auch das ist heute schon gesagt worden; ich will es trotzdem erwähnen — das Ansehen der Demokratie und vor allen Dingen das Ansehen der großen Volksparteien, was ihre Fähigkeit zur Problemlösung angeht.Es ist ein Sieg des Zusammenhalts in der Koalition. Es gab zahlreiche Versuche, die Koalition auseinanderzudividieren — immer wieder. Man hat geglaubt, man könne Sollbruchstellen erkennen und offenlegen. Wir haben zusammengehalten. Daß wir jetzt
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Michael Gloszusammen durchgekommen sind, ist ein Ergebnis dieses Zusammenstehens und dieses Zusammenhaltens. Dafür möchte ich mich bei Herrn Kollegen Schäuble und auch bei Herrn Kollegen Solms sehr herzlich bedanken.
Jeder weitere Tag des politischen Ringens um die Pflegeversicherung war für die Bürger nicht mehr einsehbar.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weigere mich aber, bei diesem Ringen das Wort „Streit" in den Mund zu nehmen. Denn die Medien machen es sich heutzutage sehr leicht: Jedes Ringen um eine Lösung — und das ist oft sehr mühsam — wird als Streit dargestellt. Ich glaube, in den Druckmedien liegt es daran, daß das Wort „Streit" einfach kürzer ist als der Ausdruck „Ringen um Lösungen". Das hat meiner Ansicht nach auch dazu beigetragen, daß sich heute auch jüngere Menschen oft von der Politik abwenden. Wir sollten hier einmal herausstellen, daß man, wenn man intensiv ringt, auch zu einer guten Lösung kommen kann.
Ich freue mich vor allen Dingen, daß der Pflegekompromiß zugleich eine Stärkung des Föderalismus in Deutschland bedeutet; denn kein Bundesland wird vom Bund gezwungen, einen Feiertag abzuschaffen. Jedes der 16 Bundesländer hat die Möglichkeit, eigenständig und eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, ob es seine gewachsenen Feiertage bewahren will. Wir können alle sehr gespannt sein, wie 16 Landtage in eigener Zuständigkeit entscheiden werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hätten wir dies nicht gemacht, hätte der Bund seine Lösung in das Gesetz hineingeschrieben, dann hätte die Gegenfinanzierung der Pflegeversicherung, falls Landtage sich anders entscheiden, in der Luft gehangen und damit wäre die Einführung letztendlich nicht ernst gemeint gewesen. Ich freue mich, daß wir eine ernstgemeinte Lösung nun auf den Tisch des Hauses legen können.
Kläglich gescheitert ist allerdings auch der durchsichtige Versuch der Gegner Bayerns — sie gibt es ja auch in der SPD; ich hoffe, Sie zählen nicht dazu, Frau Schmidt —, ein Scheitern der Pflegeversicherung herbeizuführen und die Schuld dafür der CSU und dem Freistaat Bayern in die Schuhe zu schieben. Dieser Versuch ist gottlob gescheitert.
Ich bedauere für die CSU allerdings, daß andere Alternativen, die wir immer ins Gespräch gebracht haben, wie z. B. die Möglichkeit, Urlaubstage anzurechnen oder Mehrarbeit einzubringen, gegenwärtig gegen Herrn Dreßler und auch gegen Herrn Schar-ping nicht durchsetzbar gewesen sind. Demzufolge übernehmen die Arbeitnehmer vorläufig den gesamten Beitrag zur Pflegeversicherung, soweit ein Bundesland keinen Feiertag abschafft.Es steht außerdem in diesem Kompromiß, daß im Lauf des Jahres 1995 erneut Überprüfungen eingeleitet werden, ob und gegebenenfalls welche gesetzgeberischen Konsequenzen aus möglicherweise unterschiedlichen Regelungen in 16 Bundesländern zu ziehen sind. Vielleicht ist es dann, 1995, wenn sich die Nebel des Wahlkampfes verzogen haben, leichter möglich, hier dem Bürgerwillen statt einer Tarifrechtsideologie zum Durchbruch zu verhelfen.
Mir ist zu dieser eigentlich vernünftigen Lösung, bei 31 Urlaubstagen einen oder zwei herzunehmen, um eine Gegenfinanzierung zu erreichen, immer nur das Wort „Tarifrecht", „Tarifrecht" gebetsmühlenartig entgegengehalten worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, ich bedauere fast, daß Ihr Festhalten daran und damit Ihre Verneigung vor mächtigen DGB-Funktionären nicht besser gewürdigt wird.
— Wir verneigen uns vor den Wählerinnen und Wählern, insbesondere in Bayern.
Ich wollte etwas anderes sagen: Ich habe heute eine Erklärung gesehen, verbreitet über DDP um 9.39 Uhr. Ich glaube, das ist schon ein bißchen sehr hart.
Hier bekommt die SPD, eigentlich alle Bonner Parteien — ich bedauere das — von der IG-Metall Zynismus vorgeworfen. Ich will die Vokabeln, die Herr Schmitthenner geglaubt hat, den Agenturen diktieren zu müssen, nicht weiter bewerten. Nur, die Tarifpartner — das gilt für beide — sollten anerkennen, daß wir insgesamt gerade für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Allerbeste herausgeholt haben, und das gestehe ich beiden Seiten dieses Hauses zu.
Der Pflegekompromiß ist vor allem deshalb auch zukunftsweisend, weil es erstmals gelungen ist, erfolgreich den Umbau unseres Sozialstaates vorzunehmen, indem nicht einfach weiter draufgesattelt wird. Die Kosten, die eine neue und notwendige Sozialleistung verursacht, werden nicht mehr zusätzlich auf die Arbeitskosten draufgeschlagen, sondern es erfolgt eine seriöse, nachrechenbare, dauerhafte Gegenfinanzierung. Ich glaube, daß das ungeheuer wichtig ist.Jetzt noch einmal zu der Frage: Warum hat es so lange gedauert? Es hat deswegen so lange gedauert,
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Michael Glosdiesen Kompromiß zu finden, weil der wirtschaftspolitische Nachhilfeunterricht,
der bei der SPD dazu geführt hat, daß man zu der Erkenntnis gekommen ist, ungeheuer schwierig, ungeheuer langwierig und auch ungeheuer zäh gewesen ist. Ich freue mich, daß er letztendlich erfolgreich war und der Erkenntnisprozeß bei Ihnen seine gute Wirkung getan hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß der Umbau des Sozialstaates seine erste Bewährungsprobe bestanden hat. Ich werte es trotz aller Differenzen für einen großen gemeinsamen Erfolg, den wir jetzt auch nicht zerreden sollten.Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Arbeitgeberverbänden sagen: Mir gefallen die Stellungnahmen der Arbeitgeberverbände von gestern genauso wenig wie eine vorhin zitierte Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
obwohl hier die Sprache ein ganzes Stück gemäßigter ist.Ich bin der Meinung, hier schwingt eine Art Trotzhaltung mit, eine Trotzhaltung wegen der Tatsache, daß man sich mit der angebotenen Lösung von dieser Seite nicht durchgesetzt hat. Wir haben das Für und Wider sehr lange und ausführlich diskutiert. Wir haben letztendlich keine bessere Lösung gefunden.Das sollten auch die Arbeitgeberverbände anerkennen. Sie sollten uns loben, insbesondere die CSU, die F.D.P. und auch die CDU,
denn wir haben immer darauf geachtet, daß diese wichtige soziale Reform ohne zusätzliche Belastung der Wirtschaft durchgeführt wird.
Schließlich bedeutet der Pflegekompromiß eine Stärkung der Familien bei uns im Land und zählt damit zu den größten familien- und frauenpolitischen Fortschritten überhaupt. Durch die Leistungen in der häuslichen Pflege und die Einbeziehung in die Rentenversicherung wird es künftig möglich sein, Familienangehörige weiterhin verstärkt zu Hause zu pflegen. Das fördert den Zusammenhalt und das Zusammenstehen der Generationen in der Familie.Ich begrüße den familienfreundlichen Aspekt ausdrücklich. Viele ältere und pflegebedürftige Menschen können jetzt länger im Kreis der Familie bleiben, weil vor allen Dingen die pflegenden Familienangehörigen keine rentenrechtlichen Nachteile durch die Pflege zu Hause verzeichnen müssen.Das ist gerade im Jahr der Familie eine hervorragende Nachricht. Ich bedanke mich bei allen für das Zustandekommen. Norbert Blüm ist das Synonym für Durchsetzungskraft in dieser Frage.
Ich bedanke mich aber auch bei allen anderen, die mitgewirkt haben. Ich bedanke mich ebenfalls sehr herzlich bei den Kollegen der SPD, die dabei waren, für die stets sachliche und — wie ich meine — menschlich angenehme Verhandlungsführung trotz einer schwierigen Materie.Danke schön.
Als nächste spricht die Kollegin Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Pflegeversicherung kommt. Koalition und Opposition haben sich nach drei Jahre dauernden, quälenden Verhandlungen geeinigt. Die F.D.P. begrüßt die Einigung und stimmt durchaus in den gedämpften Ton der Zuversicht und der Erleichterung ein.Jubeln kann sicher nur unser Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Wir wollen ihm heute die Freude nicht trüben.Meine Damen und Herren, das Echo in der Öffentlichkeit ist überraschend schlecht. Die Arbeitgeber reagieren gereizt und erbittert. Die Gewerkschaften protestieren, die Kirchen zeigen Unmut. Die „FAZ" meint: Die Politik hat insgesamt weiter an Ansehen verloren.Wie, so frage ich, wäre das Echo ausgefallen, hätte die Nachricht gelautet: Die Pflegeversicherung ist gescheitert? Das wäre meiner Ansicht nach für unsere Demokratie ein schwerer Rückschlag geworden. Die Politik hätte hier gewiß nicht an Ansehen gewonnen, wenn nach all diesen Reden über das schwere Los der Pflegebedürftigen in Familien und Heimen, nach all diesen Rufen nach Taten, das Ergebnis Null gewesen wäre.Die Zweifel derjenigen, die ein demokratisches System nicht unterstützen, kritische, lange Verhandlungen für überflüssig halten, die Kritik all derer hätte Nahrung erhalten. Wir hätten vielleicht diejenigen unterstützt, die insgesamt meinen, unsere Demokratie sei nicht mehr in der Lage, wichtige Probleme zu lösen. Daher glaube ich, ist heute ein Tag, der für unser demokratisches System spricht.Meine Damen und Herren, ich finde es auch wichtig, daß in dieser neuen Sozialversicherung demokratische Parteien gemeinsam die Verantwortung übernehmen. Das wird sich hier — wie bei der Rente, wie bei der Krankenversicherung — auszahlen; dann nämlich, wenn wir, wie wir Liberalen ja nüchtern voraussehen, künftige Schwierigkeiten, finanzielle Engpässe und Überforderungen bereinigen und beseitigen müssen.
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Dr. Gisela BabelMeine Damen und Herren, die Parteien haben in diesem Stück unterschiedliche Standpunkte und unterschiedliche Rollen. Die SPD hat von vornherein ein Umlageverfahren unterstützt. Sie hat immer Leistungen erhöhen wollen, und sie hat den Ausgleich — Kompensation — immer total abgelehnt.Die F.D.P. hat die Leistungen im festen Kostenrahmen lassen wollen. Sie hatte das Umlageverfahren abgelehnt, und als es nicht mehr zu verhindern war, hat sie die Kompensation, also den Ausgleich für gestiegene Lohnkosten durchsetzen wollen. Die CDU/CSU war insgesamt vor allem daran interessiert, daß die Pflegeversicherung überhaupt kommt.Die Einigung zwischen SPD und F.D.P. über die Kompensation gestaltete sich schwierig. Wir Liberalen verbuchen es als Erfolg und als unseren Verdienst, daß es erstmals in der Geschichte des Sozialstaates Deutschland gelungen ist, überhaupt das Bewußtsein geweckt zu haben, daß heute sozialer Fortschritt nicht im Draufsatteln, sondern im Umschichten bestehen muß.
Die SPD hat sich hier eingereiht, und sie hat sich bereit gezeigt zuzustimmen, daß in der ersten Phase ein Ausgleich in der Größenordnung eines Feiertages kommen muß, und sie hat auch zugestanden, daß in der zweiten Phase wiederum ein Ausgleich erfolgt, wenn er — nach Gutachten der Sachverständigen — nötig ist. Wir Liberalen sind von der Notwendigkeit eines weiteren Ausgleichs überzeugt.Wir sind leider auch davon überzeugt, daß in den kommenden Jahren dieser Ausgleichsbedarf immer wieder neu entstehen wird.
Das läßt sich auf Dauer dann sicher nicht mehr nur durch das Einschneiden in den derzeit üppigen Bestand kirchlicher Feiertage bewältigen. Aber der Grundsatz, daß Lohnzusatzkosten nicht permanent steigen dürfen, wenn Sozialversicherungen aus dem Ruder laufen, steht heute vor aller Augen. Ich halte das für ein ganz wichtiges Ergebnis der langen Auseinandersetzungen.
Die Opposition wird sich, wenn sie verantwortungsvoll handelt, davon nicht mehr lösen können.
Lassen Sie mich noch auf einen Aspekt kommen, der die Arbeitsplätze betrifft. Aus der Wirtschaft kommen ja berechtigterweise Stimmen, die sich um Arbeitsplätze sorgen und die die Gefährdung durch die Kosten darlegen.Meine Damen und Herren, es ist schon so oft gesagt worden: Die Pflegeversicherung schafft Arbeitsplätze. Das Geld, das aus produktiver Arbeit kommt und den Arbeitnehmern abgenommen wird, geht in Beschäftigung in den Dienstleistungsbereich zurück. Dies ist angesichts der allgemeinen Krise in der Beschäftigung und angesichts riesiger Verluste von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe eine sinnvolle Umsteuerung.
Richtig bleibt, daß die Arbeitsplätze, die im Wettbewerb mit ausländischen Betrieben stehen, gesichert bleiben müssen und daß daher die Kosten als Wettbewerbsfaktor niedrigzuhalten sind.Meine Damen und Herren, aber in einem möchte ich die Pflegeversicherung auch noch hervorheben: Ich denke, es ist vielleicht eines der wichtigsten Stücke von Frauenpolitik, das wir damit beschließen.
Sie ist in meinen Augen — Pardon — noch wichtiger als das Gleichberechtigungsgesetz,
weil hier nämlich wirklich nachweislich durch die Geldleistung in der Familie Beschäftigung honoriert und unterstützt wird, weil hier Rentenansprüche entstehen, weil hier wirklich Chancen eröffnet werden, die es vorher nicht gegeben hat. Es gibt einen Dienstleistungsbereich, der hier aufblühen wird.
Ein letzter Aspekt: Die Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung. Gegen Krankheit sind heute 98 % aller Bürger versichert.
Jetzt kommt die neue Sozialversicherung dazu. Es sind ja fast alle Bürger eingebunden. Sie zahlen für Pflege.Auch hier gibt es ja Kritik, nämlich die Kritik, die besagt, daß in der Bundesrepublik ja doch heute schon jeder gepflegt wird. Das ist wahr. Ich spreche auch nicht von einem schmählichen Taschengeld in Heimen. Ich finde die Leistungen, die unser Sozialstaat in dieser Frage erbringt, auch das, was die Kosten anlangt, sehr eindrucksvoll.
Aber, meine Damen und Herren, ich glaube, daß diese Pflegeversicherung, die der Gesetzgeber jetzt einführt, die Aufmerksamkeit der Bürger unentrinnbar auf die Tatsache lenkt, daß wir in einer zunehmend überalterten Gesellschaft leben. Vorsorge für Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit wird zwingend erforderlich. Diese Grundangst teilen wir alle, daß uns ein solches Schicksal widerfahren könnte. Sicher verhindert eine gesetzliche Pflegeversicherung nicht den Eintritt von Pflegebedürftigkeit, aber sie mildert deren Folgen. Deswegen glaube ich, allen vereinten kritischen Einwänden zum Trotz, die Bürger wollen die Pflegeversicherung und begrüßen die heutige Entscheidung.Ich bedanke mich.
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18796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Meine sehr verehrten Damen und Herren, letzte Rednerin in dieser Debatte ist unsere Frau Kollegin Renate Schmidt. Bitte!
Meine sehr geehrten Herren und Damen! Sehr geehrter Herr Glos! Ich freue mich, daß trotz allen Kompromisses auch noch einmal deutlich geworden ist — gerade durch Ihren Redebeitrag —, wo Gegensätze sind. Ich sage Ihnen hier in aller Deutlichkeit: Sie haben hier von Tarifrechtsideologie gesprochen. Tarifautonomie ist eine der Grundprinzipien unseres Staates. Darauf beruht unser Wohlstand.
Tarifautonomie ist nicht etwas, was man leichtfertig zur Disposition stellt. Gerade in den jetzigen tariflichen Auseinandersetzungen hat sich gezeigt, was Tarifautonomie für unseren Staat, für den Wohlstand in diesem Staat und für richtige Entscheidungen eigentlich wert ist.
Insoweit bitte ich Sie, mit unserer Verfassung und diesem Grundwert in unserem Staat nicht so locker vom Hocker umzugehen.
Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Scharrenbroich?
Ja, natürlich gestatte ich das.
Bitte, Herr Kollege Scharrenbroich.
Frau Kollegin Schmidt, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß bei der Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung zwar die Gewerkschaften diese Position eingenommen haben, die der Kollege Glos als Tarifrechts- und Tarifautonomieideologie bezeichnet hat, daß aber von den vier anwesenden Rechtswissenschaftlern drei der Auffassung waren, daß die Aussetzung von Lohnzahlung an Feiertagen kein Verstoß gegen die Tarifautonomie ist? Die Rechtswissenschaftler haben also die Position eingenommen, die die CSU und die Arbeitnehmergruppe eingenommen haben.
Herr Kollege Scharrenbroich, ich habe mich jetzt nicht auf diese Anhörung bezogen. Es ist natürlich so, daß es in Rechtsfragen immer unterschiedliche Meinungen gibt. Daß natürlich die Anhörungen des Deutschen Bundestages auch die Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages widerspiegeln, ist auch eine Tatsache. Insoweit kann man heute nicht sagen, wie ein eventueller Rechtsstreit ausgegangen wäre. Aber das, wogegen ich mich gewandt habe, ist nicht, wie ineiner Rechtsfrage im Zweifelsfall entschieden wird. Vielmehr habe ich mich gegen das gewandt, was der Kollege Glos hier über Urlaubsanrechnung und Feiertagsbezahlung gesagt hat, und dagegen, daß er ein Wort gewählt hat, was in dieser Gesellschaft nur wieder zur Spaltung beiträgt, anstatt endlich dazu beizutragen, diese Gesellschaft zusammenzuführen. Darum geht es mir auch bei solchen Kompromissen.
Vorab möchte ich zwei Dinge klarmachen. Ich habe mich von Anfang an, als wir noch ganz am Anfang der Verhandlungen waren, in meiner Fraktion, in meiner Partei dafür eingesetzt, daß die Verhandlungen mit dem Ziel der Einigung geführt werden und nicht mit dem Ziel geführt werden, diese Verhandlungen scheitern zu lassen, und zwar deshalb, weil ich der Meinung bin, daß bei aller Notwendigkeit, eigene Standpunkte durchzusetzen oder es zu versuchen, für mich die Situation von alten Menschen in Altenheimen und in ihren Familien, die Situation von Pflegebedürftigen, aber auch die Phantasie, mir vorstellen zu können, was es eigentlich einmal für uns selbst bedeutet, wenn wir alt sind, wenn wir vielleicht behindert sind, wenn wir pflegebedürftig sind, im Vordergrund steht. Vielleicht sollten wir diese Situation nicht immer wieder verdrängen. Es geht nicht nur um unsere Eltern und Großeltern, es geht nicht nur um die Eltern und Großeltern von anderen Menschen, sondern es geht über kurz oder lang um uns selber. Dann wollen wir gerne in Würde alt werden können, so eigenständig wie möglich, und möchten nicht diejenigen, die uns pflegen, überfordern müssen. Deshalb habe ich gesagt: Dieser Kompromiß ist mir etwas wert, auch die Aufgabe an der einen oder anderen Stelle von Dingen, die mir auch wichtig sind, und die ich, wenn ich alleine zu entscheiden hätte, so nicht gemacht hätte.
Das zweite. Ich habe sehr frühzeitig auch gemeinsam mit anderen Kollegen dafür plädiert, einen Feiertag zu streichen, Herr Glos, und zwar nicht deshalb, weil das eine Lieblingsvorstellung von mir ist. Ich hätte auch das lieber anders gemacht.
Aber ich sehe bei der Abwägung aller Lösungen, die möglich sind, in der Feiertagsstreichung die beste Lösung, und zwar nicht, weil ich den Bayern etwa das Feiern verbieten will. Herr Glos, ich bin selber Bayerin.
Aber wir haben viele Tage, an denen wir feiern können. — Außerhalb von Bayern bin ich Bayerin, in Bayern bin ich Fränkin.
Ich bin der Meinung, daß wir viele Tage zum Feiern haben, daß uns das auch gut ansteht und daß es uns,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18797
Renate Schmidt
wenn wir von 14 Tagen einen abgeben, wahrhaftig nicht kaputtmachen würde.
Ich habe gegen die Feiertagsregelung ein weiteres Bedenken. Sie bedeutet Arbeitszeitverlängerung. Arbeitszeitverlängerung paßt nicht in die heutige Landschaft hinein. Bei der Abwägung des Gesamten bin ich aber doch der Meinung, daß die gefundene Lösung die beste ist.Vor dem Hintergrund all dessen, was ich gerade gesagt habe, bin ich aber doch der Meinung, daß dieser Kompromiß einen schwerwiegenden Webfehler hat, der es mir ganz, ganz schwermacht, dem Kompromiß zuzustimmen. Ich werde im Gesetzgebungsverfahren mit anderen gemeinsam versuchen, deutlich zu machen, daß es so nicht geht. Ich meine den Webfehler, der auf bayerische Unart, auf bayerische Eigenbrötelei, Herr Glos, zurückgeht und in meinen Augen doch nicht wirklich Ihr Ernst sein kann.Wenn man sich, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, allein die letzten zehn Tage vergegenwärtigt, könnte man darüber nur noch lachen. Da sagt zuerst Herr Stoiber: Feiertagsstreichung — niemals! Kurz darauf sagt Herr Stoiber dann: Feiertagsstreichung — vielleicht schon, den 1. Mai. Ich frage mich, warum man, wenn man 14 Feiertage zur Verfügung hat, ausgerechnet auf den 1. Mai, den einzigen Feiertag der Arbeitnehmerbewegung, verfallen kann. Ich halte das für skandalös.
Er sagt weiter: Wenn wir nicht den 1. Mai nehmen, dann den Tag der deutschen Einheit auf den ersten Sonntag im Oktober verlegen. Ein wirklich famoser Vorschlag. Unsere Zustimmung zu diesem Vorschlag wäre sofort sicher gewesen. Postwendend kommen Herr Waigel und Herr Glos und sagen: Den Tag der deutschen Einheit, den wir jetzt am 3. Oktober begehen, auf den ersten Sonntag im Oktober zu verlegen kommt niemals in Frage, kommt überhaupt nicht in die Tüte, kann nicht sein. Dann sagt Herr Waigel wieder: Wir wollen doch ein bißchen in die Tarifautonomie eingreifen. Am Tag darauf sagt Herr Stoiber: Doch den 3. Oktober streichen. Dann sagt Herr Huber: Wir wollen das Ganze über die Krankenkasse finanzieren. Dann sagt Herr Seehofer: Das kommt keinesfalls in Frage. Falls Sie annehmen, daß das Leute aus sechs unterschiedlichen Parteien sind: Nein, Sie haben sich getäuscht. Sie gehören alle einer einzigen an, nämlich der CSU. Man fragt sich, was da eigentlich los ist.
— Ich bringe allmählich, so stelle ich fest, ein bißchen Stimmung in den Laden.
Eigentlich könnte man über die ganze Geschichte lachen, wenn nicht bayerische Arbeitnehmerinnenund bayerische Arbeitnehmer, Arbeiter, Angestellte und Beamte nach Ihrem Willen die Zeche zahlen sollten. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir werden alles tun, damit Sie das nicht mehr entscheiden können und damit diese Regelung rückgängig gemacht wird.
Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, Herr Glos, herzlich gern.
Bitte, Herr Kollege Glos, zu einer Zwischenfrage.
Frau Kollegin Schmidt, darf ich Sie fragen, ob Sie wissen, daß man unter dem Begriff „Schmidt Schnauze" bisher einen Mann verstanden hat?
Ich betrachte das als einen Ehrentitel, Herr Glos.
Ich möchte hier noch einmal kurz darstellen, warum bayerische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer benachteiligt sind. Der Wert eines Feiertags beträgt bei der durchschnittlich angelegten Wochenarbeitszeit rund 4 % eines Monatseinkommens. Alle haben dasselbe ausgerechnet. Das, was die Bayerische Staatsregierung den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft, aber auch den Beamten zumuten will, sind nicht 4 % eines Monatseinkommens, sondern 6% eines Monatseinkommens, denn ein halbes Prozent jeden Monat ergibt im Jahr 6% eines Monatseinkommens.
