Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie bitten, sich kurz von Ihren Plätzen zu erheben.Mit Bestürzung haben wir die Nachricht vom gestrigen brutalen Attentat auf das Amtsgericht in Euskirchen aufgenommen. Der Täter hat mit sich selbst sechs Menschen in den Tod gerissen, acht weitere zum Teil schwer verletzt. Menschen, die dem Recht, dem öffentlich gesprochenen Recht und damit dem Schutz aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Staat gedient haben, haben diesen Dienst gestern mit ihrem Leben bezahlt. Wir gedenken der Ermordeten mit großer Trauer und nehmen Anteil am Leid ihrer Familien. Wir verneigen uns in Achtung und Dank vor dem Dienst, den die Opfer dem Rechtsstaat und damit uns allen geleistet haben.Sie haben sich zu Ehren der Toten von Ihren Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.Ich komme nun zu den amtlichen Mitteilungen.Aus dem Wahlprüfungsausschuß ist die frühere Kollegin Dr. Hedda Meseke als ordentliches Mitglied ausgeschieden. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Kollegen Dr. Bertold Mathias Reinartz vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Dr. Bertold Mathias Reinartz für die Dauer der Wahlperiode als ordentliches Mitglied in den Wahlprüfungsausschuß gemäß § 3 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschiebung von Flüchtlingen und Deserteuren nach Rest-Jugoslawien über Rumänien
2. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Erweiterungsverhandlungen der Europäischen Union mit Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur Erweiterung der EG — Drucksachen 12/5536, 12/6653 —4. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zu Punkt 16 „Mehr Teilzeitarbeit" des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung — Drucksache 12/6983 —5. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von den Abgeordneten Herbert Werner , Hubert Hüppe, Claus Jäger und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der ungeborenen Kinder (GSuKi) — Drucksache 12/6988 —b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Kostengesetzen und anderen Gesetzen — Drucksache 12/6962 —c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen, Dr. Helga Otto, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung der Industrieforschung in den neuen Ländern — Drucksache 12/6745 —6. — Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Sexualstrafrechts — Drucksache 12/4232 —— Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der psychosexuellen Entwicklung von Jugendlichen — Streichung der §§ 175 und 182 StGB, § 149 StGB/DDR — Drucksache 12/1899 —— Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsgleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland — Drucksachen 12/850, 12/7035 —7. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer , Günter Graf, Dr. Hans de With, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland — Drucksache 12/4948 —Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll — so weit erforderlich — abgewichen werden. Soweit bei den Tagesordnungspunkten 9 b und c — Basler Übereinkommen — von der Frist abgewichen werden soll, wird darüber erst vor Aufruf dieses Tagesordnungspunktes entschieden. Weiterhin ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 6, Regelungen zu Pauschalreisen, und 10, Verjährung von Sexualstraftaten, abzusetzen.
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18590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthSodann ist interfraktionell vereinbart worden, den Entwurf der Bundesregierung zum Fünften Gesetz zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung auf Drucksache 12/5835 sowie die dazu vorliegende Beschlußempfehlung und den Bericht des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/6612 zur federführenden Beratung an den Haushaltsausschuß zurückzuverweisen und den Gesetzentwurf zusätzlich an den Verkehrsausschuß zur Mitberatung zu überweisen.Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 210. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. 2. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Haushaltsausschuß gem. § 96 der GO überwiesen werden:Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze — Drucksache 12/6853 —Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages am 25. 2. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:Gesetzentwurf der Bundesregierung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit Arbeitsschutzrahmengesetz — ArbSchRG — Drucksache 12/6752 —Der in der 213. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. März 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden:Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes — Drucksache 12/6908 —Der in der 213. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. März 1994 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Aktionsprogramme SOKRATES und LEONARDO — Drucksache 12/6939 —Sind Sie mit den Änderungen zur Tagesordnung, den zusätzlichen Ausschußüberweisungen und der Rückverweisung einverstanden? — Das ist der Fall. Dann werden wir so verfahren.Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:ZP2 Abgabe einer Erklärung der BundesregierungBericht der Bundesregierung über die Erweiterungsverhandlungen der Europäischen Union mit Österreich, Schweden, Finnland und NorwegenZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur Erweiterung der EG— Drucksachen 12/5536, 12/6653 —Berichterstattung:Abgeordnete Peter Kittelmann Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Helmut HaussmannNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir können so verfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!... eingedenk der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen— so die Präambel des Vertrages von Maastricht —, wurde die Europäische Union gegründet. Sie ist offen für europäische Demokratien, die sich zu den Zielen der Union bekennen.Die jetzige Erweiterung um vier EFTA-Länder, nämlich Schweden, Finnland, Norwegen und Österreich, ist die erste seit dem Ende des Kalten Krieges. Ihr Beitritt zur Europäischen Union wird endgültig den Wettbewerb von zwei westeuropäischen Konzepten zur künftigen Gestaltung unseres Kontinents beenden.Das mit gemeinsamen Institutionen versehene jetzige Modell der Europäischen Union hat sich gegen die Idee einer einfachen Freihandelszone durchgesetzt. Dies ist für die künftige europäische Ordnung von ganz überragender und wichtiger Bedeutung.
Die Europäische Union bildet bereits heute den Anker der Stabilität auf unserem Kontinent und verhindert zuverlässig eine Rückkehr in das Europa der Nationalstaaten unter wechselnden Koalitionen. Sie steht für einen großen Binnenmarkt, der den Wohlstand aller Mitgliedstaaten mehrt und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhöht; und sie steht für ein solidarisches Europa, für das sie sich zum Ziel gesetzt hat, das Leistungs- und auch das Wohlstandsgefälle im Inneren der Union allmählich zu harmonisieren. Das sind Gründe genug dafür, daß viele europäische Demokratien in diese Union drängen. Die jetzige Erweiterungsrunde wird und darf daher nicht die letzte sein.
Ihr Abschluß wird den Beweis dafür liefern, daß die Union auf der Grundlage des am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrages handlungsfähig ist. Handlungsfähig sein heißt auch, Konsens herzustellen, um auf unserem Kontinent Frieden in Freiheit und Wohlstand zu sichern.Die Erweiterung wird — das ist ganz wichtig — auch ein ermutigendes Signal an die Reformdemokratien in Mittel- und Osteuropa geben, daß die Union eben keine geschlossene Gesellschaft der Reichen und der Sicheren ist.
Damit ist auch klar: Das vereinte Deutschland wirdnicht das östliche Grenzland der Europäischen Union
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18591
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelbleiben; es rückt auch politisch wieder in die Mitte Europas.
Meine Damen und Herren, die Aufnahme der drei nordischen Staaten und Österreichs in die Union ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, die Balance in Europa wiederherzustellen. Die Bundesregierung hat sich nie mit einem Konzept der Westunion oder einer Südwestunion identifiziert; sie hat sich stets zum ganzen Europa bekannt.
So wie wir uns in den achtziger Jahren als Anwalt der Süderweiterung betätigt haben und uns nachdrücklich — ich betone das aus besonderem Grund: nachdrücklich —
für die Beitritte Spaniens, Portugals und Griechenlands eingesetzt haben, unterstützten wir von Anfang an den Beitrittswunsch Österreichs, Schwedens, Finnlands und Norwegens tatkräftig. Die jetzige Erweiterungsrunde geht nicht zu Lasten der südlichen Länder Europas.
Diese werden ebenso wie alle übrigen Mitgliedstaaten und die neuen Mitglieder davon profitieren, daß die Europäische Union politisch, wirtschaftlich und kulturell durch Hinzutreten von vier erprobten demokratischen Staaten mit leistungsfähigen, dem freien Welthandel verpflichteten Volkswirtschaften gestärkt wird.Richtig ist, daß die Beitritte die Gemeinschaft innerlich stärker ausbalancieren. Es ist offensichtlich — das haben wir in Brüssel bei den Verhandlungen gesagt; ich sage es auch hier —, daß dies für Deutschland in seiner Mittellage einen nicht unerheblichen Gewinn darstellt.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ließ sich bei den anstehenden Verhandlungen vor allem von dem Interesse leiten, die Europäische Union und die Stabilität ganz Europas zu stärken. In diesen Fragen sind deutsche und europäische Interessen deckungsgleich. Deutschlands Zukunft ist in Europa.
Sicherheit und Wohlstand unseres Landes sind untrennbar mit der europäischen Einigung verbunden. Ein Scheitern dieser Verhandlungen, ein Stekkenbleiben der europäischen Einigung auf halbem Wege würde allen Europäern schaden.
Die Beitrittsverhandlungen haben am 1. Januar 1993 bzw. im Fall Norwegens am 1. April 1993 begonnen. Es ist eine wirklich große Leistung aller beteiligten Regierungen und der Kommission in Brüssel, sie in knapp einem Jahr mit drei Staaten praktisch abgeschlossen zu haben und bei Norwegen kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Wenn die Ratstagung am kommenden Dienstag dieses Ziel erreicht — die Bundesregierung wird erneut alles, was in ihren Kräften steht, tun, damit wir dieses Ziel erreichen —, dann besteht eine gute Chance, daß alle vier Länder zeitgerecht — wie wir es uns vorgenommen haben — zum 1. Januar 1995 in die Europäische Union aufgenommen werden können.
Ich möchte ausdrücklich feststellen: Alle vier Länder sind Deutschland als enge Partner in der erweiterten Europäischen Union herzlich willkommen.
Sie bereichern und sie stärken die Union.Mit der gebotenen und auch notwendigen Bescheidenheit möchte ich feststellen, daß wir ohne den Beitrag der Bundesregierung sicher nicht so weit wären.
Ich fühle mich bestätigt und gerechtfertigt darin, daß wir auf das Tempo gedrückt und so das notwendige Momentum erzeugt und weitergetragen, daß wir vermittelt und geholfen haben. Ich möchte bei dieser Gelegenheit all denjenigen in der Bundesregierung und auch darüber hinaus danken, die daran mitgewirkt haben, daß es so weit gekommen ist. Wir haben ja in den letzten Wochen Marathons hinter uns gebracht, die selbst für Brüsseler Verhältnisse einmalig waren.Das Ziel ist greifbar nahe. Es darf einfach nicht sein, daß diese für ganz Europa so wichtige Erweiterung an einigen Tausend Tonnen Kabeljau scheitert. Das kann nicht richtig sein.
Ich habe in der Nachtverhandlung erklärt, daß es wirklich nicht richtig sein kann, daß wir hier über Dimensionen verhandeln und sprechen, die 2, 3, 4 Millionen ECU ausmachen. Daran darf der Beitritt Norwegens nicht scheitern.
Es darf auch nicht sein, daß der Prozeß der europäischen Einigung auf Grund interner Probleme unter den Altmitgliedern einen schweren Rückschlag erleidet. Niemand soll sich täuschen: Ein Scheitern der Beitrittsverhandlungen würde eine ernste Krise für Europa auslösen.Ich appelliere deshalb von dieser Stelle an die spanische und vor allem auch an die britische Regie-
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18592 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelrung, konstruktiv daran mitzuwirken, daß wir das so nahe Ziel am Dienstag erreichen.
Meine Damen und Herren, die erweiterte Europäische Union wird den größten Markt der Welt darstellen, mit 370 Millionen Menschen und einer deutlich höheren Wirtschaftskraft als die USA oder Japan. Zwei von drei deutschen Arbeitsplätzen im Export hängen vom Handel in diesem Wirtschaftsraum ab. Ich sage nochmals, auch hier im Deutschen Bundestag: Es gibt kein großes Industrie- und Wirtschaftsland auf dieser Erde, das vergleichbar so wie Deutschland wirtschaftlich von einer einzigen Region, nämlich Europa, abhängig ist. Auch das muß man den Deutschen immer wieder sagen.
Die Erweiterung ist aus deutscher Sicht auch vorteilhaft, weil die Vorstellungen der beitretenden Länder in Fragen des Umweltschutzes und der sozialen Sicherung weitgehend unseren eigenen entsprechen.Außerdem werden drei Beitrittsländer, vielleicht auch Finnland, Nettozahler sein. Das wird anfangs nicht voll zu Buche schlagen, weil die Union bei der Überwindung der schwierigen Anfangsprobleme Hilfestellung leistet, aber es wird in der späteren Zeit wichtig sein. Der Beitritt wirtschaftsstarker europäischer Nachbarn wird auf mittlere Sicht zu unserer, zur deutschen Entlastung beitragen.Meine Damen und Herren, einen wichtigen Vorteil wird die Mitwirkung der vier Länder an der Entwicklung einer gemeinsamen AuBen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union darstellen. Auch die bisher neutralen Staaten Österreich, Schweden und Finnland akzeptieren — das ist ganz wichtig — ohne Wenn und Aber den außenpolitischen Besitzstand der Union und verpflichten sich auf die im Vertrag festgelegten Ziele.
Sie verfügen im übrigen — das darf auch nicht vergessen werden — außenpolitisch vor allem in den Vereinten Nationen bei friedenswahrenden Aktionen über ein ganz hohes Profil und sehr große Erfahrung. Das wird der Union und der Entwicklung ihrer eigenen Identität gerade in diesem Bereich zugute kommen.
Die Bundesregierung geht am 15. März mit dem festen Willen nach Brüssel, um für Norwegen den Durchbruch und in allen sonstigen offenen Fragen einen Konsens zu erzielen. Ihre Kompromißbereit-schaft — das möchte ich allerdings auch deutlich und ganz ruhig und sachlich sagen — findet aber dort Grenzen, wo der Erfolg der Referenden in den Beitrittsländern oder die Zustimmung des Europaparlaments gefährdet werden.Das wäre z. B. dann der Fall, wenn die Schwelle für die Sperrminorität im Rat so niedrig angesetzt wird, daß Mehrheitsentscheidungen erheblich erschwert werden. Wir wollen am 15. März die Verhandlungen mit allen vier Ländern förmlich abschließen und hoffen, daß alle anderen Partner im gleichen Geiste handeln.
Die Zeit drängt, wollen wir noch den 1. Januar 1995 für den Beitritt erreichen. Ehe die Verträge unterzeichnet werden können, muß das Europäische Parlament zustimmen. Ich appelliere ebenfalls von hier aus an seine Abgeordneten, der politischen Bedeutung der Erweiterung Rechnung zu tragen und ungeachtet der bevorstehenden Neuwahl und ohne Formalismus das Vertragswerk zügig zu behandeln.
Ich bin sicher — das muß auch das Europäische Parlament wissen und beachten —, daß dies für die Glaubwürdigkeit der Europapolitik gerade vor den europäischen Wahlen am 12. Juni sehr bedeutsam ist.
Voraussetzung für den Beitritt zum 1. Januar 1995 ist neben der Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie der Ratifizierung der Beitrittsverträge ein positiver Ausgang der Volksabstimmungen in den Beitrittsländern. Auch das sollten und dürfen wir nicht vergessen. Das muß bei den Gesprächen am 15. März vor allem von unseren Partnern im Hinterkopf behalten werden.Ich bin hier Optimist. Die nordischen Länder und Österreich haben sorgfältig abgewogen. Sie wissen, daß ihre Zukunft in der Europäischen Union liegt. Sie wissen auch, daß sie keinen Verlust an nationaler Eigenheit und heimischer Lebensweise befürchten müssen.Die Europäische Union steht für ein Europa der Vielfalt, für ein Europa der Bürger und der Regionen. Ich möchte dem Deutschen Bundestag ausdrücklich für die kontinuierliche Unterstützung der Verhandlungsführung der Bundesregierung Dank sagen. Das Bewußtsein, gerade bei so schwierigen Verhandlungen — sie waren und sind schwierig — auf der Grundlage eines breiten politischen Konsenses handeln zu können, bedeutet Stärke.Ich hoffe, daß auch der Deutsche Bundestag, der den Beitrittsverträgen zustimmen muß, das Seine tun wird, damit wir das Zieldatum erreichen. Es wäre wichtig für Europa, und es wäre auch wichtig für Deutschland. Deshalb hoffen wir darauf, daß am Dienstag der endgültige Durchbruch gelingt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18593
Als nächstes spricht die Abgeordnete Heide Wieczorek-ZeuL
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß die Aufnahme Norwegens in die Europäische Union am 8. März noch nicht hat zustande kommen können, ist unverzeihlich. Die Süderweiterung 1986 um Spanien und Portugal war vor allem auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil Länder, die Jahre davor noch Diktaturen waren, in die Familie der europäischen Demokratie zurückkehrten.Die sogenannte Norderweiterung, die jetzt ansteht und die am 1. Januar 1995 kommen soll und muß, ist deswegen von zentraler Bedeutung, weil sich Westeuropa damit endgültig politisch zusammenschließt und die Verbindung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit den ehemaligen EFTA-Staaten endgültig wird. Es geht also, liebe Kolleginnen und Kollegen, um eine Jahrhundertentscheidung und nicht um Fisch oder Fleisch.
Haben die Mitgliedsregierungen der Europäischen Union am 8. März bedacht, welche längerfristigen fatalen Auswirkungen das Gezerre um den norwegischen Beitritt zur Europäischen Union in einem Land wie Norwegen haben könnte, dessen Bevölkerungsmehrheit 1972 gegen die Aufnahme votiert hat und dessen Regierung sich in den Verhandlungen dieser Woche sehr konstruktiv auch gegenüber Kompromissen gezeigt hat?Ich möchte an Sie appellieren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir alle müssen ein Interesse daran haben, daß die Verhandlungen mit diesen vier Beitrittsländern so geführt werden, daß anschließend die Bevölkerung in diesen vier Ländern ein positives Votum abgeben kann; denn ein negatives Votum, auch nur in einem von ihnen, schon gar in allen vier, würde auch die Stabilität der Europäischen Union nicht unbeeinträchtigt lassen; denn die Europäische Union ist in ihrem Innern — das hat das Beispiel des Maastricht-Ratifizierungsprozesses ja gezeigt — weiß Gott noch weit davon entfernt, die Akzeptanz der Bevölkerung für ihre politischen Entscheidungen zu haben.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt, daß Finnland, Schweden und Österreich Mitglied der Europäischen Union werden sollen und daß die Verhandlungen — jedenfalls bis zur letzten Woche — zu einem vorläufig guten Ende geführt wurden. Wir erwarten und verlangen aber, daß allerspätestens nächste Woche auch der Beitritt für Norwegen endgültig wird und damit alle vier Länder in die Europäische Union einbezogen werden.
An die Menschen in den vier Beitrittsländern gerichtet, möchte ich von dieser Stelle aus sagen: Wir werben darum, daß Ihre Länder Mitglied in der Europäischen Union werden. An die Menschen bei uns gerichtet möchte ich sagen: Daß sie Mitglied werden, ist auch im Interesse der Bevölkerung in den zwölf EU-Mitgliedstaaten.
Durch Finnland, Norwegen, Schweden und Österreich würde die Europäische Union gewinnen. Sie würde nämlich an neuer, positiver Qualität gewinnen. All diese Länder haben wichtige sozialstaatliche Traditionen, die helfen werden, aus einer wirtschaftslastigen Europäischen Union eine Sozialunion zu machen. Das ist gut für die Europäische Union.
Sie helfen, die sozialen Standards zu erhöhen, sowohl bei den Rechten für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen als auch bei denen der Frauen.
Ich erinnere daran, daß z. B. Österreich und Norwegen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in ihren Ländern wichtige Erfolge erzielt haben und daß sie bei der Arbeitslosenquote unter dem Durchschnitt der Bundesrepublik und vor allen Dingen auch der Europäischen Union liegen.Ich erinnere daran: Diese Länder haben hohe Umweltstandards. Sie helfen, aus der wirtschaftslastigen Europäischen Union eine Umweltunion zu machen, und das ist gut für unser Land und die Bevölkerung in unseren Ländern.
Ich nenne nur das Beispiel des sogenannten Alpentransits für Österreich. Dieses sollte ebenso wie das Schweizer Votum endlich Anlaß für die Europäische Union und ihre Mitgliedsregierungen sein, ihre Verkehrspolitik zu verändern. Schwerlastverkehr muß auf den weiten Strecken auf die Schiene, und es ist höchste Zeit, daß hier in der Europäischen Union umgesteuert wird. Wir werden davon alle profitieren.
Es ist gut, daß sich die Europäische Union gegenüber Österreich in dieser Frage kompromißbereit gezeigt hat. Sie hat sich damit aber nicht nur gegenüber den Interessen der österreichischen Bevölkerung kompromißbereit gezeigt: Das ist auch im Interesse der deutschen Bevölkerung. Bei uns will auch niemand, daß sich der Schwerlastverkehr, der im Rahmen des EG-Binnenmarkts in den nächsten Jahren dramatisch anwachsen wird, über die Autobahnen und die Straßen schleppt. Wir wollen, daß diese Verkehrslasten auf der Schiene befördert werden.
Deshalb muß die Europäische Union aus Anlaß der Erweiterung auch ihre eigene Verkehrspolitik ändern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union würde durch die Erweiterung reicher. Diese vier Länder haben — Herr Außenminister Kinkel hat es erwähnt — eine lange demokratische und zivile
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18594 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Heidemarie Wieczorek-ZeulTradition. Sie werden helfen, die wirtschaftslastige Europäische Union zu einer demokratischen Union zu entwickeln, die ihr Verhältnis zu den Entwicklungsländern des Südens nach dem Prinzip der Partnerschaftlichkeit gestaltet.Letztlich: Ihr Beitritt würde Europa insgesamt reicher machen; denn nur ein handlungsfähiges Westeuropa bringt die Stärke auf, um all die Hilfe zu leisten, die ost- und mitteleuropäische Länder brauchen, damit die demokratischen und sozialen Reformen bei ihnen selbst gelingen können. Auch deshalb ist die Erweiterung notwendig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Erweiterungsverhandlungen schlägt aber auch die Stunde der Wahrheit für die Mitgliedstaaten und Regierungen der Europäischen Union selbst, eine Wahrheit, die noch bei den Maastricht-Verhandlungen beiseite gedrängt wurde, nämlich die Frage: Welches Europa soll eigentlich gestaltet werden; ein Europa, das auf dem Prinzip der bloß nationalen Zusammenarbeit seiner Regierungen und auf einer Freihandelszone basiert, oder ein Europa, das wirtschaftlich, sozial, ökologisch und politisch gestaltet und deshalb auch Mehrheitsentscheidungen akzeptieren muß und sich nicht von einigen wenigen Regierungen lähmen lassen darf?
Deshalb appellieren wir an diesem Tag an alle Mitgliedsregierungen der Europäischen Union: Seien Sie sich der Verantwortung für die Zukunft Europas bei den Beratungen nächste Woche bewußt. Wir appellieren an die englische Regierung: Sie haben sich immer für eine Erweiterung engagiert. Verhindern Sie jetzt nicht über Verfahrensfragen oder Sperrminoritäten, daß diese wegweisende Entscheidung zustandekommt.
Wir appellieren an die spanische Regierung: Wir haben uns alle mit Ihnen, mit dem spanischen Volk, 1986 dafür engagiert, daß Spanien Mitglied der Europäischen Gemeinschaft hat werden können.
Wir appellieren deshalb an die spanische Regierung — ich bin sicher, die spanische Bevölkerung wird unseren Appell gut verstehen —:
Engagieren Sie sich jetzt mit ganzem Herzen dafür, daß Norwegen die Chance ergreifen kann, die Ihnen die anderen Länder Europas 1986 eröffnet haben.
Wir appellieren an das Europäische Parlament: Wenn die Verhandlungen in der nächsten Woche den — wie wir hoffen — endgültigen Erfolg bringen, schaffen Sie dann mit Ihrer Zustimmung die Voraussetzungen dafür, daß die vier Länder noch am 1. Januar 1995 Mitglied der Europäischen Union werden können, und verzögern Sie die entsprechende Abstimmung in keiner Weise!Wir selbst sollten aus den jetzigen Verhandlungen und ihren Begleiterscheinungen Lehren für die Weiterentwicklung Europas ziehen:Erstens. Die Europäische Union braucht spätestens nach der Erweiterung eine Reform an Haupt und Gliedern. Wenn Sie sehen, wie schwierig es schon jetzt ist, zwischen den Regierungen entsprechende Ergebnisse zu erzielen, dann wird klar: Es ist notwendig, daß die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union zukünftig effektiver, demokratischer und vor allen Dingen für die Bevölkerung durchschaubarer werden.
Zweitens — ich weiß, daß dies nicht jeder so sieht, aber ich finde, daß wir in diesen Fragen uns allen gegenüber ehrlich sein müssen —: Die Vorstellung, die Europäische Union könne nach allen Seiten beliebig wachsen, ist eine gefährliche Illusion. Wer die EG zu einer „Mega"-Europäischen Union entwickeln möchte, macht sie zu einer „Kleinen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" und verdammt sie damit zu einer gewissen Handlungsunfähigkeit. Er würde damit die einzige Institution, die die Kraft hat, Mittel- und Osteuropa zu stützen und abzusichern und damit auch die entsprechenden Prozesse dort zu finanzieren und abzustützen, nämlich die Europäische Union, schwächen.
— Der Kollege Irmer hat etwas nicht verstanden. Mit Erlaubnis der Frau Präsidentin erkläre ich es noch einmal: Eine unbegrenzte Erweiterung der Europäischen Union — von manchen offensichtlich so verstanden — würde nicht im Interesse der beteiligten Länder und der Europäischen Union liegen, weil wir die Europäische Union in ihrer Entscheidungsfähigkeit jetzt stabilisieren und stärken müssen.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, Herr Kollege Irmer hat eine Frage an Sie.
Bitte, Herr Kollege Irmer.
Verehrte Frau Kollegin, ich habe es immer noch nicht verstanden. Sie reden von einer „Mega"-Union, die sicher niemand will. Sie müßten uns aber schon genau sagen, welche Länder Sie damit gemeint haben. Wollen Sie ausschließen, daß die Länder östlich von uns, z. B. die Visegrad-Staaten, eines Tages Mitglieder der Europäischen Union werden? Ich teile Ihre Auffassung, daß es keine „Mega"-Union mit uferloser Beitrittsmöglichkeit werden darf. Aber Sie wissen doch, daß im Vertrag steht: Jedes europäische Land kann Mitglied werden. — Ich möchte von Ihnen ganz präzise wissen, ob Sie nicht auch der Meinung sind, daß z. B. Ungarn, Polen und die Tschechische Republik, um nur einige zu nennen,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18595
Ulrich Irmerin absehbarer Zeit — und zwar sehr bald — Mitglieder der Europäischen Union werden sollten.
Lieber Herr Kollege Irmer, Ihre Frage zeigt, daß Sie die vorliegende Beschlußempfehlung, die der Deutsche Bundestag heute annehmen soll, nicht gelesen haben. Darin steht nämlich die entsprechende Antwort, die von uns allen nach den Beratungen im EG-Ausschuß gegeben worden ist. Was ich hier sagen will, betrifft etwas, von dem ich weiß, daß es auch in Ihren Fraktionen ein Diskussionspunkt ist — ich habe gesehen, wie der Kollege Lamers, der bei mir selten zustimmend nickt, an dieser Stelle zustimmend genickt hat —:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin dafür, daß wir keine unrealistischen Erwartungen wecken, sondern mit Beitrittskandidaten realistisch sprechen, sollen damit Länder in Zukunft nicht enttäuscht werden, die in einem solchen Fall mit entsprechenden Auswirkungen auf ihre innere Diskussion zu rechnen hätten. Dies ist meine Auffassung dazu.
Jetzt hat mich der Kollege Irmer vorhin noch von dem letzten Punkt abgelenkt, den ich am Schluß mit ansprechen will.
Wie Europa weiter gebaut und ausgestaltet werden soll, darf, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht in Beamtenstuben und in den Denkstrukturen der bisherigen Europapolitik entwickelt und vorbereitet werden. Wir warnen deshalb an dieser Stelle davor, die Konferenz, die Maastricht 1996 überprüfen soll, wieder auf dem alten Wege vorzubereiten. Das nächste Jahr, 1995, nach dem — hoffentlich dann erfolgten — Beitritt der vier genannten Länder, sollten wir für eine große, öffentliche Debatte in unserem Land über die weitere Entwicklung Europas nutzen.
Das Ziel dieser Debatte muß vor allen Dingen sein, eine bessere Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen an Entscheidungen zu erreichen. Jede neue vertragliche Regelung für die Europäische Union muß einem Votum der Bevölkerung in Deutschland unterworfen werden. Auch das muß deutlich sein. Eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung wird derartige Initiativen ergreifen.
Brüssel muß der Ort sein, an dem zukünftig nicht nur Meinungen der Regierungen, sondern auch Meinungen der Bevölkerung ausgetauscht werden, damit Europa eine Zukunft hat.
Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwar haben wir keinen Grund zur uneingeschränkten Freude, aber ich finde schon, daß wir uns über den Erfolg freuen sollten, den Europa durch den erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen für drei wichtige und uns sehr liebe Länder, für Finnland, Schweden und Österreich, erreicht hat.
Es ist, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, keine Pflichtübung — ich glaube, das nimmt mir auch die Opposition ab —, wenn ich an dieser Stelle ein sehr herzliches und aufrichtiges Wort des Dankes an den Bundesaußenministerrichte.
Lieber Herr Kinkel, Sie haben soeben gesagt, die Verhandlungen haben in der Tat erst im April des vergangenen Jahres begonnen. Mit Spanien hat das alles in allem zehn Jahre gedauert, und deswegen ist das schon ein ungeheurer Erfolg, auch von dem Zeitrahmen her, der eingehalten werden konnte. Was Sie dabei im einzelnen getan haben, das wissen wir nicht alles, aber das, was wir wissen, ist wirklich ein Grund, zu sagen: Das hat sich gelohnt, und wir danken dafür.
Ich glaube, niemand wird besser als der Bundesaußenminister verstehen, wenn ich sage: Die starke Kraft im Hintergrund und zuweilen auch im Vordergrund, derjenige, der das alles erst auf den Weg gebracht und in dieser Form ermöglicht hat, war der Bundeskanzler.
Er ist europäische Erfolge gewissermaßen gewohnt, das ist wahr; aber nichtsdestoweniger besteht aller Anlaß, auch ihm noch einmal sehr herzlich zu danken.
Weshalb ist das eigentlich ein Erfolg, meine Damen und Herren? — Zuerst wird immer gesagt, das sind Nettozahler. Aus der Sicht dieser Länder ist das sicherlich nicht das Wichtigste, im Gegenteil. Es ist ein Erfolg, weil diese Länder in die Europäische Union wollen und diese Union damit eine Bereicherung erfährt, und zwar zunächst einmal in kultureller Hinsicht, wie ich meine.Erstens freuen wir uns über diese Bereicherung durch die Eigenarten dieser Länder, die Europa, das Europa der Europäischen Union, erzielt.Zweitens freuen wir uns aber auch darüber, daß diese Länder ein politisches Europa wollen. Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, da sind wir einig. Sie wollen ein politisches Europa und keine Freihandelszone,
und das ist, glaube ich, mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger.18596 Deutscher Bundestag — 1'2. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994Karl LamersDrittens freuen wir uns natürlich auch, weil Deutschland auf diese Weise in vielen kritischen Fragen zuverlässige und gute Partner gefunden hat und weil diese Länder sicherlich an unserer Seite stehen werden, wenn es um die Erweiterung der Gemeinschaft um die Reformländer im östlichen Teil unseres Kontinents geht.Aber, meine Damen und Herren, die Verhandlungen und vor allen Dingen das, was noch offensteht, haben auch gezeigt, daß wir nach der Erweiterung — nach der hoffentlich bald stattfindenden Erweiterung — durch die genannten Länder in keiner leichten Lage sind.Die spanische Position ist vielfach kritisiert worden. Ich will gleich hinzufügen: Das, was von spanischer Seite gesagt worden ist, ist nur zum geringsten Teil akzeptabel. Aber wir sollten die Sorgen der Spanier ernst nehmen, Herr Minister. Spanien hat sich immer als ein außergewöhnlich konstruktives Mitglied der Gemeinschaft erwiesen, gerade wenn es um die Politik ging. Wir sollten schließlich auch nicht vergessen, daß Spanien doppelt so viele Einwohner wie ganz Skandinavien zusammengenommen hat. Auch das ist ein Faktor, den man bei aller Freude über die neuen Mitglieder nicht vergessen darf.Was die spanische Position in der Frage des Minderheitenquorums angeht, so ist sie so nicht akzeptabel. Aber der Grundansatz, nämlich eine doppelte Mehrheit — sowohl von Staaten wie auch von Bevölkerungen —, ist ein guter Ansatz, den nicht nur ich, sondern beispielsweise auch französische Politiker für die institutionelle Reform, die vor uns steht, öfters vorgeschlagen haben.Nicht akzeptabel — das sage ich mit allem Nachdruck, Herr Minister — ist die Position Großbritanniens. Ich kann nicht sagen, daß ich enttäuscht bin, denn das würde heißen, daß ich mich getäuscht hätte; das habe ich nicht. Es ist leider eine Bestätigung meiner Befürchtungen, die ich immer gehabt habe. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie dieser Position nicht nachgibt. Denn der Preis wäre ganz entschieden zu hoch. Das würde in der Tat der Anfang des Wegs zur Verwässerung der Gemeinschaft zu einer Freihandelszone sein. Das kann nicht die Politik der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesregierung sein.Deswegen kommt es jetzt sehr darauf an, daß wir die richtigen Schritte tun. Was müssen wir in der Zukunft tun, um die Gemeinschaft zusammenzuhalten? Mit der Vergrößerung ist sie auch spannungsreicher geworden; das ist keine Frage. Da möchte ich zunächst sagen, daß vor allen Dingen wir Deutschen die Aufgabe haben, Europa zusammenzuhalten. Das ergibt sich aus unserer Lage, von der Sie, Herr Minister, soeben zu Recht gesprochen haben. Aber ich will in aller Deutlichkeit gleich hinzufügen: Wenn wir es alleine versuchten, würden wir es nicht schaffen. Wir schaffen es nur zusammen, vor allen Dingen mit Frankreich. Nach meiner festen Überzeugung ist die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland noch wichtiger geworden, als sie es vorher war.
Wir brauchen den festen Kern in Europa, sonst werden wir eine Gruppe Süd-West unter der Führung von Frankreich und eine Zone Nord-Ost unter der Führung von Deutschland haben. Das wäre im Grunde eine Wiederkehr des alten Systems im Vorkriegsdeutschland, das viel Elend über alle Länder, vor allen Dingen aber über unser eigenes Land, gebracht hat.
— Die Briten müssen wir auch dabei haben. Aber sie müssen, lieber Kollege Irmer, selber wollen, und zwar in einer bestimmten Weise wollen.
Sie dürfen nicht wollen, was wir eben nicht wollen können, nämlich ein Freihandelseuropa. Das kommt in dem, was sich jetzt im Zusammenhang mit der sogenannten Sperrminorität abspielt, leider zum Ausdruck.Des weiteren müssen wir jetzt die institutionelle Reform, die Regierungskonferenz von 1996, intensiv vorbereiten. Sie wissen alle, daß nicht nur ich persönlich, sondern viele Kollegen meiner Fraktion Bedenken gegenüber dem Beschluß von Lissabon hatten. Ob er letztlich richtig war, ist noch nicht endgültig bewiesen. Ich hoffe sehr, daß meine Skepsis widerlegt und der Optimismus der Bundesregierung bestätigt wird. Aber die Regierungskonferenz 1996 — das macht die Diskussion über die Sperrminorität nur allzu deutlich — zeigt: Es wird nicht leicht sein. Deswegen müssen wir diese Diskussion vor allen Dingen hierzulande führen. Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, da sind wir einer Meinung: Wir müssen sie hier führen.Ich glaube, daß wir in den zentralen Fragen hier einer Meinung sind. Alle wesentlichen Institutionen der Gemeinschaft müssen reformiert werden, nicht zuletzt das Parlament. Weil hier so viel an das Europäische Parlament appelliert worden ist, will auch ich das tun. Ich will aber auch hinzufügen, Herr Minister: Die Art und Weise, wie das Europäische Parlament jetzt entscheiden muß, kommt für ein Parlament, das seinen Auftrag ernst nimmt — ich sage es vorsichtig — einer Zumutung nahe.
— Das ist nicht unsere Schuld; das ist wohl wahr. Aber es ist vor allen Dingen nicht die Schuld des Parlaments. Auch das muß man sagen. Wenn wir das Parlament unsererseits ernst nehmen wollen, dann dürfen wir es eigentlich nicht in eine solche Lage bringen.Gerade Finnland, Schweden und Österreich werfen neue Fragen in der Außen- und Sicherheitspolitik auf. Sie wollen, habe ich soeben gesagt, gottlob ein politisches Europa. Sie wollen in die Europäische Union nicht zuletzt aus sicherheitspolitschen Gründen — aus sicherheitspolitischen Gründen im weitesten Sinne —, aber unter Einschluß auch militärischer Sicherheit. Sie warten auf unsere Initiativen.Wir werden Mitglieder in der Europäischen Union haben, die nicht Mitglied in der NATO sind. Das kann
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18597
Karl Lamersauf Dauer nicht gutgehen. Deswegen müssen wir den europäischen Pfeiler in der Allianz schaffen und auch diesen Ländern den Weg in die NATO über die europäische Integration der Verteidigung ebnen. Da müssen wir uns jetzt mit aller Macht drangeben. Auch das wiederum ist nicht zuletzt eine Frage deutschfranzösischen Einvernehmens.Ich weiß, hier gibt es auch in Teilen der Regierung manchmal gewisse Schwierigkeiten, wenn es um die Konkretisierung der Idee vom europäischen Pfeiler geht. Es gibt dazu keine Alternative, wenn die Allianz Zukunft haben soll, und sie muß und soll Zukunft haben. Ob sie das hat, das hängt nicht zuletzt von Deutschland, von unserer Politik ab. Ich fordere uns also auf, daß wir das tun, was Europa so dringend braucht wie irgend etwas und was wichtiger ist als alles andere, nämlich dafür zu sorgen, daß Europa Erfolge hat. Das ist das Wichtigste, auch gegenüber der internen Kritik in unserem Lande.Vielen Dank.
Als nächste nimmt das Wort die Kollegin Uta Würfel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen der F.D.P.-Fraktion danke ich unserem Bundesaußenminister, Dr. Kinkel, für seinen großartigen persönlichen Einsatz.
Sie waren es, Herr Dr. Kinkel, der unermüdlich auseinanderdriftende Positionen wieder zusammengeführt hat. Ihrer Zähigkeit und Ihrem Verhandlungsgeschick ist dieses Ergebnis maßgeblich zu verdanken.
Norwegen ist noch nicht mit im Boot. Wir Freien Demokraten hoffen, daß es gelingt, in der nächsten Woche zu einem positiven Abschluß zu kommen. Dies ist auch notwendig, liebe Kolleginnen und Kollegen, um im Zeitplan bleiben zu können, der als geplanten Beitrittstermin für alle vier Staaten den Anfang nächsten Jahres vorsieht. Bis dahin bleibt noch viel zu tun.Die Beitrittsverträge müssen in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert werden. Darüber hinaus sind in den Beitrittsländern Referenden vorgesehen. Die Verträge bedürfen auch noch der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Die Vorbereitungen hierfür kosten selbstverständlich Zeit, und diese Zeit wird mit fortschreitender Dauer der Verhandlungen mit Norwegen immer knapper. Die erfolgreiche Erweiterung — auch die Vorredner haben das bestätigt -- der Europäischen Union ist ein nicht zu unterschätzender Meilenstein für die europäische Einigung. Die neuen Länder werden die Gemeinschaft durch ihre demokratische Kultur, aber auch ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ihre hochentwickelten Volkswirtschaften stärken. Dies kommt allen Mitgliedstaaten zugute.
Ich bin überzeugt, der Beitritt der EFTA-Staaten wird der Europäischen Union neue Impulse geben. Dies haben auch die Erfahrungen aus der Vergangenheit gezeigt; denn die Erweiterung der EG in der Vergangenheit hat nicht nur in den neu hinzugekommenen Ländern einen Wachstumsschub ausgelöst, sondern auch in den alten Mitgliedstaaten. Es kann deshalb nicht oft genug gesagt werden: Die Erweiterung der Europäischen Union bedeutet gerade für uns größere Absatzmärkte für unsere Produkte. Sie erlaubt größere Produktvielfalt, stärkeren Wettbewerb, intensivere Arbeitsteilung, und sie bringt damit mehr Arbeitsplätze und einen gesicherten Wohlstand.
Dies ist leider nicht jedem bei uns bekannt.Offensichtlich haben wir — Politiker, Medien — in der Kommunikation mit den Bürgern in der Vergangenheit Fehler gemacht. Es muß in den vor uns liegenden Wochen und Monaten gelingen, der Bevölkerung zu vermitteln, daß wir Europa brauchen, daß nur die Gemeinschaft der europäischen Staaten im Zeichen sich weltweit verschärfender wirtschaftlicher Konkurrenz und weltpolitischer Wirren eine gesicherte Zukunft und Frieden gewährleistet.
Gerade vor diesem Hintergrund ist der Abschluß der Beitrittsverhandlungen ein großer Erfolg. Die Europäische Union hat ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Sie hat den Zweiflern bewiesen, daß sie auch unter schwierigen Bedingungen und bei allen unterschiedlichen Interessenlagen in der Lage ist, Entscheidungen von historischer Tragweite zu treffen. Das ist gut so; denn Europa hat Erfolge dringend nötig.
Es ist schon bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie groß die Anziehungskraft der Europäischen Union für Außenstehende wie die beitrittswilligen EFTA-Staaten oder die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas ist. Dieses Begehren anderer Staaten, der Europäischen Union angehören zu dürfen, steht im krassen Gegensatz zu der Stimmungslage in unserem Lande,
die durch Äußerungen von Bedenkenträgern und Miesmachern veranlaßt und gekennzeichnet ist.
Wir Liberale sagen unseren Bürgern: Es gibt kein Zurück aus der europäischen Integration, wenn wir wirtschaftlich und politisch in Europa und in der Welt unseren Platz behaupten wollen.
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18598 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Uta WürfelWir haben zur Fortsetzung der europäischen Integration keine Alternative. Viele Menschen wissen inzwischen, daß die Umweltverschmutzung weder in der Luft noch in den Gewässern an den Grenzen haltmacht. Sie wissen, daß die Globalisierung der Märkte unaufhaltsam voranschreitet und daß das organisierte Verbrechen — leider — längst europaweit handelt. Dieser Sachverhalt alleine schon macht ein gemeinsames europäisches Zusammengehen unabdingbar. Vielen Menschen ist bewußt — allerdings nicht Herrn Stoiber —, daß der Nationalstaat alter Prägung auf vielen Gebieten nicht mehr in der Lage ist, die ökologischen, ökonomischen und die innen- und außenpolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.Wir haben am Ende dieses Jahrhunderts die große Chance zu einem friedlichen Zusammenwachsen unseres europäischen Kontinents erhalten. Wir dürfen uns diese günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen; wir dürfen sie nicht verpassen.
Deshalb wollen wir, daß auch die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas, mit denen die Europäische Union Europaverträge abgeschlossen hat, möglichst bald der Europäischen Union beitreten können. — Da unterscheiden wir uns offensichtlich von Ihrer Auffassung, Frau Wieczorek-Zeul. — Das Ergebnis der Verhandlungen mit den EFTA-Staaten ist hierfür ein positives Signal. Ich erwarte, daß die europäischen Abgeordneten bei der Abstimmung des Europäischen Parlaments im Mai der Erweiterung zustimmen werden und daß sie noch zögernde europäische Kollegen überzeugen.Natürlich haben wir alle Verständnis für die Sorgen des Europäischen Parlaments bezüglich der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach ihrer Erweiterung. Die Erweiterung der Union um weitere Mitglieder darf natürlich nicht dazu führen, daß Mehrheitsentscheidungen im Rat in Zukunft schwieriger werden. Dies wäre kein Fortschritt für die europäische Integration, sondern ein Rückschritt.
Die F.D.P.-Fraktion unterstützt daher die Bundesregierung in ihrem Bemühen, bei der Festlegung der Mehrheitsverhältnisse im Rat an den bisherigen prozentualen Relationen festzuhalten und diese für die erweiterte Union festzuschreiben.
Wir Liberale sind der Auffassung, daß das Europäische Parlament bei der Folgekonferenz zu Maastricht im Jahre 1996, in der vor allem die institutionellen Fragen der Europäischen Union behandelt werden, stärker beteiligt werden sollte.Im Namen der F.D.P.-Fraktion wünsche ich unserem Außenminister, Herrn Dr. Kinkel, am nächsten Dienstag den Durchbruch bei den Verhandlungen mit Norwegen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Hans Modrow.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegen eine Erweiterung der Europäischen Union ist gewiß nichts einzuwenden. Im Gegenteil, sie ist zu begrüßen. Die PDS/ Linke Liste will, daß sich die Europäische Union öffnet, daß an europäischer Integration möglichst viele Staaten teilnehmen, daß Gesamteuropa gestaltet wird. Und wir verstehen die Freude der Bundesregierung darüber, daß endlich einige Nettozahler hinzukommen.Zugleich sind diese Beitrittsverhandlungen äußerst lehrreich, vor allem für jene, die einen Beitritt anstreben oder in Erwägung ziehen. Obwohl es sich in diesem Fall um hochentwickelte Industriestaaten handelt, die bereits im sogenannten Europäischen Wirtschaftsraum verbunden sind, ist die Bereitschaft auf seiten der Union deutlich eingeschränkt, bei der Aufnahme neuer Staaten spezifische Aspekte ihrer Interessen zu beachten.Und nicht nur das. Die Europäische Union schreibt vor, wie der Maßanzug für jedes beitrittswillige Land auszusehen hat. Um wieviel anders werden die Vorgaben ausfallen, wenn es sich um die ost- und südosteuropäischen Länder handeln wird! Ebenso ist abzusehen, daß sie ihren Anzug — um im Bild zu bleiben — erst irgendwann im nächsten Jahrtausend bekommen werden. Ihre Probleme und die Europas müssen aber heute gelöst werden.Unbestritten ist wohl auch, daß diese Verhandlungen mit ehemaligen EFTA-Staaten lange nicht so ausgegangen wären, wie geschehen, hätte nicht allen Beteiligten die Öffentlichkeit im Nacken gesessen, da ja überall Volksabstimmungen durchgeführt werden müssen. Österreich setzte damit die volle Laufzeit seines Transitabkommens durch. Für Schweden wurde ein Fonds für die dünnbesiedelten Gebiete geschaffen, weil es ansonsten blanker Nettozahler geworden wäre und damit bei der Volksabstimmung niemals eine Chance gehabt hätte. Einmal mehr zeigt sich, wie berechtigt und aktuell unsere Forderung ist, bei wichtigen europapolitischen Weichenstellungen auch in der Bundesrepublik Volksbefragungen durchzuführen.Meine Damen und Herren, diese Beitritte sind auch in anderer Richtung lehrreich. Es ist offensichtlich, daß die Europäische Union à la Maastricht als ein auf Westeuropa begrenzter Interessenblock gestaltet wird: schneller Weg zur Wirtschafts-, Währungs- und Politischen Union unter Einschluß einiger relativ starker west- und nordeuropäischer Länder, aber unter Ausschluß Osteuropas.
Den weltwirtschaftlichen Konkurrenzinteressen der starken westeuropäischen Staaten und ihrer Wirtschaftskreise wird absolute Priorität eingeräumt. Die Frage, ob die so seit Jahrzehnten gewachsenen inneren Strukturen, Regeln und Zielsetzungen unter den veränderten gesamteuropäischen Bedingungen nicht grundsätzlich überprüft und geändert werden müßten, wird gar nicht erst zugelassen, geschweige denn ernsthaft diskutiert.
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Dr. Hans ModrowSo wird auch verdeckt, daß in der Umbruchsituation der letzten fünf bis zehn Jahre die Chance zu einer Diskussion über vernünftige Zukunftsmodelle für Europa, für seinen Platz in der Welt, für seine Rolle auf dem Weg in das 21. Jahrhundert vertan wurde. Genauer gesagt, sie wurde weggeschoben, verhindert, nicht zuletzt mit beträchtlichem Zutun auch der Bundesregierung. Denn wer spricht heute noch vom gesamteuropäischen Haus, von einer europäischen Friedensordnung, auf die die Bundesregierung angeblich immer hingearbeitet hat? Waren das nur Zweckerklärungen, oder war es wirkliche Absicht?Im gegenwärtigen Europakonzept der Bundesregierung kommen das Zusammenwachsen von Ost und West und damit Gesamteuropa für die nächsten 10 bis 20 Jahre lediglich als Nebenschauplätze vor. Zumeist sind es Worthülsen ohne praktische Gestaltung.Wenn dieser Kurs weiterverfolgt wird, dann zerfällt Europa unweigerlich in mehrere Klassen: die obere Klasse, die die Konvergenzkriterien erfüllt und zu der auch die jetzt neu aufgenommenen Länder gehören sollen. Das erklärt zugleich die besondere Eile der Verhandlungen wie das deutsche Engagement.Es gibt eine zweite Klasse, die diese Kriterien nicht erfüllen kann und folglich an der Währungsunion nicht teilnehmen wird.Es entsteht eine dritte Klasse, die nicht nur an der Währungsunion nicht teilnimmt, sondern der die verschiedensten Sonderbedingungen, also abgestufte Rechte und Pflichten, gewährt wurden.Schließlich gibt es die vierte, unterste Klasse von europäischen Staaten, denen für längere Zeit oder immer die Tore der EG wie einer gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit verschlossen bleiben. Hier liegen das Hauptproblem und der Hauptkonflikt aus gesamteuropäischer Sicht, auch wenn allen Klassen der Keim von Auseinandersetzungen und Konflikten in Wirklichkeit immanent ist und auch bleibt.Damit ist klar: Die jetzt erfolgte Erweiterung, die viele andere Probleme außer acht läßt, wird die inneren Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten, die ohnehin schon beträchtlichen Verteilungskämpfe, die Differenzierung in mehrere Klassen von Europäern noch verstärken. Die stark technokratisch und nach dem Recht des Stärkeren funktionierenden inneren Strukturen und Entscheidungsmechanismen der Maastricht-Union werden diesen Entwicklungstendenzen nicht gerecht.Diese Erweiterung wird Folgeprobleme mit sich bringen, und zwar nicht nur jene, die bei den Verhandlungen zur Sprache kamen und mit deutschem Druck überspielt wurden.Die Beitrittsverhandlungen haben gezeigt, daß der Beitritt zur Europäischen Union für keine Seite zum Nulltarif zu haben ist. Er kostet die Union, wie aus Brüssel zu hören ist, etwa 3,6 Milliarden ECU allein an höheren Verwaltungsaufwendungen.Und niemand kann behaupten, daß mit dieser Erweiterung die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union bei der Einbeziehung der osteuropäischen Länder in einen engeren wirtschaftlichen und politischen Integrationszusammenhang gewachsen sei. In diesem Licht besehen relativiert sich, was als historisch, als großer Sieg für Europa ausgegeben wird.Meine Damen und Herren, die Menschen im Lande durchschauen solches nicht nur, sie lassen sich eine solche Wertung nicht länger bieten. Die Ergebnisse der Referenden in Dänemark, in Frankreich, der Volksabstimmung in der Schweiz widerspiegeln das ebenso wie die in Deutschland bei verschiedenen Umfragen festgestellte Europa-Müdigkeit.Die Bundesregierung muß endlich Europa als gesamteuropäischen Integrationsraum akzeptieren, in dem eine wachsende Vielfalt von Kooperations-und Integrationsformen nebeneinander bestehen und zusammenarbeiten. Die unabdingbare Debatte über die Veränderung der Europäischen Union muß aus unserer Sicht mit einer Debatte über Wege und Formen der gesamteuropäischen Integration verbunden werden.Dabei ist klar, daß sich ein solcher gesamteuropäischer Integrationsraum weder ausschließlich nach dem EU-Modell noch nach irgendeinem abstrakten Modell entwickeln kann, sondern sowohl aus heute vorhandenen als auch neuen bzw. im Keim sich entwickelnden Strukturen gebildet werden muß. Und lebensfähig wird er nur sein, wenn die innere Vielfalt Europas gewahrt und weiterentwickelt wird.Auch die KSZE könnte, wenn alle ihre Körbe modernisiert und weiterentwickelt würden, dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.Auch wenn die Europäische Union sich erweitert, wird die Gestaltung Europas als Ganzes als historische Aufgabe bestehenbleiben.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßt es nachdrücklich, daß die Verhandlungen der Europäischen Union über die Aufnahme Österreichs, Schwedens und Finnlands erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Wir würdigen, Herr Außenminister, Ihre konstruktiven und energischen Bemühungen, hierfür die Voraussetzungen zu schaffen. Zugleich bedauern wir, daß es noch nicht gelungen ist, die Aufnahme Norwegens in die Europäische Union zu vereinbaren. Das vorläufige Scheitern dieser Verhandlungen ist enttäuschend, zumal hierdurch auch die baldige Aufnahme der drei anderen Staaten wieder in Frage gestellt sein könnte.Die egoistische Haltung Spaniens und Großbritanniens, die eine Einigung mit Norwegen verhindert haben, ist antiquiert und wird den politischen Erfordernissen am Ende dieses Jahrhunderts nicht gerecht. Es mag berechtigt sein, nationale Interessen so vehement einzufordern und zu verteidigen, aber ein paar Schiffsladungen Fisch sind eher eine kuriose Barriere. Da sollte sich doch wirklich ein Kompromiß finden lassen.
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18600 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Konrad Weiß
Problematischer ist zweifellos die Veto-Arithmetik, das zweite entscheidende Hindernis. Wenn Großbritannien und Spanien aber die Erweiterung der Europäischen Union wirklich wollen, müssen sie sich in dieser Frage bewegen. Die Forderung des Europäischen Parlaments, das Vetorecht in der Europäischen Union an die neue Lage anzupassen, die mit der Aufnahme weiterer Länder entsteht, ist jedenfalls vernünftig und angemessen.
Das Beispiel der anderen Beitrittskandidaten zeigt doch auch, daß Kompromisse möglich sind.Wir fordern die Bundesregierung auf, in ihren Bemühungen um eine Lösung für Norwegen nicht nachzulassen und die starrsinnigen und sturen Partner, die sich gegen eine Lösung sperren, mit Nachdruck an die politische Vision von einem vereinten Europa zu erinnern.
Denn natürlich ist jedes Land, das Mitglied in unserer Gemeinschaft wird, eine Herausforderung und ein Gewinn für die ganze Europäische Union — politisch, kulturell und früher oder später auch wirtschaftlich.
Jede nationale Vereinsmeierei ist angesichts dessen einfach albern. Wir ermutigen die Bundesregierung, unbedingt an dem Ziel festzuhalten, die vier Länder am 1. Januar 1995 in die Europäische Union aufzunehmen.Meine Damen und Herren, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwartet von der Bundesregierung, daß sie sich mit der gleichen Energie und Hartnäckigkeit auch für die Mitgliedschaft Ungarns und Polens einsetzt.
Mit Freude haben wir die Ankündigung dieser beiden Länder zur Kenntnis genommen, in nächster Zeit die Aufnahme in die Europäische Union beantragen zu wollen. Die enge Einbindung der osteuropäischen Reformstaaten in die Gemeinschaft der Europäer ist für uns ein vorrangiges Ziel. Die soeben angekündigten jährlichen Gipfeltreffen des amtierenden Präsidenten des europäischen Ministerrates und des Präsidenten der Europäischen Kommission mit den Regierungschefs Ungarns, Polens, der Tschechischen Republik, der Slowakei sowie Bulgariens und Rumäniens sind ein erster Schritt zur vertieften politischen Zusammenarbeit. Unser gemeinsames Ziel aber muß es sein, möglichst bald die volle Mitgliedschaft dieser Länder zu erreichen.
Ich habe oft den Eindruck, daß die Vorbehalte und Bedenken gegen die Mitgliedschaft der osteuropäischen Reformstaaten den Blick auf den Gewinn verstellen, den ihre Mitgliedschaft bedeuten würde. Ich wünschte mir hierfür denselben Elan, wie wir ihn für die deutsche Einheit aufgebracht haben. Ich bin überzeugt, daß die baldige Integration der osteuropäischen Bruderländer — ich benutze ganz bewußt diesen Begriff hier — auch den Integrationsprozeß innerhalb Deutschlands befördern würde.
— Bruder- und Schwesterländer, okay. Bruder- und Schwesterländer deshalb, weil wir, die Ostdeutschen, die Polen, die Ungarn, die Tschechen und die Slowaken,
vier Jahrzehnte lang das Schicksal einer kommunistischen Diktatur und der sowjetischen Besatzung geteilt haben, weil wir Gemeinsamkeiten im Widerstand und in unserer Selbstbefreiung haben, die uns tief verbinden, uns Ostdeutsche jedenfalls tiefer als mit den Ländern, die heute zur Europäischen Union gehören.Wir wünschen uns, endlich ganz ohne Zwang gleichberechtigte und gleichgestellte Partner in einer umfassenden Gemeinschaft der Europäer zu sein.
Ohne die osteuropäischen Reformstaaten muß die Europäische Union fragmentarisch bleiben, ein gutgemeinter, aber nicht lebensfähiger Torso. Ich denke, gerade wir Deutschen sollten zu weitreichenden Zugeständnissen, die die politische Integration dieser Länder ermöglichen, bereit sein.Mehr noch: Wir müssen dafür Opfer bringen, und wir müssen zur Reduzierung unseres Wohlstands bereit sein. Gerade gegenüber Polen, das ein mutiger Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie war, haben wir eine besondere Verpflichtung.
Nicht zufällig richten sich die Hoffnungen Polens auf die bevorstehende deutsche Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union.Das von Polen angedachte Konzept, die politische Anbindung vorzuziehen, sollten wir ernsthaft prüfen. Unser politisches Ziel muß es sein, die Beziehungen im wirtschaftlichen Bereich so zu intensivieren, daß die angestrebte volle Mitgliedschaft für Polen und Ungarn zur Jahrtausendwende vollzogen werden kann.Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat immer wieder gefordert, daß sich die westlichen Märkte schnellstmöglich für die europäischen Reformstaaten öffnen müssen und daß wir die egoistische Politik der Abschottung, der Isolation und des Subventionsmus, die wir gegenwärtig auch zu Lasten der osteuropäischen Reformstaaten noch betreiben, aufgeben.Es ist von elementarer Bedeutung für die Festigung der Demokratie und für die wirtschaftliche Stabilisierung dieser Lander, daß sie eine klare und sichere
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Konrad Weiß
Perspektive für ihren Weg in die Europäische Union haben.
Das Hinhalten, das Verzögern, das Vertrösten, die unsere gegenwärtige Politik ausmachen, sind unwürdig und wirken destabilisierend. Wir müssen uns klar darüber sein, daß eine offene, einladende Politik der Europäischen Union das beste Mittel gegen postkommunistische Nostalgien, gegen nationalistische Verirrungen oder resignative Trägheit in den Reformstaaten ist.
So gesehen ist eine klare Perspektive für den baldigen Beitritt Polens, Ungarns und anderer osteuropäischer Reformstaaten auch in unserem ureigensten Interesse.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Ja, natürlich.
Bitte, Kollege Irmer.
Herr Kollege Weiß, vor dem Hintergrund dessen, was Sie über die Perspektive des Beitritts der mittelosteuropäischen Länder zur Europäischen Union — dies teile ich voll — gesagt haben, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Wie halten Sie es denn mit dem Wunsch dieser Länder, auch der NATO beizutreten? Ich frage dies vor dem Hintergrund der Beschlüsse, die vorletztes Wochenende auf dem Parteitag der GRÜNEN gefaßt wurden, nämlich daß Deutschland aus der NATO austreten solle.
Sie wissen, Herr Kollege Irmer, daß es — das ist legitim — in dieser Frage innerhalb unserer Partei unterschiedliche Positionen gibt. Ich darf hier bemerken, daß die Bundestagsgruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht identisch ist mit der Partei, sondern daß uns 1990 andere Menschen gewählt haben, unter anderen Bedingungen, und daß wir diese Interessen zu vertreten haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte abschließend noch auf einen anderen Aspekt der europäischen Integration eingehen, der unbedingt auch Gegenstand einer gemeinsamen europäischen Politik werden muß: eine humane Einwanderungsund Flüchtlingspolitik. Es ist doch beschämend, daß die Kooperation der europäischen Staaten heute vor allem in der Suche nach den besten Abwehrmechanismen und Abschiebewegen besteht. Wir haben gestern in der Aktuellen Stunde nachdrücklich den Versuch von Bund und Ländern kritisiert, jugoslawische Bürgerkriegsflüchtlinge über Rumänien abzuschieben. Zur Stunde tagen in Wien die Vertreter von sechs europäischen Ländern, darunter der Bundesrepublik Deutschland, um eine konzertierte Abschiebe-aktion für Bürgerkriegsflüchtlinge vorzubereiten.
Soeben haben die Kirchen uns, die Politiker, zu Recht und mit Nachdruck aufgefordert, dafür zu sorgen, daß jeder Einzelfall sorgfältig geprüft und beim geringsten Zweifel an der Sicherheit der Flüchtlinge in ihrem Herkunftsland die Abschiebung nicht zugelassen wird. Ausdrücklich zeigten sich die Kirchen beunruhigt und besorgt darüber, wie deutsche Behörden gegenwärtig mit Flüchtlingen umspringen. Albaner aus dem Kosovo, Christen aus der Türkei, armenische Christen, Flüchtlinge aus Angola und aus dem Sudan und Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina sollen, so fordern es die Bischöfe, eine Zeitlang in Deutschland Zuflucht und Sicherheit finden dürfen.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat immer wieder eine gemeinsame europäische Flüchtlings-und Einwanderungspolitik angemahnt und es als einen gravierenden Mangel der Maastrichter Verträge angesehen, daß sich die Europäer dieser Herausforderung nicht gestellt haben. Aber wir haben damit nicht das gemeint, was die Bundesregierung und andere europäische Regierungen nun praktizieren, nämlich die ausschließliche Kooperation bei der Abwehr von Einwanderern und Flüchtlingen.
Ich bin mir gewiß, meine Damen und Herren, daß die Europäische Union nicht überleben wird und eines Tages wieder in antike Nationalstaaten zerfallen muß, wenn wir nicht in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu einer humanen und großzügigen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik finden. Oder aber das vereinte Europa entartet zu einem hypertrophen Nationalstaat, der sich nach außen hin radikal und aggressiv abschotten muß.
Wir erwarten von der Bundesregierung eine verantwortliche Europapolitik, die sich nicht vor diesen zugegebenermaßen außerordentlich schwierigen und komplizierten Problemen drückt.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, bevor ich weiter das Wort erteile, begrüße ich auf der Ehrentribüne vier Kollegen aus der Staatsversammlung Sloweniens. Sie sind hier, um sich über die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste zu informieren.
Wir freuen uns über Ihren Besuch und wünschen Ihnen und Ihrem Land, der Republik Slowenien, eine gute Zukunft in europäischer Nachbarschaft.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Peter Kittelmann. Bitte sehr.
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18602 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freude, ja zum Teil sogar die spürbare Euphorie vor allen Dingen in den Augen der Schweden und der Österreicher über den erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit Osterreich, Schweden und Finnland haben bewiesen: Europa hat noch nicht die Fähigkeit verloren, sich wieder freuen zu können.
Dieser großartige Sieg der Vernunft wird von den relativ kleinlichen Problemen beim Beitritt Norwegens überschattet. Das ist hier mehrfach erwähnt worden. Sie stehen in keinem Verhältnis zu unserem großen Erfolg der zu Ende gebrachten Verhandlungen.Dieser Erfolg ist so, Herr Bundesaußenminister, daß wir Ihnen mehrfach danken können. Die CDU/CSU ist sehr zufrieden und glücklich darüber, daß es Ihnen gelungen ist, hier Erfolg zu haben. Wir wünschen Ihnen dieses Glück des Tüchtigen auch in den nächsten Wochen.