Für diejenigen, die Geringstverdienende sind, die deutlich unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze verdienen, Herr Glos, sind es nicht nur 6 % eines Monatseinkommens. Denn von denen wollen Sie auch noch einmal vom Urlaubsgeld, von jeder Überstunde und vom Weihnachtsgeld dieses halbe Prozent. Ich und auch meine Kollegen und Kolleginnen werden alles tun, daß Sie nicht das Sagen haben, um diese Regelung für die bayerischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wirksam werden zu lassen. Dies geht auf keinen Fall.
Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne. Ich habe noch Zeit.
Bitte, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Schmidt, es ist Ihnen doch bekannt, daß die SPD im Vermittlungsausschuß dem Kompromißvorschlag zugestimmt hat. Darf ich Sie fragen, welchen Feiertag Sie in einem
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18798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Renate Blankeventuellen Fall — aber wirklich nur in einem eventuellen Fall — in Bayern abschaffen möchten?
Frau Kollegin Blank, ich würde als künftige bayerische Ministerpräsidentin in diesem Fall vorschlagen,
daß ich mit den beiden Kirchen in Gespräche eintrete, daß wir versuchen, mit den Kirchen eine vernünftige Lösung zu finden. Ich gehe davon aus, daß jede dieser Lösungen vernünftiger ist, als die bayerischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu belasten.
Warum meine Fraktion, Frau Kollegin Blank, diesem Kompromiß zustimmt, ist doch eigentlich vollkommen klar: In mindestens 14 Bundesländern hat die Vernunft gesiegt, und in einem Bundesland — vielleicht auch in zweien — versucht man durch Eigenbrötelei, solche Dinge auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzuwälzen. Das ist der Fakt.
Frau Kollegin Schmidt, ich habe jetzt noch zwei Wortmeldungen zu Zwischenfragen. Lassen Sie diese noch zu?
Ja freilich, wenn mir das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Bitte, Herr Kollege Glos.
Ich habe mich vorhin gemeldet, weil ich Sie fragen wollte, ob Sie sich bewußt sind, daß Sie noch viele, viele Oppositionsreden im Bayerischen Landtag halten können und deswegen dem Bundestag das alles hier eigentlich ersparen können.
Die Antwort erübrigt sich, Herr Glos.
Zu einer letzten Zwischenfrage der Kollege Schily.
Frau Kollegin Schmidt, Sie haben von bayerischen Unarten gesprochen. Kann es sein, daß Sie von Unarten der CSU sprechen wollten?
Ich habe von bayerischer Unart, die in diesem Fall mit der CSU eng verbunden ist, gesprochen.
Ansonsten gibt es bayerische Lebensart, die auch mit
vielen Feiertagen verbunden ist und die ich begrüße.
Ich glaube aber, daß diese Lebensart durch das
Streichen eines Feiertags nicht wesentlich eingeschränkt wird.
Ich möchte zum Schluß einmal in aller Ernsthaftigkeit an Herrn Glos als Chef der Landesgruppe der CSU-Abgeordneten appellieren, dafür zu sorgen, daß das nicht wahr wird, was als Öffnungsklausel in diesem Kompromiß steht. Das bedeutet nämlich u. a., daß sich die Tatsache, daß die Arbeitnehmer den vollen Beitrag zahlen müssen, auf die Rentenerhöhungen der Zukunft niederschlagen wird — sicherlich nicht in großem Umfang; ich weiß, daß das nur ein minimaler Prozentsatz ist. Trotz alledem können wir es uns in diesen Zeiten nicht leisten, daß die Arbeitnehmer noch einmal mit zusätzlichen Abgaben belastet werden, die sich dann auf die so und so sehr, sehr niedrigen Rentensteigerungen der Zukunft auswirken werden, und zwar negativ.
Das zweite, Herr Glos: Sie müssen auch wissen, daß die Starrsinnigkeit der Bayerischen Staatsregierung dazu geführt hat, daß wir dieses Gesetz nicht mehr in diesem Jahr in Kraft treten lassen können. Wäre nämlich von allen Bundesländern signalisiert worden: Man kann einen Feiertag streichen, dann hätte man das noch in diesem Jahr zum Nutzen der Pflegebedürftigen in Kraft setzen können. Sie haben das verhindert; Sie werden die Quittung dafür bekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich auf der Besuchertribüne den Minister für die Angelegenheiten der Nationalitäten und Regionalpolitik der Russischen Föderation, Herrn Dr. Sergej Schachraj, mit seiner Begleitung herzlich begrüßen und ihnen einen guten und erfolgreichen Aufenthalt hier wünschen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/7053. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Gegenstimmen aus den beiden Gruppen ist dieser Entschließungsantrag angenommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Bereinigung von SED-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18799
Vizepräsident Helmuth BeckerUnrecht
— Drucksache 12/4994 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/7048 —Berichterstattung:Abgeordnete Jörg van Essen Hans-Joachim HackerDr. Michael LutherDr. Bertold ReinartzDieter Wiefelspützbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/7052 —Berichterstattung:Abgeordnete Thea BockAdolf Roth
Dr. Wolfgang Weng
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses
zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten des Stalinismus und des DDR-Regimes
: Gesetzliche Regelungen für die Opfer von Verwaltungsunrecht, Berufsverboten und anderen Formen von staatlichem Unrecht, die nicht vom Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz berücksichtigt werden
zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten des Stalinismus und des DDR-Regimes
: Verbesserung der Situation von Opfern beruflicher Verfolgung und Verwaltungsunrecht im Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz
— Drucksachen 12/1713, 12/5219, 12/7048 —Berichterstattung:Abgeordnete Jörg van Essen Hans-Joachim HackerDr. Michael LutherDr. Berthold ReinartzDieter Wiefelspütz
— Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die jetzt mit anderen Aufgaben betraut sind, dafür zu sorgen, daß wir hier unsere Beratungen ordentlich fortsetzen können. — Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen!Zum Unrechtsbereinigungsgesetz liegen ein Entschließungsantrag und zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner unserem Kollegen Dr. Bertold Reinartz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 17. Juni 1992 eine Ehrenerklärung für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft abgegeben. Aktueller Anlaß war damals die Verabschiedung des Ersten SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes. In dieser Ehrenerklärung hat der Deutsche Bundestag auch das schwere Schicksal der Opfer gewürdigt, die in ihrem beruflichen Fortkommen behindert, schikaniert und diskriminiert wurden.Mit dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz werden nun u. a. Verwaltungsentscheidungen, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates unvereinbar sind und fortwirken, aufgehoben, deren Rechtsstaatswidrigkeit wird festgestellt, und es werden Ausgleichsleistungen und Entschädigungen für Opfer politischer Verfolgung in der ehemaligen DDR geschaffen.Wieder gilt es, Unrecht, diesmal Verwaltungsentscheidungen, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates unvereinbar sind, aufzuheben und Ausgleiche für Nachteile zu schaffen.Wieder befindet man sich in dem gleichen Dilemma wie schon beim Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, daß man das Unrecht des perfiden Systems der Kommunisten in der ehemaligen DDR, das so facettenreich und ausgeklügelt war, den Anschein von Gesetzlichkeit hatte und über vier Jahrzehnte in alle Lebensbereiche eingriff, nicht umfassend und allen individuellen Bedürfnissen des einzelnen gerecht werdend beheben kann.Die Bürger der ehemaligen DDR mußten unrechtVerwaltungsentscheidungen in vieler Hinsicht und in vielen Bereichen erleben und erdulden. Sie waren nicht anfechtbar, weder auf dem Wege des Widerspruchs noch durch Gerichtsverfahren. Sie waren schlicht willkürlich. Jeder konnte hiervon betroffen sein. Hier wurde die Ausübung eines Berufes verboten, dort der Zugang zu einer Erweiterten Oberschule untersagt, und da mußte ein erfolgreiches Studium abgebrochen werden. Hier wurde ein Haus oder ein Grundstück entschädigungslos enteignet, dort eine Wohnung verweigert und da ein Entscheid übersandt, der tiefgreifende Einschnitte in das persönliche Leben zur Folge hatte.Es gab eine Verfassung, blumenreich, bilderbuchhaft schön. Spätestens seit dieser Verfassung weiß man, was eine Verfassung in einer Diktatur wert ist. In der DDR-Verfassung und in den Gesetzen der DDR verbürgte Rechte einzelner wurden mißachtet und nach Gutdünken, nach Willfährigkeit und nach Linientreue zur Partei einmal gewährt und ein anderes Mal verweigert. Recht war nur Manövriermasse, je nach Parteilinie der SED. Daher ist das verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz in seinem Umfang nicht nur auf Maßnahmen einer Behörde der ehemaligen DDR beschränkt, sondern gilt auch für Maßnahmen der SED und der von ihr beeinflußten Parteien.
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18800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Dr. Bertold ReinartzDie Rehabilitierung der Menschen, die unter diesem Unrechtsstaat gelitten haben, ist aus rechtspolitischen, aus humanitären und sozialen Gründen erforderlich, um das Unrecht und seine Auswirkungen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu beseitigen. Eine solche Rehabilitierung erfolgt für politische Strafgefangene nach dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Für Maßnahmen, die mit den tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates unvereinbar sind und die zu einer gesundheitlichen Schädigung, zu einem Eingriff in Vermögenswerte oder zu einer beruflichen Benachteiligung geführt haben, erfolgt die Rehabilitierung nach dem heute zur Entscheidung anstehenden Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz.Die Fülle der ermittelten Rechtsverstöße und die Vielfalt der Willkürakte bedingen, daß nicht alle Rechtsverstöße auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz einbezogen werden konnten. Vierzig Jahre DDR-Unrechtssystem lassen sich nicht einfach rückabwikkeln. Individuell erlittenes Unrecht auszugleichen ist schlechterdings kaum möglich, auch wenn der Rechtsstaat die Aufgabe hat, das dort zu leisten, wo er es vermag. Aus diesem Dilemma wird man sich auch mit noch so schönen Reden nicht herausreden können. Das gilt es auszuhalten und sich der Diskussion darüber zu stellen.Es werden daher nur die gravierenden Verstöße durch das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz aufgegriffen und rehabilitiert. Entscheidend ist, daß Menschen zum einen die Gewißheit haben, daß willkürliche Rechtsakte aufgehoben werden und ihre moralische Rehabilitierung sichergestellt ist. Zum anderen ist aber wichtig, daß durch das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz diesen Menschen Unterstützung und Hilfe zur Selbsthilfe gegeben wird. Wer eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält eine Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz. Wer enteignet wurde, hat einen Anspruch auf Rückübertragung oder Entschädigung nach dem Vermögens- oder Entschädigungsgesetz. Wer beruflich benachteiligt war, kann Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz, nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und nach dem Sozialgesetzbuch oder andere Ausgleichsleistungen für sich beanspruchen.Es bleibt jedoch zuzugeben: Dieses Gesetz enthält nicht alles Wünschenswerte.
Die Ansprüche aller konnten nicht berücksichtigt werden. Manches, so die Klärung der Frage nach Rückgabe oder Entschädigung im Falle der Mauergrundstücke, muß zurückgestellt werden. Durch die Fortsetzung der Diskussion dieser Frage sollte die Verabschiedung des Gesetzes nicht weiter verzögert werden und somit die Befriedigung der berechtigten Anliegen anderer Betroffener nicht noch weiter hinausgezögert werden.Wer die Pflicht hat, die Folgen des Unrechts, das von anderen begangen wurde, wiedergutzumachen, hat eine undankbare Aufgabe. Denn einerseits hat er das Unrecht und seine Folgen nicht zu verantworten,andererseits steht er in der Pflicht, den Interessen und Anliegen der Opfer so weit wie möglich entgegenzukommen, ihre Gefühle und Ansprüche zu respektieren und dem hohen Wert der Gerechtigkeit Genüge zu leisten.So könnte man sagen, allein der Versuch eines Dritten, für die Folgen dieses unsagbaren Unrechts einzustehen, ist schon beachtenswert und verdient Anerkennung. Aber das ist — so werden die Betroffenen zu Recht einwenden — nicht ausreichend. Recht zu setzen und Unrecht auszugleichen, das sind zwei unterschiedliche Dinge, die leider nicht immer in Einklang zu bringen sind.Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz wird vielen politisch Benachteiligten und Verfolgten in der ehemaligen DDR zu ihrer moralischen und faktischen Rehabilitation und zu Ausgleichsleistungen und auch zu Hilfen zur Selbsthilfe verhelfen.Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Hans-Joachim Hacker.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag vollendet heute das Kapitel der Rehabilitierungsgesetzgebung nach der deutschen Einheit für das über Jahrzehnte in der SBZ und in der DDR angehäufte Unrecht. Menschen sind an Leib und Leben geschädigt, Lebenschancen sind aus politischen Gründen zielgerichtet vernichtet worden. Verwaltungsakte dienten der ideologischen Unterdrükkung und Unterwerfung der Bevölkerung in der DDR.Es war deshalb eine Herausforderung für die frei gewählte Volkskammer, sich der Thematik der Rehabilitierung und Wiedergutmachung anzunehmen und noch am 6. September 1990 ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden. Dieses Gesetz wurde — das ist uns bekannt — nur teilweise durch den Einigungsvertrag übernommen.Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in der 12. Legislaturperiode, waren aufgefordert, die moralische Verpflichtung gegenüber den Opfern von DDR-Unrecht zu erfüllen und das einzulösen, worauf Tausende jahrelang gewartet haben und was ihnen gerade auch aus der damaligen Bundeshauptstadt für die Zeit versprochen worden war, in der es in Deutschland keine Mauer mehr geben sollte.Meine Damen und Herren, wir haben bereits im Zuge der Beratungen zum Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz heftig darüber diskutiert und gestritten, ob das, was wir für die Opfer tun, ausreicht. Die Position meiner Partei war und ist klar: Die Opfer bekommen zuwenig; ihre Kritik an der Engherzigkeit dieser Bundesregierung der vollmundigen Versprechungen ist berechtigt.Meine Damen und Herren, ich komme zu der Bewertung des Ihnen vorliegenden Gesetzentwurfs. Wir haben uns in der Berichterstatterrunde Mühe
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18801
Hans-Joachim Hackergegeben, den eingebrachten Regierungsentwurf zu verbessern. Dazu haben auch die Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse beigetragen. Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen aus den Bundesministerien, insbesondere aus dem Bundesministerium der Justiz, die uns bei der Arbeit sehr unterstützt haben.Für mich ist wichtig, festzustellen:Erstens. Endlich ist es erreicht, daß die Zwangsausgesiedelten rehabilitiert werden und ihnen das geraubte Gut zurückgegeben wird. Die SPD hat diese Forderung immer unterstützt. Wir konnten nicht begreifen, warum die Bundesregierung unter Kohl und Kinkel Jahre benötigte, um herauszufinden, was 1952 und 1961 von der bundesdeutschen Öffentlichkeit einschließlich der Politik festgestellt wurde,
daß nämlich die Zwangsaussiedlungen Willkürmaßnahmen des DDR-Staates waren, stabsmäßig vorbereitet und vom MfS abgedeckt.Zum zweiten begrüße ich die Einsicht bei den Koalitionsfraktionen, die zu einer Präzisierung des Art. 1 § 1 Abs. 6 geführt hat und klarstellt, daß die Regelungen dieses Gesetzes nicht nur auf staatliche Maßnahmen und Maßnahmen der SED, sondern auch auf Maßnahmen der beherrschten Blockparteien Anwendung finden sollen. Es ist richtig und für die Geschichtsschreibung wichtig festzustellen: Das Machtsystem in der DDR wurde ganz wesentlich von diesen Parteien mitgetragen.Zum dritten. Der Antrag der SPD auf Einfügung eines § 1 a in Art. 1, der die Rehabilitierung auch in jenen Fällen ermöglicht, wenn die Folge des Verwaltungsunrechts nicht noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirkt, hat im Rechtsausschuß — leider — nicht die Zustimmung der Koalition gefunden. Wir meinen, gerade diese Regelung ist wichtig, weil die vom Deutschen Bundestag ausgesprochene Ehrenerklärung — das sage ich auch zu unserem Bedauern — leider von der Öffentlichkeit in der Form nicht wahrgenommen wurde. Wir stellen deshalb den Ergänzungsantrag zu § 1 a des Art. 1 heute erneut.Zum vierten. Eine deutliche Verbesserung ist für die Berechtigten dadurch erreicht worden, daß für die Verwaltungsverfahren vor den Rehabilitierungsbehörden einschließlich des Widerspruchverfahrens grundsätzlich Kostenfreiheit besteht. Das ergibt sich aus Art. 1 § 12 a und aus Art. 2 § 24 a. Auch die Nachweisführung im Rehabilitierungsverfahren wurde erleichtert. Das ist für mich eine ganz wichtige Verbesserung des Gesetzes, die aus der Berichterstatterrunde stammt. Der Zeitraum, auf den sich die Unrechtsmaßnahmen erstrecken, für die wir heute eine Rehabilitierungsregelung schaffen wollen, fordert geradezu eine derartige Erleichterung wie die Glaubhaftmachung von Verfolgungsmaßnahmen in den genannten Paragraphen.Zu einem fünften Punkt, meine Damen und Herren. Der absolute Herrschaftsanspruch des DDR-Staates und die Unterdrückung Andersdenkender, die sich öffentlich artikulierten, machten auch nicht vor Schülern halt. Kritische Artikel an Wandzeitungen undoffene Meinungsäußerungen, die nicht in die Welt des Sozialismus nach DDR-Typ paßten, waren ausreichend, um Schülern den Zugang zum Abitur bzw. zur Hoch- und Fachschulausbildung zu versagen. Im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie im Rechtsausschuß ist daher eine Regelung beschlossen worden, die verfolgten Schülern den Zugang zur beruflichen Rehabilitierung eröffnet. Ich bin froh über diese Verbesserung, haben wir doch damit eine Opfergruppe eingebunden, die bereits in ihrer Jugend die Wirkungen eines totalitären Systems verspüren mußte.Zum sechsten. Gegen das Votum des Innenausschusses hat der Rechtsausschuß die Grundlage dafür beschlossen, daß personenbezogene Daten innerhalb der unterschiedlichen Rehabilitierungsverfahren nach dem Ersten und Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ausgetauscht werden können. Das dient insgesamt der Vereinfachung der Anspruchsprüfung auf Leistungen nach diesen Gesetzen und steht meines Erachtens nicht mit den Regelungen des StasiUnterlagen-Gesetzes in Widerspruch.Meine Damen und Herren, zu einem letzten Punkt in der Bewertung des Gesetzes. Ich muß mich mit einer Problematik auseinandersetzen, die in den Beratungen der Berichterstatter und im Rechtsausschuß eine zentrale Bedeutung gehabt hat. Die Sachverständigen bei der Anhörung in Rostock haben ebenfalls darauf verwiesen, daß hier verfassungsrechtliche Probleme bestehen. Es geht um die Frage — wie so oft in der Gesetzgebung im Bundestag nach der Einigung —, wer die Kosten der Folgen der Teilung Deutschlands und der Folgelasten aus der DDR tragen soll; eine zentrale Frage.Soweit es um die Tragung der Kosten für die Rentenversicherung für zusätzliche Rentenleistungen geht, sah der Regierungsentwurf keine Regelung vor. Das heißt, von vornherein war es der Wille der Bundesregierung, die finanzielle Belastung der gesetzlichen Rentenversicherung der Rentenkasse aufzuerlegen.Meine Damen und Herren, dies trifft entschieden auf unsere Kritik und unseren Widerstand. Ich stelle fest: Die Entschädigung für die SED-Verfolgten ist keine Aufgabe der Solidargemeinschaft der Rentenbeitragszahler, sondern der Gesamtgesellschaft.
Der Regierungsentwurf enthält erneut Finanzierungsregelungen, die Teile der Einkommensbezieher, nämlich Selbständige, Beamte, Minister, Staatssekretäre und Abgeordnete, von Aufgaben freistellen. Wie wir das der Bevölkerung gegenüber vertreten wollen, ist mir unerklärlich. Meine Damen und Herren, dies ist nicht hinnehmbar. Ich kann es nicht vertreten. Deswegen haben wir, die SPD, im Rechtsausschuß einen entsprechenden Änderungsantrag gestellt. Wir stellen diesen heute erneut, weil er im Rechtsausschuß abgelehnt wurde.Die Kosten — das ist unser Ziel — müssen vom Bund übernommen werden. Keine neuen Sonderopfer für die Rentenzahler! Es mutet schon eigenartig an, wenn
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18802 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Hans-Joachim Hackersich der Bundesfinanzminister, Herr Waigel, zum Abreißen des letzten DDR-Grenzturmes begibt und dabei Fernsehstunde macht, dann aber, wenn es darum geht, den Worten Taten folgen zu lassen, gegenüber den DDR-Verfolgten erneut kneift.Die Widersprüchlichkeit und das Geschachere der Bundesregierung bei der Opferentschädigung wird auch deutlich, wenn man den Brief vom 23. Dezember 1993 des Staatssekretärs im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Bernhard Worms, an die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. liest. In diesem Brief wird die Einfügung eines § 28 in den Art. 2 vorgeschlagen, der die Kostentragung zu Lasten des Bundes regeln sollte. Dies entspricht genau dem SPD-Vorschlag. Die Begründung in dem genannten Brief lautet überzeugend — ich zitiere —:Nach dem Regierungsentwurf sollen die Aufwendungen für den Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung von den Rentenversicherungsträgern und damit überwiegend von der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten getragen werden. Diese einseitige Belastung der Beitragszahler ist sowohl in der Stellungnahme des Bundesrates als auch in den Anhörungen des federführenden Rechtsausschusses und des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages von den Sachverständigen insbesondere auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einhellig kritisiert worden. Dabei wurde herausgestellt, daß der Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung für Menschen, die in der ehemaligen DDR Opfer politischer Verfolgung waren, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. halten diese Kritik ebenfalls im Ergebnis für berechtigt. Es wäre rechtlich und politisch untragbar, eine Reihe von Personengruppen, die nicht Beiträge zur Rentenversicherung zahlen , an der Finanzierung des Nachteilsausgleichs nicht angemessen zu beteiligen. Die vorgeschlagene Einfügung eines § 28 trägt dieser Bewertung Rechnung und bindet über die Kostenerstattung durch den Bund die Gesamtheit der Steuerzahler in die finanzielle Verantwortung für den Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung ein.Ich verweise noch einmal darauf: Das ist kein Zitat der SPD-Bundestagsfraktion, sondern das ist ein Zitat aus einem Brief des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung.
Ich kann mich diesen Ausführungen ausdrücklich anschließen. Ich bin erstaunt und traurig darüber, daß wir im Rechtsausschuß darüber keine Verständigung erreicht haben.
Ich frage mich: Wie ist es möglich, daß sich die Abgeordneten von CDU/CSU und F.D.P. trotz besserer Einsicht und besserer Argumente von den verfassungsrechtlich problematischen und sozial unausgewogenen Forderungen des Bundesfinanzministerserneut einfangen lassen? Woher kommt der Sinneswandel?Meine Damen und Herren, mit dem von der Bundesregierung . beabsichtigten Finanzierungsmodell werden auch die Lohnnebenkosten nach oben gedrückt, ein erneuter Beweis dafür, welche Fadenscheinigkeit die Diskussion um den Standort Deutschland in der Koalition begleitet.Meine Damen und Herren, wir stellen heute erneut den Antrag auf eine sozial gerechte Regelung der Rentenausgleichsproblematik. Ich fordere Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen.
Für Zehntausende Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern, aber nicht nur dort, bringt dieses Gesetz Verbesserung. Die Defizite habe ich benannt. Wir werden im Interesse der Betroffenen, die endlich Rehabilitierung erfahren und Leistungen beantragen können, diesem Gesetz zustimmen.Ich fordere das Bundesministerium der Justiz auf, Herr Staatssekretär Funke, über die Neuregelungen die Öffentlichkeit in angemessener Form zu unterrichten. Immer wieder stellen wir fest, daß wichtige Regelungen, gerade was den Bereich der Opferentschädigung angeht, bei den Betroffenen nicht bekannt sind und daher Ansprüche aus Unkenntnis nicht geltend gemacht werden. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, daß diese Betroffenen jetzt wissen, was wir hier beraten und beschlossen haben — mit allen Mängeln dieses Gesetzes, die von den Betroffenen sicherlich empfunden werden.
Herr Kollege Hakker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krause ?
Bitte schön.
Bitte, Kollege Krause.
Herr Kollege Hacker, mit vielem, was Sie sagen, kann sich der ehemalige DDR-Bürger durchaus einverstanden erklären. Betrachten Sie es aber nicht als persönlich unredlich, wenn gerade Sie die Verantwortung der Mitglieder von Blockparteien, denen ich damals nicht angehörte, anmahnen, obwohl Sie 18 Jahre lang als Jurist in der DDR Leiter der Rechtsabteilung eines strukturbestimmenden Kombinates waren? Sollte man dann nicht vielleicht mehr vor der eigenen Tür kehren? Sie gehörten doch sicherlich nicht zu den Widerstandskämpfern, die dagegen aufgetreten sind.
Herr Krause, Sie übertreffen sich heute wieder einmal in Demagogie. Dazu sage ich: Ich spreche in diesem Plenum nicht gegen die Verantwortung und Persönlichkeit des Bürgers, der aus der DDR kommt und heute im politischen Leben aktiv ist. Ich spreche diejenigen an, die in der DDR in herausgehobenen Positionen politi-
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Hans-Joachim Hackersche Verantwortung getragen haben, sich dazu nicht bekennen und meinen, nach der Wende, der Wiedervereinigung mit einem Mantelschwenk das gleiche fortführen zu können.Wir kommen nicht umhin, festzustellen — das hat auch die Enquete-Kommission mehrfach bewiesen, das ist historische Wahrheit —, daß die Blockparteien in der DDR Stütze des Systems waren. Wenn Sie in der DDR gelebt haben — und das haben Sie ja —, wissen Sie, wie die Blockparteien organisiert waren, wie die Parteitage abliefen und welche politischen Leitlinien den Blockparteien vorgegeben wurden. Sie wissen auch, wie katzbuckelnd die Block-Funktionäre der SED gefolgt sind.
Leisten Sie Unterstützung bei der Umsetzung dieses Gesetzes in Ihrem Wahlkreis! Wir haben eine wichtige Pflicht zu erfüllen. Lassen Sie uns das gemeinsam machen!
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Jürgen Schmieder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Regelungen zur Aufarbeitung von SED-Unrecht, von beruflichen und gesellschaftlichen Nachteilen sowie deren Folgen, insbesondere der immer noch fortwirkenden Folgen der SED-Maßregelungen, sind jetzt um einen weiteren Eckpfeiler ergänzt worden.Neben dem 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und dem Vertriebenenzuwendungsgesetz liegt jetzt mit dem 2. SED-UnBerG — das ist die Abkürzung des Gesetzes, verdeutlicht aber so ausgesprochen viel mehr, nämlich das, was wir bewältigen wollen — das vierte Gesetz vor, das sich mit Opferentschädigung und Versuchen der Wiedergutmachung beschäftigt.Das Zweite Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht soll — das sagt eigentlich schon der Name — das 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ergänzen und Rehabilitierungsmöglichkeiten für die Opfer sowohl des Verwaltungsunrechts als auch der politischen Verfolgung im beruflichen Bereich schaffen.Mit dem 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 29. Oktober 1992 sollte den von DDR-Unrechtsmaßnahmen am schwersten Betroffenen vorrangig Genugtuung verschafft werden. Das sind insbesondere Opfer politisch motivierter Strafverfolgungsmaßnahmen. In diesem Bereich war aus politischen, aber auch aus ethisch-moralischen Gründen schnelle Hilfe geboten und auch möglich, da die zu regelnden Sachverhalte weitgehend bekannt waren.Das Rehabilitierungsgesetz der DDR enthielt über den Bereich staatswidriger Freiheitsentziehungen hinaus auch Vorschriften zur verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung, die nicht als Bundesrecht übernommen werden konnten. Bei den Betroffenen entstand nun die berechtigte Erwartung und Hoffnung, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber auch für diese Sachverhalte Regelungen schaffen werde.Die Arbeiten zur Fixierung der Regelungen der verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung waren außerordentlich kompliziert, vielschichtig und zeitraubend. Sie zeigten wieder einmal deutlich, daß 40 Jahre Verfolgung und Behördenwillkür nicht von heute auf morgen aufzuarbeiten sind, insbesondere dann nicht, wenn nicht durch vorschnelle Aktionen oberflächliche Regelungen oder gar neue Ungerechtigkeiten geschaffen werden sollen.Nur auf der Grundlage exakt geführter Recherchen ließen sich Lösungen entwickeln, die einerseits den Interessen der verschiedenen Fallgruppen angemessen Rechnung tragen, die aber andererseits auch nicht im Widerspruch zu anderen Rehabilitierungsvorhaben stehen oder auf eine Totalrevision von 40 Jahren DDR hinauslaufen.Um die zur Verfügung stehenden personellen und materiellen Ressourcen möglichst optimal ausznutzen, sollen nur gravierende Unrechtsfälle einbezogen werden. Das sind bis heute spürbar fortwirkende, erhebliche Beeinträchtigungen auf Grund elementar rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen bzw. politischer Verfolgungsmaßnahmen. Ein voller Schadenersatz kann dabei jedoch nicht in Betracht kommen, denn Unrecht kann man ohnehin nur schwer mit Geld wettmachen. Vielmehr sollen Ausgleichsleistungen unter sozialen Aspekten gewährt werden, mit denen die heute noch fortwirkenden Folgen der Unrechtsmaßnahmen gemildert werden.Zur Regelung der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung gilt als Basisbezug Art. 19 des Einigungsvertrages. Nach dieser Vorschrift bleiben verwaltungsrechtliche Entscheidungen der ehemaligen DDR grundsätzlich bestandskräftig. Eine Aufhebung im Rahmen des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes kommt nur in Betracht, wenn hoheitliche Maßnahmen mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar sind oder zu einem Eingriff in Gesundheit, Vermögenswerte im Sinne des Vermögensgesetzes oder in das berufliche Fortkommen im Sinne der Vorschriften zur beruflichen Rehabilitierung geführt haben bzw. wenn deren Folgen noch unmittelbar schwer oder unzumutbar fortwirken.Für die Zwangsausgesiedelten übrigens wird ausdrücklich klargestellt, daß die damaligen Aktionen mit den tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar sind.
Nach der Aufhebung der Verwaltungsentscheidung werden Art und Umfang der Folgeansprüche — je nach Eingriff — nach dem Bundesversorgungsgesetz, dem Vermögensgesetz oder dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz bestimmt. Durch eine Ände-
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Dr. Jürgen Schmiederrung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes wird sichergestellt, daß rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehungen abschließend in diesem Gesetz geregelt werden.Für die F.D.P. ist klar, daß mit diesem Gesetz wiederum eine Vielzahl der anstehenden Probleme einer Klärung zugeführt werden konnte. Allerdings bleiben auch noch einige Probleme bestehen. Ich weiß das u. a. aus den Anhörungen in der Enquete-Kommission sehr gut, in der wir in sehr intensiven Gesprächen mit Opfergruppen sind.Welche Probleme sind noch offen? — Zum Beispiel die Problematik der Mauergrundstücke. Hier teile ich die Auffassung, daß diese Frage im Entschädigungsgesetz oder im Vermögensgesetz behandelt werden kann.
Darüber hinaus gibt es noch weitere zu regelnde Fragen, die in den Eigentumsbereich gehören.Daneben sei deutlich gesagt, daß das vorliegende Gesetz natürlich bei den Betroffenen abgrenzt, indem verwaltungsrechtliche Rehabilitierung und Folgeschäden miteinander verknüpft werden. Diese Bedenken teilen übrigens auch eine ganze Reihe der Opferverbände. Auf die Möglichkeit, daß eine Vielzahl von Betroffenen von der moralischen Wiedergutmachung ausgeschlossen bleiben könnte, möchte ich hier noch einmal ausdrücklich hinweisen. Gleichfalls scheint es angeraten, die Bundeslaufbahnverordnung so anzupassen, daß die Regelungen des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes reflektiert werden, um so den beruflich zu Rehabilitierenden auch dem Sinne des Gesetzes nach entsprechen zu können.
— Ich bedanke mich.
Bei der Regelung all der noch anstehenden Fragen muß unbedingt die Verhältnismäßigkeit beachtet werden, und man muß beachten, daß man bei den Vorstellungen über die Entschädigung bzw. Rehabilitierung nicht verkantet. Es muß auf ein angemessenes Gleichgewicht bei der Behandlung der Wiedergutmachung von Eigentums- und Freiheitsschäden bzw. Schäden an Leib und Leben geachtet werden.
Abschließend möchte ich noch sagen: Bezogen auf den Hinweis, daß nach den ersten Stichproben etwa 11 % der Betroffenen, die Anspruch auf Entschädigung hätten, gleichfalls noch Verstrickungen mit der Staatssicherheit nachgewiesen werden könnten, hält die F.D.P. nichts von einer Regelanfrage, wie sie von einigen Leuten in die Diskussion gebracht wird. Die F.D.P. begrüßt statt dessen — und sie fordert die Länder hierzu auf —, daß sich die neuen Bundesländer auf eine gleiche Verfahrensweise und einen gemeinsam getragenen Fragespiegel für die Antragstellung einigen.
Das würde das Verfahren der Rehabilitierung ganz entscheidend vereinfachen und eine Gleichbehandlung ermöglichen.Ich bedanke mich.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Rehabilitierung von durch Verwaltungsmaßnahmen von Behörden der DDR geschädigten Menschen trotz einiger Bedenken, auf die ich noch zurückkommen werde, hier zustimmen.Die Volkskammer der DDR hatte das bereits in ihrem Rehabilitierungsgesetz so vorgesehen. Dieses Gesetz wurde allerdings in diesem Punkt nicht übernommen. Ich habe in der Volkskammer dafür gestimmt, weil ich es für notwendig hielt.Ich habe selbst wegen politischer Differenzen mit der politischen Führung der DDR zweimal meine Stelle verloren: 1958 verlor ich nach der berüchtigten Babelsberger Konferenz meine Arbeit an der Humboldt-Universität. Ich erhielt dort zeitweise Hausverbot und zwei Jahre Berufsverbot. 1982 wurde ich veranlaßt, das Zentralinstitut für Wirtschaftsführung zu verlassen, nachdem ich in einer Arbeit über Ökonomie und Recht die Notwendigkeit radikaler Veränderungen des gesellschaftlichen Systems deutlich gemacht hatte.Ich will mich nicht als Opfer oder gar als Märtyrer darstellen, aber ich weiß schon, wovon bei diesem Gesetz die Rede ist, und kann deshalb durchaus nachvollziehen, was diese Menschen damals bewegt hat und heute bewegt.Ich halte es für geboten, auf das Abgrenzungsproblem einzugehen. Die Anhörung des Rechtsausschusses zu diesem Gesetzentwurf hat zweifelsfrei erbracht, daß die DDR — wie jeder andere Staat — ihre Bürgerinnen und Bürger in Anspruch nehmen, Loyalität fordern durfte und in erhöhtem Maße von den Mitarbeitern ihres öffentlichen Dienstes Loyalität fordern konnte und daß sie — wie jeder Staat, wie dies auch die Bundesrepublik Deutschland tut — ihre wirklichen Gegner mit angemessenen Mitteln bekämpfen durfte. Das heißt, nicht jede Maßnahme wird hier als Unrecht zu qualifizieren sein. Mir ist hier die Abgrenzung nicht deutlich genug zwischen dem, was die DDR an Loyalität beanspruchen konnte und wo sie durch hoheitliche Maßnahmen natürlich auf Biographien Einfluß genommen hat, ohne daß hier eine Rehabilitierungsmöglichkeit besteht, und dem, was der Sachverständige Professor Azzola als „Sonderopfer" von einzelnen oder auch Gruppen bezeichnet hat.Es sollen nun diejenigen, die die DDR bekämpft haben, weil sie sie beseitigen wollten, und diejenigen, die mehr Demokratie und Umweltschutz, die Abschaffung der Zensur und vieles andere forderten, weil sie die DDR verbessern wollten, als Freunde der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen in Anspruch genommen und rehabilitiert werden. Das hat ja hin-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18805
Dr. Uwe-Jens Heuersichtlich der ersten Gruppe auch eine bestimmte Logik im Sinne der Formel „Der Gegner meines Gegners ist mein Freund" . Aber so, wie Sie hier die zu rehabilitierenden Sachverhalte mit allgemeinen Rechtsbegriffen zu definieren versucht haben, wird die Last der Abgrenzung zwischen der normalen bzw. hinnehmbaren Inanspruchnahme der Bürger durch den Staat und politischer Verfolgung von den Gerichten zu tragen sein. Ich habe in diesem Zusammenhang die Befürchtung — weil es diese Tendenz schon in anderen Fragen gibt —, daß dann von einigen Gerichten die Maßstäbe des Grundgesetzes retrospektiv auf die DDR projiziert und damit Westmaßstäbe an östliche Lebenssachverhalte angelegt werden.Große Bedenken habe ich hinsichtlich der Ausschließungsgründe des Art. 1 § 2 Abs. 2 und Art. 2 § 3. Der Sachverständige Dr. Christoph hat in seinem Papier zu der Rostocker Anhörung darauf hingewiesen, daß sich diese Bestimmungen „noch nicht zu einer exakt anwendbaren rechtsstaatlichen Vorschrift gemausert" haben. Häufig werde mit sehr pauschalen Subsumierungen gearbeitet, die die Gefahr neuen Unrechts bergen.Eigentlich rehabilitierungswürdige Benachteiligungen sollen danach dann nicht rehabilitiert werden, wenn der Benachteiligte zu irgendeiner Zeit auf irgendeinem Gebiet selbst z. B. gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat. Und dieser Maßstab wird über einen Zeitraum von bis zu 45 Jahren an die nun doch teilweise höchst wechselvollen Biographien der Ostdeutschen angelegt. Wenn in diesem Zeitraum irgendwo ein dunkler Fleck ist — und der wird ja, wie die Praxis zeigt, schon bei der zeitweiligen Ausübung bestimmter Funktionen pauschal angenommen —, dann werden die Ansprüche total entzogen.
Ich meine, daß hier zwischen dem behaupteten Unrechtsgehalt der Taten des Benachteiligten und seiner Verfolgung abgewogen werden müßte, wie auch der Sachverständige Professor Azzola in seinem Vorschlag angeregt hat.Überflüssig erscheint mir Art. 3 § 2 Abs. 2 Satz 2. Nach meinem bisherigen Kenntnisstand sind derartige Sachverhalte bisher nicht nachgewiesen. Wenn hier Handlungsbedarf bestünde, könnte das Gesetz novelliert werden.Ich würde — und damit komme ich zu einer für mich sehr wichtigen Frage — dem Gesetzentwurf allerdings wesentlich freudiger zustimmen können, wenn die Maßstäbe, die dieses Gesetz als Kriterien, namentlich in Art. 1 § 1, nachträglich auf Ostdeutschland projiziert, auch heute dort angewandt würden. Es ist in meinen Augen so, daß nach den gleichen Kriterien heute in Ostdeutschland massenhaft Verwaltungsunrecht geschieht, nämlich „Maßnahmen, die in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit verstoßen ... und die der politischen Verfolgung dienen".Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Verletzt es nicht genau die Kriterien, die dieses Gesetz aufstellt — nachträglich für die DDR —, wenn einer früherenFunktionärin der FDJ und der SED in Berlin, die einer Erwerbsarbeit als Küchenhilfe in einem Kindergarten nachging, mit folgender Begründung gekündigt wurde:In Ihrer glatten, gradlinigen Parteikarriere haben Sie sich engagiert für die Ziele des SED-Systems eingesetzt ... Ihre Bedenken gegenüber dem neuen politischen System, wie Sie sie in der Anhörung äußerten, und Ihre Anmerkungen zum SED-Regime sind nicht geeignet, eine vollständige Neuorientierung erkennen zu lassen ... All dies schließt eine Tätigkeit als Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung aus.Es geht um die Arbeit als Küchenhilfe.Professor Klinkmann, der u. a. Präsident der Internationalen Gesellschaft für künstliche Organe, der Europäischen Gesellschaft für künstliche Organe, der Europäischen Vereinigung für Dialyse und Transplantation war, wurde von der mecklenburgischen Landesregierung fristlos gekündigt, weil ihm ein Ehrenausschuß die Befähigung zum Hochschullehrer „wegen Staatsnähe" abgesprochen hatte. Er hatte auf einem Parteitag der SED eine Rede gehalten. Er wurde nach der Wende letzter Präsident der Akademie der Wissenschaften. Der Ehrenausschuß hat ihm übrigens bescheinigt, daß er sich persönlich in keiner Weise schuldig gemacht hatte. Dennoch kündigte die Landesregierung fristlos. Ist das nicht politische Verfolgung?Meinen Sie nicht, daß es gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit verstößt, wenn dem über 90jährigen Bernhard Quandt, der über elf Jahre in Dreibergen, Sachsenhausen und Dachau war, der aber auch bis 1971 erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Schwerin war, die Entschädigungsrente entzogen wird? Es wurde ihm kein konkreter Rechtsverstoß oder gar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder die Rechtsstaatlichkeit nachgewiesen.Es handelt sich bei alledem nicht um Einzelfälle. Es wird im ganzen rund einer Million ehemaliger Beschäftigter in Staat, Gewerkschaften, Parteien und anderen Organisationen der freie Zutritt zum öffentlichen Dienst verwehrt.Die Menschen im Osten fragen sich auch, ob es mit den Grundsätzen eines Rechtsstaates vereinbar ist, wenn Menschen, nur weil sie in der DDR einen beruflichen Aufstieg genommen haben, in ihren Rentenansprüchen drastisch herabgestuft werden. Bis heute haben Ruheständler, die einen akademischen Beruf ausübten, z. B. als Arzt, Musiker oder Hochschullehrer, gemessen an ihren Berufskollegen in Westdeutschland, einen Versorgungsgrad von unter 30 %.Meine Damen und Herren, in 40 Jahren DDR sind nicht entfernt so viele Wissenschaftler, Lehrer und andere Intellektuelle aus politischen Gründen entfernt worden wie in vier Jahren deutscher Einheit. Die Frage ist auch von der Europäischen Menschenrechtskommission und dem Europäischen Parlament aufgeworfen worden.Ich weiß, daß Selbstanwendung von Kriterien immer schwierig ist, je größer die Macht ist, desto
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18806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Dr. Uwe-Jens Heuerschwerer. Es war mir nicht gegeben, der DDR-Führung eine solche Selbstbeschränkung der Macht nahezubringen. Ich versuche es heute bei Ihnen.
Vizepräsident Helmuth Becker. Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das SED-Unrecht ist nicht bereinigt. Dieser Satz gilt, auch wenn wir den Abschluß der Gesetzgebungsarbeit, der der Bereinigung dieses Unrechts, der Rehabilitation und der Entschädigung der Opfer gewidmet ist, schon jetzt absehen können. Alle, die mit dieser Arbeit zu tun gehabt haben— sei es als Betroffene, als Beteiligte am Gesetzgebungsverfahren, wie auch der Kollege Dr. Heuer —, wissen, daß es so ist.Auch die Ursachen für diesen Zustand lassen sich eindeutig benennen. Es ist der das Recht und die Rechtsprechung überhaupt herausfordernde politische Charakter dieses Unrechts, und es sind die noch immer nicht beigelegten Meinungsverschiedenheiten über den gesetzgeberischen Umgang mit diesem Unrecht.Immer wieder wird die Meinung vertreten, letzten Endes sei eine tatsächliche Unrechtsbereinigung undurchführbar, das Vergangene könne nicht ungeschehen gemacht und seelisch-moralische Verletzungen durch materielle Entschädigungen allenfalls symbolisch ausgeglichen werden. Diese Auffassungen widersprechen nicht nur der für den christlichen Glauben fundamentalen Praxis von Vergebung und Versöhnung, von der — wie die Öffentlichkeit weiß — auch in einer der Sitzungen des zentralen Runden Tisches in Berlin-Niederschönhausen Gebrauch gemacht worden ist.Sie verkennen auch Ausmaß und Wesen der rechtlichen Aufgabe, der sich Gesellschaft und Staat angesichts der Forderung nach der Bereinigung politischen Unrechts konfrontiert sehen.
Das geschehene Unrecht soll nicht ungeschehen gemacht, sondern es soll identifiziert und als solches verurteilt werden.Angesichts des Umfanges der in diesem Jahrhundert begangenen politischen Unmenschlichkeiten wird es niemandem verborgen bleiben, daß eine solche Verurteilung eine Aufgabe darstellt, für die es neuer Formen der Rechtsprechung bedarf, wie sie etwa in dem Statut für einen Internationalen Gerichtshof für Vergehen gegen Menschlichkeit und Menschenrechte enthalten sind, das von der UNO erlassen worden ist und erstmalig die individuelle Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit Vergehen definiert, die in Wahrnehmung politischer Funktionen begangen worden sind.Aber Neuheit und Ausmaß der Aufgabe entbinden den einzelstaatlichen Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, solche Schritte zu tun wie die TschechischeRepublik, die bereits im Frühjahr 1991 per Gesetz die Verurteilung und Aufhebung aller Urteile vollzog, in denen während der kommunistischen Diktatur Menschlichkeit und Recht verletzt worden waren.Schon während der Diskussion des Ersten Unrechtsbereinigungsgesetzes weigerte sich die Bundesregierung, den gleichen Weg zu gehen und verwies, wie es der Ausschußbericht und der Kollege Reinartz heute erneut getan haben, stattdessen auf die Ehrenerklärung des Deutschen Bundestages. So wichtig diese Erklärung als öffentliche Willensbekundung auch sein mag, sie kann niemals als Äquivalent für die von allen Opfern ebenso wie von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geforderte rechtswirksame Verurteilung des mittlerweile in allen Details bekannten SED-Unrechts gelten. Wenn der für eine wirksame Bereinigung erforderliche rechtliche Grundakt fehlt, müssen auch die Einzelregelungen von Rehabilitation unbefriedigend bleiben.Das galt schon vom ersten strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz. Leider muß dasselbe auch über den vorliegenden Entwurf zur verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung gesagt werden. Zur Begründung, meine Damen und Herren, genügt ein Blick auf die Liste, in der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in ihrem Antrag an den Deutschen Bundestag vom 7. Dezember 1991 vom Ersten Unrechtsbereinigungsgesetz nicht erfaßte Fallgruppen aufgeführt haben: Zwangsausgesiedelte, zu denen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN immer auch die aus Mauergrundstücken Ausgesiedelten gerechnet haben, unabhängig von einer rechtlichen Regelung, wie sie jetzt vielleicht möglich wird, Deportierte jenseits der Oder, in der Berufsausübung Geschädigte und schließlich Ausbildungs- und Studiengeschädigte.Eine der Fallgruppen, die Deportierten jenseits der Oder, bleibt nach wie vor auf Stiftungsleistungen für soziale Notfälle verwiesen und wird insoweit im vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt nicht berücksichtigt. Die Zwangsausgesiedelten werden zwar nach Art. 1 § 1 Abs. 3 berücksichtigt, aber im wesentlichen anderen Alteigentümern gleichgestellt und somit der Vermögensgesetzgebung unterworfen. Für alle anderen Fallgruppen sind soziale Ausgleichsleistungen vorgesehen, die an der untersten Grenze liegen, überdies an eine ganze Reihe von einschränkenden Bedingungen geknüpft werden.Der schwerste und grundsätzlichste Mangel dieses Gesetzes, meine Damen und Herren, gegen den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Anfang an protestiert haben, aber ist erhalten geblieben, die Bindung der Rehabilitation an Entschädigungsleistungen. Hier wird der rechtliche Inhalt der Rehabilitation einem von ihm völlig verschiedenen Sachverhalt unterworfen, nämlich dem Vorhandensein einer Anspruchsberechtigung auf bestimmte Ausgleichsleistungen. Die uns immer wieder entgegengehaltene Behauptung, die Forderung nach Rehabilitation laufe früher oder später immer auf materielle Entschädigungsansprüche hinaus, ist eine Beleidigung der Opfer und derer, die ihre Sache vertreten.
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Dr. Wolfgang UllmannDaß dieser Gesichtspunkt trotz der Stellungnahme der Enquete-Kommission in dieser Sache nicht einmal in der von der SPD eingebrachten abgeschwächten Form des Thüringer Änderungsantrages Zustimmung fand, wird ein schwerer Schaden dieses Gesetzes bleiben, ebenso wie die Verschärfung der Bestimmungen des Art. 17 Einigungsvertrag im entscheidenden Art. 1 § 1 des Gesetzentwurfes und die verfassungsrechtlich bedenkliche Finanzierung des Gesetzes, auf die ja der Kollege Hacker hingewiesen hat,
die übrigens auch von der BFA schärfstens mißbilligt wird.Ganz im Gegensatz zum Bericht des Rechtsausschusses hält BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seine Anträge mitnichten für erledigt — hier ist der Bericht, glaube ich, unkorrekt — und wird sie weiterhin als einen essentiellen Bestandteil der menschen- und grundrechtsorientierten Politik beibehalten.Ich will nicht verfehlen, allen zu danken, Herr Staatssekretär Funke, die an diesem schwierigen Gesetzgebungsvorhaben mitgewirkt haben, allen voran den Beamten des Bundesministeriums der Justiz.Aber, meine Damen und Herren, schließen muß ich mit einer Frage an alle, die im Unterschied zu uns diesem Gesetz zuzustimmen gedenken: Was wollen Sie denen sagen, deren klare Bitte um eine entschädigungslose Rehabilitation Sie mit der Verdächtigung der Unehrlichkeit abgelehnt haben? Wie treten Sie den vergewaltigten und deportierten Frauen gegenüber, die das erlittene Unrecht 40 Jahre verschweigen mußten und nun als Almosenempfängerinnen abermals degradiert werden?