Meine Damen und Herren, wir werden uns diesen Erfolg durch das Nichteinigsein über einige Tonnen Fisch und durch eine wichtige offene Frage bei der Stimmenverteilung im Ministerrat nicht in Frage stellen lassen. So wichtig dies im Detail auch ist, es geht jetzt schließlich um eine herausragende Chance in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses. Der europäische Kontinent kann durch eine schnelle Erweiterung nach Nord- und Mitteleuropa weiter stabilisiert werden.
Es geht um die Chance einer Neuorientierung und Neuordnung in Europa.Ich fordere deshalb für die CDU/CSU alle beteiligten Verhandlungspartner auf, die letzten Stolpersteine für eine Aufnahme aller vier Beitrittskandidaten zum 1. Januar 1995 schnellstmöglich beiseite zu räumen.
Die CDU/CSU erwartet auch vom Europäischen Parlament — auch wenn richtig gesagt worden ist, diesem Parlament wird jetzt viel zugemutet —, diesem Beitritt schnellstmöglich zuzustimmen.
Der Schaden, der anderenfalls entstehen würde, wäre in keiner Weise zu rechtfertigen.Wir sollten uns daher auch im Bundestag bemühen — und dies, wie wir vorhin gehört haben, in voller Übereinstimmung mit der Bundesregierung —, das Ratifizierungsverfahren über den Beitritt im Deutschen Bundestag spätestens im Juni 1994 abzuschließen.Wir erfahren es täglich im Gespräch mit den Bürgern: Bei vielen von ihnen ist mittlerweile in Vergessenheit geraten, wo die Ursachen liegen, daß wir seit 40 Jahren im westlichen Europa in Frieden leben. Wir verdanken dies entscheidend auch der europäischen Integration.
Sie hat dazu beigetragen, alte Rivalitäten und Konflikte zwischen beteiligten Nationen zu überwinden.Viele vergessen auch zu leicht, daß wir durch den Prozeß der europäischen Einigung unsere Kräfte in Europa zum gegenseitigen Vorteil bündeln konnten.Es sind wieder Länder außerhalb der Europäischen Union, die uns in diesen Tagen die großen Vorteile der Mitgliedschaft in der Europäischen Union vor Augen führen. Der erfolgreiche Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Finnland und Schweden ist ein Beweis für die hohe Attraktivität und Anziehungskraft dieser Europäischen Union. Mit ihrem Beitritt rechnen sich diese Staaten vorteilhafte, interessante und vielversprechende Chancen und Möglichkeiten in Wirtschaft und Politik aus. Ihr Wille, ein Teil der Europäischen Union zu werden, ist ein überzeugendes Beispiel für Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen in die Zukunftschancen des gemeinsamen Europas.
Ich bitte uns als Parlamentarier, als Deutscher Bundestag — die große Übereinstimmung in dieser Diskussion ist ja hier auch spürbar —, dieses auch im Gespräch mit dem Bürger in Deutschland stärker als bisher zu vermitteln. Das ist übrigens auch ein positives Bekenntnis für mehr Demokratie, Bürgernähe und Subsidiarität.
Meine Damen und Herren, der Wunsch zum Beitritt ist eine Bestätigung für uns Europäer und, Herr Bundeskanzler, auch ein Beweis für die erfolgreiche Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dafür gebührt Ihnen unser Respekt und unser herzlicher Dank.
Wir sollten uns daran erinnern, daß wir der Europäischen Gemeinschaft ein nie zuvor gekanntes Maß an Wohlstand verdanken. Viele wollen das einfach nicht mehr wahrhaben. Knapp drei Viertel unseres Exports gehen in den Europäischen Wirtschaftsraum, rund zwei Drittel unserer Importe kommen von dort. Diese Tatsachen werden von Gegnern der europäischen Einigung häufig bewußt verdrängt. Wer daher heute für „weniger Europa" plädiert, setzt viele Millionen Arbeitsplätze aufs Spiel, die durch die Verflechtung mit unseren Partnern in Europa gesichert werden.Die Idee Europa lebt aber nicht nur von der Wirtschaftspolitik. Europa braucht täglich ein Stück Emotionalität. Es ist durchaus richtig und sehr treffend formuliert, wenn Jacques Delors behauptet, man könne sich nicht in einen Binnenmarkt verlieben. Die Betonung einer emotionalen oder visionären Seite ist
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18603
Peter Kittelmanndeshalb überaus wichtig. Ohne sie werden es die Bürger schwer haben, Europa zu verstehen.Vor allen Dingen müssen wir die Jugend für die enormen Herausforderungen und Möglichkeiten des gemeinsamen Europas gewinnen.
Wir spüren es doch: Die jungen Menschen haben ein sehr viel größeres Interesse an dem neuen Europa, an den Herausforderungen, als viele es wahrhaben wollen. Geben wir diesen Jungen eine Chance für die Zukunft, indem wir heute unsere Aufgaben positiv erledigen.
Die Vision eines gemeinsamen Europas ist notwendig, weil wir wissen, daß nur im Verbund die anstehenden Probleme zu lösen sind. Die Vision eines Europas, das die Staaten in der Union vereint, ohne nationale Identitäten zu verwischen, in dem wir alle voneinander lernen, ohne unsere berechtigten Interessen aufzugeben, diese Vision muß mit Leben erfüllt und fest verankert werden.Häufig nicht bewußt, hat Europa heute einen positiven Rang im Leben eines jeden einzelnen Bürgers. Manche Bürger werden sich dessen erst bewußt, wenn man sie darauf anspricht, daß das, was sie an persönlichen Erfolgen in ihrem Leben zu verzeichnen haben, auch mit Europa zusammenhängt.Vor diesem Hintergrund ist der Beitritt Österreichs und der skandinavischen Länder so wichtig. Er ist ein Zeichen dafür, daß sich die Europäische Union nicht abschottet, sondern offen ist und offen bleibt.Die Neuaufnahme ist auch ein Signal der Hoffnung und der Zuversicht für einen künftigen Beitritt für Staaten in Mittel- und Osteuropa. Polen und Ungarn haben bereits angekündigt, in Kürze das formelle Gesuch um Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu präsentieren. Die jetzt neu aufzunehmenden Länder werden sicherlich gute Weggefährten für Handelserleichterungen und für eine rasche und echte Marktöffnung der Europäischen Union für Produkte aus Mittel- und Osteuropa sein. Sie werden auch treue Verbündete für eine mögliche spätere Osterweiterung der Europäischen Union sein.Wenn auch diese weitere Öffnung nach Osten noch nicht in greifbare Nähe rückt, so ist die klare Beitrittsperspektive für die Länder Mittel- und Osteuropas ein Lebenselexier. Sie schöpfen daraus Kraft, und die gewaltigen Anstrengungen für einen grundlegenden Wandel werden sie nur meistern, wenn sie diese Hoffnung von uns immer wieder bestätigt bekommen.Nach dem stürmischen Umbruch in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft dieser Staaten ist dort heute eine neue Aufbruchstimmung spürbar, die nach fester Orientierung und erhöhter Sicherheit strebt. Wir müssen diesen Staaten eine faire Chance für mehr Sicherheit und Wohlstand in Freiheit und Frieden geben — heute und morgen.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen — und es wird noch gesagt werden —: Der Beitritt ist mit vielem verbunden, auch mit einer besseren Finanzausstattung, auch mit mehr Ausgewogenheit und Vielfalt in Europa.Als Berliner möchte ich sagen: Ich freue mich auch darüber, daß Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin näher in die geographische Mitte der Europäischen Union rückt. Berlin erhält damit wieder seinen historischen Platz im Herzen Europas.
Die Europäische Union hat ohne Zweifel ihre Vorteile und ihre Anziehungskraft bewiesen. Die Chancen, Möglichkeiten und Perspektiven bestehen darin, daß die Europäische Union mehr zu bieten hat, als viele glauben. Diese Fähigkeiten, diese Stärken und diese Überzeugungskraft der Europäischen Union gilt es zu bewahren und weiterzuentwickeln. Dieses — das ist unsere Pflicht in den nächsten Monaten und Jahren — muß auch dem Bürger deutlicher als bisher vermittelt werden.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Gerald Thalheim das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden und Finnland rückt die Erweiterung der Europäischen Union in greifbare Nähe. Noch vor wenigen Jahren wäre die Erweiterung mit Jubel begrüßt worden. Heute, in einer Zeit zunehmender „Europamüdigkeit", sind die Reaktionen in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend. Das ist um so unverständlicher, als von der Erweiterung der Union eine Stabilisierung zu erwarten ist. Das gilt sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht.Deshalb ist es schwer zu verstehen, daß die starre Haltung einiger Mitgliedsländer zur Unterbrechung der Beitrittsverhandlungen mit Norwegen geführt hat. Damit wird — was nach meiner Auffassung noch schwerer wiegt — das Gesamtvorhaben der Erweiterung in Frage gestellt. Diese Haltung ist um so fragwürdiger, als es sich bei den beitrittswilligen Staaten um Länder handelt, die auf eine lange demokratische Tradition zurückblicken können und mit denen die Länder der Union historisch, kulturell, politisch und geographisch eng verbunden sind.Wenn die politische Dimension der Beitrittsverhandlungen weder von den Medien noch von den Bürgern angemessen wahrgenommen wurde, so liegt das nach meiner Auffassung auch daran, daß in der öffentlichen Diskussion kaum über die Chancen der
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18604 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Gerald ThalheimErweiterung, sondern vordergründig über Detailfragen der Fischerei und der Landwirtschaft berichtet wurde.
Diejenigen, die sich damit nur am Rande befassen, mögen darin ein Indiz dafür sehen, daß die politischen Folgen des Beitritts nur gegenüber den Partikularinteressen einer Berufsgruppe abgewogen werden. Sowenig eine solche Bewertung für gleichgelagerte Fragestellungen innerhalb der Union zutrifft, sowenig gilt das auch für die Erweiterung.Die Frage der Zukunft von Fischerei und Landwirtschaft ist eng mit der Zukunft ländlich geprägter, oft strukturschwacher Regionen verbunden. Die Art der landwirtschaftlichen Nutzung hat gerade in den skandinavischen Ländern und in Österreich charakteristische Kulturlandschaften geprägt. In der Landwirtschaft spiegeln sich jahrhundertealte Traditionen wider, die in den Ländern oft identitätsstiftenden Charakter haben.Auch wenn Landwirtschaft und Fischerei in den Beitrittsländern heute bei weitem nicht mehr die wirtschaftliche Bedeutung haben wie in der Vergangenheit, werden die Konditionen dort bei den Beitrittsverhandlungen mit über die Referenden zum Beitritt in die Union entscheiden.Vor diesem Hintergrund ist es positiv zu bewerten, daß es im Rahmen der Beitrittsverhandlungen, mit Ausnahme von Norwegen, gelungen ist, einen fairen Kompromiß zu finden. Dabei resultierten die Probleme nicht wie bei vorangegangenen Beitrittsverhandlungen aus der Überproduktion von Agrarerzeugnissen, sondern aus dem hohen Außenschutzniveau und dem sehr hohen inneren Stützpreisniveau der Beitrittsländer. Es ist ein Verhandlungserfolg der Union, daß es trotzdem zu einer binnenmarktkonformen Lösung gekommen ist, d. h. zu einer sofortigen Integration der Beitrittsländer in die gemeinsame Agrarpolitik.
Die dadurch notwendig werdenden Beihilfen für die Landwirtschaft sind national zu gewähren, wobei für die Übergangszeit ein agrarbudgetärer Ausgleich vereinbart wurde. Das bedeutet, daß die Zahlungsverpflichtungen an die Union mit dem Beihilfeanspruch für die eigene Landwirtschaft verrechnet werden.Ähnlich positiv sind die Regelungen für die skandinavische und die alpenländische Landwirtschaft, einschließlich der Milchquoten, zu bewerten. Danach wurde Schweden eine Aufstockung eingeräumt und den Ländern Norwegen, Finnland und Österreich die Möglichkeit eröffnet, die Milchproduktion in Höhe von 550 000 t wiederaufzunehmen. Trotzdem sind für den Milchmarkt keine zusätzlichen Belastungen zu erwarten.Eine gleiche Einschätzung kann für den Rindfleischsektor, für Zucker und Getreide gegeben werden. Allerdings ist umgekehrt auch nicht mit einer Entlastung des gemeinsamen Agrarmarktes zu rechnen. Das heißt, die Aufgabe, auf ein stärkeres Marktgleichgewicht hinzuwirken, wird auch nach demBeitritt dieser Länder mit Nachdruck verfolgt werden müssen.Auch bei einer grundsätzlich positiven Bewertung des Verhandlungsergebnisses werden meines Erachtens die Grenzen der gegenwärtigen Agrarpolitik aufgezeigt. Mit der Erweiterung nimmt die Vielgestaltigkeit der Landwirtschaft zu. Das wirft die Frage auf, ob für alle Regionen, vom Polarkreis bis zur Ägäis, nach dem gleichen Regelwerk Landwirtschaft und Agrarpolitik betrieben werden können. Ich bin der Überzeugung, daß eine stärkere Regionalisierung vor allem vor dem Hintergrund des Beitritts dieser Länder unumgänglich sein wird.
Von einer Erweiterung der Europäischen Union um Österreich und die skandinavischen Länder ist eine größere Sensibilität für die Entwicklungen in Osteuropa zu erwarten. Zum Beispiel hat bei einem Beitritt von Finnland die Europäische Union eine gemeinsame Grenze mit Rußland, von der Brückenfunktion Finnlands zu den baltischen Republiken ganz zu schweigen. Die Beitrittsländer haben in der Vergangenheit einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur Ost-West-Verständigung geleistet. Diese Entwicklung muß sich mit den Reformländern Osteuropas fortsetzen.
Wo in der Vergangenheit Europa durch den Kalten Krieg gespalten wurde, gibt es heute eine tief einschneidende Wohlstandsgrenze. Ziel europäischer Politik muß es sein, diese Grenze, das Wohlstandsgefälle Schritt für Schritt zu überwinden. Von einer Erweiterung werden dazu wesentliche Impulse ausgehen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn die Beitrittsverhandlungen, mit Ausnahme von Norwegen, erfolgreich abgeschlossen wurden, so ist das nach meiner Auffassung das Ergebnis einer behutsamen Verhandlungsführung und der Kompromißfähigkeit der Union, ohne dem Druck nachzugeben, in Beliebigkeit zu verfallen. Die Politik der Beitrittsverhandlungen muß in der Behandlung dieses Themas bis zu den Referenden und danach bei der weiteren Integration dieser Länder ihre Fortsetzung finden. Von der Gemeinschaft müssen klare Signale ausgehen, daß in einem fairen Prozeß die europäischen Länder und Nationen Schritt für Schritt enger zueinandergeführt werden, ohne daß nationale Interessen verleugnet oder die Identität aufzugeben wären.Die Einigung Europas ist keine politische Aufgabe für Legislaturperioden, sondern für Generationen.
Die Menschen und Völker dürfen in diesem Prozeß nicht überfordert werden.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Gero Pfennig.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18605
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich die Europäische Union am 1. März 1994 mit Schweden, Finnland und Österreich in fast allen Sachfragen auf die Bedingungen für den Beitritt geeinigt hat, treten im Zusammenhang mit den stockenden Verhandlungen mit Norwegen wieder zwei Probleme in den Vordergrund, die die damaligen Altmitglieder der Europäischen Gemeinschaft schon bei den Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal vor eine Zerreißprobe gestellt haben: das institutionelle Gleichgewicht im Entscheidungsverfahren und die finanzielle Ausgeglichenheit.Ich behaupte: Daß die Verhandlungen am 15. März 1994 mit Norwegen fortgesetzt werden müssen, liegt weniger an Norwegen als an den Unionsmitgliedern selbst. Unter ihnen hat wieder einmal das altbekannte Spiel begonnen: Wie sichere ich mir möglichst viele Vorteile aus dem Beitritt schon jetzt und schließe etwaige spätere Nachteile von vornherein aus?Dabei waren sich ursprünglich alle Unionsmitglieder untereinander und auch mit dem Europäischen Parlament einig, in gleicher Weise wie bei den Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal vorgehen zu wollen: zunächst Erweiterung der Union und danach Vertiefung der Integration. Der beschlossene Zeitplan — Beitritt zum 1. Januar 1995, Revision der Verträge im Jahre 1996 — ist bei gutem Willen aller Unionsmitglieder und des Europäischen Parlaments auch jetzt noch einhaltbar.Diesen guten Willen haben der Außenminister und der Bundeskanzler angemahnt. Für mich scheint die deutsche Regierung wieder einmal — wie schon 1985 — die Bürde übernehmen zu müssen, die Mitgliedstaaten zur Einhaltung des Zeitplans für die Erweiterung überreden zu müssen. Wir, der Deutsche Bundestag, wünschen, daß die Bundesregierung auch diesmal Erfolg hat, Herr Außenminister.
Wir sind dem Präsidenten des Europäischen Parlaments für seine Ankündigung, alles für eine rechtzeitige Ratifikation der Beitrittsverträge vor der Europawahl im Juni 1994 tun zu wollen, dankbar. Damit könnte die Bevölkerung in den vier Beitrittsstaaten im zweiten Halbjahr 1994 über die Verträge abstimmen und die Europäische Union bei positivem Ausgang am 1. Januar 1995 fast das ganze westliche Europa umfassen.Erst damit sind die Voraussetzungen für Beitrittsverhandlungen mit mittelosteuropäischen Staaten wie Ungarn, Polen und Tschechien gegeben, deren Beitritt der Union und den in ihr zusammengeschlossenen Demokratien endlich ein mehr kontinentales Gefüge geben würde.
Die aktuellen Schwierigkeiten unter den zwölf Mitgliedstaaten sollten angesichts des Ziels überwindbar sein. Die Frage der Sperrminorität bei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat gehört in den Katalog der Revisionsthemen für 1996. Sie ist nur einTeilausschnitt aus der zu erstellenden Konzeption für die künftige Größe der Europäischen Union und die dafür erforderliche Struktur.Andere Fragen, wie z. B klare Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union von denen der Mitgliedstaaten, Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, Anpassung der Einnahmen und Ausgaben an die Aufgaben der Union und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments in allen Bereichen, sind weit wichtigere Strukturfragen.Ich hoffe, daß die Bundesregierung Großbritannien überzeugen kann, das Thema auf 1996 zu vertagen. Ansonsten droht nämlich die Vertagung des Beitritts aller vier Länder auf 1996, was doch wohl niemand will.Die zweite aktuelle Hürde für den Beitritt ist wieder einmal die Frage der finanziellen Belastung und Geldverteilung unter den Mitgliedstaaten. Die Union ist in der glücklichen Lage — wie es schon mehrere Redner vor mir gesagt haben —, mit den vier Beitrittsländern vier wirtschafts- und finanzstarke, wenn auch bevölkerungsschwache Mitglieder hinzu zu bekommen. Alle vier Länder sind sogenannte Nettozahler.Die jetzt gefundene Finanzlösung sieht allerdings eine vierjährige Übergangsfrist vor, in der die Zuflüsse in den EG-Haushalt nur relativ gering ausfallen werden. Man rechnet mit knapp 500 Millionen DM Mehrzufluß pro Jahr. Deshalb erscheint es mir unmöglich, schon jetzt über die Verteilung zukünftig vielleicht entstehender Mehreinnahmen zu reden, wie dies Spanien mit Blick auf den Kohäsionsfonds will und Frankreich mit Blick auf das Agrarsubventionssystem versucht hatte.Ich denke, gerade Spanien sollte sich daran erinnern, wie wenig gut es das Verhalten der alten Mitglieder der EG in dieser Frage bei den Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal Anfang der 80er Jahre fand, das die Beitritte ja um Jahre verzögert hatte, sehr zum Ärger und zum Verdruß Spaniens. Spanien sollte jetzt bei den neuen Beitrittsverhandlungen nicht das gleiche tun.
Wir unterstützen die Haltung der Bundesregierung, die Finanzmechanismen derzeit im Prinzip unverändert zu lassen und die finanzielle Vorausschau nur insoweit zu ändern, wie dies im Hinblick auf den Beitritt selbst notwendig ist. Sollten tatsächlich erhebliche Mehreinnahmen entstehen, wird man sie 1996 zur Entlastung der derzeit am meisten belasteten Mitgliedstaaten heranziehen müssen. Zu diesen am meisten belasteten Mitgliedstaaten zählt übrigens auch Deutschland.Im übrigen sollte die Bundesregierung für die Revision der Finanzregeln der Union im Jahre 1996 auch daran denken, daß sowohl der Finanz- als auch der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages hierzu bereits vor längerer Zeit klare Vorstellungen entwickelt haben, nämlich klare Aufteilung der zu finanzierenden Aufgaben zwischen Union und Mitgliedstaaten, klare Trennung bei der Gesetzgebung und Steuerertragshoheit, wirksame Beschränkung
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18606 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Gero Pfennigdes Zugriffsrechts der Union auf das Steuereinkommen der Mitgliedstaaten, Zuweisung eigener fester Einnahmen an die Gemeinschaft auf Grund von Steuerarten oder daran festgelegten Anteilen.Die Union darf nicht Kostgänger der Mitgliedstaaten sein, diese dürften aber auch nicht Kostgänger der Union sein. Nur wenn die Union über echte eigene Einnahmen verfügt, gilt das Prinzip, daß sie ihre Ausgaben auch nach ihren Einnahmen ausrichten muß und sich nicht mehr oder minder auf Beiträge der Mitgliedstaaten zur Deckung der Ausgaben verlassen kann.Meine Europaerfahrung sagt mir, daß dieses Reformthema genauso wichtig ist wie alles andere. Alle wirtschaftlichen, politischen, sozialen und sonstigen Vorteile, die die Union ihren Bürgern bringt — sie sind hier dargestellt worden —, müssen auch auf finanzieller Ausgeglichenheit beruhen, damit das Ganze für die Bürger akzeptabel ist. Das haben uns übrigens gerade wieder einmal auch die Wünsche der Beitrittskandidaten vor Augen geführt.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Karsten Voigt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für uns sind die neuen europäischen Partner, die bisherigen EFTA-Staaten, nicht nur Partner einer Vernunftehe, sondern auch einer Liebesheirat. Ich fordere unsere Freunde in Spanien und in Großbritannien auf, sich nicht wie egoistische Tanten zu verhalten, sondern wie großzügige Mitglieder einer erweiteren Großfamilie, die wissen, daß die anderen sowieso reinkommen und daß die künftigen Beziehungen einen schlechten Start haben, wenn man so mickerig beginnt.
Deshalb möchte ich meine spanischen Freunde — und wenn Sie so wollen: Genossinnen und Genossen — daran erinnern, daß sie damals, als sie sich um den Beitritt in die Europäische Gemeinschaft beworben haben, auf den heftigen Widerstand von einigen Mitgliedstaaten der damaligen kleineren Gemeinschaft stießen. Damals gab es Demonstrationen in Südfrankreich, z. B. von den viticulteurs, den Weinbauern, die aus durchaus verständlichen Gründen gesagt haben: Das entspricht nicht unseren Interessen.Dann haben wir sehr gedrängt, und die Franzosen sind letzten Endes über diese engstirnige Sicht ihrer Interessen gesprungen, und Spanien wurde Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaft. Wir erwarten nichts anderes von unseren spanischen Freunden, als daß sie sich genauso langfristig und großzügig und perspektivisch verhalten, wie andere Staaten es getan haben, als sie Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden wollten.
Was Großbritannien betrifft, so stehen sie ja sowieso immer unter dem leichten Vorverdacht, daß sie die Europäische Gemeinschaft in ihrer Handlungsfähigkeit nicht stärken, sondern schwächen wollen. Wenn man unter einem solchen Vorverdacht steht, dann sollte man nichts tun, was diesen Verdacht auch noch bestärkt und begründet.
Ihre Verhaltensweise jetzt bei den Abstimmungsrechten zeigt eindeutig, daß sie weniger daran interessiert sind, Entscheidungen zu ermöglichen, als vielmehr daran, Entscheidungen blockieren zu können. Das ist kein Beitrag zur Stärkung der Europäischen Union, sondern das ist ein Beitrag zur Schwächung der Europäischen Union. Deshalb sagen wir: Laßt die Finger davon, verfolgt eine andere Politik, verhaltet euch proeuropäisch und nicht insular.
Insgesamt ist die Norderweiterung der Europäischen Union ein großer Gewinn — das ist schon gesagt worden — für die Demokratie, für die soziale Substanz und für die Umwelt. Ich meine, daß eine solche erweiterte Europäische Union auch mehr Kraft hat, den Wunsch der osteuropäischen Partner auf Mitgliedschaft zu befriedigen,
weil nämlich die Voraussetzung für die Stabilisierung in Osteuropa durch die innere Kraft der Europäischen Union dann auch verbessert wird.Ich bin natürlich mit Herrn Lamers einer Meinung, daß wir eine europäische sicherheits- und verteidigungspolitische Identität brauchen. Aber er irrt in einem Punkt: Es geht nicht darum, daß wir erst handlungsfähig werden, wenn alle, die der Europäischen Union beitreten, Mitglied der NATO und der verteidigungspolitischen Identität sind. Das heißt, es geht nicht darum, daß sie dies werden müssen, sondern es geht hier um „können"; denn z. B. Finnland hat als Mitglied der Europäischen Union auch wenn es nicht der NATO beitritt, schon indirekt eine stabilisierende Wirkung für die baltischen Staaten.
Deshalb sollte man, wenn man an Sicherheit denkt, nicht nur immer an Panzer und an irgendwelche Militärs denken — das sage ich als jemand, der sonst in diesem Bereich gar nicht so schüchtern ist —,
sondern man muß eben primär an die sicherheitspolitische Wirkung von ökonomischer Stabilität und von Vernetzung denken.
Herr Lamers, ich habe nichts gegen die Erweiterung der NATO, nichts gegen eine verteidigungspolitische Identität, aber verwechseln Sie nicht die militärische Komponente, die auch unvermeidlich ist, mit der gesamten Substanz. Das ist eine solche Sicherheitspolitik nicht. Die ist primär ökonomisch und auf Vernetzung ausgerichtet, erst sekundär militärisch.Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Borin, Donnerstag, den 10. März 1994 18607Karsten D. Voigt
Ich habe Anfang der 70er Jahre in Norwegen als es das erste Referendum dort gab, eine Reihe von Veranstaltungen gemacht. Die Fischfrage ist so ähnlich zu bewerten, als würde man im Ruhrgebiet für die Stillegung der Zechen eintreten. Das ist nicht nur eine Frage von Ökonomie, von Prozentsätzen des Bruttosozialprodukts, sondern das ist eine Frage der Psychologie eines Landes und einer Region. Wenn man will, daß dieses Land in die EU aufgenommen wird, dann muß man diese Psychologie berücksichtigen. Dann darf man sich nicht so verhalten, daß man in Wirklichkeit abschreckt, statt sich anzunähern.Deshalb sage ich, daß diese Fischfrage, die wirklich ökonomisch für die anderen Staaten der Europäischen Union soviel nicht bedeutet, wegen ihrer hohen Sensibilität In Norwegen bei uns auch mit größerer Kompromißbereitschaft beantwortet werden sollte.
Daran zeigt sich nämlich, ob man Kleinkrämer ist oder ob man politische Perspektiven hat.Ich erwarte einfach, daß man in der Europäischen Union die Erweiterung der EG nicht nur wie die — so wichtig das ist — 22. Ergänzungsnovelle zur Reichsversicherungsordnung betreibt, sondern daß man sie als eine Perspektive der Europäer auffaßt, die die Bürger verstehen. Ich verstehe nicht, daß man einerseits immer sagt, die europäischen Entscheidungen sollen von den Bürgern verstanden werden — das sagen die Spanier und die Briten auch —, daß man sich dann aber bei der praktischen Durchführung so verhält, als ginge es um irgendeine technische Ausführungsverordnung zu einem Detailproblem.Es geht hier um die generelle Perspektive. Sie sind in dieser Frage im Parlament mit uns einer Meinung. Wir sind alle in diesem Punkt einer Meinung. Das ist gut so.Ich glaube aber, daß wir den Deutschen auch sagen sollten, daß die Osterweiterung später, die Norderweiterung jetzt deutschen Interessen entspricht. Ich benutze den Begriff der Mittellage nicht gern. Das ist immer ein gefährlicher Begriff in der deutschen Geschichte gewesen.
Den kann man leicht vermeiden; denn der Begriff von Mitteleuropa hört sich vom Caféhaus in Wien etwas anders an als von der Reichshauptstadt Berlin. Wenn wir gar nach Berlin gehen, so bin ich — das sage ich auch immer — hinsichtlich des Begriffs Mitteleuropa sehr skeptisch. Ich sage bewußt „Reichshauptstadt"; denn damals gab es in Deutschland ein Mitteleuropakonzept, das eine Dominanz zum Inhalt hatte.Deshalb sage ich: Wir Deutschen sollten mit den Begriffen Mitteleuropa und Mittellage etwas vorsichtiger umgehen. Das hört sich bei unseren Nachbarn etwas anders an, als wir es vielleicht meinen. Unser Motiv sollte nicht sein, die Mitte Europas zu sein, sondern unser Motiv muß sein, ein stabilisierender Faktor in Europa zu sein. Wir können nur dann ein stabilisierender Faktor in Europa sein, wenn wir multilateral eingebunden sind, d. h. wenn wir dazu beitragen, daß alle unsere Nachbarn Freunde auch der Deutschen sind.Dann tragen wir indirekt auch dazu bei — das sollten wir auch tun —, daß sie sich untereinander vernetzen und miteinander Freundschaft schließen.
Das heißt: Deutschland als Hauptmotor einer europäischen Vernetzung und Integration entspricht unseren Interessen, entspricht aber auch den Interessen der Nachbarn, ist nicht allein durch die geographische Lage bedingt und ist in keinem Fall identisch mit früheren Mitteleuropakonzepten, die es in Deutschland gegeben hat und die nicht positiv zu bewerten waren.
Nun gibt es bei uns im Bundestag — so wie es scheint — leider keine Einigung über die Europapolitik. Die CSU hat heute bisher nicht richtig mitdiskutiert. Man muß diesen Faktor CSU, glaube ich, mit in die Diskussion einführen, weil man nicht erwarten kann, daß die CDU ihn von sich aus in die Diskussion einführt. Ich sage an die Adresse der CDU/CSU, dabei besonders an die der CDU: Ihre europapolitische Verantwortung, die Sie immer in den Vordergrund stellen, gebietet es trotz des Wahlkampfes, daß Sie den Mut haben, sich mit der wahnsinnigen Theorie und den Stammtischparolen von Herrn Stoiber auseinanderzusetzen.
Herr Kittelmann hat gesagt, die Idee der europäischen Vereinigung, die Idee der europäischen Integration brauche auch Emotionalität. Das ist richtig. Aber sie braucht bestimmt keine Emotionalität im Sinne der Stammtischmentalität von Herrn Stoiber.
Diese Art und Weise, wie hier an primitive antieuropäische Instinkte appelliert wird, müssen wir gemeinsam zurückweisen.
Dazu müßten Sie in dieser Debatte den Mut aufbringen.
— Entschuldigen Sie, das, was Herr Stoiber gestern in Brüssel gesagt hat, war in bezug auf seine Vision Europas auch nicht viel besser. Dort kamen auch wieder alte antieuropäische Vorurteile zum Ausdruck.
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18608 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Karsten D. Voigt
Weil wir nicht möchten, daß in dieser Europadebatte die Argumente der Republikaner schon jetzt auf dem Umweg über die CSU im Parlament Eingang finden — wo die Republikaner hoffentlich nie Platz nehmen werden —, müssen wir diesen Ungeist von Anfang an zurückweisen und verurteilen.
Zum Schluß: Ich glaube, daß die Deutschen insgesamt und auch die Bundesregierung — ich lasse die CSU beiseite — einen Konsens gefunden haben, der von unseren Nachbarn als konstruktiv empfunden wird. Wir sollten in der gleichen Weise fortfahren. Wir sollten nicht — wie manche Ihnen, Herr Kinkel, empfohlen haben — mit der Faust auf den Tisch schlagen. Wir sollten im Sinne einer konstruktiven Herangehensweise auf eine Kompromißbildung hinwirken und sie möglich machen.Ein Deutschland, das nicht nur auf Grund seines großen Gewichts in der Lage ist, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, sondern das auch in der Lage ist, Kompromisse zwischen anderen herbeizuführen, dient seinen eigenen Interessen am meisten. Ein solches Deutschland ist partnerfähig, wirbt für neue Partner und erreicht auch, daß wir von allen als Partner angesehen werden. Insofern ist diese Art europäischer Orientierung das, was unseren Interessen am meisten dient und unsere Nachbarn am meisten von uns erwarten und erhoffen, und zwar besonders nachdem wir vereinigt sind. Ich hoffe, daß wir in diesem Sinne gemeinsam fortfahren.Danke.
Als letzter spricht in dieser Debatte unser Kollege Dr. Martin Mayer.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das, was der Kollege Karsten Voigt über den bayerischen Ministerpräsidenten gesagt hat,
war unter seinem Niveau.
Das große Verdienst von Edmund Stoiber ist, daß er die Debatte um Europa in Deutschland in Gang gesetzt hat,
und zwar eine allgemeine Diskussion, nicht eine nur in akademischen Stuben. Er hat die Sorgen der Mitbürger aufgegriffen und in die Debatte eingebracht.
Wer die Reden von Edmund Stoiber genau liest undihn so kennt wie ich — ich kenne ihn aus langjährigergemeinsamer politischer Arbeit —, der weiß, daßEdmund Stoiber ein leidenschaftlicher Europäer aus Überzeugung ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der geplante Beitritt Finnlands, Norwegens — hoffentlich —, Österreichs und Schwedens — dies darf am Ende einer solchen Debatte ruhig noch einmal gesagt werden — bringt Vorteile für alle Europäer innerhalb und außerhalb der Union. Er dient auch in ganz besonderem Maße dem deutschen Interesse. Die Beitrittsstaaten sind wirtschaftlich leistungsfähig. Als Nettozahler werden sie Deutschland entlasten. Die Zahl der Länder, die mehr einzahlen, als sie bekommen, wird wachsen. Damit wird auch ihre Position gestärkt. Der Binnenmarkt wird größer und leistungsfähiger. Das kommt einer Exportnation wie Deutschland in besonderem Maße zugute; das gibt auch Chancen für neue Arbeitsplätze.
Die Beitrittsstaaten zeichnen sich dadurch aus, daß bei ihnen ähnliche politische Ziele wie bei uns einen hohen Stellenwert haben. Ich nenne zwei Beispiele. Staaten wie Österreich, die schon lange eine Politik der Währungsstabilität betreiben, werden auch wichtige Partner und Verbündete sein, wenn es darum geht, letztlich die Europäische Währungsunion zu verwirklichen.
Oder ich nenne den Umweltschutz. Die Hartnäckigkeit der Österreicher beim Transitabkommen kommt auch den Bürgern Bayerns zugute. Abgasärmere und leisere Lkw, die die Österreicher durchgesetzt haben, führen auch zu besseren Umweltbedingungen in Bayern und letztlich in ganz Deutschland.Finnland, Schweden und Österreich haben durch ihre geographische Lage ein ebenso vitales und elementares Interesse wie wir Deutschen, daß den Ländern in Osteuropa, unseren Nachbarn in Osteuropa geholfen wird und daß sie eine vernünftige politische und wirtschaftliche Entwicklung nehmen können.
Von der geographischen Lage her hat der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union auch eine besondere Bedeutung für meine Heimat, für Südbayern. Die deutsche Grenze nach Südosten ist dann nicht mehr Außengrenze, sondern sie wird eine Binnengrenze.
Der Alpenraum wächst — und hoffentlich kommt auch die Schweiz bald dazu — wieder zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammen.
Die Bürger werden, wenn die Zoll- und Grenzkontrollen wegfallen, unmittelbar spüren, daß sie Vorteile davon haben: weniger Stau am Wochenende und bei Urlaubsfahrten.Italien rückt näher. Von München aus ist Meran in Luftlinie genauso nah wie Erlangen und Venedig genauso nah wie Frankfurt. Das muß man sich einmal
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18609
Dr. Martin Mayer
vor Augen halten. Jahrhundertealte kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen können wieder lebendiger werden.Der Beitritt Österreichs hat auch große Bedeutung für das Gewicht der deutschen Sprache. Die Chance, daß Deutsch als Arbeitssprache in der Europäischen Union mehr Gewicht bekommt, ist dadurch, daß ein zweiter Staat mit deutscher Sprache in die Union kommt, einfach besser.
Der Beitritt von weiteren Staaten hat allerdings nicht nur eine Schokoladenseite. Er verstärkt auch ein Problem in der Europäischen Union, das bisher schon vorhanden ist und das gewachsen ist: Die Europäische Union ist schon bisher durch Erweiterungen schwerfälliger geworden. Ursprünglich waren es 6 Staaten mit 4 Sprachen. Jetzt sind wir in der Situation, 12 Staaten mit 9 Sprachen zu haben, und nach dem Beitritt werden es 16 Staaten mit 12 Sprachen sein. Jeder neu aufgenommene Staat vergrößert die Gremien. Jede zusätzliche Sprache erschwert die gemeinsame Meinungsbildung, die Entscheidungsfindung und verzögert den Verwaltungsablauf.In einer Welt, die sich rasch wandelt, ist das ein nicht hinzunehmender Nachteil. Es ist deshalb höchste Zeit, daß wir nach dem Beitritt in Europa wieder zu Strukturen kommen, mit denen wir schneller gemeinsam handeln können. Das erfordert letztlich eine grundlegende Änderung des inneren Aufbaus der Union. Statt an einer Entscheidung immer mehr Institutionen zu beteiligen, müssen wir wieder mehr dazu kommen, daß die Aufgaben und die Verantwortung deutlicher getrennt werden.
Das gilt sowohl hinsichtlich der Institutionen innerhalb der Gemeinschaft als auch im Verhältnis der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten und Regionen. In beiden Teilen müssen wir zu einer deutlicheren Aufgaben- und Verantwortungsteilung kommen.Ich meine beispielsweise, daß sich der Regionalausschuß sehr wohl die Frage überlegen muß, ob er sich zu einer dritten Europäischen Kammer entwickeln will, die in allen Fragen mitredet, oder ob er sich nicht besser darauf beschränkt, wirklich der Wächter über die Zuständigkeiten der Länder und der Regionen zu sein und damit effektiv und wirksam in seinem Bereich zu arbeiten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Skandinavier mit ihrem ungebrochenen, ungezwungenen und natürlichen Verhältnis zu ihren Nationen und die Österreicher mit ihren bundesstaatlichen Erfahrungen werden für uns wichtige Partner sein, wenn es darum geht, in Europa zentralistische Bestrebungen abzuwehren und ein Europa der Vielfalt zu bauen.Ich darf zusammenfassend sagen: Mit dem Beitritt von neuen Mitgliedstaaten wird es immer dringlicher, die Institutionen zu reformieren — mit dem Ziel, die Europäische Union wieder stärker handlungsfähig zu machen. Dennoch: Der Beitritt von Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen liegt im deutschen und europäischen Interesse. Die Bundesregierung wird deshalb gebeten, die Beitritte weiter mit Nachdruck zu fördern, denn Europa ist unsere Zukunft.
Meine Damen und Herren, damit kann ich die Aussprache schließen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Erweiterung der EG. Dazu liegen Ihnen die Drucksachen 12/5536 und 12/6653 vor. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands
— Drucksache 12/6614 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ältestenrates— Drucksache 12/6993 —Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Baumeister Ina AlbowitzHelmut Estersbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/6994 —Berichterstattung:Abgeordnete Dieter Pützhofen Ina AlbowitzHelmut Estersb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zumdritten Zwischenbericht der Konzeptkommission des Ältestenrates zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlandszu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hans Modrow, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeUmzug der Bundesregierung und des Deutschen Bundestageszu dem Antrag der Abgeordneten Hans Martin Bury, Simon Wittmann , Birgit Homburger und weiteren Abgeordneten
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18610 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergUmsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 über den Umzug von Parlament und Bundesregierung nach Berlinzu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Angela Stachowa und der Gruppe der PDS/Linke Liste zur Beschlußempfehlung des Ältestenrates zum zweiten Zwischenbericht der Konzeptkommission des Ältestenrates zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands— Drucksachen 12/6615, 12/6618, 12/6623, 12/2886 , 12/6993 —Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Baumeister Ina AlbowitzHelmut Estersc) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Angela Stachowa und der Gruppe der PDS/Linke ListeVerwirklichung der Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991— Drucksachen 12/2146, 12/3045 —Ich weise darauf hin, daß die Gruppe PDS/Linke Liste zur Schlußabstimmung über den Entwurf des Berlin/Bonn- Gesetzes namentliche Abstimmung wünscht. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung aber nur von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages verlangt werden. Ob der Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste die erforderliche Unterstützung hat, wird kurz vor der Schlußabstimmung festzustellen sein.Nach der Vereinbarung im Ältestenrat soll ich Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vorschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.Ich eröffne die Debatte und erteile zunächst der Kollegin Frau Brigitte Baumeister das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach langen Diskussionen und zähen Abstimmungsprozessen liegt Ihnen heute zur zweiten und dritten Beratung das Berlin/Bonn-Gesetz vor. Auch ein weiterer — der dritte — Zwischenbericht der Konzeptkommission des Ältestenrats soll heute zustimmend zur Kenntnis genommen werden. Dieses Gesetz, so meine ich, ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Umsetzung des Beschlusses vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands.
Beide Städte, Bonn und Berlin, gewinnen nun — ich habe es schon häufig erwähnt — jede für sich die gewünschte Planungssicherheit.
Für Bonn, Sinnbild der deutschen Geschichte seit dem Jahre 1949, bedeutet dies das endgültige Ende des Provisoriums. Ohne Zweifel hat Bonn seine Aufgaben hervorragend gemeistert.
Die Geschichte der Stadt ist aufs engste mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verknüpft. Berlin ist Zukunft für unsere Demokratie und damit sichtbarer Beweis für die deutsche Wiedervereinigung.
Ausdrücklich festgeschrieben — nicht nur im Zwischenbericht, sondern auch im Beschlußentwurf — ist das Zeitziel für den Umzug: In der übernächsten, nämlich der 14. Legislaturperiode möglichst früh, spätestens jedoch in der Sommerpause des Jahres 2000 soll der Deutsche Bundestag — und mit ihm die Bundesregierung — die Arbeit in Berlin aufnehmen.
Der eine oder andere Kollege mag mit der Festschreibung dieses Zeitziels seine Schwierigkeiten haben. Manche mögen auch den Umzug an sich noch in Frage stellen. Doch die Zustimmung, so hoffe ich, wird all den Zweiflern dadurch erleichtert, daß das Gesetz eine faire Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin einerseits und der Bundesstadt Bonn andererseits festschreibt.
Dies bedeutet Ansiedlung von Bundesministerien in Berlin und in Bonn. Mit diesem Kombinationsmodell soll der Beschluß vom 20. Juni 1991 mit Leben erfüllt und dem oft befürchteten „Rutschbahneffekt" entgegengewirkt werden. Sowohl Berliner als auch Bonner haben also — das wollte ich Ihnen an dieser Stelle sagen — Kompromisse schließen müssen. Es war gut so, daß wir hier gemeinsam zu diesem Ergebnis gelangt sind.
Lassen Sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch einige Worte zu der Beschlußempfehlung sagen, die in der letzten Ältestenratssitzung auf Wunsch der CDU/CSU-Fraktion noch einige Ergänzungen erfahren hat. Ich meine, ein ganz besonders wichtiger Punkt der Beschlußempfehlung findet sich unter dem Buchstaben c wieder. Dort wird für die Bauten des Bundestages und der Bundesregierung das Prinzip der äußersten Sparsamkeit bekräftigt. Außerdem ist eine Absenkung der Kosten aller Baumaßnahmen anzustreben.
— Nein, Herr Kollege Conradi, die Kuppel ist hier ausdrücklich nicht explizit erwähnt.
— Ich halte einen Augenblick inne, weil ich Sie schon gesehen habe, Herr Conradi. Ich würde gerne Ihre Zwischenfrage beantworten.
Bitte, Herr Kollege.
Ist die Beschlußlage Ihrer Fraktion, Frau Kollegin, so zu verstehen, daß der Reichstag in einer gehobenen Pinselsanierung mit
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18611
Peter ConradiKuppel — und das alles zum halben Preis — in Ordnung gebracht wird?
Ich halte die Formulierung schon für recht interessant; das muß ich Ihnen zugestehen. Aber wir haben nie davon gesprochen, daß das auch mit der Kuppellösung zum halben Preis zu machen sei.Dieser Punkt der Kostenreduktion hat im übrigen in der letzten Woche für erhebliche Irritationen gesorgt. Ich meine jedoch, wir sollten den so ausgedrückten Zwang zur Sparsamkeit auch als eine gewisse Chance begreifen. Im Allparteiengespräch beim Bundeskanzler Anfang des Jahres, am 14. Januar, wurde auf Vorschlag der Bundesregierung eine Obergrenze für den Umzug in Höhe von 20 Milliarden DM festgelegt. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen bekanntlich weitere Einsparmaßnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden DM erbracht werden. Der Haushaltsausschuß hat der Bundesregierung bereits entsprechende Vorgaben gemacht. Aber ich meine, was für die Bundesregierung gilt, sollte durchaus auch für den Bundestag fruchtbar sein können. Wo steht denn geschrieben, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die vom Finanzministerium vorgegebenen Schätzungen für Neubauten tatsächlich ausgeschöpft werden müssen?
Um dies am Beispiel des Reichstages deutlich zu machen: Auch der Reichstagsumbau darf unserer Meinung nach durchaus weniger kosten als die vorgegebene Kostenschätzung von 605 Millionen DM.Auch im Alltag lehrt uns die Erfahrung — davon haben wir uns leiten lassen —: Das, was teuer ist, muß nicht unbedingt besser sein.
Insofern, meine ich, ist ein Appell zur Sparsamkeit zugleich ein Appell an die Kreativität des Architekten.
Einem so leistungsfähigen Büro wie dem Büro Foster & Partner traue ich zu, daß es die entsprechenden Einfälle noch haben wird. Schon manche geniale Idee ist auf Grund eines Kostendrucks entstanden.Es gilt auch: Nicht alles, was hier und da gewünscht wird, muß unbedingt sinnvoll sein. Wir müssen — das wissen wir alle — in Zeiten der Sparsamkeit in allen Bereichen sparen, auch in den Bereichen, die den Umzug betreffen. Ich füge hinzu: Dabei sollte das Parlament mit gutem Beispiel vorangehen.Doch eines sollte auch beim Reichstag sichergestellt sein: eine bessere Erschließung als die derzeitige. Eine gute funktionale Zuordnung muß auch unter dem Druck der Sparsamkeit gewahrt bleiben; denn wir wollen in Berlin ein Parlament bauen bzw. umbauen, das auch in Zukunft Bestand hat.
Im übrigen ist bezüglich der Aufregung gerade aus den Reihen der Sozialdemokraten einiges zu bemerken. Immerhin werden dort die Zahlen so schnell gewechselt, daß es manchmal schwerfällt zu folgen.
Ich beziehe mich hier auf eine Aussage des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, Rudi Walther,
der entgegen den von ihm ursprünglich genannten 50 Milliarden DM in einer namhaften deutschen Zeitung jetzt plötzlich von 2 Milliarden DM Umzugskosten spricht. Auch hier täte etwas mehr Seriosität gut; denn dies ist eine deutliche Abweichung von den geschätzten Kosten in dem Kostentableau in Höhe von 20 Milliarden DM und insofern von uns auch nicht ernst zu nehmen.
— Richtig.
Als der Architekt, Sir Norman Foster, im vergangenen Jahr in der Baukommission seine Kosten in Höhe von 246 Millionen DM präsentierte, hielt damals die Bauverwaltung dagegen — das ist durchaus so bernerkenswert, daß man es hier einmal erwähnen muß —, daß sich nach ihren Berechnungen die Kosten des Umbaus auf bis zu 700 Millionen DM belaufen würden. Einige Mitglieder der Baukommission haben dies damals in Frage gestellt. Man könnte auch formulieren: Sie wollten es nicht zur Kenntnis nehmen; sie wollten es nicht hören.Diese sehr leichtfertige Aussage des Architekten und der gute Glaube an die Richtigkeit einer einmal gemachten Aussage machen uns heute die allergrößten Probleme. Die Unterscheidung, die der Architekt vorgenommen hat, nämlich die Trennung zwischen Baugrundkosten und Bauzusatzkosten, ist für den Laien und damit für viele von uns im Parlament nicht einfach nachzuvollziehen. Denn am Ende rechnet man zusammen und betrachtet die Gesamtkosten.Schließlich möchte ich noch einige Punkte der Beschlußempfehlung zur Wohnraumversorgung und zu den dienstrechtlichen Maßnahmen für die betroffenen Mitarbeiter ansprechen. Wir wollen heute erneut bekräftigen, daß die vom Umzugsbeschluß betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht schlechter gestellt werden als bisher.§ 8 des Gesetzes schreibt Regelungen zum Ausgleich von verlagerungsbedingten Belastungen vor —„soweit dies erforderlich und angemessen ist". Dabei geht es nicht um eine ungerechtfertigte Sonderbehandlung der Betroffenen. Das Wort „angemessen"
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18612 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Brigitte Baumeisterzielt gerade auf die Abwehr möglicher, aber eben nicht angemessener Wunschvorstellungen. Die Aussagen der Zwischenberichte der Konzeptkommission zur Sozialverträglichkeit des Umzuges, die das Parlament zustimmend zur Kenntnis genommen hat, sind jedoch für die CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause weiter bindend.
Frau Kollegin Baumeister, der Abgeordnete Dr. Seifert möchte eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr Dr. Seifert.
Frau Kollegin Baumeister, Sie sprechen von der Angemessenheit der Ausgleichszahlungen für nach Berlin ziehende Beamte; sie sollten angemessen sein in dem Sinne, daß es den Beamten nicht schlechter gehen solle als hier. Aber können Sie mir bitte sagen, ob es in bezug auf die Berlinerinnen und Berliner verhältnismäßig ist, wenn ausdrücklich gesagt wird, daß die Mieten für die Beamten, die aus Bonn nach Berlin ziehen müssen oder wollen, auf das untere Niveau der Vergleichsmiete herabsubventioniert werden, während das für Berlinerinnen und Berliner nicht geschieht?
Herr Kollege, ich darf Ihnen hier erwidern, daß wir die Details noch nicht festgelegt haben. Sie sollten doch zur Kenntnis nehmen, daß wir gerade hinsichtlich der von § 8 geforderten Regelungen noch in Verhandlungen stehen und uns sogar erst am Anfang dieser Verhandlungen befinden. Deshalb wurden bislang noch keine definitiven Aussagen zur Konkretisierung weder in die eine noch in die andere Richtung gemacht.
Ich komme zum Schluß. Ich möchte betonen, daß eine möglichst weitgehende Gleichbehandlung der Fraktions- und Abgeordnetenmitarbeiter mit den Bundesbediensteten anzustreben ist. Daß dies in der Beschlußempfehlung nicht im Gesetz steht, liegt einfach daran, daß eine gesetzliche Festschreibung rechtlich nicht möglich ist.
Insgesamt haben wir ein Ergebnis erzielt — so hoffe ich —, das zur Befriedung beitragen wird und auf dessen Grundlage wir Schritt für Schritt voranschreiten können, um den Umzugsbeschluß in entschiedener, aber auch verantwortlicher Weise umzusetzen.
Die Voraussetzungen dafür haben wir mit diesem Gesetz geschaffen. Ich bitte Sie, dem Gesetz sowie dem Zwischenbericht Ihre Zustimmung zu geben.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Helmut Esters das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Legislaturperiode nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit erlebt, wie schwierig es ist, in einem Parlament mit 662 Abgeordneten und fast 280 Gremien mit unterschiedlichstem Wissens- und Informationsstand und einer latenten Neigung zum Chaotischen Entscheidungen zu treffen.
Ein Löwenanteil der gemeinsamen Anstrengungen richtete sich weniger darauf, den Stoff zu durchdringen und jeweils präsent zu haben, als vielmehr darauf, Meinungen in unübersichtlichem Gelände zusammenzuführen.Ich halte es daher für besonders bemerkenswert, daß der Deutsche Bundestag die Kraft findet, den seinerzeit unter hohen Emotionen mit knapper Mehrheit gefaßten Beschluß vom 20. Juni 1991, der in sich ein kompliziertes Gleichgewicht widerstreitender Interessen enthält, aber gerade darum mehrheitsfähig war, so fortzuentwickeln, daß nunmehr die gesetzgeberische und planungssichernde Grundlage für den Umzug nach Berlin einerseits und den fairen Ausgleich für die Region Bonn andererseits abgeschlossen werden kann.Allerdings war und ist diesèr Prozeß ständig gefährdet, weil die von Parlament und Fraktionen mit der Entscheidungsvorbereitung betrauten Kolleginnen und Kollegen sich Machtansprüchen der Hierarchie ausgesetzt sahen,
die, vornehm formuliert, aus einer Position sachlichfachlicher Unbefangenheit heraus erreichte Übereinkünfte in Frage stellten
oder konterkarierten. Dies allerdings ist von Fraktion zu Fraktion sehr unterschiedlich.
Das Schielen auf die kurzfristige Tagesschlagzeile, das teilweise Fehlen eines Gespürs dafür, daß das Parlament in seiner eigenen Angelegenheit Zusammenarbeit braucht, anstatt jeder Pressestimme und Opportunität nachzulaufen,
ist ein Krebsschaden, der leider auch heute die zu treffenden Entscheidungen mit Mißklängen begleitet.
Ihnen liegen Beschlußempfehlung und Bericht des federführenden Ältestenrats, das Votum des Innenausschusses und der Bericht des Haushaltsausschusses zum Bonn/Berlin-Gesetz vor, das auf der Grundlage des dritten Zwischenberichts der Konzeptkommission beschlossen werden soll. Ich darf nochmals auf einige Eckpfeiler hinweisen, auf denen die Verlagerung des Parlamentssitzes und des Kernbereichs der Regierungsfunktionen nach Berlin ruht. Sie lauten: Der Deutsche Bundestag will in der übernächsten, der 14. Legislaturperiode möglichst früh, spätestens
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Helmut Estersin der Sommerpause 2000, seine Arbeit in Berlin aufnehmen.Die Bundesregierung wird gleichzeitig mit der Arbeitsaufnahme des Deutschen Bundestages in Berlin ihre Präsenz dort sicherstellen, um ihrer Verantwortung gegenüber dem Parlament nachzukommen.Die faire Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn gestaltet sich so, daß der Kernbereich von Regierungsfunktionen nach Berlin verlagert wird, daß aber — ohne eine genaue Zahl zu nennen — auch Ministerien mit erstem Dienstsitz in Bonn bleiben werden, ferner, daß in Bonn Politikbereiche eingerichtet werden, so daß ein Großteil der Arbeitsplätze in Bonn erhalten bleibt und die Verluste durch Behördenverlagerungen nach Bonn gemäß den Beschlüssen der Föderalismuskommission ausgeglichen werden.So ist auch im Berlin/Bonn-Gesetz als wichtige Ausgleichsmaßnahme für die Region Bonn der Ausbau Bonns als Wissenschaftsstandort und als Standort für Entwicklungspolitik geplant. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang ausdrücklich das von den Universitäten Bonn, Köln und Aachen vorgestellte Konzept „CAESAR plus", das die Errichtung eines internationalen Forschungs- und Ausbildungszentrums in Bonn vorsieht.
Wir gehen davon aus, daß mit der Realisierung der drei Zentren — des Zentrums für angewandte Naturwissenschaften und Hochtechnologieforschung, des Zentrums für Europäische Integrationsforschung und des Nord-Süd-Zentrums für Entwicklungsforschung — möglichst bald begonnen werden kann.
Dazu kommen Ausgleichsleistungen, über die noch vor der Sommerpause Vereinbarungen geschlossen werden sollen. Ebenfalls soll der Bund Vereinbarungen mit Berlin zu den Aufgaben der gesamtstaatlichen Repräsentation schließen.Bis zur Arbeitsaufnahme des Parlaments in Berlin sind für Abgeordnete, Bedienstete der Bundesverwaltung sowie Mitarbeiter von Fraktionen und Abgeordneten Wohnungen zu schaffen. Es sind ferner dienstrechtliche und sonstige Maßnahmen zu treffen, um die vom Umzugsbeschluß betroffenen Mitarbeiter nicht schlechterzustellen als bisher.Der § 8 dieses Gesetzes enthält den Anspruch auf einen Ausgleich von verlagerungsbedingten Belastungen der Mitarbeiter der Bundesverwaltung. Die Personal- und Sozialkommission unter Vorsitz von Herrn Vizepräsident Becker hat in enger Abstimmung mit den Personalvertretungen und der Bundesregierung Analogregelungen für die Mitarbeiter der Fraktionen und der Abgeordneten entwickelt und wird dies weiter tun.In unsere Fürsorgepflicht sind aber auch diejenigen einbezogen, die von diesem Berlin/Bonn-Gesetz nicht betroffen sind, deren Dienstsitz aber dennoch verlagert wird. Wir erwarten und sind uns darüber einig, daß auch die Bediensteten von Bundesbehörden, die auf Grund der Beschlüsse der Föderalismuskommission ihren Dienstort wechseln, in gleicher Weise eine Behandlung analog dem § 8 dieses Gesetzes erfahren. Ich denke dabei, um ein Beispiel zu nennen, an die Mitarbeiter des Umweltbundesamtes, die von Berlin nach Dessau gehen.Diese Eckwerte gleichen als Kompromiß die Vielzahl widerstreitender Interessen der vom Berlin-Beschluß Betroffenen aus. Sie müssen — und ich bin ganz sicher, sie werden — verläßliche Grundlage bleiben.Nach Inkrafttreten des Berlin/Bonn-Gesetzes und der Zustimmung zu den Grundsätzen des dritten Zwischenberichtes ist es unser aller Pflicht, auf die strikte Einhaltung zu achten. Das gilt auch für das Verfassungsorgan Bundesregierung.Es spricht nicht gerade für die Vertragstreue der Bundesregierung,
wenn das Bauministerium und das Finanzministerium im Haushalt bereits bewilligte und vertraglich abgesicherte Leistungen an Bonn in Frage stellen. Hier wird in einer sensiblen Frage, um es vorsichtig auszudrücken, ungeschickt verfahren. Wir bitten herzlich darum, alles zu tun, um hier das Vertrauen wiederherzustellen.Die Belastungen, unter denen das Berlin/BonnGesetz und der Dritte Zwischenbericht entstanden sind, wurden durch die Finanz- und Haushaltskrise außerordentlich vergrößert. Natürlich kann der Umzug nicht zum Nulltarif vollzogen werden. Es werden aber auch nicht die Gruselkosten entstehen, mit denen der Umzug temporär torpediert werden sollte.
Dies ist unehrlich und unterläuft die berechtigte Erwartung der Öffentlichkeit, daß die Politik berechenbar und verläßlich handeln muß. Mir scheint, daß die vom BMF ermittelten Kosten von 20 Milliarden DM, bei Preisstand 1993, verteilt über zehn Jahre, aus gegenwärtiger Sicht einen knappen, aber einhaltbaren Rahmen setzen.Der mitberatende Haushaltsausschuß hat in seinem 96er Bericht einvernehmlich unter den Fraktionen festgestellt, daß die Kosten dieses Gesamtvolumen nicht überschreiten dürfen, daß sie mit der Haushaltslage des Bundes vereinbar sind und daß sie in der Finanzplanung für die Folgejahre entsprechend fortgeschrieben werden sollen. Der Haushaltsausschuß hat aber zugleich darauf hingewiesen, daß die in der Anlage zum Vorblatt wiedergegebenen Einzelprojekte, aus denen das Gesamtvolumen ermittelt ist, der jeweils gesonderten Bewilligung im Zuge eines Haushaltsverfahrens bedürfen.Im Rahmen dieses Budgetrechts des Parlaments und des Haushaltsausschusses hat der Haushaltsaus-
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Helmut Estersschuß die Bundesregierung bereits beauftragt, ihr Umzugskonzept mit dem Ziel zu überprüfen, inwieweit auf Neubauten verzichtet werden kann. Er drängt ferner darauf, daß über die Nutzung solcher Altbauten des Bundes in Berlin, die nur teilweise oder überhaupt nicht genutzt werden, aber mit hohen Kosten unterhalten werden müssen, noch vor der Sommerpause entschieden wird.
Meine Fraktion hätte es im Zuge der Beratungen vorgezogen, wenn dem Plenum zu den Einzelmaßnahmen statt eines pauschalen Bewilligungsvorbehaltes konkretere Vorgaben hätten erteilt werden können, z. B. daß die Kosten für den Abriß des Palastes der Republik oder den Bau eines nach meiner Auffassung überflüssigen Kongreßzentrums jedenfalls nicht umzugsbedingt sind
und deshalb nicht in die Kostenschätzung hineingehören.
Wenn meine Fraktion gleichwohl der jetzt vorliegenden Fassung des Berichtes des Haushaltsausschusses zustimmt, so in der Annahme,
daß die künftigen Einzelbewilligungen des Haushaltsausschusses vom Grundsatz her die von den Partei- und Fraktionsvorsitzenden unter Leitung des Bundeskanzlers und unter Mitwirkung der Bundestagspräsidentin abgesegneten Entscheidungen beachten. Diese Verabredungen sind auch Grundlage des Berlin/Bonn-Gesetzes und des dritten Zwischenberichts.Nach der durchgängigen Auffassung in meiner Fraktion sind das Berlin/Bonn-Gesetz und die wesentlichen Maßgaben des dritten Zwischenberichts, zu denen z. B. auch der Umbau des Reichstags zu einem dauerhaften und belebten Mittelpunkt des Parlaments, die Neubauten im Dorotheenblock und am Alsenblock sowie die Nutzung der vorgesehenen Altbauten gehören, eine verbindliche Grundlage.Wir sind von Anfang an beschlußtreu gewesen. Zu dem, was 1991 beschlossen wurde und was seither in den drei Zwischenberichten einvernehmlich entwikkelt worden ist, stehen wir. Wir stehen zu dem, was die Partei- und Fraktionsvorsitzenden, die Städte Berlin und Bonn, die Bundesregierung und die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg und die Bundestagspräsidentin am 14. Januar 1994 verabredet haben.Ich bedaure sehr, daß es speziell in den letzten Wochen innerhalb der CDU/CSU-Fraktion so viele Widersprüche gab.
Ich wäre froh, wenn ein sichtbar werdendes Herrschaftsgebaren einzelner gegenüber den übrigen Fraktionen langsam auslaufen könnte.
Das würde der gemeinsamen Arbeit außerordentlich dienlich sein, denn bis jetzt hat der Deutsche Bundestag alle Entscheidungen in diesem Bereich zügig getroffen. Er darf nicht Ursache für Planungsverzögerungen sein, denn das würde auch Verteuerungen bedeuten.
Nach Auffassung meiner Fraktion kann der Reichstagsumbau mit bestimmten Maßgaben in die Entwurfs- und Genehmigungsplanung gehen.
Natürlich wünschen wir größtmögliche Sparsamkeit. Sie ist uns ohnehin vom Haushaltsgrundsätzegesetz her vorgeschrieben.
Wir sollten aber nicht an Symptomen kurieren und zum Schluß ein Unterbringungschaos für den Deutschen Bundestag mit provisorischen, recht oder schlecht funktionierenden Gebäuden produzieren.
Ani Ende dieser schwierigen Operation eines Berlin/Bonn-Gesetzes und des dritten Zwischenberichts möchte ich namens meiner Fraktion allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich danken, aber auch und vor allem den beteiligten Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung und den beteiligten Ministerien für ihre aktive und konstruktive Arbeit
meinen Dank aussprechen. Für die beteiligten Beamten ist es sicherlich nicht immer leicht gewesen, in den viele Stunden dauernden Sitzungen Fassung zu bewahren.