Meine Damen und Herren, das Wort erhält jetzt der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, unser Kollege Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute können wir — und das möchte ich unterstreichen — endlich die Unrechtsbereinigungsgesetzgebung zu einem Abschluß bringen. Über drei Jahre sind seit der Vereinigung Deutschlands vergangen. Den Opfern scheint diese Zeit sehr lange.Sie sind der Auffassung, ein demokratisches Gemeinwesen müßte es doch schaffen, Ausgleichsmaßnahmen für das ihnen zugefügte Unrecht rascher zu verabschieden. Ich habe zwar viel Verständnis für diese Haltung der Betroffenen, doch möchte ich sie darauf hinweisen, daß der Gesetzgeber im Bereich der Unrechtsbereinigung Außerordentliches zu leisten hatte.Es galt nicht nur, die Regelungen zur strafrechtlichen, verwaltungsrechtlichen oder beruflichen Rehabilitierung zu erarbeiten. Auch der große und für dringende Investitionen in den neuen Ländern so wichtige Bereich der offenen Vermögensfragen einschließlich des noch ausstehenden Entschädigungsgesetzes war zu regeln.Hier waren nicht nur die unterschiedlichsten regelungsbedürftigen Sachverhalte festzustellen und aufzuarbeiten; sie mußten auch einer Lösung zugeführt werden, die ein Höchstmaß an Gerechtigkeit und Rechtssicherheit bietet. Das haben wir — so meine ich — mit dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz erreicht.Gleichwohl konnten wir nicht alle Wünsche erfüllen, und dies nicht nur aus finanziellen Gründen. Wir mußten uns mit der Tatsache abfinden, so schmerzlich dies auch für manchen Betroffenen sein mag, daß 40 Jahre DDR nicht ungeschehen gemacht werden können.Wir können die Opfer nicht in einen Zustand versetzen, als hätte es die DDR nicht gegeben. Vielmehr müssen wir die knappen personellen und materiellen Ressourcen auf die Schwerstbetroffenen konzentrieren. Das sind diejenigen, die Opfer grob rechtsstaatswidriger politischer Verfolgung oder Willkür geworden sind und an diesen Folgen heute noch zu tragen haben.Gerade weil wir nicht jede Unrechtsmaßnahme ausgleichen können, muß umso mehr darauf geachtet werden, daß vergleichbare Opfergruppen auch in vergleichbarer Weise von Rehabilitierungsmaßnahmen erfaßt werden. Die Unrechtsbereinigungsgesetzgebung wird nur dann von den Betroffenen akzeptiert werden, wenn ihnen das Gefühl vermittelt werden kann, daß keine Gruppe ohne sachlichen Grund besser oder schlechter behandelt wird als vergleichbare andere Gruppen.
Da, Herr Kollege Hacker, möchte ich Ihnen zusagen, daß wir Ihre Anregung aufnehmen, gerade bei diesem Gesetz eine besonders gute Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um hier auch das Bewußtsein in der Bevölkerung zu vermitteln und damit die Betroffenen besonders angesprochen werden.
Die sich an die eigentliche Rehabilitierung anschließende finanzielle Kompensation kann nie ein voller Schadensersatz sein, Herr Kollege Ullmann, sondern nur eine nach sozialen Gesichtspunkten bemessene Ausgleichsleistung.Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz enthält im wesentlichen das Verwaltungsrechtliche und das Berufliche Rehabilitierungsgesetz.Nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz sollen hoheitliche Maßnahmen der DDR aufgehoben werden, wenn sie mit den tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar sind, zu einem Eingriff in Gesundheit, Vermögen oder in das berufliche Fortkommen geführt haben und ihre Folgen noch schwer und unzumutbar fortwirken. Nach der Aufhebung der Verwaltungsentscheidung oder nach der Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit werden Art und Umfang der Folgeansprüche je nach dem Eingriffsobjekt nach dem Bundesversorgungsge-
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Parlamentarischer Staatssekretär Rainer Funkesetz, dem Vermögensgesetz oder dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz bestimmt.Den Zwangsausgesiedelten soll ein besonderer Stellenwert eingeräumt werden, wie es bereits von Herrn Dr. Kinkel zugesagt worden war. So wird im Gesetz ausdrücklich festgestellt, daß die gegen sie gerichteten Aktionen mit den tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar sind.Nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz sollen Opfer politischer Verfolgung Ausgleichsleistungen erhalten, wenn sie verfolgungsbedingt in ihrem Beruf oder in einem berufsbezogenen Ausbildungsverhältnis erheblich benachteiligt worden sind. Kern des Vorhabens ist dabei ein pauschalierter Ausgleich verfolgungsbedingter Nachteile in der Rentenversicherung. Darüber hinaus sieht der Entwurf Hilfe zur Selbsthilfe durch bevorzugte Förderung der Ausbildung, beruflichen Fortbildung und Umschulung sowie Unterstützungsleistungen für besonders Bedürftige vor.Besonders erfreulich war es, daß hinsichtlich der Grundkonzeption der beiden Gesetze eine weitgehende Übereinstimmung in allen Fraktionen bestand. Als Ausdruck dieses parteiübergreifenden Konsenses sehe ich den interfraktionellen Antrag zur Einbeziehung verfolgter Schüler in das Berufliche Rehabilitierungsgesetz an.Meines Erachtens hat damit das Gesetz eine erhebliche Verbesserung erfahren. Es wäre nicht gerechtfertigt gewesen, diese Opfer politischer Verfolgung, deren Lebensweg bereits in einem so frühen Stadium in eine von ihnen nicht gewünschte Richtung gelenkt wurde, völlig unbeachtet zu lassen. Sie sollen wenigstens Hilfe zur Selbsthilfe erhalten, d. h. eine bevorzugte Ausbildungs-, Fortbildungs- und Umschulungsförderung.Natürlich wurde in anderen Bereichen dafür urn so heftiger diskutiert. Erwähnen möchte ich etwa den Antrag zur Einfügung einer rein moralischen Rehabilitierung, d. h. einer Rehabilitierung ohne Folgeansprüche im verwaltungsrechtlichen Bereich des Gesetzes.Ich persönlich halte nichts von Maßnahmen, die den Betroffenen viel versprechen, aber letztlich nichts bringen. Wem von der Rehabilitierungsbehörde bescheinigt wird, er sei Opfer einer grob rechtsstaatswidrigen Maßnahme und aus Gründen der politischen Verfolgung in seinem persönlichen Lebensbereich schwer herabgewürdigt worden, wird mehr als die Aufhebung der Maßnahmen erwarten. Eine finanzielle Kompensation kann hier aber nicht geleistet werden.Abschließend möchte ich noch auf eine Kontroverse im Zusammenhang mit dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz eingehen, die mir wirklich Sorge bereitet, von der ich aber gleichwohl hoffe, daß sie das Inkrafttreten des Gesetzes nicht verzögern wird. Ich meine die auch von Herrn Kollegen Hacker angesprochene Kostentragung für den Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung. Gegen die im Gesetzentwurf vorgesehene Kostentragung durch die Versichertengemeinschaft werden verfassungsrechtliche, vor allem auch verfassungspolitische Bedenken ins Feldgeführt. Die Verfassungsbedenken stützen sich auf Art. 3; es sei gleichheitswidrig, wenn für den Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung nur die Versicherten selbst aufzukommen hätten, nicht aber die Allgemeinheit. Wir haben die verfassungsrechtlichen Bedenken sehr sorgfältig geprüft. Die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Lösung genügt unseres Erachtens der verfassungsrechtlichen Anforderung an die sogenannte Gruppennützigkeit.Hinsichtlich der politischen Bedenken möchte ich darauf hinweisen, daß es sich bei den Regelungen zum Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung um Vorschriften handelt, durch die zugunsten der politisch Verfolgten die allgemein anzuwendenden rentenrechtlichen Bestimmungen ergänzt werden. Deswegen fallen die Kosten systemimmanent bei den Rentenversicherungsträgern an. Wenn bei den sogenannten „Staatsnahen" eine Kappung von Rentenansprüchen gesetzlich vorgesehen ist, ist es nur folgerichtig, für die Opfer einen Ausgleich von Verfolgungsschäden innerhalb des Rentensystems zu schaffen.Im übrigen möchte ich noch anmerken, daß sich auch der Bund seiner Verantwortung gegenüber der Rentenversicherung nicht entzieht, sondern durch seinen Bundeszuschuß prozentual auch an den durch das berufliche Rehabilitierungsgesetz verursachten Mehrausgaben beteiligt ist. Angesichts der angespannten Haushaltslage war wohl mehr nicht drin.Als allerletztes: Die Länder haben zunächst jede Mitfinanzierung des Gesetzes abgelehnt und sich damit ihrer Verantwortung nicht gestellt. Im Interesse der Opfer kann ich die Länder nur nachdrücklich bitten, anzuerkennen, daß die Durchführung der Rehabilitierungsgesetze originär in ihre Zuständigkeit fällt und sie sich demgemäß an den Kosten mit beteiligen sollten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Michael Luther.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweitenmal verabschieden wir heute ein Gesetz, welches DDR-Unrecht lindern soll. Wir müssen es der heutigen und der zukünftigen Generation immer wieder sagen: Solches Unrecht geschah, weil Nationalsozialismus und später Sozialismus unser Land im Namen des Volkes, im Namen der Arbeiterklasse oder im Namen der kleinen Leute regierte und zu ihrer Machterhaltung vor politischer Diskriminierung und Verfolgung nicht zurückschreckte.
Die DDR war in diesem Sinn ein Unrechtsstaat. Sie war eine Diktatur. Sie ist Gott sei Dank zu Ende.Mein Dank gilt all denjenigen, die dem demokratischen Mäntelchen, welches sich die DDR umhängen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18809
Dr. Michael Lutherwollte, nicht geglaubt haben, die das Unrecht angesprochen haben, die das System in der Öffentlichkeit angeprangert haben und somit zu seiner Beseitigung beigetragen haben.
Herr Kollege Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heuer?
Herr Heuer, ja. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.
Herr Luther, ich habe mich heute dazu geäußert. Ich habe gesagt, daß ich dem Gesetz zustimme. Halten Sie es für angemessen, daß Sie eben Nationalsozialismus und DDR gleichgestellt haben? Halten Sie das in Anbetracht der Tatsache für angemessen, was der Nationalsozialismus in der Welt angerichtet hat?
Herr Heuer, es handelt sich hierbei um Diktaturen. Daß letztendlich das Ganze nie richtig getrennt werden kann, hat mir z. B. der Redebeitrag von Herrn Ullmann gezeigt, der einfach die Folgen des Nationalsozialismus, die letztendlich in der DDR niemals aufgegriffen wurden, z. B. die Deportation der Menschen östlich von Oder und Neiße, was keine Geschichte der DDR selbst war, sondern des Nationalsozialismus vorneweg, deutlich aufgezeigt und dargelegt hat, daß die DDR nicht bereit war, diese Dinge, die tatsächlich geschehen sind, wirklich aufzugreifen und zu verfolgen. Dieses konnte letztendlich in einer Diktatur wie der DDR nicht geleistet werden.
Wenn Herr Dr. Luther noch eine zuläßt.
Ja, bitte.
Sie haben eben gesagt, die DDR hätte sich mit dem Nationalsozialismus nicht auseinandergesetzt. Halten Sie es wirklich für richtig, das so zu sagen? Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß es die DDR auf vielen Gebieten wirklich gemacht hat, während hier in der Bundesrepublik Leute wie Globke Berater von Adenauer waren, während die alten Militärs hier tätig waren, während die alten Richter hier alle weiter im Amt waren. Ich sage nicht, daß das in der DDR alles in Ordnung war. Aber halten Sie wirklich die These aufrecht, daß in der DDR auf diesem Gebiet nichts geschehen ist? Vergleichen Sie es doch mit dem, was hier geschehen ist! Nur auf diesem Weg ist ein objektives Bild der Geschichte zu erreichen.
Über diese Fragen kann man lange diskutieren. Nur eine Bemerkung dazu: Die DDR hat sich, das ist richtig, mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus beschäftigt.
Aber sie hat es sehr einseitig getan. Dies zeigt sich daran, daß wir heute diejenigen verwaltungsrechtlich politisch rehabilitieren müssen, die eigentlich Verfolgte des Nationalsozialismus waren, anschließend mit dem System der DDR aber auch nicht einverstanden waren und von diesem System dann ebenfalls letztendlich in den Verfolgungszustand versetzt wurden.
Herr Kollege Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reddemann?
Bitte,
Bitte, Kollege Reddemann.
Herr Kollege Luther, würden Sie mir zustimmen, wenn ich darauf hinweise, daß bei der ersten Generalität der sogenannten Nationalen Volksarmee beachtliche Reserven aus der alten Generalität der Wehrmacht vorhanden waren und daß nur ein paar politische Generäle von der SED selbst stammten?
— Herr Kollege Heuer, Ihre temperamentvollen Zwischenrufe ändern nichts an der Tatsache, daß z. B. der Erste Kreissekretär der SED in meinem Heimatkreis Heiligenstadt ein ehemaliger hauptamtlicher RAD-
Truppführer gewesen ist, daß mehrere seiner Kollegen in der SS tätig gewesen waren und dies dort bekannt war.
Aber zurück zu meiner Frage, Herr Kollege Luther — ich bitte um Entschuldigung —: Würden Sie mir außerdem zustimmen, daß der Antifaschismus, so wie er in der DDR von der SED praktiziert wurde, nicht eine wirkliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus gewesen ist, sondern praktisch zu einem Schimpfwort gegen alle, die sich nicht dem kommunistischen System unterwarfen?
Herr Reddemann, ich bin froh, daß Sie diese beiden Fragen gestellt haben. Ich glaube, daß diese Tatsachen so sind. Auch ich kenne sie. In der Öffentlichkeit sind sie aber viel zuwenig bekannt.Meine Damen und Herren, ich möchte meinen Redebeitrag fortsetzen. Es ist so, daß wir von Menschen reden, die die Diktatur DDR in der Öffentlichkeit angeprangert haben. Diese Personen wurden im Osten Deutschlands verfolgt. All diejenigen, die das im Westen auch in der Vergangenheit deutlich angesprochen haben, wurden bis dato als Ewiggestrige dargestellt. Deshalb sollten für meine Begriffe auf der anderen Seite all diejenigen nachdenken, die eher der Meinung waren, Gemeinsamkeiten mit den Systemträgern finden zu müssen.
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18810 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Dr. Michael LutherMeine Damen und Herren, die CDU/CSU- und F.D.P.-Koalition stellt sich der schwierigen Aufgabe der Aufarbeitung des SED-Unrechts, aber wir wissen, daß wir 40 Jahre SED-Unrecht nicht wiedergutmachen können. Wir können verlorene Lebenschancen nicht zurückgeben. Wir können letztendlich nur versuchen, den politisch Verfolgten in ihrer heutigen betroffenen Situation zu helfen.Warum haben wir die recht schwierige Formulierung verwendet, daß Maßnahmen aufzuheben sind, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar sind und deren Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken?Erstens. Wir brauchen das Wort „schlechthin", weil die DDR kein Staat mit den tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates war. Sonst wären wir nämlich alle politisch Diskriminierte, z. B. eben Maueropfer, weil uns die Mauer in unserer Freiheit beschränkt hat.Zweitens. Wir können 40 Jahre DDR-Unrecht in seiner Vollständigkeit nicht aufarbeiten und stellen heute auf die noch unmittelbar schweren und unzumutbaren Folgewirkungen ab. Wer mit politisch Verfolgten redet, weiß, daß es für viele unerträglich ist, daß die Systemträger des alten DDR-Staates weitgehend unbescholten herumlaufen und diejenigen, die politisch diskriminiert wurden, heute noch immer schlechter gestellt sind. Dieses Gesetz macht den Versuch, die Situation dieser betroffenen Personen etwas zu verbessern.Trotzdem bleibt ein unbefriedigender Zustand. Was ist mit denjenigen, die politisch diskriminiert wurden und denen es heute besser geht, die also nicht unter das Gesetz fallen werden? Mit dem Vorschlag des Bundesrats, den auch die SPD heute noch einmal aufgreift, wird ein Versuch unternommen, hier ebenfalls eine Lösung zu finden. Wir haben im Berichterstattergespräch über Stunden über das Für und Wider einer solchen Regelung diskutiert. Wir waren zum Schluß im Berichterstattergespräch einvernehmlich der Meinung, daß ein solches Ansinnen mit diesem Gesetz nicht geregelt werden kann.Herr Hacker, ich bin von Ihnen enttäuscht; denn Sie wissen, daß eine Rehabilitierungsentscheidung ohne Folgeansprüche letztlich ein Mehr an Unzufriedenheit schafft.
Herr Kollege Luther, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanitz?
Ja, wenn das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Das wird nicht angerechnet. — Bitte, Kollege Schwanitz.
Herr Kollege Dr. Luther, stimmen Sie mir zu, daß sich Ihre Aussage, was den Konsens betrifft, auf die Berichterstatterrunde des federführenden Ausschusses, des Rechtsausschusses, bezieht und nicht auf die gesamten Ausschußberatungen zu diesem Gesetz?
Sie bezieht sich auf die Berichterstatterrunde im Rechtsausschuß, die Mitglieder aus anderen Ausschüssen eingeladen hatte. Also ist — das muß ich annehmen — der Konsens derjenigen, die dabei waren, doch von größerer Tragweite gewesen.
Gestatten Sie auch noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ullmann?
Ja.
Bitte, Dr. Ullmann.
Herr Kollege Luther, sind Sie bereit, sich mit mir auf die Formulierung zu einigen, daß die Meinungsbildung in dem von Ihnen genannten Ausschuß mehrheitlich und nicht einstimmig war?
Herr Ullmann, in der Ausschußsitzung, in der wir letztendlich darüber beraten haben, waren Sie, glaube ich, nicht anwesend. Deswegen kann Ihre Stimme dabei nicht einbezogen werden.Meine Damen und Herren, ich komme zum Thema zurück. Den Betroffenen wäre es, glaube ich, kaum zu vermitteln, daß die Rehabilitierungsbehörde eine DDR-Maßnahme erneut der Sachprüfung unterzieht, diese als grob rechtsstaatswidrig einstuft und eine Herabwürdigung des Betroffenen im persönlichen Lebensbereich anerkennt, deshalb diese Maßnahme aufhebt, danach jedoch die Rehabilitierung quasi unvermittelt abbricht. Wir würden damit meines Erachtens einen Folgenbeseitigungsanspruch schaffen, der nicht leistbar ist, weil wir 40 Jahre DDR nicht rückabwickeln können.Ich sehe sehr wohl das aufgegriffene Problem und stimme im Inneren dafür. Aber ich weiß keine Lösung, die sich in einem solchen Gesetz realisieren läßt. Ich bin der Meinung, daß die Enquete-Kommission hier ein sehr wichtiges Aufgabenfeld zu bewältigen hat.Meine Damen und Herren, wir haben uns im Zusammenhang mit diesem Gesetz auch mit der Rückgabe der Grundstücke, die infolge des Mauerbaus enteignet worden sind, beschäftigt und uns gefragt: Ist das politisches Unrecht, das wir in diesem Gesetz mit aufgreifen müssen? Ich glaube, wir konnten das im Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz nicht behandeln, weil dies eben keinen Akt individueller politischer Verfolgung darstellt. Das politische Unrecht, das jeder sieht, liegt nicht in der Enteignung des Grundstückes begründet, sondern in dem, was die Mauer in der Weltöffentlichkeit für alle dargestellt hat.
Deshalb darf dieses Thema trotz alledem nicht so im Raum stehenbleiben, sondern es muß noch einmal darüber diskutiert werden, aber nicht im Rahmen dieses Gesetzes. Das würde zu einer Schieflage in diesem Gesetz führen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18811
Dr. Michael LutherZu bedenken ist, daß es noch viele ähnlich gelagerte Fälle gibt. Ich nenne hier z. B. die Wismut-Enteignungen und die Enteignung zum Zweck des Baus eines Stasigefängnisses. Auch das, was hier geschehen ist, ist moralisch sehr zu hinterfragen.
Ganz anders verhält es sich bei den Zwangsausgesiedelten; denn hier geht es wirklich um Verfolgung im Einzelfall. Auch wenn man sagt, daß vieles bekannt ist: Juristisch beweisbar muß es sein. Es hat eine Weile gedauert, bis man festgestellt hat und juristisch klar abtrennen konnte, daß es sich hier um Verfolgung im Einzelfall handelte.Es gibt Listen, auf denen bestätigt wurde, daß diese Personen wegen „politischer Unzuverlässigkeit" — dort wurden viele böse Begriffe verwendet — ausgesucht und enteignet wurden, um letztendlich die im DDR-Hinterland Lebenden zu disziplinieren, damit sie ruhig blieben; denn die Grenze schützte ja nicht gegen außen, sondern gegen innen.
Meine Damen und Herren, Hauptregelungsgegenstand dieses Gesetzes ist jedoch das Berufliche Rehabilitierungsgesetz. Ehemalige politische Häftlinge, Zwangsausgesiedelte, politisch Mißliebige, die mit Verwaltungsmaßnahmen belegt oder durch Verwaltungsentscheidungen zurückgesetzt wurden, wurden in der Folge meistens auch beruflich benachteiligt. Dies wirkt bei vielen heute noch nach, und das ist unzumutbar.Wie helfen wir? Erstens. Wir können Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Die Betroffenen sollen bevorzugt berufliche Fortbildung und Umschulungsmöglichkeiten erhalten. Sie sollen aber auch studieren können und brauchen dann das BAföG-Darlehen nicht zurückzuzahlen.Ich freue mich, daß es uns gelungen ist, auch die Schülerdiskriminierung mit in das Gesetz aufzunehmen. Wir haben dieses Thema lange diskutiert. Eines ist festzustellen: Die Weichenstellung im beruflichen Werdegang erfolgte im Kindesalter, nämlich vor dem Erhalt einer Delegierung zur EOS.Wo Eltern sich nicht staatskonform verhielten, wo Eltern von ihrer beruflichen Stellung her nicht staatskonform waren — ich erinnere hier an die Unterscheidung zwischen Intelligenz und Arbeiterklasse; da kommt mir eine Kuriosität ins Gedächtnis: Hochstudierte SED-Funktionäre waren in dem Zusammenhang nicht intelligent, sondern Parteiarbeiter —, wo Eltern Handwerker oder wo Familien Christen waren, wurde dem Kind beschieden, daß es nicht in der Lage ist, sich zu einer sozialistischen Persönlichkeit zu entwickeln, und daß ihm somit die Arbeiterklasse ein Studium nicht finanzieren kann.Das ist kein Märchen. Das wurde Menschen mitgeteilt. Es gibt genügend, in deren Zeugnissen diese Worte dokumentiert sind, woraus hervorgeht, wie ihr Lebensweg letztendlich sozialistisch geplant schien.Diesem Personenkreis können wir nur die Möglichkeit der nachträglichen Qualifizierung oder desnachträglichen Studiums geben. Einen hypothetischen Lebensverlauf können wir nicht nachzeichnen. Deshalb können wir sie nicht in den Rentenausgleich mit einbeziehen.
Zweitens. Wir regeln in diesem Gesetz Härtefälle. Auch denjenigen, die heute sozial schwach sind — es gibt viele Betroffene, deren Lebensmut durch die Verfolgung so stark eingeschränkt wurde, daß sie kaum selbst aus ihrer schwierigen Situation herauskommen können — oder aus Altersgründen nicht mehr neu beginnen können, helfen wir. Sie bekommen monatlich 150 DM.Es ist wenig, meine Damen und Herren, es ist wirklich sehr wenig, was wir diesen Menschen geben. Aber es ist mehr als nichts. Ich bin froh, daß wir wenigstens diesen kleinen Betrag haben.Gestatten Sie mir eine Anmerkung. Mich bedrückt schon ein wenig, daß wir über das Thema der 150 DM, über Entschädigung für verlorene Lebenschancen, über Entschädigung für strafrechtliche Verfolgung so wenig geredet haben, wenn ich bedenke, wie — im Verhältnis dazu — leidenschaftlich wir über vermögensrechtliche Fragen gestritten haben.
Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz wäre beinahe zu einem Mauergrundstücksrückgabegesetz verkommen. Die Lobby der Restitutionsantragsteller ist offensichtlich größer als die Lobby der Menschen, die den Sozialismus beseitigen halfen und dafür Leben oder Lebenschancen geopfert haben.
Ich weiß, daß alles geregelt werden muß, auch die schwierigen vermögensrechtlichen Fragen; auch hier geht es um SED-Unrecht. Aber ich glaube, daß alles richtig gewichtet sein sollte. Deshalb bin ich froh, daß wir das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz jetzt verabschieden können und uns mit den anderen Fragen später beschäftigen.
Drittens. Die größte finanzielle Leistung wird jedoch im Zusammenhang mit der Beseitigung von Benachteiligungen in der Rentenversicherung erbracht. Hier haben wir uns an das Prinzip „korrigieren" gehalten. Wenn jemand in der DDR durch eine politisch diskriminierende Maßnahme beruflich herabgestuft wurde, dann soll er heute eine Rente wie ein Nichtverfolgter bekommen. Trotzdem bleiben Ungerechtigkeiten. Erstens konnte er nicht an der beruflichen Weiterentwicklung, an einer Höherstufung teilhaben wie ein nicht politisch verfolgter Kollege. Hier müßten wir
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Dr. Michael Luthereinen hypothetischen Lebenslauf konstruieren, und das können wir nicht.Zum zweiten endet die Verfolgungszeit am 3. Oktober 1990. Ihm fehlen dann trotzdem Entgeltpunkte, wenn er noch nicht Rentner ist und nicht mehr in seinen alten Beruf zurückkehren kann.Meine Damen und Herren, es wird behauptet, daß die Finanzierung dieser Rentenleistung keine rentenkassentypische Aufgabe ist. Ich bin anderer Meinung.A. Wir nehmen mit diesem Gesetz eine Korrektur des Rentenanspruchs vor, der durch die DDR systembedingt zu niedrig entstanden ist.B. Genauso haben wir im Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz dann eine Korrektur nach unten vorgenommen, wenn jemand nach unserer Meinung heute einen zu hohen Rentenanspruch hätte, wenn wir seine Rente nach dem DDR-Gehalt berechneten und dieses Gehalt auf Grund seiner DDR-Staatsnähe politisch und systembedingt eine Privilegierung darstellte.C. Verfassungsrechtlich ist die Gruppennützigkeit gegeben. Denn wer z. B. als Lehrer zu DDR-Zeiten abgesetzt wurde und heute Lehrerrente bekommt, wäre unter normalen Umständen Lehrer geblieben. Außerdem gibt es heute einen Lehrer, der für ihn Beitrag bezahlt.
D. Es ist für mich einfach falsch zu sagen, daß bei der Einführung des Fremdrentengesetzes der Bundeszuschuß zur Rentenkasse als Ersatzfinanzierung eingeführt wurde.An dieser Stelle hätte ich gerne die Kollegin Frau Renesse angesprochen. Sie ist aber leider nicht da. Sie hat im Ausschuß eine Bemerkung gemacht, die mich sehr getroffen hat. Sie hat das Beispiel mit den Fremdrenten gebracht. Wir aus den neuen Bundesländern sind nicht Fremde in Deutschland, sondern wir sind mit unseren fünf neuen Bundesländern in der Bundesrepublik Deutschland heimisch geworden. Die politisch Verfolgten, die innerhalb des Systems der DDR ausgebootet wurden, sollen und wollen nur ganz normale Mitbürger sein und keine Sonderstellung im Rentensystem haben, möglicherweise noch als Fremde.Weiterhin haben wir im Rechtsausschuß diskutiert, ob jemand, der politisch verfolgt wurde, während des Verfolgungszeitraumes auch unter die Beschränkungen des AAÜG fallen soll. Meine Damen und Herren, ich glaube, das geht nicht. Wir haben versucht auszugleichen. Derjenige, der in seiner beruflichen Laufbahn aus politischen Gründen herabgesetzt wurde, soll genauso Rente bekommen wie einer, der in diesem System geblieben ist. Wenn er unter das AAÜG fallen soll, muß man das mit aller Konsequenz zu Ende denken.Meine Damen und Herren, ich muß jetzt leider meine Rede beenden. Gestatten Sie mir noch Worte des Dankes.Ich danke dem Bundesministerium der Justiz und den anderen Ministerien für ihre intensive Arbeit. Ich danke den Kollegen, die sich der Aufgabe gewidmet haben, hier tätig zu werden. Auch wir als Bundestagsabgeordnete sollten dies einmal tun. Es bedarf vieler Stunden auch außerhalb des Parlaments, so ein Gesetz zu erarbeiten.Ich danke aber auch dem sächsischen Sozialministerium. Es hat sehr intensive Vorschläge gemacht, die sich alle in dem Gesetz wiederfinden. Sie haben sich dort wirklich Gedanken gemacht.Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erhält das Wort unser Kollege Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag verabschiedet heute das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und füllt damit jene große Wiedergutmachungslücke aus, die seit nunmehr dreieinhalb Jahren immer noch offengeblieben war. Die Bundesregierung vertritt in verschiedenen Drucksachen dazu die Auffassung, daß damit die Rehabilitierungsgesetzgebung insgesamt abgeschlossen wird.Die SPD legt einen Entschließungsantrag vor, in dem einige wichtige Bereiche von DDR-Unrecht exemplarisch aufgezeigt werden, welche auch künftig eine Wiedergutmachung nicht erfahren werden.Wir haben uns in diesem Zusammenhang insbesondere auf jene offenen Fragen konzentriert, wo die Betroffenen trotz erlittener Schäden meist überhaupt keinen Anspruch auf Wiedergutmachungsakte oder Wiedergutmachungsleistungen haben. Viele dieser offenen Fragen hatte die SPD-Fraktion bereits beim Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz — oder auch jetzt beim Zweiten — mit Lösungsvorschlägen untersetzt. Die meisten davon wurden von der Mehrheit in diesem Hause abgelehnt.Wir stellen deshalb heute hier fest: Die Problematik der Wiedergutmachung von DDR-Unrecht ist nicht abgeschlossen. Immer noch ist durch die bisherige Gesetzgebung längst nicht allen Opfern Gerechtigkeit widerfahren. Immer noch stehen Maßnahmen der Wiedergutmachung aus.
Meine Damen und Herren, besonders schwerwiegend sind für die SPD — gerade deshalb stellen wir heute hier einen Änderungsantrag — jedoch die engen Voraussetzungen für die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung nach diesem Gesetz. Nach dem Willen der Bundesregierung und der Koalitionsabgeordneten knüpft die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung in der jetzigen Fassung an die Fortwirkung eines Verfolgungsschadens an. Danach können nur solche Betroffene Rehabilitierung erlangen, welche bis zum Zeitpunkt der Antragstellung unter den Folgen einer rechtsstaatswidrigen Verwaltungsent-
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Rolf Schwanitzscheidung noch unmittelbar schwer und unzumutbar zu leiden haben. Eine Vielzahl von Betroffenen wird so aus dem verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsverfahren ausgeschlossen werden. Die SPD sieht die Gefahr, daß damit auch schwerste Unrechtsmaßnahmen betroffen sind.Dieses Thema hat wiederholt auch bei den Beratungen im Bundesrat eine große Rolle gespielt. Der Bundesrat hat vorgeschlagen, neben die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung ein zweites Verfahren zu stellen, durch welches die Betroffenen die Aufhebung der Unrechtsmaßnahme oder die Feststellung ihrer Rechtsstaatswidrigkeit erlangen können, ohne — das betone ich ausdrücklich — daß daran materielle Folgen geknüpft sind, wie dies auch viele Opferverbände in der Anhörung gefordert haben.Alle neuen Bundesländer, meine Damen und Herren, haben sich hinter diese Forderung des Bundesrats gestellt, die nun von der SPD auch in den Ausschuß und in die heutigen Beratungen des Plenums eingebracht wird. Wir haben in den Ausschußberatungen viele und — ich will auch das hier sagen — groteske Argumente der Koalition und der Bundesregierung gehört, warum das alles nicht gehe. Auf drei will ich gleich eingehen; aber ich sehe, Herr Dr. Luther, Sie haben wohl eine Frage.
Ich nehme an, Herr Kollege Schwanitz, Sie lassen die Frage zu. — Bitte, Herr Kollege Dr. Luther.
Herr Kollege Schwanitz, wir haben uns ja im Ausschuß über die Frage unterhalten. Weil es uns auch im Ausschuß nicht gelungen ist, die Frage befriedigend zu beantworten, bitte ich Sie: Nennen Sie doch einmal ein Beispiel für die Fälle, die Sie eben angesprochen haben.
Herr Dr. Luther, das werde ich sehr gern tun. Ich will jetzt auf ein paar Argumente eingehen, die Sie bzw. Ihre Kollegen in den Ausschußberatungen gebracht haben. Dabei komme ich auf dieses Problem zurück. Vielleicht wird das als Antwort empfunden; ansonsten können Sie gern noch einmal nachfragen.Ich will zunächst auf ein paar Gegenargumente eingehen, und zwar ausschließlich auf die drei aus meiner Sicht entscheidenden und gewichtigsten Gegenargumente.Da wurde zunächst behauptet, hier stünde eine Lawine von Verwaltungsverfahren vor den neuen Ländern, die in ihrer jetzigen Verwaltungssituation damit überfordert wären. Der gesunde Menschenverstand würde das Gros der Antragstellungen dort vermuten, wo auch materielle Leistungen sind, nämlich im verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsverfahren selbst, und nicht in diesem Bereich, wo es ohne Leistungen eine Verwaltungsentscheidung mit Unrechtscharakter aufzuheben gilt.Aber davon abgesehen: Daß der Bund sich hier vormundschaftlich vor die neuen Länder stellt, als könnten diese nicht selbst entscheiden, nachdem sie offensichtlich intensiv beraten haben, ob eine solcheBelastung für die ostdeutschen Verwaltungen tragbar ist, ist an sich absurd genug.Meine Damen und Herren, ein zweites Gegenargument der Koalition lautete, durch dieses neue Verfahren würde ein neuer Tatbestand in das Gesetz eingefügt, der zu einem neuen zweistufigen Verfahren führen würde. Meine Damen und Herren, diese Befürchtung kann ich nur bejahen. Ja, dies ist in der Tat gewollt.Mit welcher Rechtfertigung soll dieser Teil des Gesetzes überhaupt noch den Namen Rehabilitierungsgesetz tragen, wenn es sich selber nur um die Wiedergutmachung von Gegenwartsschäden kümmert? Der Sinn einer Rehabilitierung besteht doch gerade darin, den Opfern eine individuelle Zusprechung zu gewähren, ihnen zu sagen: Ihr seid Opfer einer Verfolgungsmaßnahme gewesen. Euch ist Unrecht widerfahren.Wer das nicht möglich macht, wer den Opfern von Verwaltungsunrecht diese individuelle moralische Anerkennung verwehrt und alles nur an den meßbaren Gegenwartsschaden knüpft, der nimmt in Kauf, daß die Opfer von DDR-Unrecht, gerade jene, die nicht in Mark und Pfennig ihren Nachteil bis in die heutige Zeit nachweisen können, dieses Rehabilitierungsgesetz als Mogelpackung empfinden werden.
Völlig unannehmbar — hier antworte ich auf Ihre Frage, Herr Dr. Luther — war jedoch die dritte Argumentation. Angeblich sind weder der Bundesregierung noch der CDU/CSU und der F.D.P. Fälle bekannt, die ausschließlich in ein solches moralisches Anerkennungsverfahren hineinstreben könnten. Ist es wirklich so schwer, sich vorzustellen, daß beispielsweise für einen Schriftsteller mit Publikationsverbot aus politischen Gründen, das mit dem Untergang der DDR der Natur nach weggefallen ist, so etwas heute Gegenstand einer moralischen Anerkennung sein könnte?Ist nicht bekannt, daß man kinderlosen Ehepaaren in der DDR über viele Jahre allein deswegen das Adoptieren von Kindern untersagt hat, weil sie aus politischen Gründen als „unzuverlässig" gegolten haben? Wo soll dort heute noch ein Folgeschaden fortwirken? Die Wirkung ist spätestens am 3. Oktober 1990 nicht mehr existent gewesen.Was sollen Eltern unternehmen, die Leidtragende einer Zwangsadoption gewesen sind? Ist es nicht vorstellbar, daß Betroffene einer Zwangsadoption — ich spreche jetzt vor allen Dingen den Elternteil an — nicht von der Möglichkeit des BGB Gebrauch machen, diese Adoption aufzuheben, beispielsweise weil sich das Kind und die Eltern über die vielen Jahre hinweg entfremdet haben oder ein gefestigtes Verhältnis zwischen dem Kind und den Adoptiveltern entstanden ist? Wollen Sie solchen Eltern ernsthaft zumuten nachzuweisen, daß die Folgeschäden dieses Unrechtsakts heute noch schwer und unzumutbar fortwirken, oder ihnen ansonsten die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung verweigern? Das möchte ich gerne wissen, meine Damen und Herren.
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Rolf SchwanitzIch kann nur an Sie appellieren, eine solche engstirnige Regelung nicht zu verabschieden. Auch die Enquete-Kommission zur Geschichte der SED-Diktatur, die sich auf Betreiben der SPD mit diesem Problem beschäftigt hat, befürwortet unseren Antrag. Wir fordern Sie auf, wenigstens hier im Plenum einem Änderungsantrag der SPD zuzustimmen. Ich denke, das wäre auch im Sinne der Mitglieder aus Ihrer Fraktion in dieser Enquete-Kommission.
Meine Damen und Herren, im zweiten Teil meiner Rede will ich auf einen Grundmangel zu sprechen kommen, der in direktem Zusammenhang mit den beiden Unrechtsbereinigungsgesetzen steht. Das ist das Ungleichgewicht bei der Wiedergutmachung von Freiheitsschäden auf der einen und Vermögensschäden auf der anderen Seite. Dieses Ungleichgewicht, das dadurch geprägt ist, daß die Bundesregierung die Priorität immer bei der Wiedergutmachung von Eigentumsschäden und nicht bei der Wiedergutmachung von Freiheitsschäden setzt, hat eine lange Geschichte.Sicher war dieses Mißverhältnis bereits in der Grundsatzentscheidung „Rückgabe vor Entschädigung" im Einigungsvertrag angelegt. Diese Regelung, zu der wir immer kritisch gestanden haben, hat bereits mit dem 3. Oktober 1990 quasi einen Vollausgleich von Eigentumsschäden organisiert, während sich der westdeutsche Gesetzgeber bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht um die Verabschiedung eines Rehabilitierungsgesetzes gekümmert hat. Dies blieb 1990 der Volkskammer vorbehalten.Ja noch schlimmer: Während sich im September 1990 die Volkskammer der DDR intensiv bemühte, noch ein Rehabilitierungsgesetz in die Einigungsvertragsverhandlungen hineinzubringen, war die Enttäuschung von Koalitionskollegen im Bundestag darüber, daß es mit der deutschen Einheit nicht zu einer Rückabwicklung der Bodenreform kommen sollte, so groß, daß diese Kollegen aus diesem Grund dem Einigungsvertrag ihrerseits ihre Zustimmung verweigerten.
Diese Tradition des Vorrangs von Eigentumsschäden ist also sehr lang, Kolleginnen und Kollegen.Bei der Verabschiedung des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes hat sich die SPD dann nachdrücklich für eine Erhöhung der Kapitalentschädigung für die politischen Häftlinge eingesetzt, was die Koalitionsfraktionen aus Geldmangel ablehnten. Ohne den Bundesrat und ohne das von ihm erzwungene Vermittlungsverfahren wäre noch nicht einmal die teilweise Erhöhung der Kapitalentschädigung gelungen.
Daß die Opferverbände heute vor dem Verfassungsgericht gegen diese Entschädigung klagen, meine Damen und Herren, ist nur ein Beispiel dafür, wie tiefdie Verwundungen durch das einseitige Vorgehen bei den Opfern des DDR-Regimes sind.
Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Luther?
Bitte schön.
Herr Schwanitz, damit sich die Mär nicht verfestigt, möchte ich Sie zur Richtigstellung folgendes fragen: Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es damals der Wille der Volkskammer war, all ihr Wissen bezüglich der Rehabilitierungsgesetze zusammenzutragen und mit auf den Weg zu geben, wohlwissend, daß es in der gesetzlichen Ausgestaltung so unvollständig war, daß es für ein Inkrafttreten in Deutschland noch nicht geeignet war?
Herr Dr. Luther, nehmen Sie bitte von mir zur Kenntnis, der ich damals Obmann der SPD-Fraktion im Rechtsausschuß war — Hans-Joachim Hacker als damaliger Vorsitzender des Rechtsausschusses wird dies vielleicht genauso sehen —: Die Beratungen zum Rehabilitierungsgesetz im Rechtsausschuß der Volkskammer waren von großer Eile geprägt, weil wir dies in den Einigungsvertrag hinein haben wollten.Eine Randbemerkung möchte ich in Richtung der Bundesregierung machen, obwohl ich das heute nicht tun wollte. Ich hoffe, daß mir das angesichts der Zeit gestattet ist, denn ich habe noch eine Menge zu sagen. Im Bericht der Bundesregierung zur deutschen Einheit wird sehr beklagt, daß im damaligen DDR-Rehabilitierungsverfahren nur Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz vorgesehen waren. Das ist in der Tat richtig. Ich weiß noch, wie wir dagesessen und keine andere Chance gesehen haben, dort überhaupt Leistungen in größerem Umfang einzubinden als nach dem bundesdeutschen Häftlingshilfegesetz. Wir hatten null Chance. Wir haben das nur in der Hoffnung getan, daß es gelingt, dieses Gesetz noch in den Einigungsvertrag zu bringen. Insofern kann ich Ihre Darstellung nicht bestätigen.
Im Frühjahr 1993 legte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zum Entschädigungsgesetz vor, um endlich die überfällige Entschädigungsregelung im Eigentumsbereich nachzuholen. Der Gesetzentwurf war haushaltsneutral und versuchte, einen Interessenausgleich zwischen den Restitutionsberechtigten auf der einen Seite und den Entschädigungsberechtigten auf der anderen Seite herzustellen.Was dann einsetzte, spottete jeder Beschreibung. Es begann der Wettlauf der angeblich bisher zu kurz gekommenen Alteigentümer, noch in letzter Minute ein möglichst großes Stück aus dem Kuchen herauszuschneiden. Zahlreiche Abgeordnete aus der CDU/ CSU und der F.D.P. riskierten dafür sogar einen Krach
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Rolf Schwanitzmit der eigenen Bundesregierung — ein Mut, den wir beim Streiten um die höhere Kapitalentschädigung für die politischen Häftlinge schmerzhaft vermißt haben, meine Damen und Herren.
Während sich vor allem die westdeutschen Kollegen aus der Koalition für die Einführung einer Restitution, also einer Rückabwicklung im Bereich der Enteignungen von 1945 bis 1949, insbesondere der Bodenreform, stark machten, stritten die ostdeutschen Kollegen aus der CDU und F.D.P. dafür, daß die Alteigentümer mit Restitutionsanspruch, also jene, die ohnehin zum Verkehrswert einen quasi Vollausgleich erhalten, auch noch von der Pflicht zur Zahlung einer Vermögensabgabe freigestellt werden. Nur kurze Zeit, und die Bundesregierung wurde weich. Die Folge war, daß nun auch bei den Alteigentümern mit Entschädigungsansprüchen nachgebessert werden soll.Ich kann nur feststellen, daß die Ostkollegen aus CDU/CSU und F.D.P. die Lektion vom „Primat des Eigentums" sehr schnell gelernt haben.
Es ist grotesk, daß Sie Ihr Tun im Osten auch noch als Heldentat für die neuen Bundesländer verkauft haben, ganz so, als säßen die begünstigten Alteigentümer in Sachsen, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern.
Die Vorschläge für die Entschädigung der Alteigentümer umfassen nun fast 20 Milliarden DM. Welchen Wert die Restitutionsobjekte haben, die durch die Entscheidung „Rückgabe vor Entschädigung" im Jahre 1990 bereits auf die Wiedergutmachungsseite der Eigentumsschäden gekommen sind, will ich bei dieser Bilanz lieber ganz verschweigen.So kann es nicht weitergehen. Es entsteht eine neue Dimension der Langzeitschäden der offenen Vermögensfragen. Nicht nur, daß die Restitution Investitionen blockiert, unproduktive Verwaltungen in den ohnehin finanzschwachen neuen Bundesländern schafft und eine Welle der Unsicherheit und Angst bei den ostdeutschen Nutzern von Häusern und Grundstücken erzeugt, die meist in gutem Glauben ihr Herzblut für ihr Eigentum oder ihre Datsche gegeben haben. Nein, der Dammbruch beim Entschädigungsgesetz reißt auch neue Wunden auf. Es kommt zu einem neuen Mangel an Gerechtigkeit gegenüber den schwersten Unterdrückungsfällen, gegenüber den politischen Häftlingen, die nur unzureichende Leistungen erhalten haben.Meine Damen und Herren, können Sie es wirklich mit Ihrem Gewissen vereinbaren, für das Entschädigungsgesetz fast 20 Milliarden DM hinzulegen und die beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze noch nicht einmal mit 4 Milliarden DM auszurüsten? Wir fordern Sie auf: Beenden Sie die Bevorzugung der Eigentumsschäden. Andern Sie Ihre Vorschläge zum Entschädigungsgesetz. Setzen Sie die dabei freiwerdenden finanziellen Mittel des Bundes endlich zurnachträglichen Erhöhung der Kapitalentschädigung für ehemalige politische Häftlinge ein.
Setzen Sie ein Zeichen für Augenmaß und Gerechtigkeit;
denn Freiheit muß nach Jahrzehnten der Bevormundung und Unterdrückung schwerer wiegen als Eigentum.Danke schön.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unsere Frau Kollegin Dr. Eva Pohl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit großem Nachdruck begrüße ich das hier vorliegende Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Wir setzen mit diesem Gesetz konsequent den Weg fort, den wir mit dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz, dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, im Jahre 1992 beschritten haben.Ziel des heute abschließend zu beratenden Zweiten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht ist die Schaffung von Rehabilitationsmöglichkeiten für die Opfer des Verwaltungsunrechts und der politischen Verfolgung im beruflichen Bereich.Als Sozialpolitikerin der F.D.P. ist mein Augenmerk naturgemäß auf den zweiten Bereich, das berufliche Rehabilitationsgesetz, gerichtet. Dieses berufliche Rehabilitationsgesetz soll die durch politische Einwirkung des SED-Staates erfolgte Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern im Beruf durch drei differenzierte Maßnahmenbündel ausgleichen helfen.Kern des Vorhabens ist dabei ein pauschalisierter Ausgleich verfolgungsbedingter Nachteile in der Rentenversicherung. Für Zeiten in denen der Verfolgte eine die Versicherungs- und Beitragspflicht begründende Beschäftigung wegen Verfolgungsmaßnahmen nicht ausgeübt hat, gelten Pflichtbeiträge für eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Beitrittsgebiet als bezahlt. Das ist eine gute und richtige Maßnahme.Daneben soll es den Betroffenen ermöglicht werden, durch bevorzugte Förderung — z. B. durch Unterhaltsgeld — Fortbildungen, Umschulungen und Ausbildungen nachzuholen. Allein für diese Förderungen werden etwa 135 Millionen DM benötigt. Dem Bildungsausschuß ist es dank einer interfraktionellen Initiative gelungen, die Bildungsdiskriminierung im Art. 2a — „Verfolgte Schüler" — in das Gesetzeswerk aufzunehmen.Neben Rentenanrechnungen und Förderung bei der Weiterbildung sind schließlich Ausgleichsleistungen bei verfolgungsbedingter Bedürftigkeit vorgesehen.
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Dr. Eva PohlMeine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist ein guter Kompromiß zwischen dem nach dem Sozialstaatsprinzip Gebotenen und dem nach der Haushaltslage Möglichen, aber letztendlich immer auch nur ein Kompromiß.
Natürlich hätte ich mir höhere Ausgleichsleistungen als 150 DM im Monat bei Bedürftigkeit — wie im Gesetz vorgesehen — gewünscht. Leider war das aber im Hinblick auf unsere derzeit schwierige Finanzsituation in Bund und Ländern nicht möglich.Verhehlen möchte ich jedoch nicht, daß wir von der F.D.P. letztendlich nur mit großen Bauchschmerzen den unserer Meinung nach unlogischen Weg mitgegangen sind, daß die Kosten, die durch den Nachteilsausgleich in der gesetzlichen Rentenversicherung bei den Verfolgten entstanden, von der Versichertengemeinschaft zu tragen sind. Hier hat sich Herr Waigel zum Wohle seines Hauses geschickt aus der Verantwortung gemogelt.
Auf eine grundsätzliche Problematik im Gesamtkontext „Wiedergutmachung von SED-Unrecht" möchte ich zum Schluß noch zu sprechen kommen. Wir Abgeordneten aus der ehemaligen DDR wissen aus eigener Erfahrung und auch durch die inzwischen weit gediehene Geschichtsaufarbeitung, daß sich in einigen Fällen Opfer als Täter und Täter als Opfer in einer Person wiederfanden. Wir müssen alles daransetzen, auch diese schwierige Problematik gerecht und rechtsstaatlich zu lösen. Pauschale Urteile und Maßnahmen helfen nicht weiter.
Meine Damen und Herren, dieses Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ist ein elementarer Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Nicht zuletzt auch aus psychologischen Gründen hat dieses Gesetz eine große Bedeutung. Die Betroffenen sollen wissen, daß sie von unserem Rechtsstaat nicht allein gelassen werden. Die Wiedergutmachung und Bereinigung von SED-Unrecht, soweit das generell und im Einzelfall überhaupt möglich ist, ist eine Verpflichtung für uns alle.Es ist gut, daß dieses Gesetz endlich vorliegt, und es ist wichtig, daß es möglichst bald in Kraft tritt.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Rudolf Krause .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Bevölkerungsgruppen werden von diesem Gesetz sehr enttäuscht sein. Die eine ist die Gruppe der Zwangsausgesiedelten und die andere die der landwirtschaftlichen Grundstücksbesitzer, die durch die Kreispachtverträge geschädigt waren.
Im Wahlkampf zwischen der Landtagswahl und der Bundestagswahl waren bei mir in der Altmark 7 200 Leute in den Wahlkampfversammlungen in geschlossenen Räumen. Der Fantroß, der immer mitzog, bestand im wesentlichen aus den landwirtschaftlichen Grundstücksbesitzern und auch aus Zwangsausgesiedelten. Die Hoffnungen, die ich damals mit erweckt habe, und die Hoffnungen, die auch der wegen seiner Redlichkeit wohl von allen geachtete Staatssekretär Gottfried Haschke erweckt hat, haben sich hinsichtlich der Grundstücksbesitzer mit geschädigten Gebäuden nicht erfüllt.