Von hier aus auch meinen allerherzlichsten Dank und beste Genesungswünsche an Herrn Staatssekretär Kroppenstedt vom Bundesinnenministerium, für dessen Hilfe wir dankbar sind. Er ist zur Zeit erkrankt.
Meine Fraktion stimmt der Beschlußempfehlung und dem Bericht des Ältestenrats zum Berlin/BonnGesetz, dem Gesetz selbst sowie dem dritten Zwischenbericht zu.Herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Ina Albowitz das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18615
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen uiid Herren! Eigentlich könnten wir jetzt, nachdem Helmut Esters geredet hat, abstimmen. Es hätte keiner besser machen können, Helmut. Ich bedaure sehr, daß du in den kommenden Jahren, wenn wir uns weiter mit dem Thema befassen, nicht mehr dabei sein wirst.
Meine Damen und Herren, wir legen Ihnen heute den interfraktionellen Entwurf des Berlin/Bonn-Gesetzes und den dritten Zwischenbericht der Konzeptkommission zur abschließenden Beratung und Annahme vor. Damit erfüllt der Deutsche Bundestag heute — manche würden sagen: endlich — die am 20. Juni 1991 übernommene Bringschuld zur gesetzlichen Umsetzung des Umzugs von Parlament und Regierung nach Berlin.Noch in der ersten Beratung des Deutschen Bundestages zu diesem Gesetzentwurf am 20. Januar 1994 konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Diskussion in manchen Zügen einer Wiedervorlage der Debatte vom 20. Juni 1991 glich. Natürlich hat das vor zwei Monaten jeder von sich gewiesen, aber es reicht auch schon ein Blick auf die Anträge, die parallel zum interfraktionell eingebrachten Entwurf vorgelegt worden sind. Sie stellen nach wie vor den demokratisch gefaßten Beschluß von 1991 in Frage und behindern einen wichtigen Teil zur Vollendung der deutschen Einheit, der wir uns alle verpflichtet fühlen. Wir haben diese Anträge abgelehnt, genauso wie der federführende Ältestenrat und der mitberatende Innen- und Haushaltsausschuß.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, daß zwischenzeitlich in der Diskussion über unseren Gesetzentwurf und den dritten Zwischenbericht eine der Bedeutung dieser, wie ich sagen möchte, Jahrhundertentscheidung angemessene Sachlichkeit Platz gegriffen hat. Allen Kolleginnen und Kollegen in der Personal- und Sozialkommission sowie in der Bau-und Konzeptkommission und in den beteiligten Ausschüssen möchte ich dafür ganz herzlich danken. Ich schließe mich ausdrücklich auch dem von Helmut Esters hier vorgebrachten Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung an.Wir haben im Zuge der Beratungen zahlreiche klärende Gespräche geführt und in wichtigen Punkten nachverhandelt. Wir legen Ihnen das Ergebnis als Beschlußempfehlung vor. Noch in der ersten Beratung gab es einiges Hin und Her über die von meiner Fraktion vertretene Auffassung, den Umzugstermin wegen seiner Bedeutung und der Signalwirkung auch für die Bevölkerung in das Berlin/Bonn-Gesetz direkt aufzunehmen. Ich begrüße es daher ausdrücklich, daß der Ältestenrat heute in seiner Empfehlung dem Bundestag vorschlägt, den Passus zu beschließen, daß „der Deutsche Bundestag seine Absicht bekräftigt, in der übernächsten ... Legislaturperiode möglichst früh, spätestens in der Sommerpause 2000, seine Arbeit in Berlin aufzunehmen".Mit dieser zeitlichen Bindung bestätigt der Deutsche Bundestag erstmals nach dem 20. Juni 1991, daß er in der 14. Legislaturperiode nach Berlin gehen will. Er vermeidet damit aber auch terminsichernde Maßnahmen bei den Bauten, die wir alle nicht wollen und die unter Umständen erforderlich gewesen wären, wenn der Umzugstermin als solcher in das Gesetz aufgenommen worden wäre.Um einiges weitergekommen sind wir auch in der problematischen Frage der arbeits- und sozialrechtlichen Belange der vom Umzug betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten und Fraktionen. Wir haben ihnen gegenüber — das betone ich ausdrücklich — eine ebenso geartete Fürsorgepflicht wie gegenüber den Bediensteten in den öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen. Die Problematik liegt in der Verschiedenheit der Dienstverhältnisse. Jeder in diesem Hause weiß, daß die Arbeitsverträge mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie auch mit dem größten Teil der Mitarbeiter der Fraktionen privatrechtlicher Natur und daher grundverschieden von öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen sind.Es gibt aber auch keinen Zweifel daran, daß das schon in den ersten beiden Berichten der Konzeptkommission aufgenommene Postulat der Sozialverträglichkeit des Umzugs auch für unsere Mitarbeiter und die der Fraktionen zu gelten hat. Es ist mir daher ein persönliches Anliegen, daß in der vorliegenden Beschlußempfehlung des Ältestenrates diese moralische Verpflichtung ausdrücklich anerkannt wird.
Meine Damen und Herren, mit dieser Beschlußempfehlung richten wir dann aber auch zugleich die Aufforderung an den Ältestenrat und die Fraktionen des Deutschen Bundestages, alsbald die notwendigen Regelungen zu schaffen, die die Gleichbehandlung der privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisse sicherstellen.Mit dem Berlin/Bonn-Gesetz liegt Ihnen zugleich als Anlage das Kostentableau der Bundesregierung mit einem auf 20 Milliarden DM begrenzten Gesamtvolumen vor.Nun ist ja hinlänglich bekannt, meine Damen und Herren, daß sich spätestens bei den Kosten die Geister scheiden, und wir machen da auch keine Ausnahme.Vorab eine positive Bemerkung: Die Ausgleichsleistungen für die Region Bonn konnten auf 2,7 Milliarden DM deutlich nachgebessert werden, und wir werden heute beschließen, daß diese vereinbarten Ausgleichsleistungen für die Region zügig und vollständig umgesetzt werden. Dabei wird die Bundesregierung aufgefordert, Bonn als Bundesstadt in dieser Funktion zu fördern und zu unterstützen.Die Kehrseite der Kostenmedaille ist hingegen weniger erfreulich. Bei manchen Diskussionsbeiträgen bzw. Presseveröffentlichungen der letzten Tage konnte man sogar den Eindruck gewinnen, daß der gesamte Umzug wieder einmal in den Kinderschuhen steckt. Wir haben bereits eine breite Geschäftsgrundlage, die im Deutschen Bundestag durch die zustimmende Kenntnisnahme der ersten beiden Zwischenberichte beschlossen worden ist. Um so ärgerlicher ist es, wenn heute vereinzelt das seit dem Umzugsbe-
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Ina AlbowitzSchluß mühsam erarbeitete Gesamtkonzept der Verlagerung wieder einmal in Frage gestellt wird.Aus Haushaltssicht sind daher meines Erachtens an dieser Stelle ein paar klarstellende Bemerkungen erforderlich: Es ist viel über die Nutzung von Altbauten bzw. die Errichtung von Neubauten in Berlin geredet worden. Damit das Gesamtvolumen des Umzugs von 20 Milliarden DM gehalten werden kann, hat der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages am 2. Februar 1994 die Bundesregierung aufgefordert, im Rahmen einer Neubewertung die Unterbringung der Bundesregierung in Altbauten zu überprüfen. Es macht auch in der Tat keinen Sinn, wenn vorhandene bundeseigene Liegenschaften in Berlin nicht zu Umzugszwecken genutzt werden, während zugleich Neubauten mit einem enormen Kostenaufwand erstellt werden.
— Ja nun, ganz langsam, ganz langsam.Wir haben allerdings nicht beschlossen, daß bis zum Jahr 2000 keine Neubauten vorgenommen werden können. Zum einen liegt uns die Neubewertung der Bundesregierung noch nicht vor, und zum anderen, meine Damen und Herren, würde ein angeblich im Raum stehender so gefaßter Beschluß die bisherigen Entscheidungen, daß wir nicht in Provisorien umziehen, konterkarieren.Und noch ein Weiteres: Wenn wir heute inzident auch über das Kostentableau entscheiden, so entscheiden wir nur über eine Kostenobergrenze. Alle den Umzug betreffenden Ausgaben stehen unter Haushaltsvorbehalt, und jede einzelne Finanzmaßnahme wird im Ausschuß gesondert beraten werden müssen.Für den Umbau im Reichstag heißt das aber keinesfalls — und das muß ich im Namen meiner Fraktion ganz ausdrücklich sagen —, daß wir einer sogenannten Pinselrenovierung oder, wie ich heute morgen gehört habe, einer gehobenen Pinselrenovierung zustimmen werden.
Nach der Beschlußfassung am 20. Juni 1991 standen hinsichtlich des Umbaus zwei Möglichkeiten zur Disposition, nämlich zum einen die Herrichtung mit möglichst geringem Kostenaufwand unter Inkaufnahme einer späteren Sanierung des Gebäudes und zum anderen ein abschließender Umbau des Reichstages, der den Erfordernissen der nächsten Jahrzehnte gerecht wird.Heute sind wir in der Entscheidungsfindung jedoch ein beträchtliches Stück weiter; denn schon im ersten Zwischenbericht haben wir uns festgelegt, daß die Herstellung der Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages in Berlin einen Umzug in Provisorien ausschließt.
Das bedeutet für den Reichstag, daß ohne Zwischenlösung der Ausbau zum Zwecke der dauerhaften Nutzung erfolgen soll.
Alles andere, meine Damen und Herren, ist wirklich Schnee von gestern. Wir wissen doch alle — und das sollten wir in den letzten Jahren daraus gelernt haben —, daß anfängliche Flickschusterei später dann schließlich doch zu einem kompletten Umbau führt, welcher im Ergebnis erheblich teurer ist als das, was wir bisher beschlossen haben.
Lassen Sie uns daher bitte nicht pinseln, sondern nach vernünftigen Lösungen suchen, die in den finanzpolitischen Rahmen passen.Im übrigen möchte ich Sie bei diesem Punkt aber auch noch an ein ganz wichtiges Essential aus dem Gründungsverfahren der Bundesbaugesellschaft erinnern. Wir haben dezidiert baubegleitende Planung ausgeschlossen. Das gilt auch für den Deutschen Bundestag, der war nämlich damit gemeint. Wir sollten jetzt nicht versuchen, dieses durch die Hintertür wieder einzuführen.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß: Wir, meine Fraktion, wollen für Berlin die Herstellung einer Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung, die sparsam, aber angemessen ist. Wir wollen für Bonn einen fairen Ausgleich. Ich glaube, mit der Verabschiedung des heutigen Gesetzes und des Zwischenberichtes sind wir diesem Ziel wieder ein Stück nähergekommen. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Modrow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die Bundestagsdebatte am 20. Juni 1991 mit dem Beschluß über den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin endete, gab es nicht wenige, die sie als eine Sternstunde des deutschen Parlamentarismus bezeichneten. Heute, knapp drei Jahre später, sind die Sterne wohl verblaßt, und hehre Worte werden schon fast vergessen.
Der Beschluß sah vor, bis zum Jahre 1994 die Arbeitsfähigkeit und innerhalb der nächsten zehn Jahre die volle Funktionsfähigkeit für Bundestag und Bundesregierung in Berlin herzustellen. Eine Arbeitsfähigkeit ist nicht einmal im Ansatz zu sehen; von der Funktionsfähigkeit sind wir zumindest genauso weit entfernt wie im Juni 1991. Endloser Streit innerhalb der Regierungsparteien, Verzögerungstaktik und wahltaktische Manöver, Grundstücksspekulationen und ein Geld und Zeit verschlingender Gigantismus, der jetzt zu einem Teil an den harten finanzökonomischen Realitäten gescheitert ist, haben den Beschluß
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Dr. Hans Modrow
seines Sinnes entleert und fast in sein Gegenteil verkehrt.
Das vorliegende Berlin/Bonn-Gesetz widerspiegelt diese Entwicklung, es kehrt sie jedoch nicht um, sondern setzt sie im wesentlichen fort. Diesen Weg kann und wird die PDS/Linke Liste nicht mitgehen. Unser Antrag, der auf einen endlich zügigen, kostensparenden und sozialverträglichen Umzug ausgerichtet ist, zeigt eine gangbare und höchst notwendige Alternative.
Um jeglichen Mißverständnissen und falschen Auslegungen vorzubeugen, die es in anderen Debatten gab, sei hier festgestellt: Die PDS/Linke Liste war und ist für Berlin als Sitz von Parlament und Regierung, sie war und ist gegen die Art und Weise des Umzugs, wie sie im vorliegenden Antrag vorgesehen ist.
Erstens beinhaltet der Gesetzentwurf auch weiterhin eine ungeheure Verschwendung von Steuermitteln, und das in einer Zeit, da die Verschuldung der öffentlichen Haushalte lawinenartig weiter anwächst, und damit sind auch alle Termine, von denen man spricht, fast in Frage gestellt, zumindest bleiben Zweifel.
Zweitens können wir dem Gesetz nicht zustimmen, weil darin zwar Ausgleichsmaßnahmen des Bundes für die Region Bonn enthalten sind, die sozialen Belange der Berlinerinnen und Berliner aber völlig ausgeklammert bleiben. Bereits jetzt zeichnet sich doch deutlich ab, daß die vorgesehene Art und Weise des Umzugs den Grundstücks- und Wohnungsspekulanten dient und Zehntausende Einwohnerinnen und Einwohner der Berliner Region aus ihren Wohnungen und Grundstücken vertrieben werden sollen.
— Wir werden über den Unsinn dann in ein paar Jahren zu reden haben.
Nicht nur im Interesse der Berlinerinnen und Berliner und auch nicht allein in dem der Ostdeutschen, sondern im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in beiden Teilen Deutschlands fordern wir daher:
Erstens. Auf die Errichtung von Neubauten ist nicht nur teilweise, sondern grundsätzlich zu verzichten. Die vorhandenen Einrichtungen des Bundes sowie die Gebäude und Büroflächen des ehemaligen Ministerrates der DDR sowie der Alliierten stehen zur Verfügung und sollten genutzt werden.
— Ach, wissen Sie, mit den Wanzen: Wissen Sie, wo hier überall welche stecken? Prüfen Sie einmal, wie viele Wanzen hier liegen! All die Fragen, über die hier diskutiert worden ist, wo Wanzen einzusetzen sind, möchte ich hier nicht noch einmal darstellen.
Zweitens. Die Spreeinsel im Herzen Berlins darf kein Standort von Dienststellen des Bundestages und der Bundesregierung werden. Sie gehört allen Einwohnern der Stadt und ihren Gästen. „Bürgerforum statt Beamtenfestung" sollte dafür die Devise sein.
Der Palast der Republik und das Staatsratsgebäude müssen schnellstens saniert und als öffentliches Forum der weltweiten Begegnung von Bürgerinnen und Bürgern wirklich nutzbar gemacht werden.
Die Abrißbirne wird weder die DDR-Geschichte noch die Identität von Menschen auslöschen, auch meine nicht.
Drittens. Der sogenannte Hauptstadtvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Berliner Senat vom August 1992 ist aufzuheben bzw. zu kündigen, da die Rechte des Landes Berlin und die kommunalen Selbstverwaltungen der Stadt hier in unvertretbarer Weise eingeschränkt sind.
Viertens. Im Zusammenhang mit dem Umzug muß es Ausgleichszahlungen und sozialverträgliche Regelungen für die Bonnerinnen und Bonner geben; das ist unumstritten. Aber gleichermaßen müssen Berlinerinnen und Berliner vor Bodenspekulationen, Mietwucher, Verdrängungen und anderen sozialen Benachteiligungen geschützt werden. Ein Sozialplan für Berlin ist für uns unabdingbar.
Natürlich, Sie können unsere Forderungen und Vorschläge heute hier verwerfen und ablehnen, Sie können darüber herfallen; aber auf die Dauer werden Sie beim Umzug nach Berlin nicht an jenen Menschen vorbei regieren können, die davon vor allem betroffen sind.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß sie immer aufs neue geführt werden muß — wie soeben —, scheint eine Eigentümlichkeit der Berlin/ Bonn-Debatte zu sein. Denn diese Wiederholungen, meine Damen und Herren, haben nicht erst nach dem 21. Juni 1991 begonnen; schon vor dem Vereinigungsprozeß 1989/90 war Berlin mehr als einmal Thema des Deutschen Bundestages und mußte es sein.Das Besondere an der heutigen Debatte ist, daß wir nicht nur die Modalitäten von Parlaments- und Regierungsumzug gesetzlich festzulegen haben, sondern daß eine Initiative von 47 Abgeordneten einerseits und eine Initiative von der PDS/Linke Liste andererseits eine Verschiebung aller Umzüge fordert, und zwar im Blick auf die schwierigen wirtschaftlichen Umstände unseres Landes und angesichts der immensen Anforderungen der Konsolidierung der fünf östlichen Länder und Berlins.Nicht daß die Endgültigkeit des Umzugbeschlusses abermals in Zweifel gezogen würde — das wird von niemandem und keinem Antrag getan —, lediglich
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Dr. Wolfgang Ullmanneine radikale Revision aller Prioritäten des Umzugs ist das Ziel.Ich will jetzt die Motive der Antragsteller nicht in Zweifel ziehen oder diskreditieren, indem ich ihnen andere unterstelle. Dennoch, meine Damen und Herren, kann ich zwei Kommentare nicht unterdrücken. Der erste Kommentar bezieht sich auf die Langsamkeit des Umzugs nach Berlin. Der Staatsvertrag zur Währungsunion und der Einigungsvertrag — zwei Vertragswerke, die viel tiefer in die Substanz unseres Landes eingegriffen haben — wurden im Verlaufe von wenigen Monaten erarbeitet und verabschiedet.
Die rechtlichen Grundlagen für die Verlagerung von Parlaments- und Regierungssitz zu schaffen — dafür wurden nahezu zweieinhalb Jahre gebraucht. Meine Damen und Herren, kann mir jemand eine vernünftige oder wenigstens eine plausible Antwort darauf geben, warum das so gegangen ist?
— Ja, das muß ich natürlich zulassen.
Herr Abgeordneter Kansy, bitte schön.
Ja, anders geht es nicht.
Herr Kollege, darf ich Ihnen die Antwort dahin gehend geben,
daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Staatsvertrag versäumt hatten, Berlin als Regierungsund Parlamentssitz festzuschreiben.
Herr Abgeordneter Kansy, wenn Sie das in Frageform gekleidet hätten, hätten Sie sich geschäftsordnungsmäßig verhalten. Aber so können Sie, Herr Dr. Ullmann, darauf eingehen. Bitte schön.
Herr Dr. Ullmann, er hat es versucht.
Wenn auch nicht ganz erfolgreich, möchte ich sagen.
Der zweite Kommentar, meine Damen und Herren, bezieht sich auf die Kostendebatte. Natürlich weiß ich wie Sie alle, daß verantwortliche Politiker mit Kosten nicht leichtfertig umgehen oder gar von ihnen abstrahieren können. Aber wenn man bedenkt, daß es hier um das geht, was über dem damals angenommenen Antrag steht, nämlich um die Vollendung der Einheit
Deutschlands, da frage ich mich denn doch, wie das wohl im Ausland ankommen mag, wenn man hört, die Deutschen debattieren darüber, ob sie reich genug sind, um sich die Vollendung der Deutschen Einheit leisten zu können. Das ist eben doch in meinen Augen ein sehr merkwürdiges Bild, und es ist ein ganz merkwürdiges Gefühl, wenn ich auf dem leeren Potsdamer Platz stehe und fühle, daß nicht nur die Einwohner Berlins, der ehemaligen Reichshauptstadt und jetzigen Bundeshauptstadt, sondern auch die Leute, die aus unseren Nachbarländern dorthin kommen, leidenschaftlich darauf warten, daß dort ein Parlament sitzt, das sich darum kümmert, daß die neue Lebensqualität, die wir im Einigungsprozeß teils erreicht haben und teils noch erreichen wollen, weiter ausgebreitet wird, und daß in Berlin eine Regierung sitzt, die, eben nicht mehr abgeschirmt in einer Weltferne, wie wir es hier sind,
dabei ist, nicht nur Breschen zu schlagen in die Mauern des Kalten Krieges, sondern auch in die Mauern, die uns, von wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen gezogen, jetzt noch umgeben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit einer Frage an die Kolleginnen und Kollegen, die den Gruppenantrag eingebracht haben, und die der PDS/Linken Liste: Ist denn das eigentlich so schwer einzusehen, daß die Probleme, auf die Sie hinweisen und hingewiesen haben, natürlich alle auf das engste mit dem derzeitigen äußerst exzentrischen Sitz von Parlament und Regierung zu tun haben?
Danke.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Hans-Eberhard Urbaniak das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lege Wert darauf, eine kurze Bemerkung zum § 8 des Gesetzentwurfs zu machen, der ja insbesondere die Interessen der Beschäftigten einbezieht.In der Sozial- und Personalkommission haben wir sehr schnell einen Konsens gefunden, derart, daß die drei Gruppen, um die es hier geht, gleichbehandelt werden. Dies war zu Anfang der Diskussion gar nicht so selbstverständlich. Es ist aber auch wichtig, darauf hinzuweisen, daß wir diese Punkte im Ältestenrat, in der Konzeptkommission und in der Sozial- und Personalkommission mit dem Vorsitzenden des Personalrates und den Vorsitzenden der Sprechergruppen erörtert haben. Es war sehr interessant, daß sie sehr schnell feststellen konnten, daß die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten doch das Problem erkannt haben, das mit dem Umzug verbunden ist.Darum mache ich jetzt darauf aufmerksam, daß es darauf ankommt, sehr schnell Punkte für einen Sozialplan zu finden, sich Vorruhestandsregelungen zu überlegen und Fragen, die sich aus Familienverpflichtungen ergeben, zu regeln. Es muß auch daran
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Hans-Eberhard Urbaniakgedacht werden, daß diejenigen betroffenen Arbeitnehmer, die von Berlin nach Bonn versetzt werden, in diesen Prozeß einbezogen werden. Ich sage dieses, weil sich der nächste Bundestag insbesondere mit diesen konkreten Punkten beschäftigen muß, und darum möchte ich mit Nachdruck in das Protokoll geben: Dieses muß gründlich, sachlich und vernünftig angepackt werden.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Professor Dr. Rita Süssmuth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ich unserer Debatte soeben gefolgt bin, muß ich mich fragen, wie wir es trotzdem geschafft haben, heute mit einem interfraktionellen Gesetzentwurf in die zweite und dritte Lesung zu kommen.
— Das müßte draußen bekannter sein.
Deswegen ganz kurz zu dem, was wir heute interfraktionell als Bonn/Berlin-Gesetz und mit dem dritten Zwischenbericht zur Entscheidung vorlegen: Zunächst ist das, was wir hier als Aufgabe übernommen haben, eine Folge unserer Entscheidung vom 21. Juni 1991. Es ist offenbar in Vergessenheit geraten, daß im deutschen Einigungsvertrag nach langen Verhandlungen festgelegt wurde, daß das Parlament diese Entscheidung treffen sollte und sie dann auch nach lebhafter und kontroverser Debatte getroffen hat.
Das, was wir heute verabschieden, ist mehr als Modalitäten eines planungstechnischen Entwurfs für den Umzug. Ich möchte, daß bei aller kleinen Münze, die wir ständig hin und her schieben, nicht verloren geht, daß es eine riesige Gestaltungsaufgabe ist und daß wir vielleicht mehr, auch nach draußen, übermitteln sollten, daß es hier um Zukunftsplanung und -gestaltung far die Politik geht.
Wir vermitteln keinen guten Eindruck, wenn wir bei einfacher oder gehobener Pinselsanierung mit oder ohne Kuppel angekommen sind. Das entspricht nicht unserem Auftrag und der Aufgabe, die wir haben.
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Dr. Schuster zu beantworten?
Natürlich bin ich bereit.
Frau Kollegin, wir haben im Juni 1991 nicht nur den Umzug beschlossen, sondern wir haben auch beschlossen, über die Möglichkeiten einer politischen Gestaltung, einer Reform — Stichwort: Verwaltungszentrum —, nachzudenken.
Können Sie mir erklären, warum diese sogenannte vertikale Lösung überhaupt nicht ernsthaft diskutiert worden ist, obwohl sie preiswerter ist, weniger Leute umziehen läßt und eine Chance geboten hätte, das Gleichgewicht zwischen Parlament und Exekutive neu zu organisieren? Stimmen Sie mir zu, daß mit dem heutigen Beschluß die Reformoption, die einmalige Chance, endgültig beerdigt ist?
Lieber Kollege, Sie wissen — und ich verweise dabei auf den inzwischen in Nordrhein-Westfalen tätigen Sozialminister Müntefering —, daß wir diese Diskussion um die vertikale Lösung sehr breit geführt haben. Ich erinnere daran: Sowohl die Entscheidung am 21. Juni als auch die nachfolgenden machen einen Kompromiß aus. Um diesen Kompromiß ist auch in den nachfolgenden Überlegungen immer wieder gerungen worden. Wir haben ihn so gefaßt; ich denke, dazu gibt es zu Recht Zuspruch und Widerspruch.Ich möchte aber noch einen Satz hinzufügen: So, wie wir die Verwaltungsreform brauchen, brauchen wir auch die Parlamentsreform. Beides gehört auch für unsere Arbeitsweisen parlamentarisch und administrativ, zusammen. Diese stehen auch weiterhin an.
Aber was hier heute ansteht, ist die Beschlußfassung zu den zeitlichen Planungen und zu den inhaltlichen Planungen. Es gehört dazu, Ausgleich zu finden. Dazu gehörte auch die gerade gestellte Frage. Denn wenn soeben gesagt wurde: Es ist Schluß mit einem Provisorium, dann bewegen wir uns gleichzeitig noch in diesem Provisorium.Herr Ullmann, auch wenn ich als penetrant erscheine; ich sage es zum wiederholten Male: Hier in Bonn ist weder provinzielle noch weltabgewandte Politik gemacht worden. Hier in Bonn ist eine Politik gemacht worden,
die Wiedervereinigung und europäische Integration ermöglicht hat. Ich habe die Hoffnung und denke, wir alle arbeiten dafür, daß dieser Weg deutscher Politik auch in Berlin
unter veränderten Bedingungen in einem erweiterten Europa fortgeführt wird.
Da wir Erfahrungen mit einem Provisorium gemacht haben, gehört auch dazu, daß wir die Fehler nicht zwingend wiederholen, die wir schon gemacht haben.
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Dr. Rita SüssmuthDeswegen gehört sowohl zur Parlaments- als auch zur Regierungsplanung, daß man die Funktionalität und Arbeitsweise eines Parlamentes konzentriert und sich daran erinnert, was wir vom ersten bis zum dritten Zwischenbericht zu dem Parlament der kurzen Wege, der Arbeitsfähigkeit und Funktionalität gesagt haben. Ich bitte darum, daß wir bei den weiteren Planungen Grundsätze nicht wieder verwerfen, die wir einvernehmlich miteinander beschlossen haben,
und unsere Planungen in diesem Sinne fortführen.Dem Gesetz liegen die heutigen Kostenschätzungen der Bundesregierung und des Bundesfinanzministeriums zugrunde. Wir sagen: äußerste Sparsamkeit, Überprüfung der Kosten am Einzelprojekt im Haushaltsausschuß, Senkung der Kosten, wo immer möglich. Darüber besteht Einvernehmen. Das ist auch Inhalt unserer Beschlußempfehlung. Ich denke, dem sind wir um so mehr verpflichtet, als andere Projekte hart umrungen sind. Ich hoffe, daß der Vermittlungsausschuß parallel zu unserer Entscheidung heute zu einer Entscheidung in der Pflegeversicherung kommt.
Wir wissen, daß die Menschen die Projekte durchaus miteinander vergleichen.Mir ist folgendes wichtig: Wir sollten bei den jetzt anstehenden Schritten darauf achten, daß das heute zu beschließende Berlin/Bonn-Gesetz in allen seinen Teilen verbindlich umgesetzt wird. Je mehr Verunsicherung — sei es bei den Bonnern, sei es bei den Berlinern — auftritt, desto größer wird die Diskussion.Was die Frage der Verschiebung betrifft, so muß ich sagen: Wir brauchen — wie eben schon gesagt wurde — Planungssicherheit in Bonn und in Berlin. Offenhalten bedeutet nicht, daß wir in irgendeiner Weise handlungsfähiger werden und uns sozial verträglicher verhalten.
Sie werden verstehen, daß ich als Vorsitzende der Konzeptkommission für alle Kommissionen sage: Wenn ich bedenke, wie viele Stunden dort investiert worden sind und wie die gegensätzlichen Positionen zusammengeführt worden sind, dann weise ich einen Vorwurf auf das entschiedenste zurück. Die Kommissionen haben zügig und intensivst gearbeitet. Wir könnten den Beschluß hier heute gar nicht fassen, wenn gebummelt oder verlangsamt worden wäre. Deswegen weise ich den Vorwurf der Verlangsamung entschieden zurück.
Wir haben sehr schnell gearbeitet. Alle haben vorher gesagt: „Das werdet ihr nie schaffen", aber wir haben es geschafft. Deswegen heißt es jetzt auch: keine Verzögerungen bei den jetzt anstehenden Planungen, auch bezüglich der Veränderungen, die noch amReichstagsumbau vorgenommen werden sollen; denn wir werden daran gemessen, was wir einlösen.
Wenn wir das Stiften von Verwirrung vermeiden wollen, dann sollten wir über Kostenschätzungen nicht mehr als notwendig reden. Wir haben es hier mit Schätzungen zu tun. Normalerweise gibt ein Bauherr seine Kosten genau an, wenn er sie weiß.
Ich denke, für uns gilt der Grundsatz der Sparsamkeit.Ich möchte allen herzlich danken und für meine Person sagen: Ich bin froh, daß wir den heutigen Tag erreicht haben. Er ermutigt mich für die weiteren Planungen des Umzugs von Bonn nach Berlin.
Ich sage dies auch an die Adresse der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die uns unterstützt haben und die sich darauf verlassen, daß dies für alle Teile — Umziehende von Berlin oder anderen Orten nach Bonn und umgekehrt — auch sozial verträglich gestaltet wird.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, bevor ich Professor Starnick, der als nächster Redner sprechen wird, das Wort erteile, möchte ich Sie über die Geschäftslage informieren. Wir haben jetzt noch fünf Debattenredner, eine Kurzintervention und sechsmal den Wunsch zu einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung, die ich auch zulasse. Allerdings werde ich weitere Erklärungen nach § 31 nur noch zu Protokoll nehmen oder, wenn auf mündlichem Vortrag bestanden wird, erst nach der Abstimmung zulassen.
Ich meine, es ist fair, daß ich dem Hause das vorher mitteile.
Herr Professor Starnick, Sie haben nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht so sehr als Mitglied der Baukommission und der Konzeptkommission, sondern als Berliner möchte ich allen mit der Beratung der heutigen Vorlagen befaßten Ausschüsse Dank sagen; denn erstmals erkennen wir in der Beschlußempfehlung des Ältestenrates eine klare Linie im Konsens.
Der Dissens, der bisher vielfach noch im Raum gestanden hat, scheint doch dazu umgeschlagen zu sein, daß wir eine gemeinsame Linie auf der Grundlage der Beratungen der Konzeptkommission und auch der anderen Kommissionen finden, die sich bemüht haben, den Berliner wie auch den Bonner Belangen gerecht zu werden. Die uns vorliegende Beschlußempfehlung des Ältestenrates nennt zusammenfassend die Essentials, unter denen der Umzug
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Dr. Jürgen Starnick
nach Berlin zu bewerkstelligen ist und welche Maßnahmen für Bonn vorzusehen sind.
Ich hatte in der ersten Lesung die Auffassung meiner Fraktion hervorgehoben, daß es notwendig sei, das Zieldatum, wann Bundestag und Bundesregierung ihre Arbeit in Berlin aufnehmen und den Umzug auch abschließen, in der Präambel des Berlin/ Bonn-Gesetzes zu benennen, da sich hiervon die in dem Gesetz beschriebenen Maßnahmen ableiten. Ich halte den heute vorliegenden Beschlußentwurf des Ältestenrates einer solchen von mir geforderten Vorgehensweise für gleichwertig und kann für Berlin sagen, daß Berlin mit einer solchen Beschlußfassung zufrieden sein kann.
Ich weiß, der Umzug nach Berlin ist nicht billig. Er ist aber auch kein finanzpolitisch unverantwortbares Unternehmen. Alle, die an der Planung und der Umstrukturierung mitwirken, sind in der Pflicht, die langfristig kostengünstigste Lösung zu suchen. Ich habe mich immer gegen überzogene Raum- und Ausstattungsanforderungen in Berlin gewandt. Deshalb begrüße ich auch den Beschluß des Haushaltsausschusses, die Zustimmung zum Kostentableau der Bundesregierung im Berlin/Bonn-Gesetz unter den Vorbehalt der Prüfung der einzelnen Maßnahmen zu stellen. Eine langfristig kostengünstige Lösung kann aber keine solche sein, bei der man aus opportunistischen Gründen heute Pinselsanierung verlangt, wohl ahnend, daß man später doppelt soviel Geld braucht wie dann, wenn man heute gleich richtig gehandelt hätte.
„Keine Provisorien" war die Forderung des Ältestenrates anläßlich des zweiten Zwischenberichts. Alle anderen Gremien, Konzeptkommission und Baukommission, haben dieses ernstgenommen — auch die Berliner, die sich auch vielfach Anwürfen in Berlin ausgesetzt sahen, weil mit dieser Forderung die Illusion aufgegeben werden mußte, daß die Arbeitsfähigkeit in Berlin in vier Jahren zu erreichen ist. Aber gelingen kann das nur, wenn wohlabgewogene Planungsentscheidungen Bestand haben und nicht in regelmäßigen Abständen wieder in Frage gestellt werden.
Wir haben immer gefordert: Wir wollen keine baubegleitende Planung. Wir sollten ernsthaft dabei bleiben und allen Versuchungen, die uns einreden, wir müßten wieder neu anfangen zu überlegen oder dieses oder jenes total anders machen, widerstehen. Das gilt vor allem für die Herstellung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages in Berlin und die dafür im Umfeld des Reichstags benötigten Bauten. Das bis heute erarbeitete Konzept darf nicht in Frage gestellt werden. Dieses Konzept läßt zu, Modifikationen vorzunehmen, schließt aber grundsätzlich Umplanungen aus.
Das gilt aber auch für Bauten der Bundesregierung. Es ist richtig, daß der Haushaltsausschuß noch einmal eine Prüfung der Alternativen verlangt und insbesondere die Frage nach der Verwendung von Altbauten stellt.
Die Devise „keine Neubauten" sollte jedoch kein Dogma sein. Zwar sind Baukosten pro Quadratmeter Bruttogeschoßfläche in Altbauten bei der Wiederherrichtung in der Regel deutlich günstiger als bei Neubauten; beziehen Sie das aber auf die verwendbare Fläche, nämlich auf die Hauptnutzfläche, dann stellt sich in vielen Fällen diese Frage anders, weil Altbauten oft mit sehr großen Verkehrs- und Verschnittflächen versehen sind.
Bei allen kritischen Anmerkungen lautet allerdings das Gesamturteil: Endlich besteht durch Benennung dieses Umzugsdatums Planungssicherheit. Deshalb kann Berlin, wie ich schon sagte, mit dem Beschluß zufrieden sein. Aber auch Bonn kann disponieren und gezielt an seine neuen Aufgaben herangehen.
Ich hoffe, daß dieses Gesetz wie auch die Vorlage des Ältestenrates aus diesen Gründen eine breite Zustimmung findet und bitte darum.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Franz Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Ich hoffe, daß alle Kolleginnen und Kollegen wissen, daß wir mit unserer Entscheidung eine Verpflichtung für die Zeit danach für die beiden in Frage stehenden Städte und Regionen unseres Landes übernehmen." — Mit diesen Worten formulierte Bundeskanzler Helmut Kohl am 20. Juni die Verpflichtung zur Bewältigung der Folgen des damaligen Beschlusses.Mit dem vorliegenden Berlin/Bonn-Gesetz versucht jetzt der Deutsche Bundestag, dieser Verpflichtung gerecht zu werden. Das Gesetz stellt eine Zäsur in der Entwicklung der Region Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler dar und bemüht sich um eine faire Aufteilung der Regierungsfunktionen zwischen Berlin und Bonn.Mir ist es nicht leichtgefallen, an der Konkretisierung und Umsetzung des bindenden Umzugsbeschlusses mitzuarbeiten. In der Konzeptkommission wurde während der Beratungen dieses Gesetzentwurfes insbesondere bei den vielfältigen Bemühungen, die finanziellen Folgen des Umzuges zu kalkulieren, immer wieder deutlich: Dieser Umzug ist nach wie vor überflüssig. Er birgt Risiken für die zukünftige Entwicklung Deutschlands und ist angesichts der Finanzlage zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum zu verantworten.Gleichwohl, meine Damen und Herren, nützt es den Menschen in der Region nichts, wenn wir die Schlachten der Vergangenheit fortsetzen.
Deshalb habe ich mich nach reiflichen Überlegungenentschieden, dem Berlin/Bonn-Gesetz zuzustimmen.
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Dr. Franz MöllerDrei Gründe sprechen dafür:Erstens. Die Gestaltung des Umzuges, die Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn und die Ausgleichsleistungen für die Region Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler werden gesetzlich festgeschrieben. Dies bedeutet — das ist wiederholt gesagt worden — Planungssicherheit für den notwendigen Strukturwandel in Bonn und dem genannten Umfeld.Wir sollten uns nicht täuschen: Der Bonner Region steht ein tiefer Einschnitt bevor, der durch den Verlust ministerieller Arbeitsplätze allein nur unzureichend beschrieben wird. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für eine kontinuierliche und einigermaßen berechenbare Entwicklung, daß die Verlagerung von Bundeseinrichtungen aus Berlin sowie aus anderen Ländern nach Bonn, der Verbleib von Bundesministerien in der Bundesstadt und nicht zuletzt die finanziellen Ausgleichsleistungen nicht den Launen der Tagespolitik oder kurzfristigen Haushaltszwängen unterworfen sind.
Zweitens. Die Bundesstadt Bonn bleibt Standort von Bundesministerien. Durch die gesetzliche Festlegung von geschlossenen Politikbereichen, die auf Dauer von Bonn aus wahrgenommen werden, ist sichergestellt, daß Bonn auch in Zukunft neben Berlin politisches Zentrum der Bundesrepublik bleibt.Deutschland verfügt damit über zwei politische Schwerpunkte: Berlin und Bonn. Die mit dem Namen Bonn verbundenen Grundentscheidungen deutscher Politik — die Präsidentin hat es eben dankenswerterweise noch einmal genannt — bleiben das Fundament deutscher Politik. Die Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn signalisiert, daß wir die Einheit Deutschlands und die Rolle Deutschlands in der Welt auf diesem Fundament fortentwickeln wollen.Drittens. Die in den Verhandlungen mit der Bundesregierung durchgesetzten Ausgleichsleistungen für Bonn und die Region sind ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg, dem Standort Bonn ein neues Profil als innovativer Dienstleistungs- und Technologieregion, als Wissenschaftsregion und kulturellem Schwerpunkt zu verleihen.Ich betone aber ausdrücklich und mit Nachdruck: Dies ist nur ein Zwischenschritt. Bei einer Reihe von Erwartungen, die sich auch in diesem Gesetz wiederfinden, fehlen konkrete Ergebnisse. Dies gilt vor allem für die Verlagerung internationaler und europäischer Einrichtungen nach Bonn. Wir erwarten — ich wiederhole das — mehr Ideen, mehr Initiativen, mehr Einsatz und mehr Überzeugungskraft der Bundesregierung. Wenn hier die Erfolge ausbleiben, ist ein Ausgleich in anderer Art und Weise zu schaffen.Nichts ist für den Strukturwandel — dies gilt überall, aber insbesondere hier bei uns — so wichtig wie das Vertrauen darauf, daß eingehalten wird, was zugesagt worden ist. Schnellschüsse wie etwa die Spekulationen darüber, die Schürmann-Bauten müßten abgerissen werden, oder Vorstellungen, der Bonn-Vertrag '90 müßte gekürzt werden, müssen künftig unterbleiben.
Wenn wichtige Elemente des Ausgleichs einfach in Frage gestellt werden, braucht man sich nicht zu wundem, wenn sich in der Region erneut Unmut und Mißtrauen breitmachen.
Meine Damen und Herren, die Menschen in der Region Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler sind bei aller Verbitterung entschlossen, den Blick nach vorn zu richten und bei allen Problemen den Strukturwandel zu gestalten, ihn auch als Chance zu begreifen. Die Verantwortung des Deutschen Bundestages, sie, die Bürger, dabei zu unterstützen, endet nicht mit diesem Gesetz. Ich appelliere deshalb an alle, dieser Verantwortung auch über den heutigen Tag hinaus gerecht zu werden.Ich danke allen, die an diesem wichtigen Schritt mitgewirkt haben — der Föderalismuskommission, der Konzeptkommission, der Personal- und Sozialkommission, der Baukommission, den Mitgliedern des Ältestenrates und den unermüdlichen Helfern der Bundestagsverwaltung und des Arbeitsstabes Berlin/ Bonn im Bundesinnenministerium unter Leitung von Staatssekretär Franz Kroppenstedt, der leider wegen einer plötzlichen schweren Erkrankung nicht hiersein kann und dem wir von hier aus gute und dauerhafte Genesung wünschen. Ihm und allen gilt unser herzlicher Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Wolfgang Lüder das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Mitverfasser des Antrages zur Vollendung der Einheit Deutschlands, über den wir heute beraten, der an der heutigen Sachdebatte nicht teilnimmt, weil unsere Redner aus dem Ältestenrat gekommen sind, möchte ich die Chance nutzen, ein Wort des Dankes an diejenigen Politikerinnen und Politiker im Hause aus Berliner Sicht zu sagen, die seinerzeit im Juni aus vertretbaren Gründen für die Bonn-Lösung und gegen den Antrag gestimmt haben, die heute aber zu denen gehören, die den Beschluß nicht nur pflichtgemäß erfüllen, sondern als Beschluß dieses Gremiums aufnehmen und umsetzen.
Nach der Gleichberechtigungsdebatte darf ich vielleicht ausnahmsweise nur zwei Rednerinnen nennen. Das, was heute hier z. B. von Frau Präsidentin Süssmuth und von Frau Albowitz gesagt worden ist, zeigt, daß man auch gegen einen Beschluß sein kann, um ihn trotzdem dann, wenn er akzeptiert ist, nicht nur ertragen, sondern mit Leben erfüllen und umsetzen zu wollen, und dafür gebührt Dank.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18623
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Simon Wittmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die heutige Debatte verfolgt, hat man den Eindruck: Friede, Freude, Eierkuchen. Das heißt, daß das Parlament den mit PDS-Mehrheit zustande gekommenen Beschluß von 1991 in Einstimmigkeit umsetzen will, obwohl die PDS nicht mehr mitmachen will.
Bei dem Unsinn, den heute auch Herr Modrow hier verkündet hat, wäre auch ich fast geneigt gewesen, der Beschlußempfehlung des Ältestenrates zuzustimmen, weil das ja letztlich der Gipfel war.
— Sie können bei Gelegenheit mal bei mir Urlaub machen, in Ostbayern, Herr Vogel. Sie haben da ja Erfahrung. Sie wollten ja schon immer, daß da mehr Bäume wachsen, wenn ich mich an frühere Wahlkämpfe erinnere, und dann kann ich Ihnen auch unseren Dialekt beibringen.Die heute vorliegende Beschlußempfehlung des Ältestenrates zum Berlin/Bonn-Gesetz und zu einer Reihe von Anträgen ist nicht gerade ein Meisterstück an parlamentarischer Arbeit, sondern ist einzig und allein darauf fixiert, am Umzugstermin 2000 festzuhalten, und zwar koste es, was es wolle. Dabei hätte gerade das Berlin/Bonn-Gesetz ohne diese Terminideologie friedensliftend und konsensbildend im Parlament und zwischen Politik und Bürger sein können, und es hätte trotzdem die notwendige Sicherheit für Berlin bedeutet.Für mich ist es nach wie vor unverantwortlich, in einer so schwierigen Haushaltslage ohne Kenntnis der exakten Kosten und Risiken über Milliardenbeträge zu entscheiden.
Das erinnert mich fatal an manche Gemeinderatssitzung, in der über 100-DM-Beträge heiß gestritten wird, aber Millionenbeträge ohne große Diskussion und ohne Kenntnis der Details einstimmig beschlossen werden.
— Warum sind Sie denn so aufgeregt? Haben Sie dabei ein schlechtes Gewissen?
Haben Sie bei der Abstimmung heute ein schlechtes Gewissen? Sonst wären Sie nicht so aufgeregt.
In den letzten Tagen ist wieder einmal deutlich geworden, daß die Streichung des Schlechtwettergeldes für den März nicht gerade der Weisheit letzter Schluß gewesen ist.
— Ich kann mich an unsere Fraktionssitzung erinnern. — Bei jährlichen Haushaltsmitteln von durchschnittlich 2 Milliarden DM für den Berlin-Umzug geben wir pro Tag 5,48 Millionen DM für den Umzug aus. Wir hätten also den Berlin-Umzug nur um 14 Tage verschieben müssen, um das Schlechtwettergeld für März bis zum Jahr 1996 zahlen zu können.
Bei der Kommentierung des Antrags von Frau Homburger, Herrn Bury und weiteren Kollegen auf Drucksache 12/6623 wird der Umzug vom Ältestenrat gebetsmühlenhaft immer wieder als großes Investitions- und Konjunkturprogramm bezeichnet. Warum haben wir dann die Investitionen im Straßenbau, bei der Städtebauförderung, im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe usw., usf. zum Teil über das erträgliche Maß hinaus gekürzt? Auch dies wäre ein Konjunkturprogramm gewesen und hätte noch dazu verhindert, daß ein Teil des Geldes nur die Gewinne der Grundstücksspekulanten in Berlin vervielfacht.
Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, daß die normative Kraft des Faktischen eines Tages dazu führen wird, daß das Parlament von dieser zur Glaubensfrage und zur nationalen Frage hochstilisierten Terminfixierung Abschied nehmen wird. Die Diskussionen im Wahlkampf und die weiterhin zu erwartenden Kostenschätzungen werden hier zur höheren Einsicht beitragen. Es ist für mich ungeheuerlich, mit welcher Leichtfertigkeit der Architekt Sir Norman Foster an die Kostenschätzungen für den Reichstags-umbau herangeht: im Vorvorentwurf 246 Millionen DM, im Vorentwurf 600 Millionen DM. Bei diesem Tempo der Kostensteigerung werden wir allein beim Reichstag bald bei 1 Milliarde DM sein.Auch die neuen Papiere der Baukommission zum Vorentwurf für den Umbau des Reichstagsgebäudes erwecken nicht den Eindruck, daß wir sehr bald wissen, was wir tun wollen. Manche Formulierungen, Herr Kansy, die kurzfristig erstellte unzulängliche Vorlage, die noch unentschiedene Raumplanung und vieles mehr erwecken eher den Eindruck, daß die Mitglieder der Baukommission heimlich zu Befürwortern unseres Antrags geworden sind.
Ähnliches ist beim Alsenblock, wo erst noch ein internationaler Realisierungswettbewerb ausgelobt werden muß. Selbst dort, wo bereits gebaut wird, so habe ich beim Besuch vor kurzem feststellen müssen, ist innerhalb eines Jahres nur der Rost des Baugerüstes größer geworden. Die wahnsinnige Schnelligkeit, mit der die Bundesbaubehörden auf die Hochwasserschäden beim Schürmann-Bau oder die defekte Lautsprecheranlage im neuen Plenarsaal reagiert haben,
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18624 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Simon Wittmann
wird uns auch in Berlin so manche Überraschung bereiten.
Ich bitte Sie daher, die Beschlußempfehlung des Ältestenrates abzulehnen und unserem Antrag zuzustimmen. Es bedeutet ein Stück mehr Realismus und damit ein Stück mehr Glaubwürdigkeit. Die Vollendung der Einheit Deutschlands hängt sicher am Umzug, weil er beschlossen ist, hängt aber nicht am Umzugstermin,
sondern muß in den Köpfen der Menschen stattfinden.Ich bedanke mich.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ortwin Lowack.
Verehrtes Bundestagskollegium! Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe zunächst Änderungsanträge nach der Geschäftsordnung vorzulesen. Ich schlage vor, daß man den Gesetzestitel ändert und das Gesetz heißen soll: „Gesetz über den Sitz von Parlament und Regierung der Bundesrepublik Deutschland".Kurzbegründung: Die Entschließung des Deutschen Bundestags vom 20. Juni 1991 war eine Zufallsentscheidung, die vor allem auf einer suggestiven Rede des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Schäuble, beruhte.
Daß auch unsere Präsidentin von der Entscheidung nicht so angetan war, hat sie damit zum Ausdruck gebracht, daß ihr der Lapsus unterlaufen ist, vom 21. Juni 1991 zu sprechen. Das Gesetz bezieht sich auf ein anderes Datum.Der Gesetzentwurf gibt in keiner Weise den Inhalt der Entschließung wieder, z. B. soweit der Bundeskanzler ermächtigt sein soll, die Verteilung der Geschäftsbereiche der Bundesminister ohne erkennbare gesetzgeberische Maßstäbe zu bestimmen — § 4 des Gesetzentwurfes.Änderungsantrag Nr. 2. Ich schlage vor, daß in § 1 ein Absatz 3 mit dem Wortlaut eingefügt wird: „Die folgenden Festlegungen des Gesetzes stehen unter dem Vorbehalt, daß sämtliche mit dem Umzug verbundenen Kosten den Betrag von 10 Milliarden DM einschließlich der Finanzmittelbeschaffungskosten nicht übersteigen und höhere Kosten auch nicht zu erwarten sind." Kurzbegründung: Diese Garnierung, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, auf der ersten Seite, auf der man sich für eine Deckelung ausspricht, hat ja nun mit dem Inhalt des Gesetzentwurfes überhaupt nichts zu tun. Sie wird mit keinem einzigen Wort im Gesetzentwurf erwähnt.Liebe Frau Kollegin Baumeister, zu sagen —ich darf Sie wörtlich zitieren —, wir sollten der Sparsamkeit eine gewisse Chance geben, das ist eines Parlaments, das Entscheidungen treffen und den Menschen Sicherheit geben soll, die wir vertreten, sicher nicht würdig. Das ist eigentlich beschämend.Antrag Nr. 3. Ich schlage vor, in § 8 Abs. 1 wird die Formulierung am Schluß von „soweit" bis „sollen" gestrichen und durch das Wort „schaffen" ersetzt. Begründung: Da nach dem Gesetzentwurf in keiner Weise vorhersehbar ist, welche Geschäftsbereiche, welche Bundesministerien letztlich verlegt werden, bedarf es einer besonders sorgfältigen Überprüfung der mit der Verlegung von Ministeriumsbereichen verbundenen dienstlichen und persönlichen Probleme der Betroffenen. Auch die Bediensteten des öffentlichen Dienstes dürfen keiner Willkür unterworfen sein.Änderungsantrag Nr. 4. Ich schlage vor, § 10 des Gesetzentwurfes wie folgt neu zu fassen: „Das Gesetz bedarf der Zustimmung des Bundesrates. " Begründung: Nach dem Einigungsvertrag haben Bundestag und Bundesrat die Entscheidung über Parlaments-und Regierungssitz zu treffen. Diese gleichrangige Beteiligung läßt sich nur durch ein Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates erreichen.Der letzte Antrag: Nr. 5. § 11 — neue Fassung — wird wie folgt gefaßt: „Zum Gesetzentwurf findet eine Volksbefragung statt. Das Gesetz tritt frühestens einen Monat nach Durchführung der Volksbefragung in Kraft. " Kurzbegründung: Eine lebendige Demokratie, die auf Konsens zwischen selbstbewußten, freien Bürgern und politischen Entscheidungsträgem aufbaut, verlangt bei der Verlegung der wichtigsten politischen Institutionen unseres Staates die Beteiligung des Souveräns, und sei es auch nur in der schwächsten Form einer Volksbefragung. Damit würde der gravierenden Entfremdung und Selbstisolierung der politischen Entscheidungsträger vorgebeugt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf damit zu einer kurzen Stellungnahme, zu einem Debattenbeitrag zu den vorliegenden Entwürfen übergehen. Ich möchte mich zunächst sehr herzlich bedanken bei Herrn Wittmann und allen, die den Mut haben, darauf hinzuweisen, daß die unglaubliche Hektik, mit der 'diese Entscheidungen durchgeführt werden, nur schaden kann.
Ich habe fast den Eindruck, es soll möglichst in einem großen Abstand vor der Bundestagswahl entschieden werden, damit die Bürger dann bereits vergessen haben, was heute hier an Entscheidungen getroffen werden soll. Aber das kann doch nicht Maßstab politisch weitreichender Entscheidungen sein. Es wird hier etwas mit einer Hektik durchgepeitscht, das weite Bereiche offenläßt, die geregelt werden müßten.Da sind nun einmal die phantastischsten Kostenberechnungen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Prognos kommt zu dem Ergebnis: Von 50 Milliarden DM an geht es aufwärts. Die Politik sagt: Mir gefällt das nicht; es muß etwas anderes her. Ich bekomme
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Ortwin Lowackdann vom Finanzminister die Mitteilung: Es wird ungefähr 30 Milliarden DM ausmachen. Dann bekommt der Finanzminister den Auftrag, das zu überarbeiten. Dabei kommen 20 Milliarden DM heraus. Der Gesetzgeber traut sich nicht, das in den Gesetzentwurf mit hineinzunehmen, sondern er bringt das am Anfang als Einleitung, damit die Kollegen offenbar mit dem richtigen Eindruck an die Debatte herangehen. Wenn man so verfährt, dann ist festzustellen, daß das ein Weg ist, den man doch nicht gutheißen kann. Haben wir wirklich Geld genug, um uns das leisten zu können? Ich darf auf das Bezug nehmen, was gesagt wurde. Das Staatsvolk ist in der Sache in keiner Weise gefragt und beteiligt worden. Es sind vor allen Dingen eine Reihe verfassungsrechtlicher Fragen offengeblieben.Wer wie ich an die Zukunft Deutschlands glaubt, muß nicht der Überzeugung sein, daß er nach Berlin umziehen müsse. Berlin ist die deutsche Hauptstadt; daran will auch ich festhalten. Wer aber sieht, was sich an Arbeit im parlamentarischen und im Regierungsbereich bewährt hat, der muß doch dafür sprechen, daß Bewährtes erhalten bleibt, und für Bewährtes steht nun einmal Bonn.
Herr Abgeordneter Lowack, erstens haben Sie Ihre Redezeit deutlich überschritten und zweitens habe ich eine Wortmeldung zu einer Frage des Abgeordneten Conradi. Ich möchte also bitten, die Frage kurz zu stellen, die Antwort zu geben und dann zum Ende zu kommen.
Da Sie jetzt zum wiederholten Male eine Volksabstimmung verlangen: Erinnern Sie sich, daß am 19. Juni, einen Tag vor der Hauptstadtdebatte, die SPD-Fraktion hier eine Volksabstimmung über dieses Thema gefordert hat, die in namentlicher Abstimmung durch das Haus abgelehnt worden ist, und wie haben Sie damals abgestimmt?
Ich habe im Zweifel hier sogar für den SPD-Antrag gestimmt. Ich will nur darauf hinweisen, daß ich noch nicht einmal von Volksabstimmung gesprochen habe, sondern von Volksbefragung, weil mir klar ist, daß die Verfassung dieses Landes eine Volksabstimmung in diesem Fall nicht zuläßt. Ich habe also versucht, das zu tun, was nach der Verfassung möglich ist.
Ich darf auf Wunsch des Herrn Präsidenten zum letzten Satz kommen. Ich hoffe, daß wir wieder Vernunft, Augenmaß und Vision in die deutsche Politik bekommen, und zwar ohne Entscheidungen, in denen man versucht, vermeintliche nationale Kompensation anzubieten, an sich nur dafür, daß man sich leider laufend an der deutschen Geschichte auch gegenüber den Opfern des Krieges und am Gemeinschaftsbewußtsein der Deutschen versündigt hat. Dieser Schritt ist mit Sicherheit als Kompensation nicht der richtige.
Herr Abgeordneter Lowack, ich habe Ihre Änderungsanträge jetzt vorliegen. Darf ich Ihr Einverständnis voraussetzen, daß ich über diese in der zweiten Lesung geschlossen und nicht einzeln abstimmen lasse?
Es fällt mir schwer, Herr Präsident, aber Sie wissen, ich versuche, Ihnen die Arbeit so leicht wie möglich zu machen.
Dann bedanke ich mich im Namen des Hauses.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Unruhe auf der Rechten ist immer ein gewisses Zeichen der Anerkennung.Berlin ist wahrhaftig immer eine Reise wert: Kreuzberg, der Prenzlauer Berg, das alte Scheunenviertel bzw. das, was davon nach dem Naziterror geblieben ist, entwickeln inzwischen ein reiches, buntes Leben, das weit und breit nicht seinesgleichen hat.Doch genau dieses bunte, reiche Leben von Künstler- und Alternativprojekten, von Literaten und Kunsthandwerkern, von kleinen Geschäften und Kneipen, diese schöne, schräge Szene und diese Blüten in dem eigentlich kaputtesten Teil Berlins werden auf ökonomisch kaltem Wege weggeschafft, verdrängt werden. Es wird wegluxusmodernisiert werden, wenn Berlin wieder Hauptstadt wird. Und das wird der Fall sein, wenn dieses Umzugsgesetz Bonn/Berlin tatsächlich umgesetzt wird.Nicht nur deshalb und weil die Finanzen dieses Landes ganz erheblich durch den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin belastet werden, ist die Entscheidung für Berlin und gegen Bonn als Regierungssitz, die wir 1991 hier gefällt haben, mit einer geringen Mehrheit gefällt haben, falsch.Wer in Berlin nach diesem überflüssigen Umzug für dieses Land Politik machen will, der muß mit der Vergangenheit Berlins als der Hauptstadt des unmenschlichsten politischen Systems der gesamten Menschheitsgeschichte auf Schritt und Tritt leben. In Berlin, und zwar ausgerechnet dort, wo Parlament und Regierung mit diesem Umzug wieder hin sollen und hin wollen, sind die größten und die scheußlichsten Verbrechen der Menschheit geplant und organisiert und in den Folterkellern der Gestapo an der PrinzAlbert-Straße zum Teil auch exekutiert worden.Was diese Geschichte auch heute noch bedeutet, wird gegenwärtig beispielsweise an dem US-amerikanischen Film „Schindlers Liste" deutlich. Eine Besichtigung der Ausstellung „Zur Topographie des Terrors" — die gibt es nämlich in Berlin, und zwar direkt neben dem Preußischen Landtag - sollte übrigens für alle Abgeordneten dieses Hauses Pflicht sein.Nein, die Entscheidung zum Umzug nach Berlin war nicht gerade eine Entscheidung von politischer Kultur. Sie war nicht gerade geprägt von einem besonderen Maß an politischer Sensibilität. Die Chance eines symbolischen Bruchs mit der unheilvollen deutschen Vergangenheit wurde durch das Votum für den Umzug nach Berlin vertan.Umgekehrt wäre ein Votum für das Verbleiben in Bonn, in dieser zweit-, drittrangigen rheinischen Provinzstadt, in der man Militärparaden nicht, sehr wohl aber große Friedensdemonstrationen veranstalten
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18626 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Ulrich Briefskann, ein Votum für ein wirklich anderes Deutschland gewesen.Eines allerdings tröstet, wenn Parlament und Regierung nach dem Umzug wieder in Berlin sind:
Nationale Regungen — hören Sie auf der Rechten einmal gut zu! —, nationale Regungen mit dem entsprechenden Tamtam werden immer wieder damit konfrontiert werden, daß Berlin wie keine andere Stadt, auch keine andere Stadt im Ausland, eine Stadt der nationalen Niederlagen, eine Stadt der nationalen Verlierer, eine Stadt der nationalen Loser ist. Berlin ist die Stadt der nationalen Loser; das darf man nicht vergessen.Also, meine Damen und Herren von der Rechten — und auch die Ewiggestrigen außerhalb dieses Hauses —, Berlin eignet sich mit dieser Geschichte einfach nicht zu der glänzenden Hauptstadt, wie Sie sie für die Zukunft so sehr wünschen.
Herr Abgeordneter Dr. Briefs, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Redezeit nicht zu sehr überschreiten würden. Nutzen Sie die Großzügigkeit des Präsidenten nicht schamlos aus!
Herr Präsident, ich komme zum Schluß.
Das Umzugsgesetz — insofern ist es positiv — setzt allerdings für die Schaffung einer glänzenden Hauptstadt, die Sie sich so sehr wünschen, enge Schranken, und das ist gut so.
Übrigens eine letzte kleine Anmerkung: Die PDS hätte Gelegenheit gehabt, wenn zehn Abgeordnete mit mir für Bonn und gegen Berlin gestimmt hätten, noch einmal nachhaltig die deutschen Belange zu beeinflussen.
Stellen Sie sich einmal vor, was auf der deutschen Rechten los gewesen wäre, wenn ausgerechnet die PDS Ihnen die Möglichkeit, —
Herr Dr. Briefs, Ihre Redezeit!
— sich in Berlin wieder eine glänzende Hauptstadt — analog Paris oder London — zu schaffen, verdorben hätte!
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Wir kommen nunmehr zu den Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung. Ich erteile zunächst der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich einer Bitte von Horst Ehmke nachkommen und mitteilen, daß er den Umzugsbeschluß unter politischen wie finanziellen Gesichtspunkten für falsch hält,
daß er aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse wegen des zugesagten Ausgleichs der Vorlage zustimmt.
Ich halte mit ihm die am 20. Juni 1991 getroffene Entscheidung über den Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin nach wie vor für eine schwerwiegende Fehlentscheidung.
Heute sind wir dabei, auf die eine Fehlentscheidung eine zweite zu setzen.
Angesichts von Massenarbeitslosigkeit, von zwei Billionen gleich 2 000 Milliarden DM Staatsschulden und zunehmender Wohnungsnot hat Deutschland jetzt andere Sorgen als einen Umzug.
Deswegen lehne ich diese Vorlage ab. Ich bin der Ansicht, wir hätten den Umzug um mindestens zehn Jahre verschieben sollen.
Es soll zwischen Ende 1998 und Mitte 2000 umgezogen werden, und 20 Milliarden DM soll der Umzug kosten. Jeder weiß, daß der Umzug am Ende teurer werden wird. Das zeigen schon die Erfahrungen mit großen Bundesbauten, und das zeigen die Erfahrungen mit Haushaltszahlen dieses Finanzministers, bei denen immer schon geschönt, vertuscht und getrickst wurde.
Aber auch 20 Milliarden DM haben wir nicht.
Arbeitslosengeld wird gekürzt, Arbeitslosenhilfe wird gekürzt, Kindergeld wird gekürzt, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden gekürzt, Schlechtwettergeld wird gestrichen. Die Sozialhilfe wird gedeckelt. Die Armut nimmt zu. Allein eine Million Kinder sind von der Sozialhilfe abhängig.
Die Familien mit Kindern kommen unter die Räder. Die Bürger stöhnen unter der höchsten Steuer- und Abgabenbelastung aller Zeiten. Real sinken Löhne und Renten, und die Staatsschulden explodieren.Aber 20 Milliarden DM für den Umzug, die sollen da sein. Wie denn? Durch weiteren Sozialabbau, durch weitere Steuererhöhungen oder durch noch mehr Staatsverschuldung? Das will mir nicht in den Kopf und den Bürgerinnen und Bürgern auch nicht. Ein seriöser Finanzminister hätte gegen einen solchen Beschluß sein Veto einlegen müssen.