Diese Leute in der Altmark haben viermal CDU gewählt. Wenn es Stammwähler sein sollten, dann hoffe ich, daß sie bei mir bleiben. Aber es wäre besser gewesen, man hätte die Interessen dieser Menschen berücksichtigt.
Bevor ich zu diesen zwei Punkten noch etwas sage, eine Bemerkung zum Verlauf der Debatte: In diesem Hause wie auch in der gesamten westdeutschen Gesellschaft fehlt so etwas wie Ritterlichkeit. Professor Heuer — ich kann das sagen, weil er nicht da ist — ist in der DDR bis über die Grenze des für seine Familie und für sich persönlich Vertretbaren gegangen und zweimal hinausgeflogen. Wenn er die Wahrheit sagt, sollte man so viel Ritterlichkeit haben, das auch anzuerkennen.
Wenn es Systemnähe gab, wofür heute jeder ehemalige Medizinische Direktor, jeder Chefarzt beim Rentenrecht bestraft wird, dann waren es wohl in besonderer Weise die DDR-Juristen, von denen Systemnähe eingefordert wurde. Obwohl ich damals keiner sogenannten Blockpartei angehört habe, spreche ich doch den DDR-Juristen Hacker und Schwanitz das moralische Recht ab, sich hier pauschal gegen die anständigen, ehrlichen und sauberen CDU-, NDPD-, LDPD- und Bauernpartei-Mitglieder zu erheben. Das ist Pharisäertum.
Herr Kollege Krause, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Krause, Sie haben eben Schlichtweg von „DDR-Juristen" gesprochen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich in der DDR Wirtschaftsjurist war und mit Wirtschaftsverträgen zu tun hatte, und sind Sie bereit, die eben gegen mich erhobene Verleumdung zurückzunehmen?
Ich habe sehr wohl gelesen, daß Herr Schwanitz und Sie nicht in der Staatsanwaltschaft oder beim Gericht waren. Aber allein daß man studieren durfte, war ein großer Vertrauensbeweis.
Dr. Rudolf Karl Krause
Sie, Herr Kollege Hacker, sind ja, soviel ich weiß, von Ibrahim Böhme bereits im Februar 1990 eingestellt worden. Also auch sein Vertrauen haben Sie gehabt.
Ich bin ein Feind jeder Pauschalisierung, aber ich kenne DDR-Juristen, die versucht haben, ihre Meinung ehrlich und offen durchzusetzen, die jahrelang genauso Mehlsäcke tragen mußten, wie meine Frau, meine Kinder und ich zwei Jahre Straßengräben gemäht haben; weil ich als Fachtierarzt in der DDR nicht mehr in meinem Beruf und auch nicht in anderen Berufen arbeiten durfte. Es gibt da wohl noch gewisse Unterschiede, ebenso wie bei denen, die Sie jetzt als Mitglieder von Blockparteien pauschal beschimpft haben.
Darf ich noch eine Nachfrage stellen?
Bitte.
Sie haben nicht auf meine Frage geantwortet, ob Sie bereit sind, sich für Ihre Verleumdung zu entschuldigen.
Können Sie mir bitte die Verleumdung definieren?
Sie haben mich und Kollegen Schwanitz eben verleumdet.
Können Sie mir bitte wörtlich sagen, worin die Verleumdung bestehen soll?
Also, Herr Krause, wenn Sie das nicht kapieren, dann verzichte ich auf Ihre Antwort.
Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen, auch nicht auf andere, wenn sie Mitglieder ehemaliger Blockparteien waren.
Jetzt zu den Zwangsaussiedlungen: Hier erfolgt jetzt eine moralische Rehabilitierung. Ich hatte mit dem damaligen Justizminister Dr. Kinkel einige Briefwechsel in dieser Frage. Ich habe mich sehr gefreut, daß er damals gerade in Magdeburg den Zwangsausgesiedelten die Berücksichtigung ihrer berechtigten Anliegen zugesagt hat. Schlimm ist aber, daß ihnen jetzt die Austauschgrundstücke zum Zeitwert angerechnet werden sollen und sie ohne Entschädigung eine Ruine zurückbekommen. Herr Dr. Lischewski von der CDU-Landesgruppe Sachsen-Anhalt hat ja errechnet, daß da einige Hunderttausende Schäden machen und insofern gar nicht den Antrag stellen werden.
Derjenige, der dieses Häuschen 30 oder 40 Jahre hat, ist ja oft nicht der einzige Antragsteller. Es sind eben manche in den Westen gegangen, die Miterben sind und jetzt den Antrag zu Lasten dessen stellen, der in der DDR geblieben ist. Hier wird viel neues Unrecht geschehen, das vorher nicht so drückend war.
Zum letzten, zu den Kreispachtverträgen: Im Gesetz steht eben nicht, daß es einerseits einen Pachtvertrag zwischen dem Rat des Kreises und dem Besitzer, andererseits aber auch einen Nutzungsvertrag zwischen dem Kreis und der LPG gab. Nach diesem Nutzungsvertrag war die LPG verpflichtet, das Gebäude zu erhalten. Von sich aus haben viele LPG-Nachfolgebetriebe mit ihren Handwerkern alle Schäden beseitigt, egal ob ein Nutzungsvertrag oder noch die Mitgliedschaft bestand.
Jetzt wird aber differenziert. Derjenige, dessen Grundstück durch Verschulden der LPG heruntergewirtschaftet wurde, geht dann leer aus, wenn ein Kreispachtvertrag bestand. Hier besteht eine Ungleichbehandlung des faktisch Gleichen. Diese Ungleichbehandlung wird als Unrecht empfunden und kann nicht wegdiskutiert werden.
Der Staatssekretär Gottfried Haschke hat, genau so wie ich und auch andere, immer die Illusion erweckt — in bestem Wissen und Gewissen, in bester Absicht —, daß hier eine Lösung kommen soll. Aber es ist eben keine Lösung gekommen. Es gibt einander genau widerstrebende Gerichtsurteile: In dem einen Falle muß die LPG bezahlen, in dem anderen Falle ist der Kreis verpflichtet, die Schäden zu beheben, und im dritten Falle ist niemand verantwortlich, obwohl die LPG es genutzt hat. Jetzt kommt eine einheitliche Regelung, die den, zu dessen Gunsten das Gericht entschieden hat, noch nachträglich ins Unrecht setzt.
Lassen Sie mich bitte zusammenfassen. Diese beiden Bevölkerungsgruppen sind schwer enttäuscht. Es hätte anders geregelt werden können. Das Rechtsempfinden besagt jedenfalls, daß faktisch gleiches auch gleich behandelt werden muß, unabhängig davon, wessen Stempel in der DDR auf einem Papier stand oder nicht. Dieses nachträgliche „Verrechtsstaatlichen des kommunistischen Unrechts" wird hier nicht berücksichtigt.
Viele, viele Wähler werden sehr enttäuscht sein. Ich bedauere, daß die Versprechungen und die Hoffnungen, die wir bei diesen Wählerschichten erweckt haben, mit diesem Gesetz nicht erfüllt worden sind.
Das Wort nach § 31 der Geschäftsordnung hat der Kollege Claus Jäger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Gesetz, das uns heute vorliegt, habe ich große Schwierigkeiten. Vor allem habe ich erhebliche Bedenken im Hinblick auf die Behandlung der Gruppe der Zwangsausgesiedelten in der früheren DDR, die in § 1 Abs. 3 des Gesetzes zwar erwähnt werden und denen in dieser Bestimmung eine pauschale Anerkennung ihres Schicksals als eine schwere rechtsstaatswidrige Behandlung bescheinigt wird, die aber gleichwohl im Gesetz im übrigen nicht so behandelt werden, wie das angesichts der besonderen Schwere ihres Schicksals erforderlich gewesen wäre.Insbesondere bedauere ich sehr, daß es nicht gelungen ist, diesem abgeschlossenen Personenkreis — dessen Heimatorte räumlich sehr begrenzt sind, wodurch auch die verlorengegangenen Grundstücke
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18818 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Claus Jägerräumlich und örtlich sehr begrenzt sind — mit diesem Gesetz eine Sonderregelung zu geben, die ihnen den umfangreichen bürokratischen Aufwand zur Erlangung der Bescheinigungen und zur Durchsetzung ihrer Ansprüche auf vermögensrechtlichem Gebiet und bei beruflicher Benachteiligung erspart hätte.Dies alles macht es mir außerordentlich schwer, diesem Gesetz zuzustimmen. Vereinfachende und diesem Personenkreis angemessene Bestimmungen wären hier notwendig gewesen. Dennoch habe ich mich dazu durchgerungen, diesem Gesetz meine Zustimmung zu geben, weil ich mich mit einem Nein nicht gegen all die wenden will, die mit diesem Gesetz letztlich dennoch eine Verbesserung ihrer persönlichen Situation erfahren.Ich möchte diese Erklärung aber mit der Hoffnung verbinden, daß es gelingen möge, beim Entschädigungsgesetz, dessen Beratung noch ansteht, dem Personenkreis der Zwangsausgesiedelten wenigstens in diesem Bereich mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen, als das mit den Bestimmungen des vorliegenden Gesetzes geschehen konnte.Ich werde dem Gesetz also zustimmen. Aber ich möchte an die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags appellieren, bei der Beratung des Entschädigungsgesetzes alles zu tun, um den Zwangsausgesiedelten wirkungsvoll zu helfen.
Ich schließe die Aussprache.Bevor wir zur Abstimmung kommen, muß ich folgendes sagen. Hier ist die Drucksache 12/7050 auf rotem Papier verteilt worden. Da ist etwas mit der Maschine nicht in Ordnung gewesen. Es ist ein ergänzendes Exemplar verteilt worden; das gilt.Wir stimmen ab über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes auf den Drucksachen 12/4994 und 12/7048 Nr. 1.Dazu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/7049? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/7050 — das ist der, von dem ich eben gesprochen habe —? Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen gedenken, sich zu erheben. — Wer lehnt den Gesetzentwurf ab? — Wer enthält sich der Stimme? — DerGesetzentwurf ist bei zwei Gegenstimmen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7051. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu den Anträgen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Rehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten des Stalinismus und des DDR-Regimes auf den Drucksachen 12/1713, 12/5219 und 12/7048 Nr. 2: Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Vor Aufruf des nächsten Tagesordnungspunktes habe ich eine etwas komplizierte Pflicht zu erfüllen. Ausweislich des Protokolls hat eine Kollegin, die aber nicht im Saal ist, einen Zwischenruf gemacht, der, glaube ich, in bedeutender Weise das Regularium des Deutschen Bundestages sprengt. Gleichwohl wäre es mir natürlich viel lieber, sie wäre hier und hätte Gelegenheit, das in Ordnung zu bringen. Deshalb verzichte ich zunächst darauf, auf diesen Zwischenruf einzugehen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 19a bis c auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.Unterstützung der Reformprozesse in den Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas sowie in den neuen unabhängigen Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion— Drucksachen 12/5046, 12/6162 —b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Gernot Erler, Dr. Dietrich Sperling, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUnterstützung von privaten Initiativen humanitärer Hilfe für die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten— Drucksachen 12/2122, 12/5162 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Volkmar Köhler Gert Weisskirchen (Wiesloch)Dr. Cornelia von Teichmanc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Wilfried Penner, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDie Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den deutschen Minderheiten in Osteuropa und östlich des Urals— Drucksachen 12/1188, 12/6743 —Berichterstattung:Abgeordnete Hartmut Koschyk Heinz-Dieter HackelFreimut Duve
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18819
Vizepräsident Hans KleinNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich offenkundig kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus Francke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war das sichtbarste Zeichen der Teilung Europas verschwunden.
Die Menschen in Ost und West erfaßte eine grenzenlose Freude und auch Zuversicht. Im Osten folgte eine hohe Erwartungshaltung, die sich vor allem auf die rasche Erlangung eines höheren Lebensstandards richtete. Im Westen kam die Verteilung der Friedensdividende auf die Tagesordnung.
Heute müssen wir einräumen, daß wir uns den Übergang in die Epoche nach dem Kalten Krieg zu leicht vorgestellt haben. Am schwersten wiegt, daß erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg mitten in Europa ethnische und territoriale Konflikte wieder mit Krieg ausgetragen werden.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage spiegelt diese veränderten Erwartungshaltungen wider. Sie verdeutlicht die wirkliche Dimension der Herausforderung, mit der wir es hier zu tun haben. Wir im Westen — und dabei an führender Stelle das vereinigte Deutschland — tragen eine enorme Mitverantwortung für das Gelingen einer politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbauleistung, die in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Diese Aufbauleistung ist in mehreren Ländern gleichzeitig zu bewältigen, wobei zum Teil gravierende Unterschiede in den Ausgangslagen zu gewärtigen sind. Sie ist auch in Rußland zu leisten, in einem Land mit einer politischen und gesellschaftlichen Kultur, die sich von der unsrigen grundlegend unterscheidet.
Der estnische Staatspräsident Meri hat in einer nachdenklich machenden Rede vor wenigen Tagen in Hamburg dazu folgendes gesagt:
Wir alle, auch das estnische Volk und die anderen Völker Mittel- und Osteuropas, wünschen uns ebenso wie der Westen ein wirtschaftlich und sozial stabiles Rußland. Wenn wir aber die Ereignisse der letzten Jahre betrachten, dann müßte uns eigentlich das bange Gefühl überkommen, daß wir uns von diesem Ziel immer weiter entfernt haben.
Die Bundesregierung hat zur Situation in der Ukraine kürzlich erklärt:
Zweieinhalb Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung stellt sich die Lage der Ukraine so kritisch dar, daß die Frage nach dem Fortbestand der ukrainischen Staatlichkeit nicht mehr bloß rhetorischer Natur ist.
Bei der Lösung dieser Jahrhundertaufgabe erwarten die Reformländer zu Recht unsere Hilfe, zumal wir sie im wohlverstandenen Eigeninteresse leisten. Die
Antwort der Bundesregierung dokumentiert eindrucksvoll, was die Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der Umgestaltungsprozesse an Leistungen für die Reformländer erbracht hat. Die Ausgaben für die Unterstützung der Reformprozesse in den mittel- und osteuropäischen Staaten haben seit 1989 ein Volumen von 41 Milliarden DM erreicht. Die Hilfen für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion betrugen im gleichen Zeitraum 87,5 Milliarden DM.
Die Bundesregierung kann sich bei der Fortsetzung dieser partnerschaftlichen Politik gegenüber unseren östlichen Nachbarn, zu der es keine sinnvolle Alternative gibt, der vollen Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion gewiß sein.
Herr Bundesminister, Sie bekommen gerade mitgeteilt, daß Sie die volle Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion haben, kriegen das aber nicht mit, weil Sie sich mit einem Kollegen unterhalten, was allenfalls die Unterstützung eines Kollegen sein kann.
Diese finanziellen Leistungen sind einerseits eine Hilfe zur Selbsthilfe, andererseits aber auch eine Investition in unsere eigene Zukunft. Denn nur wenn es gelingt, in diesen Zeiten des Umbruchs ein Mindestmaß an innerer Stabilität in den Reformländern zu verwirklichen, werden diese in der Lage sein, nach außen hin Stabilität zu fördern. Davon würden wir Deutsche als Land in der Mitte Europas am meisten profitieren.Bei meinen Reisen in die Reformländer hat mich am meisten beeindruckt, wie groß das Bedürfnis nach westlichem Know-how im Wirtschafts- und Verwaltungssektor, aber auch im Bereich der Aus- und Weiterbildung ist. Einen großen Schwerpunkt der künftigen Partnerschaft setzt die Bundesregierung in Zukunft daher zu Recht bei der Beratungshilfe. Ich bin den Kollegen im Haushaltsausschuß dankbar dafür, daß sie am Mittwoch dieser Woche der Aufhebung der qualifizierten Sperre für die Mittel zur Beratungshilfe zugestimmt haben.Indem wir den neuen Eliten in den Reformländern helfen, Beispiele funktionierender Einheiten in Betrieben, Verwaltungen und Bildungseinrichtungen zu schaffen, versetzen wir diese in die Lage, in der Bevölkerung eine wachsende Akzeptanz für die neu entstehende Ordnung zu wecken. Diese können wir am besten dadurch stärken, daß wir durch regionale Schwerpunktsetzung in Abstimmung mit den Verantwortlichen vor Ort Projekte entwickeln, an deren Umsetzung die Bevölkerung erkennt, daß die Maßnahmen ihrer ganz persönlichen Lebenssituation zugute kommen.Aber, meine Damen und Herren, das ganz überwölbende Thema ist die Sicherheitsfrage. Das NATO-Bündnis hat darauf mit der Initiative Partnerschaft für den Frieden geantwortet, der sich inzwischen zahlreiche Reformländer angeschlossen haben. Dieses Partnerschaftskonzept enthält wichtige Orientierungspunkte für eine realistische europäische Sicherheitspolitik:
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18820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Klaus Francke
Erstens. Die Allianz ist und bleibt ein offenes Bündnis. Es geht nicht darum, die alte NATO mechanisch nach Osten zu erweitern. Dies wäre die Fortsetzung des Blockdenkens mit alten Mitteln. Die NATO befindet sich vielmehr seit den Gipfeltreffen in London und Rom in einem tiefgreifenden Veränderungsprozeß, der bereits zu einer beträchtlichen Erweiterung ihres sicherheitspolitischen Handlungsrahmens geführt hat.Zweitens. Die Allianz bleibt offen für andere europäische Staaten, die in der Lage sind, die Grundsätze des NATO-Vertrages zu fördern. Diese Grundsätze umfassen auch die Achtung der territorialen Grenzen, die Verpflichtung zur friedlichen Konfliktregelung und den Verzicht auf jede Gewaltanwendung, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.In einer Region, in der territoriale und ethnische Grenzen so wenig übereinstimmen wie in Mittel- und Osteuropa, müssen Minderheiten eine Brückenfunktion übernehmen. Dies setzt in jedem Land die Einhaltung und vollständige Ausübung der Minderheitenrechte voraus.Drittens. Nur eine starke und glaubwürdige NATO ist für beitrittswillige Reformstaaten tatsächlich attraktiv, und nur gefestigte Demokratien mit leistungsfähigen Volkswirtschaften sind wirklich in der Lage, die genannten Grundsätze zu fördern. Beide Seiten müssen sich folglich in einem pragmatisch-wechselseitigen Prozeß auf die Integration zubewegen.In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, daß die Europäische Union das zusätzliche Marktöffnungspaket, das auf dem Kopenhagener Gipfel beschlossen wurde, zügig in die Tat umsetzt;
denn noch immer gibt es bei einer Vielzahl von Erzeugnissen Handelsschranken, die dazu führen, daß die Europäische Union im Handel mit den Reformstaaten einen Überschuß erzielt. Dies hat in den Reformstaaten nicht nur ökonomisch, sondern auch psychologisch nachteilige Folgen. Die Öffnung der Europäischen Union für beitrittswillige und -fähige Mitglieder ist und bleibt ein politisches Ziel ersten Ranges.Viertens. Eine mögliche Erweiterung der NATO und die Stabilisierung der Reformpolitik in Mittel-und Osteuropa sind untrennbar miteinander verbunden. Rußland kommt auf Grund seiner Größe und Stellung für eine NATO-Mitgliedschaft aus meiner Sicht nicht in Frage. Dennoch kann und darf Rußland bei der Sicherung des Friedens und der Stabilität in Europa nicht ausgegrenzt werden. Deshalb richtet sich die Einladung zur Partnerschaft für den Frieden auch an Rußland. Rußland hat auf Grund seiner jahrhundertealten autoritären Herrschaftsstrukturen einen sehr viel weiteren Weg zu Demokratie und Martkwirtschaft zurückzulegen als die anderen Reformstaaten. Deshalb sollten wir die bisher erreichten Veränderungen nicht geringschätzen.Dennoch stellt sich uns die russische Frage: Wird dieses riesige Land erstmals in seiner Geschichte demokratisch sein? Wird es die Souveränität seiner Nachbarn achten und mit seiner Stellung als konventioneller und nuklearer Großmacht verantwortungsvoll umgehen? Die Ereignisse der letzten Wochen haben die Fragezeichen noch vergrößert. Sie bewegen die Regierungen und die Menschen insbesondere der Länder, die heute wieder als Zwischeneuropa bezeichnet werden. Für sie ist das Konzept „Partnerschaft für den Frieden" nur ein Anfang. Auch aus meiner Sicht darf dieses Konzept nicht zu einem Ersatz für die volle Mitgliedschaft in der NATO bzw. der WEU werden.Aber es ist auch zu fragen: Ist die Allianz angesichts immer knapper werdender Ressourcen für Verteidigungszwecke, die den eigenen Sicherheitsanforderungen noch gerade genügen, überhaupt in der Lage, zusätzliche Verantwortung und damit auch Lasten zu übernehmen? Gäbe es für eine Sicherheitsgarantie oder wenigstens für Sicherheitszusagen innerhalb der westlichen Staaten eigentlich einen ausreichenden innenpolitischen Konsens?Diesen Zweifeln müssen wir begegnen, indem wir das Partnerschaftskonzept zügig umsetzen. Je nach der Leistungsfähigkeit der Partnerstaaten wird es von Land zu Land Unterschiede geben. Die Bundesregierung hat mir dazu auf eine parlamentarische Anfrage mitgeteilt: Rumänien, Bulgarien und Albanien haben derzeit Probleme, einen ausreichenden Übungs- und Ausbildungsbetrieb ihrer Streitkräfte durchzuführen. Die baltischen Staaten können nach deren eigenen Aussagen in der nahen Zukunft nicht an NATO-Übungen teilnehmen.Ich habe allerdings auch Zweifel, daß die NATO ihrerseits in der Lage sein wird, das Partnerschaftsprogramm aus den bestehenden NATO-Haushalten — Militär-, Infrastruktur- und Zivilhaushalt — zu finanzieren, ohne diese Haushalte aufzustocken. Solange aber eine volle Bündnismitgliedschaft noch nicht in Frage kommt, hat die bestmögliche Verwirklichung des Partnerschaftsprogramms zentrale Bedeutung für die Länder, die den Schutz des westlichen Bündnisses suchen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, den gesamten Nachlaß des Sowjetkommunismus zu ordnen wird schwerer sein, als dessen Eindämmung war. So kommentierte der Leitartikler der „Süddeutschen Zeitung" im Januar den Brüsseler Gipfel. Vor allem aber haben wir eine historische Chance erhalten wie kaum eine Generation vor uns. Daher möchte ich am Schluß meiner Bemerkungen an die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes appellieren, sich individuell und in Organisationen noch stärker als bisher an der demokratischen Aufbauhilfe zu beteiligen.Beispielhaft hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang eine Studenteninitiative an der Universität Hamburg. Unter dem Namen „Copernicus" organisieren Studenten und Studentinnen auf privater Basis Stipendienprogramme für Kommilitonen aus mittel- und osteuropäischen Ländern, um dort den gesellschaftlichen Neubeginn aktiv zu unterstützen. Nach meiner Überzeugung handeln sie damit zukunftsweisend und solidarisch in der Erkenntnis,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18821
Klaus Francke
daß Osteuropa mehr braucht als Geld und Pakete. Aber auch an unsere Partner und Freunde im Westen richte ich die Aufforderung, ihr Engagement zu erhöhen, denn ohne eine bessere internationale Arbeitsteilung sind die langfristigen Aufgaben, um die es hier geht, nicht zu lösen. Wir Deutschen können jedenfalls in diesem Zusammenhang auf unsere bisherigen Leistungen stolz sein.Vielen Dank.
Herr Kollege Dr. Dietrich Sperling, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich mich zunächst an die anwesende Mehrheit wende, die oben auf der Besuchertribüne sitzt. Wir sind hier im Plenum so wenige, weil das, was wir tun, eigentlich nur noch die rituelle Beendigung eines Arbeitsvorganges ist, von dem wir so tun, als sei hier der wichtigste Arbeitsplatz. Aber die wichtigeren Arbeitsplätze sind völlig woanders. Wir erzeugen dauernd den Irrtum, dies sei der wichtigste. Anschließend leiden wir darunter, daß wir kritisiert werden, daß wir so wenige sind, wenn wir das rituelle Ende eines parlamentarischen Arbeitsvorgangs herbeiführen.
Auch heute würden wir diesen parlamentarischen Arbeitsvorgang sprachlos beenden — es gab fast einen Versuch, das herbeizuführen —, ginge es nicht um eine Größenordnung von etwa 100 Milliarden DM an Hilfen, die gewährt werden. Dies kann man ja nicht einfach ohne sprachliche Begleitung stehenlassen.Das wichtigste Papier, das diesen parlamentarischen Vorgang begleitet, ist nach meiner Bewertung kein parlamentarisches, sondern steht auf Seite 12 der heutigen „Frankfurter Rundschau" — bewußte Schleichwerbung —: ein Artikel von Karl Schlögel über unser Verhältnis zu Rußland, zu den Veränderungen dort und zu dem, was wir an Wissen über diese Veränderungen haben.Der Veränderungsprozeß im Osten Europas begann etwa 1985. Dann ist ständig etwas passiert, was die Teilnehmenden überrascht hat. Man könnte das, was in den vergangenen neun Jahren seit 1985 passiert ist, am besten mit einem Wilhelm-Busch-Zitat beschreiben. Dieses Wilhelm-Busch-Zitat heißt: Denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Das ist mit dieser grammatischen Unlogik von Wilhelm Busch bewußt verwendet, daß man a) aufzählt und b) vergleicht und das durcheinanderbringt. Es ist gemeint als eine Aussageform, die eigentlich lauten könnte: Denn es kommt anders, als man überhaupt denken kann. Die Vorgänge wären ja eigentlich nur mit anderen Begrifflichkeiten, anderen Kategorien erfaßbar gewesen.Das, was sich in den vergangenen zehn Jahren abgespielt hat, war ein von Absichten getragenes Miteinander, von Absichten getragenes Gegeneinander, beides relativ klein in der Bedeutung, und ein von vielen entgegengesetzten Absichten getragenes Nebeneinander, absichtlich und unabsichtlich, überhaupt nicht koordinierbar. Dabei kam als Ergebnis ein Veränderungsprozeß in Osteuropa heraus, der jeden überrascht hat. Politiker haben bei manchen Ereignissen getan, als seien diese absichtsvoll herbeigeführt. Für bestimmte Teile dieser Ereignisse stimmt das auch, wie für die deutsche Einheit, aber es ist bei diesem ganzen Ablauf nur ein kleiner Teil absichtsvoll herbeigeführt worden — unter Nutzung einer günstigen Sekunde. Nur dieser kleine Teil entsprach Absichten. Wir hätten darum allen Grund, darüber nachzudenken, warum soviel geschah, was eigentlich jeden Teilnehmenden überraschte, ob das Unfähig-sein, zu begreifen, was passierte, nicht eigentlich heute noch anhält, wenn wir Hilfeversuche gegenüber dem Osten machen, und ob wir uns nicht dauernd gegenseitig selber täuschen.Für diesen Fall will ich einen kleinen Beleg anführen, der andeuten soll, worum es mir geht. Wenn ein deutscher Minister einem russischen Minister ein Stahlwerk im Osten Deutschlands mit den Worten zu verkaufen versucht, es handele sich um Privatisierung, wenn dieses Stahlwerk in russischen Staatsbesitz übergehe, und dann noch erklärt, das sei deswegen ein besonders günstiger Vorgang, weil ein negativer Kaufpreis entrichtet werden müsse, dann fragt man sich: Mit welchen Worten begleiten wir eigentlich welche Wirklichkeit? Haben wir nicht über viele Jahre hinweg eine Wirklichkeit mit Worten begleitet, die zu dieser Wirklichkeit überhaupt kein Verhältnis mehr hatten? Ich fürchte, dies geschah schon, als es noch die Sowjetunion gab, ein urbegriffenes Wesen im Westen, denn sonst hätte sie sich nie so verändern können. Wenn wir sie begriffen hätten, hätten wir auch die Veränderungen begreifen können. Was nachher kam, ist ebenso unbegriffen geblieben. Wir haben es, ohne es wirklich zu begreifen, begleitet.Heutzutage ist es ohne Schwierigkeiten möglich — man braucht keine Spionage —, herauszubekommen, wie aufgeklärtere russische Institutionen über westliche Hilfe denken. Sie kommen zu einem ähnlichen Schluß wie ich, nämlich daß mit unglaublich viel Geld erstaunlich wenig erreicht wurde. Die Aufgabe, Herr Außenminister Kinkel, die uns bevorsteht, ist, in Zukunft mit erstaunlich wenig Geld unglaublich viel zu erreichen.Ich will hinzufügen: Nichts davon ist altruistische Hilfe. Es ist unser Interesse, daß in ganz Osteuropa die ökologischen Katastrophenerscheinungen eingedämmt werden. Es ist unser Interesse, daß die Kernkraftwerke dort nicht durchgehen und daß eine Gesellschaft entsteht, die die Minderung der Gefährdung durch Kernkraftwerke engagiert betreiben kann. Es ist unser Interesse, daß ethnisch-soziale Konflikte aufhören. Es ist unser Interesse, daß Ökokatastrophen vermieden werden und daß soziale Spannungen verringert werden. Es ist unser Interesse, daß die Länder in einen Zustand geraten, in dem sie bestellfähig für deutsche Produkte z. B. aus Werkzeugmaschinenfabriken werden. Dies ist alles unser Interesse. Es ist keineswegs altruistische Hilfe, die wir leisten, sondern eine Hilfe, bei der wir uns selbst und nicht einfach anderen helfen.
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18822 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Dr. Dietrich SperlingDaß wir denen auch helfen, können wir nur hoffen. Ich wünschte, es würde erfolgreicher gelingen, als dies bisher geschah.Wir lassen uns durch die Übernahme unseres Jargons häufig täuschen und glauben, daß dann, wenn dort als Echo die Sprache unserer Modelltheorien, die wir für richtig halten, zurückschallt, die Reformen so laufen, wie wir uns das vorstellen. Ich bin froh, daß endlich die Regierung Tschernomyrdin nach meinem Eindruck zu realistischeren Beschreibungen der eigenen Wirklichkeit kommt.Ich möchte wieder an einem Beispiel deutlich machen, worum es mir geht. Wir haben bisher mit unseren eigenen Modelltheorien viel von dem kritisiert, was die russische Regierung tat, und dann bedauert, daß manche Politiker ausgeschieden sind. Wir haben geglaubt, die würden etwas gegen die dortige Inflation tun. Sie haben natürlich nichts getan. Die Kredite sind weiter gewährt worden, egal, mit welcher Sprache russische Politiker die Kreditgewährung begleitet und die Inflation angeheizt haben.Diese Kreditgewährung hat damit zu tun, daß die alten sowjetischen Großbetriebe, die Kombinate, nicht nur Produktionsstätten sind, sondern der Funktion nach auch das soziale Netz. Dies bedeutete zugleich Verhinderung von Arbeitslosigkeit sowie Wohnungsversorgung, Wohngeld, Sozialhilfe, Kindergartenplätze, und dies alles mit den Produktionsstätten zu einem Komplex verknüpft. Sperrt man diesem komplexen sozialen Netz -- oder anders gesagt: den Produktionsstätten — die Kredite und Subventionen, bricht eben nicht nur eine Produktionsstätte zusammen, sondern ein soziales Netz. Schirinowski hätte dann doppelt so viele Wähler. Deswegen haben wir ein eigenes Interesse daran, daß wir die Wirklichkeit dort so begreifen, wie sie ist, und angemessener helfen können, als dies bisher geschah.Ich will auf jede weitere Darstellung, die polemisch sein könnte, verzichten und folgendes sagen. Der Bericht, den uns die Regierung vorgelegt hat, ist insoweit verdienstvoll, als er eine Auflistung der bisherigen Hilfebemühungen aufweist; allerdings leidet er an dem Mangel an Problembewußtsein, wie wenig damit erreicht wurde. Unter dem Gesichtspunkt, daß es unser Interesse ist, uns und anderen zu helfen, sind wir, wenn es darum geht, künftige Hilfe effektiver zu gestalten, zu jeder Zusammenarbeit bereit.Vielen Dank.
Ich erteile dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Montag dieser Woche wurden nicht nur die Verhandlungen mit Norwegen wieder aufgenommen; die zwölf Außenminister der Union trafen auch mit Polen und Ungarn zum ersten Assoziierungsrat zusammen. Das war mehr als nur ein protokollarischer Zufall. Es zeigt:Europa steht vor der zweiten Halbzeit seiner politischen und wirtschaftlichen Einigung.Hätte es den Eisernen Vorhang nicht gegeben, wären Monnet, Adenauer und de Gasperi wohl nie auf die Idee gekommen, aus ihrem Bauplan für eine Europäische Gemeinschaft etwa die Polen, Ungarn oder Tschechen auszuklammern. Der Grundgedanke der europäischen Einigung war und ist, die Völker Europas nach den Verwüstungen der Weltkriege zu versöhnen und ihre Kräfte zu bündeln.Nach Fall von Mauer und Stacheldraht muß der Bauplan, der diesen Grundgedanken umsetzt, nun auch für unsere östlichen Nachbarn gelten.
Das ist nicht nur eine Frage eines besonderen deutschen Interesses; das berührt die Glaubwürdigkeit und Lebenskraft der europäischen Idee selbst.Eine Schlüsselbedeutung für Europa kommt seit jeher Rußland zu. Die jüngsten Entwicklungen dort haben bestätigt: Zur Politik der Bundesregierung, die Reformkräfte, verkörpert durch Präsident Jelzin, zu unterstützen, gibt es keine Alternative.
Gerade in schwierigen Phasen, wenn die Reformen auf Widerstand stoßen, dürfen wir in unserer konsequenten Unterstützung derer, die das Land wirklich nach vorne bringen wollen, nicht nachlassen. Jede realistische Reform in Rußland ist ein schwieriger Balanceakt zwischen den Erfordernissen der Wirtschaft und den Geboten sozialer und politischer Stabilität. Es gibt eben für den ungeheuer schwierigen Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft kein einfaches Patentrezept. Es dürfte wohl niemand annehmen, daß die schwierigen Umbruchprozesse gerade in dieser riesigen Dimension Rußlands in drei Jahren problemlos über die Bühne gehen würden.Die Planwirtschaft hat nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft schon vorbelastet. Wir haben es mit Menschen zu tun, eben nicht mit einem volkswirtschaftlich-theoretischen Seminar. Die Menschen in Rußland und in den anderen Reformstaaten gehen durch eine Zerreißprobe. Wenn Demokratie und Freiheit auf Dauer mit wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit verbunden sind, dann hat eben leider die Demokratie letztlich wenig oder mindestens nicht ausreichend Hoffnung. Das müssen wir einsehen und verstehen.
Das macht die Schwierigkeit der derzeitigen Lage aus. Das zeigt auch die Notwendigkeit der Unterstützung, politisch und wirtschaftlich.Ich werde in wenigen Tagen erneut zu Gesprächen nach Moskau fliegen und setze dadurch die Tradition engen Meinungsaustauschs fort. Rußland hat sich stets als ein Teil Europas verstanden. Dabei waren die Beziehungen zu Deutschland in Zeiten des Lichts und in Zeiten des Schattens von besonderer Bedeutung. Wir wollen an die guten und fruchtbaren Zeiten dieser Beziehungen anknüpfen. Ein partnerschaftliches deutsch-russisches Verhältnis ist für den Frieden und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18823
Bundesminister Dr. Klaus Kinkeldie Sicherheit in Europa eine ganz, ganz wichtige Voraussetzung.Rußland hat am 12. Dezember 1993 seine erste demokratische Verfassung erhalten. Gleichzeitig haben freie Parlamentswahlen stattgefunden. Der unerwartete Erfolg extremistischer Kräfte hat Besorgnisse ausgelöst. Dennoch haben — auch das muß man klar sagen und sehen — jedenfalls bislang Extremisten keinen substantiellen Einfluß auf politische Entscheidungen gewonnen. Präsident, Regierung und die beiden Kammern des Parlaments zeigen Behutsamkeit im Umgang miteinander. Es ist deutlich das Bestreben zu erkennen, Zuspitzungen zu vermeiden — Gott sei Dank.Die Vorreiterrolle der Bundesregierung bei der Unterstützung der Reformen in den GUS-Staaten ist bekannt. Gestützt auf einen breiten Konsens hier im Deutschen Bundestag, aber auch in der Öffentlichkeit haben wir insgesamt weit mehr als die Hälfte aller Hilfsleistungen getragen.Inzwischen sind auch auf unser Drängen die internationalen Finanzorganisationen und die Europäische Union stärker engagiert. Es ist nun einmal so: Rußland muß voll in die arbeitsteilige Weltwirtschaft einbezogen werden. Dazu muß es vor allem von sich aus die Voraussetzungen für die privaten Investitionen verbessern. Umgekehrt müssen von westlicher Seite die Märkte geöffnet werden. Nur so kann Rußland wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen. Dieses große und ungeheuer wichtige Land muß sich wirklich als Partner aufgenommen fühlen. Deshalb treten wir dafür ein, daß Rußland politisch in die G 7 einbezogen wird, und deshalb unterstützen wir auch sehr stark den Wunsch Rußlands, in den Europarat zu kommen.Meine Damen und Herren, wir dürfen, so wichtig Rußland für uns ist, nicht allein auf dieses Rußland fokussieren. Wir dürfen die anderen Staaten im Osten Europas, die GUS-Staaten, nicht vergessen.Dabei kommt der Ukraine eine ganz zentrale Bedeutung zu. Die Entwicklung dieses Landes hat Auswirkungen weit über seine Grenzen hinaus. Letzte Woche war der ukrainische Außenminister Slenko bei mir. Wir haben wieder darüber gesprochen, daß immer noch ein Stundenlohn in Leipzig und in Dresden gleich einem halben Tageslohn in Budapest, gleich einem Tageslohn in Polen und gleich einem Monatslohn in der Ukraine ist. Die Verhältnisse haben sich nicht verbessert, sondern sie sind dabei, sich zu verschlechtern. Das dürfen wir nicht vergessen.Deshalb streben wir auch zu Kiew intensive und partnerschaftliche Beziehungen an. Zugleich fordern wir aber die ukrainische Regierung auf, dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten und auch die dringenden wirtschaftlichen Reformen energisch in Angriff zu nehmen.Ich habe dem Kollegen gesagt: Geld ist wie ein scheues Reh; es geht nur dorthin, wo es glaubt, daß es gut aufgehoben ist. Solange die Privatisierung in der Ukraine nicht voranschreitet und nicht andere Voraussetzungen geschaffen worden sind, wird es mit Investitionen schwierig sein.Andererseits muß man auch bedenken, daß die Ukraine allein 2 200 Panzer zu vernichten hat, ohne die Kraft, das Geld und die technologischen Möglichkeiten zu haben, mit einem solchen Problem allein fertig zu werden.Das heißt, die Ukraine braucht unsere besondere Unterstützung, und wir sollten uns sehr bemühen, den Kooperationsvertrag genauso wie mit Rußland auch mit der Ukraine bald zustande zu bringen.
Ein besonderes Anliegen sind für uns natürlich die drei baltischen Staaten. Hier geht es darum, verschüttete jahrhundertealte Bindungen im Ostseeraum wieder mit Leben zu erfüllen. Von allen früheren Sowjetrepubliken haben die baltischen Staaten die eindrucksvollsten Reformerfolge aufzuweisen. Ja, es handelt sich um kleine Dimensionen, aber sie sind trotzdem eindrucksvoll.Ein Ziel unserer Präsidentschaft im zweiten Halbjahr dieses Jahres wird es sein, daß auch mit Lettland, Litauen und Estland Assoziierungsabkommen mit Beitrittsperspektive unter Dach und Fach gebracht werden. Die Heranführung dieser Staaten an die Europäische Union stand im Mittelpunkt der Gespräche, die ich in den letzten Tagen mit den drei baltischen Außenministern führte. Ein politisch und wirtschaftlich stabiles Baltikum ist ein Gewinn für die gesamte Region, übrigens auch für Rußland.
Meine Damen und Herren, das Zusammenfügen der über vier Jahrzehnte getrennten Teile Europas ist die vorrangige Aufgabe für die europäische Politik unserer Tage. An Deutschland, das Land in der Mitte, stellt sie besondere Herausforderungen. Wir sind von allen Risiken besonders betroffen, aber von den Chancen auf der anderen Seite auch in besonderer Weise begünstigt. Seit Ende 1989 haben wir die mittel- und osteuropäischen Reformstaaten besonders unterstützt.Aber die historische Aufgabe, die vor uns liegt, nämlich mitzuhelfen, daß die Chancen der Freiheit östlich von uns in Arbeitsplätze und damit in dauerhafte demokratische Institutionen umgewandelt werden, übersteigt die deutschen Kräfte jedoch bei weitem. Auch aus diesem Grunde ist es so wichtig, daß die Europäische Union den in Kopenhagen vorgezeichneten Weg der Erweiterung konsequent weiter voranschreitet.Einbindung statt Ausgrenzung, das muß natürlich auch im sicherheitspolitischen Bereich gelten. Wir nehmen das von den mittel- und osteuropäischen Nachbarn empfundene Sicherheitsdefizit nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung sehr ernst. Das Konzept der Partnerschaft für den Frieden und des engeren Zusammenwirkens mit der WEU ist eine gute Antwort darauf. Sie wird im übrigen auch in der Praxis angenommen. Weder wirtschaftlich noch sicherheitspolitisch darf die europäische Einigung neue Gräben aufreißen. Wir Deutschen sind in vielen Fällen die natürlichen Mittler. Deshalb werden
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18824 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelgerade wir immer darauf achten müssen, daß zusammengeführt und nicht erneut getrennt wird.Natürlich dürfen bei der Ausdehnung von Stabilität nach Mittel- und Osteuropa die europäisch-atlantischen Institutionen nicht überdehnt und nicht überfordert werden. Damit wäre auch denen, die beitreten wollen, nicht geholfen. Deshalb müssen wir uns vor einem Vorgehen hüten, das nur die Wahl zwischen Beitritt und Ausgrenzung zuläßt. Der richtige Weg ist ein flexibles System immer engerer gesamteuropäischer Zusammenarbeit, das zur Beitrittsoption hinzukommt.Ich möchte die kulturelle Förderung des Auswärtigen Amtes für die deutschen Minderheiten in Mittel-und Osteuropa nicht unerwähnt lassen. So wurden in Regionen mit deutschen Minderheiten eine ganze Reihe von Vertretungen neu errichtet. Die Auslandsvertretungen in Almaty, Bischkek, Taschkent, Danzig, Stettin und demnächst Nowosibirsk und Saratow widmen ihre Arbeit zu einem erheblichen Teil den Anliegen der deutschen Minderheit in ihrem Amtsbezirk. Das ist gut so, und es ist ganz wichtig. Auch hier geht es primär um Hilfe zur Selbsthilfe, von der Lehreraus- und -fortbildung über Lehrpläne und Lehrbücher bis zur Medienförderung. Mit dieser Politik wollen wir über unsere Minderheiten zusätzliche Brücken zu diesen Ländern schlagen, nicht aber künstliche Loyalitätsprobleme schaffen.
Meine Damen und Herren, eines dürfen wir nicht vergessen: Europa ist mehr als Wachstumszahlen und Außenhandelsstatistiken und auch mehr als reine Wohlstandsmaximierung. Europa ist ein Kulturraum. Wer es wieder zusammenfügen will, muß vor allem auch den geistig-kulturellen Austausch wieder in Gang bringen. Hier gibt es noch unheimlich viel zu tun.
Ich persönlich bedaure außerordentlich, daß wir gerade dafür in einer Zeit, in der wir Probleme und Schwierigkeiten haben, so relativ wenig Mittel haben. Ich bedaure das vor allem auch deshalb so sehr, weil wir — das ist im Bundestag schon oft angesprochen worden — eine gewaltige Chance haben, was unsere Sprache anbelangt. Es ist nicht unwichtig für die Deutschen — für mich als ihren Außenminister ist es besonders auffallend —, daß nun bei vielen Konferenzen, die wir haben und bei denen bisher Französisch und Englisch die alleinigen Sprachen waren, aus diesen Ländern Kollegen, Freunde, Partner kommen, die deutsch sprechen. Das ist eine Chance, die wir wahrnehmen sollten.
Ich bitte den Deutschen Bundestag nochmals, mir zu helfen, wenn es ums Geld geht, und einen anständigen Schub zu geben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Bernd Henn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute zur Debatte stehende Antwort der Bundesregierung ist — das sage ich ohne jede Ironie — eine mit Akribie gefertigte Fleißarbeit qualifizierter deutscher Beamter. Wer allerdings in diesem Dokument eine langfristige Konzeption zur Gestaltung der Beziehungen der Bundesrepublik zu den Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas, wer eine Konzeption zur Überwindung der fortdauernden Spaltung des Kontinents und zur Schaffung eines zuverlässigen Sicherheitssystems sucht, kann sich, glaube ich, die Mühe sparen. Eine Antwort wird er nicht finden.Es ist jetzt bald vier Jahre her, daß auch die Bundesrepublik im Zwei-plus-Vier-Vertrag feierlich ihre Entschlossenheit bekundet hat, die „Spaltung des Kontinents zu überwinden" und die „Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen". In der kurz danach folgenden Charta von Paris wurde diese Verpflichtung in die hehren Worte gekleidet, daß das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas zu Ende gegangen sei und auf dem Kontinent eine Epoche des Friedens und der Einheit anbreche. Ich denke, davon kann heute nicht einmal im Ansatz die Rede sein. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen Vertragsworten und politischen Taten ist unübersehbar.Auch die in der Antwort der Bundesregierung detailliert aufgelisteten, gewiß beachtlichen Unterstützungsmaßnahmen für die Reformprozesse in Osteuropa können diese Kluft nicht verdecken. In unserem Verhältnis zu Osteuropa geht es eben nicht nur um ökonomische Hilfe mehr oder weniger großen Umfangs, es geht um Gleichberechtigung, ohne die es auf Dauer keine Stabilität in Europa geben wird.Diejenigen, die sich heute als Vorkämpfer der europäischen Einigung sehen, weigern sich, den ost- und südosteuropäischen Ländern eine klare und vernünftige Perspektive für eine tatsächliche Einbeziehung in die europäischen Institutionen zu geben. Diese Staaten klopfen an die Tür der Europäischen Union. Aber mit dem Maastrichter Vertrag bleibt diese Türe zumindest für lange Zeit verschlossen.Die Folgen der Ausgrenzungs- und Abschottungspolitik für unsere östlichen Nachbarstaaten kümmern die Bundesrepublik offenkundig ebensowenig wie die Folgen der von ihr propagierten und geförderten ökonomischen Schocktherapie, des Kurses einer möglichst schnellen Restauration kapitalistischer Verhältnisse, die in Ermangelung hinreichender sozialer Sicherungssysteme bereits zu dramatischen Entwicklungen für viele Menschen geführt hat und noch weiter führen wird.Wer einen Kurs unterstützt, der den Menschen die Würde nimmt und ihnen soziale Not bringt, darf sich nicht wundern, wenn rechte, nationalistische Kräfte nach oben geschwemmt werden. Hier helfen weder Panikmache noch die Schaffung neuer Feindbilder. Notwendig ist es, die eigene, kurzsichtige Politik zu überprüfen und endlich langfristige Konzepte zur Herstellung stabiler Beziehungen zu entwickeln.
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Bernd HennVerspielt wurde auch das kostbare Kapital, das die DDR in die deutsche Vereinigung eingebracht hat. Sie war mit Abstand der größte Außenhandelspartner der UdSSR und nach der UdSSR der größte Außenhandelspartner aller anderen osteuropäischen Länder. Die über Jahrzehnte gewachsenen Handels- und Kooperationsbeziehungen wurden zerrissen, ihre Träger, Zehntausende von Spezialisten mit hohen Fach-, Sprach- und Landeskenntnissen, abgewickelt und in die Arbeitslosigkeit geschickt.1992 lag der Export des vereinigten Deutschlands in die Länder der ehemaligen Sowjetunion mit einem Volumen von 13,9 Milliarden DM mehr als 2,5 Milliarden DM unter dem, was 1989 allein die DDR erreichte. Selbstverständlich sind die Ursachen dafür nicht nur auf deutscher Seite zu suchen; aber das Ausmaß der Zerstörung der Exportkraft Ostdeutschlands ist wahrlich erschreckend. Der „Abschwung Ost" ist aufs engste mit dem Abschwung des Osteuropahandels verbunden.Den RGW aufzulösen war leicht.
Der Aufbau von diversifizierten Industriestrukturen, der Aufbau eines breiten mittelständischen Produktions- und Dienstleistungssektors in jedem einzelnen ehemaligen RGW-Land wird viel schwerer und braucht vor allem Zeit. Der vom Westen geforderte und geförderte Crashkurs ohne Übergangsformen, ohne bilanzierten Außenhandel, das plötzliche Durchschneiden von in 40 Jahren aufgebauten Lieferbeziehungen und Abhängigkeiten hat nur soziale und politische Instabilität hervorgebracht.
Es ist mir schon klar, daß es im Sinne einer Strategie der Herstellung ökonomischer und politischer Überlegenheit natürlich günstig für Deutschland ist, wenn sich jedes Land in Mittel- und Osteuropa für sich — bei Existenz möglichst vieler kleiner, separater Staaten — nach dem Motto „Rette sich, wer kann! " in die Arme der westlichen Partnerländer in Europa wirft. Eine Herausbildung von Nationalökonomien, die in ihrer ganzen Breite auch Westeuropa gegenüber wettbewerbsfähig sind und nicht nur auf neue Weise abhängig werden, kann man mit einer solchen Konzeption, so glaube ich, nicht erwarten.