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Ingrid Matthäus-MaierWenn der Haushaltsausschuß wörtlich feststellt:Es ist sicherzustellen, daß dies durch Umschichtungen im Gesamthaushalt sowie durch eine insgesamt sparsame Haushaltsgestaltung erreichbar wird. Die Vereinbarkeit mit der Haushaltslage ist damit gegeben.dann kann ich nur bestürzt feststellen, daß man mit solchen Begründungen alles als mit der Haushaltslage vereinbar erklären kann.
Es ist doch offensichtlich, daß dieser Beschluß mit der Haushaltslage nicht vereinbar ist.Im Gegenteil: Daß wir in diesem Lande zunehmend Politik nach dem Motto machen „Heute bestellen, morgen bezahlen", halte ich für unverantwortlich gegenüber unseren Kindern und Enkeln, deren Handlungsfähigkeit durch zunehmende Zinszahlungen stranguliert wird, meine Damen und Herren.
Über 140 Milliarden DM Zinszahlungen allein im Jahr 1994! Da kann man nicht immer nur einfach weiter draufpacken. Und wenn wir Geld locker machen — was dringend nötig ist —, dann für Arbeitsplätze, bezahlbaren Wohnraum und den Aufbau Ost, aber doch nicht für neue Repräsentationsbauten in Berlin und für einen Umzug.Wie man es auch dreht und wendet: den Menschen nützt dieser vor allem von Herrn Schäuble mit Hektik betriebene Umzug nicht. Den Menschen in Berlin nicht, weil sie schon genug mit Wohnungsnot, Mietenexplosion und Verkehrsproblemen zu kämpfen haben. Den Menschen in Bonn und der Region nicht, weil man ihnen ohne Not ein Strukturproblem schafft. Und natürlich nützt er auch dem Steuerzahler nicht. Die Menschen wissen, daß Deutschland heute andere Sorgen hat als den Umzug.
Deshalb ist es so bedauerlich, daß die Koalition den von der SPD geforderten Volksentscheid über den Umzug abgelehnt hat. Der Umzug nach Berlin wäre das Paradebeispiel für einen Volksentscheid gewesen.Politik ist dazu da, Probleme zu lösen, nicht dazu, neue Probleme zu schaffen.
Mit dem heutigen Beschluß schaffen wir aber neue Probleme, statt uns auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot und die Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit zu konzentrieren. Deswegen lehne ich die Vorlage ab, meine Damen und Herren.
Das Wort nach § 31 unserer Geschäftsordnung erteile ich nunmehr dem Abgeordneten Martin Bury.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem es die Umzugsbeschleuniger hier so eilig haben, daß sie der Minderheit dieses Hauses, die die Mehrheit der Bevölkerung vertritt, nicht einmal eine angemessene Redezeit einräumen, gebe ich eine Erklärung zur Abstimmung ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer A sagt, muß nicht unbedingt B sagen, er kann auch erkennen, daß A falsch war. Der Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991, innerhalb von vier Jahren nach Berlin zu ziehen, war offensichtlich falsch. Sie wollen ihn heute revidieren.So wie die blühenden Landschaften von Jahr zu Jahr erneut versprochen werden, soll jetzt auch ein Umzugskonzept beschlossen werden, das weder ehrlich noch haltbar ist. Glaubwürdigkeit, die vielzitierte und oft vermißte, meine Damen und Herren, entsteht nicht dadurch, daß man den ersten unhaltbaren und prompt gebrochenen Beschluß durch einen unhaltbaren zweiten ersetzt. Glaubwürdigkeit setzt Wahrhaftigkeit voraus.Was uns hier als Konzept vorgelegt wird, ist jedoch eine Mogelpackung, fast müßte man sagen, ein doppelter Betrug: Den einen wird das Blaue vom Himmel versprochen, für die anderen werden die Belastungen vernebelt. Da hilft es auch wenig, wenn wir den Wunsch beschließen, die Umzugskosten mögen sich auf nicht mehr als 20 Milliarden DM belaufen. Wenn eine Familie ihre Baufinanzierung für das Eigenheim so auslegen würde, bekäme sie von keiner Bank einen Kredit, und zwar zu Recht.
Auch das Parlament verspielt mit solchen plumpen Schönfärbereien mehr sicher als langsam seinen Kredit. Ich bin immer wieder entsetzt darüber, wie maßlos arrogant manche hier die Bevölkerung unterschätzen. Die Menschen wissen sehr wohl, daß mit dem Geld für einen Umzug in den nächsten Jahren vordringlichere Dinge zu finanzieren wären. Den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz z. B. zu verschieben, weil die Investitionskosten von 21 Milliarden DM in den nächsten Jahren nicht aufzubringen sein sollen, und gleichzeitig 20 Milliarden DM für einen Parlaments-und Regierungsumzug auszugeben, ist, vorsichtig formuliert, zynisch. Sind Neubauten für Politiker in Berlin tatsächlich wichtiger als Plätze für Kinder in ganz Deutschland?
Wir reden hier ohnehin immer über Geld, das wir nicht haben. Und die Umzugsbeschleuniger weigern sich bis heute beharrlich, ehrlich zu erklären, wen sie zur Kasse bitten wollen.Nein, meine Damen und Herren, der Umzug nach Berlin hat keine Eile, zumal, wenn er national überhöht wird, wie von Wolfgang Schäuble bei der Debatte über die Verhüllung des Reichstagsgebäudes. Es wäre allen eher gedient, wenn wir heute ein Signal für die Zukunft setzen würden. Die Einheit ist eine Generationsaufgabe, und am Ende des Einigungsprozesses
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Hans Martin Burymag der Umzug nach Berlin stehen. Ich wünsche mir, daß wir bis dahin auch in der europäischen Einigung ein gutes Stück vorangekommen sind und daß nationalstaatliche Hauptstädte alter Prägung an Bedeutung verlieren. Heute in die alte Reichshauptstadt zu ziehen wäre ein völlig falsches Signal.Ich stimme deshalb gegen die Beschlußempfehlung und für den interfraktionellen Alternativantrag. Dieser akzeptiert den Grundsatzbeschluß des Umzuges und will die Chancen der Veränderung für ein schlüssiges Konzept nutzen.
Wenn schon Umzug, dann nicht nach dem Motto „Auf nach Berlin, und dann weiter so wie bisher!", sondern erst eine Regierungs- und Verwaltungsreform — wir brauchen nicht nur einen schlankeren Kanzler, sondern auch eine schlankere Bundesregierung —,
und dann zieht eine auf ihre politischen Aufgaben reduzierte Bundesregierung nach Berlin, die diese Aufgaben auch wahrnimmt, und ein Bundestag, der sie kontrolliert, aber nicht Heerscharen von Verwaltungsbeamten.Meine Damen und Herren, die Entscheidung für eine vernünftige Alternative erfordert nur ein bißchen Rückgrat, ein kleines bißchen Mut: auszubrechen aus 45 Jahren parlamentarischer Verteilungsmentalität, die Einzel-, in diesem Fall Regionalinteressen bedient und die Allgemeinheit aus dem Auge verliert.Der Entscheidung über den Umzug kommt in der Tat — das mag ich anfangs unterschätzt haben — hohe symbolische Bedeutung zu. Schafft es dieses Haus, sich aus der Gefangenschaft falscher Versprechungen zu lösen, Taktik hintanzustellen und eine politische Entscheidung zu treffen? Viele Menschen in Deutschland haben die Hoffnung bereits aufgegeben. Enttäuschen Sie doch einmal die Negativerwartungen, Sie ahnen kaum, wieviel wir gewinnen können.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerd Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist legitim, wenn man sich mit den heutigen Vorlagen kritisch auseinandersetzt. Es ist jedoch peinlich, wenn man die Schlachten von 1991 heute noch einmal schlägt.
Dieses Parlament ist mit diesen Vorlagen einen gewaltigen Schritt weitergekommen. Liebe Kollegin Matthäus-Maier, ich verstehe nicht, warum Sie uns stundenlang zum Berlin/Bonn-Gesetz in den Kommissionen genervt und dafür gekämpft haben, daß diesesGesetz verbessert wird, wenn Sie es jetzt ablehnen. Das ist mir schleierhaft.
Meine Damen und Herren, es ist auch legitim, über Geld zu sprechen, aber seien Sie vorsichtig: Es gibt viele Politikfelder in unserer Gesellschaft, bei denen es keine Mehrheit in der Bevölkerung für Ausgaben gibt, obwohl wir alle es wollen. Denken Sie an Probleme in der Entwicklungspolitik und anderswo! Es ist ein gefährliches Argument, von vornherein politisch umstrittene Projekte nur an der Finanzierung festzumachen. Das darf man, aber nicht in der Art und Weise, wie es hier gemacht wird. Das halte ich für politisch gefährlich.
Meine Damen und Herren, inhaltlich zum Berlin/ Bonn-Gesetz, das, wie heute die „F.A.Z." zu Recht sagt, ein Bonn-Gesetz ist, weil es Bonn Sicherheit geben soll: Dieses Gesetz ist eigentlich überflüssig, eigentlich macht man so etwas im politischen Konsens, aber die Bonner haben in all den Kommissionen gewünscht, daß ein Gesetz dafür gemacht wird. Wir, die wir für Berlin waren, sagen: Natürlich ist es unsere Verpflichtung, für Bonn einen Ausgleich zu schaffen. Wenn es in Deutschland über ein Gesetz geregelt werden muß, dann muß es eben ein Gesetz geben, wie Herr Fromme heute richtig geschrieben hat.Aber in diesem Gesetz stehen einige Dinge, die man doch mit Fragezeichen versehen sollte. Erstens. Die Aufteilung — Kollege Schuster hat darauf hingewiesen —, wie sie vorgeschlagen ist, halte ich auf Dauer nicht für tragfähig.
Ich bedaure, daß die Bonner es so wollten; die Bonner sollen es so haben. Franz Müntefering, der nordrhein-westfälische Minister, hätte als Bonn-Befürworter dazu zu Recht eine andere Meinung. Ich hoffe, daß sich das noch ändert, weil die Aufteilung strukturell nicht sehr klug und meines Erachtens auch nicht tragfähig ist, gerade für Bonn.
Aber wenn die Bonner es wollen, respektiere ich es besonders. Ich sage: Weil ich für Berlin bin und die Bonner die Kompensation so wollen, dann sollen sie es haben.Der zweite Punkt: Bonn ist der Titel „Bundesstadt" verliehen worden. Ich habe nichts dagegen; Salzgitter und Mönchengladbach sind auch Bundesstädte.
Bundesunmittelbare Städte gibt es nicht mehr, Reichsunmittelbarkeit auch nicht mehr.Wir beschließen hier ein Gesetz, das einmalig in der deutschen Parlamentsgeschichte ist und das einige Merkwürdigkeiten enthält. Aber es ist der Wunsch
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Gerd Wartenberg
einer betroffenen Gruppe, und deswegen trage ich es mit.Meine Damen und Herren, ein letzter Punkt: Der Gruppenantrag, der hier eingebracht wurde, ist legitim. Nur: Das Moratorium ist einfach unehrlich. Das ist ein Politikerantrag. Von denselben Leuten höre ich mit strahlenden Augen am Biertisch: in der nächsten Wahlperiode neues Glück, dann werden wir den Umzug verhindern. Dann sollte man ehrlich sagen, daß man den Umzug nicht will, aber nicht diese Moratoriumsgeschichte. Das ist nicht glaubwürdig, und das mag man auch nicht mehr hören.Recht herzlichen Dank.
Ebenfalls nach § 31 hat nunmehr Editha Limbach das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde dem Beschlußvorschlag des Ältestenrats zu Tagesordnungspunkt 3 nicht zustimmen.
Ich verkenne nicht, daß mit dem Berlin/Bonn-Gesetz der Versuch gemacht wird, die in dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 vorgesehene faire Arbeitsteilung zwischen der Hauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn umzusetzen und Planungssicherheit für die zukünftige Entwicklung beider Städte zu schaffen. Finanzierungssicherheit ist damit allerdings noch nicht gegeben, und auch bei der Terminplanung sehen wir ja, daß es große Unterschiede in den Meinungen gibt. Frau Matthäus-Maier, es war Ihr Parteivorsitzender Scharping, der der Auffassung war, es ginge sogar alles noch viel, viel schneller. Das muß man fairerweise auch erwähnen, wenn man über den Zeitdruck bei anderen Personen berichtet.
Auf der Grundlage des Umzugsbeschlusses beruht auch der dritte Zwischenbericht der Konzeptkommission, an dessen Erarbeitung ich ebenso wie an der Erarbeitung des Gesetzes als Mitglied der Kommission beteiligt war. Nur, Herr Kollege Wartenberg: An einer Beschlußlage mitzuwirken, um auf deren Basis etwas Vernünftiges zu erreichen, sagt noch nichts darüber aus, ob man seine Meinung bezüglich der Grundlage einer solchen Beschlußlage geändert hat. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß eine andere Aufgabenteilung zwischen Berlin und Bonn richtiger gewesen wäre. Allerdings kann man auch dann, wenn ein Beschluß nach eigener Auffassung falsch ist, daran mitwirken, die Umsetzung so zu gestalten, daß die Ergebnisse für alle Beteiligten möglichst günstig sind.
Manche Merkwürdigkeiten, von denen Sie gesprochen haben, sind dadurch zustande gekommen, daß im Zuge der großen Bemühungen, einen Konsens zu finden, der eine und der andere nachgeben mußte. Insofern finde ich es ungerecht, jetzt einzelne Punkte herauszugreifen. Das könnte wahrscheinlich jede beteiligte Gruppierung tun.
Wir entscheiden heute übrigens auch über den Antrag, zu dem der Kollege Wittmann und der Kollege Bury eben gesprochen haben, auf Drucksache 12/6623 zur Verschiebung des Umzugs. Ich finde es keine Merkwürdigkeit und halte es auch nicht für falsch, wenn man sagt: Man braucht Zeit zum Nachdenken beispielsweise auch über ein Finanzierungskonzept. Deshalb hätte ich diesen Antrag mit meiner Stimmabgabe gern deutlich unterstützt. Aber das vorgesehene Verfahren der Abstimmung über die Beschlußvorlage des Ältestenrats läßt ein differenziertes und abgestuftes Stimmverhalten, das ich gern praktiziert hätte, nicht zu. Deshalb muß ich die Beschlußvorlage des Ältestenrats ablehnen.
Ich möchte noch hinzufügen, daß mich der Kollege Stefan Schwarz gebeten hat, mitzuteilen, daß er sich dieser Erklärung zur Abstimmung anschließen will.
Das Wort hat nunmehr Professor Dr. Immo Lieberoth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Berlin-Befürworter werde ich dem Berlin/Bonn-Gesetz nach Drucksache 12/6614 als Gesamtpaket zwar zustimmen, muß aber trotz des Hinweises des Ältestenrates, die getroffenen Sitzentscheidungen nach § 7 des Gesetzes nicht zu unterlaufen, meine wiederholt angemeldeten Bedenken gegen einen bestimmten Punkt, nämlich die Verlagerung der Außenstelle Berlin der Bundesanstalt für Geowissenschaft und Rohstoffe nach Bonn, nochmals deutlich herausstellen. Alle meine bisherigen Einsprüche und Hinweise sind leider nicht akzeptiert worden.
Diese Einrichtung, in der etwa 130 Mitarbeiter tätig sind — im wesentlichen aus den neuen Bundesländern, diese Verlagerung entspräche also einer Verlagerung von Akademikern aus dem Osten in den Westen —, hat vor wenigen Jahren schon eine Evaluierung hinter sich gebracht. Mit dieser Verlagerung würde eine 125jährige Tradition zerschlagen, die von der ehemaligen Preußischen Geologischen Landesanstalt ausging, in der Sammlungen bis in die Zeit Friedrichs des Großen zurückreichen.
Meine Damen und Herren, ohne Kenntnis der näheren Umstände hat die Föderalismuskommission damals eine Einrichtung, die sich in einem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude befindet, für den Umzug nach Bonn bestimmt. Einzig diese Entscheidung kann ich nicht billigen, und ich kann nur nochmals dazu auffordern, eine sachbezogene Überprüfung vorzunehmen.
Ich danke Ihnen.
Als letzter nach § 31 erteile ich der Abgeordneten Birgit Homburger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte vorab noch einmal fest,
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18630 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Birgit Homburgerdaß über den Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin bereits im Juni 1991 entschieden wurde. Diese Entscheidung stelle ich nach wie vor nicht in Frage. Auch ein Großteil derer, die mit mir diesen interfraktionellen Verschiebungsantrag hier eingebracht haben, stellt diese Entscheidung nicht in Frage.Herr Kollege Wartenberg, ich möchte schon einmal klar und deutlich sagen: Ich bin es langsam leid, daß in diesem Hause nur diejenigen, die für Berlin sind und die für dieses Berlin/Bonn-Gesetz stimmen, hier offensichtlich die Wahrheit und Glaubwürdigkeit gepachtet haben.
Es gibt auch für die andere Meinung gut durchdachte Gründe. Es müssen nämlich einige Notwendigkeiten berücksichtigt werden. Dazu gehört für mich vor allen Dingen, auch zukünftig die Arbeitsmöglichkeit des Parlaments, besonders auch seine Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Regierung, sicherzustellen. Diesem Ziel läuft die Festlegung einer sogenannten festen Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn durch Ansiedlung von Bundesministerien in Berlin und Bonn entgegen.Unter Achtung der eigenständigen Organisationsgewalt der Bundesregierung halte ich nochmals fest, daß nach meiner Meinung alle Ministerien am Sitz des Parlaments sein sollten, um den Austausch mit dem Parlament und eben auch die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments sicherzustellen.Darüber hinaus bringen aus meiner Sicht die jetzt vorgesehene Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin und diese Art der Verteilung der Ministerien einen nicht zu begründenden Wanderzirkus und damit weitere finanzielle Belastungen mit sich.Besonders schwerwiegend ist für mich auch die Tatsache, daß es nach wie vor keine seriöse Finanzplanung gibt. Die vorliegende Beschlußempfehlung hält fest, daß die Gesamtkosten auf 20 Milliarden DM zu begrenzen sind. Wer die Bautätigkeit des Bundes — insbesondere des Deutschen Bundestages — in den letzten Jahren aufmerksam beobachtet hat, der weiß, daß diese Feststellung nichts als deklaratorische Wirkung hat.Die Feststellung des Haushaltsausschusses, daß in die fortzuschreibende Finanzplanung des Bundes bis 1998 zusätzlich insgesamt etwa 5,7 Milliarden DM aufzunehmen seien und damit bis 1998 rund 10,2 Milliarden DM der 20 Milliarden DM finanziert werden, läßt nicht nur offen, wie die Finanzierung vernünftig erfolgen soll, sondern auch, wann der restliche Betrag — insgesamt 8 Milliarden DM — finanziert werden soll.Mit der Feststellung, daß sicherzustellen sei, daß die notwendigen Kosten durch Umschichtungen im Haushalt sowie durch eine insgesamt sparsame Haushaltsgestaltung erwirtschaftet werden, wird keine klare Finanzplanung gegeben. Damit wird der Deutsche Bundestag aus meiner Sicht seiner Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, was eine solide Finanzierung des Umzugs angeht, nicht gerecht.
Ich erinnere mich an die Schwierigkeiten, die wir vor kurzer Zeit damit hatten, teilweise minimale Beträge einzusparen. Da gibt es durch Umschichtung im Gesamthaushalt kaum noch Möglichkeiten, und das Petitum einer insgesamt sparsamen Haushaltsgestaltung wird wohl nicht dazu ausreichen, einen Betrag von insgesamt 20 Milliarden DM gegenzufinanzieren.Herr Präsident, meine Damen und Herren, aus diesen Gründen kann ich es nicht verantworten, dem Berlin/Bonn-Gesetz zuzustimmen, und ich werde auch die Beschlußempfehlung des Ältestenrates ablehnen.Danke.
Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich dem Hause mitteilen, daß die Abgeordneten Martin Grüner, Lothar Ibrügger, Walter Schöler und Professor Dr. Uwe Holtz ihre Erklärungen nach § 31 schriftlich vorgelegt haben.*)
Somit können wir nunmehr zu den Abstimmungen kommen, und zwar in der Reihenfolge der Beschlußempfehlung des Ältestenrates. Das heißt, wir stimmen zunächst über die Beschlußempfehlung des Ältestenrates zu dem dritten Zwischenbericht der Konzeptkommission ab. Das liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/6615 und 12/6993 Nr. 1 vor. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei unterschiedlichem Stimmverhalten in allen Fraktionen und Gruppen ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands, Berlin/Bonn-Gesetz. Das liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/6614 und 12/6993 Nr. 2 vor.Der Abgeordnete Ortwin Lowack hat fünf Änderungsanträge gestellt, die er vorgelesen und begründet hat. Er hat sich damit einverstanden erklärt, daß über diese Änderungsanträge gemeinsam abgestimmt wird. So werde ich auch verfahren. Wer den fünf Änderungsanträgen des Abgeordneten Lowack zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Bei vier oder fünf Enthaltungen sind die Anträge mit der Mehrheit aller Anwesenden abgelehnt.*) Anlage 2
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergIch bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Fassung des Ältestenrates in der zweiten Lesung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei einigen Enthaltungen und einer erheblichen Zahl von Gegenstimmen aus allen Gruppen und Fraktionen ist dieser Gesetzentwurf in der zweiten Beratung angenommen.Wir kommen nunmehr zurdritten Beratung.Dazu hat die Gruppe PDS/Linke Liste namentliche Abstimmung beantragt. Es muß also jetzt festgestellt werden, ob die nach der Geschäftsordnung erforderliche Quote von anwesenden 5 % der Abgeordneten dieses wünscht. Wer also namentliche Abstimmung wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Damit ist klar, daß die 5 % nicht erreicht sind.
— Das spielt keine Rolle, Frau Abgeordnete, denn die 5 % haben Sie nicht erreicht. Ich kann Ihnen natürlich dieses Vergnügen bereiten.Damit hat der Antrag auf namentliche Abstimmung nicht das nötige Quorum erreicht.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei sehr unterschiedlichem Stimmverhalten ist der Gesetzentwurf mit deutlicher Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, Sie müssen noch über etliche Beschlußempfehlungen abstimmen.Wir stimmen jetzt über die Empfehlung des Ältestenrates zu dem Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Beschlußempfehlung zum zweiten Zwischenbericht der Konzeptkommission, Drucksachen 12/2886 und 12/6993 Nr. 3, ab. Der Ältestenrat empfiehlt, den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ältestenrats zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Martin Bury, Simon Wittmann , Birgit Homburger und weiterer Abgeordneter ab. Sie liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/6623 und 12/6993 Nr. 3 vor.Der Ältestenrat empfiehlt, den Antrag für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ältestenrates zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Umzug der Bundesregierung und des Bundestages. Sie liegt Ihnen auf Drucksache 12/6993 Nr. 4 vor.Der Ältestenrat empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/6618 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit Mehrheit ist die Beschlußempfehlung angenommen.Meine Damen und Herren, bevor wir den Tagesordnungspunkt 4 a bis 4 c und Zusatzpunkt 4 aufrufen, werden wir einen Wechsel auf dem Stuhl des Präsidenten vornehmen.
Meine Damen und Herren, ich bitte, die notwendige Ruhe herzustellen, damit wir mit den Beratungen fortfahren können.Ich will Sie noch darauf aufmerksam machen, daß wir eine gute Stunde im Zeitverzug sind und sich damit die namentliche Abstimmung um etwa eine Stunde verschieben wird.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis 4 c und den Zusatzpunkt 4 auf:4. Aktionsprogramm III für mehr Wachstum und Beschäftigunga) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Planungsverfahrens für Magnetschwebebahnen
— Drucksache 12/7006 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO RechtsausschußAusschuß für WirtschaftFinanzausschußb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht über das Finanzierungskonzept der Magnetschwebebahnverbindung Berlin-Hamburg
— Drucksache 12/6964 —Überweisung svorschlag:Ausschuß für Verkehr
FinanzausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschußAusschuß für Wirtschaftc) — Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitli-
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18632 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Vizepräsident Helmuth Beckerchung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts
— Drucksache 12/5888 —
— Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Gerd Andres, Angelika Barbe, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes— Drucksache 12/5282 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/6990 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl-Josef Laumann Renate RennebachDr. Gisela BabelZP4 Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung zu Punkt 16 „Mehr Teilzeitarbeit" des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung— Drucksache 12/6983 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Karl-Josef Laumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute zur Verabschiedung anstehende Arbeitszeitrechtsgesetz ist ein wichtiger Schritt der Bundesregierung sowie der beiden Koalitionsfraktionen in ihrem entschlossenen Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für eine Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung.
Sie sehen, wir setzen unsere Politik, Rahmenbedingungen für mehr menschliche Arbeit in diesem Land zu schaffen, energisch fort und auch um.
Das hier zur Verabschiedung anstehende Gesetz ist eine ausgewogene Antwort auf die arbeitszeitrechtlichen Erfordernisse einer modernen Industriegesellschaft und auch im Interesse der Arbeitnehmer.
Drei große Überschriften dieses Gesetzes könnten sein: Erstens. Der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist wirksam und praktikabel gestaltet.
Zweitens. Sonn- und Feiertage werden als Tage der Arbeitsruhe und der Erholung gesichert.
Drittens. Die Rahmenbedingungen für flexible und individuelle Arbeitszeitmodelle sind verbessert worden.
Meine Damen und Herren, dieses neue Arbeitszeitgesetz erlaubt, daß täglich bis zu zehn Stunden gearbeitet werden kann, an sechs Tagen in der Woche, also 60 Stunden.
Dabei muß man allerdings bedenken, daß für die einzelnen Arbeitnehmer innerhalb eines halben Jahres ein Ausgleich auf 48 Stunden wöchentlich erfolgen muß.
Diese Regelung gibt den Betriebsräten und den Geschäftsleitungen nach unserer Auffassung ausreichend Möglichkeiten, die Arbeitszeiten auf die betrieblichen Erfordernisse auszurichten. Diese Regelung ist nicht, wie die SPD behauptet, ein gewaltiger Schritt zurück zum Anfang des Jahrhunderts,
sondern sie ist die einzig richtige Antwort auf die Erfordernisse einer modernen Industrienation.
Das neue Arbeitszeitgesetz dient nicht dazu, den ideologischen Streit auszutragen, ob wir eine 35Stunden-Woche, eine 30-Stunden-Woche oder eine 40-Stunden-Woche regeln sollen, auszutragen, sondern es soll einen Spielraum eröffnen, damit auch in dem Umfang und zu den Zeiten in den Betrieben gearbeitet werden kann, wie Arbeit anfällt. Es muß für vernünftige Menschen doch einfach einsichtig sein, daß es richtiger ist, daß z. B. ein termingebundener Auftrag durch Mehrarbeit abgewickelt wird und daß dann diese Mehrarbeit in den Ausgleichszeitraum von einem halben Jahr auf 48 Stunden ausgeglichen werden kann. Es ist auch sinnvoller, daß man in einem Betrieb, der sehr starken saisonmäßigen Schwankungen unterliegt, z. B. in der Landmaschinenindustrie, aus der ich komme, im Frühjahr und im Frühsommer mehr arbeitet als im Winter und daß wir mit diesen Ausgleichszeiträumen unter Umständen Kurzarbeit verhindern können. Das ist gut sowohl für die Arbeitnehmer, weil sie keine Lohneinbußen haben, wie aber auch für die Bundesanstalt für Arbeit.
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja, bitte.
Bitte, Kollege Seifert.
Herr Kollege, sind Sie nicht eigentlich der Meinung, daß die Arbeitsorganisation ureigenste Aufgabe des Unternehmers, desjenigen, der nachher die Gewinne einsteckt, ist und nicht die Aufgabe derjenigen, die arbeiten und
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Dr. Ilja Seifertdie dann, wenn der Unternehmer es schlampig vorbereitet hat, hinterher nacharbeiten müssen?
Ich bin nicht der Meinung, daß es die ureigenste Aufgabe des Unternehmers ist, dieses zu organisieren; denn in den Betrieben haben wir in der Frage der Arbeitszeitregelung eine Mitbestimmung von Betriebsräten. Das halte ich für gut so.
Ich denke, Herr Kollege Seifert, wenn Sie einmal durch private Betriebe in der Republik oder in Ihrem Wahlkreis gehen, dann werden Sie hören, daß es trotz der Rezession, die wir heute haben, in der Praxis heute sehr oft so aussieht, daß dann, wenn die Firmen einen Auftrag bekommen, er in der Regel sehr schnell fertig sein muß und man sehr oft nur noch ganz kurze Vorlaufzeiten hat. Das ist dann eben nur mit flexiblen Arbeitszeiten möglich. Ich meine, in einer solchen Situation sollten wir das ermöglichen. Das ist im Interesse von Beschäftigung. Das muß halt laufen.
Zu den Schattenseiten der Industrienationen und der Arbeitszeiten zähle zumindest ich die Nachtarbeit. Die Nachtarbeit ist — das ist zweifelsohne in der Fachwelt, denke ich, unstrittig — Arbeitszeit, die für die betroffenen Menschen zu einer gesundheitlichen Gefährdung und auch zu gesundheitlicher Beeinträchtigung führen kann.
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie noch einmal eine Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Büttner?
Aber selbstverständlich.
Bitte, Kollege Büttner.
Herr Kollege Laumann, können Sie mir erstens einmal einen Betrieb nennen, der auf Grund der jetzigen Arbeitszeitregelung keine Überstunden machen konnte?
Und zweitens: Können Sie mir an Hand der jetzigen Gesetzesvorlage einmal erklären, wieso die Nachtarbeitsmöglichkeit erweitert werden soll, obwohl Nachtarbeit nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen gesundheitsschädigend ist?
Zunächst einmal: Natürlich läßt auch die jetzige Arbeitszeitordnung Überstunden zu. Der Unterschied ist, daß wir die Ausgleichszeiträume von einem Vierteljahr — wie es bislang der Fall ist — auf ein halbes Jahr ausdehnen. Dieses gibt die Möglichkeit, daß gerade die Schwankungen, von denen ich eingangs in meiner Rede sprach, für die Betriebe leichter aufzufangen sind. Die Frage der Nachtarbeit ist von uns so geregelt, daß die Ausgleichszeiträume kürzer sind als bei der Tagarbeit. Von daher ist dem Gesundheitsinteresse der Arbeitnehmer Rechnung getragen.Ich hatte gerade gesagt, daß es ohne Zweifel zur Schattenseite einer Industrienation gehört, daß wir Nachtarbeit haben. Ich glaube auch, daß man einsehen muß, daß es in unserer jetzigen Wirtschaft in vielen Bereichen ohne Nachtarbeit nicht geht.Investitionen in einen Arbeitsplatz von 4 oder 5 Millionen DM in Teilen unserer Industrie machen deutlich, daß diese Maschinen auch nachts genutzt werden müssen. Von daher bleibt dem Gesetzgeber eigentlich nichts anderes übrig, als die Gefährdungen, die durch Nachtarbeit auf die Menschen zu kommen können, insoweit einzuschränken, daß Nachtarbeiter arbeitsmedizinisch begleitet werden
und daß in bestimmten Zeitabständen Untersuchungen stattfinden. Wenn diese Untersuchungen zu dem Ergebnis kommen, daß die Nachtarbeit bei den betroffenen Arbeitnehmern zu einer Gefährdung der Gesundheit führen könnte, soll auch die Möglichkeit bestehen — wenn es eben zu machen ist —, auf einen Tagarbeitsplatz umgesetzt zu werden.
Diesen Umsetzungsanspruch sieht das Gesetz auch dann vor, wenn ein Kind unter zwölf Jahren oder ein schwerstpflegebedürftiger Angehöriger versorgt werden muß, und im Haushalt des Arbeitnehmers kein anderer Familienangehöriger ist, der diese Aufgabe wahrnehmen kann.Im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung um dieses Gesetz steht jedoch eine ganz andere Frage, nämlich der Schutz des Sonntags. Klar ist, daß der arbeitsfreie Sonn- und Feiertag sowohl aus religiösen, als auch aus kulturellen und familiären Gründen ein hohes und schützenwertes Gut ist.
Das wird durch dieses Gesetz sichergestellt. Niemand in diesem Hause und niemand aus der CDU/CSU will, daß der Sonntag ein Werktag wird.
Die Menschen brauchen nicht das Einerlei. So wie das Jahr durch die großen Feste Weihnachten, Ostern und Pfingsten gegliedert ist, muß auch die Woche durch den Sonntag gegliedert sein und bleiben.
Unstrittig ist, daß in Bereichen, in denen aus öffentlichem Interesse sonntags gearbeitet werden muß, dieses auch möglich ist. Das ist in diesem Gesetz in 16 Ausnahmeregeln präzise beschrieben. Ich habe auch den Eindruck, daß die Ausnahmeregelungen
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Karl-Josef Laumannnicht in einem starken Umfang in der politischen Auseinandersetzung gestanden haben.Schwieriger ist die Frage: Wollen wir Sonntagsarbeit im produzierenden Bereich aus Gründen der Sicherung von Beschäftigung zulassen oder nicht?
Hier gibt es natürlich einige Fundamentalisten, die klar nein sagen. Sie begründen es in der Regel mit religiösen, kulturellen oder familienpolitischen Argumenten. Ich sage ganz offen, daß ich für diese Argumente Verständnis habe.
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?
Ja.
Herr Kollege Laumann, da Sie die Fundamentalisten angesprochen haben, wollte ich Sie fragen, ob der Bischof von Trier, Herr Spital, den ich später noch zitieren werde, der Bischof von Mainz, Herr Lehmann, und der Bundesvorstand der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands, die allesamt erklärt haben, der gegenwärtige Gesetzentwurf sei völlig untragbar, weil er zum erstenmal mit einem gesellschaftlichen Tabu, nämlich dem Schutz des Sonntags, aus ökonomischen Gründen aufräumt, in ihrer Sprache alle Fundamentalisten sind?
Ich habe von Fundamentalisten im Bereich der Genehmigung von Sonntagsarbeit gesprochen. Ich werde gleich noch dazu kommen, zu sagen, wo und warum wir Sonntagsarbeit zulassen. Damit wird sich gleichzeitig die Beantwortung Ihrer Frage ergeben.
Ich möchte nur, bevor ich zu diesem Thema in meiner Rede komme, ganz deutlich sagen, daß es nach meiner Auffassung — vor Ort wird diese Auffassung auch von vielen Pfarrern und KAB-Leuten geteilt — durchaus auch aus religiösen und familienpolitischen Gründen sinnvoll ist, in Ausnahmebereichen Sonntagsarbeit zur Sicherung von Beschäftigung einzuführen und zu nutzen.
Es ist doch allemal besser, daß ein Textilarbeiter vielleicht das eine oder andere Mal sonntags arbeitet, anstatt seinen Arbeitsplatz zu verlieren, weil er ins Ausland ausgelagert wird und er von Montag bis Sonntag zu Hause ist.
Weil wir uns in der CDU/CSU dazu entschlossen haben, aus Gründen, aber auch nur aus Gründen der Sicherung von Beschäftigung, Sonntagsarbeit zuzulassen, haben wir durch viele Änderungsanträge
der Koalitionsfraktionen hier eine Lösung gefunden, die dazu beitragen wird, daß dieses Thema erstens praktikabel gelöst wird und es zweitens zu keiner Ausweitung der Sonntagsarbeit kommen wird.
Herr Kollege Laumann, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Ja, bitte.
Frau Kollegin Weiler, bitte.
Herr Kollege Laumann, ist Ihnen aus der Anhörung und den Unterlagen zur Anhörung bekannt, daß die KAB sehr schlüssig nachgewiesen hat, daß es keine Betriebsschließungen und Arbeitsplatzverluste wegen zu kurzer Betriebs- und Maschinenlaufzeiten gibt, und ist Ihnen bekannt, daß die KAB in ihrer Stellungnahme gesagt hat: Wer den Sonntag nicht ehrt, ist unsere Stimme nicht wert?
Frau Kollegin Weiler, wir haben die Sonntagsarbeit mit unseren Änderungsanträgen zum Regierungsentwurf wesentlich eingeschränkt.
Wir haben damit wesentliche Punkte der KAB übernommen.
Wenn Sie hier sagen: „Wer den Sonntag nicht ehrt, ist unsere Stimme nicht wert", so sage ich Ihnen: Wir ehren den Sonntag. Deswegen haben wir die Änderungsanträge eingebracht. Ich wäre froh, wenn ich Sie einmal an der Seite der KAB, meines Verbandes, finden würde, wenn es in diesem Hause um den Schutz des ungeborenen Lebens geht.
Wir haben mit unseren Änderungsanträgen folgendes erreicht: Sonntagsarbeit ist im produzierenden Gewerbe in diesem Land nur dann möglich, wenn von der Aufsichtsbehörde positiv festgestellt wird, daß — erstens -- die gesetzlich mögliche wöchentliche Betriebszeit von 144 Stunden in dem Unternehmen, das die Sonntagsarbeit beantragt, weitgehend ausgenutzt worden ist.
Wir haben „weitgehend" gesagt, weil natürlich klar ist, daß es in diesen Betrieben, z. B. durch Betriebsurlaub, auch Unterbrechungen von 14 Tagen oder 3 Wochen gibt, wodurch die 144 Stunden im Jahres-
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Karl-Josef Laumann
durchschnitt natürlich nicht erreicht werden. Aber 144 Stunden bedeuten, daß mehrschichtig gearbeitet werden muß und daß samstags gearbeitet werden muß, bevor überhaupt an den Sonntag herangegangen werden kann.
Überlegen Sie einmal, wo wir heute diese Schichten überhaupt haben.
Zweitens muß positiv festgestellt werden, daß die ausländische Konkurrenz dieses Unternehmens über diese 144 Stunden hinaus arbeitet. Das heißt also, daß bei dem betreffenden Wettbewerber im Ausland an Sonn- und Feiertagen produziert werden muß. Zumindest bedeutet es das in der Praxis.
Drittens muß festgestellt werden, daß die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens unter Berücksichtigung der verfassungsmäßig garantierten Sonn- und Feiertagsruhe in unzumutbarer Weise beeinträchtigt worden ist.
Ich glaube, wenn Sie diese drei Punkte einmal zusammennehmen, dann sehen Sie, daß wir Sonntagsarbeit nur da zulassen wollen, wo es um die Frage geht, daß der Arbeitsplatz bei uns in Deutschland verlorengeht, oder wo sehr teure Maschinen, wie z. B. in einer Rotorspinnerei, wo wir uns über 6 bis 7 Millionen DM pro Arbeitsplatz unterhalten, auch die 24 Stunden am Sonntag arbeiten müssen. Ich lasse einfach nicht zu, daß die Menschen in meinem Wahlkreis in der Textilindustrie arbeitslos werden und diese Arbeitsplätze nach Mailand gehen.
Herr Kollege Laumann, der Kollege Walther hat den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen.
Nein, ich habe jetzt genügend Zwischenfragen zugelassen.
Gut.
Auf Grund unserer sehr vorsichtigen und von einer sehr hohen Verantwortungsmoral geprägten leichten Öffnung der Sonntagsarbeit weise ich es ganz entschieden zurück, uns der Sonntagsschändung zu bezichtigen. Wir werden uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehren.
Wenn ich vor Ort mit den KAB-Leuten spreche, finde ich für meine Haltung mehr Zustimmung. Sie können sich in dieser Frage nicht allein an den Bischöfen orientieren.
Sie müssen sich auch einmal an den Leuten orientieren, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. Ich möchte nämlich der Frau Kollegin Rennebach das Wort erteilen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Laumann, ich habe den Eindruck, daß Sie mit Ihren Änderungsanträgen zu dem Gesetzentwurf, den die CDU/CSU-F.D.P.-Koalition vorgelegt hat, erst recht die Fahrkarte nach Mailand für Ihr Unternehmen gekauft haben. Manchmal habe ich auch den Eindruck, daß Sie das Gesetz so behandeln wie das Gesetz hinsichtlich des Schlechtwettergeldes, bei dem am nächsten Tag nach Verabschiedung des Gesetzes durch das Parlament die CDU-Sozialausschüsse losgegangen sind und gesagt haben, man müsse das Gesetz nun wieder abschaffen.
Von daher ist ja vielleicht noch Hoffnung bis zum Ende des Jahres gegeben.
Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung über die gesetzliche Neuregelung der Arbeitszeit. Daß wir dies in Verbindung mit der Debatte über den Transrapid tun — und zwar tun müssen, weil die Regierungskoalition dies so will —, ist an sich schon ein Skandal.
Die gesamte Debatte mit der Magnetschwebebahn zu verbinden — ich meine, der Beitrag von Herrn Laumann war magnetschwebend —
und auch noch mit der Überschrift „Aktionsprogramm III für mehr Wachstum und Beschäftigung" zu versehen ist geradezu absurd, Kolleginnen und Kollegen.
Es ist aber auch ein Zeugnis dafür, daß die Koalition dieser Frage entweder nur einen untergeordneten Stellenwert einräumt — das würde für meine Berner-kung über das Schlechtwettergeld sprechen — oder
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Renate Rennebachaber sie dieses Thema deshalb zur Magnetschwebebahn packt, um es möglichst unbemerkt vom Tisch zu bekommen, weil ihr der eigene Gesetzentwurf peinlich ist. Letzteres könnte ich im übrigen angesichts dessen durchaus noch nachvollziehen, was die Regierung an Arbeitnehmerfeindlichkeit und beschäftigungspolitischem Unsinn den Menschen in unserem Lande mit diesem Gesetz antun will.Was die gesetzliche Neuregelung der Arbeitszeit betrifft, so ist diese mehr als überfällig. Die zur Zeit gültige Arbeitszeitordnung stammt von 1938 und ist insofern historisch wie wirtschafts- und sozialpolitisch nicht mehr zeitgemäß und überholt. Es ist zudem in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß inzwischen auch die F.D.P. hier einen Neuregelungsbedarf gesehen hat, wo doch in den vergangenen Legislaturperioden eine Novellierung stets an ihr gescheitert ist.Meine Damen und Herren, wir haben bei der Abstimmung im Anschluß an diese Debatte die Wahl zwischen zwei Gesetzentwürfen. Konkret heißt dies: Wir können unsere Stimme dem Gesetzentwurf der Bundesregierung geben,
der u. a. die Ausweitung der Arbeitszeit sowie eine verstärkte Sonn- und Feiertagsarbeit vorsieht und der in der Summe sogar noch hinter die Arbeitszeitordnung von 1938 zurückfällt;
wir können aber auch für den Gesetzentwurf der SPD stimmen, der seinem Anspruch gerecht wird, nämlich eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit zu schaffen,
die zeitgemäß ist, sozialpolitisch verträglich, gesundheitspolitisch angemessen und beschäftigungspolitisch sinnvoll.
Lassen Sie mich kurz die wichtigsten Punkte der Gesetzentwürfe nennen.Dem Entwurf der Bundesregierung für ein Arbeitszeitrechtsgesetz liegt eine scheinbar ökonomische Perspektive zugrunde und nicht, wie man es hätte vermuten können, das Ziel einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eines wirksamen Arbeitsschutzes oder gar eine arbeitsmarktpolitische Initiative.So beabsichtigt die Regierung zum einen, das Arbeitszeitrecht aufzuweichen, um sich den niedrigen Standards in den anderen EG-Ländern anzupassen. Zum anderen unterliegt sie dem falschen Glauben, durch eine größere arbeitszeitliche Verfügbarkeit der Arbeitgeber über ihre Arbeitnehmer einen Beitrag dafür zu leisten, die bundesdeutsche Wirtschaft aus ihrer Talsohle herauszuführen. Das ist falsch.Um diese Ziele zu erreichen, ist nach dem Willen der Bundesregierung u. a. vorgesehen, erstens, das grundgesetzlich garantierte Verbot der Sonn- undFeiertagsarbeit zu unterlaufen. Die Erteilung von diesbezüglichen Ausnahmegenehmigungen wird nach dem Willen der Regierung nicht nur erleichtert.
Vielmehr sollen die Gewerbeaufsichtsämter per Gesetz zur Erteilung solcher Genehmigungen angehalten werden. Das ist die Aufforderung zur Arbeit am Sonntag.
Sonn- und Feiertage werden somit für fast alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu potentiellen Werktagen.
Das Familienleben ist entsprechend der Auftragslage in den Betrieben zu planen, und die Gelegenheit — wie es in unserer Verfassung heißt — zur Arbeitsruhe und zur seelischen Erhebung ist bestenfalls noch in Ausnahmefällen gegeben, obwohl es in Ihren Art. 1 qua Änderungsantrag eingegeben wurde.Zweitens. In Konsequenz einer völlig falsch verstandenen Gleichberechtigung hat die Bundesregierung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anlaß genommen, nicht etwa die gesundheitsschädliche Nachtarbeit generell abzuschaffen, sondern diese nun auch für Arbeiterinnen zuzulassen.Darüber hinaus entsprechen die von der Regierung vorgesehenen Regelungen zur Nachtarbeit, wie Pausenregelung und Zuschläge, nicht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hat den Gesetzgeber verpflichtet, gemäß dem Grundsatz der körperlichen Unversehrtheit besondere Regelungen zum Schutz von Nachtarbeitnehmern zu erlassen.
Im Entwurf der Bundesregierung dagegen sind Tag-und Nachtarbeit gleichgestellt.
Drittens. Auf Grund des Ignorierens der sozialhistorischen Entwicklung bezüglich der wöchentlichen Arbeitszeit seit 1938 ist im Regierungsentwurf keine Verkürzung der Arbeitszeit vorgesehen. So bleibt es nach dem Willen der Regierung beim Grundsatz des Achtstundentages an sechs Werktagen. Die tägliche Arbeitszeit kann bis auf zehn Stunden ausgedehnt werden. Der 60-Stunden-Woche werden Tür und Tor geöffnet.
— Das steht aber in Ihrem Gesetzentwurf. Daß es Quatsch ist, sagen wir auch.
Diese exemplarisch dargestellten Elemente des Regierungsentwurfes waren auch die Hauptkritikpunkte, die während der Anhörung im Ausschuß von fast allen Seiten vorgetragen wurden. Außer den
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Renate RennebachArbeitgebern haben sich dort alle gesellschaftlich relevanten Organisationen und Verbände, insbesondere die Kirchen, gegen den Gesetzentwurf der Regierung ausgesprochen, auch wenn Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, dies nicht wahrhaben wollen.Berechtigterweise hegten im Anschluß an diese Anhörung auch fast alle die Hoffnung, die Koalition würde ihren Entwurf der Kritik entsprechend verbessern; aber weit gefehlt!
So legte die Koalition zwar im Ausschuß nach langem Hin und Her und mehrmaliger Absetzung des Themas sage und schreibe ca. 36 Änderungsanträge vor, aber diese verschlechterten den Entwurf nur noch und waren ein geradezu klassisches Zeugnis sowohl für die völlige Zerstrittenheit der Koalition als auch für den Sieg der wirtschaftsliberalen Deregulierer gegenüber dem letzten bißchen sozialpolitischen Verstand.
Ihr Arbeitszeitrechtsgesetz, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist — um es kurz zu sagen — ein bißchen Wasser in die bisher geltende Arbeitszeitordnung; erdacht aus der selbstverursachten wirtschaftlichen Drucksituation heraus, deshalb zu kurz gedacht und kurzfristig durchgepeitscht.Unser Entwurf dagegen ist ausgerichtet am Arbeits-und am Gesundheitsschutz sowie an der diesbezüglichen Entwicklung moderner Volkswirtschaften. Wir haben uns an den Bedürfnissen der Menschen, die davon betroffen sind, und zugleich an den Erfordernissen einer zeitgemäßen Arbeitszeitgestaltung orientiert. Unser Gesetzentwurf sieht folglich im wesentlichen vor:Erstens. Wir wollen die gesetzliche Garantie von zwei arbeitsfreien Sonntagen pro Monat. Darüber hinaus soll die Sonn- und Feiertagsarbeit nicht auf weitere Berufsgruppen und Branchen ausgeweitet werden, wie dies die Koalition möchte, sondern — wie bisher — nur zur Versorgung der Bevölkerung oder aus technischen Gründen zugelassen sein. Wir wollen die Sonn- und Feiertage weiterhin als Familientage schützen. Frau Rönsch müßte darüber sehr glücklich sein.
— Sie soll eine Ministerin sein.Zweitens. Was die Nachtarbeit betrifft, sieht der Gesetzentwurf der SPD besondere Regelungen vor, die sich von denen bezüglich der Tagarbeit unterscheiden. So soll Nachtarbeit nur an fünf Tagen mit jeweils sechs Stunden möglich sein oder durch Tarifvertragsvereinbarung im Sinne einer eventuell notwendigen Flexibilisierung an vier Tagen bis zu jeweils acht Stunden. Die Zuschläge sollen in Zukunft ausschließlich durch freie Tage gewährt werden. Es soll eine den gesundheitlichen Anforderungen entsprechende besondere Pausenregelung eingeführt werden.Sie sehen, meine Damen und Herren, daß für uns bei der Frage der Nachtarbeit der Gesundheitsschutz im Vordergrund steht. Unserer Ansicht nach kann und darf es nicht sein, daß die erwiesenermaßen bestehenden gesundheitlichen Gefährdungen bei der Nachtarbeit hinter irgendwelchen ökonomischen Argumenten zurückstehen sollen, die darüber hinaus auch noch zu kurz greifen und schlichtweg falsch sind.
Drittens. In die gleiche Richtung zielen auch die von uns vorgeschlagenen Regelungen zur täglichen Arbeitszeit. Wir wollen, daß endlich die 40-StundenWoche, d. h. im Regelfall der Achtstundentag, gesetzlich festgeschrieben wird, nur durch Tarifvertrag der Zehnstundentag und darüber hinausgehende Arbeitszeiten nur in ganz beschränkten Ausnahmefällen und mit behördlicher Sondergenehmigung möglich sind. Der entsprechende Ausgleichszeitraum ist bei uns auf zwölf Wochen festgelegt und nicht auf sechs Monate, wie es im Regierungsentwurf vorgesehen ist. Wir wollen darüber hinaus den Ausgleich durch Freizeit zwingend festschreiben und keinen finanziellen Ausgleich zulassen, weil dies aus arbeitsmarktund gesundheitspolitischen Gründen das einzig Sinnvolle und Notwendige ist.
In einer Zeit dramatischen demographischen Wandels, Kolleginnen und Kollegen, in der in naher Zukunft — entgegen der heutigen Praxis — immer mehr ältere Arbeitnehmer am Arbeitsplatz sein werden, den Gesundheitsschutz zu einer Kann-Bestimmung zu machen, wie Sie dies wollen, meine Damen und Herren von der Koalition, ist wirklich hanebüchen. Allein schon unter diesem Gesichtspunkt ist Ihr Arbeitszeitrechtsgesetz abzulehnen.
Nur weil den Vertretern der Arbeitgeberverbände und ihren Abgesandten im Bundestag der Gesundheitsschutz egal ist und sie diesen aus Kostengründen vernachlässigen wollen, ist dies zwar aus deren Sicht verständlich, aber noch lange nicht politisch in Ordnung. Das Kapital denkt in erster Linie an den Profit; die betroffenen Menschen spielen dabei keine Rolle.
Das ist nicht neu, aber nach wie vor eine gültige Tatsache. Dies heißt aber nicht automatisch für eine Regierung, daß sie sich den Mächtigen der Wirtschaft anschließen muß. Eine Regierung ist für die Menschen verantwortlich und muß folglich insbesondere auch deren Schutz im Auge haben.Meine Damen und Herren, dieser Schutz fiel schon im Entwurf des Herrn Blüm äußerst spärlich aus. Im Zuge der Beratungen und der koalitionsinternen Auseinandersetzungen ist er dann letztlich dank der F.D.P. völlig hinten heruntergefallen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren, das Wort erhält jetzt unser Kollege Paul Friedhoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Rennebach, bezüglich dessen, was Sie hier gerade gesagt haben, daß nämlich der Gesundheitsschutz den Arbeitgebern völlig egal sei, möchte ich Sie bitten, darüber noch einmal nachzudenken,
ob das wirklich das Verständnis in diesem Land ist. In diesem Land gibt es eine ganze Reihe verantwortungsbewußter Arbeitgeber, denen Arbeitsschutz überhaupt nicht egal ist.
Ich finde es eine Zumutung, so etwas hier an dieser Stelle zu behaupten.
Meine Damen und Herren, die Schaffung eines flexiblen Arbeitszeitrahmens muß Arbeitnehmern und Arbeitgebern den Spielraum zur Ausgestaltung individueller, den heutigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen entsprechender Arbeitsverhältnisse geben. Ein solcher Rahmen ist unverzichtbar für eine hochentwickelte Volkswirtschaft. Was sollen denn all die Reden und Diskussionen über die Zukunft des Wirtschaftsstandortes, wenn wir nicht bereit sind, Verkrustungen zu überwinden und überkommene Regulierungen abzuschaffen und die in Deutschland vorhandenen Rahmenbedingungen sozialverträglich den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft anzupassen?
Um nichts anderes als darum geht es heute bei der Verabschiedung des anstehenden Arbeitszeitrechtsgesetzes.
Meine Damen und Herren, Einigkeit besteht fraktionsübergreifend darüber, daß die aus den 30er Jahren stammende starre Arbeitszeitordnung ersetzt werden soll. Das nunmehr in der Ausschußfassung vorliegende Arbeitszeitrechtsgesetz ist — anders als der SPD-Entwurf — in die Zukunft gerichtet.
So will die SPD beispielsweise die 40-Stunden-Woche als absolute Obergrenze — so wie das hier soeben verkündet worden ist — für ewig und drei Tage festschreiben. Ich zitiere § 9 Abs. 1 des SPD-Gesetzentwurfs:
Die regelmäßige Wochenarbeitszeit beträgt 40 Stunden. Sie ist grundsätzlich auf fünf Tage — in der Regel von Montag bis Freitag — gleichmäßig zu verteilen.
Herr Kollege Friedhoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte im Zusammenhang hier vortragen, wie das auch Frau Rennebach soeben konnte; Herrn Laumann war das leider nicht möglich.Meine Damen und Herren, eine solche Festlegung stellt einen gravierenden Eingriff in die sonst von Sozialdemokraten lautstark verteidigte Tarifautonomie dar. Darüber hinaus scheinen die Autoren über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen und bereits heute die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Menschen in den nächsten 20 Jahren zu kennen. Als Politiker sollten wir uns wirklich lieber auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen beschränken und diese von den eigentlich Betroffenen ausfüllen lassen.
Der Gesetzentwurf des Arbeitsministers war dabei ein Schritt in die richtige Richtung, ein erster Schritt. Nach Ansicht der F.D.P.-Fraktion waren allerdings zu viele Kann-Vorschriften im Gesetzentwurf enthalten, die den Unternehmen nicht ausreichend Planungssicherheit gegeben und sie der Gefahr einer Behördenwillkür ausgesetzt hätten. Die parlamentarischen Beratungen haben erfolgreich zu Verbesserungen des ursprünglichen Gesetzestextes geführt.Meine Damen und Herren, besonders heftig umstritten war die Neuregelung der Vorschriften zur Sonntagsarbeit. Unisono haben Gewerkschaften, Katholische Arbeitnehmerbewegung und die Kirchen, um nur einige zu nennen, ins gleiche Horn geblasen. Schon lange wurden nicht mehr so häufig Grundgesetz und Bibel bemüht wie in den vergangenen Wochen. Die Modifizierung der Regelungen zur Sonntagsarbeit sei — ich zitiere aus einem Schreiben, das ich erhalten habe — „Ausdruck des sozialen Raubrittertums ". Als nächster Schritt werde, so der Vorsitzende des Diözesianverbands der KAB Speyer wörtlich, „die Kinderarbeit wieder eingeführt".
Meine Damen und Herren, wir sollten die Kirche lieber im Dorf lassen.
Mit den vorgesehenen Regelungen wird sicherlich nicht der Untergang des christlichen Abendlandes eingeläutet.
Tatsache ist vielmehr, daß auch in Zukunft am grundsätzlichen Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit festgehalten wird. Allerdings werden per Gesetz für Bereiche wie Not- und Rettungsdienste, Krankenhäuser, Versorgungsunternehmen Ausnahmen festgeschrieben.
Darüber hinaus sieht § 13 des Entwurfs Ausnahmegenehmigungen per Rechtsverordnung vor. Viele dieser Ausnahmen sind nicht strittig. Besonders strittig ist die Bewilligung allerdings, wenn die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland nach weitgehender Ausnutzung der zulässigen Betriebszeiten unzumutbar beeinträchtigt ist und durch die Genehmigung von
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Paul K. FriedhoffSonn- und Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich folgendes klarstellen: Ob die Konkurrenzfähigkeit „unzumutbar" beeinträchtigt ist, läßt sich nach dem Verständnis der Koalition nur aus der Sicht des jeweiligen Unternehmens entscheiden.
Wir haben bewußt die Formulierung „weitgehende Ausnutzung" gewählt, um kein starres, unhandhabbares Modell vorzugeben.
In der Umsetzung dieses Gesetzes vor Ort wird sich zeigen, welche Verwaltungen flexibel und aufgeschlossen gegenüber dem Erhalt von Arbeitsplätzen und damit gegenüber den Menschen und den Bedürfnissen der Wirtschaft sind.Meine Damen und Herren, mit diesen Regelungen wird es sicher nicht zu einem Dammbruch in der Sonn-und Feiertagsarbeit kommen. Bislang sind — daran muß erinnert werden — von ca. 33 Millionen Beschäftigten fast 3 Millionen teilweise auch an Sonn- und Feiertagen tätig. Mit der Neuregelung, so erste Schätzungen, werden etwa für 300 000 Arbeitnehmer — vielleicht — an Sonn- und Feiertagen Arbeitsverhältnisse möglich werden. Gleichzeitig beobachten wir, daß in unserem Land der Umfang an Sonn- und Feiertagsarbeit in der Vergangenheit rückläufig gewesen ist: von 8,8 % 1989 auf 8,2 % 1991. Dies liegt sicherlich an den tarifvertraglich vereinbarten Lohnzuschlägen für Sonn- und Feiertagsarbeit und an anderen Kompensationsmaßnahmen, die zum Schutz des Sonntags vereinbart wurden, und dies ist richtig so.Die Politik kann und soll nicht über die konkrete Umsetzung des Arbeitszeitrechts in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen befinden. Sie muß aber ihrer Verantwortung gerecht werden und Arbeitnehmern und Arbeitgebern einen Rahmen vorgeben, der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen entsprechende Arbeitsverhältnisse ermöglicht.
Dies war und ist unser Bestreben beim vorliegenden Arbeitszeitrechtsgesetz.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird dem Gesetz zustimmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, zur Klarstellung: Zwischenfragen dürfen gemäß § 27 der Geschäftsordnung gestellt werden. Sie werden vom Präsidenten zugelassen, wenn der Redner sie zuläßt. Es liegt also in Ihrer Hand, wie Sie den
Wunsch nach einer Zwischenfrage behandeln, ob Sie sie eventuell auch ablehnen. Ich muß nach der Geschäftsordnung zwischendurch fragen, was geschehen soll.
Nun erteile ich unserer Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung — sie war heute schon mehrfach im Gespräch
— in dieser Frage z. B. ja; näher offensichtlich als Ihnen —
formuliert ihre Kritik an dem vorliegenden Entwurf eines Arbeitszeitrechtsgesetzes der Bundesregierung unter der Losung: „Wer den Sonntag nicht ehrt, ist unserer Stimme nicht wert! " Vielleicht bekommen wir sie dann.
Die Bundesregierung hat einen mächtigen Schreck bekommen und zur Beruhigung der katholischen und anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer § 1 Nr. 2 des Entwurfs dahin gehend ergänzt,
daß nunmehr Sonntage nicht mehr nur als Tage der Arbeitsruhe, sondern auch als Tage der „seelischen Erhebung der Arbeitnehmer" zu schützen seien. Übrigens, im kollektiven Freizeitpark haben diese seelische Erhebung mittlerweile 4 Millionen Arbeitslose, und das nicht nur am Sonntag.
Nichts hingegen wurde an den vielfältigen Ausnahmen des Grundsatzes „heiliger Sonntag" geändert, so daß eben künftig — siehe § 11 des Entwurfs — für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Jahr nur noch höchstens 15 beschäftigungsfreie Sonntage haben wird.Die Kritik an der Erweiterung der Sonntagsarbeit ist nur eine der vielen, die uns in den letzten Wochen erreichte. Sie benennt auch nur ein Problem des geplanten Arbeitszeitgesetzes. Klar und deutlich sei gesagt, daß mit der geplanten Neuregelung die 60Stunden-Woche einschließlich der Sonntagsarbeit wieder möglich wird.Bei der Expertenanhörung des Ausschusses hat der Vertreter der IG Metall ausgerechnet, daß nach dem Gesetzentwurf im Extremfall Beschäftigte über einen Zeitraum von 48 Monaten 60 Stunden pro Woche zur Arbeit verpflichtet werden können.
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Dr. Dagmar EnkelmannArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleiben also auf der Strecke. Genau das ist wohl die gemeinsame Strategie von Bundesregierung und Arbeitgebern. Letztere agieren mit dem Scheinargument: Je beweglicher wir im Umgang mit der Arbeitszeit sind, um so wettbewerbsfähiger sind wir. Als ob da nicht wesentlich mehr zu tun wäre!Im Rahmen des dritten Aktionsprogrammes für mehr Beschäftigung soll nun ein Gesetz verabschiedet werden, das sich ausschließlich an Arbeitgeberinteressen orientiert. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen mehr, billiger und möglichst rund um die Uhr arbeiten können. Dazu wird angestrebt, die Arbeit ganz flexibel an die Maschinenlaufzeiten anzupassen, die Nachtarbeit auszuweiten und die Kosten für Mehrarbeit und Überstunden zu senken. Der Schutzgedanke gerät hierbei völlig unter die Räder; denn die Gestaltung der Arbeitszeit gehört traditionell zu den sozialen Schutzrechten, die die Beschäftigten vor gesundheitlicher Überbeanspruchung bewahren sollen. Angesichts von Massenarbeitslosigkeit und dramatisch zunehmender Zahl von Dauerarbeitslosen sind Maßnahmen zur Verlängerung der Arbeitszeit auch beschäftigungspolitisch schlicht verantwortungslos.
Zu Recht bezeichnen die Gewerkschaften deshalb die gegenwärtige Arbeitszeitdebatte als Schritt zurück ins letzte Jahrhundert. Immerhin ist 1918 der Acht-Stunden-Tag erkämpft worden. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Engelen-Kefer mutmaßt denn auch, daß die geforderte Mehrarbeit zu noch höherer Arbeitslosigkeit führen wird, aber auch zu weiterer Verdichtung der Arbeit — mit allen negativen Folgen für die Gesundheit. Besonders rückschrittlich seien diesbezüglich die Regelungen zur Nachtarbeit, für die der Gesundheitsschutz absolut unzulänglich ist.Dem eigenen Anspruch, mit einem neuen Arbeitszeitrecht in erster Linie den präventiv-gesundheitspolitischen Erfordernissen Rechnung tragen zu wollen, werden die Mehrheitsfraktionen mit ihren Vorschlägen jedenfalls nicht einmal im Ansatz gerecht. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ausschließlich im Betriebsinteresse ohne Berücksichtigung von Arbeitszeitpräferenzen und Flexibilisierungswünschen der Beschäftigten ist inhuman und geht an ihren sozialen und persönlich-familiären Bedürfnissen vorbei. Nur wenn die Beschäftigten selbst über Lage und Dauer der Arbeitszeit mitentscheiden können, führt Flexibilisierung tatsächlich auch zu mehr Zeitsouveränität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Nichts davon aber löst der heute zur Debatte stehende Gesetzentwurf der Regierung ein. Anspruch und Realität klaffen wieder einmal weit auseinander.Dagegen gibt es im Entwurf der SPD viele Punkte, die wir unterstützen werden. Dazu gehören insbesondere die Forderungen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf und nach Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Erst damit würde das Arbeitszeitgesetz eine wichtige familien- und gesellschaftspolitische Gestaltungsfunktion erhalten.Der Gesetzentwurf der Regierung nimmt darauf natürlich überhaupt keine Rücksicht. Er zeichnet sich durch Gummiparagraphen und eine Unzahl von Ausnahmeregelungen aus. Mit dem Verweis auf das Gemeinwohl, auf die Abwehr von Gefährdungen und unverhältnismäßig großen Schäden, aber vor allem mit den arg strapazierten Scheinargumenten wie Wettbewerbsfähigkeit, Standort Deutschland oder wirtschaftliche Interessen des Unternehmens kann jede Arbeitszeitverlängerung, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit begründet werden. Der Profit ist eben wichtiger als der Mensch, als seine individuellen und sozialen Bedürfnisse nach Arbeit und Leben.
Deshalb lehnt die PDS/Linke Liste den Regierungsentwurf ab.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, was aber haben nun die Veränderungen des Arbeitszeitrechts mit dem Transrapid zu tun? Beides behandeln wir heute kurioserweise in einer Debatte. Beides kennzeichnet wütender Aktionismus unter dem Deckmantel Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland. Oder sollte man vielleicht besser sagen: Mit Transrapid-Geschwindigkeit vollzieht die Bundesregierung den Sozialabbau?Noch im Januar dieses Jahres antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des Kollegen Feige nach dem Vergleich verschiedener Bahnsysteme:Im Einzelfall ist unter Zugrundelegung strenger wirtschaftlicher Maßstäbe zu entscheiden, welche Technik zur Anwendung kommt.Nachzulesen in der Drucksache 12/6534. — Nur zwei Monate später ist das anscheinend alles Schnee von gestern. Das Kabinett wischt mit unglaublicher Ignoranz und Arroganz alle Bedenken des Wissenschaftlichen Beirats und anderer Verkehrs- und Haushaltsexpertinnen und -experten hinweg und hält es noch nicht einmal für nötig, Antworten auf diese Fragen zu geben. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Diese Wissenschaftsfeindlichkeit erinnert mich verdammt an das Politbüro der SED.
Nach wie vor liegt kein Vergleich hinsichtlich Kosten, Reisezeit und Umweltfreundlichkeit der verschiedenen möglichen Systeme für die Verbindung Hamburg-Berlin vor.
— Sie müssen sich das schon einmal anhören. Ich weiß, wovon ich rede. — Die Vorteile beispielsweise der von ABB entwickelten Neigetechnik wie deutlich geringerer Investitionsaufwand durch Verzicht auf kostenintensiven Streckenneubau, schonender Umgang mit den Gleisanlagen, vergleichbare Reisezeit etc. sollten ernsthaft in die Debatte einbezogen werden. Es bleibt nur zu vermuten, daß die Bundesregie-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18641
Dr. Dagmar Enkelmannrung einen solchen Vergleich gar nicht will, offensichtlich im Interesse von Siemens.Mit dem vorgelegten Finanzierungskonzept für den Transrapid wird — um es noch einmal klar und deutlich zu sagen — Exportförderung für ein Produkt betrieben, dessen Marktchancen völlig unklar sind und für das man sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hat, eine Marktanalyse zu erstellen.
— Das nennt sich also Marktwirtschaft. Genau auf diesen Punkt komme ich noch zurück. Wo Sie mit staatlichen Mitteln sozusagen einen Investruin fördern, das nennen Sie Marktwirtschaft? — Interessant!Mit dem vorgelegten Finanzierungskonzept wird also gegen alle marktwirtschaftlichen Prinzipien gearbeitet. Die Bundesregierung hat sich auf ein Finanzierungskonzept eingelassen, bei dem die Industrie gerade einmal mit 500 Millionen DM dabei ist, bei einem Volumen von insgesamt 10,4 Milliarden DM.Als besonders süßes Bonbon kommt noch dazu, daß sämtliche Risiken zu Lasten des Bundes gehen. Das betrifft auch die Kosten für einen möglichen Abriß der Magnetbahn im Falle, daß sich das Projekt wirtschaftlich nicht rentiert. — Das ist Marktwirtschaft. — Der Abriß der Strecke müsse dann aus Steuermitteln finanziert werden; so hat es zumindest der Vorsitzende der Magnetbahn GmbH, Hans-Georg Raschbichler, vor einigen Tagen unmißverständlich erklärt. Die Bundesregierung hält sich dazu bislang bedeckt. Haben Sie diesem Ansinnen etwa schon zugestimmt? — Hier müssen wir Ihnen wohl gründlich auf die Finger sehen.Es ist schon der blanke Hohn; denn ungefähr zeitgleich mit dem Beschluß der Bundesregierung, der ach so notleidenden Industrie — in diesem Fall Thyssen, Siemens, AEG etc. — unter die Arme zu greifen, veröffentlichte die Siemens-Verkehrstechnik AG eine Information, in der von anhaltenden „stürmischen Wachstumsraten" in der Bahntechnik die Rede ist. Ich frage mich, welche Kriterien die Bundesregierung zugrunde legt, wenn sie einem Konzern wie Siemens, der 22 Milliarden DM auf der hohen Kante hat, eine Exportförderung in dieser Größenordnung zukommen läßt.Dieser Staat verkommt immer mehr zu einem Selbstbedienungsladen der großen Konzerne.
Das ist überdeutlich beim Grünen Punkt geworden, und das ist auch beim Transrapid der Fall. Dabei liegt es doch auf der Hand: Entweder das Magnetbahnsystem hat einen Markt in Übersee — in Europa hat es ihn ja offensichtlich nicht — und wird zu dem Exportschlager schlechthin; dann kann ja wohl von der Industrie erheblich mehr eigenes finanzielles Engagement gefordert werden. Oder aber es gibt diesen Markt nicht; dann ist jede weitere D-Mark für den Transrapid ohnehin verschleudertes Geld.Umweltpolitisch sprechen allein schon die weitere Zerschneidung und der zusätzliche Verbrauch von Flächen gegen das Projekt. Unter ökonomischen Gesichtspunkten handelt es sich eher um eine Verknüpfung von Wunschvorstellungen als um ein solides Konzept. Was bleibt, sind Fragen über Fragen. Die PDS/Linke Liste wird daher im Verkehrsausschuß eine Anhörung beantragen, die u. a. die vom Wissenschaftlichen Beirat aufgelisteten Fragen klären soll.Die SPD hat sich aus dem Dilemma, sowohl Gegner als auch Befürworter des Transrapid in ihren Reihen zu haben, gerettet, indem sie — sowohl als auch — den Transrapid in kleinen Dosen fordert. Das jedoch macht meines Erachtens wenig Sinn. Eine Verbindung Berlin-zukünftiger Standort Großflughafen Jüterbog wäre nichts anderes als eine zweite Teststrecke mit horrenden Investitionen im Verhältnis zu einem mehr als zweifelhaften Nutzen.Mich wundert allerdings dabei noch etwas anderes, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Noch gibt es nämlich keine Entscheidung über den zukünftigen Standort des Großflughafens Berlin/Brandenburg. Weiß die SPD offensichtlich schon mehr als die Bundesregierung?
Ich möchte zum Schluß an die Kolleginnen und Kollegen der SPD appellieren, ihren faulen Kompromiß nicht weiter zu verfolgen. Lassen Sie uns nach einer Anhörung im Verkehrsausschuß wirklich gründlich und sachlich entscheiden, und das ohne Wenn und Aber!Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, wir sind in einer etwas mißlichen Situation, weil wir zu beiden Themen reden. Das haben wir aber gemeinsam beschlossen. Die Gründe sind dargelegt worden. Zu beiden Themen hat jetzt das Wort unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Henen! Die Themen gehören schon irgendwie zusammen.
Die Spatzen pfeifen es vom Dach: Die Bundesrepublik befindet sich in einer ausgeprägten Rezession. Wie die am Dienstag veröffentlichten Arbeitslosenzahlen verdeutlichen, kollabiert der Arbeitsmarkt weiter. Mit mittlerweile über vier Millionen offiziell als Arbeitssuchende registrierten Menschen wurde in der Bundesrepublik ein trauriger neuer Höchststand erreicht.Gleichzeitig nimmt die Zahl der Erwerbstätigen ab. Allein in den neuen Bundesländern sank die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im letzten Jahr um 5,4 %. Es besteht weitgehend Konsens darüber, daß mindestens sechs Millionen Arbeitsplätze in der Bundesrepublik fehlen.Arbeitslosigkeit wird von einem Großteil der Bevölkerung aber als direkte Bedrohung empfunden. In
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18642 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Klaus-Dieter Feigevielen Branchen wird um Arbeitszeitverkürzung in Koppelung mit Arbeitsplatzgarantie gerungen. Arbeitsplatzsicherung und Arbeitsplatzbeschaffung sind derzeit als zentrale politische Forderung zu sehen. Es ist also mehr als dringend, endlich auch im Arbeitszeitrecht aktiv zu werden, zumal es wohl ein Anachronismus ist, daß derzeit immer noch die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammende Arbeitszeitordnung des Jahres 1938 gültig ist.Meine Damen und Herren, der Einigungsvertrag verpflichtet die Bundesregierung, ein einheitliches Arbeitszeitrecht zu schaffen. Dem werden die vorliegenden Entwürfe nicht gerecht.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, daß die werktägliche Arbeitszeit acht Stunden nicht überschreiten darf. Es wird also von 48 Normalarbeitszeitstunden ausgegangen. Dies entspricht immer noch den Regelungen der Arbeitszeitordnung von 1938. Die Arbeitszeit ist auf zehn Stunden ausdehnbar, wenn ein Ausgleich innerhalb eines halben Jahres erfolgt.Die notwendigen Arbeitsplätze werden so nicht geschaffen. Ganz im Gegenteil, durch das Abfeiern der Überstunden in Auftragsflauten erhalten zwar die Unternehmer eine größere Flexibilität. Mit der Verschärfung der Konkurrenz werden jedoch erneut Arbeitsplätze eingespart. Auf weitere leidige Möglichkeiten der Öffnung bei den Arbeitszeiten an Sonn-und Feiertagen will ich bier gar nicht erst eingehen.Die SPD geht immerhin von einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden aus. Gleichzeitig werden der Achtstundentag und die gleichmäßige Aufteilung auf Montag bis Freitag festgelegt. So weit, so gut. Aber auch wenn der SPD-Entwurf insgesamt für die Beschäftigten deutlich bessere Konditionen enthält, so bleibt — mit unterschiedlichem Maß — doch ein Rest an Nachzubesserndem.Beide Entwürfe richten die Arbeitszeit, die Möglichkeiten der Schichtarbeit und die Wochenendarbeit einseitig an den betrieblichen Produktionsanforderungen aus. Tatsächlich müssen sich Arbeitszeitregelungen jedoch mehr als bisher an den Bedürfnissen der Beschäftigten ausrichten. Es muß klar sein, daß ein Zehnstundenarbeitstag, der mit gesetzlichen Ruhepausen und Anfahrtswegen problemlos auf einen Vierzehnstundenarbeitstag anschwillt, von tradierten Rollenverteilungen ausgeht, bei denen die tägliche private Reproduktion von Nichterwerbstätigen — d. h. in der Regel Frauen — aufgefangen wird.So ist folglich eine drastische Reduzierung der Arbeitszeit auf 30 Stunden nötig. Die Möglichkeit, Überstunden zu erbringen, ist zu unterbinden, zumindest aber deutlich einzuschränken. Ein Lohnausgleich für untere und mittlere Einkommen versteht sich hierbei von selbst. Dies wird den Bedürfnissen der Beschäftigten und damit der Gesellschaft eher gerecht. Gleichzeitig werden auf diese Weise zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, und das ist in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit — ich spreche als Ostbürger, ich weiß, worum es dabei ganz konkret vor Ort geht — das Gebot der Stunde.Meine Damen und Herren, Arbeitsplätze soll nun auch das neueste Phantasieprodukt des Kabinetts bringen. Die Bundesregierung ließ unlängst den schon totgeglaubten Transrapid wieder auferstehen. Dem Transrapid wurde durch das Ministerduo Krüger/Wissmann die technische Einsatzreife bescheinigt; doch von einer Marktreife ist er noch weit entfernt.Entscheidende Komponenten der Serienreife wie Gegenverkehr, Lärmbelastung bei über 300 km/h oder Führung im Tunnel sind noch nicht abschließend untersucht. Elementarste Sicherheitsforderungen wie der Zugang von Rettungsfahrzeugen im Falle eines Unfalls sind noch nicht einmal Bestandteil der Proj ektplanung.Der Umweltvorteil des Transrapid bei Lärmemission und Energieverbrauch gegenüber der RadSchiene-Technik gilt nur bei Geschwindigkeiten bis zu 300 km/h, was uns die Koalition bei entsprechenden Vorführungen tunlichst immer verheimlicht. Sie lassen in Ihrer einseitigen Argumentation wissentlich außer acht, daß auch die Entwicklung der konventionellen Zugtechnik nicht stehenbleibt. Leichtere Züge, Bremsenergierückgewinnung, Neigetechnik und Einzelradaufhängung führen zu erheblichen Verbesserungen.Die Bundesregierung hat nun all denjenigen, die ihr Transrapid-Projekt mit Argwohn betrachten, ein neues Prädikat, nämlich „Bedenkenträger", gegeben. In die Zielgruppe für abfällige Bemerkungen hinsichtlich angeblicher Technikfeindlichkeit wurde sogar der Wissenschaftliche Beirat des Verkehrsministers in übelster und beleidigender Weise eingeschlossen.
Aber Bedenkenträger denken halt noch über das nach, was man ihnen da so vorsetzt. Das scheint in der Koalition wohl eher die Ausnahme zu sein.Das Gegenteil von Bedenkentragen ist wohl Bedenkenlosigkeit. Was die Bedenkenlosen dem Steuerzahler bei der Finanzierung einer angeblich modernen Technologie zumuten, ist wahrlich eine Zumutung.
Seit dem Förderbeginn des Transrapid-Projekts hat der Forschungsminister allein 1,8 Milliarden DM vorgelegt. Trotz der heutigen Anwendungsplanung sollen noch weitere Entwicklungsarbeiten in Höhe von 200 Millionen DM aus dem Etat des BMFT aufgewendet werden.Das Finanzierungskonzept für den Fahrweg sieht vor, daß das projektierte Investitionsvolumen von 5,6 Milliarden DM in zwei Teile gesplittet wird. Ein Teil in Höhe von 2,4 Milliarden DM wird über Kredite der Fahrwegsgesellschaft finanziert. Die Rückführung der Kredite soll über ein Nutzungsentgelt erfolgen, das der Fahrwegsgesellschaft von der privaten Betriebsgesellschaft ab Betriebsbeginn zufließt.Die Privatwirtschaft erwartet, daß sich ihr Investitionsanteil während der Bauzeit auf Grund von Kosteneskalation und Bauzeitzinsen auf rund 3,7 Milliarden DM erhöht; und so weiter, und so weiter. Der privat finanzierte Fahrweg ist somit völlig abhängig
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18643
Dr. Klaus-Dieter Feigevon der Erlössituation der Betreiber. Damit bleibt die Fahrwegverantwortung letztendlich wieder beim Bund, auch wenn Sie uns etwas anderes einreden wollen.Auch den zweiten Teil der Fahrweginvestitionen in Höhe von 3,2 Milliarden DM soll der Bund tragen und durch ein Bankenkonsortium vorfinanzieren lassen. Auf Grund der Zinsen würde dieser Kredit bis zum Jahr 2000 unter Planfallannahmen auf rund 4,5 Milliarden DM anwachsen, aber den öffentlichen Haushalt erst ab 2001 belasten. Hier gilt analog der privaten Vorfinanzierung von Straßen, daß dies die teuerste Finanzierungsvariante ist, die gegen den Grundsatz der wirtschaftlichen Haushaltsführung des Staates verstößt. Das machen wir nicht mit.Bitte lügen Sie sich das Projekt hinsichtlich des anvisierten Passagieraufkommens nicht auch noch schön. Über 14,5 Millionen Fahrgäste pro Jahr im Zehnminutentakt ab 2004 wäre eine Steigerung gegenüber dem heutigen Bahn- und Luftverkehr zwischen Hamburg und Berlin um den Faktor acht. Auch die Attraktivität einer Hochgeschwindigkeitsbahn hat ihre Grenze. So haben sich beim TGV zwischen Lyon und Paris die Fahrgastzahlen mit der wachsenden Geschwindigkeit lediglich verdreifacht.Sie lassen bei der Planung des Fahrgastaufkommens zudem völlig außer acht, daß wir uns bereits jetzt schon in einer Phase des Wandels des Mobilitätsverhaltens der Bürgerinnen und Bürger befinden. Um die Rentabilitätsschwelle der Magnetbahn zwischen Berlin und Hamburg auch nur annähernd zu erreichen, müßte die Bundesregierung schon die Autobahn von Hamburg nach Berlin sprengen lassen, um diese Mobilität überhaupt garantiert zu bekommen.Trotz der Einbindung der Privatwirtschaft in die Finanzierungskonzeption des Projekts trägt der Bund letztendlich das gesamte Finanzierungsrisiko allein.Wenn denn der Transrapid angeblich so lukrativ und umweltfreundlich ist, sollte das Industriekonsortium prüfen, ob nicht beispielsweise die Strecke Berlin-Warschau-Moskau für den Transrapid besser geeignet ist, aber sie dann auch voll finanzieren. Laut Magnetbahngesellschaft ist eine osteuropäische Anbindung ohnehin Bestandteil der erwogenen Zukunftsprojekte, nicht auf Kosten der Steuerzahler, sondern mit Hilfe ihrer eigenen Investitionen.Ich schließe also, wie Sie sehen, trotz meiner Bedenken — ich bin stolz, Bedenkenträger zu sein — gar nicht aus, daß es geeignete Anwendungen für den Transrapid gibt, als Alternative zum unökologischen Fliegen sowieso.Die unübersehbaren Mängel und ungelösten Probleme der Transrapid-Strecke zwischen Hamburg und Berlin geraten heute ins Hintertreffen, weil die Bundesregierung den Transrapid für den Einsatz im Wahlkampf mißbraucht.Eine entemotionalisierte, nüchterne und professionelle Prüfung des Projekts läßt sich jedoch für eine plakative Wahlwerbung sicherlich nicht gebrauchen. So werfe ich Ihnen heute mit dem Transrapid-Projekt Steuermißbrauch zugunsten Ihrer eigenen Machtsicherungsabsichten vor.Sollte die Strecke Berlin-Hamburg zum „ Wackersdorf auf Stelzen" werden — und dafür bestehen die besten Aussichten —, wird die Magnetschwebetechnik als solche in ein äußerst schlechtes Licht gerückt. Das Aus für möglicherweise sinnvolle TransrapidStrecken wäre vorprogrammiert.
Für diese bedenkenlose Politik der Bundesregierung hat die Koalition im Herbst dieses Jahres das Aus verdient, und sie wird es auch erhalten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man hat zwischenzeitlich den Eindruck, an einem surrealen Parlamentsereignis teilzunehmen. Wer auf die Schnapsidee gekommen ist, die Transrapid-Beratungen mit der Arbeitszeitgesetzgebung zu verkoppeln, möge sich melden und in irgendeiner Form kenntlich machen.
Das ist ein Unglück allererster Güte.
Nicht einmal ein noch so wild gewordenes Studentenparlament würde sich eine derart chaotische Tagesordnung erlauben wie hier der Deutsche Bundestag.
— Nein, unser Geschäftsführer hat gesagt, es sei die Idee des Kollegen Rüttgers gewesen, der aus guten Gründen jetzt abwesend ist. Es ist wirklich unmöglich, dem Parlament eine derartige Tagesordnung zuzumuten, wie hier geschehen.
Das zweite surreale Erlebnis ist die Behauptung, der Arbeitszeitgesetzentwurf der Bundesregierung stünde in einem Zusammenhang mit der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Der Zusammenhang der Arbeitszeitgesetzgebung der Koalitionsfraktionen mit der Massenarbeitslosigkeit ist so eng wie der Zusammenhang zwischen der Speisekarte des Bundestagsrestaurants und der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Das ist wirklich ein zweites surreales Erlebnis, was man im Rahmen dieser Debatte präsentiert bekommt.
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18644 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Ottmar SchreinerIch will zum Thema Arbeitszeit einleitend darauf hinweisen, daß ohne eine grundlegende Neuorientierung und Neuverteilung der Arbeitszeit eine wirksame Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit nicht möglich sein wird. Es gibt zwei zentrale Zusammenhänge, auf die ich hinweisen will, weil ohne diese Zusammenhänge auch die gegenwärtige Arbeitszeitgesetzgebung nicht begreiflich ist. Der erste Zusammenhang ist die Verbindung von individueller Arbeitszeit und den Maschinenlaufzeiten oder Betriebsnutzungszeiten. Der zweite zentrale Zusammenhang ist die Verbindung von individueller Arbeitszeit und Beschäftigungspolitik.Zum ersten Zusammenhang: Noch 1993, also im vorigen Jahr, hieß es in dem im Bundestag vorgelegten Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland:Die Deutschen leisten sich im internationalen Vergleich äußerst kurze Arbeits- und Maschinenlaufzeiten. Die durchschnittlichen wöchentlichen Betriebszeiten sind in Deutschland kürzer als in allen anderen Industriestaaten.In der Folge dieser Feststellungen im Standortbericht wurde dann massiv öffentlich polemisiert, unter anderem vom Bundeskanzler, aber von vielen anderen auch, gegen den sogenannten kollektiven Freizeitpark Deutschland, und in der Folge wurde gefordert, nicht nur die Maschinenlaufzeiten zu verlängern, sondern generell die individuellen Arbeitszeiten ebenfalls zu verlängern.Die Feststellungen im Standortbericht der Bundesregierung und der daraus abgeleitete politische Forderungskatalog der Koalitionsfraktionen und der Regierung sind ein Paradebeispiel für eine bewußte oder sorglos unbewußte Irreführung der Öffentlichkeit auf einem eminent wichtigen ökonomisch-sozialen Feld.
Ich will Ihnen das begründen: Während die Bundesregierung den deutschen Betriebsnutzungszeiten mit unterstellten 53 Wochenstunden die rote Laterne im Europavergleich zuwies, nimmt Deutschland in Wirklichkeit mit 73 Wochenstunden eine Spitzenposition bei den industriell hochentwickelten Staaten ein.
Der tatsächliche Verlauf folgt einem allgemeinen Trend: je höher das ökonomische Entwicklungsniveau eines Landes, um so länger sind die Betriebsnutzungszeiten. Dieser Trend spiegelt die steigende Kapitalintensität der Produktion wider und korrespondiert gleichzeitig mit einem weiteren Trend in den hochentwickelten Industriestaaten: je höher das ökonomische Entwicklungsniveau eines Landes, um so kürzer sind in der Regel die individuellen Arbeitszeiten.Eine erste Schlußfolgerung: In allen hochentwickelten Industriestaaten sind die Arbeits- und Betriebsnutzungszeiten in den letzten Jahren in ganz erheblichem Umfange entkoppelt worden, und das gilt in ganz besonderem Maße, im Gegensatz zu allen Erklärungen der Bundesregierung, gerade auch für die Bundesrepublik Deutschland.
Zu dem zweiten Zusammenhang, dem Zusammenhang zwischen individueller Arbeitszeit und der Beschäftigungssituation. Auch dieser Zusammenhang, daß Arbeitszeitverkürzungen in der Regel positive Beschäftigungseffekte zeitigen, liegt auf der Hand. Das wurde von der Bundesregierung lange Zeit bestritten, das Gegenteil wurde behauptet. Spätestens seit dem sogenannten VW-Modell ist in die allgemeine Erkenntnis eingedrungen, daß es enge Zusammenhänge zwischen individueller Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigungseffekten gibt. Über zehn Jahre lang haben die Koalitionsfraktionen dem deutschen Volk pausenlos das Gegenteil einzuhämmern versucht.Ich will das deutlich machen am Beispiel des 1984 eingeleiteten Einstiegs in die 35-Stunden-Woche. Der Beschäftigungseffekt der Einstiegsschritte — wir sind ja weit davon entfernt, flächendeckend die 35-Stunden-Woche zu haben — macht bislang rund 1 Million Arbeitsplätze aus. Den Einstieg in die 35-StundenWoche kommentierte der Bundeskanzler damals -- ich rufe das in Erinnerung — als dumm, töricht und absurd. Bis zur Stunde haben die Regierungsparteien jeden Schritt in Richtung Arbeitszeitverkürzung intensiv bekämpft. Statt die Tarifparteien zu ermuntern, das Tempo der Arbeitszeitverkürzung zu beschleunigen, ist das Gegenteil eingetreten: Sie wurden diffamiert und diskreditiert.Wenn es bei den gegenwärtigen Stufenplänen bleibt, werden wir im Jahr 2010 flächendeckend die 35-Stunden-Woche haben. Das ist bei einem Fehlbestand von 6 Millionen regulären Arbeitsplätzen in Deutschland viel, viel zu spät.Allein auf Grund einer grundlegend falschen arbeitszeitpolitischen Orientierung hätte die Bundesregierung es verdient, im Herbst in den Ruhestand geschickt zu werden.
Ein dritter und letzter Punkt. Wenn man die Arbeitszeitpolitik bilanziert, kommt man zu dem Ergebnis, daß die Bundesregierung eine absolut kontraproduktive und rückwärtsgewandte Politik vertreten und keine eigenen Initiativen entwickelt hat. Die gegenwärtige Beschäftigungsmisere ist auch ein Resultat dieser in der Tat reaktionären Arbeitszeitpolitik. Der Entwurf zum Arbeitszeitrechtsgesetz paßt genau in dieses Bild. Vorgesehen ist eine wöchentliche Regelarbeitszeit von 48 Wochenstunden. Wenn das die Kohl-Regierung im Jahre 1896 in einen Arbeitszeitgesetzentwurf geschrieben hätte, wäre man einigermaßen auf der Höhe der Zeit gewesen. Statt dessen schreibt es die Kohl-Regierung im Jahre 1994 in einen Gesetzentwurf, obwohl bereits bei 98 % aller Arbeits-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18645
Ottmar Schreinerverhältnisse die 40-Stunden-Woche unterschritten ist.Diese Regelungen liegen genau im Trend der eben dargestellten Grundzusammenhänge. Es ist möglich, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über vier Monate hinweg 60 Stunden in der Woche zu beschäftigen. Das ist aus Arbeitszeitgründen nicht zu verantworten, und es ist schon gar nicht aus gesundheitlichen Gründen zu verantworten, weil dies nach allem, was wir wissen und was uns die Experten sagen, ein unglaublich großer Risikofaktor für langfristige Erkrankungen ist.Die SPD hat in ihren Entwurf geschrieben, daß insbesondere bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen — Überstunden, Nachtarbeit — darauf gedrängt werden soll, daß die entsprechenden Stunden durch mehr Freizeit ausgeglichen werden. Allein das Überstundenvolumen in Deutschland entspricht einem Vollzeitarbeitsvolumen von — rein rechnerisch — weit über 900 000 Arbeitsplätzen. Wenn es gelänge, auch nur einen großen Teil in tatsächliche Arbeitsplätze durch eine Orientierung auf den Freizeitausgleich hin umzusetzen, wären wir beschäftigungspolitisch sehr viel weiter.Im Regierungsentwurf ist dazu weit und breit Fehlanzeige. Gleiches gilt für alle anderen atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Dieser Regierungsentwurf hat nicht in einem einzigen Punkt irgendeinen beschäftigungspolitischen oder arbeitsmarktpolitischen Effekt, der nachvollziehbar und halbwegs rechenbar wäre.
Ein letzter Punkt, nämlich zur Sonntagsarbeit. Nachdem eben von den Koalitionsfraktionen behauptet wurde, die deutschen Bischöfe, die sich um den Sonntag sorgen, seien Fundamentalisten, und nachdem Bundesarbeitsminister Blüm vor einigen Wochen die Kirchensteuer ins Gespräch gebracht hat, hat man langsam das Gefühl: Von seiten der CDU/CSU wird in Deutschland ein neuer Kirchenkampf eröffnet. Das ist eine ganz spannende Perspektive, was da abläuft.
— Setz dich hin!Der entscheidende Punkt ist, daß zum erstenmal in Deutschland aus rein wirtschaftlichen Gründen ein Bruch von gesellschaftlichen Tabus erfolgt, der weitreichende Auswirkungen auf die Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenlebens haben wird.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?
Ja, der soll zwischenfragen. Ich bin gleich am Ende der Sonntagsarbeit, dann kann er die Frage zusammenfassend präzisieren und vielleicht in mehrere Unterfragen gliedern. Setz dich erst mal wieder hin!
Der entscheidende Punkt ist: Es ist ein gesellschaftlicher Tabubruch allererster Güte!Nun heißt es im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, daß selbst dann aus rein wirtschaftlichen Gründen sonntags gearbeitet werden darf, wenn die Maschinenlaufzeiten außerhalb des Sonntags weitgehend — weitgehend! — ausgenutzt sind. — Ja, was heißt denn das? Bislang waren Ausnahmegenehmigungen nur möglich, wenn die 144 Wochenstunden optimal ausgeschöpft worden sind. Jetzt wird es wesentlich darüber hinaus ins Beliehen der Behörden gestellt — und der Druck auf die Behörden wird entsprechend organisiert werden —, die Sonntagsarbeit zuzulassen, wenn die Maschinen möglicherweise 80 oder 90 Stunden pro Woche gelaufen sind.Das Argument der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist überhaupt nicht stichhaltig. Mit dem gleichen Argument könnten Sie in der Tat die Kinderarbeit wieder einführen, weil wir zunehmend in Wettbewerbskonkurrenz zu Schwellenländern treten, wo in Teilen die Kinderarbeit möglich ist.
Als letztes darf ich den von Ihnen so bezeichneten „Fundamentalisten" von Trier zitieren, den Bischof Dr. Spital, der vor wenigen Tagen folgendes zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen formuliert hat:Angesichts der bevorstehenden Beschlußfassung im Bundestag bitte ich alle Abgeordneten, sich für den Erhalt des Sonntags als gesetzlich geschützten Ruhetag einzusetzen. Der Sonntag ist für den Menschen da, und er ist von unersetzlicher Bedeutung für das menschliche Miteinander, für einen fruchtbaren zwischenmenschlichen Kontakt und für das Zusammenleben in unseren Familien. Gerade in der gemeinsamen Feier des Lebens und der Schöpfung sind wir als Menschen angesprochen.Maschinen funktionieren und produzieren im Gleichtakt; der Mensch dagegen lebt in den Rhythmen von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. Eine weitere Einebnung dieser Rhythmen zugunsten längerer Maschinenlaufzeiten käme einer weiteren Unterordnung des Menschen und seiner Bedürfnisse unter die Maschinen und deren Technik gleich. Dem muß mit Entschiedenheit widerstanden werden.Machen wir die Technik mehr und mehr dem Menschen zunutze, nicht aber den Menschen der Technik.Das ist es denn auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht nicht nur um religiöse Gründe, die zur Verteidigung des Sonntags anregen. Gerade auch die sozialen und kulturellen Gründe geben die Möglichkeit, daß sich Menschen in einer Zeit begegnen können, in der ohnehin die Ökonomie das Übergewicht hat und im wachsenden Maße das Leben der Menschen prägt.
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18646 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Ottmar SchreinerSie werden nachher Gelegenheit haben, zu den mahnenden Worten des Bischofs von Trier in namentlicher Abstimmung Ihre Position zu beziehen.Schönen Dank.
Herr Kollege Laumann, die Redezeit war schon abgelaufen. Deswegen frage ich Sie: Wollen Sie von der Möglichkeit Gebrauch machen, nach § 27 unserer Geschäftsordnung eine Zwischenbemerkung zu machen? — Bitte.
Danke schön, Herr Präsident. Ich möchte nur, sehr geehrter Kollege Schreiner, darauf hinweisen, daß erstens heute die Gesetzeslage es nicht mehr hergibt, aus wirtschaftlichen Gründen über diese 144 Stunden hinaus zu arbeiten. Sie bekommen diese Sondergenehmigung nur dann, wenn Sie nachweisen können, daß durch das Abstellen der Maschinen — z. B. in einer Textilfabrik — ein höherer Schaden als 4 % Produktionsausfall entsteht. Das ist die Wahrheit.
Das ist der Punkt, den wir verändert haben. Wenn diese 144 Stunden weitgehend ausgeschöpft sind — weitgehend deswegen, weil wir eingesehen haben, daß irgendwo mal 14 Tage oder drei Wochen Betriebsurlaub sein muß —, kann Sonntagsarbeit genehmigt werden, aber nur dann, wenn daraus Beschäftigung gesichert ist und die Konkurrenz im Ausland länger arbeitet.
Ein weiterer Punkt, Herr Schreiner: Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß über Arbeitszeiten in den Betrieben dieses Landes Betriebsräte und Geschäftsleitungen gemeinsam entscheiden. Keiner kann in der Frage der Arbeitszeiten ohne den anderen etwas machen.
Diese beiden Sozialpartner haben jetzt die Möglichkeit der Flexibilisierung, wie dieses Gesetz sie vorsieht. Wieweit die einzelnen Sozialpartner davon Gebrauch machen, sollten wir ihnen überlassen und nicht im fernen Bonn im Deutschen Bundestag entscheiden.
Meine Damen und Herren, nach unserer Geschäftsordnung darf der Kollege Schreiner antworten. Das will er auch. Bitte, Kollege Schreiner.
Ich will Ihnen, lieber Kollege Laumann, aus der Stellungnahme des Vereins Deutscher Gewerbeaufsichtsbeamter, die ja für die Überwachung vor Ort zuständig sind, zitieren. Hier heißt es in einem Anschreiben vom 25. Februar 1994:
Bisherige Praxis der Aufsichtsbehörden ist es, daß
Sonn- und Feiertagsarbeit nur in äußersten Ausnahmefällen zugelassen werden dürfen, dann
nämlich, wenn die wöchentlich mögliche werktägliche Arbeitszeit von 144 Stunden voll ausgenutzt wurde. Im Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen ist nur noch von einer weitgehenden Ausnutzung die Rede. Hierdurch wird nicht nur eine der Zulassungsvoraussetzungen deutlich ausgeweitet, sondern mit dem Wort „weitgehend" ein gegenüber der alten Fassung
— Ihrer alten Fassung —
zusätzlicher unbestimmter Rechtsbegriff eingeführt. Die unterschiedliche Auslegung dieses Begriffes durch die jeweils zuständige Aufsichtsbehörde ist vorhersehbar.
Ich will das jetzt kurz machen und nur noch ein letztes Zitat bringen:
Wenn die Bundesregierung, aus welchen Gründen auch immer, von der in der Gewerbeordnung enthaltenen Ermächtigung zur konkreten Festlegung entsprechender Produktionsverfahren in den letzten 30 Jahren keinen Gebrauch gemacht hat, sollte dies kein Anlaß sein, die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung für die verfassungsrechtlich garantierte Sonn- und Feiertagsruhe zu entlassen.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, wir haben diesen ersten Teil der Debatte wesentlich unter dem Schwerpunkt Arbeitszeit geführt. Deswegen erhält jetzt dazu auch der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unser Kollege Rudolf Kraus, das Wort.
Sie müssen sich daran gewöhnen, daß ich noch länger da bin.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf mich zuerst zu der Formulierung „weitgehend" äußern. Herr Schreiner, wir haben in den Ausschußbericht genau hineingeschrieben, warum wir denken, daß der Begriff „weitgehend" das sinnvollere Wort für das ist, was in diesem Zusammenhang gemeint ist. Hier steht:Der Begriff „weitgehend" sei erforderlich, um bestimmte Stillstandszeiten, z. B. bei Betriebsurlaub oder Umrüstungsarbeiten, berücksichtigen zu können.Es ist also nicht so, daß wir von dem Grundsatz abgehen wollten. Sonntagsarbeit ist erst dann erlaubt, wenn dreischichtig und auch am Samstag gearbeitet wird. Nur dann kann von diesen Ausnahmeregelungen überhaupt Gebrauch gemacht werden. Wir sind also von Ihrer eigentlichen Position letztlich nicht weit entfernt, weil ich ganz sicher bin, daß natürlich auch Sie unter gewissen Voraussetzungen die Sonntagsarbeit, wenn es denn darum geht, Arbeitsplätze zu sichern, letztlich zulassen wollen. Dafür gibt es eine
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18647
Parl. Staatssekretär Rudolf Krausganze Reihe von Beispielen auch in SPD-regierten Ländern, wie Sie und ich wissen.Zweitens möchte ich etwas zur Frage der Arbeitszeitverkürzung sagen. Hier wird uns erzählt, die Bundesregierung habe einen großen Fehler gemacht, weil sie immer der Meinung gewesen sei, daß Arbeitszeitverkürzung als arbeitsmarktpolitisches Instrument ungeeignet sei. Herr Schreiner, wir sind in der Tat dieser Meinung, und es gibt, glaube ich, auch gute Gründe, um das jemandem erklären zu können.Wenn es so wäre, daß man nur die Arbeitszeit um 10 % verkürzen müßte, um 10 % Arbeitslose in Arbeit zu setzen, wäre das eine feine Sache. Das scheitert aber an einer ganzen Reihe von praktischen Dingen.Erstens ist jede Art von Arbeitszeitverkürzung natürlich geeignet, das Produkt, das hergestellt, oder die Dienstleistung, die erbracht wird, tendenziell teurer werden zu lassen.
— Aber ganz selbstverständlich!Auf Ihrer Seite verwendet man ja immer die Formulierung „ohne vollen Lohnausgleich". Das heißt, daß natürlich eine Reihe Kosten bestehenbleiben. Tendenziell wird das Produkt natürlich teurer. Das ist ganz selbstverständlich.
— Ich möchte zuerst die drei Punkte nennen, und dann werde ich die Frage zulassen. — Damit wird die Nachfrage nach dem betreffenden Produkt sowohl im Inland als auch im Ausland geringer, womit geradezu ein Beitrag für weniger Beschäftigungsmöglichkeiten hier geleistet wird.Zum zweiten ist es doch so: Die Schultern, die diese Arbeit übernehmen könnten, sind zum weitaus größten Teil, aus welchen Gründen auch immer, weder geeignet noch in der Lage, so ohne weiteres diese Arbeit zu übernehmen. Praktische Beispiele finden wir genügend. Selbst die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden beispielsweise ist der Meinung, daß wir Ausländer in dieser Branche auch in der Zukunft benötigen, weil es eben nicht genügend Deutsche gibt, diese Arbeit zu erledigen. So könnte man für jeden einzelnen Bereich unserer Industrie und des Gewerbes ähnliche Beispiele finden.Zum dritten. Die natürliche Grenze der Arbeitszeitverkürzung — in Ihrem Sinn — liegt dort, wo die Leute so viel Freizeit haben, daß sie die Freizeit gar nicht mehr finanzieren können. Das bewirkt den Drang, die Notwendigkeit zum Zweitberuf.
Das ist doch eine häufig zu beobachtende Tatsache. Warum, glauben Sie, gehen denn so viele Menschen einer Nebenbeschäftigung nach? Sie tun es, weil a) zeitlich die Möglichkeit dazu besteht und b) das Einkommen — wenn man kurz genug arbeitet — nichtmehr ausreicht, den Lebensstandard zu garantieren, den man sich vorstellt.
Herr Kollege Kraus, Sie gestatten eine Frage des Kollegen Schreiner? Es hat sich auch noch der Kollege Büttner gemeldet.
Aber gern.
Herr Staatssekretär, wenn Ihre letzte Äußerung richtig ist, daß zunehmende Arbeitszeitverkürzungen zu dramatischen Problemen auf dem Freizeitsektor führen, stellt sich sofort die Frage, warum die Bundesregierung jetzt in letzter Not eine eigene Teilzeitkampagne propagiert. Das paßt wie die berühmte Faust aufs Auge.
Zu dem Kostenargument will ich folgendes fragen: Ist es zutreffend, daß Produktivitätsgewinne bei den Unternehmungen in Form von Reallohnerhöhungen oder in Form von Arbeitszeitverkürzungen weitergereicht werden können? Ist es richtig, daß in den letzten 20 Jahren die Arbeitszeitverkürzung, die von den Gewerkschaften favorisiert worden ist, gegen ansonsten mögliche Reallohnerhöhungen eingetauscht wurde, also für die Betriebe selbst kostenneutral erfolgt ist?
Erstens. Ich habe gar nicht richtig verstanden, was Sie hier mit der Freizeit meinen.
Das zweite ist: Wenn Sie sagen, daß Produktivitätsgewinne an die Arbeitnehmer entweder in Form von Reallohnerhöhung oder in Form von Freizeit weitergegeben werden können, ist das natürlich richtig. Sie können sie aber nur einmal weitergeben.
Bei uns kommt es jetzt darauf an, daß insgesamt mehr erzeugt wird, und zwar zu tragbaren Bedingungen. Das heißt, wir brauchen das wirtschaftliche Wachstum nicht allein für zusätzliche Lohnerhöhungen, sondern auch, um die sozialen und die sonstigen Probleme für unseren Staat abzufedern. Das heißt, man braucht eine Erweiterung des Beschäftigungsvolumens und nicht eine Stagnation mit einer anderen Verteilung der Beschäftigung, z. B. auf mehr Leute.
Teilzeitarbeit oder das VW-Modell haben in einer Übergangszeit natürlich ihren Sinn, wenn ich davon ausgehe, daß das beispielsweise bei VW eine Art Kurzarbeitsregelung ist, mit der Perspektive, daß, wenn die Nachfrage wieder da ist, die vorhandenen Kapazitäten wieder voll ausgefahren werden. Als Dauerregelung — und darum geht es bei Arbeitszeitverkürzung; das ist auf Dauer angelegt — ist es natürlich kein vernünftiges Rezept. Was für eine Übergangszeit in bestimmten Situationen sinnvoll ist, kann auf Dauer überhaupt keinen Sinn ergeben.
Sie können das am besten beurteilen, wenn Sie sich einmal die Situation der Rentenversicherung vor Augen halten. Eine Regelung in Form einer Stagnation oder gar eines Zurückgehens der Löhne auf Grund von permanenter Arbeitszeitverkürzung
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
— z. B. weil man diese Arbeit anders verteilen will — würde nicht nur das laufende Einkommen der Leute schmälern, sondern selbstverständlich auch die von Ihnen befürchtete Nettorentenverschlechterung geradezu bewirken.
Herr Kollege Kraus, gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Büttner?
Aber gern.
Bitte, Kollege Büttner.
Herr Kollege Kraus, wie erklären Sie mit Ihrer Wirtschaftstheorie, daß innerhalb der letzten 25 Jahre — unabhängig von der Steigerung des Bruttosozialprodukts — die Gesamtarbeitszeit in der Bundesrepublik Deutschland nahezu immer bei 46 Milliarden Stunden gelegen hat, sich nie erweitert hat, sich die Zahl der Beschäftigten in der gleichen Zeit aber von 23 auf zuletzt 29 Millionen erhöht hat? Wie wollen Sie das anders erklären als dadurch, daß die Arbeitszeit individuell verkürzt worden ist, daß damit einem größeren Teil der Menschen Arbeit zugewiesen wurde und daß sich die Produktivitätssteigerung, die sich in der Steigerung des Bruttosozialprodukts niederschlägt, nicht in insgesamt mehr geleisteten Arbeitsstunden auswirken mußte? Wie wollen Sie mir das erklären?
Herr Büttner, Sie müssen zwischen zwei Dingen unterscheiden. Das eine ist Arbeitszeitverkürzung als Ausfluß des sozialen Fortschritts. Es ist eine gute Sache, wenn man immer mehr Freizeit hat und wenn man sich das leisten kann. Das ist anstrebenswert, und das ist eine feine Geschichte. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt ist, daß wir gerade derzeit ja unter Sparzwang stehen, d. h. vielen Menschen, die berechtigte Bedürfnisse haben, gar nicht das zukommen lassen können, was sie eigentlich bräuchten. Wir können ihnen Dienstleistungen und Güter, die sie haben wollen und die sie bräuchten, nicht geben, weil wir sparen müssen.
Unser Bestreben muß also sein, daß nicht weniger gearbeitet wird, sondern daß mehr gearbeitet wird, um damit die Bedürfnisse der Menschen befriedigen zu können. Genau umgekehrt wird natürlich ein Schuh daraus. In Ihrem System führt weniger Arbeiten und damit weniger Nachfrage logischerweise zu einer Depressionsspirale. Genau das wollen wir nicht. Da können Sie den Kopf schütteln, wie Sie wollen. Das ist ein einfacher Sachverhalt, den jeder Mensch begreifen könnte.
Herr Kollege Kraus, gestatten Sie noch eine letzte Zusatzfrage, diesmal vom Kollegen Reimann?
Ja, wenn es Spaß macht, bitte schön.
Bitte, Herr Kollege Reimann.
Spaß macht es gerade nicht, Sie zu befragen, wenn ich Ihren Ausführungen folge; aber zur Klarstellung ist es notwendig.
Dann lassen Sie es sein, Herr Reimann.
Man kann auch etwas tun, was keinen Spaß macht, Herr Staatssekretär.
Ihre Kernaussage bestand darin, daß die Arbeitszeitverkürzungen dazu geführt haben, daß die Freizeit für die Arbeitnehmer nicht mehr finanziell organisierbar ist. Ich schließe daraus: Sie sind mit mir der Meinung, daß die Einkommen der Arbeitnehmer zu niedrig sind,
daß sie angehoben werden müßten und daß Sie das über die Sonntagsarbeit jetzt zu tun gedenken.
Herr Reimann, das habe ich genau nicht gesagt, sondern ich habe gesagt: Die Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer sind zwischenzeitlich in der Tat so niedrig geworden, daß sich in verschiedenen Bereichenjemand mehr Freizeit, also weniger Arbeit, schon einfach deshalb nicht leisten kann, weil er sich dann den Lebensstandard, den er haben möchte und den er haben muß, nicht mehr leisten kann. Das ist meine Aussage. Ich habe nicht gesagt, das muß durch Sonntagsarbeit abgelöst werden.Zur Sonntagsarbeit möchte ich allerdings einiges sagen. Es gibt hier eine ganze Menge Heuchelei. Erstens einmal sind ja gerade die Politiker die, die am Sonntag regelmäßig ihrer Beschäftigung nachgehen.Wenn man hört „Kapital denkt nur an den Profit", muß ich dazu auffordern: Seien wir doch ein bißchen ehrlich! Wenn heute von den Mitarbeitern Mehrarbeit bis in die Nacht hinein erwartet wird, sind auch große Massenorganisationen wie Gewerkschaften, Parteien, vermutlich auch die Kirchen, nicht ohne Schuld. Auch darüber sollten wir uns einmal Gedanken machen.Wir sind uns alle ja eigentlich in einigen Punkten, was die Sonntagsarbeit anbelangt, einig. Kein Mensch will, daß am Sonntag nicht sichergestellt ist, daß die innere Sicherheit gewährleistet ist — ich nenne die Polizei —, die Versorgung mit Gas und Wasser und alles mögliche. Die Krankenhäuser müssen geöffnet sein. Das ist überhaupt keine Frage.Wir sind uns auch noch einig, wenn es darum geht, in der Produktion bestimmte Produktionsvorgänge
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Parl. Staatssekretär Rudolf Krausaufrechtzuerhalten. Wenn sie nicht aufrechterhalten würden, könnte das dazu führen, daß die Maschinen und die Gewerke vernichtet bzw. die Arbeitsergebnisse verdorben werden. Das war im Mittelalter übrigens schon so. Es gibt einen päpstlichen Erlaß aus dem Mittelalter, den Bergbau in Sulzbach-Rosenberg betreffend, in dem der Papst ausdrücklich die Sonntagsarbeit erlaubte. Das sage ich im Hinblick auf Herrn Schreiner, der offensichtlich gern kirchliche Worte in seine Überlegungen einbezieht.
— Werden Sie nicht kirchenfeindlich! Sie haben vorhin einen so guten Eindruck gemacht mit Ihrem vehementen Eintreten gegen den Kirchenkampf, und jetzt plötzlich bringen Sie solche unsachgemäßen Elemente in die Debatte. Ich muß mich über diese Äußerung ein bißchen empören.Das dritte ist, daß es ebenfalls unbestritten ist, daß auch für die Freizeit und das Vergnügen, bis hin zu allen möglichen Dingen, die Sonntagsarbeit erlaubt sein soll. Diesbezüglich habe ich noch keinen besonderen Ausdruck des Entsetzens von irgendeiner Seite mitgeteilt bekommen.Wir streiten jetzt über den Bereich, in dem Sonntagsarbeit ausnahmsweise gestattet werden soll, wenn nur dadurch gewährleistet ist, daß Arbeitsplätze nicht ins Ausland verlagert werden, bzw. erhalten bleiben.
Wir haben — auch auf Veranlassung der KAB; das geben wir gern zu, denn wir sind bereit, im Rahmen des uns Möglichen auch den berechtigten Interessen entgegenzukommen — in Art. 13 Abs. 5 des Gesetzentwurfs ausdrücklich klargestellt — das wissen Sie —, daß keine anderen Gründe als die Sonntagsarbeit im Ausland für die Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit herangezogen werden dürfen.
Das hat ursprünglich anders darin gestanden; das wissen Sie.Wir haben Ihnen das „weitgehend" vorher erklärt. Zusätzlich ist auch hineingeschrieben worden: Es muß für den Betrieb unzumutbar sein, die Kostenunterschiede in Kauf zu nehmen. Das heißt, seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit muß ernsthaft tangiert sein, wenn hier eine solche Ausnahme gemacht wird.Wir denken, daß diese Ausnahmeregelung zweifelsohne von einer Art ist, die man durchaus auch jedermann zumuten kann. Und wenn wir, Herr Schreiner, solche Fälle in der Praxis haben, wird heute auch derartiges berücksichtigt.Lassen Sie mich abschließend noch zwei, drei Dinge sagen: Die Sonntagsarbeit hat im Bereich der Produktion in den letzten Jahren abgenommen. Es ist nicht zu sehen, daß sie dort ansteigt. Im Bereich der Dienstleistungen liegt allerdings eher eine steigende Tendenz vor, weil die Freizeitgesellschaft größer wird. Das sind aber offenbar zwei Paar Stiefel: die eine Frage belastet, und die andere belastet weniger stark.
Wenn ich vor die Wahl gestellt werde, eine Schicht zu genehmigen, in der Freitag, Samstag und Sonntag gearbeitet wird und damit 200 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, dann genehmige ich sie.„Die Arbeitslosen würden gem am Wochenende arbeiten. Keiner hat das Recht, den Leuten, die vier freie Tage in der Woche haben wollen und dafür am Wochenende arbeiten wollen, Steine in den Weg zu legen, am wenigsten die Kaste von Politikern, die am Wochenende ständig ihrem Beruf nachgeht." Wissen Sie, Herr Schreiner, wer das gesagt hat? Das hat Ihr Landesvorsitzender Lafontaine gesagt. Es unterscheidet sich gewaltig von dem, was Sie gesagt haben,
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren zur Geschäftslage möchte ich ein paar Bemerkungen machen. Nach den mir jetzt vorliegenden Wortmeldungen, die sich wahrscheinlich in erster Linie mit unserem zweiten Thema, Transrapid, beschäftigen, debattieren wir noch etwa eine Stunde, so daß frühestens in einer Stunde mit der namentlichen Abstimmung zu rechnen ist.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Kurt Faltlhauser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schreiner, Sie müssen keine Angst haben. Ich glaube, der Kollege Kraus hat genug zum Arbeitszeitgesetz gesagt. Da sind Sie ganz sprachlos gewesen.Ich sage zum Thema Transrapid: Endlich ist es so weit, daß dieses technologische Großprojekt aus Deutschland in die entscheidende Realisierungsphase kommt.
Der Transrapid 07, der seit 1988 seine Kreise auf der Versuchsstrecke im Emsland zieht, hat eine 60jährige Vorgeschichte. Denn am 14. August 1934 bereits hat der Ingenieur Hermann Kemper das deutsche Reichspatent Nr. 643316 über eine magnetische Schwebebahn bekommen.
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Dr. Kurt FaltlhauserNach dem Krieg, im Jahre 1968, hat der Bundesverkehrsminister dazu eine Studie in Auftrag gegeben. 1971 gab es bei Krauss-Maffei in Ottobrunn schon die Typennummer 02. Es gab ein Versuchsgelände in Erlangen, 1974 wurde ein Rekord aufgestellt. Vorher gab es schon in Kassel eine erste personentragende Magnetbahn.1977 hat sich dann der Bundesforschungsminister für die Förderung des bereits erprobten Antriebsystems entschieden, er hat sich dabei gegen das sogenannte Erlanger Modell entschieden. 1983 startete der Transrapid 06 auf der Versuchsstrecke im Emsland.Meine Damen und Herren, ein so langer Vorlauf braucht einen klaren Schlußpunkt, braucht eine Umsetzung. Die deutschen Forscher, Entwickler und Techniker dürfen nicht für den Aktenschrank, nicht für ausländische Produzenten und nicht für das Museum produzieren. Das müssen wir in diesem Land endlich einmal kapieren.
Ich habe mit großer Enttäuschung festgestellt, daß die Kollegen aus der SPD, die bisher zu diesem Thema gesprochen haben, nicht über den Schatten gesprungen sind, daß sie zu diesem Projekt nicht ja gesagt haben.
Ich weiß, viele in Ihren eigenen Reihen, meine Damen und Herren von der SPD, sind dafür.Unter der Regierung Brandt bestieg 1971 der damalige Verkehrsminister Georg Leber den Ur-Transrapid. Noch auf der Startrampe verkündete er — ich zitiere —: „Dies ist ein historisches Datum in der Entwicklung der Verkehrsmittel."
Der spätere Forschungsminister Matthöfer, auch SPD, zweifelte im Jahre 1976 nicht daran, daß die Magnetschwebebahn als Verkehrsmittel von morgen eine große Zukunft hat.
Liebe Kollegen von der SPD, das waren noch Sozialdemokraten, die gewußt haben, wie man die Zukunft Deutschlands sichern kann, wie man die Technologie entwickelt. Sie reden heute verantwortungslos vom „verkehrspolitischen Tollhaus", wie ich gelesen habe. Ich meine, Ihre ablehnende Haltung ist ein weiterer Beweis für die Zukunftsunfähigkeit der SPD.
Sie haben jetzt hastig ein neues Konzept vorgelegt. Dazu sagt der „Bund Naturschutz" völlig richtig — ich zitiere das einmal; mehr braucht man dazu dann nicht zu sagen —: „Der Transrapid wird mit diesem Konzept zu einem unverhältnismäßig teuren Vorortzug." Wenn man noch nicht einmal weiß — das ist ja vorhin schon gesagt worden —, wohin dieser Vorortzug gehen soll, dann wird der Vorschlag besonders lächerlich. Danebengegriffen! Stimmen Sie hier diesemKonzept zu, dann haben Sie ein ordentliches Konzept.
Es gibt bei einem derartig großen Projekt natürlich Einwände. Das finanzielle Risiko ist ohne Zweifel eine der gewichtigen Fragen, die geprüft werden müssen. Aber ich halte es für illusorisch, daß man bei einem Großprojekt dieser Art ohne finanzielles Risiko auskommt. Wer auch ein finanzielles Restrisiko vermeiden will, verhindert dieses strategisch wichtige, zukunftsorientierte Technologieprojekt.Dies hat der Finanzminister erkannt. Deshalb bedanke ich mich ausdrücklich beim Finanzminister, daß er sich über Bedenken seines Hauses hinweggesetzt und gesagt hat: Für die Zukunft dieses Landes müssen wir dieses Restrisiko im Finanzierungskonzept hinnehmen. Das war eine gute Entscheidung.
Wenn wir Konzepte für Infrastrukturfinanzierungen in der Zukunft haben wollen, dann sollten wir dieses intelligente Finanzierungskonzept nicht nur in finanzwissenschaftlichen Seminaren diskutieren, sondern es umsetzen. Auch das ist eine Sache mit Zukunft. Da haben wir dann ein gutes Beispiel dafür, wie man so eine Finanzierung macht.Jetzt gibt es eine Reihe von Einwendungen auf Grund des Umweltschutzes. Das hat mich immer besonders erstaunt. Prüfen wir doch einmal, wie das mit den Einwendungen ist.Energieverbrauch: Der Transrapid verbraucht bei einer Geschwindigkeit von 300 km/h je Sitzplatz und Kilometer 38 Wattstunden.
— Passen Sie ein bißchen auf, ich rede nicht von der Lärmentwicklung. — Der ICE verbraucht fast das Doppelte an Energie. Der Energieverbrauch des Straßenverkehrs ist dreieinhalb mal so hoch wie beim Transrapid. Der Energieverbrauch des Kurzstreckenflugverkehrs, der ja weitgehend dadurch ersetzt werden soll, ist mehr als viermal so hoch wie bei der Magnetschwebebahn. Schon deshalb müßten alle Umweltschützer — Sie von der SPD wollen ja auch zu den Umweltschützern gehören — dieser Magnetschwebebahn zustimmen.Geräuschentwicklung: Der Emissionspegel einer mit 400 km/h, Herr Kollege Feige, befahrenen Transrapidstrecke ist nicht höher als der mit einer Geschwindigkeit von 250 km/h befahrenen ICEStrecke und sogar niedriger als der einer S-BahnStrecke im 100-km/h-Bereich. Alle Vorschriften des Bundes-Immissionsschutzgesetzes sind erfüllt, um den Transrapid auch nachts durch Wohngebiete fahren zu lassen.Was den Flächenverbrauch betrifft, so braucht er wesentlich weniger Fläche als jeder Schienenverkehr und alle anderen Verkehrsmittel. Unten durchfahren kann man auch. Auch das ist wichtig, daß die Durch-
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Dr. Kurt Faltlhauserlässigkeit da ist, daß keine Barrieren gebaut werden. Die hohen Stelzen müssen auch nicht immer sein; die kann man auch tiefer legen. Man kann den Transrapid auch ebenerdig bauen oder unter die Erde verlegen.Ich komme zum Schluß. Die Entscheidung, meine Damen und Herren, für diesen Transrapid ist eine Entscheidung für die Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland, eine Entscheidung für langfristig gesicherte Arbeitsplätze. Und sie ist eine Entscheidung, die geeignet sein wird, die Technikskepsis in diesem Land, die leider viel zu sehr vorhanden ist, abzubauen, weil wir gerade mit diesem greifbaren und sichtbaren Instrument wieder mehr Begeisterung für Technologie der Zukunft entwickeln.Deshalb bedanke ich mich bei der Bundesregierung — an der Spitze beim Verkehrsminister und beim Minister für Forschung und Technologie —, daß sie mutig diesen Schritt getan haben und endlich, endlich den Transrapid auf den Weg bringen.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Klaus Daubertshäuser.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieser Debatte geht es heute nicht um Ja oder Nein zur Magnetschwebetechnik, Herr Kollege Faltlhauser. Es geht auch nicht um die Stammtischfrage, ob der Transrapid ein geeigneter Maßstab ist, um die Gruppe der naiv Fortschrittsgläubigen von der Gruppe der technologiefeindlichen Bedenkenträger zu unterscheiden. Es geht ausschließlich um die Frage: Soll eine 285 km lange Transrapid-Referenzstrecke zwischen Hamburg und Berlin parallel zum Schienenverkehr gebaut werden, ja oder nein?
Es geht um die Frage: Sind die vorgelegten Wirtschaftlichkeitsberechnungen für diese Strecke solide,
oder ergeben sich daraus unvertretbare Risiken für den Steuerzahler?
Wenn Sie die Unterrichtung der Bundesregierung zum Finanzierungskonzept einmal gelesen haben, dann werden Sie eine Vielzahl von Risikobeschreibungen in Ihrer eigenen Vorlage finden, und zwar Risiken zu Lasten der Steuerzahler.Es geht um die Frage: Sind die industrie- und die exportpolitischen Erwartungen überhaupt realistisch,
und stehen bei dieser Strecke Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis zueinander?
Deshalb lassen Sie uns doch dann heute und in den nachfolgenden Beratungen über die Zahlen, über die Daten und über die Fakten dieser Referenzstrecke reden und hier nicht irgendwelche Scheindebatten führen.
Sie haben ja darauf bestanden, diese Debatte nicht in einem verkehrspolitischen oder in einem finanzpolitischen Zusammenhang zu führen, sondern unter dem Aspekt Industriestandort Deutschland. Das ist auch gut.
Wir sind seit langem, Herr Kollege Dr. Probst, der Auffassung, daß die Attraktivität des Industriestandortes Deutschland dringend gesteigert werden muß.
Ihre Regierung hat es seit Jahren versäumt, vorausschauende Industriepolitik zu betreiben.
Es sind doch gerade Ihre Versäumnisse in der Forschung, in der Bildung und in der Wissenschaft, die verheerende Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf den Weltmärkten gebracht haben.
Ich sage Ihnen eines: Der internationale Markt für Hochgeschwindigkeits- und für Nahverkehrssysteme in der Rad-Schiene-Technik ist doch von Ihnen völlig vernachlässigt worden.
Bis 1993 — Sie müßten es als ehemaliger Staatssekretär wissen — betrugen die Zuschüsse für den ICE gerade einmal ein Dreißigstel der Summe, mit der Sie den Transrapid gefördert haben. Das sind die Fakten.
Eine Erprobung des Transrapid unter Echtbedingungen im Dauerbetrieb auf einer Anwendungsstrecke kann durchaus sinnvoll sein für eine technische und betriebswirtschaftliche Optimierung des Systems. Das wird nicht bestritten. Aber eine 285 km lange, mindestens 9 Milliarden DM schwere Referenzstrecke ist doch völlig überdimensioniert. Sie ist verkehrspolitisch unsinnig, mit ihren finanziellen Risiken für den Steuerzahler nicht zu vertreten, und sie ist industrie- und exportpolitisch töricht. Dem Standort
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Klaus DaubertshäuserDeutschland wird mit dieser Entscheidung ein sehr, sehr schlechter Dienst erwiesen.
Es ist unsinnig, meine Damen und Herren, eine derartige Summe, die ja in den nächsten Jahren noch erheblich anwachsen wird, in ein einziges, risikobehaftetes Technologieprodukt zu stecken. Der Bau einer kurzen Anwendungsstrecke im Inland ohne Konkurrenz zum ICE-Netz wäre deshalb industriepolitisch, verkehrspolitisch und finanzpolitisch durchaus ausreichend.
Eine solche Strecke hätte zudem den Vorteil, in wenigen Jahren fertig zu sein,
um eben Systemvorteile der Magnetschwebetechnik demonstrieren zu können:
hohes Beschleunigungsvermögen, niedrige Geräuschwerte — da haben Sie durchaus recht; da will ich Ihnen überhaupt nicht widersprechen — und niedrige Energieverbräuche, aber immer nur bis zu einer Geschwindigkeit von 250 km/h, nicht aber ausgelegt auf die Maximalgeschwindigkeit.
— Herr Kollege Fischer, Sie führen uns doch immer die Japaner vor. Dann werfen Sie doch jetzt bitte einmal einen Blick nach Japan. Die Japaner werden vermutlich Ihre Magnetschwebebahntechnik in Nahverkehrssystemen bis 56 Kilometer erproben. Dies erscheint mir durchaus vernünftig zu sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Probst? — Bitte.
Herr Kollege Daubertshäuser, glauben Sie, daß wir die Eisenbahn in der Bundesrepublik oder in Europa im vergangenen Jahrhundert jemals hätten einführen können, wenn man damals mit Ihren heutigen Maßstäben gemessen hätte?
Herr Dr. Probst, wenn Sie das letzte Jahrhundert heranziehen, wissen Sie ja, daß die erste deutsche Eisenbahnstrecke die von Nürnberg nach Fürth war. Das war bei weitem keine Fernstrecke. Das müßten Sie eigentlich wissen.