— Das ist in 40 Jahren aufgebaut worden, was sicher falsch war — das bestreitet kein Mensch —, aber man kann es nicht von heute auf morgen ändern. Dazu braucht es eine Konzeption und nicht die Strategie eines Crashkurses, wie er jetzt gefahren wurde.Auf einem besonders sensiblen Gebiet, im sicherheitspolitischen Bereich, betreibt die Bundesregierung nach wie vor eine risikoreiche und noch immer tief dem alten Blockdenken verhaftete Politik. Die den osteuropäischen Ländern angebotene Partnerschaft für den Frieden kann ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem nicht ersetzen. Mehr noch: Die diesenLändern zugesagte Perspektive für einen Beitritt zur NATO läuft darauf hinaus, den militärischen Beistandspakt bis an die Grenzen Rußlands und anderer GUS-Staaten auszudehnen. Derartige Pläne offenbaren ein erschreckendes Maß an Mißachtung der teuer bezahlten Lehren der Geschichte.Es kann doch wohl nicht schwer sein, sich die Gefühle und Reaktionen der Menschen in Moskau, Minsk und Kiew vorzustellen, wenn sie mit der Perspektive des Vorrückens von NATO-Kommandos und NATO-Truppen an ihre Landesgrenzen leben müssen.
Kann man denn tatsächlich ernsthaft außer acht lassen, daß die Bildung und Ausbildung von Militärkoalitionen gerade in diesem Jahrhundert schon immer die Vorstufe gefährlicher politischer und militärischer Konfrontationen bis hin zum Kriege war? Ich glaube nicht.Die Ausdehnung der NATO nach dem Osten wäre ein verhängnisvoller Fehler. Es ist deshalb höchste Zeit, die KSZE aus ihrem künstlich geschaffenen Dämmerzustand zu erwecken und in ihrem Rahmen ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu schaffen, in dem alle Länder des Kontinents den gleichen Sicherheitsstatus genießen. Es ist Zeit, für die deutsche Politik gegenüber Rußland und den anderen osteuropäischen Ländern einen völlig anderen Ansatz zu nehmen.Deutsche Osteuropapolitik muß sich lösen von kurzsichtigem Lavieren und Taktieren, von einseitiger Bindung an Einzelpersonen. Wer sich heute auf diesen Duzfreund und morgen auf jenen Saunafreund stützt, der wird eine langfristige Konzeption nicht entwickeln. Deutsche Osteuropapolitik muß sich vom Streben nach Dominanz ebenso wie von Abschottung lösen, muß sich von dem Versuch lösen, bestimmte Länder stärker an die westlichen Institutionen binden zu wollen als andere. Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa sind auf Dauer nur zu erreichen, wenn die fortdauernde Spaltung des Kontinents überwunden wird und alle europäischen Staaten und Völker gleichberechtigt an der Errichtung einer demokratischen Friedensordnung und der Lösung der globalen Menschheitsfragen mitwirken können.Schönen Dank.
Herr Kollege Gerd Poppe, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die uns vorgelegte umfangreiche Ausarbeitung der Bundesregierung zu den Reformprozessen in Mittel- und Osteuropa belegt eindrucksvoll, wie viele Institutionen sich um Unterstützung bemühen, wie viele Programme existieren und wie viele engagierte Menschen an ihrer Umsetzung mitwirken. Trotzdem ergibt sich eine Reihe von Fragen und kritischen Anmerkungen.So ist beispielsweise zu begrüßen, daß die Bundesregierung immer wieder die Notwendigkeit der Öffnung der westlichen Märkte unterstreicht. Darüber
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Gerd Poppesollte aber nicht vergessen werden, wie viele Restriktionen es auf diesem Gebiet noch gibt, abgesehen vom wirtschaftlichen Schaden, den die unzähligen Importauflagen der Europäischen Union in den dringend auf Devisen angewiesenen MOE-Staaten anrichten. Auf die polnischen und slowakischen Bauern z. B. wirken sie einfach kleinlich und demütigend.Wenn trotzdem Polen, Ungarn und einige andere Staaten bereits eine Reihe deutlicher Erfolge bei der Reformierung der Wirtschaft vorweisen können, muß doch der Anteil westlicher Hilfe daran mit Vorsicht beurteilt werden. Programme wie PHARE und TACIS sind hilfreich, aber dennoch unzureichend.Es genügt, einen kurzen Vergleich anzustellen zwischen Griechenland und Portugal einerseits und den MOE -Staaten andererseits. Das Bruttosozialprodukt der letzteren ist pro Kopf etwa halb so hoch wie das der beiden ärmsten Mitglieder der Union. Bei Gleichbehandlung als Mitgliedstaaten bekämen die MOE-Staaten allein soviel an Strukturhilfe aus dem Haushalt der Union, daß dieser verdoppelt werden müßte.Es ist klar, daß das nicht bezahlbar wäre. Klar ist aber auch, daß alle bis heute geleistete materielle Hilfe — schon für die MOE-Staaten, nicht zu reden von der ehemaligen Sowjetunion — nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein konnte. Dabei ist die Frage, wieweit diese Programme wirklich greifen, noch gar nicht berücksichtigt. So betrachtet ist die Abschaffung der Visapflicht zwischen Polen und Deutschland mindestens so wichtig, vielleicht sogar ermutigender gewesen als viele Unterstützungsprogramme.Im Falle Rußlands und der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion stellt sich das Problem der Wirksamkeit westlicher Hilfe noch drängender. Angesichts der Krisen, des „freien Falls der Wirtschaft", den die Bundesregierung z. B. auf die Frage nach der wirtschaftlichen Situation in der Ukraine feststellt, und der inzwischen oft katastrophalen Lage der Menschen in diesen Ländern muß die Frage gestellt werden, ob die Bundesregierung der dortigen Situation angemessen handelt und den Erfolg ihrer Hilfeleistungen entsprechend selbstkritisch beurteilt.Die holzschnittartige Kategorisierung von Reformern und Konservativen, die vordergründige Bewertung des Erfolgs von Reformmaßnahmen am Grad der Privatisierung und der Höhe der Inflation können wesentliche Dimensionen des Transformationsprozesses und ihrer Probleme nicht ausreichend erfassen. Wer z. B. die hohen Subventionszahlungen an die Industrie beklagt und sich gleichzeitig über die geringe sogenannte echte Arbeitslosigkeit wundert, dann feststellt, es gäbe kaum noch Versorgungsengpässe, um schließlich die Senkung der Inflation zu fordern, überträgt etwas zu pauschal die Regeln einer seit langem funktionierenden Marktwirtschaft auf eine Situation, die von westlichen Wirtschaftstheoretikern vor nicht allzu langer Zeit „halbasiatische Produktionsweise" genannt wurde.Die Reformen in Mittel- und Osteuropa sind kein geradliniger Prozeß der Aneignung westlicher Fähigkeiten. Sie sind tiefgreifende geschichtliche, sozialeund wirtschaftliche Umwälzungen, die jeden einzelnen von fast 350 Millionen Menschen betreffen. Daß bei dem Versuch, eine solche Wirtschaftsreform zu unterstütz en, Fehler, gescheiterte Projekte, Versikkern in den Taschen sich bereichernder Pseudo-Elite zwangsläufig sind, muß deshalb auch gesagt werden. Ein realistisches Bild ist wichtiger als das Selbstlob der Regierungspolitik, das sich obendrein streckenweise wie eine Lernzielkontrolle über die Fortschritte der Schüler beim Schreiben und Rechnen liest.Es gibt immerhin Entwicklungen, von denen auch wir lernen können. Eine Einrichtung wie die des Ombudsmanns in Polen mit seinen weitreichenden Kompetenzen scheint mir z. B. vorbildlicher zu sein als die Möglichkeiten unseres Petitionsausschusses. Wir könnten durchaus profitieren von neuen Konzepten, wie sie in einer so tiefen Umbruchsphase entstehen, wenn wir offen für sie sind.Daß die Bundesregierung der Situation in Mittel-und Osteuropa nicht weniger hilflos gegenübersteht als wir alle, ist insgesamt auch an der vorliegenden Fleißarbeit zu bemerken. So jedenfalls könnte die Art und Weise erklärt werden, wie die Integrationshilfe für die MOE-Staaten im Rahmen von KSZE oder NATO-Kooperationsrat behandelt wird. Beschrieben wird der Zustand von vor einem halben Jahr. Entweder hat die Bundesregierung kein klares Konzept für diese Institutionen, oder sie will es dem Bundestag nicht offenbaren.Das gleiche gilt für den Abschnitt zu den Atomwaffen der früheren Sowjetunion, hier vor allem denjenigen, die in der Ukraine verblieben sind. Es fehlt jegliche Aussage darüber, wie mit ihnen umgegangen werden soll. Es wäre ja beispielsweise vorstellbar, daß die Europäische Union sich entschlösse, der Ukraine bei der Energiebeschaffung zu helfen, wenn diese im Gegenzug ihre Atomwaffen zur Verschrottung ablieferte oder zumindest unter internationale Kontrolle stellte. Aber die Bundesregierung gibt keine Idee zum Umgang mit den Konflikten von heute oder noch schlimmeren gewaltsamen Auseinandersetzungen von morgen preis.Auch die Einschätzung der Menschenrechtssituation in den Staaten Mittel- und Osteuropas läßt Fragen offen. Zwar wird zu Recht die Einhaltung der von den Visegrad-Staaten und Reformstaaten wie Slowenien eingegangenen Menschenrechtsverpflichtungen positiv gewürdigt. Auffällig erscheinen dagegen die milden Beurteilungen für Staaten wie beispielsweise Rumänien mit seiner ins Abseits gedrängten Roma-Bevölkerung oder Kroatien, wo — unter Hinweis auf den Krieg — die Fortdauer der Indoktrination durch eine staatlich gelenkte Propagandamaschinerie quasi entschuldigt wird. Diese Situation wiederholt sich in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, auch ohne Krieg. Das wird nicht einmal erwähnt.Ähnliches gilt für die Bewertung der Minderheitenrechte: Zwar wird das Fehlen einer verbindlichen Minderheitendefinition auf KSZE- und Europaratsebene klar als Problem beschrieben. Die gravierenden Diskriminierungen der Minderheiten in der Slowakei, in Georgien und Aserbaidschan, in weiten Teilen der Russischen Föderation oder im Baltikum
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Gerd Poppemit seinen zum Teil großen russischen Bevölkerungsanteilen werden nicht benannt oder nur gestreift.Kontraproduktiv ist allerdings die Empfehlung an die baltischen Staaten, allen dort lebenden Russen die Staatsbürgerschaft zu geben, wenn sie aus Deutschland kommen, einem Staat, der selbst an einer Definition von Staatsbürgerschaft festhält, die den Veränderungen in Europa um Generationen hinterherhinkt.Eine Reihe von Aufgaben, die für Mittel- und Osteuropa anstehen, werden nur gelöst werden, wenn wir sie als gemeinsame Aufgaben begreifen, bei deren Erfüllung auch wir uns verändern müssen. Ohne diese Einsicht wird Europa noch lange geteilt bleiben.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Ulrich Irmer, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über Mittel- und Osteuropa diskutieren können in der Weise, wie wir es tun, dann liegt das, wie ich meine, an zwei grundlegenden Weichenstellungen der Nachkriegspolitik. Die erste Weichenstellung war die Schaffung der westlichen Bündnisse und Systeme. Ich nenne hier vor allen Dingen die NATO und die Europäische Gemeinschaft. Die zweite grundlegende Weichenstellung war die neue Ostpolitik, wie sie nach 1969 eingeleitet wurde, zurückgehend auf den Harmel-Bericht aus dem Jahr 1967. Der sagte, man müsse die Politik gegenüber dem Osteuropa, wie es damals war, auf zwei Säulen stellen, einmal auf die Beibehaltung von Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit, zum anderen aber auch darauf, daß man den Versuch unternehmen müsse, die Ursachen der Spannungen zu beseitigen, in einen Dialog einzutreten und über den später eingeleiteten KSZE-Prozeß zu einem Abbau der zwischen den beiden Blöcken bestehenden Unterschiede hinzuwirken.
An beiden Weichenstellungen grundlegender Art war die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich beteiligt. Dies ist das eigentliche Verdienst der Politiker, die in der alten Bundesrepublik Deutschland seit 1949 gewirkt haben.Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor einer dritten Grundsatzentscheidung, die in ihrer Bedeutung den beiden anderen, die ich erwähnt habe, nicht nachsteht. Ich meine, daß es jetzt darauf ankommt, die Systeme des westlichen Europas und der europäisch-atlantischen Gemeinschaft für den Rest Europas zu öffnen, für das Europa, das heute wieder die Freiheit hat, selbst zu entscheiden, was es will, und diese Freiheit in der Weise nutzt, daß es sagt:Wir wollen uns an diesen, vom Westen geschaffenen Systemen beteiligen!
Ich befürchte, daß wir hier zu zaghaft sind, daß noch nicht alle die Dimension dieser Aufgabe begriffen haben. Wenn uns die Staaten Mittel- und Osteuropas die Hand reichen und sagen: Wir wollen zu euch!, dann geht es nicht auf die Weise, wie es der Kollege Henn versucht hat, daß wir künstliche Gegensätze zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Russen einerseits und dem Sicherheitsbedürfnis der Länder, die zwischen Rußland und uns liegen, andererseits schüren. Nein, Stabilität in den Ländern dieser Zwischenzone nützt allen: zum ersten natürlich den betroffenen Menschen in diesen Ländern, zum zweiten uns, zum dritten aber auch Rußland, der Ukraine, Weißrußland, den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.Herr Kollege, es handelt sich um ein grundlegendes Mißverständnis, wenn Sie appellieren, wir sollten doch an die Gefühle der Menschen in Moskau, Minsk und Kiew denken; natürlich denken wir daran. Sie dürfen aber keinen Gegensatz schaffen. Wir müssen auch an die Gefühle der Menschen in Prag, in Warschau und Budapest denken, die mit der damaligen Sowjetunion die übelsten Erfahrungen machen mußten.
Verstehen Sie doch: Herr Kinkel hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich trotz der nationalistischen Töne in Rußland die Regierung und die beiden Kammern vernünftig verhalten, daß sie nicht in diese Töne einstimmen. Es gab aber auch schon Reaktionen, die uns zumindest besorgt stimmen. Wir sollten nicht alles an Herrn Schirinowski festmachen, sondern auch im Auge behalten, daß es eine neue Militärdoktrin Rußlands gibt. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß vom „nahen Ausland" die Rede war und daß das den Menschen in den ehemaligen Satellitenländern nicht gerade Zuversicht einflößend in den Ohren klingt. Dafür müssen wir Verständnis haben.Ich behaupte nicht, es bestünde die aktuelle Gefahr, daß Rußland einen seiner Nachbarn überfallen könnte, auch die baltischen Staaten nicht. Es besteht keine akute Gefahr. Dies ist aber doch viel mehr ein psychologisches Problem als eine reale Bedrohung. Dafür müssen wir doch Verständnis entwickeln.Ich verstehe auch nicht, wie zaghaft und ängstlich unsere NATO geworden ist.
— Überhaupt nicht. Ich habe Herrn Kinkel in allem, was er gesagt hat, bestätigt. Das tue ich immer, und zwar nicht deshalb, weil ich es muß — niemand zwingt mich dazu —, sondern aus voller Überzeugung. Herr Kinkel hat nämlich mit dem, was er sagt, recht, so wie
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Ulrich Irmerich hin und wieder auch mit dem, was ich sage, recht habe.
— Vielen Dank, Kollege Scharrenbroich. Es ist sehr freundlich, daß Sie mir applaudieren.Nein, meine Damen und Herren, zurück: Unsere NATO war früher ein doch unerhört mutiges Instrument. Die Sicherheitsgarantie für die alte Bundesrepublik Deutschland und die Sicherheitsgarantie für das freie West-Berlin haben Mut erfordert. Das war keine Selbstverständlichkeit. Hier wurde ganz bewußt das volle Risiko nicht nur in Kauf genommen, sondern akzeptiert, bewußt aufgenommen, das darin lag, daß es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen könne — bis über die Schwelle eines Atomkrieges hinaus. Das hat Mut erfordert.Wir sollten das nicht vergessen, und wir sollten auch unseren damaligen wie jetzigen Verbündeten nach wie vor dafür dankbar sein, daß sie dafür gesorgt haben, daß wir unsere nationalen Interessen als Deutsche vertreten konnten. Unser nationales Interesse war nämlich, unsere Freiheit zu bewahren. Und unser nationales Interesse war, den Wohlstand, der sich seit 1949 langsam entwickelt hatte, zu sichern. Und das konnten wir. Das konnten wir im Schatten dieser Sicherheitsgarantie.Jetzt plötzlich kommen die Länder Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei, Polen und die baltischen Staaten und sagen: Freunde, wir wollen von euch auch Garantien. Wir wollen, daß ihr auch für unsere Freiheit einsteht. — Wo ist der Mut geblieben, den die NATO hatte, daß wir heute nicht mehr dazu bereit sind? Man wagt ja fast nicht mehr, darüber zu diskutieren.Ich plädiere nachhaltig dafür, daß wir diesem Bedürfnis der Länder entsprechen, und zwar so bald es irgend geht.
Andernfalls wird es uns nämlich nicht gelingen, dort für mehr Stabilität zu sorgen.Natürlich spielen die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Fragen eine riesige Rolle. Aber auch diese Entwicklungen können sich ja nur zum Positiven vollziehen, wenn auch eine politische Absicherung dabei ist. Hier spielt die Sicherheitsfrage die herausragende Rolle.Deshalb, meine Damen und Herren, seien wir hier im Deutschen Bundestag die treibende Kraft in diese Richtung. Seien wir als jene, die am nächsten dran sind und die in der Vergangenheit vom Bündnis und von den Organisationen am meisten profitiert haben, diejenigen, die jetzt unsere Nachbarn nicht im Stich lassen, sondern die Konzepte entwickeln. Partnerschaft für den Frieden muß mit Leben ausgefüllt werden. Das fängt ja Gott sei Dank an. Aber auch die Mitgliedschaft in der NATO darf für jene nicht ausgeschlossen werden, die sie wollen.Wir haben ja mit den Ländern Assoziierungsverträge. Hoffentlich werden sie alle bald ratifiziert, auchin diesem Hause. Dort haben wir die Perspektive des späteren Beitritts zur Europäischen Union eröffnet. Auch dies muß in die Realität umgesetzt werden. Wir erwarten und wissen, daß einige Lander vor dem Ende dieses Jahrhunderts so weit sein werden, daß sie aufgenommen werden können. Da müssen wir nämlich in die Verhandlungen eintreten.An die SPD habe ich eine Frage, Herr Voigt. Frau Wieczorek-Zeul hat gestern vor einer Mega-Union gewarnt. Ich habe ihr eine Zwischenfrage gestellt und gefragt: Bedeutet denn das für Sie, daß diese Länder, die Visegrad-Staaten z. B., nicht herein sollen? Darauf habe ich keine befriedigende Antwort bekommen. Die Frage müssen Sie sich stellen lassen.Und noch eine Frage. Der arme Herr Poppe kann nichts dafür, aber was BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor zwei Wochen auf ihrem Parteitag beschlossen haben — Deutschland raus aus der NATO, Auflösung der Bundeswehr —, das geht genau in die falsche Richtung !Herr Poppe, der Kollege Weiß hat mir gestern auf meine Zwischenfrage an ihn erläutert, daß das BÜNDNIS 90 das ganz anders sieht. Das weiß ich, und das ist ja auch zu begrüßen.
Aber Sie sind mit den anderen zusammen in einer Partei, und Sie müssen schon die Antwort auf die Frage geben, wie sich das, was dort beschlossen worden ist, mit dem verträgt, was Sie als BÜNDNIS 90 richtigerweise vertreten. Herr Weiß hat gestern hier eine phantastische Rede gehalten, die hätte ich halten können.
— Nur mit dem Unterschied, daß wir das sehr erfolgreich hinbekommen.
Und so unverträglich sind wir ja auch nicht, im Gegenteil, wenn Sie sehen, wie gut wir uns vertragen.
Leider mußten meine Kollegen schon alle weg, weshalb ich dann den Präsidenten auch bitte, wenn ich hier zu Ende bin, mir die Gelegenheit zu geben, rasch zu meinem Platz zurückzukehren, damit ich mir dann selbst rauschenden Beifall spenden kann.
Sie sind mit der Zeit schon zu Ende.
Sonst würde das Protokoll keinen Beifall bei der F.D.P. vermerken. Das wäre dann äußerst mißlich.
Herr Kollege Irmer, Ihre Redezeit ist in der Tat zu Ende.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994 18829
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, ich habe das bemerkt. Ich wollte mit dieser Bitte an Sie daran anknüpfen, — —
— Ja, ich habe das ja schon gesagt und die SPD wird sich natürlich auch fragen lassen müssen, wie sie mit einem möglichen Bündnispartner, der solche Beschlüsse gefaßt hat, dann zurechtkommen und umgehen will.
Ich bedanke mich herzlich.
Herr Kollege Voigt, wir können — auch wenn der Kollege Irmer das rhetorisch jetzt so gemacht hat — die Geschäftsordnung nicht umdrehen. Der Redner stellt keine Fragen an das Plenum, sondern es kann nur umgekehrt sein.
— Nein, wir sind am Schluß der Debatte, bitte. Ich will das Wort nicht mehr erteilen, weil wir am Schluß sind und der Kollege Irmer weg muß.
— Entschuldigung, die Kurzintervention kann ich abschmettern, weil wir Schluß machen wollen. Eine Meldung vor der Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung — dies ist jetzt der kollegiale Rat — kann ich nicht verweigern. Da aber die Kurzintervention drei Minuten kürzer ist als die Redezeit nach § 31, Herr Kollege Voigt, haben Sie das Wort.
Herr Präsident! Da Kollege Irmer so voller Fragen und Zweifel ist und ich es nicht verantworten kann, daß er zum Osterfest wegen der unbeantworteten Fragen nachts nicht mehr schlafen kann, wollte ich ihn nur darauf hinweisen, daß die SPD der Meinung ist, daß die Europäische Union nach Osten erweitert werden soll. Frau Wieczorek-Zeul ist der gleichen Meinung. Natürlich müssen wir aus ökonomischen Gründen realistischerweise davon ausgehen — übrigens zum Schutz der Staaten dort —, daß dieses Ja heute nicht bedeutet, daß es innerhalb von zwei oder drei Jahren realisiert werden kann. Das ist Punkt 1.
Zweitens bedeutet es natürlich auch, daß die Ostöffnung nicht nur der Europäischen Union, sondern auch der NATO schrittweise erfolgen kann und muß. Ich hoffe, daß Sie in der Regierung sich mit dieser Position auch durchsetzen; denn dies ist bisher noch nicht geschehen.
Zur dritten Frage, die Sie in bezug auf das rotgrüne Verhältnis gestellt haben, kann ich Ihnen nur folgendes sagen: Sie haben völlig recht, hinsichtlich Eiereien in bezug auf Positionen hat natürlich die F.D.P. jahrzehntelangen Vorsprung vor allen anderen, die versuchen, eine Quadratur des Kreises hinzukriegen. Aber ich gehe davon aus, daß unser lieber Kollege Poppe auch noch klarmachen wird, daß die GRÜNEN ihre Position zum Austritt aus der NATO und anderen
Unsinn in Wirklichkeit gar nicht ernst meinen, sondern daß sie ihre Beschlüsse selber nicht ernst nehmen und er übrigens auch noch dagegen war.
Vielen Dank.
Die Geschäftsführer bemühen sich, daß zu Protokoll gegeben wird, dem Kollegen Irmer verdanken wir, daß sich jetzt die Debatte verlängert.
Herr Kollege Poppe zur Kurzintervention.
Kollege Irmer, ich muß Ihnen ja nun auch noch auf Ihre Frage antworten.
Ich nehme an, Sie als Mitglied einer demokratischen Partei sind darüber informiert, daß es hin und wieder Mehrheiten und Minderheiten gibt, die unterschiedliche Auffassungen haben, und daß ich natürlich auch demokratische Entscheidungen akzeptieren muß, auch wenn ich sie innerhalb meiner Partei nicht teile. Im übrigen werden wir dann, wenn es soweit ist, sehen, wie zukünftig politische Erklärungen unserer Partei abgegeben werden und welche Art von Koalition es gibt. Ich weise Sie nur darauf hin, daß ich vor zwei Monaten mit meiner Meinung nur 10 % vertreten habe, heute schon 30 %. Wer weiß, vielleicht ist das in einem Vierteljahr oder in einem halben Jahr schon gänzlich anders.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um noch ein paar Minuten Kooperation. Bevor ich die Aussprache schließe, brauche ich die Zustimmung dazu, daß die Kollegen Hartmut Koschyk, Reinhard Freiherr von Schorlemer und Jan Oostergetelo ihre Beiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll geben dürfen.')
— Danke. Die Zustimmung ist hiermit erteilt. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Unterstützung von privaten Initiativen humanitärer Hilfe für die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Drucksache 12/5162. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/2122 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu den Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den deutschen Minderheiten in Osteuropa und östlich des Urals, Drucksache 12/6743. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag*) Anlage 2
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18830 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 217. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1994
Vizepräsident Hans Kleinauf Drucksache 12/1188 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt (Umweltinformationsgesetz-UIG)— Drucksache 12/5696 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
RechtsausschußEG-AusschußInnenausschußSämtliche von den Fraktionen und Gruppen gemeldeten Rednerinnen und Redner haben gebeten, ihre Beiträge zu Protokoll geben zu dürfen.') Besteht damit das Einverständnis des Hauses? — Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/5696 an die in der Tages-*) Anlage 3ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 145 zu Petitionen — Drucksache 12/7036 —ZP10 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 146 zu Petitionen — Drucksache 12/7037 —Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kom men gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 13. April 1994, 13 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.