Ich sage noch einmal: Die Entscheidung für die Referenzstrecke Berlin-Hamburg stürzt den Steuerzahier in ein neues finanzpolitisches Abenteuer.
Bereits wenn alle Planannahmen optimal eintreten, belastet allein der Fahrweg dieser Strecke den Steuerzahler mit 5,6 Milliarden DM, und zwar ohne die Einfädelungskosten. Die geplante Fahrzeit von Stadtrand zu Stadtrand beträgt knapp 60 Minuten. Der Ausbau der ICE-Strecke für eine Fahrzeit von 90 Minuten, aber von Stadtmitte zu Stadtmitte, würde nur 1,2 Milliarden DM kosten. Dies bedeutet ganz streng gerechnet Mehrkosten in Höhe von 4,4 Milliarden DM ohne einen faktischen Fahrzeitgewinn, ja sogar mit einem Fahrzeitverlust für eine technische Insellösung. Macht denn das wirklich Sinn? Hier habe ich sehr starke Zweifel.
Herr Kollege Daubertshäuser, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage. — Bitte.
Herr Kollege Daubertshäuser, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die erste wirtschaftlich genutzte deutsche Eisenbahnstrecke nicht die Strecke Nürnberg-Fürth war, sondern die Strecke Leipzig-Dresden mit einer Länge von 120 km? Das war der Startschuß für die deutsche Eisenbahn und nicht die Spielzeugstrecke NürnbergFürth.
Herr Kollege Dr. Röhl, das nehme ich zur Kenntnis. Aber die Geschwindigkeit der von Ihnen angesprochenen Eisenbahn lag damals bei 35 km/h. Wenn Sie die jeweilige Streckenlänge und die Technologie in Verhältnis zueinander setzen, ist die Strecke, über die wir jetzt sprechen, bei weitem zu lang, um als Maßstab genommen zu werden. Aber dies soll ja nicht der Maßstab sein. Ich sage Ihnen nur, Herr Dr. Röhl, daß noch nie ein verkehrspolitisches Großprojekt, egal in welchem Jahrhundert, auf einer so unsoliden Wirtschaftlichkeitsberechnung, auf so fragwürdigen Prämissen beruhte wie dieses Transrapidprojekt.
Nehmen Sie nur einmal die Passagierzahlen. Der Kollege Dr. Feige hat vorhin bereits auf diesen Aspekt hingewiesen. Gegenwärtig nutzen 1,58 Millionen Passagiere jährlich Bahn oder Flugzeug zwischen Hamburg und Berlin und nicht 3 bis 4 Millionen, wie der Kollege Wissmann so beharrlich falsch behauptet. Die Wirtschaftlichkeitsberechnung für die Transrapidstrecke beruht auf der Annahme, man könne diese Passagierzahlen kurzfristig verzehnfachen. Aber es gibt weltweit kein Vorbild für derart tollkühne Annahmen über die Entwicklung von Fahrgastzahlen.
— Die Passagierzahlen des TGV sind in zehn Jahren von 6 auf 18 Millionen gestiegen, also nicht um das Zehnfache.
Herr Kollege Daubertshäuser, gestatten Sie noch die Zwischenfrage des Kollegen Friedrich?
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Ja. Ich trage gern zur Aufklärung bei.
Herr Kollege Daubertshäuser, Sie haben erklärt, daß eine ICE-Strecke von Hamburg-Innenstadt nach Berlin-Innenstadt für eine Investitionssumme von 1,2 Milliarden DM zu erstellen sei. Stimmen Sie mit mir darin überein, daß selbst nach den Berechnungen der Bundesbahn die Kosten für den Ausbau der bestehenden Strecke für die Neigezugtechnik bei einer Maximalgeschwindigkeit von 220 km/h 1,2 Milliarden DM betragen, während ein kompletter Ausbau für die ICE-Technik 5,2 Milliarden DM kosten würde?
Nein, das ist falsch. Sie haben nämlich eine mittlere Position unterschlagen, wie so üblich in der gesamten Finanzierungsdiskussion. Der erste Teil Ihrer Ausführungen war korrekt. Wenn wir mit der ICE-Technik von Stadtmitte zu Stadtmitte — ich wiederhole mich eine Geschwindigkeit von 220 km/h fahren können, der Transrapid für 5,6 Milliarden DM dagegen nur von Stadtrand zu Stadtrand fahren kann, ist der Zug mit der Neigetechnik insgesamt gesehen auf dieser Strecke zeitlich schneller.
Sie haben vergessen, einen Blick in den Bundesverkehrswegeplan zu werfen. Dort ist bereits eine Summe von 2,4 Milliarden DM für den Ausbau einer ICE-Strecke veranschlagt. Es ist ernsthaft in den Unterlagen der Regierung nicht daran gedacht, die 5,4-Milliarden-Super-de-Luxe-ICE-Strecke zu bauen, und sie ist auch nie finanzierungsrelevant geworden. Der eigentliche Vergleichsmaßstab müßten dann korrekterweise bestenfalls die 2,4 Milliarden DM für die mittlere Variante sein.
— Natürlich mag es Erbsenzählerei sein. Das war seine Position. Mein Grundtenor ist, daß es ein finanzpolitisches Risiko ist, Herr Dr. Probst, und das sagt Ihr CSU-Bundesfinanzminister auch nach wie vor klipp und klar in dieser Vorlage, die uns vorliegt.
Ich sage Ihnen noch ein Weiteres dazu. Alle Abweichungen von den Planannahmen in diesem Finanzierungskonzept gehen ja zu Lasten des deutschen Steuerzahlers. Es ist ja nicht so, als ob die Privatindustrie hier die Risiken übernehmen würde. Wenn sich die Fahrgastzahlen nicht verzehnfachen, wenn sich zeitliche Verzögerungen aus dem Erwerb von Grund und Boden ergeben, wenn es im Planfeststellungs- oder Genehmigungsverfahren klemmt — alles das wird die Kosten für den Steuerzahler und nicht das Risiko der Industrie erhöhen.
— Herr Kollege Fischer, gucken Sie doch bitte in die Vorlage hinein; das steht doch in Ihrer Vorlage drin.Der Steuerzahler müßte jedoch selbst noch für den möglichen Abriß aufkommen, wie wir gerade erst am Wochenende erfahren haben.
Sie wissen, ausgeschlossen ist doch die Abbruchperspektive nicht.Weder der Begegnungsverkehr noch die Wintertauglichkeit, noch die Funktionstüchtigkeit des Magnetbahnsystems ist z. B. bei Schnee und Eis bisher gesichert.
Die Einfädelung in die Innenstädte — auch das wird hier verschwiegen —, die optimale Verknüpfung mit den anderen Verkehrsmitteln sind nicht im Finanzierungskonzept enthalten.
Sie sind damit ein zusätzliches Risiko für den Steuerzahler.
— Herr Kollege Fischer, wo sollen denn — —
Entschuldigen Sie, Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht. Ich finde es schon außergewöhnlich, wenn der Kollege Fischer hier behauptet, dies seien alles unwahre Behauptungen. Wenn Sie auf der Seite 4 Ihres Regierungskonzeptes bitte einmal nachlesen, so heißt es da:Für die in der Kalkulation unterstellten Ansätze bestehen Kostenrisiken, insbesondere im Zusammenhang mit .. .Und dann werden in Ihrem eigenen Papier die Einführung des Fahrweges in die Städte einschließlich des notwendigen Grunderwerbs, zusätzliche Maßnahmen zur Verbesserung der Verknüpfung mit dem übrigen Verkehrsnetz, die über die jetzigen Planungen hinausgehen, aufgeführt.
Deshalb: Echauffieren Sie sich nicht so, werfen Sie anderen nicht vor, sie würden die Unwahrheit verbreiten. Ich zitiere lediglich aus dem Regierungskonzept.
Das ist natürlich dann eine Bestätigung dafür, wie schlecht dieses Regierungskonzept dargestellt wurde.Die Kosten für die Einfädelung — ich habe es eben gesagt — und die für die Verknüpfung mit den anderen Verkehrssystemen, Herr Kollege Fischer,
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Klaus Daubertshäusersind in der Kostenrechnung nicht enthalten. Dann müssen Sie uns bitte auch sagen, wo denn das Geld überhaupt herkommen soll.
Soll es denn aus dem Verkehrshaushalt kommen, zu Lasten der Ortsumgehungen? Wollen Sie das zu Lasten des ÖPNV machen? Wollen Sie das zu Lasten des Schienenausbaus machen? Oder soll es Kürzungen im Sozialhaushalt zugunsten des Transrapid geben? Das übrigens wäre eine Erklärung, warum wir diese Frage jetzt im Zusammenhang mit dem Arbeitszeitrechtsgesetz diskutieren müssen.
Also Fragen über Fragen.Meine Damen und Herren, angesichts Ihres Schuldenberges sollten Sie eigentlich mit dem Geld des Bürgers sorgsamer umgehen. Ihr Transrapidkonzept ist ganz einfach nicht entscheidungsreif.
Herr Kollege Fischer, es ist ja möglich, Zwischenrufe zu machen, aber dies fängt an, störend zu sein. Ich bitte, das nicht zu machen.
Herr Präsident, mich stört das überhaupt nicht. Ich habe das Mikrofon. Wenn Herr Fischer im Unrecht ist, reagiert er immer so.
Das Transrapidkonzept ist so nicht entscheidungsreif. Wir fordern Sie nachdrücklich auf, mit diesem Finanzierungstorso keine voreiligen Festlegungen zu treffen. Es ist noch Zeit, daß Sie Abschied von dem Dinosaurierprojekt Hamburg-Berlin nehmen.Wir warnen Sie auch davor, neue finanzwirksame Entscheidungen zu treffen nach dem Motto „Nach mir die Sintflut". Ich sage Ihnen, für eine derartige Politik der „verkohlten" Erde haben Sie keine Legitimation.
Meine Damen und Herren, der Wissenschaftliche Beirat hat bemängelt, daß die industrie- und exportpolitischen Erwartungen an keiner Stelle plausibel belegt sind. Ich möchte das ausdrücklich unterstreichen. Eine faszinierende Technik macht noch keinen Absatzmarkt. Herr Dr. Faltlhauser, der Sprung vom Reißbrett zum Industriemuseum ist schon oft ein sehr, sehr kleiner Sprung gewesen. Ich sage Ihnen: Innerhalb Westeuropas ist der Transrapid nicht verkäuflich, denn alle europäischen Staaten verfügen schon über ein mehr oder weniger leistungsfähiges Schienensystem.Es war übrigens ein entscheidender strategischer Fehler, nie ernsthaft versucht zu haben, ein europäisches oder internationales Konsortium ähnlich dem Airbus hier zustande zu bringen.
Taiwan, Brasilien, China und Korea haben sich in einem Systementscheid gegen die Magnetschwebebahntechnik und für das Rad-Schiene-System entschieden. Auf absehbare Zeit wird der weltweite Markt der spurgebundenen Hochgeschwindigkeitstechnologien ganz klar von der Rad-Schiene-Technik dominiert werden. Die deutschen Hersteller haben mit dem ICE-System ein Spitzenprodukt anzubieten, übrigens auch im Nahverkehrsbereich. Der relative Vorteil des TGV beruht doch nicht auf Mängeln des ICE, sondern auf dem sehr viel engagierteren Vorgehen der französischen Regierung bei den potentiellen Abnehmem.
Wir hätten uns auf den internationalen Märkten mehr Enthusiasmus der Bundesregierung bei der Förderung der Spitzentechnologie in Rad-Schiene-Technik gewünscht.In diesem Zusammenhang eine Bemerkung, Herr Dr. Faltlhauser, in Ihre Richtung, weil Sie es angesprochen haben. Hören Sie doch bitte mit dem Gerede auf, die Rad-Schiene-Technik sei von vorgestern, sie sei morgen erledigt, und nur der Transrapid sei der wirkliche Fortschritt! Mir ist unerklärlich, warum Sie die Marktchancen des ICE-Systems hier derartig in den Keller reden wollen. Das, was Sie hier tun, ist arbeitsmarktschädlich
und sachlich falsch, denn die Rad-Schiene-Technik ist keineswegs am Ende ihrer Entwicklung. Schon heute zählen Geschwindigkeiten von 300 km/h im Schienenschnellverkehr zum betrieblichen Alltag. Hochgeschwindigkeitsstrecken werden bereits auf über 400 km/h ausgelegt. Der Geschwindigkeitsrekord — das werden Sie wissen — liegt bei über 500 km/h. Dabei ist, Herr Dr. Röhl, die technische Entwicklung des Rad-Schiene-Systems bei weitem noch nicht ausgereizt.Wenn nur ein Bruchteil der Kosten des Transrapid zur Förderung des Exports des ICE und für moderne Nahverkehrstechnologie eingesetzt würde, dann wären die schon längst weltweit ein Verkaufsschlager.
Auch das gehört zur Diskussion über den Standort Deutschland und die Förderung des internationalen Wettbewerbs.Ich sage Ihnen frank und frei: Verkehrspolitisch brauchen wir in Deutschland den Transrapid nicht. Alle Staaten Westeuropas und auch Mitteleuropas haben Entscheidungen getroffen, künftig am geplanten europäischen Hochgeschwindigkeitsschienennetz zu partizipieren. Eine Insellösung wie der Transrapid, der für den Gütertransportnicht geeignet ist, ist in diesem Zusammenhang ein Fremdkörper.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18655
Klaus DaubertshäuserDer gerade schuldenfreien Bundesbahn wird mit dem Bau einer Transrapidstrecke Berlin-Hamburg, die parallel zur Bundesbahnstrecke geführt werden wird, ein Bärendienst erwiesen. In Ihrer Kabinettsvorlage sagen Sie selber: Ausfälle für die Bundesbahn in einer Größenordnung von 200 Millionen DM sind vorprogrammiert. Der Aufsichtsrat geht von viel größeren Summen aus. Es ist Ihnen bekannt, daß sich der Aufsichtsrat der Bahn AG dagegen gewehrt hat, der Deutschen Bundesbahn einen derartigen Mühlstein an den Hals zu hängen, die Lufthansa ebenso.
— Der Aufsichtsrat der Lufthansa hat nicht zugestimmt. — Eine Alternativlösung, wie die TransrapidBetriebsgesellschaft ohne einen Finanzbeitrag der Bundesbahn und der Lufthansa künftig strukturiert sein soll, ist bei weitem noch nicht in Sicht. Herr Dr. Röhl, das ist ein weiterer Beleg für Ihre schluderhaften und unseriösen Finanzvorstellungen.
Was Sie hier machen, sind keine Finanzplanungen und keine Unternehmensplanungen. Das sind vorprogrammierte Pannen! Wie wollen Sie eigentlich mit einem solchen Konzept weltweit Kunden werben, wenn Sie alle Risiken auf die Steuerzahler abwälzen? Ich wiederhole: Alles spricht dafür, dieses Ihr Großprojekt auf ein verträgliches Maß mit kalkulierbaren Risiken entsprechend abzuspecken.
Berlin, Hamburg und die neuen Bundesländer dürfen sich über die Transrapidstrecke übrigens keine falschen Hoffnungen machen, denn die regionale Wirtschaftsentwicklung dort ist dringend auf ein effizientes Verkehrssystem angewiesen, und zwar im Güter- und im Personenverkehr.
— Das blockieren Sie mit dem Transrapid. Das ist die Tatsache. —
Die Transrapidreferenzstrecke wird Berlin und Hamburg nämlich vom europäischen Hochgeschwindigkeitsschienennetz zumindest teilweise abkoppeln. Es ist doch ein Fakt, Herr Dr. Röhl, daß die Zugverbindung zwischen Hamburg und Berlin dreigestückelt wird: Vorortzug Hamburg-Mitte bis Hamburg-Stadtrand, Umsteigen auf den Transrapid, Vorortzug Berlin-Stadtrand bis Berlin-Mitte. Wer dann noch weiter nach Dresden will, muß noch einmal umsteigen. Die Transrapid-Entscheidung für diese Strecke bedeutet auch den Verzicht auf den Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr zwischen den betroffenen Städten. Die parallele Schienenstrecke soll dann ja auch auf Sparflamme gehalten werden. Über diese Fragen sollten Sie die Berliner,
die Hamburger und vielleicht auch die Schweriner aufklären und ihnen reinen Wein einschenken.
Ich fasse zusammen: Es hat nichts mit Technikfeindlichkeit zu tun, wenn wir feststellen, daß es Unsinn ist, im zusammenwachsenden Europa verkehrstechnische Insellösungen zu fördern. Aber es hat mit solider Finanzpolitik zu tun, wenn wir feststellen, daß die finanziellen Risiken des Transrapid ausschließlich dem Steuerzahler aufgebürdet werden.
Es hat mit vorausschauender Verkehrspolitik zu tun, wenn wir feststellen, daß auf Dauer der internationale Markt für spurgebundene Hochgeschwindigkeitssysteme von der Rad-Schiene-Technik dominiert sein wird. Ich sage Ihnen: Es hat mit verantwortlicher Verkehrspolitik zu tun, wenn wir daran festhalten, daß das vorrangige verkehrs- und industriepolitische Ziel in Europa sein muß, ein leistungsfähiges, ein voll kompatibles gesamteuropäisches Schienennetz zu schaffen.Schließlich, meine Damen und Herren, hat es mit Vernunft zu tun, das Transrapid-Projekt erheblich abzuspecken und damit für den Steuerzahler kalkulierbar und letztendlich auch bezahlbar zu machen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention der Kollege Horst Gibtner.
Danke, Herr Präsident.Meine Damen und Herren, gestatten Sie, daß ich auf einige Behauptungen, die Vorredner hier aufgestellt haben, versuche in ganz sachlicher Form, und zwar unter Verwendung des Berichtes über das Finanzierungskonzept Berlin-Hamburg, Unterrichtung durch die Bundesregierung, zu antworten.Aber zunächst einmal allgemein: Herr Dr. Feige, Sie hatten darüber geklagt, daß der Transrapid noch nicht die Entwicklungsreife erreicht hat, wie sie heute die Eisenbahn hat. Das trifft für jede Erstanwendung von Technik zu. Auch die Postkutsche war bei ihrer Erstanwendung noch nicht auf der Höhe der technischen Entwicklung. Die Eisenbahn ist es heute noch nicht.
Ich stimme da Herrn Daubertshäuser zu: Auch ich glaube, daß das Rad-Schiene-System noch Entwicklungspotentiale in sich birgt. Das hat aber nichts damit zu tun, daß es nicht weiterführende Technologieentwicklungen geben soll.Sicher sind auch andere Strecken für den Transrapid denkbar. Nur sollten wir uns überlegen, was machbar ist und wo der Transrapid seine technischen Eigenschaften ausfahren kann. Sicher steht eine Strecke in Richtung Osteuropa, wie sie der Kollege Feige vorgeschlagen hat, gegenwärtig noch nicht zur Debatte.
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18656 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Horst GibtnerWas die Kosten des Fahrwegs und das Risiko für den Steuerzahler betrifft, hat Herr Daubertshäuser schlicht und einfach nicht recht. Auch er verweist ja auf dieses Papier. Absatz 6.3, Einnahmen, sagt eindeutig, daß die Betreibergesellschaft die Verantwortung für die Abschreibungen in Höhe von 38 Millionen DM pro Jahr in jedem Falle aufzubringen hat, und damit bleibt kein Risiko für den Steuerzahler beim Fahrweg.Es gäbe noch viele Dinge hier zu erwähnen, auch die Beteiligung der Lufthansa und der Bahn. Bitte lesen Sie auch das in diesem Papier nach, Kollege Daubertshäuser. Bahn und Lufthansa werden in der Managementgesellschaft tätig sein. Die Lufthansa hat lediglich bei der Betriebsgesellschaft ihre Mitwirkung wegen der Kostenbeteiligung zunächst abgesagt.
Vielen Dank.
Herr Kollege Daubertshäuser zur Beantwortung.
— Es gibt auf Kurzinterventionen keine Kurzinterventionen.
Herr Kollege Gibtner, unabhängig von dem, was Sie jetzt dargestellt haben, gibt es in der Tat eine völlig unterschiedliche Einschätzung des Systems. Wir sind wie viele andere in diesem Land immer davon ausgegangen, daß Transrapid bestenfalls als eine Ergänzung zum bestehenden Rad-Schiene-System zu diskutieren ist, währenddessen wir nun von der Bundesregierung, auch von Ihnen, Herr Minister Wissmann, hören: Sie wollen mit Transrapid ein neues, zusätzliches Verkehrssystem schaffen. Das ist nicht unsere Position — damit das klar ist.
Es ist richtig, wie Sie angesprochen haben, daß ein neues System Chancen und Risiken in sich birgt. Aber die Finanzierungsrisiken liegen ausschließlich beim Steuerzahler. Das ist das, was ich hier heftigst kritisiert habe.
— Entschuldigung, Herr Kollege Fischer, wenn sich alle Parameter betriebswirtschaftlicher Art von den Passagieren bis zu den Fahrzeiten nicht realisieren lassen, dann wird die Betriebsgesellschaft keinen Gewinn und keinen Ertrag einfahren und wird nicht in der Lage sein, die Investitionen für den Fahrweg zurückzuzahlen.
Folglich bleibt das Risiko bei dem Steuerzahler.
Das sagt Ihnen nicht nur die SPD-Bundestagsfraktion. Das sagt Ihnen auch der verkehrswissenschaftliche Beirat, in dem ausgewiesene Größen der Volkswirtschaftslehre sitzen, auch wenn der Kollege Gibtner meinte, sie in einer Presseerklärung „herunter-schreiben" zu müssen. Ich würde diesen sehr konservativen Volkswirtschaftslehrern, die politisch normalerweise in Ihrem Lager stehen,
nicht einfach unterstellen — von Professor Abele bis Professor Hamm —, sie hätten keine Ahnung. Das ist zu einfach.
Dann müssen Sie sich schon mit deren Argumenten auseinandersetzen. Man kann sie nicht einfach niederschreien.
Von daher gibt es diese Risiken. Ich hoffe, wenn Sie wirklich diesen Unsinn machen, daß ich mich getäuscht hätte. Nur befürchte ich, daß wir uns in dieser schlimmen Befürchtung nicht täuschen, daß also diese unkalkulierbaren Risiken auf uns zukommen.
Zum Thema „Lufthansa und Bahn AG": — —
Herr Kollege Daubertshäuser, die Zeit ist abgelaufen.
Er hat aber Lufthansa und Bahn AG angesprochen!
Kurzinterventionen dauern zwei Minuten — und Ende.
Meine Damen und Herren, eine Kurzintervention dauert zwei Minuten,
und dann ist sie beendet. Die Antwort darauf dauert ebenfalls zwei Minuten. Ich bitte herzlich um Verständnis.
Darf ich den einen Satz noch beenden?
Ja.
Ich hatte ihn begonnen und gesagt: Lufthansa und Bahn. Zuständig für die Entscheidung ist der Aufsichtsrat. In keinem Unternehmen hat der Aufsichtsrat bisher zugestimmt.
Es haben sich eine ganze Reihe von Kollegen zu weiteren Kurzinterventionen gemeldet. Meine Damen und Herren, es gibt keine Kurzintervention auf eine Kurzintervention. Es gibt nur eine Antwort auf die Kurzintervention. Das ist das erste.Das zweite ist — das ist auch wichtig, und da bitte ich um Verständnis, sonst kommen wir völlig aus dem
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18657
Vizepräsident Hans KleinRhythmus —: Das Instrument der Kurzintervention soll nicht primär dazu dienen, Kollegen Redezeit zu verschaffen, die von der Fraktion nicht gemeldet worden sind.
Wir müssen auch unsere normale Rednerliste abarbeiten. Dafür bitte ich um Verständnis.Deshalb hat als nächster unser Kollege Dr. Klaus Röhl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst noch ein Wort an den Kollegen Daubertshäuser: Wie Sie wissen, hatten wir in der vorigen Woche eine Sitzung des Verkehrsausschusses bei der Flughafengesellschaft in Frankfurt. Da war auch Herr Weber anwesend. Herr Weber hat gesagt, der Transrapid ist keine Konkurrenz für die Lufthansa, sondern die fördert das Objekt. Sie alle, die im Verkehrsausschuß sind, waren dabei. Das vorneweg.
— Das ist Fakt. Das können Sie im Protokoll nachlesen.
— Er ist der Geschäftsführer, er kann das einschätzen.
Herr Kollege Dr. Röhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhlwein?
Ich würde lieber erst mit der Rede beginnen, dann gerne.
Meine Damen und Herren, wir sind heute in der herausragenden Situation, das Startsignal für eine vollkommen neue Verkehrstechnik zu geben. Der Grund: 158 Jahre nach der Jungfernfahrt der ersten deutschen Eisenbahn hat die Rad-Schiene-Technik der Eisenbahn den Höhe- und Endpunkt Ihrer Entwicklungsmöglichkeiten erreicht. Die Shin Kansen-, TGV- und ICE-Züge und die Neige-Technik-Züge sind Beispiele für die erreichte Höhe dieser Entwicklung. Eine Weiterentwicklung auf der Grundlage der Rad-Schiene-Technik ist nur noch in sehr engen Grenzen möglich.Mit der Magnetschwebebahn Transrapid ist eine völlig neue Bahntechnologie entstanden. Für diesen neuen fünften Verkehrsträger, den man mit Fug und Recht als die Bahn der Zukunft bezeichnen kann, wurde im November 1991 die technische Einsatzreife durch das BZA München der Deutschen Bundesbahn erteilt. Es ist nun unsere unerläßliche Aufgabe und Pflicht, die hier liegenden großen Chancen durch Bau und Betrieb der Anwendungsstrecke zu nutzen und damit die Kraft und Leistungsfähigkeit des Standortes Deutschlands unter Beweis zu stellen.Dieser innovative Verkehrsträger ist in allen Eigenschaften und technischen Daten der bisherigen Spitzentechnologie eindeutig überlegen. Gleichzeitig ist der Transrapid erheblich umweltfreundlicher als die bisherige, schon sehr umweltfreundliche Spitzentechnologie. Der Fahrweg der Magnetbahn verbraucht, gleichgültig, ob „aufgeständert" oder ebenerdig, weniger Fläche als die Fahrwege des IC und ICE. Zudem sind auch wesentlich kleinere Kurvenradien bei vergleichbaren und höheren Spitzengeschwindigkeiten notwendig. Die höhere Steigfähigkeit läßt Dammbauten und Einschnitte in die Landschaft vermeiden. Damit werden weniger Erdbewegungen beim Bau erforderlich, und die Fahrweginvestitionen werden damit insgesamt, je Kilometer Doppelspur, geringer als bei herkömmlichen Technologien.Der vergleichbare Energieverbrauch beim Betrieb ist um ein Drittel geringer als beim ICE und erreicht erst bei Geschwindigkeiten über 400 km/h die Spitzenwerte des ICE.Auch beim vieldiskutierten Lärmpegel erreicht der Transrapid erst oberhalb 400 km/h die Werte, die der ICE bei 250 km/h und der TGV bei 300 km/h aufweist.
Der Transrapid kann mit der Höchstgeschwindigkeitmoderner Eisenbahnen in die Innenstädte einfahren
und ist dabei nicht lauter als eine Berliner S-Bahn bei Tempo 80. Er kann sich also unterhalb dieser Höchstgeschwindigkeit in die Stadtzentren gewissermaßen „einschleichen" .Es muß an dieser Stelle ganz klar gesagt werden, daß jeder, der etwas anderes behauptet, sich entweder nicht sachgerecht informiert hat oder wissentlich die Unwahrheit sagt.
Es ist auch vollkommen unverständlich und erweckt leider auch den Eindruck von Ignoranz, wenn z. B. der Brandenburger Minister Platzeck und bedauerlicherweise auch einige Kollegen aus der SPD-Fraktion diese günstigen technologischen und Umwelteigenschaften nicht zur Kenntnis nehmen und sich der Anwendung entgegenstellen.
Meine Damen und Herren, diese Technologie ermöglicht es uns, bei einer vorgesehenen Taktfrequenz von zehn Minuten und einer Fahrzeit von etwa 55 Minuten — gegenüber eineinhalb Stunden beim
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18658 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Klaus RöhlICE — die zwei größten Ballungszentren Deutschlands zu verbinden.
Dieses Verkehrssystem macht es außerdem möglich, den Regionalflugverkehr einzusparen, erhebliche Verlagerungen vom Pkw-Verkehr auf das neue System zu erreichen — das ist ja doch das Ziel — und die Eisenbahnstrecke Hamburg-Büchen-Berlin für den Interregio, den Personennahverkehr und den Güterverkehr freizumachen. Das berücksichtigen Sie ja nie!
Ein ICE-Hochgeschwindigkeits-Kurztaktverkehr auf dieser Strecke würde entweder — —
Herr Kollege Röhl, der Herr Kuhlwein würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, hoffentlich rechnen Sie mir das nicht an.
Nein. Dr. Klaus Röhl : Bitte.
Herr Kollege Röhl, ich wollte Ihren Redefluß nicht unterbrechen, aber Sie hatten mir ja quasi angeboten, ich könnte, wenn Sie in Ihre Rede eingestiegen sind, dann doch eine Frage stellen.
Meine Frage zielt auf Ihre Eingangsbemerkung ab. Ist Ihnen entgangen, daß in der offiziellen Drucksache der Bundesregierung, 12/6964, auf Seite 5 steht, die Lufthansa habe inzwischen erklärt, daß sie sich nicht an der Betriebsgesellschaft, wohl aber an der Managementgesellschaft beteiligen will und demzufolge keinen Beitrag zu den 300 Millionen DM Gesellschaftskapital leisten wird? Wie verträgt sich das mit Ihrer Aussage von vorhin, der Verkehrsausschuß sei informiert worden, daß die Lufthansa alles in Ordnung finde?
Es ist eine tatsächliche Aussage des Herrn Weber, daß der Transrapid keine Konkurrenz für die Lufthansa sei, sondern daß sie es begrüßt, wenn sie die unrentablen Kurzflugstrecken einstellen kann.
Jetzt würde ich gern weiterreden.
Aber dies ist eine offizielle Erklärung der Bundesregierung! Oder soll man darauf nichts mehr geben?
Herr Kollege Röhl, die Kollegin Ferner würde auch gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Ich war auch bei der Sitzung des Verkehrsausschusses in Frankfurt dabei. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß Herr Weber gesagt hat: Auf der Strecke Hamburg-Berlin stellt der Transrapid keine Konkurrenz für die Lufthansa dar, weil sich Kurzstreckenflüge in dieser Relation nicht lohnen.
Das habe ich doch eben gesagt.
Er hat aber nie behauptet, daß der Transrapid auf dieser Strecke keine Konkurrenz für die Schiene sei. Und was die Frage anbelangt, Herr Dr. Röhl, ob die Lufthansa mit einsteigt, ist hier klar und deutlich gesagt worden, daß der Aufsichtsrat eben nicht in die Betreibergesellschaft einsteigt, sondern lediglich bereit ist, eventuell in der Managementgesellschaft mitzuarbeiten. Das bitte ich Sie wirklich zur Kenntnis zu nehmen.
Sie haben nur meine Aussage bestätigt — —
Entschuldigung, Herr Kollege Röhl! — Frau Kollegin, das war jetzt eine Reihe von Aufforderungen und Appellen, aber keine Frage.
Ich habe ihn gefragt, ob er bereit ist, zur Kenntnis zu nehmen, daß . . .
Sie haben eben nur meine Aussage über das bestätigt, was Herr Weber gesagt hat, weiter nichts.
Kurztaktverkehr auf dieser Strecke würde entweder einen zusätzlichen, vollständigen Neubau erfordern oder bei Ertüchtigung der jetzt im Ausbau befindlichen Strecke für ICE-Züge diese für langsame Züge blockieren.Auch der Einwand der Insellösung muß zurückgewiesen werden, denn bei Erfolg des Systems ist eine Verlängerung der Strecke in Richtung Dresden-Prag, nach Warschau, wie Herr Feige gesagt hat, nach Leipzig-Frankfurt oder von Hamburg in Richtung Nordrhein-Westfalen durchaus möglich.Auch bezüglich der Exportchancen können wir ausländische Interessenten nur durch den Bau und Betrieb des Transrapid im eigenen Land vom Wert und von der Leistungsfähigkeit dieses neuen Bahnsystems überzeugen.
Erste positive Reaktionen sind jetzt schon feststellbar.Meine Damen und Herren, auch das hier vorgeschlagene Finanzierungsmodell — Finanzierung des Fahrweges durch den Bund, Finanzierung des Betriebes durch eine private Gesellschaft und Abtragen der Fahrwegskosten durch die Betriebsgesellschaft im Verlauf der Nutzung — ist ein Durchbruch gegenüber alten, erstarrten und festgefahrenen Formen der Finanzierung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18659
Dr. Klaus RöhlDas der Planung zugrunde gelegte Verkehrsaufkommen, die Kosten für Bau und Betrieb und die angenommenen Sensitivitäten wurden in analoger Weise zu den Planungen für die ICE-Strecken ermittelt. Das Betreiberrisiko wird vollständig durch die Privatwirtschaft übernommen.Auch für den Bund als Träger des Fahrweges ist der eingeschlagene Weg nicht risikofrei, aber es ist ein mutiger Schritt nach vorn, der ein Beweis für die Leistungsfähigkeit des Standortes Deutschland ist.
Der vorgelegte Entwurf des Magnetschwebebahnplanungsgesetzes schließt die Regelungslücke für diesen fünften neuen Verkehrsträger. Er ist auf den Anwendungsfall der Magnetschwebebahn zugeschnitten und legt das Eisenbahnbundesamt als Planfeststellungs-, Anhörungs- und Bauaufsichtsbehörde für die Betriebsanlagen der Magnetschwebebahn fest.Durch Anwenden und Einarbeiten der Bestimmungen und Verfahrensweisen des Planungsvereinfachungsgesetzes werden die Grundlagen gelegt, die erforderlichen Planungs- und sonstigen Verfahren zum Bau der Magnetschwebebahn zügig und kostengünstig durchzuführen und auch Bürgerbeteiligungen sicherzustellen. Das Gesetz enthält weiterhin die Verordnungsermächtigung für eine Magnetbahn-, Bau- und Betriebsordnung.Ich komme zum Schluß. Mit diesem mutigen Startschritt zu einer völlig neuen Bahntechnologie geben wir den neuen Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg und dem wiedervereinigten Bundesland Berlin, aber genauso auch den Bundesländern Schleswig-Holstein und Hamburg grünes Licht für die Schaffung einer bedeutenden Zahl neuer Arbeitsplätze durch Bau und Betrieb dieser neuen Bahn.
— So ist das; fragen Sie doch einmal Ministerpräsident Seite.
Herr Kollege, Sie sind schon ein gutes Stück über Ihre Redezeit.
Ja, ich bin gleich fertig, Herr Präsident.
Für die Entwicklung der Infrastruktur in diesen Ländern und den damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung ist dieser Schritt unerläßlich. Die alten Bundesländer rufen wir auf, den Stafettenstab dieser neuen Verkehrstechnologie zur Lösung eines gewichtigen Teils ihrer Verkehrsprobleme aufzunehmen.
Ich kann nur noch wünschen, daß Mut und Tatkraft allen Zweifel und Kleinmut und alles Rückwirtsgewandte überwinden. Die F.D.P.-Fraktion befürwortet diesen Gesetzentwurf mit aller Entschiedenheit und wünscht dem Unternehmen gutes Gelingen und „Glück auf " .
Meine Damen und Herren, die parlamentarischen Geschäftsführer, zumindest eine parlamentarische Geschäftsführerin, bittet den amtierenden Präsidenten um mehr Liberalität. Also werden wir die Debatte jetzt ein Stück verlängern. Ich habe drei Kurzinterventionen, die ich jetzt alle drei zulassen werde: erstens die Kollegin Renate Blank, zweitens den Kollegen Horst Friedrich, drittens den Kollegen Klaus-Dieter Feige. — Frau Kollegin Blank.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich glaube, daß Kurzinterventionen auch zur Lebendigkeit der Debatten im Parlament beitragen.
Deswegen bedanke ich mich ganz ausdrücklich für die Zulassung der drei Kurzinterventionen. Wir sollen ja immer ein lebendiges Parlament gestalten, und das hier ist eine Möglichkeit dazu.
— Die Zeit ist noch nicht ganz abgelaufen.
Kollege Daubertshäuser, ich sehe, daß aus Ihren Worten die reine Angst vor neuen Technologien spricht. Gott sei Dank gab es im Jahr 1833, als die Entscheidung für die Eisenbahnstrecke NürnbergFürth fiel,
die SPD noch nicht, sondern eine vorausschauende und mutige Bürgerschaft in Nürnberg und Fürth. Sie sollten sich ein Beispiel daran nehmen und in die Zukunft denken.
Damals wurde die Strecke Nürnberg-Fürth übrigens zunächst auch nur für den Personenverkehr ausgerichtet und nicht für Güterverkehr.
Herr Kollege Daubertshäuser, bitte zur Antwort.
Frau Kollegin Blank, wenn Sie richtig zugehört haben, können Sie die Technikfeindlichkeit meinen Ausführungen eigentlich nicht entnommen haben, denn wir haben ja für ein kalkulierbares Risiko auf einer kürzeren Anwendungsstrecke plädiert. Von daher kam gerade die Strecke Nürnberg-Fürth in die Diskussion.Wenn man im letzten Jahrhundert schon einmal den Fehler gemacht hat, ein Verkehrssystem nur einseitig auszurichten, muß man nach so langer Erfahrung diesen Fehler nicht im nächsten Jahrhundert wiederholen.
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18660 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Bleiben Sie da, Herr Kollege Daubertshäuser, es gibt noch mehr Kollegen, die Ihnen weitere Redezeit verschaffen wollen.
Als nächster der Kollege Horst Friedrich, bitte.
Herr Kollege Daubertshäuser, man kann über den Transrapid unterschiedlicher Meinung sein, aber man sollte bei den Zahlen wenigstens von der gleichen Basis ausgehen. Sie haben vorhin gesagt, ich hätte nur die halbe Wahrheit behauptet.
Als Berichterstatter meiner Fraktion zum Bundesverkehrswegeplan erkläre ich folgendes: Auf der Strecke von Hamburg nach Berlin ist ein Ausbau auf 160 km/h für IC-Verkehr beschlossen. Im Schienenwegeausbaugesetz und im tatsächlichen Bau befindet sich auch nur dieses, keine ICE-Strecke.
Sie haben behauptet, es sei eine ICE-Strecke geplant.
Es gibt Alternativen. Die erste: ein Ausbau auf 220 km/h für Neigezugtechnik mit einer Fahrzeit von 90 Minuten mit einem Kostenvolumen von 1,2 Milliarden DM zusätzlich. Die zweite: der Neubau eines 100 km langen Zwischenstücks von Bolzenburg nach Wittenberge
mit Investitionen von 2,6 Milliarden DM und einer Fahrzeit von 82 Minuten bei einer Geschwindigkeit von 300 km/h, die noch nicht realisierbar ist, weil die Rad-Schiene-Technik mit Personenbeförderung maximal bei 250 km/h aufhören muß. Die dritte Alternative: Neubau einer weitgehend kompletten Strecke für den Transrapid von Hamburg-Bergedorf nach Berlin-Spandau mit einem Investitionsvolumen von 5,4 Milliarden DM mit einer Fahrzeit von 61 Minuten bei einer Geschwindigkeit von 350 km/h. Auch da gilt das von mir vorhin Eingeschränkte.
Das sind die Zahlen, die den ganzen Berechnungen, auch denen im verkehrswissenschaftlichen Beirat, zugrunde liegen sollten und anhand deren wir debattieren sollten.
Herr Kollege Daubertshäuser zur Antwort.
Herr Kollege Friedrich, das ist sicher richtig zitiert.
Sie haben nur einen Städtenamen falsch genannt. Sie meinen Boizenburg, nicht Bolzenburg.
— Ja, sonst bekomme ich wieder den Vorwurf gemacht, daß ich hier etwas Falsches unterstützt hätte.
Herr Kollege Friedrich, wenn Sie bei Ihrer ersten Variante bleiben, bei den 1,2 Milliarden DM, kommen Sie mit relativ wenig Geld in der Rad-Schiene-
Technik auf eine vertretbare Geschwindigkeit, die von der Stadtmitte Berlins zur Stadtmitte Hamburgs den sehr schnellen Transrapid im „Haus-zu-HausVerkehr" bereits schlägt.
Dieses Projekt ist bereits 4,4 Milliarden DM günstiger als der Transrapid. Von daher war meine Argumentation aufgebaut, und die ist durch das, was Sie jetzt ausgeführt haben, noch einmal unterstrichen worden.
Herr Kollege Klaus-Dieter Feige, bitte — damit ich bei Ihnen in keinen falschen Ruf komme.
Danke, Herr Präsident.
Ich möchte noch einmal auf die Äußerung von Herrn Gibtner eingehen, der offensichtlich nicht damit klarkommt, daß wir nicht mehr das Buhmannbild abgeben wollen, technikfeindlich zu sein. Sie versuchen weiterhin, uns in diese Rolle hineinzubringen. Ihr naives Beispiel von der Postkutsche ist ein direkter Angriff, der uns unterstellt, daß wir nicht für moderne Technologien sind. Ich kann einfach nur sagen: Zur Zeit der Postkutsche existierte nicht zeitgleich ein ausgebautes Bussystem. Es handelte sich in diesem Fall um eine gesellschaftliche Notwendigkeit, die sich aus einem Transportbedarf ergab. Deshalb hinkt Ihr Beispiel.
Moderne Technologien, die wir ausdrücklich unterstützen, brauchen wir im Energiebereich, bei Umwelttechnologien, im Bereich der Landwirtschaft. Dort sind Sie diejenigen, die technikfeindlich sind und gegen die modernen Technologien auftreten.
Ich möchte mich nicht mehr damit abfinden, daß wir als Feinde dieser Technologie hingestellt werden. Sie müssen zuhören.
Keine Antwort? — Dann erteile ich das Wort dem Bundesminister für Forschung und Technologie, Dr. Paul Krüger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Entscheidung zur Einführung des Transrapid hat die Bundesregierung in der vergangenen Woche ein wahrhaft neues Kapitel in der Geschichte der Verkehrstechnologien aufgeschlagen.
Das Bundesministerium für Forschung und Technologie hat in der Verantwortung sozialdemokratischer und christdemokratischer Forschungsminister die Entwicklung des Transrapid seit über 20 Jahren vorangetrieben. Heute steht ein neues, einsatzreifes
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18661
Bundesminister Dr.-Ing. Paul Krügerund weltweit technologisch führendes Verkehrssystem zur Verfügung. Die Entscheidung zum Einsatz des Transrapid ist sinnvoll in ökonomischer, ökologischer, regionalpolitischer, industriepolitischer und verkehrspolitischer Hinsicht.
Der Transrapid ist eine gemeinsame Antwort von Industrie und Bundesregierung auf eine zentrale Herausforderung am Industriestandort Deutschland. Die Entscheidung über den Transrapid ist dabei geradezu symptomatisch für Herausforderungen bei der Sicherung der technologischen Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes in einer Reihe von Schwerpunkten.Erstens. Deutschland besitzt hervorragende wissenschaftlich-technische Grundlagen. Diese Grundlagen werden nur ungenügend umgesetzt. Notwendig ist — das wissen wir alle — eine schnelle Umsetzung, insbesondere durch das starke Zusammenarbeiten und Zusammenwirken zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Mit der Entwicklung des Transrapid bis zur Einsatzreife wurde ein Beispiel für die konsequente Umsetzung einer faszinierenden und zugleich zukunftsweisenden technologischen Idee gegeben.
Zweitens. Mit dem Bau der Anwendungsstrecke Hamburg-Schwerin-Berlin wird diese neue Technologie in die prakische Nutzung überführt, und zwar, Herr Daubertshäuser, von Stadtmitte zu Stadtmitte.
Damit wird ein Beispiel für die Bereitschaft zum kalkulierten Risiko in diesem Land gegeben.
Fehlende Risikobereitschaft, meine Damen und Herren, wird sonst so häufig zu Recht beklagt.Bundesregierung und Wirtschaft haben hierzu ein tragfähiges Finanzierungsmodell entwickelt. Die Wirtschaft trägt über die Betreibergesellschaft das volle Risiko des Betriebs des Transrapid. Sie haftet für dieses Risiko mit Eigen- und Fremdkapital im Umfang von 4,5 Milliarden DM. Das müssen Sie sich vor Augen führen. Sie hat deshalb das Technologie- und Finanzierungskonzept weit intensiver geprüft als manch ein vorschneller Kritiker.
Die Wirtschaft hat die Verpflichtung übernommen, aus den Einnahmen des Betriebs dem Bund die Investitionen für den Fahrweg sukzessive über die Erstattung der jährlichen Abschreibungen zurückzuzahlen. Darüber hinaus wird aus Gewinnen ein erhöhtes Nutzungsentgelt geleistet, das es dem Bund ermöglicht, rund 2,4 Milliarden DM ohne Belastung des Bundeshaushalts zu finanzieren.
Herr Bundesminister, der Herr Kollege Kuhlwein würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, wenn Sie es mir nicht auf meine Redezeit anrechnen.
Herr Bundesminister, wenn Sie hier darstellen, daß die Bundesregierung die finanziellen Auswirkungen dieses Konzepts besonders sorgfältig geprüft habe, wie kommt es denn, daß in der offiziellen Drucksache auf Seite 6 unter Punkt 6.2 — Haushaltsrisiken — steht „Die Kostenrisiken für den Bundeshaushalt sind z. Z. zahlenmäßig nicht abschätzbar"? Halten Sie das für eine solide Aussage, wenn Sie gleichzeitig zu dem Schluß kommen, wir bauen das Ding aber trotzdem?
Herr Kuhlwein, ich halte das deshalb für eine solide Aussage, weil wir bei der Einführung neuer Technologien bereit sein müssen, immer wieder — das sage ich besonders an Ihre Adresse — Risiken einzugehen, die vorher nicht kalkulierbar sein werden.
Und wenn wir das nicht tun, dann werden wir den Zug der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen.Ich glaube, die Verpflichtung, die die Industrie bei Verkehrsinfrastrukturproj ekten eingegangen ist, wurde bisher in dieser Runde viel zu wenig gewürdigt; denn die Industrie ist diese Verpflichtung erstmals eingegangen, und das auch noch bei einer neuen Technologie.Im übrigen würde auch der vollständige Ausbau eines ICE bei gleichem Niveau die hier genannten 5 Milliarden DM kosten.
Drittens: Die Entstehung zukünftiger Arbeitsplätze braucht innovationsfreundliche rechtliche Rahmenbedingungen. Gegenwärtig, meine Damen und Herren, wirken besonders die zum Teil tatsächlich viel zu langen Genehmigungsfristen auf viele Entwicklungsprozesse hemmend.Mit dem Magnetschwebebahnplanungsgesetz werden für diese neue Verkehrstechnik die gleichen beschleunigten planungsrechtlichen Verfahren wirksam wie bei der herkömmlichen Rad-Schiene-Technik. Nicht mehr und nicht weniger.
Aber damit, meine Damen und Herren, ist erstmals auch eine schnelle Realisierung einer solch neuen Technologie möglich.Viertens: Der Durchbruch neuer Technologien braucht ein hohes Maß an Akzeptanz in der Bevölkerung.
Das Beispiel des Transrapid zeigt, wie diese Akzeptanz gegenüber einer ganz konkreten Problemlösung zerredet werden soll. Hierfür ist auch die heutige Debatte ein gutes Beispiel.
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18662 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Bundesminister Dr.-Ing. Paul KrügerHierzu finden sich Bedenkenträger aus verschiedensten Richtungen zusammen.
Herr Feige hat heute hier bekannt, daß er ein Bedenkenträger ist. Herr Feige, Sie machen Ihrem Namen alle Ehre.
Mich hat es persönlich ein wenig befremdet, daß sich der Fachmann Daubertshäuser heute auf die Seite der Bedenkenträger geschlagen hat.Dabei finde ich — genau wie einige meiner Vorredner — die Bedenken aus Umweltgründen besonders unglaubwürdig. Ich möchte nicht die Argumente wiederholen, die hier genannt wurden. Ich halte sie für schlagkräftig genug, um nachzuweisen, daß der Transrapid ein wahrhaft gutes, umweltfreundliches Verkehrsmittel ist, das zur Lösung zentraler umweltpolitischer Problemstellungen beitragen kann.
Herr Bundesminister, der Kollege Catenhusen möchte eine Zwischenfrage stellen.
Herr Bundesminister, halten Sie es für geschickt oder angemessen, Kollegen dieses Hohen Hauses, die auf Milliarden-Risiken bei diesem Projekt hinweisen oder auch nur die Frage stellen, ob es nicht auch sinnvollere kleinere Alternativen gibt, mit dem Titel „feige" zu titulieren, wie Sie es beim Kollegen Feige eben durch Ihre nette Wortspielerei in der Sache getan haben?
Herr Catenhusen, wenn sich diese Kollegen immer wieder in der gleichen Weise destruktiv gegenüber neuen Entwicklungen und neuen Technologien in diesem Hohen Hause äußern, dann muß man zumindest überlegen, — —
— Ich habe ja nur die Frage gestellt. Na gut, wir müssen das im Protokoll nachlesen. Aber dann würde ich das, Herr Feige, zumindest als Frage formulieren wollen, ob Sie Ihrem Namen Ehre machen wollen.
Herr Bundesminister, Sie würden es auch dem Präsidenten in einer jetzt etwas zweifelhaften Frage leichter machen, wenn Sie einfach erklären würden, daß Sie damit den Kollegen Feige nicht etwa beleidigen oder der Feigheit zeihen wollten.
Sie haben das in Zusammenhang gebracht. Die Wortspielereien mit Namen, die ja nun weiß Gott keine Erfindung des Ministers Krüger sind — die älteren Kollegen werden sich erinnern, wer da der Weltmeister war —, wollen wir doch bitte nicht weiterführen.
Also, Herr Feige, ich bitte, das nicht als persönlichen Angriff zu werten. Ich möchte nur den ernstgemeinten Hinweis geben, daß man nicht immer wieder gegen alles auftreten soll, was neu ist und Risiken in sich birgt.
Fünftens: Meine Damen und Herren, wir brauchen für neue Techniken aber nicht nur Akzeptanz, wir brauchen vor allem mehr Aufgeschlossenheit in der Bevölkerung für sie.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, hat es mich besonders nachdenklich gemacht, daß ich in den Diskussionen, in den Beiträgen und Stellungnahmen der vergangenen Wochen und auch in den vergangenen Monaten kaum Stimmen vernommen habe, die die Ingenieurleistungen würdigten, die hier realisiert worden sind und den Transrapid möglich machten.
In den USA, meine Damen und Herren, wäre, glaube ich, geradezu ein sportlicher Stolz auf diese Leistung selbstverständlich gewesen. Die Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze durch Hochgeschwindigkeitsbahnen war dort 1992 ein wichtiges Wahlkampfthema.
Wissenschaft und Technik wird in der öffentlichen Meinung angeblich eine hohe Bedeutung zur Lösung von Zukunftsfragen in unserer Gesellschaft beigemessen. Hierzu aber steht im Gegensatz, daß die Zahl der Befürworter von Wissenschaft und Technik bei konkreten Entscheidungen in der politischen Diskussion schnell geringer wird. Wir müssen uns der Frage stellen, ob wir in dieser Gesellschaft noch bereit sind, Risiken zu tragen. Lothar Späth hat gesagt, die Risikofeindlichkeit dieser Gesellschaft werde selbst zum Risiko für diese Gesellschaft.
Ich glaube, Herr Daubertshäuser, mit der SPD wird der Sprung vom Reißbrett zum Industriemuseum, den Sie hier zitiert haben, zum Regelfall.
Die Diskussionen um den Transrapid haben dabei auch in einem weiteren Sinne, nämlich politisch, Symbolcharakter. Die Haltungen zum Transrapid verdeutlichen Unstimmigkeiten in den Reihen der SPD und Wankelmut gegenüber konkreten technologiepolitischen Fragestellungen, wie das auch in der Vergangenheit immer wieder der Fall war.
Besonders aufschlußreich ist hier die Position von Herrn Daubertshäuser, die er in einem Buch, welches 1988 veröffentlicht wurde, dartut. Ich zitiere:
Der Stand der Magnetbahntechnik ist nunmehr nach der Systementwicklung und der Erprobung so weit fortgeschritten, daß in absehbarer Zeit ihrer Anwendung in der Praxis, d. h. zunächst auf einer Schnellbahnstrecke des Fernverkehrs
— ich bitte zuzuhören —
nichts mehr im Wege stehen sollte.
Schon, Herr Bundesminister, haben Sie den Kollegen Daubertshäuser zu einer Zwischenfrage provoziert.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzuna. Bonn. Donnerstag, den 10. März 1994 18663
Ich möchte gern das Zitat zu Ende führen, Herr Daubertshäuser.
Neben den bereits genannten Vorteilen wird hierdurch die deutsche Spitzentechnologie weltweit auf einem führenden Stand gehalten bzw. ausgebaut werden können mit all ihren positiven industrie- und beschäftigungspolitischen Aspekten.
Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr.
Herr Minister Krüger, ich freue mich natürlich sehr, daß Sie ein Buch von mir gelesen haben.
Darf ich Sie darauf aufmerksam machen und würden Sie mir bestätigen, daß im gleichen Buch im gleichen Absatz zu lesen ist, daß diese Strecke nicht in der Konkurrenz zum ICE, zur Rad-Schiene-Technik, realisiert werden sollte?
Herr Daubertshäuser, dazu habe ich auch gar nichts gesagt, und das war auch nicht meine Einlassung. Meine Betonung lag auf Ihrer damaligen Einschätzung des Fernverkehrs. Ich muß mich über Ihren heutigen Sinneswandel wundern. Sie haben mir, Herr Daubertshäuser, wenn es um Risiken ging, in Ihrer Rede heute zu oft „wenn, wenn, wenn" gesagt.
Übrigens, Herr Daubertshäuser, mit Ihrer ursprünglichen Einschätzung und Position befänden Sie sich auch heute noch in einer guten Gesellschaft mit vielen Ihrer Parteifreunde. Ich nenne hier nur die Namen Voscherau, Klose und auch Herrn Vosen, der hier vor mir sitzt. Oder haben Sie inzwischen auch Ihre Meinung geändert, was ich nicht einschätzen kann?
Mit Ihrem Leitantrag, den Sie vorgelegt haben, vereinen Sie, Herr Daubertshäuser, jetzt die unschlüssige, ziellose und vielstimmige Haltung der SPD quasi in einer Person. Dieser Antrag läuft darauf hinaus, zu verzögern, Irritationen hervorzurufen, und er führt letztlich dazu, öffentliche Gelder aus Halbherzigkeit zu vergeuden. Das ist meine feste Überzeugung.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie müssen sich schon entscheiden. Ein bißchen schwanger geht nicht.
Aus dem Transrapid läßt sich sinnvollerweise keine Vorortbahn machen. Wie wollen Sie mit Ihrer widersprüchlichen Haltung der Wirtschaft Planungssicherheit geben? Sie verspielen damit Vertrauen der Wirtschaft in die Politik.
Die Industrie hat den Vorstellungen, die Sie in Ihrem heutigen Leitantrag entfaltet haben, bereits eine klare Absage erteilt. Seit Jahren fordern Sie eine größere Bedeutung von Forschung und Technologie und in diesem Zusammenhang auch immer wieder die schnelle Umsetzung von technischen Grundlagen. Nun, in einer konkreten Bewährungsprobe, knicken Sie ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Dank gilt allen Abgeordneten, die sich im Vorfeld der Entscheidung für den Transrapid eingesetzt haben. Ich bin sicher, daß sie auch weiterhin für dieses wichtige Produkt und Projekt eintreten werden. Denn wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird, laufen wir Gefahr, daß auch diese Technologie — im wahrsten Sinne des Wortes — auf das Abstellgleis geschoben wird und daß wir dann später —
Herr Minister, Sie sind ein gutes Stück über Ihre Redezeit.
— ein weiteres Mal der Konkurrenz hinterherfahren.
Mit dem Beschluß der Bundesregierung zum Bau der Transrapidstrecke Hamburg-Berlin wird ein Weg eingeschlagen, der technisch machbar, finanziell darstellbar und wirtschaftlich vernünftig ist. Sie sollten diesen Beschluß unterstützen.
Vielen Dank.
Jetzt beginnt dieses Instrument wirklich ins Wanken zu kommen. Ich habe nämlich hier bereits schriftlich — von der zuständigen parlamentarischen Geschäftsführerin heraufgebracht — die Wortmeldung für eine Kurzintervention der Kollegin Bärbel Sothmann, die schon vor der Rede des Ministers wußte, daß sie nachher eine Kurzintervention machen will, was aber in diesem Hause nichts Unübliches ist. Ich will hier die Kollegin Sothmann nicht vorführen.
Dann meldet sich jetzt — offensichtlich auch zu einer Kurzintervention — der Kollege Feige.
Frau Kollegin Sothmann, da ich annehme, daß die Feigesche Wortmeldung in einem noch unmittelbareren Zusammenhang steht, möchte ich dem Kollegen Feige zuerst das Wort geben.
Schönen Dank, Herr Präsident. Ich bin Herrn Krüger für das Wortspiel mit meinem Namen nicht böse. Ich muß das korrekt sagen: Es gab schon originellere Versionen des Abgeordneten Krause , der sie sogar in Zeitungen veröffentlicht hat. Ich finde das erträglich.
Was ich viel schlimmer finde, ist, daß ich für Dinge angegriffen werde, die ich in meiner Rede nicht gesagt habe, die ich nie in die Öffentlichkeit gebracht
Dr. Klaus-Dieter Feige
habe und die hier in Abwesenheit des Ministers geäußert wurden.
Ich finde es viel schlimmer, wenn wir uns bei einer so teuren Sache nicht einmal mehr zuhören und in dieser Hinsicht eine sachliche Diskussion allein dadurch nicht möglich wird.
Herr Bundesminister, Sie dürfen antworten, wenn Sie wollen.
Herr Feige, ich bin eben durch einen Kollegen abgelenkt worden. Vielleicht können Sie den genauen Vorwurf wiederholen.
Machen Sie das dann im persönlichen Gespräch.
Bitte, Frau Kollegin Sothmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Forschungspolitiker haben den Beschluß des Kabinetts mit Nachdruck begrüßt: endlich grünes Licht für den Transrapid. Dieses ist eine Signalwirkung für den Technologiestandort Deutschland.
Meine Damen und Herren, am gleichen Tag, am 2. März, hat die SPD die Entscheidung allerdings abgelehnt, um dann gleich einen Alternativvorschlag zu bringen, nämlich den Bau der Kurzstrecke BerlinGroßflughafen bei Jüterbog, ca. 60 km südlich von Berlin.
Meine Damen und Herren, am 8. März ist dieses Alternativkonzept von der SPD dann auch noch beschlossen worden. Die Begründung haben wir gehört.
— So steht es zumindest in der Zeitung; dann nehmen Sie doch bitte einmal dazu Stellung. Denn, meine Damen und Herren, diesem Manöver würden wir widersprechen. Dieser Alternativvorschlag macht nämlich überhaupt keinen Sinn.
Ich darf fortsetzen: Ich kann gar nicht verstehen, daß Sie zu einem solchen Vorschlag kommen. Denn wenn Sie vom „Großflughafen Jüterbog" sprechen der weder endgültig beschlossen noch vollständig geplant ist —, dann frage ich Sie: Wann würden Sie diese Kurzstrecke überhaupt einrichten wollen? Das ist zeitlich gar nicht machbar. Damit degradieren Sie doch praktisch den Transrapid zu einer Vorortgeisterbahn.
Meine Damen und Herren, wir brauchen den Transrapid schnell, und zwar weil wir eben diesen Technologievorsprung haben; wir brauchen ihn unter anderem, weil der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, der hier sitzt, Arbeitsplätze braucht.
Frau Kollegin, die zwei Minuten sind um.
Das konterkarieren Sie.
Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne folgende Bemerkung machen, weil es hier gerade ein gewisses Maß an Echauffierung gab, als der Bundesminister nicht zuhören konnte.
Ich finde es ausgesprochen ärgerlich und wider das geschäftsordnungsmäßige Verhalten, wenn Kollegen, die der Bundesregierung nicht angehören, an die Regierungsbank herantreten, dort ihre privaten oder Wahlkreisangelegenheiten besprechen oder sich gar dort hinsetzen. Das gleiche gilt — das hat eben eine Kollegin der SPD vorgeführt — für die Bundesratsbank. Es macht schon einen gewissen Sinn, daß wir unseren Bundestag haben: Auf der einen Seite sitzt der Bundesrat, auf der anderen Seite die Bundesregierung. Daß man die Gelegenheit nutzt, bisweilen schnell etwas abzustimmen, ist in Ordnung. Aber wir wollen doch unsere Sitzordnung beibehalten und dafür sorgen, daß angesprochene Mitglieder des Bundesrates oder der Bundesregierung die Gelegenheit haben, zuzuhören. Wie gesagt, das ist keine Frage, die nur eine Seite betrifft.
Als nächster hat das Wort der Kollege Josef Vosen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, das Thema interessiert. Das zeigt die Zahl der Redebeiträge, die größer ist als das, was wir an Zeit zur Verfügung haben. Ich versuche in fünf Minuten einmal darzustellen — wie es viele Kollegen aus der Fraktion einmütig getan haben —: Wir sagen ja zu der Technologie des Transrapid, ganz eindeutig. Denn in erster Linie haben Sozialdemokraten diese Technologie entwikkelt, in über 20 Jahren.
— Es waren natürlich die Techniker und Ingenieure, die den Transrapid wirklich entwickelt haben, aber die politische Verantwortung — ob das jemand gern hört oder nicht — lag bei fünf sozialdemokratischen Ministern. Das muß einmal festgestellt werden.Nachdem das so ist, können Sie erst über den Transrapid dank sozialdemokratischer Politik reden. Sonst könnte man heute nicht darüber reden; sonst stünde diese Technik nicht zur Verfügung. Nachdem sie zur Verfügung ist, sind wir Sozialdemokraten auch für den Einsatz dieser Technik. Deswegen haben wir einen Vorschlag gemacht, der realistisch ist. Das unterscheidet uns, nämlich die Tatsache, daß wir einen Vorschlag machen, von dem wir glauben, daß er
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Josef Vosenauf einer kurzen, aber stark frequentierten Strecke schneller verwirklicht werden kann. Ich glaube, daß es wichtig ist, daß wir der Welt zeigen können, daß diese Technik funktioniert und angenommen wird, und das möglichst bald.
Ich muß ein bißchen lächeln. Der Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland hängt jetzt an einer Technologie, die nach den Unterlagen erst im Jahre 2003, also in zehn Jahren, demonstriert werden kann. Ich sage: armes Deutschland, das noch zehn Jahre warten muß, bis wir beweisen, daß mit dem Industriestandort Deutschland noch zu rechnen ist.
Das ist doch kein Argument.
meldet sich
zu einer Zwischenfrage)— Bitte schön, Herr Kollege.
— Entschuldigung, Herr Präsident, ich wollte nur mein Einverständnis signalisieren.
Aber das Wort erteilt der amtierende Präsident.
So ist es.
Bitte, Herr Kollege Scheffler.
Es ist ein sehr sympathischer Präsident.
Küß' die Hand.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Herr Kollege Vosen, stimmen Sie mir zu — da wir gerade über den Standort Deutschland und die Sicherung von Arbeitsplätzen reden —,
daß wir, obwohl die Bundesregierung die Option in der Diskussion zum Bundesverkehrswegeplan für den Ausbau der Strecke Hamburg-Berlin auf 160 km/h heruntergehandelt hat, wenn wir die Hochgeschwindigkeitsstrecke Hamburg-Berlin beginnen, sofort mit der Sicherung der Arbeitsplätze oder Schaffung neuer Arbeitsplätze beginnen können und daß wir für den ICE gerade die regionalen Arbeitsmarkteffekte viel früher, nämlich schon in den nächsten drei Jahren, hätten?
Das Argument Arbeitsplätze, Herr Kollege, ist in dem Zusammenhang sowieso ein Totschlagargument. Denn jedes Verkehrssystem schafft Arbeitsplätze, da gebe ich Ihnen völlig recht. Ich denke, daß wir das unter dem Strich auch aus dem Spiel lassen können, denn bei über vier Millionen Arbeitslosen rettet uns der Transrapid nicht. Das möchte ich eindeutig klarstellen.
Nun, meine Damen und Herren, komme ich noch einmal zu dem, was wir konkret wollen. Denn hier wird immer ein Standort in Berlin ins Spiel gebracht, den wir Sozialdemokraten nicht genannt haben. Die Presse nennt einen Standort. In unserem Papier heißt es eindeutig, daß wir ein solches System sinnvoll demonstrieren wollen, z. B. — wir sagen noch nicht einmal: der — in einer Verbindung Berlin-Großflughafen Brandenburg. Wir nennen keinen Standort, sondern das wollen wir den Berlinern und den Brandenburgern überlassen, die für die Raumplanung zuständig sind. Ich denke, daß ist Sache der zuständigen Landesregierungen. Deswegen wagen wir es nicht, hier einen präzisen Vorschlag zu machen.
Ich glaube, daß wir ganz eindeutig klar machen müssen, daß ein solches Verkehrssystem große Risiken und große Chancen zugleich bietet. Die Entwicklung eines Verkehrssystems ist immer langwierig, wie die Entwicklung der Eisenbahn, des Autos und des Flugzeugs beweist.
Wer glaubt, daß wir mit so langfristig angelegten Strategien, die man dazu braucht, kurzfristig Erfolge erzielen kann, kann das nur im Wahlkampf wollen. Das ist vielleicht ein Grund, daß dieses Thema jetzt so hochgezogen wird.
Aber ich sage Ihnen: Sie hätten besser vor zehn Jahren mehr für die Einführung der Mikroelektronik und anderer technischer Systeme getan. Das wäre sicherlich gut gewesen. Ich gebe natürlich zu, daß Heinz Riesenhuber seinerseits manchen Versuch gestartet hat, aber insgesamt ist das nicht übergekommen.
Ich glaube, daß wir auf vielen Feldern der Technologie deshalb Boden verloren haben, weil Sie seit zwölf Jahren die Regierung stellen. Ich glaube, das hat auch damit etwas zu tun.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich meine, wir sind heute aufgerufen, nach einem Konsens in der Sache und für dieses System zu suchen. Die Sozialdemokraten sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
Herzlich Dank.
Meine Damen und Herren, wir werden in gut 20 Minuten zur Abstimmung kommen. Bis dahin wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie den Rednern, die jetzt noch das Wort erhalten, zuhörten. Es gibt zwei Arten der Unruhe. Die eine wird durch den Redner ausgelöst, und die andere findet trotz des Redners statt. Gegen die erste ist nichts einzuwenden.
Ich erteile dem Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Berndt Seite, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich birgt jedes Vorhaben ein Risiko in sich. Unser ganzen Leben ist Risiko. Wenn wir den Risiken gefolgt wären, die vor der
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18666 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Ministerpräsident Dr. Berndt Seite
deutschen Einheit standen, dann hätten wir die Einheit Deutschlands noch heute nicht. Das muß man doch auch einmal ganz deutlich sagen.
Verehrter Kollege Dr. Feige, wir beide kommen aus dem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Nun sagen Sie doch Ihren Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Haus einmal ganz deutlich, was Sie in Mecklenburg-Vorpommem anstellen, indem Sie gegen den Bau der A 20 sind, indem Sie gegen den Bau neuer Straßen sind. Sie sind im Grunde genommen doch gegen die wirtschaftliche Entwicklung unseres Bundeslandes. Das kann doch so nicht sein.
Mit diesem Vorhaben Transrapid betreten wir Neuland. Neu ist nicht die Magnetschwebebahn selbst — Sie können sie im Emsland besichtigen —, neu ist auch nicht das vorgesehene Planungsverfahren. Das entspricht weitgehend dem, was in Gestalt des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes im Osten erstmals erprobt wurde. Neu ist das Konzept, das hinter dem Gesetzentwurf steht. Neu ist, daß ein technologisch fortentwickeltes Verkehrsmittel nach dem festen gemeinschaftlichen Willen von Bundesregierung und beteiligten Industrieunternehmen jetzt ohne zeitliche Verzögerung zur Anwendung gebracht werden soll. Neu ist aber auch, daß Industrie und öffentliche Hand nicht nur bei der Erforschung und Entwicklung, sondern auch bei der praktischen Umsetzung neuartiger Produkte im Sinne komplementärer Verantwortung zusammenwirken wollen.Die Bundesregierung hat mit ihrem Ja zum Bau der Magnetschnellbahnstrecke Hamburg-Berlin für den Wirtschaftsstandort Deutschland ein deutliches Zeichen gesetzt. Dafür gebührt ihr Dank.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Frage, wo die erste Anwendungsstrecke entsteht, eigentlich zweitrangig.
Die SPD will jetzt offenbar den Vorschlag aufgreifen, eine Verbindung zwischen Berlin und Jüterbog als erste Referenzstrecke zu erstellen. Heißt das, daß auch die SPD nun grünes Licht für den Transrapid geben will? — Ich bin mir da nicht sicher. Den Verdacht, daß die SPD ihre Zustimmung zu dieser wichtigen Entscheidung davon abhängig machen will, daß die Strecke in einem sozialdemokratisch regierten Bundesland gebaut wird, werden wohl alle zurückweisen. Bleibt der Verdacht, daß die SPD ihre Zustimmung an Bedingungen knüpfen will, deren Erfüllung so rasch nicht zu befürchten ist.
Dieser Gedanke drängt sich in der Tat auf, schaut man sich die derzeitigen Verhältnisse an.Wir haben beim Transrapid gegenüber den Japanern — wie bekannt — einen Entwicklungsvorsprung von etwa fünf Jahren. Die Zeit müssen wir nutzen. In bezug auf den Flughafen Jüterbog sieht die Terminplanung derzeit so aus, daß das vergleichende Raumordnungsverfahren für die drei denkbaren Flughafenstandorte Schönefeld, Jüterbog und Sperenberg im Mai begonnen werden soll. Im Frühjahr 1995 könnte die Standortentscheidung fallen und das Planfeststellungsverfahren 1995 beginnen, dessen Abschluß frühestens 1997 möglich ist. So lange können wir nicht warten.
Ich will ja gar nicht davon reden, daß man die erforderliche Referenzstrecke von ca. 60 km weitgehend durch die Berliner Innenstadt führen müßte. Dann wäre diese Transrapidstrecke mehr eine SBahn-Strecke mit vielen Haltepunkten.
Herr Ministerpräsident, der Kollege Kuhlwein möchte eine Zwischenfrage stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rede so selten hier vor dem Bundestag. Könnten wir vielleicht am Ende meiner Rede auf Ihre Frage zurückkommen, oder wird das auf meine Redezeit nicht angerechnet?
— Herr Kollege, bitte schön, fragen Sie.
Herr Ministerpräsident Seite, ich bin ja als unmittelbarer Anrainer und Nachbar des Landes Mecklenburg-Vorpommern diesem Land durchaus freundschaftlich verbunden und werde mich deswegen bemühen, mich in Ihre Interessenlage hineinzudenken, die dazu führt, daß Sie heute hier sprechen.
Da bekanntgeworden ist, daß Sie Bürgerinnen und Bürgern Ihres Landes an vielen Stellen versprochen haben, durch den Transrapid werde es zusätzliche Arbeitsplätze geben, frage ich Sie, ob Sie mir — erstens — erklären können, wie durch einen durchrauschenden Zug, der möglicherweise einen Bedarfshalt in Parchim oder in Schwerin hat, in Ihrem Land zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, und — zweitens — ob Ihnen entgangen ist, daß natürlich sämtliche Aufträge europaweit ausgeschrieben werden müssen, so daß überhaupt nicht sichergestellt ist, daß mecklenburg-vorpommerische Firmen oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus diesem Land nachher bei diesem Projekt auch wirklich beschäftigt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, hätten Sie mich zu Ende reden lassen, dann hätte ich Ihnen die Frage durch meinen Redetext beantwortet.Natürlich gehen wir davon aus, daß es im Bundesverkehrswegeplan einen Haltepunkt im Großraum Schwerin geben wird. Alle Welt weiß doch, daß ein solcher Haltepunkt natürlich Synergieeffekte hat, und alle Welt weiß auch, daß dieses Projekt Transrapid europaweit ausgeschrieben wird, aber daß wir, die neuen Bundesländer, bzw. unsere Nachbarn auch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18667
Ministerpräsident Dr. Berndt Seite
davon ausgehen können, daß wir bei der Herstellung der Magnetschwebebahn bzw. bei der Vorfertigung von Teilen im Land berücksichtigt werden und daß es natürlich auch Arbeitsplätze geben wird. Ich bin nicht so vermessen, hier von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen zu sprechen, aber wir werden dabeisein, genauso wie unsere Nachbarn in Brandenburg.
Der Herr Kollege Scheffler würde auch gerne eine Zwischenfrage stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Vielen Dank, Herr Präsident! Vielen Dank, Herr Ministerpräsident! Offensichtlich sind Sie ein bißchen toleranter als meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion.
Wir hatten ja soeben schon die Frage der Arbeitsplätze diskutiert. Herr Ministerpräsident, stimmen Sie mir denn zu, daß genau diese regionalen Arbeitsplätze — wenn wir mit dem Ausbau der Strecke Hamburg-Berlin im Rahmen des europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes sofort beginnen könnten; Rad-Schiene-Technik, also ICE — viel früher gesichert werden könnten
und daß wir dann zusätzliche Haltepunkte, nämlich für die Verlagerung des Güterverkehrs auch auf diese Strecke, realisieren könnten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es geht doch hier urn den Transrapid, um die wirtschaftspolitische Entscheidung für den Standort Deutschland. Das ist doch die Ausgangssituation.
Wir können ja nachher gern weiterdiskutieren. Ich muß Ihnen sagen: Meine Damen und Herren, wir wollen im wahrsten Sinn des Wortes den Zug nicht verpassen. Deshalb brauchen wir die Referenzstrecke für den Transrapid jetzt und nicht erst in drei oder vier Jahren. Unter diesem Aspekt ist die Verbindung Hamburg-Berlin die beste Wahl, und zwar aus mehreren Gründen.
Zum einen: Die schnellstmögliche Verbindung von Metropolen ist die Hauptfunktion des Transrapids. Ich gehe davon aus, daß Berlin als Bundeshauptstadt und Hamburg als Tor zur Welt selbst ein starkes Interesse an einer attraktiven Verbindung haben.
Nun mag in Mecklenburg-Vorpommern mancher lenken, Hamburg und Berlin würden damit zu VorDrten von Schwerin. Das ist nicht so.
Richtig ist, daß sich durch den Transrapid die Raumrelationen in Norddeutschland verändern werden.
Zum anderen: Die Strecke Hamburg-Berlin ist deshalb gut gewählt, weil sie in weiten Teilen durch dünnbesiedeltes Land führt.
Herr Ministerpräsident, ich muß Sie einen Moment unterbrechen. — Meine Damen und Herren, die Sie da oben stehen und Konferenzen abhalten: Bitte, wenn Sie sich unterhalten wollen, dann gehen Sie doch vor den Saal, damit ein Minimum an Zuhörmöglichkeit im Saal besteht.
Wir werden in frühestens 15 Minuten abstimmen.
Bitte, Herr Ministerpräsident, fahren Sie fort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Natürlich erhofft sich mein Bundesland Mecklenburg-Vorpommern — bzw. auch unsere Nachbarn — mit seinen wirtschaftlichen Problemen einen unmittelbaren Vorteil von der Magnetschwebebahn. Dabei sind wir mit unseren Erwartungen sehr realistisch. Wir wissen, daß die Arbeiten zum Bau des Fahrweges europaweit ausgeschrieben werden müssen. Gleichwohl rechnen wir damit, daß unsere einheimischen Stahl- und Betonbauunternehmen auf Grund ihrer Ortsnähe im Wettbewerb gute Chancen haben werden.
Die während der Bauphase entstehenden Arbeitsplätze sind für uns wichtig. Genauso wichtig sind die Dauerarbeitsplätze in den Leitstellen und in den Wartungszentren, die wir in mittelständischer Größenordnung sehen. Was die Verteilung dieser Arbeitsplätze angeht, gehe ich davon aus, daß die beteiligten Länder jeweils einen angemessenen Anteil daran haben werden.Meine Damen und Herren, wir wissen, daß die prognostizierten Fahrgastzahlen nur dann zu erreichen sind, wenn man mit dem Transrapid in das Herz der Städte Hamburg und Berlin gelangen kann. Wir wissen, daß die Kosten des Projekts noch einmal gegengerechnet werden müssen, wenn die genaue Trassenführung und die konkrete Bauweise feststehen.
Fest steht jedoch, daß der Transrapid gegenüber den heutigen modernen Rad-Schiene-Verkehrsmitteln eindeutig Vorteile aufweist.
Er ist vor allen Dingen umweltfreundlich, wie meineVorredner das schon geschildert haben. Ich denke,
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18668 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Ministerpräsident Dr. Berndt Seite
wer bei dieser Sachlage nicht zu einem positiven Votum und einem klaren Kurs gelangt, der, meine Damen und Herren, ist kurzsichtig.Wer in Sonntagsreden das Hohelied auf den technischen Fortschritt singt, aber dann vor dem Protest fundamentalistischer Technologiefeinde und ewiger Bedenkenträger in die Knie geht,
der — das sage ich Ihnen ganz klar; besonders mit Blick auf Teile der SPD in Schleswig-Holstein — hat keinen Mumm.
So läßt sich die Zukunft für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für das Leben und Arbeiten unserer Bürger nicht gestalten. Wir müssen über das Jahrtausend hinaus denken und danach handeln.Meine Damen und Herren, der Transrapid ist für mich nicht zuletzt deswegen ein Hoffnungsträger, weil er trotz aller Neuartigkeit auch für den Bürger noch begreifbar ist. Die Chancen und Risiken, die mit seiner Inbetriebnahme verbunden werden, sind überschaubar.Zwar hat der TÜV bestätigt, daß der Transrapid leiser als die anderen Massenverkehrsmittel zu Lande oder in der Luft ist. Aber heute laufen selbst solche Fakten Gefahr, in der medienunterstützten öffentlichen Diskussion zerredet zu werden. Die Reaktionen der Transrapidgegner, zu denen ich neben den sogenannten Umweltschützern auch die „Gralshüter der Eisenbahnschwelle" rechne, geben davon ein beredtes Zeugnis. Eine Versachlichung der Debatte ist vonnöten, wenn wir es jetzt nicht bei der Grundsatzentscheidung der Bundesregierung bewenden lassen, sondern entschlossen an die Umsetzung einer ersten Transrapidstrecke herangehen wollen.Meine Damen und Herren, auch wenn ich „Seite" heiße, will ich die gegen den Transrapid vorgebrachten Einwände gar nicht auf dieselbe wischen. Aber vielleicht gestatten Sie mir als jemandem, der aus dem Osten kommt, hierzu eine Anmerkung: Etliche meinen offensichtlich, dem Transrapidprojekt nur dann zustimmen zu können, wenn die zugrunde gelegten Prognosen auch sicher eintreffen. So etwas ist für mich kaum faßbar. Die Sicherheit, den Fortschritt gleichermaßen für sich gepachtet und seine Gesetzmäßigkeit erkannt zu haben, wurde uns in der DDR über vierzig Jahre als historische Errungenschaft erklärt. Aber jeder konnte die Kluft zur Realität sehen.
Meine Damen und Herren, nein, Fortschritt ist so einfach nicht zu haben. Er ist vor allen Dingen ohne Mut zur Entscheidung nicht zu erreichen. Diese Entscheidung ist verantwortbar. Ein Ja zur Transrapidstrecke Hamburg-Berlin ist ein Bekenntnis zum Technologie- und Wirtschaftsstandort Deutschland.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, meiner Hoffnung Ausdruck zu geben, daß dem Transrapidprojekt unter den heutigen föderalen Bedingungen ein ebenso gutes Schicksal beschieden sein möge wie dem Bau der Eisenbahn von Wismar nach Boizenburg 1837, bei dem die Anfrage beim Großherzog innerhalb von zwei Tagen positiv beschieden wurde.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Wolfgang Börnsen, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eine epochale Entscheidung, die heute ansteht, die Entscheidung für eine neue Technologie, für einen fünften Verkehrsträger, den es bisher weder bei uns noch irgendwo anders auf der Welt gegeben hat. Was Sie, die Sozialdemokraten, zur Zeit wollen und fordern, ist eine zweite Versuchsstrecke mit Kleinbahnzuschnitt. Dies läßt sich aber nicht verkaufen. Was sich verkaufen läßt, ist eine wirkliche, ernstzunehmende Referenzstrecke. Diese wollen wir, und diese ist jetzt notwendig.
Ich möchte mich jetzt mit der Brandrede auseinandersetzen, die Klaus Daubertshäuser gehalten hat. Ich nehme sie sehr ernst. Ihr verkehrspolitischer Sprecher hat sich vor sieben Jahren in einem Buch mit der Überschrift „Verkehrspolitik für das Jahr 2000" eindeutig für die Magnetbahntechnik ausgesprochen, und zwar vehement, ja sogar leidenschaftlich. Er schrieb bereits in seinem Buch vor sieben Jahren, diese Technik verdiene eine Umsetzung, und zwar auf einer Schnellbahnstrecke im Fernverkehr.
Er, Klaus Daubertshäuser, wollte keine Geisterbahn. Stehen Sie zu Ihren Worten!
Weitsichtig, wie Klaus Daubertshäuser nun einmal ist, hat er gesagt, es gehe nicht nur um eine verkehrspolitische Entscheidung. Man müsse daran denken, daß damit die führende Position des Industriestandortes Deutschland gesichert werde, daß der Arbeitsmarkt und die Beschäftigung gesichert würden. Deshalb war man bereits vor sieben Jahren für den Transrapid.Jetzt hat er kaschiert eine Brandrede gegen den Transrapid gehalten.
Ich frage mich: Warum ist aus dem Paulus vor sieben Jahren heute ein Saulus geworden?
Es kann doch nicht an den verkehrspolitischen Erfordernissen gelegen haben. Im Gegenteil: Die Kapazitätsengpässe auf den Autobahnen und im Flugverkehr sind mehr geworden, und der Transrapid ist eine echte, weil zeitgewinnende Umsteigealternative.
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Wolfgang Börnsen
Oder hat es vielleicht, Klaus Daubertshäuser, an den energiepolitischen Punkten gelegen? — Das kann es auch nicht sein. Der Transrapid braucht gegenüber vergleichbaren Verkehrsträgern ein Drittel weniger an Energie.Oder hat es vielleicht an dem umweltpolitischen Gesichtspunkt gelegen?
Der Stelzenexpress ist geräuschärmer als jeder vergleichbare Verkehrsträger. Er ist nicht nur geräuschärmer; er braucht weniger Landschaft, er zerschneidet nicht wie Bahndamm oder Straße die Landschaft, und er trägt dazu bei, daß umweltpolitisch Rücksicht genommen und nicht im Gegenteil Schaden angerichtet wird.
Finanzpolitisch kann es auch nicht begründet gewesen sein, denn dieser Verkehrsträger ersetzt das Auto, macht den Regionalflugverkehr überflüssig und führt dazu, daß wir eine Chance zur Ergänzung der Bahn mit einem Verkehrsträger haben, der diesen Technologiestandort Deutschland nach vorne bringt.Nicht nur Klaus Daubertshäuser ist gegen den Transrapid und diese Referenzstrecke; auch in Schleswig-Holstein gibt es vehemente Gegner, die diese Strecke von Hamburg nach Berlin ablehnen, obwohl noch vor zwei Jahren der Wirtschaftsminister von Schleswig-Holstein zu einer Werbefahrt ins Emsland eingeladen hat, zur Werbung für den Transrapid.
Aber mit der Zunahme der Proteststimmen änderte sich die Meinung, und heute stimmt man gegen den Transrapid.Obwohl — das muß man auch wissen -- eine achtjährige Bauzeit Jahr für Jahr 10 000 Arbeitsplätze sichert, obwohl die Inbetriebnahme 1 000 neue Dauerarbeitsplätze gewährleistet, obwohl mit dem Transrapid 3 Millionen weniger Autos zwischen Hamburg und Berlin verkehren werden, es Tausende von Flugbewegungen weniger sein werden, obwohl ein ökologisch sinnvoller Verkehrsträger eingestellt wird, obwohl die Bahn für den Güterverkehr mehr Kapazität bekommt, die Straße entlastet wird, obwohl der ÖPNV durch bahnzubringende Dienste gestärkt wird, obwohl damit die beiden größten Wachstumstädte Deutschlands miteinander effektiv und erfolgversprechend verbunden werden und obwohl damit Norddeutschland insgesamt ein Industrie- und technologisches Aushängeschild par excellence bekommen wird, sind Niedersachsen und Schleswig-Holstein absolut dagegen, trotz der Standortvorteile. Ich frage mich, warum. Warum bleibt man beim Nein? — Es gibt, denke ich, eine Strategie, auf die man diese gesamte Taktik zurückführen kann.Die politischen Magnetbahngegner haben kein Brett vor dem Kopf, aber sie kalkulieren ganz nüchtern: Laßt doch die Koalition die Kastanien aus dem Feuer holen. Das machen wir nämlich auf Kosten von Wählern.
Bitte zum Schluß kommen.
Wir kommen dazu, daß wir vor den GRÜNEN Wähler einkassieren und damit im Wahljahr für uns Profit haben. — Ich glaube sehr wohl, daß diese Entscheidung zwar eine mutige Entscheidung sein muß, aber eine Entscheidung für den Standort Deutschland ist. Sie ist verbunden mit Risiko und Wagnis. Diesen Mut wünsche ich mir auch von denen, die einmal vor sieben Jahren gesagt haben, daß diese Technik ein Vorteil für uns alle ist. Haben Sie Mut, Klaus Daubertshäuser!
Das Wort hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Ich freue mich. Wie beim Pokern, wieder einmal Full house.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn der Transrapid tatsächlich eine 60jährige Vorgeschichte hat, dann gehört er womöglich zum vorigen Kondratieff-Zyklus, nach dem alle 50 bis 60 Jahre eine Welle technischer Innovationen kommt. Vielleicht ist diese Technik doch nicht so ganz modern. Die Gefahr ist nun wirklich groß, daß das Projekt Transrapid eines der typischen Großtechnologie-Prestigeprojekte ist und sein wird und zu einem weiteren Milliardengrab gerät. Die Entscheidung für Transrapid scheint in jedem Fall eine verhängnisvolle industriepolitische Fehlentscheidung zu sein und trägt dazu bei, die verhängnisvolle Prioritätensetzung zugunsten von High-Tech/High-Speed-Verkehrskonzepten, also Konzepten, die auf Spitzentechnologien und Spitzengeschwindigkeiten beruhen, voranzutreiben. Das ist unökologisch, und das ist, weil viel zu viele Mittel für viel zuwenig Arbeitsplätze ausgegeben werden, zugleich auch unsozial.Ich will aber noch einige grundlegende Anmerkungen zum Verhältnis von Technologie, Technologieentwicklung und Arbeitsmarkt machen. Die Novellierung der Arbeitszeitordnung von 1938 ist überfällig. Es ist sicherlich nicht einfach, einschneidende Veränderungen bei den Arbeitszeitregelungen in einer tiefen Wirtschaftskrise wie derzeit und in Zeiten einer Massenarbeitslosigkeit, die selbst die früher gemachten düsteren Prognosen zur Arbeitslosigkeit inzwischen überholt hat, durchzusetzen. Dennoch ist es notwendig. Der Entwurf der SPD zu einem Arbeitszeitgesetz, aber auch etliche der hier vorgetragenen Vorstellungen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tragen in wesentlichen Punkten den Notwendigkeiten in den Betrieben aus der Sicht der betroffenen Arbeiter, Angestellten und Beamten durchaus Rechnung. Das sind weitaus mehr als 80 % der Beschäftigten. Diese Notwendigkeiten sind vor allem Ergebnis langfristiger, zum Teil säkularer Trends in der Veränderung der technischen Ausstattung der Betriebe und bei der Neukonzipierung von Organisationsstrukturen in den Betrieben und um die Betriebe herum.
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18670 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Ulrich BriefsIn über 40 Jahren industrieller Nachkriegsentwicklung hat sich das Verhältnis des Einsatzes von Maschinenarbeit zu menschlicher Arbeit in den Betrieben dramatisch geändert. In der Industrie, aber zunehmend auch im Dienstleistungsbereich und in der Verwaltung kann mit modernen Methoden und Maschinen mit entsprechend entwickelten Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen heute in einer Stunde soviel produziert werden wie Anfang der 50er Jahre in mehreren Monaten. Der Einsatz der Information- und Kommunikationstechnologien hat die Kopfarbeit in weiten Bereichen bereits automatisiert. Weitere Veränderungen im Zusammenhang mit der sogenannten systemischen Rationalisierung und mit komplexen Automationsprojekten vom Typ computer integrated manufacturing z. B. stehen an.Ein erster durchgreifender Effekt — daran lügt sich diese Koalition immer noch vorbei — ist die weitere laufende Verkürzung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, ein säkularer Prozeß, der so alt ist wie die industrielle Produktionsweise überhaupt. Wer in dieser Situation wie die Koalition von Arbeitszeitverlängerung redet, handelt den Notwendigkeiten zuwider. Er läßt die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen.
Herr Kollege Briefs, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. — Meine Damen und Herren, Kollege Briefs hat als fraktionsloser Abgeordneter nun einmal das Schicksal, bei solchen Gelegenheiten als letzter zu reden.
Ich bitte Sie, in den wenigen Minuten bis zur Abstimmung wenigstens ein Minimum an Ruhe zu gewährleisten.
Bitte fahren Sie fort.
Herr Präsident! Sie haben vorhin eine Anmerkung über zwei Arten von Unruhe gemacht. Ich weiß es richtig einzuschätzen.
Die Ausdehnung der Maschinenlaufzeiten macht im Grunde sogar noch zusätzliche Arbeitszeitverkürzungen notwendig. Längere Maschinenlaufzeiten führen zur Konzentration der Aufträge auf die modernen Anlagen. Bei allgemeinen Überkapazitäten hat heute jeder Betrieb modernere Aggregate mit geringerem Bedienungsaufwand und weniger moderne Aggregate mit höherem Bedienungsaufwand. Verlängerung der Maschinenlaufzeiten bedeutet daher Wegfall von weiteren sonst notwendigen Arbeitsstunden. Daran kann man nicht vorbeigehen. Deshalb muß eine Verlängerung der Maschinenlaufzeiten von weiteren Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung begleitet werden.
Die Gewerkschaften, unter dem zunehmenden Druck der Arbeitsmarktentwicklung, sind hier aufgeschlossener als Staat und Wirtschaft. Sie bieten inzwischen Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich an, und das bei einem monatlichen Nettodurchschnittseinkommen von etwas über 2 500 DM je Arbeitnehmer. Flexibilisierungsmaßnahmen in bezug auf den Arbeitseinsatz haben ähnliche Auswirkungen wie die Verlängerung der Maschinenlaufzeiten. Sie konzentrieren die bezahlte Arbeitszeit auf die produktive Zeit. Unproduktive Zeiten, Pausen, Verteilzeiten usw., werden abgebaut. Ergebnis: Noch weniger notwendige Arbeitszeit bleibt übrig. Die Arbeitskräfte werden umgekehrt in der verbleibenden Arbeitszeit stärker in Anspruch genommen. Dabei erreichen heute bereits nicht einmal die Hälfte der Arbeiter das frühere traditionelle Rentenalter von 65, ganz überwiegend, weil sie im Arbeitsprozeß verschlissen worden sind. Auch bei Angestellten erreichen nur zwei Drittel das traditionelle Rentenalter.
Herr Briefs, Ihre Redezeit ist um.
Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz.
Vor diesem Hintergrund bleibt die Humanisierung der Arbeit — aber auch dort ist doch diese Koalition seit Jahren dabei, zusammenzustreichen und abzubauen — daher nach wie vor eine grundlegende Aufgabe in guten Zeiten wie in weniger guten Zeiten.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich höre gerade Unmut wegen Überziehens der Redezeit. Die großen Fraktionen haben die Redezeiten heute sehr stark in Anspruch genommen, Herr Kollege. Da wollen wir gegenüber einem einzelnen ein bißchen tolerant sein.
Meine Damen und Herren, ich habe hier eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung, die zu Protokoll gegeben wird. Der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff und eine Reihe weiterer Kolleginnen und Kollegen haben sie zum Arbeitszeitrechtsgesetz verfaßt. *
Nach § 31 hat sich der Kollege Georg Gallus zu Wort gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, melde ich mich hier zu Wort. Ich habe in meinem ganzen parlamentarischen Leben noch nie eine Rede zu Protokoll gegeben und habe immer frei geredet. So steht es nämlich in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages.
Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich Ihnen erklären, weshalb ich dem Arbeitszeitrechtsgesetz nicht zustimmen werde. Ich tue es nicht etwa deshalb, weil ich nicht der Auffassung bin, daß mehr Flexibilität auf dem deutschen Arbeitsmarkt und für den Standort Deutschland stattzufinden hätte. Aber ich stimme deshalb dagegen, weil ich glaube, daß in bezug auf die Sonntagsarbeit mit § 13 Abs. 5 über das Ziel hinausgeschossen worden ist.
* Anlage 3
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18671
Georg GallusDas kann man noch so sehr beschönigen wollen —Herr Kollege Laumann, ich nehme Ihnen das nicht übel —, aber daß Sie gleich zu Beginn diejenigen, die in dieser Frage anderer Auffassung sind, als Fundamentalisten bezeichnen
und gleichzeitig darauf hingewiesen haben, aus Wettbewerbsgründen müsse an den Sonntag herangegangen werden, das geziemt sich für das Mitglied einer christlichen Partei nicht.
— Meine Damen und Herren, ich will hier keinen Beifall von Ihnen, von der SPD.
Ich kann Sie nicht daran hindern.Mir braucht niemand zu erklären, was Sonntag bedeutet, auch für den Landwirt, daß nämlich Vieh gefüttert werden muß, unsere Kranken gepflegt werden müssen und daß der Verkehr stattfinden kann
und manche Forschungsvorhaben fortgeführt werden müssen.— Entschuldigung, meine Damen und Herren, die Frage ist doch nur die,
ob die Erosion des Sonntags jetzt per Gesetz so weitergehen soll. Das ist die entscheidende Frage, vor der wir stehen.
Man erzählt uns, dies sei aus Wettbewerbsgründen notwendig, weil alle anderen in Europa das machen. Es steht ja in diesem Absatz: „wegen längerer Betriebszeiten ... im Ausland". Es heißt: Dann vergleichen wir uns gleich mit China.
Denen rennen wir hintendrein und glauben, daß wir aus einer solchen Entwicklung noch herauskommen, ohne daß wir uns total verheddern. Gleichzeitig, meine Damen und Herren, beklagen wir aber in unserem Volk gewaltige Werteverluste. Ich frage: Woran soll man sich eigentlich noch orientieren wenn nicht am christlichen Glauben?Die Beamten müssen dann nachher — das ist ja das Paradoxe an dieser Formulierung — entscheiden, ob das genehmigt wird oder nicht. Wenn sie es prüfen sollen, dann dauert das sehr lange. Dann ist diese Firma sowieso kaputt, die anstatt 144 Stunden 168 Stunden arbeiten will. Prüfen sie es nicht und machen sie es aus der Lamäng heraus, dann ist der Sonntag kaputt, weil dann am Sonntag zuviel gearbeitet wird — aus Wettbewerbsgründen angeblich.Ich sage: So, wie das gemacht wird, ist es ein direkter Verstoß gegen das dritte Gebot.
Es wird, meine Damen und Herren, auf einer solchen Politik und auf solcher Arbeit auf Dauer kein Segen ruhen. Scheibchenweise gäben wir unsere christliche Einstellung einem weltweiten Fundamentalismus preis.Ich meine, uns Deutschen — im Land Martin Luthers — würde es gut anstehen, wenn wir in Europa dafür eintreten würden, daß in ganz Europa nur 144 Stunden gearbeitet wird. Darüber hinaus, meine Damen und Herren, haben wir immer noch die Möglichkeit, im GATT Regelungen zu finden, daß wir, wenn wir den Sonntag achten, auf der anderen Seite nicht mit Dumping unterlaufen werden. Haben wir uns denn schon selber in der geistigen internationalen Auseinandersetzung aufgegeben, meine Damen und Herren?
Ich sage Ihnen: 144 Stunden und die Rückbesinnung auf unsere christlichen Werte würde uns in der Zukunft weiterbringen als das, was heute hier beschlossen wird.
Ich schließe die Aussprache.Ich würde Sie gerne über das weitere Verfahren informieren. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6964 und 12/6983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Das Magnetschwebebahnplanungsgesetz auf Drucksache 12/7006 soll zusätzlich an den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und an den Finanzausschuß überwiesen werden.Der Bericht über das Finanzierungskonzept für den Transrapid auf Drucksache 12/6964 soll dem Haushaltsausschuß, jedoch nur zur Mitberatung, und zusätzlich dem Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts auf den Drucksachen 12/5888 und 12/6990 Buchstabe a in der Ausschußfassung.Die Fraktion der SPD hat zu Art. 1 § 13 Abs. 5 namentliche Einzelabstimmungen verlangt.Ich rufe zunächst Art. 1 § 1 bis 13 Abs. 4 in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.
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18672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Vizepräsident Hans KleinIch rufe Art. 1 § 13 Abs. 5 in der Ausschußfassung auf. Die Fraktion der SPD verlangt dazu namentliche Abstimmung.Ich eröffne die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.Meine Damen und Herren, wir setzen die Abstimmung fort. Ich rufe Art. 1 § 14 bis Art. 19, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über Art. 1 § 13 Abs. 5 des Arbeitszeitrechtsgesetzes auf den Drucksachen 12/5888 und 12/6990 Buchstabe a bekannt. Abgegebene Stimmen: 533. Mit Ja haben gestimmt: 318.
— Die Begeisterungsstürme halten sich in Grenzen. — Mit Nein haben gestimmt: 209. Enthaltungen: 6.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 529; davon:ja: 315nein: 208enthalten: 6Ja CDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter Baumeister, BrigitteBelle, MeinradDr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-DirkDr. Blank, Joseph-Theodor Blank, RenateDr. Blens, HeribertBleser, PeterDr. Blüm, NorbertBörnsen , Wolfgang Bohl, FriedrichBohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Brähmig, KlausBreuer, Paul Brunnhuber, Georg Bühler , Klaus Büttner (Schönebeck),HartmutBuwitt, Dankward Carstensen , Peter HarryDempwolf, Gertrud Deres, KarlDeß, AlbertDiemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Ehlers, Wolfgang Eichhorn, MariaEngelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eylmann, HorstFalk, IlseDr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, JochenDr. Fell, Karl H.Fischer , Dirk Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-JoachimGanz , Johannes Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geiger, MichaelaGeis, NorbertDr. Geißler, HeinerDr. von Geldern, Wolfgang Gerster , Johannes Gibtner, HorstDr. Göhner, Reinhard Götz, PeterDr. Götzer, Wolfgang Gres, JoachimGrochtmann, Elisabeth Gröbl, WolfgangGrotz, Claus-PeterDr. Grünewald, Joachim Frhr. von Hammerstein,Carl-DetlevHarries, KlausHaschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, RainerHauser , Otto Hauser (Rednitzhembach), HansgeorgHedrich, Klaus-Jürgen Heise, ManfredDr. h. c. Herkenrath, Adolf Dr. Herr, NorbertHiebing, Maria Anna Hinsken, ErnstHörsken, Heinz-Adolf Hörster, JoachimDr. Hoffacker, Paul Hollerith, JosefDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, HubertDr. Jahn ,Friedrich-AdolfJanovsky, GeorgJeltsch, KarinDr. Jobst, DionysDr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Kahl, HaraldKalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, VolkerKiechle, IgnazKittelmann, PeterKlein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Köhler , VolkmarKolbe, ManfredKoschyk, Hartmut Kossendey, Thomas Kraus, RudolfDr. Krause , GüntherKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, KarlDr. Lammert, Norbert Lamp, HelmutLattmann, Herbert Dr. Laufs, PaulLaumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Dr. Lehr, UrsulaDr. Lieberoth, Immo Limbach, EdithaLink , Walter Lintner, EduardDr. Lippold , Klaus W.Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, SigrunLohmann , WolfgangLouven, JuliusLummer, Heinrich Dr. Luther, MichaelMaaß , Erich Männle, UrsulaMagin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marschewski, Erwin Marten, GünterDr. Mayer , MartinMeckelburg, Wolfgang Meinl, RudolfDr. Meyer zu Bentrup, ReinhardMichalk, MariaMichels, Meinolf Molnar, ThomasMüller , ElmarDr. Neuling, Christian Neumann , Bernd Nitsch, JohannesDr. Olderog, Rolf Ost, FriedhelmOswald, EduardOtto , Norbert Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeifer, AntonPfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero Dr. Pinger, Winfried Pofalla, RonaldDr. Pohler, Hermann Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Raidel, HansDr. Ramsauer, Peter Rau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, WilhelmRegenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, ErikaDr. Rieder, NorbertDr. Riedl , Erich Riegert, KlausRingkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),HanneloreRomer, FranzDr. Rose, KlausRossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Rühe, VolkerDr. Rüttgers, Jürgen Sauer , Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Schätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Scharrenbroich, Heribert Schell, ManfredScheu, GerhardSchmalz, UlrichSchmidbauer, Bernd Schmidt , ChristianDr.-Ing. Schmidt ,JoachimDr. Schmidt, Christa Schmitz , Hans Peter
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18673
Vizepräsident Hans Kleinvon Schmude, MichaelDr. Schockenhoff, Andreas Graf von SchönburgGlauchau, Joachim Frhr. von Schorlemer,ReinhardSchulhoff, Wolfgang
Schulz , Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, StefanDr. Schwörer, Hermann Seehofer, HorstSeesing, Heinrich Seibel, WilfriedSikora, JürgenSothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter Dr. Sprung, RudolfSteinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, HansDr. Frhr. von Stetten,WolfgangStockhausen, KarlDr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, MichaelDr. Süssmuth, Rita Susset, EgonTillmann, FerdiDr. Töpfer, KlausDr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, GunnarVerhülsdonk, Roswitha Vogel , Friedrich Vogt (Duren), WolfgangDr. Voigt ,Hans-PeterDr. Vondran, RuprechtGraf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wetzel, KerstenWiechatzek, Gabriele Dr. Wilms, Dorothee Wilz, BerndWimmer , Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, Fritz Wittmann ,SimonWonneberger, Michael Wülfing, ElkeWürzbach, Peter Kurt Yzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaDr. Babel, GiselaBaum, Gerhart RudolfDr. Blunk , Michaela Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),Dieter-JuliusEngelhard, Hans A.van Essen, JörgDr. Feldmann, OlafFriedhoff, Paul K.Friedrich, HorstFunke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGanschow, JörgGenscher, Hans-DietrichGrüner, MartinGünther , Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hansen, DirkDr. Haussmann, Helmut Heinrich, UlrichDr. Hirsch, BurkhardDr. Hitschler, Walter Homburger, BirgitDr. Hoth, SigridIrmer, UlrichKleinert , Detlef Kohn, RolandDr. Kolb, Heinrich L. Leutheusser-Schnarrenberger, SabineLüder, WolfgangLühr, UweMöllemann, Jürgen W. Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, RainerOtto , Hans-JoachimPaintner, JohannParr, DetlefPeters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , ManfredRind, HermannDr. Röhl, KlausSchmidt , Arno Dr. Schmieder, Jürgen Dr. Schnittler, Christoph Schüßler, GerhardSehn, MaritaDr. Semper, SigridDr. Solms, Hermann Otto Dr. Starnick, JürgenDr. Thomae, DieterTimm, JürgenTürk, JürgenWalz, IngridDr. Weng , WolfgangWolfgramm , TorstenWürfel, UtaZurheide, BurkhardZywietz, WernerNeinCDU/CSUFockenberg, Winfried Jäger, ClausSPDAdler, BrigitteAndres, GerdAntretter, RobertBachmaier, HermannBarbe, AngelikaBartsch, HolgerBecker , Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Beucher, Friedhelm Julius Bindig, RudolfBock, TheaDr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, AnniDr. Brecht, EberhardBüchner , Peter Büttner (Ingolstadt), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, UrsulaBury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter Daubertshäuser, KlausDr. Diederich , Nils Diller, KarlDr. Dobberthien, Marliese Ebert, EikeDr. Eckardt, Peter Eich, LudwigDr. Elmer, Konrad Esters, HelmutEwen, CarlFerner, ElkeFischer , EvelinFischer , Lothar Formanski, Norbert Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, NorbertDr. Gautier, Fritz Gilges, KonradGleicke, IrisGroßmann, Achim Haack ,Karl Hermann Habermann, Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel Hasenfratz, Klaus Heistermann, Dieter Hiller , Reinhold Hilsberg, StephanHorn, ErwinIbrügger, Lothar Iwersen, Gabriele Jäger, RenateJanz, IlseDr. Janzen, Ulrich Jaunich, HorstDr. Jens, UweJungmann , Horst Kastner, SusanneKirschner, Klaus Klappert, MarianneDr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, SiegrunKlose, Hans-UlrichDr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbe, ReginaKolbow, Walter Koltzsch, RolfKubatschka, Horst Dr. Kübler, Klaus Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigittevon Larcher, Detlev Leidinger, Robert Lennartz, Klaus Lörcher, ChristaDr. Lucyga, Christine Maaß , Dieter Marx, DorleMascher, Ulrike Mattischeck, Heide Mehl, UlrikeDr. Mertens , Franz-JosefDr. Meyer , Jürgen Mosdorf, SiegmarMüller , Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, EdithDr. Niese, Rolf Niggemeier, Horst Odendahl, Doris Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan Ostertag, AdolfDr. Otto, Helga Palis, KurtPaterna, PeterDr. Penner, Willfried Peter , Horst Dr. Pfaff, MartinDr. Pick, Eckhart Poß, JoachimReimann, Manfred von Renesse, Margot Rennebach, Renate Reschke, OttoReuschenbach, Peter W. Reuter, BerndRixe, GünterSchaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter Scheffler, Siegfried Schily, OttoSchloten, Dieter Schluckebier, GünterSchmidt , Ursula Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schmude, Jürgen Dr. Schnell, EmilDr. Schöfberger, Rudolf Schreiner, Ottmar Schröter, GiselaSchutz, DietmarSchulte , BrigitteDr. Schuster, R. Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf Seidenthal, Bodo Seuster, LisaSielaff, HorstSimm, ErikaSinger, JohannesDr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, WielandSteen, Antje-Marie Steiner, Heinz-AlfredTappe, Joachim Terborg, Margitta Dr. Thalheim, GeraldToetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, SiegfriedDr. Vogel, Hans-JochenVoigt , Karsten D. Wagner, Hans Georg Wallow, HansWaltemathe, Ernst Walter , RalfWalther , Rudi Wartenberg (Berlin), GerdDr. Wegner, Konstanze Weiermann, WolfgangWeiler, Barbara Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Dr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Westrich, LydiaDr. Wetzel, Margrit Weyel, GudrunDr. Wieczorek, Norbert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wimmer ,HermannDr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, HannaZapf, UtaDr. Zöpel, Christoph
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18674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Vizepräsident Hans Klein F.D.P.Gallus, GeorgPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Enkelmann, DagmarDr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth Dr. Gysi, Gregor Henn, BerndDr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, UllaDr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Dr. Schumann ,FritzDr. Seifert, IljaStachowa, AngelaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, IngridDamit ist Art. 1 § 13 Abs. 5 angenommen. Damit ist auch der Gesetzentwurf in zweiter Beratung insgesamt angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. — Gegenprobe! — Wer wünscht sich seiner Stimme zu enthalten? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes, Drucksache 12/5282. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/6990 unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5282 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21a bis j und 12 sowie den Zusatzpunkt 5 a bis c auf:21. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen und anderer Vorschriften über Kreditinstitute— Drucksache 12/6957 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Rechtsausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Lebensmittel-und Bedarfsgegenständegesetzes— Drucksache 12/6992 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit RechtsausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 25. September 1991 zum Chloridübereinkommen/ Rhein
— Drucksache 12/6971 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umweltwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOd) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Bundesfinanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau
— Drucksache 12/6880 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOe) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz— Drucksache 12/6915 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschußf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15. Juli 1993 über den Rechtsstatus des Internationalen Suchdienstes in Arolsen— Drucksache 12/6824 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußHaushaltsausschußg) Erste Beratung des von den Abgeordneten Manfred Carstens , Norbert Geis, Dr. Walter Franz Altherr und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Abtreibungsstrafrechts und zur Regelung der staatlichen Obhut unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993— Drucksache 12/6944 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß Schutz des ungeborenen Lebens
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für GesundheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOPoppe, GerdSchenk, ChristinaSchulz , Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), KonradFraktionslosDr. Briefs, UlrichDr. Krause , Rudolf KarlLowack, OrtwinEnthaltenCDU/CSUBrudlewsky, MonikaDehnel, WolfgangErler , Wolfgang Göttsching, MartinDr. Jüttner, EgonSchmidt , Trudi
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18675
Vizepräsident Hans Kleinh) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der von den britischen Streitkräften freigegebenen bundeseigenen Wohnsiedlung in Soest— Drucksache 12/6879 —Überweisung svorschlag: Haushaltsausschußi) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDSeerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen— Drucksache 12/6394 —Überwei sungsvo rschlag:Auswärtiger Ausschuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRehabilitierung, Entschädigung und Versorgung für die Opfer der NS-Militärjustiz— Drucksache 12/6418 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften — GKV-Anpassungsgesetz —
— Drucksache 12/6958 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit InnenausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungZP 5 weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Herbert Werner , Hubert Hüppe, Claus Jäger und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der ungeborenen Kinder (GSuKi)— Drucksache 12/6988 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß Schutz des ungeborenen Lebens
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für GesundheitHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Kostengesetzen und anderen Gesetzen
— Drucksache 12/6962 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen, Dr. Helga Otto, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFörderung der Industrieforschung in den neuen Ländern— Drucksache 12/6745 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Bildung und WissenschaftAusschuß TreuhandanstaltHaushaltsausschußInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Besteht damit Einverständnis? — Das ist offensichtlich der Fall. Darm sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22a bis e auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und anderer Gesetze— Drucksache 12/5834 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des In-nenausschusses
— Drucksache 12/7030 —Berichterstattung:Abgeordnete: Uwe Lambinus Meinrad BelleWolfgang Lüderbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/7031 —Berichterstattung:Abgeordnete: Karl DeresIna AlbowitzRudolf Purpsb) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes— Drucksache 12/6586 —
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18676 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Vizepräsident Hans KleinBeschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/7003 —Berichterstattung:Abgeordnete Gerd Wartenberg
Franz Heinrich KreyDr. Burkhard Hirschc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur Beseitigung des Analphabetismus in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft— Drucksachen 12/4976, 12/6670 — Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerDr. Peter EckardtDirk Hansend) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung— Drucksachen 12/6430 Nr. 2.1, 12/6952 — Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter PaziorekKlaus LennartzDr. Jürgen Starnicke) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 144 zu Petitionen— Drucksache 12/6948 —Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und anderer Gesetze, Drucksache 12/5834.Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7030, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer will den Gesetzentwurf in dritter Beratung ablehnen? — Niemand. Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache 12/6586; das ist Punkt 22 b der Tagesordnung. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7003, den Gesetzentwurf unverändert zu übernehmen. Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte alle, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 22c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zur Entschließung des Europäischen Parlaments zur Beseitigung des Analphabetismus in den Mitgliedstaaten der EG — Drucksachen 12/4976 und 12/6670 —. Wer stimmt für diese Beschlußernpfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich?— Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 22d: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu einem Richtlinienvorschlag der EG über die Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung — Drucksache 12/6952 —. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich?— Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Enthaltungen angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 22 e: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/6948. Das ist die Sammelübersicht 144. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?— Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde— Drucksache 12/6965 —Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung der Fragen ist die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl eingetroffen.Die Fragen 13, 27 und 14 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 15 auf, die die Kollegin Uta Würfel gestellt hat:Welche Gründe hat die Bundesregierung, sich auf eine nicht zuständige Einrichtung wie die Bundesärztekammer in Sachen hämatogene Oxydationstherapie (HOT) zu stützen, und welche Hindernisse sieht die Bundesregierung, die HOT vom Index der Beihilfevorschrift zu streichen, nachdem mit Drucksache 12/5268, Anlage 10, die Bundesregierung mitgeteilt hat, daß es sich bei der HOT nach Mitteilung des wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer um kein wissenschaftlich allgemein anerkanntes Behandlungsverfahren handelt, und aus einem Schriftwechsel des Zentrums zur Dokumentation für Naturheilverfahren e. V. (ZDN) mit dem wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer (veröffentlicht in der Zeitschrift Raum & Zeit 63/93, Seite 65) hervorgeht, daß die Bundesärztekammer sich für Methodenfragen als nicht zuständig erklärt hat?Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18677
Frau Kollegin Würfel, nach § 6 Abs. 2 Satz 1 der Beihilfevorschriften ist der Bundesminister des Innern befugt, wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethoden von der Beihilfe ganz oder teilweise auszuschließen. Von der Ausschlußmöglichkeit hat der Bundesminister des Innern bisher dann Gebrauch gemacht, wenn die Wirksamkeit der Methoden nicht hinreichend nachgewiesen ist und/oder die Behandlung zu einer Gefährdung des Patienten führen kann.
Wie ich Ihnen auf Ihre Frage in der Drucksache 12/5268 bereits geantwortet habe, kann die wissenschaftliche Bewertung eines Verfahrens nur von Wissenschaftlern selbst auf der Grundlage von deren Kenntnissen beurteilt werden. Die Bundesregierung befragt daher in der Regel den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer bzw. die für die jeweilige Frage zuständige medizinische Fachgesellschaft.
Frau Kollegin Würfel, eine Zusatzfrage?
Ja. Zunächst einmal, Herr Präsident, eine Feststellung: Diese Frage enthielt ja einen ganz anderen wesentlichen Teil. Kommen Sie zu diesem Teil vielleicht bei der Beantwortung der zweiten Frage?
Es geht ja darum — wenn ich es hier einmal erläutern darf —, daß diese Wirkungen von einem anderen Gremium durchaus hinreichend nachgewiesen worden sind, der Sachverständigenrat der Bundesärztekammer — er war um eine Stellungnahme gebeten worden — nun aber gesagt hat, er fühle sich gar nicht in der Lage, sich hierzu zu äußern.
Herr Präsident, Frau Würfel, wenn Sie es wünschen, würde ich dann erst die zweite Frage beantworten, dann können Sie Ihre Nachfrage stellen.
Wir kommen dann zur Frage 16 der Abgeordneten Frau Uta Würfel:
Worauf ist es zurückzuführen, daß die Bundesregierung in ihren Referentenentwürfen zum AMG, SGB V etc. fachwissenschaftlich eindeutig Positionen auch zu den besonderen Therapierichtungen bezieht, andererseits begründete Widerlegungen gegen solche Auffassungen der Bundesregierung mit der Begründung nicht diskutieren will, sie wolle sich in fachwissenschaftliche Diskussionen nicht einmischen ?
Richtig ist, daß sich Vorschläge zur Änderung und Ergänzung gesetzlicher Vorschriften auf fachwissenschaftlich gesicherte Positionen beziehen.
Teilweise dienen die angesprochenen Referentenentwürfe auch zur Umsetzung von Gemeinschaftsrecht. Die Diskussion dieser Referenten- bzw. Gesetzentwürfe geschieht schriftlich oder mündlich in den dazu vorgesehenen Verfahren.
Es ging bei der Antwort auf Ihre Frage 16 im übrigen nicht darum, daß sich die Bundesregierung nicht zur Widerlegung ihrer eigenen Auffassung äußern wollte, vielmehr sieht die Bundesregierung nach wie vor keine Veranlassung, sich an fachwissenschaftlichen Diskussionen zwischen der Hufelandgesellschaft und der Bundesärztekammer zu beteiligen.
Ist es das?
Das war's, ja.
Jetzt haben Sie, wenn wir die erläuternde Bemerkung wieder rausrechnen, vier Zusatzfragen, aber die müssen nicht alle in Anspruch genommen werden.
Ja, Frau Dr. Bergmann-Pohl, der Anlaß zu meiner Frage ist, wie ich eben schon dargestellt habe, der, daß sich die Bundesregierung darauf beruft, die Wirksamkeit dieses Verfahrens sei wissenschaftlich nicht nachprüfbar, weil dies der Sachverständigenrat der Bundesärztekammer behauptet habe. Auf Nachfrage sagt aber die Bundesärztekammer, sie gebe zu diesem Sachverhalt gar keine Stellungnahme ab, weil sie sich dazu nicht für befugt hält.
Frau Würfel, ich kann Ihnen dazu sagen, daß mir diese Aussage nicht bekannt ist. Die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer hat sehr wohl vorgelegen, und ich würde empfehlen, daß wir, um diesen Dissens auszuräumen, diese Frage vielleicht noch einmal dem Wissenschaftlichen Beirat stellen. Wenn Sie mir das, bitte, schriftlich ins Ministerium schicken, kann ich diese Frage gern weitergeben; denn auch für mich ist interessant, daß diese widersprüchlichen Aussagen offensichtlich vorhanden sind.
Herr Präsident, gestatten Sie? — Auf der anderen Seite, Frau Staatssekretärin, wäre es vielleicht möglich, daß Sie mir diese Stellungnahme des Sachverständigenrates, die ja nun eine Bewertung enthalten soll, vorab zusenden? Dann hätten wir diese eine Geschichte schon einmal geklärt.
Wenn Sie das wünschen, werde ich mich bemühen, Ihnen diese Stellungnahme zur Verfügung zu stellen.
Herr Präsident, recht herzlichen Dank. — Dann würde ich tatsächlich auf Ihre Antwort eingehen und noch einmal schriftlich die Bitte an Sie richten, diesen Sachverhalt, der so unklar ist, gemeinsam mit Ihnen aufklären zu können.
Das würde ich gerne machen, Frau Würfel. Ich darf Sie aber vielleicht doch noch einmal in Ergänzung meiner Ausführungen darauf hinweisen, daß hier natürlich zwei verschiedene Dinge in Ihrer Frage angesprochen sind. Das eine betrifft Behandlungsmethoden, das andere besondere Therapierichtungen. Das wollte ich zur Klarstellung nur noch einmal sagen.
Danke schön.
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18678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Herrscht Einigkeit unter den Damen? — Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich bedanke mich herzlich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr auf. Es steht uns Staatssekretär Dr. Wilhelm Knittel für die Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Für die Fragen 17 und 18 ist um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 19 auf, die unser Kollege Rudolf Bindig gestellt hat:
Arbeitet die Bundesregierung zur Vorbereitung des Dreijahresplanes gemäß § 5 Satz 2 des Bundesschienenwegeausbaugesetzes — SchWAbG — aktiv daran, für alle in der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zum SchWAbG genannten Einzelprojekte qualifizierte Projektbewertungsdossiers auszuarbeiten, die entweder — bei neugenannten Strecken — erstmals anzufertigen sind oder — bei den bereits in den Listen des SchWAbG genannten Projekten — über die allgemein und unspezifiziert gehaltene Form des Jahres 1992 hinausgehen, und auf welche Weise werden diese Projektbewertungsdossiers ausgearbeitet?
Bitte, Herr Staatssekretär Knittel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Beschlüsse zum Haushalt 1994 und deren Auswirkungen auf die mittelfristige Finanzplanung machen es erforderlich, daß zusammen mit der Deutschen Bahn AG eine Prioritätenreihung für die einzelnen Schienenprojekte des Schienenwegeausbaugesetzes vorgenommen werden muß. Die Prioritätenreihung wird auch Grundlage für den gemäß § 5 Satz 2 des Bundesschienenwegeausbaugesetzes aufzustellenden Dreijahresplan. Die Form der Dokumentation der einzelnen Projekte — „Dokumentation" ist hier im Sinne Ihres Begriffes „Projektbewertungsdossier" gemeint — wird gegenwärtig mit der Deutschen Bahn AG abgestimmt.
Zusatzfrage, Herr Bindig.
Herr Staatssekretär, da uns bei allen Straßenprojekten und auch für einige Schienenprojekte diese Bewertungsdossiers bereits vorgelegen haben, möchte ich Sie fragen, ob es denn solche qualifizierten Beratungsunterlagen für den Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages einmal geben wird.
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Diese Unterlagen werden entsprechend ausgearbeitet. Sie werden ständig verfeinert, und sie sind um so umfassender und tiefer, je näher der Verwirklichungszeitpunkt rückt.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob Sie sich nicht daran erinnern, daß die uns bei der Beratung des Bundesverkehrswegeplanes vorgelegten Projektdossiers derart inhaltsleer und dürftig waren, daß man auf der Basis dieser Unterlagen gar nicht qualifiziert beraten konnte, und wie Sie uns eigentlich qualifizierte Unterlagen liefern wollen, wenn jetzt offensichtlich auf meine Frage erkennbar wird, daß an diesen Unterlagen gar nicht intensiv gearbeitet wird, obwohl sie doch wohl in einem halben Jahr vorzulegen sind.
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Sachlage ist wie folgt: Das Bundesverkehrsministerium wartet auf die Vorlage der Prioritäten der Deutschen Bahn AG, weil wir dann gemeinsam übereinkommen müssen, in welcher Reihenfolge die Projekte für den Dreijahresplan vorgelegt werden. Erst wenn sich die Deutsche Bahn verantwortlich geäußert hat, ist es uns möglich, hier die Reihenfolge zu bestimmen. Ich sage noch einmal, daß nicht alles zugleich bearbeitet werden kann. Es wird dann nach dieser Prioritätenreihung vertieft werden.
Gibt es aus dem Haus dazu weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 20 auf, die ebenfalls der Kollege Rudolf Bindig gestellt hat.
Wie geht die Bundesregierung mit den in der Drucksache 12/5314, S. 15 genannten Protokollerklärungen zum Bundesschienenwegeausbaugesetz um, d. h. wird sie für die von den drei Fraktionen des Deutschen Bundestages dort genannten Projekte spezielle Untersuchungen im Sinne des jeweils genannten Anliegens durchführen?
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Bindig, im Rahmen der laufenden Verhandlungen mit den Nachbarstaaten sind oder werden die in den Protokollerklärungen vom 12. Mai 1993 genannten Strecken in die Untersuchungen einbezogen. Ich möchte, weil Ihnen das vielleicht etwas abstrakt erscheint, von mir aus hinzufügen, daß wir bezüglich der Querung Fehmarn-Belt hier zusammen mit Dänemark vor einer Ausschreibung stehen und daß für die beiden übrigen Strecken, die das Verhältnis zur Schweiz und zu Frankreich betreffen, die Untersuchungen laufen. Bei dem Fall, der Sie besonders interessieren dürfte, also bei den Strecken UlmFriedrichshafen-Lindau und München-MemmingenKempten-Lindau, läuft diese Kapazitätsuntersuchung in Abstimmung mit der Schweiz, und ich möchte darauf hinweisen, daß möglicherweise auch hier noch zusätzliche Auswirkungen des Ergebnisses der Volksabstimmung in der Schweiz zu berücksichtigen sein werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, zeichnet sich denn schon ab, wann diese Beratungen und dieser Konsultationsprozeß so weit fortgeschritten sein werden, daß man darüber auch Ergebnisse erfahren kann?
Dr. Wilhelm Knittel, Staatssekretär: Sie meinen speziell den Fall Baden-Württemberg/Bayern?
Ich bin gern bereit, Ihnen das in unserer Zeitvorausschau schriftlich mitzuteilen. Ich kann Ihnen das im Moment nicht detailliert sagen.
Darum möchte ich bitten. — Keine weiteren Zusatzfragen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18679
Die Fragen 23 und 24 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Mit der Frage 25 und der Frage 26 wird nach der Geschäftsordnung verfahren. Der Kollege Laumann, der die Fragen 28 und 29 gestellt hat, ist ebenfalls nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Die Fragen wird uns der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner beantworten.
Wir kommen zur Frage 40, die der Kollege Dr. Klaus Rose gestellt hat:
Betrachtet die Bundesregierung die Kulturförderung in den deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenzgebieten mehr unter finanziellen Gesichtspunkten oder mehr als nationale Aufgabe der kulturellen Begegnung von Nachbarvölkern?
Bitte, Herr Kollege Lintner.
Herr Kollege Dr. Rose, die Antwort lautet: Die Förderung kultureller Angelegenheiten in den Regionen an den deutschen Ostgrenzen muß sich in erster Linie auf die Stabilisierung, die Verbesserung und den Ausbau der erhaltenswerten kulturellen Substanz konzentrieren und neue kulturelle Strukturen schaffen. Dies ist vorrangig Aufgabe der dortigen Kreise und Gemeinden sowie der Bundesländer.
Die wünschenswerte kulturelle Begegnung von Polen, Tschechen und Deutschen im Rahmen der grenzüberschreitenden kulturellen Zusammenarbeit der Kreise und Gemeinden beiderseits der Grenzen ist ohne Zweifel eine Aufgabe von nationaler Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland. Dem steht nicht entgegen, daneben auch finanzielle Gesichtspunkte oder verfassungsrechtliche Gründe zu sehen und gegebenenfalls zu berücksichtigen, z. B. also neben der allgemeinen Mittelknappheit auch den neu ausgehandelten Bund/Länder-Finanzausgleich ab 1995.
Herr Kollege Rose, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie selber betonen, daß es auch eine nationale Aufgabe ist — die ist natürlich nur etwas wert, wenn man auch finanzielle Mittel hat, um sie zu erfüllen —, dann frage ich Sie, ob wir nicht analog der Debatte, die wir vorhin hatten — wo wir durchaus einiges an Geld für eine nationale Aufgabe, nämlich um den Transrapid zu bauen, hatten —, auch dafür Geld haben sollten und ob in Ihrem Ministerium nachgedacht wird, Geld für diesen nationalen kulturellen Zweck einzuplanen.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Rose, ich kann Ihnen versichern: In unserem Ministerium ist nachhaltig und intensiv nachgedacht und auch gesucht worden. Nur, bei der uns auf erlegten Knappheit der finanziellen Mittel — insbesondere für den Bereich Kultur, in dem wir auch ganz Ostdeutschland zu versorgen haben — ist es gegenwärtig nicht möglich, ein entsprechendes neues Programm zu etablieren. Im übrigen haben wir dazu auch nicht die Zustimmung des Finanzministeriums erhalten.
Keine zweite Zusatzfrage.
Dann rufe ich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Frage 41, die ebenfalls unser Kollege Dr. Klaus Rose gestellt hat, auf:
Wie weit hat die Bundesregierung Vorgespräche mit den betreffenden Bundesländern zur Kulturförderung im deutschpolnischen und deutsch-tschechischen Grenzraum geführt?
Ich bitte um Beantwortung.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat durch den Bundesminister des Innern seit 1992 Verhandlungen mit den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Bayern zur Schaffung eines Regionalförderprogrammes Kultur für die Kreise und Gemeinden an der deutsch-polnischen und an der deutsch-tschechischen Grenze geführt. Die Verhandlungen sind Mitte letzten Jahres abgeschlossen worden.
Herr Kollege Rose, bitte.
Herr Staatssekretär, es ist sicher richtig, wenn Sie sagen, daß der Bundesinnenminister diese Gespräche geführt hat. Ich bin trotzdem etwas neugierig und möchte wissen, ob es der Bundesinnenminister in Person war oder ob diese Gespräche von untergeordneten Personen geführt wurden und deshalb vielleicht auch nicht zu einem endgültigen positiven Ergebnis gekommen sind.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Rose, der Bundesminister des Innern in Person war da nicht involviert, sondern es handelt sich um Oberlegungen und Verhandlungen, die von Vertretern der zuständigen Sachgebiete angestellt und geführt worden sind. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß ein solches Programm an sich durchaus auf unsere Sympathie gestoßen wäre, wenn — wie gesagt — das notwendige Geld dafür hätte aufgebracht werden können.
Herr Kollege Dr. Rose, Sie haben eine zweite Zusatzfrage.
Die zweite Zusatzfrage, Herr Staatssekretär, kann logischerweise nur lauten: Wenn alle diese Beratungen auf der höheren Beamtenebene stattgefunden haben und offensichtlich nicht vom Minister selber geführt wurden: Hat sich der Herr Minister persönlich nicht darum gekümmert, oder wäre es doch positiv ausgegangen, wenn er sich gekümmert hätte?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Der Minister hat sich persönlich darum gekümmert. Beispielsweise war es Gegenstand eben der Haushaltsbesprechungen auf Ministerebene. Dort ist es angesprochen worden. Die entsprechende Auskunft des Bundesfinanzministeriums war leider negativ. Daraus mögen
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18680 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Parl. Staatssekretär Eduard LintnerSie ersehen, daß es nicht am Widerstand des Ministers gescheitert ist.
Herr Kollege Büttner, eine weitere Zusatzfrage.
Ich habe dazu die Frage: Um welchen Betrag handelt es sich denn eigentlich, der hier im Raume stand? Hätte er nicht innerhalb einer Mittelumschichtung im Etat des Bundesinnenministeriums lockergemacht werden können?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen den genauen Betrag nicht nennen, weil bestimmte Kriterien aufgestellt worden sind und dann verschiedene Projekte hätten zugeordnet werden müssen. Es handelt sich aber mit Sicherheit um einen Betrag in einer Größenordnung, der durch Umschichtung nicht mehr hätte gewonnen werden können.
Weitere Zusatzfragen? — Herr Kollege Kalb, bitte.
Darf ich hier in Ergänzung der Antwort an den Kollegen Dr. Rose folgende Zusatzfrage stellen: Sind denn die Ministergespräche im Aufstellungsverfahren des Haushalts 1995 schon abgeschlossen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Zumindest diese Runde ist abgeschlossen. Da also dort die Auskunft war, daß an die Etablierung neuer Programme nicht zu denken ist, sehe ich im Moment keine Chance für weitere Runden.
Aus dem Kreise des Hauses gibt es dazu weitere Zusatzfragen nicht.
Wie weit sind die Überlegungen der Bundesregierung gediehen, für die Gebiete an der deutsch-polnischen und deutschtschechischen Grenze ein regionales Kulturförderprogramm aufzulegen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kalb, die Antwort: Die Bundesregierung hat sich wegen der äußerst angespannten Haushaltslage des Bundes entschieden, die Pläne für die Schaffung eines Regionalförderprogrammes Kultur für die Kreise und Gemeinden an der deutsch-polnischen und an der deutsch-tschechischen Grenze 1995 vorerst nicht weiter zu verfolgen. Die Bundesregierung geht dabei davon aus, daß die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Bayern infolge des ab 1995 geltenden neuen Bund/Länder-Finanzausgleichs in der Lage sind, das Progamm auch ohne Bundesbeteiligung finanziell zu tragen.
Zusatzfrage?
Könnten Sie sich, Herr Staatssekretär, vorstellen, daß dennoch eine Situation eintreten könnte, die es dem Bundesinnenminister ermöglichen würde, ein solches Programm aufzulegen, wie zunächst beabsichtigt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kalb, das fällt mir sehr schwer. Selbst ein größerer Lottogewinn würde das nicht ermöglichen. Ich sehe da keine realistische Chance.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Kalb? — Nein.
Dann rufe ich Frage 43, die ebenfalls der Kollege Kalb gestellt hat, auf:
Sieht die Bundesregierung in einem solchen Programm ein geeignetes Instrument, die grenzüberschreitende kulturelle Zusammenarbeit zu stärken und damit zugleich die vertraglichen Vereinbarungen mit Polen und der Tschechischen Republik in einem wesentlichen Punkt mit Leben zu erfüllen?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung sieht in einem Regionalförderprogramm Kultur für die Regionen an den deutschen Ostgrenzen auch ein geeignetes Instrument, die grenzüberschreitende kulturelle Zusammenarbeit zu stärken und die in den Verträgen mit Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei angestrebte Aussöhnung auch auf kommunaler Ebene nachhaltig zu unterstützen. Wenn hierfür Bundesmittel vorerst nicht bereitgestellt werden können, so liegt dies ausschließlich an den bekannten haushaltsmäßigen Zwängen.
Zusatzfrage.
Darf ich aus Ihrer Formulierung „vorerst" schließen, daß der Bundesinnenminister beabsichtigt, dieses Ziel trotzdem weiterzuverfolgen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das ,,beabsichtigt" geht mir ein bißchen zu weit. Sie sehen, daß wir das inhaltliche Anliegen, das mit diesen Programmen verbunden war, durchaus für förderungswürdig ansehen und deshalb bestrebt sein werden — wenn die Chance sich bieten sollte —, in der Tat eine solche Förderung vorzusehen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung hinreichend bekannt, welche Arbeit bereits jetzt von verschiedenen kulturellen Einrichtungen im Grenzbereich geleistet wird und in welcher Weise diese zum besseren Verständnis und besseren Miteinander in der Nachbarschaft führen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kalb, es ist uns bekannt und war unter anderem Grund dafür, warum wir dieses Projekt trotz einer relativ früh abzusehenden Aussichtlosigkeit mit Nachdruck weiterverfolgt haben, allerdings leider im Endeffekt nicht mit Erfolg.
Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Rose.
Herr Staatssekretär, die an sich begrüßenswerte Tatsache, daß auf der anderen Seite der Grenze Kulturförderung für ehemalige deutsche Kulturgüter stattfindet, führt im Grenzgebiet natürlich zu einer gewissen Rivalität. Ist der Bundesregierung bekannt, daß diese Rivalität auch nationale Gefühle auslösen kann?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18681
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Daß Kultur immer auch mit nationalen Gefühlen zusammenhängen kann und hängt, ist uns natürlich bekannt. Sie sprechen einen Aspekt an, der auch ein Grund für unsere Beamten war, über ein solches Programm nachzudenken. Wenn es sich nicht realisieren ließ, dann nicht, weil wir es nicht für sinnvoll erachten, sondern weil wir es nicht finanzieren können.Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß wir natürlich nach wie vor auch im Westen der Bundesrepublik mit ganz erheblichen Mitteln wertvolle kulturelle Einrichtungen fördern und — beispielsweise unter dem Stichwort „Leuchttürme" -- auch künftig fördern wollen. Dazu zählen auch Projekte entlang der Grenze, wenn auch natürlich nicht die, die Gegenstand dieses Förderprogramms hätten werden können.
Zusatzfrage, Herr Kollege Büttner.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, mit welchen Mitteln der Freistaat Bayern solche regionale Kulturförderung betreibt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Hier bin ich nicht kompetent, Auskunft zu geben, selbst wenn es mir bekannt wäre.
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Frage 44, die der Kollege Claus Jäger gestellt hat. Herr Kollege Jäger, da sich Ihre Frage auf die Kollegin Schmalz-Jacobsen in ihrer Eigenschaft als Ausländerbeauftragte bezieht, muß ich Sie darüber unterrichten — sie hat mich darüber informiert —, daß sie selber heute leider nicht da sein kann, weil sie zur gleichen Zeit den Bundeskongreß der Ausländerbeauftragten in Hamburg zu leiten hat.
Trifft es zu, daß die Ausländerbeauftragte des Bundes, Cornelia Schmalz-Jacobsen, Deutschland als Einwanderungsland bezeichnet hat, und wird die Bundesregierung bejahendenfalls unmißverständlich klarstellen, daß für sie Deutschland kein Einwanderungsland ist?
Ich bitte den Parlamentarischen Staatssekretär um die Beantwortung, soweit das ohne die Betroffene möglich ist.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, die Erklärung, Deutschland sei ein Einwanderungsland, hat die Beauftragte nach mir vorliegenden Zeitungsmeldungen angeblich in ihrer Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts bei der Bundespressekonferenz am 3. März 1994 abgegeben. Das wird allerdings seitens des Amtes der Beauftragten bestritten.
Es kann aber auch dahinstehen, ob diese Meldungen zutreffen, denn diese Auffassung würde von der Bundesregierung jedenfalls nicht geteilt.
Ich darf in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages bei der Behandlung einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur europäischen Einwanderungspolitik am 19. Januar dieses Jahres mit den Stimmen der Koalition beschlossen hat:
Der Ausschuß betont, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist.
Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung teilt folglich die Auffassung, daß ein Einwanderungsland kein Land ist, in dem tatsächlich Einwanderungen stattfinden, sondern ein Land, das solche Einwanderungen aus bevölkerungspolitischen Gründen, zur Vermehrung der auf seinem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung, ausdrücklich wünscht?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, das könnte ungefähr die Definition sein.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem diese Aussage der Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen nun durch die ganze deutsche Presse gegangen und verbreitet worden ist: Ist die Bundesregierung bereit, den von Ihnen erfreulich klar vorgetragenen Standpunkt der Bundesregierung der deutschen Öffentlichkeit ebenfalls in entsprechender Breite mitzuteilen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, ich glaube nicht, daß irgendwelche Unkenntnis über den diesbezüglichen Standpunkt der Bundesregierung in der deutschen Öffentlichkeit besteht. Denn die Bundesregierung hat bei vielen Gelegenheiten, zuletzt in dieser öffentlichen Fragestunde, bekundet, daß sie Deutschland nicht für ein Einwanderungsland hält.
Eine weitere Zusatzfrage: Herr Kollege Lüder.
Herr Staatssekretär, ich will nicht auf den Beschluß des Arbeitsausschusses zurückkommen, der vom Innenausschuß nur kursorisch mitberaten wurde, obwohl er für diese Fragen zuständig wäre. Ich möchte Sie fragen, ob Sie bereit sind, zu dem zu stehen, was die Bundesregierung kontinuierlich in Europa in der Konferenz der für Einwanderungsfragen zuständigen Minister — wie es europäisch heißt — vertritt und z. B. im Dokument vom 3. Dezember 1991 festgelegt ist, wo es heißt: Obwohl keiner der Mitgliedstaaten eine Politik betreibt, die auf die Förderung der Zuwanderung als solcher abzielt, muß dennoch festgestellt werden, daß sie alle — Irland ausgenommen — de facto zu Zuwanderungsländern — wie das europäisch heißt; Einwanderung ist ja dasselbe — geworden sind. Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, wenigstens diese De-facto-Situation zu bestätigen.
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18682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, wir haben nie bestritten, daß Zuwanderung stattfindet. Aber wir haben immer darauf hingewiesen, daß der Begriff Zuwanderung nichts mit der Definition der Bundesrepublik Deutschland als sogenanntes Einwanderungsland zu tun hat.
Herr Kollege Dr. Weng.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für sinnvoll, eine solche Definition auch dann aufrechtzuerhalten, wenn die öffentliche Meinung eine solche Definition nicht kennt und auch empfindungsmäßig nicht akzeptieren wird, sondern im Gegenteil der Auffassung ist, daß die tatsächliche Zuwanderung eine Einwanderung ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Weng, ich glaube, Sie nehmen jetzt die öffentliche Meinung zu Unrecht für Ihre Auffassung in Anspruch. Ich glaube sehr wohl, daß zumindest die interessierte Öffentlichkeit zwischen einem Einwanderungsland oder einem Einwanderungsgesetz, wie es ja gelegentlich gefordert worden ist, und einer faktischen Zuwanderung zu differenzieren weiß.
Herr Kollege Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, ohne daß ich auf die feinsinnige Unterscheidung zwischen Zu- und Einwanderung ein- oder zugehen will, frage ich Sie: Können Sie uns in diesem Zusammenhang sagen, wie viele Menschen etwa in den letzten 20 Jahren zum dauernden Aufenthalt in die Bundesrepublik gekommen sind und ab wie vielen Menschen Sie das Wort Einwanderungsland wählen würden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, das hat weniger mit der Zahl zu tun als mit der Art und Weise, wie eine derartige Zuwanderung abläuft. Wenn wir jetzt definieren würden, daß wir bestimmte Kontingente von bestimmten Nationalitäten, Berufsgruppen oder sonstigen Eigenschaften zu akzeptieren bereit sind, so wäre das eine staatlich gewünschte und kontrollierte Einwanderung. Diese wollen wir unstreitig nicht.
Das, was Sie schildern und was sicherlich Millionen von Menschen in den letzten 20 Jahren betrifft, war eben kein solcher Vorgang, sondern eine Zuwanderung aus diversen Gründen.
Herr Kollege Büttner.
Ihre Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Hirsch verleitet mich zu einer weiteren Frage: Habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung die Bundesrepublik zwar nicht als kontrolliertes Zuwanderungsland betrachtet, aber als ein unkontrolliertes Zuwanderungsland?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es findet sowohl eine kontrollierte Zuwanderung als auch eine unkontrollierte Zuwanderung statt, weil es nämlich illegale Zuwanderung und legale Zuwanderung gibt. So gesehen haben Sie mich richtig verstanden.
Sollen weitere sophistische Untersuchungen angestellt werden? — Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Fragen 45 und 46 sollen ebenso wie die Fragen 47, 48, 49, 50 und 51 schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke zur Verfügung.
Die Frage 52 soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 53 des Abgeordneten Joachim Hörster:
Treffen Pressemeldungen zu, daß der Generalbundesanwalt Dokumente, die vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR verwahrt werden, wegen eines Strafverfahrens gegen den früheren parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion der SPD, Karl Wienand, für die Öffentlichkeit hat sperren lassen, und wenn ja, aufgrund welcher gesetzlichen Vorschrift?
Herr Präsident! Herr Kollege Hörster, der Generalbundesanwalt hat in dem von ihm gegen den früheren Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Karl Wienand geführten Ermittlungsverfahren wegen Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit am 13. Januar 1994 gegenüber dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR unter Hinweis auf § 5 Abs. 2 Satz 1 des Stasi-Unterlagengesetzes erklärt, daß eine Verwendung der dort befindlichen MfS-Unterlagen über die Zusammenarbeit von zwei Personen mit den Decknamen Streit und Krüger die Durchführung des Verfahrens beeinträchtigen würde. Deshalb ist auf Grund der vorgenannten Bestimmung die Verwendung dieser Unterlagen für andere Personen zur Zeit nicht zulässig.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hörster.
Herr Staatssekretär, da die Akten vorher einsehbar waren, da es sich bei dem Gegenstand der Akten doch offenbar um eine Person der Zeitgeschichte handelt: Welchen Effekt soll denn die Sperrung der Akten jetzt bewirken?Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Der Generalbundesanwalt geht zu Recht davon aus, daß die Sperrung der Unterlagen der einwandfreien Ermittlung im Strafverfahren dient und hat deswegen die Sperrung — wenigstens zur Zeit — der GauckBehörde mitgeteilt. Diese Sperrung wird aufgehoben, sobald hier keine weiteren Ermittlungen vom Generalbundesanwalt zu erfolgen haben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18683
Eine zweite Zusatzfrage.
Könnte die Sperrung auch damit zusammenhängen, daß die Akten erst kürzlich aufgefunden und ausgewertet worden sind und deswegen eine vorherige Einsehung in die Akten de facto gar nicht möglich war?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hörster, Sie wissen, daß ich nicht ermittelnder Generalbundesanwalt bin. Deswegen halte ich diese Frage für unzulässig. Ich kann sie Ihnen so nicht beantworten.
Kollege Jungmann, bitte.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß gegen Herrn Wienand kein Strafverfahren, wie es in der Frage steht, läuft und deshalb die Akten gesperrt sind, sondern erst ein Ermittlungsverfahren?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Es ist ein Ermittlungsverfahren, ja.
Ich weiß nicht, wo Sie da Unterschiede machen, Herr Kollege.
Lassen Sie bitte den Staatssekretär ausreden.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Es ist ein Ermittlungsverfahren, und im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens wird geprüft, ob ein Strafverfahren anhängig gemacht werden soll. Ich sehe da also nicht, wo Sie die feinen Differenzierungen machen.
Verzeihung, keine Kommentierung der Antworten. — Bitte, Herr Kollege Dr. Weng.
Herr Staatssekretär, ist es so, daß erst nach Klageerhebung von dem Strafverfahren die Rede sein kann und bis zu diesem Zeitpunkt von dem Ermittlungsverfahren die Rede ist, oder ist es anders? Heißt das in der Konse
quenz nicht, daß hier tatsächlich die Frage etwas zum Ausdruck bringt, was nicht Tatsache ist?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Das Ermittlungsverfahren — das ist auch eindeutig geklärt, Herr Kollege Weng — wird im Rahmen der Strafprozeßordnung geführt. Wenn hinreichende Verdachtsmomente vorliegen, wird Anklage erhoben.
Der Generalbundesanwalt hat nunmehr zu untersuchen, ob im Rahmen seiner Ermittlungen festgestellt werden kann, daß hinreichende Gründe für die Eröffnung eines Strafverfahrens vorliegen. Nichts anderes ist hier im Fall Wienand auch geschehen.
Herr Kollege Büttner.
— Das ist dann unser Pech auf seiten des Hauses. Aber das ist auf der anderen Seite die Souveränität der Bundesregierung.
Herr Büttner, bitte.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie dann noch einmal ganz konkret fragen: Ist nach Auffassung der Bundesregierung ein Ermittlungsverfahren mit einem Strafverfahren gleichzusetzen?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Nein. Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe hier die stufenweise Entwicklung dargestellt. Es wird zur Zeit ermittelt. Ob es zum Strafverfahren kommt, wird sich auf Grund dieser Ermittlungen ergeben.
— Da ist überhaupt nichts mit Giftspritzen, wenn ich das so sagen darf.
Herr Kollege Gansel.
Herr Staatssekretär, würden Sie sich noch einmal die Frage 53 des Abgeordneten Hörster ansehen und die Freundlichkeit haben, gegenüber dem Plenum und der Öffentlichkeit klarzustellen, daß es kein Strafverfahren gibt, sondern es sich allenfalls um Ermittlungen des Generalbundesanwalts handelt und die Frage insofern von einer falschen Voraussetzung ausgeht?Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie festgestellt, daß ich gesagt habe: Er führt ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts geheimdienstlicher Tätigkeit. Ich habe das Wort „Strafverfahren" nicht benutzt.
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18684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Parl. Staatssekretär Rainer Funke— Herr Kollege, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie ohne weiteres erkennen können, daß ich nur vom Ermittlungsverfahren und nicht vom Strafverfahren gesprochen habe.
Herr Kollege Lüder.
Herr Staatssekretär, könnte es sein, daß die Begriffe „Strafverfahren" und „Ermittlungsverfahren" im Volksmund und damit auch im Plenum so unscharf voneinander getrennt sind wie die beiden Begriffe „Zuwanderung" und „Einwanderung" und damit die gleiche Problematik betreffen?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, haben Sie bitte Verständnis dafür, daß ich das Hohe Haus nicht bewerten möchte. Es steht mir nicht zu, das Haus zu kritisieren, ob es der allgemeinen Sprachregelung folgt oder zwischen Ermittlungsverfahren und Strafverfahren differenziert.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, ist es jetzt endgültig richtig, wenn ich sage, daß es sich um ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren handelt? Denn andernfalls hätten die Unterlagen gar nicht gesperrt werden dürfen.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Auch dies habe ich Ihnen schon gesagt, allerdings vor zehn Minuten.
Weitere Zusatzfragen dazu liegen nicht vor.
Ich rufe die Frage 54 des Kollegen Hörster auf:
Für wann ist ggf. mit der Aufhebung dieser Sperre zu rechnen, so daß die interessierte Öffentlichkeit Kenntnis vom Inhalt dieser Dokumente nehmen kann?
Ich bitte Herrn Parlamentarischen Staatssekretär um die Beantwortung.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Nach gegenwärtiger Einschätzung des Generalbundesanwalts könnte die sogenannte Sperrerklärung nach Abschluß bereits veranlaßter Vernehmungen und damit in absehbarer Zeit aufgehoben werden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hörster.
Ich habe nur eine Zusatzfrage — Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, daß -- bezogen auf die vorhin erörterte Frage — Grundlage der Fragestellung der Bezug auf eine Pressemeldung und weder eine Behauptung des Justizministeriums noch eine Behauptung des Fragestellers war?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Es ist das Schicksal von Abgeordneten, aber auch von Mitgliedern der Bundesregierung, daß sie gelegentlich falsch in der Presse zitiert werden.
Weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich Frage 55 auf, die der Kollege Claus Jäger gestellt hat:
Wie viele Strafverfahren wegen Tötung ungeborener Kinder sind im Jahre 1993 — getrennt nach der Zeit vor und nach dem 16. Juni — von den Strafverfolgungsbehörden eingeleitet worden, und wie viele davon sind jeweils durch ein erstinstanzliches Urteil durch Bestrafung und durch Freispruch entschieden worden?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, aus den vorhandenen Statistiken der Strafrechtspflege läßt sich Ihre Frage leider nicht beantworten. Angaben über Ermittlungsverfahren werden in der sogenannten „Zählkartenerhebung in Ermittlungsverfahren und Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz bei den Staats- und Amtsanwaltschaften", kurz: StA-Statistik, erhoben. Tatbestände, nach denen ermittelt wurde, werden in dieser Statistik nicht erfaßt.
Über Verurteilungen und Freisprüche gibt die Strafverfolgungsstatistik Auskunft. Dort sind auch Angaben über Straftatbestände, nach denen angeklagt oder verurteilt wurde, enthalten. Die Strafverfolgungsstatistik wird allerdings nur jährlich erstellt. Monats- oder auch nur Halbjahresangaben über Verurteilungen oder Freisprüche sind nach dieser Statistik nicht möglich. Zudem erfaßt die Strafverfolgungsstatistik nur rechtskräftig abgeschlossene Verfahren.
Die Ergebnisse für das Jahr 1993 liegen noch nicht vor.
Zusatz.
Herr Staatssekretär, da Ihnen ja unschwer erkennbar ist, was der Grund meiner Nachfrage ist, nämlich Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die Neuregelung des Strafrechts im Kontext des § 218 nach dem Spruch des Verfassungsgerichts, das eine Übergangsregelung eingeführt hat, im Gegensatz zu der Zeit vorher aussieht, als unterschiedliches Recht in den beiden Teilen Deutschlands gegolten hat, möchte ich Sie fragen: Hat die Bundesregierung nicht selber aus eigenem Interesse, um diese Erkenntnis zu erlangen, darüber Erhebungen angestellt?Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung ist hierzu gar nicht in der Lage. Wie Sie wissen, sind die Landesjustizverwaltungen Behörden der Länder. Wir können also insoweit gar nicht die Statistiken der Länder führen oder sie kontrollieren. Wir haben noch nicht einmal auf diese Statistiken Zugriffsmöglichkeiten. Wir können also nicht sagen, daß nach einem bestimmten Zeitpunkt, eines Urteils beispielsweise, eine neue Statistik einzuführen ist.
Wir können die Landesjustizverwaltungen auch nicht anweisen, bestimmte Statistiken zu führen. Das ist uns auf Grund unserer Verfassung verwehrt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18685
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe von Anweisen und von einer neuen Zuständigkeit nicht geredet. Aber wäre es denn nicht im Interesse auch der Bundesregierung selber, die sich ein zutreffendes Bild machen muß, wie in einem solchen Bereich die Änderung der materiellen Rechtslage auf die Rechtsprechung wirkt, mit den Ländern auf der Basis freiwilligen, gegenseitigen Zusammenarbeitens zu reden, um auf diese Art und Weise Erkenntnisse zu gewinnen, wie sich gegenüber der Zeit vor dem 16. Juni 1993 die Rechtsentwicklung auf Grund der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vollzogen hat?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Auch wenn es wünschenswert wäre, ist dies nicht ohne weiteres für die Bundesregierung möglich. Ich habe ja dargelegt, daß die Landesjustizverwaltungen diese Statistiken in eigener Verantwortung führen und wir auf diese Statistiken keinen Einfluß haben.
Was wir machen können, ist, auf Grund des Bundesstatistikgesetzes oder anderer begleitender Gesetze den Ländern vorzuschreiben, daß sie über bestimmte Straftatbestände Statistiken zu führen haben. Dieses ist im übrigen auch in dem Fraktionsentwurf zum Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vorgesehen, der Ihnen bekannt ist. Hier hatte uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben, daß einzelne Fragen der Statistik genauer zu regeln sind, als es in den bisherigen statistischen Vorschriften der Fall gewesen ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Lüder.
Herr Staatssekretär, da wir uns in dieser Fragestunde um sprachliche Schärfe bemühen, frage ich, ob „Tötung ungeborener Kinder" neuerdings die Definition der bundeseinheitlichen Statistik ist, unter der Verdächtigungen wegen Vergehen gegen § 218 firmieren.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Ich habe mir lange überlegt, ob ich zu dieser Formulierung, die Herr Kollege Jäger gefunden hat, einen Hinweis in meiner Antwort geben sollte. Da ich aber meine, daß die Bundesregierung an sprachlichen Formulierungen von Abgeordneten möglichst wenig Kritik äußern sollte, habe ich es unterlassen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Ich rufe Frage 56 des Kollegen Dr. Burkhard Hirsch auf:
In wie vielen Fällen ist bisher von der Ermächtigung Gebrauch gemacht worden, die durch das Außenwirtschaftsgesetz vom 28. Februar 1992 dem Zollkriminalamt gegeben worden ist, zur
Verhinderung schwerwiegender Kriegswaffen- und Ausfuhrdelikte das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis zu beschränken?
Herr Kollege Hirsch, seit Oktober 1992 hat das Zollkriminalamt in insgesamt 11 Verfahrenskomplexen Anträge nach §§ 39H. des Außenwirtschaftsgesetzes gestellt.
Eine Zusatzfrage.
Haben Sie Unterlagen darüber, wie viele Anschlüsse davon betroffen wurden? Es kann sich ja um Anschlüsse von Einzelpersonen oder um Firmenanschlüsse, die eine unbestimmte Vielzahl von Menschen betreffen, handeln.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Diese Frage führt, Herr Kollege Hirsch, wenn ich Sie richtig verstehe, darauf zurück, was Gegenstand dieser Verfahrenskomplexe war. Diese Frage kann ich Ihnen beantworten. Es waren, wenn ich es richtig sehe, in vier Fällen beabsichtigte Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. In den übrigen Fällen ging es um geplante Zulieferungen zu Nuklear- und Raketenprogrammen verschiedener sensibler Länder. In einem weiteren Fall ging es um militärische Güter für den Irak.
Sie bringen mich jetzt in eine schwierige Lage, denn Sie haben mich völlig mißverstanden. Nur, ich frage mich, ob ich, wenn ich das Mißverständnis jetzt durch eine weitere Frage aufklären will, meine zulässige zweite Zusatzfrage verbrauche.
Da Sie hier einer besonders großzügigen Präsidentin gegenübersitzen, dürfen Sie dieses Mißverständnis aufklären, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, die Frage bezog sich nicht auf die Art der Delikte, sondern auf die Art der abgehörten Anschlüsse. Es können Telefonanschlüsse von Einzelpersonen sein, und es können Telefonanschlüsse von Unternehmen sein mit der Folge, daß von der jeweiligen Kontrollmaßnahme eine unbestimmte Vielzahl von Personen erfaßt wird. Mein Interesse ist, zu erfahren: Wie viele Menschen, die Telefongespräche führen wollten, haben Sie denn auf Grund dieser Vorschrift erfaßt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das kann ich — jedenfalls in dieser differenzierten Fragestellung — nicht beantworten. Aber es waren selbstverständlich Einzelpersonen und auch mehrere. Das ZKA verfügt, wenn ich es richtig weiß, über die Möglichkeit, etwa 150 Fernsprechanschlüsse und Fernschreibanschlüsse zu überwachen.
Jetzt noch die zweite Zusatzfrage.
Können sie mir sagen, in wieviel Fällen, in denen das ZKA auf Grund des Außenwirtschaftsgesetzes tätig geworden ist, gleich-
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Dr. Burkhard Hirschzeitig auch die Vorschriften des § 100a StPO ausreichend gewesen wären, und in wieviel Fällen Sie die Telefonkontrolle wirklich nur mit Hilfe des Außenwirtschaftsgesetzes erreicht haben, also Tatbeständen, bei denen noch nicht einmal ein Anfangsverdacht vorlag?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen nicht sagen, in wie vielen Fällen. Aber mir ist aus der Diskussion um die Verlängerung der Frist bekannt, daß staatsanwaltschaftliche Ermittlungen nicht weitergeführt worden sind — obgleich es einen begründeten Anfangsverdacht gab —, weil es an Beweismitteln ermangelte, und es erst durch die Möglichkeiten der §§ 39 ff. des Außenwirtschaftsgesetzes zu einer Beweislage gekommen ist, daß dieselbe Staatsanwaltschaft, die schon vorher tätig geworden ist, Ermittlungsverfahren einleiten konnte.
— Ich habe gesagt, ich kann nicht sagen, wie hoch die Zahl war.
Weitere Zusatzfragen — außer durch Zwischenrufe — liegen nicht vor.
Ich rufe Frage 57, wiederum vom Kollegen Dr. Burkhard Hirsch, auf:
In wie vielen Fällen haben Post- oder Telefonüberwachungen auf Grund des Außenwirtschaftsgesetzes zur Aufdeckung oder Verhinderung illegaler Exporte geführt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: In vier Fällen, Herr Kollege Hirsch, ist es durch die Überwachungsmaßnahmen nach dem Außenwirtschaftsgesetz zur Aufdeckung oder Verhinderung von illegalen Exporten gekommen. In diesen Fällen konnte im Rahmen der auf Grund der Überwachungsmaßnahmen eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren festgestellt werden, daß in den vergangenen Jahren in erheblichem Maße illegale Exporte stattgefunden haben.
Der zweifellos größte Erfolg besteht in der Ausschaltung des deutschen Hauptlieferanten zum Nuklearprogramm eines fremden sensiblen Landes und der Enttarnung seiner Beschaffungsorganisation in Deutschland und in Westeuropa. Die Beschaffungsbemühungen dieses Staates im Bereich der Nukleartechnologie wurden ganz empfindlich gestört.
Eine Zusatzfrage.
Da es mir um die Frage der Wirksamkeit dieser Bestimmungen geht und Sie sagen, in vier Fällen hätten sie zu Erfolgen geführt, möchte ich Sie fragen, in wieviel Fällen Strafverfahren eingeleitet worden sind, ohne daß Maßnahmen des Außenwirtschaftsgesetzes im Spiel waren.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, Sie wollen mir sicherlich — auch aufgrund unserer Begegnungen über viele Jahre — zugestehen, daß diese Frage im nachhinein schlechterdings nicht zu beantworten ist.
Ich kann Ihnen nur sagen, daß es in einigen Fällen zur Einleitung von komplexen Strafverfahren gekommen ist. Ich habe Ihnen soeben ein Beispiel bilden dürfen, bei dem ich aus meiner Kenntnis nachweisen konnte, daß diese Vorschriften schon einen Sinn machen, weil es ohne die Instrumente der §§ 39 ff. AWG nicht zum Verfahren gekommen wäre.
Eine zweite Zusatzfrage.
Vielleicht kann ich die Frage noch einmal präzisieren. Es muß doch klar und feststellbar sein und auch Unterlagen darüber geben —, in wieviel Fällen es zu Strafverfahren wegen illegaler Waffenexporte gekommen ist, nachdem es eine Telefonmaßnahme auf der Grundlage des Außenwirtschaftsgesetzes gegeben hat, und — im Vergleich dazu — in wieviel Fällen Strafverfahren bei denselben Deliktsarten eingeleitet worden sind, ohne daß eine Telefonkontrolle nach dem Außenwirtschaftsgesetz — sondern vielleicht eine nach § 100 a StPO oder überhaupt keine — nötig war.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Den ersten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege Hirsch, kann ich beantworten und habe ich beantwortet.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Ich habe Zweifel, ob es dafür statistische Unterlagen gibt. Ich werde mich aber bemühen, das herauszufinden. Wenn es solche statistischen Unterlagen in der von Ihnen angestrebten Differenzierung gibt, darf ich mir erlauben, sie Ihnen nachzureichen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Gansel.
Ist die Bundesregierung denn nun bereit, nachdem schon Staatssekretär Kolb in der Debatte vom 4. März hier im Bundestag als einen Erfolg des neuen § 39 AWG dargestellt hat, daß man das Nuklearbeschaffungsprogramm eines fremden Staates enttarnt und seine deutsche Kauforganisation zerschlagen habe, dem Bundestag und der Öffentlichkeit zu sagen, um welches Land es sich handelt und wer die Hauptlieferanten waren? Das sind doch keine Dinge, die unter die Intimsphäre fallen. Das sind politische Angelegenheiten. Da muß man uns doch sagen, worum es sich dabei handelt.Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, dazu sehe nicht nur ich mich, sondern sieht sich auch die Bundesregierung — es sind ja auch andere Ressorts betroffen — außerstande. Sie wissen genau, daß wir für die Maßnahmen nach §§ 39 ff. AWG ein Fünfergremium von Abgeordneten haben, dem wir mitteilen, wann wir ins Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnis im Ausnahmefall eingreifen müssen.
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Weitere Zusatzfragen liegen im Moment nicht vor.
Damit kommen wir zur Frage 58 des Kollegen Norbert Gansel:
Trifft es zu, daß im Zusammenhang mit dem Bau der „Giftgasanlage in Tarhuna/Libyen" vor dem Landgericht Stuttgart Anklagen wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz erhoben worden sind, und wann hat die Bundesregierung Kenntnis davon erhalten?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, der Bundesregierung ist bekannt, daß die Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen des Verstoßes gegen die Außenwirtschaftsbestimmungen in einem Fall, der im Zusammenhang mit einer Anlage zur Herstellung von chemischen Waffen in Libyen stehen soll — stehen soll! —, gegen mehrere Personen Anklage erhoben hat. Ob sich der Tatvorwurf auf eine Anlage in Tarhuna bezieht, ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Die Bundesregierung hat Ende Mai 1993 von dieser Anklageerhebung Kenntnis erhalten.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Gansel.
Handelt es sich dabei um die Fortsetzung des Rabta-Projekts, und gehe ich richtig in der Annahme, daß offenbar ein deutsches Unternehmen an diesem Projekt möglicherweise weiter mitgemacht hat zu der Zeit, als wir hier im Deutschen Bundestag über den Rabta-Skandal diskutiert haben, und daß die Bundesregierung davon erst Ende Mai 1993 erfahren haben will, obwohl es Presseberichte über dieses Verfahren gibt, die von Anfang Mai 1993 datieren?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das ist ein Bündel von Fragen, Herr Kollege Gansel.
Zunächst einmal muß ich Ihnen erwidern dürfen, daß ich aus rechtlichen Gründen gehindert bin, zu dem Gegenstand des laufenden Verfahrens, von dem ich gerade gesprochen habe, Stellung zu nehmen. Dafür sind das zuständige Gericht und die Staatsanwaltschaft zuständig.
Dann haben Sie in einem ganz anderen Komplex eine Brücke zu den abgeschlossenen — beklagenswerten — Vorgängen um Rabta geschlagen. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob es hier einen Zusammenhang gibt. Wohl ist zutreffend, daß wir uns darüber Sorge gemacht haben, daß es vielleicht irgendwo einen zweiten Fall einer solchen C-Waffenanlage geben könnte.
Eine zweite Zusatzfrage.
Will der Herr Kollege Schmidbauer darauf antworten? — Dann warte ich noch. Ich kann mir vorstellen, daß Herr Schmidbauer noch ergänzen will.
Es ist ja auch eine Frage an die Bundesregierung. — Bitte, Herr Schmidbauer.
Herr Kollege Gansel, ich will, damit kein Mißverständnis bleibt, darauf antworten, weil Ihr Fragenkomplex geteilt war und der Kollege Grünewald auf die staatsanwaltschaftliche Ermittlung und die Erfahrung der Bundesregierung aus seinem Ressort, Mai 1993, hingewiesen hat.
Es ist richtig, Herr Kollege Gansel, daß besagter Vorgang früher als Erkenntnis vorlag, weil Hinweise einer Firma an die Bundesregierung darauf hindeuteten, daß es eine Firma geben könnte, die, analog den Umständen Rabta I, versuchen könnte, entsprechende Waren zu liefern. Dabei war dieser Fall Tarhuna nicht erkannt. Trotzdem ist die Bundesregierung dieser Geschichte nachgegangen. Das hat dazu geführt, daß dieses Verfahren, das jetzt besteht, eine andere Ausgangssituation hat, nämlich das Erkennen einer möglichen Straftat und das Verhindern einer Straftat. Trotzdem hat dies ein Verfahren nach sich gezogen, über das der Kollege gesprochen hat. Da Sie zu Recht vermuten, daß die Hinweise vor 1993 lagen, sage ich Ihnen, es muß der Zeitraum 1990 gewesen sein, seitdem dieses bekannt war.
Es ist auch richtig, wie in Ihrer Frage bereits vermutet, daß aus Kenntnis des Vorgangs Rabta I eine Sensibilität entstanden ist für einen ganz sensiblen Teil der Anlage Rabta I.
Dann kommen wir zur Zusatzfrage des Kollegen Gansel.
Trifft es also zu, daß es dabei um die Lieferung eines ProzeBleitsystems und einer Steuerungsanlage ging, die zur Steuerung einer Giftgasfabrik geeignet war, die von einer deutschen Firma über eine holländische Firma nach Saudi-Arabien und von dort nach Libyen geliefert werden sollte?
Ich frage anders: Ist das der klassische Fall, der durch den § 5 c der Außenwirtschaftsverordnung und die Länderliste H genehmigungspflichtig und kontrollierbar gemacht werden soll, so wie wir es im Bundestag beschlossen haben, und sollte dies nicht Anlaß für die Bundesregierung sein, den Forderungen nach Liberalisierung und Auflockerung in diesem Bereich entschieden entgegenzutreten?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, das Instrument, das wir zur Verfügung hatten, hat in diesem Fall eindeutig gegriffen: early warning-Schreiben, das Aufmerksammachen auf bestimmte sensible Firmen, die mit sensiblen Gütern handeln. Es ist deshalb nicht zu diesem Verfahren gekommen. Das hätte so sein können, wie Sie es beschrieben haben. Ich will das nicht dementieren.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Büttner.
Da Ihren Ausführungen zu entnehmen ist, daß die Bundesregierung über die über Rabta hinausgehenden weiteren Vorgänge schon seit längerem Bescheid weiß: Wie interpretieren Sie die Aussage des Staatssekretärs Göhner in der Fragestunde vom 3. März 1994, der erklärt hat, es gebe nur vage Hinweise — obwohl schon damals
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Hans Büttner
Anklage erhoben worden ist und obwohl, wie wir von Ihnen heute erfahren haben, die Bundesregierung schon wesentlich konkretere Hinweise auf entsprechende Vorgänge hatte?Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage, denn auch das, was der Kollege Göhner gesagt hat, muß genau nachgelesen werden. Er hatte recht. Er hatte darauf hingewiesen, daß es im Jahre 1989/90 vage Hinweise auf eine vermutete CW-Kampfgasproduktionsstätte gab. In der Sensibilität Rabta I gab es vage Vermutungen, daß dort eine weitere Produktionsstätte entsteht. Das ist richtig.Ich habe, weil dieses Mißverständnis nicht in der Welt sein sollte und konnte, erklärt, daß diese Spekulation über einen völlig anderen Standort und ähnliches — ich möchte es gar nicht ausführen — dadurch konkretisiert wurde, daß wir im August 1992 verifiziert haben. Es ist eine klare Situation entstanden — übrigens wurde über viele Möglichkeiten spekuliert und vielen Hinweisen nachgegangen —, und es hat am Ende völlig anders ausgesehen, nämlich so, daß 1992 — an anderer Stelle, aber verifiziert — eine solche Anlage entstehen sollte.
Ich lasse jetzt noch eine letzte Zusatzfrage zu; auch die Frage 59 wird noch beantwortet. Dann schließen wir die Fragestunde. Sie ist von der Zeit her bereits überzogen.
Bitte, Frau Kollegin Schmidt-Zadel.
Trifft es zu, daß sowohl die Stuttgarter Handelsfirma Rose GmbH wie auch das Ulmer Unternehmen Abakus wegen des Versuchs der Lieferung einer Steuerungsanlage nach Libyen angeklagt worden sind, die für den Betrieb einer Giftgasanlage geeignet oder bestimmt ist?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich werde darauf keine Antwort geben können. Mein Kollege hat soeben schon ausgeführt, daß es staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gibt. Sie können sich aber aus den heutigen Fragestellungen einiges zusammenreimen. Wenn Sie nähere Auskunft haben wollen, empfehle ich Ihnen, mit einem Kollegen der PKK zu sprechen. Sie können aber auch unmittelbar mit mir Kontakt aufnehmen.
Wir kommen damit zur Frage 59 des Kollegen Horst Jungmann:
Wann hat die Bundesregierung ihre Informationen über die im Bau befindliche Anlage in Tarhuna/Libyen an die für die Strafverfolgung zuständigen Behörden weitergegeben, und was ist daselbst veranlaßt worden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, die Bundesregierung hat alle Hinweise unverzüglich an die zuständigen Behörden weitergegeben, die den Hinweisen ebenso unverzüglich nachgegangen sind.
Der erste Hinweis im Zusammenhang mit der möglichen Errichtung einer zweiten CW-Anlage in Tarhuna/Libyen, der sich auf ein deutsches Unternehmen bezog, wurde exakt am 1. September an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Über diesen Hinweis haben die Überwachungsbehörden noch in derselben Woche die Staatsanwaltschaft unterrichtet.
Im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß das Unternehmen von einer potentiellen sensitiven Verwendung der gelieferten Waren, bei denen es sich um Baumaschinen im weiteren Sinne handelte, Kenntnis hatte oder daß die Waren tatsächlich nach Tarhuna gelangt waren. Das Ermittlungsverfahren wurde deshalb von der Staatsanwaltschaft eingestellt.
Auch die übrigen Hinweise im Zusammenhang mit der möglichen Errichtung einer zweiten CW-Anlage in Libyen bzw. in Tarhuna hat die Bundesregierung unverzüglich an die zuständigen Behörden weitergegeben. Die zuständigen Behörden sind auch in diesen Fällen jedem Hinweis unverzüglich nachgegangen. Die diesbezüglichen Recherchen ergaben jedoch keine Anhaltspunkte für Zuwiderhandlungen gegen die Außenwirtschaftsbestimmungen. Insoweit ist nach Kenntnis der Bundesregierung eine Anzeige bei einer Staatsanwaltschaft nicht erfolgt.
Die erste Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie in der Antwort auf meine Zusatzfrage noch das Jahr der Weitergabe nennen, weil Sie nur vom Monat gesprochen haben.
Sind in diesem Zusammenhang durch die Bundesregierung Hinweise an das Zolikriminalinstitut und das Bundesausfuhramt gegeben bzw. Maßnahmen getroffen worden? Sind von diesen Behörden Betriebsprüfungen durchgeführt worden? Wie viele Unternehmen waren beteiligt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Jungmann, ich darf mich zum ersten Teil Ihrer Frage wiederholen. Es ist vielleicht untergegangen: Ich habe exakt das Datum 1. September 1992 als Weiterleitungstermin genannt und gesagt, daß die Sache noch in derselben Woche an die Staatsanwaltschaft weitergegeben worden ist. Das war der erste Teil.
Zum zweiten Teil: Natürlich sind das Zollkriminalamt und der Zollfahndungsdienst, der in der Zuständigkeit des Bundesfinanzministers ressortiert, in diesen Bereichen tätig gewesen.
Die zweite und letzte Zusatzfrage, bitte.
Das ist natürlich schwierig, Frau Präsidentin, denn ich will die Frage nicht ausdehnen, weil Sie so großzügig waren. Aber ein Teil meiner Frage ist nicht beantwortet worden.Hat die Bundesregierung diese Unternehmen im Rahmen der nach Rabta ergangenen Verordnung als unzuverlässig eingestuft, so daß in Zukunft keine Exporte dieser Unternehmen im genehmigungspflichtigen Bereich mehr erfolgen können, Herr Staatssekretär?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich kann die Frage der Einstufung nicht beantworten. Ich
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewalddarf fragen, ob der Vertreter des Wirtschaftsministers oder der Kollege des Bundeskanzleramtes diese Frage beantworten kann.
Herr Abgeordneter, ich kann nur darauf hinweisen, daß selbstverständlich alle Unternehmen, in denen Unregelmäßigkeiten auftreten, in denen sich insbesondere der Exportbeauftragte ein Verschulden zukommen läßt, entsprechend markiert werden und dann entsprechende Auswirkungen bzw. Ableitungen für die zukünftige Genehmigungspraxis vorgenommen werden.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde angekommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b auf:
5. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Physiotherapie
— Drucksache 12/5887 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
-- Drucksache 12/6998 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/6999 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Roland Sauer Dr. Wolfgang Weng (Gerungen) Helmut Wieczorek (Duisburg)
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Neuordnung der Berufe in der Physiotherapie
— Drucksachen 12/5912, 12/6998 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe als erstes die Kollegin Sigrun Löwisch auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Novellierung des heute zu verabschiedenden Gesetzes über die Neuordnung der Berufe in der Physiotherapie hat eine lange Vorgeschichte, auf die ich heute gar nicht eingehen will; denn man bräuchte Stunden, um darüber zu berichten, was alles hier gelaufen ist.Hätte es nicht den Zwang gegeben, die Rechtseinheit mit den neuen Bundesländern und die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in der EG zu beachten, wären wir heute mit Sicherheit nicht bis zu diesem Gesetzentwurf gediehen. Denn darüber, wie diese Novellierung erfolgen soll, gibt es sehr unterschiedliche und strittige Vorstellungen innerhalb der Berufsgruppen. Diese waren sich schon einmal sehr viel näher, aber dieser Konsens ist inzwischen wohl abhanden gekommen.Unsere Fraktion hat sich bemüht, das Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie nach folgenden Grundsätzen zu gestalten:Erstens. Durch die Ausbildung muß gewährleistet werden, daß die Patienten eine bestmögliche fachgerechte Behandlung bekommen.Zweitens. Das neue Ausbildungsgesetz darf nicht von tagespolitischen Problemstellungen, z. B. den Auswirkungen des Gesundheitsstrukturgesetzes, überlagert werden, sondern es muß vorrangig die Qualität der Ausbildung, die dann auch Grundlage für die Qualität der abgegebenen Leistung ist, in den Mittelpunkt stellen.Drittens. Der Übergang vom alten zum neuen Gesetz soll so sozialverträglich wie möglich gestaltet werden.Wir bleiben bei der bisherigen Eigenständigkeit der beiden Berufe und erteilen dem Einheitsberuf in der Physiotherapie eine Absage. Zusammengeführt werden sollen die früher getrennten Berufe der Masseure und der medizinischen Bademeister. In diesem Zusammenhang legen wir großen Wert darauf, daß der Zugang zu diesem Beruf für Blinde und stark Sehbehinderte ohne Einschränkungen weiterhin erhalten bleiben kann;
denn ungefähr 2 000 Blinde und stark Sehbehinderte finden Freude und Anerkennung in diesem Beruf. Und dabei soll es auch bleiben.Am umstrittensten ist die Frage des Umstiegs der schon praktizierenden Masseure nach § 12 des neuen Gesetzes. Es gab Wunschvorstellungen, die zum Teil illusorisch sind und einfach nicht verwirklicht werden können; denn sie beachten nicht, daß Ärzte und Patienten sich darauf verlassen können müssen, daß die von den Physiotherapeuten abgegebenen Leistungen dem gewohnten Standard entsprechen, den man erwarten kann.Für die schon tätigen Masseure und medizinischen Bademeister gibt es für den Übergang abgestufte Umstiegsmöglichkeiten: zum ersten in 18 Monaten, dann nach einer Berufserfahrung von 5 Jahren einen Umstieg in 12 Monaten und im günstigsten Fall in 9 Monaten.Weil uns immer wieder signalisiert wurde, daß die überwiegende Zahl der Masseure in großem Umfange regelmäßig Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten
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Sigrun Löwischwahrnahmen, wird diese Verkürzung vielen zugute kommen.Dieser auf 9 Monate bzw. 1 050 Stunden verkürzte Umstieg ist umstritten, denn es werden Zweifel geäußert, und zwar von vielen Stellen, ob diese kurze Zeit der Nachschulung ausreicht, die bei den Krankengymnasten vorausgesetzten theoretischen und praktischen Grundlagen der Bewegungstherapie nachzuholen, und zwar in dieser kurzen Zeit. Wir meinen auch, daß das die unterste Grenze dessen ist, was im Interesse des Wohls der Patienten noch vertreten werden kann.Weil wir die Schwierigkeiten vor allem der selbständigen Masseure kennen, haben wir die Möglichkeit geschaffen, die Umschulung in Teilzeit zu absolvieren. Drei Anträge haben wir in diesem Gesetzentwurf einfließen lassen, die den Umstieg zum Physiotherapeuten sozialverträglicher machen.Das ist einmal der Fernunterricht, denn der gesamte theoretische Lehrstoff soll im Fernunterricht, also zu Hause, erlernt werden können. Da muß man keinen Schritt vor die Tür setzen. Man kann damit drei Monate absolvieren.
Eine weitere große Erleichterung wird sicherlich sein, daß Teilprüfungen möglich sind. Man kann zunächst einmal die im Fernunterricht oder im Teilzeitunterricht erlernten theoretischen Kenntnisse prüfen lassen. Wir haben auch großen Wert darauf gelegt, daß es keine Festlegung eines Zeitraums gibt, in dem nach der theoretischen die praktische Prüfung abgelegt werden muß. Auch das trägt zur Sozialverträglichkeit dieses Umstiegs bei.Ein dritter Pfeiler ist, daß die staatliche Prüfung, die abgelegt werden muß, eine Ergänzungsprüfung sein wird. Das heißt, alle in der Masseurausbildung schon abgeprüften Fächer werden nicht noch einmal geprüft.
Eine weitere wichtige Erleichterung für die Masseure wird sein, daß sie nach dem Ablegen der Physiotherapeutenprüfung nicht, wie ursprünglich vorgesehen, noch einmal zwei Jahre Praxiserfahrung nachweisen müssen, bevor sie eine Zulassung beantragen können.Von verschiedenen Seiten vorgelegte Forderungen, daß nach zehnjähriger Berufszugehörigkeit ein nahtloser Übergang zum Beruf des Physiotherapeuten möglich sein soll, sind, schlicht gesagt, abwegig. Wir würden einen ganz gravierenden Fehler machen, wenn wir den Schluß zögen, daß Masseure um so eher die Qualifikation der Physiotherapeuten erreichten, je länger sie im Beruf der Masseure praktisch tätig sind. Richtig ist, daß Masseure nach zehn Jahren bessere Masseure sind als vorher. Trotzdem wäre es völlig verfehlt, anzunehmen, daß mit der langjährigen Masseurtätigkeit die Fähigkeit zur klassischen Krankengymnastik erworben würde. Es fehlte hierzu die Praxis; denn ich kenne keine Ärzte und auch keine medizinischen Institutionen, die Masseure beauftragen, Krankengymnastik zu verabreichen. Wie soll dieDauer der Berufserfahrung der Masseure das Erlernen und die Praxis bei der Bewegungstherapie fördern?Deshalb gehen wir schon recht weit, wenn wir einräumen, daß Masseuren nach fünfjähriger Erfahrung eine verkürzte Umschulung möglich ist und bei Nachweis entsprechender Fortbildung weitere drei Monate erlassen werden.Ich denke, daß wir mit diesem novellierten Gesetz in der Physiotherapie neue Chancen gesetzt haben. Diese müssen aber am Schopfe gepackt und von den Physiotherapeuten und den Masseuren wahrgenommen werden. Dann kann dieses Gesetz auch für diese ein Gewinn sein.
Nun hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte geht es um die Verabschiedung eines Berufsgesetzes, das in modifizierter Form schon in der ehemaligen DDR existierte und in verschiedenen Ländern der Europäischen Union längst Praxis ist. Die Berufsbilder alten Rechts, also Masseure, medizinische Bademeister und Krankengymnasten, sollen nach den Vorstellungen der SPD-Fraktion unter der neuen Berufsbezeichnung des sogenannten großen Physiotherapeuten zusammengeführt werden.Frau Kollegin Löwisch, ich bin sehr froh, daß Sie sich mit unserem Antrag auseinandergesetzt haben. Wir wissen, daß dieser Antrag gut ist. Ich will also versuchen, mich auf unseren Antrag zu konzentrieren.
Die Neuordnung der Berufe in der Physiotherapie ergibt sich dabei aus der notwendigen Anpassung an die medizinische Fortentwicklung. Ich denke, bis dahin sind wir uns einig. Notwendig ist dies aber auch deshalb, weil wir eine Rechtsangleichung an den europäischen Standard für dringend geboten halten. Diese Umstrukturierung will durch den neuen Beruf des Physiotherapeuten eine Verzahnung der medizinischen Errungenschaften herbeiführen und die Erfolge der Bewegungstherapie, Massagetherapie, Hydro-, Balneo- und Elektrotherapie sinnvoll verbinden.Die SPD-Fraktion begrüßt daher ausdrücklich die Absicht der Bundesregierung, die angesprochenen medizinischen Berufe neuzuordnen.
— Ich freue mich über Ihren Beifall, aber klatschen Sie nicht zu früh! Jetzt kommt es: Allerdings haben wir in verschiedenen Bereichen erhebliche Kritik anzubringen.
Dies hat uns dazu veranlaßt, einen eigenen Antragvorzulegen. In den Gesprächen mit den Betroffenenund mit Vertretern der Interessenverbände der physi-
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Regina Schmidt-Zadelkalischen Therapie ist unsere Vorlage — nun hören Sie gut zu — immer wieder begrüßt und als echte Lösung bestätigt worden.
Neben dem Ziel, den Einheitsberuf des sogenannten großen Physiotherapeuten zu installieren, halten es die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten trotzdem für erforderlich, den Beruf des Masseurs und des medizinischen Bademeisters zu erhalten, und zwar für diejenigen — und jetzt spreche ich für die blinden und sehbehinderten Menschen in diesen Berufen —, die keine Möglichkeit haben, einen anderen Beruf zu ergreifen, deren Existenz aber dadurch gesichert werden kann. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß sie den Beruf des „großen Physiotherapeuten" nicht doch über Nachqualifizierung erreichen können. Diese Entscheidung liegt jeweils im Einzelfall begründet. Dies muß jeder für sich alleine entscheiden können. Wichtig ist aber, daß ihnen die Wahlmöglichkeit erhalten bleibt.Frau Kollegin, bei dem Stichwort Nachqualifizierung scheiden sich dann allerdings die Geister.
Der Herr Minister ist nicht da.
— Ach, Frau Staatssekretärin, das ist sehr schön. Ich hatte Sie nicht telefonierend bei der F.D.P. vermutet. — Damit keinerlei Zweifel aufkommen, sage ich: Die SPD ist grundsätzlich der Auffassung, daß die berufliche Neuordnung im Bereich der physikalischen Therapie notwendig ist. Darüber besteht zunächst einmal kein Dissens. Klar ist auch: Die Neuordnung bringt höhere Standards und macht es daher erforderlich, daß sich alle Beteiligten entsprechend nachqualifizieren.Hier genau besteht der Unterschied zwischen unseren Auffassungen. Wir sind der Meinung, daß alle Beteiligten, sowohl die Masseure und medizinischen Bademeister als auch die Krankengymnasten, Defizite in ihrer bisherigen Ausbildung haben, Defizite, die bei der Qualifizierung zum Physiotherapeuten ausgeglichen werden müssen. Wir machen es uns nicht so einfach wie Sie
und behaupten nicht pauschal, die Krankengymnasten seien quasi die Avantgarde der physikalischen Therapie und praktisch schon heute das, was sie erst morgen unter der neuen Bezeichnung Physiotherapeut sein dürfen. Wir halten die Masseure auch nicht durch die Bank für so rückständig, daß die Qualifizierung zum Physiotherapeuten erst unter erheblichen Kosten durch eine Nachschulung möglich ist.
An Ihrem Gesetzentwurf stört uns daher der Mangel an Differenzierung und die eklatante Ungleichbehandlung von Masseuren und medizinischen Bademeistern gegenüber den Krankengymnasten, eine Ungleichbehandlung, die in dieser extremen Form nicht gerechtfertigt ist und die Betroffenen vor große soziale Härten stellen kann.
Nehmen wir als Beispiel einen Masseur und medizinischen Bademeister mit eigener Praxis, etwa 55 Jahre alt, 35 Berufsjahre und mit zahlreichen Fortbildungen und Nachqualifikationen. Nach unseren Vorstellungen könnte dieser Masseur nach Ablegung einer Ergänzungsprüfung nach dem Vorbild des Logopädengesetzes die Qualifikation zum Physiotherapeuten erhalten. Es ist deshalb aus unserer Sicht nicht einzusehen, warum jemand in diesem Alter und mit dieser Berufserfahrung nach drei Jahrzehnten noch einmal nachschulen muß und ein Examen oder ein Zweites Staatsexamen ablegen soll, ganz zu schweigen von den Kosten, die entstehen, wenn der Mann oder die Frau deswegen entweder die Praxis schließen oder eine Vertretungskraft einstellen muß. Zusammen mit den Lehrgangsgebühren und dem Verdienstausfall kommen nach Schätzung der Berufsverbände damit an die 110 000 DM zusammen.
Meine Damen und Herren, das ist für viele der etwa 20 000 selbständigen Masseure und medizinischen Bademeister nicht zu finanzieren und kann sich oft in der noch verbleibenden Berufszeit nicht amortisieren.Dennoch bleibt die Bundesregierung — ich muß sagen: leider — bei ihrer harten Linie, weil sie offenbar die Gelegenheit nutzen möchte, im Hinblick auf Einsparungen im Gesundheitswesen
auf einen Schlag eine ganze Reihe von Leistungsanbietern loszuwerden.
Ich formuliere das bewußt etwas überspitzt, aber ich will Ihnen das zu bedenken peben.
Wenn man Ihre Aussagen bei verschiedenen Anlässen noch einmal nachliest, so ist der Eindruck nicht falsch. Herr Minister Seehofer hat bei einem Gespräch mit Masseuren in Erwitte gesagt: Erstens habt ihr das GSG, und zweitens müßt ihr mal überlegen, ob ihr nicht zu viele seid.Ins gleiche Horn haben auch Sie, Herr Kollege Hoffacker, gestoßen, als Sie bei dem VPT in Recklinghausen feststellten: Ihr müßt mal überlegen, ob ihr nicht zu viele seid. Zwei Männer — ein Gedanke. Das gibt doch zu denken.Kolleginnen und Kollegen, Einsparungen bei den Gesundheitskosten sind erforderlich. Wir haben auch dazu gestanden. Das gemeinsam verabschiedete GSG hat hier einiges bewirkt. Es hat den Leistungsanbie-
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Regina Schmidt-Zadeltern und hier eben auch den Masseuren Einschnitte gebracht, die früher die Versicherten getroffen hätten.
Wir dürfen aber jetzt nicht in den Fehler verfallen, von der Neuregelung der Berufe in der physikalischen Therapie Steuerungseffekte für die Zahl der Leistungsanbieter zu erwarten. Das kann nicht Sinn und Zweck dieser Berufsreform sein.
Diese Reform muß dazu genutzt werden, auf sinnvolle Weise und sozial gerecht die Berufe der Physiotherapie an die medizinische Entwicklung anzupassen. Darum geht es bei dieser Reform,
und darauf sollten wir uns konzentrieren.Die SPD hat daher im Ausschuß mit der Einbringung eines Entschließungsantrages versucht, noch einmal Änderungen von Qualitätsstandards für Fort- und Weiterbildungskurse für Lehrkräfte und die Festlegung von Mindestnormen
in bezug auf die Ausstattung der Schulen zu erreichen. — Hören Sie gut zu, dann wissen Sie, wovon ich rede.Des weiteren sollten die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen eine zeitliche Entzerrung der Abschlußprüfungen zulassen. Auch dies wurde mit Ihren Stimmen leider abgelehnt.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, mit der SPD wird es keine Benachteiligungen eines Berufsbildes geben. Die stufenweise Nachqualifizierung ist für beide Berufe unerläßlich und wird letztlich so zum Erfolg für die medizinischen Berufe führen.Ich bitte Sie ganz herzlich und dringend im Interesse der Betroffenen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in dieser Form nicht zuzustimmen
und gemeinsam mit uns über Änderungen nachzudenken.Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann Sie nur bitten, den Wünschen von Frau Schmidt-Zadel nicht zu folgen, sondern dem Koalitionsantrag zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Gesetz Qualität sichern.
Das ist der entscheidende Punkt.
Wir wollen zweitens mit diesem Gesetz zwei Möglichkeiten erhalten: Wir wollen auf der einen Seite das bisherige Berufsbild des Masseurs und des medizinischen Bademeisters erhalten und auf der anderen Seite den Physiotherapeuten schaffen. Der Physiotherapeut muß auf den Weg gebracht werden, weil wir in Europa diese Anforderungen haben, und weil wir auch den Kollegen in den neuen Bundesländern in diesem Bereich Sicherheit bieten müssen.
Von daher wollen wir diesen Weg gehen.
Das Entscheidende ist, daß die Qualifikationsanforderungen im Eingangsbereich sehr unterschiedlich sind. Ich halte es wirklich für sehr sinnvoll — darum habe ich mich dafür eingesetzt —, daß es Aufstiegschancen für die Masseure gibt, daß sie nach einer Ausbildung erkennen: Ich kann weiter nach oben aufsteigen und neue Positionen erreichen. Dies ist für die Koalition ein ganz entscheidender Punkt gewesen.
Es gab die strittige Frage, wie der Aufstieg organisiert werden kann. Ich denke, hier hat sich die Koalition wirklich bewegt. Wir haben hier die Möglichkeiten geschaffen, nicht nur in 18 Monaten, sondern für die, die länger als Masseur im Beruf tätig sind, in zwölf Monaten die Nachqualifikation zu erreichen. Wer als Masseur in der Vergangenheit schon Weiterbildungschancen genutzt hat, kann die Ausbildung um weitere drei Monate verkürzen. Neun Monate braucht man, um die Qualifikation zu erhalten und eine gute Qualität zu erreichen.Wir — und auch Sie — reden die ganze Zeit über Qualitätssicherung in allen Bereichen.
Dann muß man Sie auch beim Wort nehmen und fragen: Wie halten Sie es mit der Qualitätssicherung in diesem Bereich? Wir sind es auch den Patienten schuldig, daß wir hier eine solche Qualifikation anfordern.Außerdem: Fernstudienmöglichkeiten. Hierdurch ist noch einmal eine Verkürzung um drei Monate möglich. Als weiteres Bonbon haben wir die Stufenregelung festgelegt, und es gibt kein Endstaatsexamen, sondern nur die Ergänzungsprüfungen. Auch dies ist eine Erleichterung, die wir bewußt eingebaut haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nach Europa schauen, und lassen Sie uns in die neuen Bundesländer schauen. Ich hoffe, daß endlich seit 1958 mit diesem Gesetz eine Qualitätssteigerung möglich ist. Dies sind wir allen schuldig. Wir möchten, daß dieses Gesetz nach so vielen Jahren nun endlich über die Rampe kommt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18693
Dr. Dieter ThomaeHerzlichen Dank.
Eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Schmidt-Zadel.
Herr Dr. Thomae, sind Sie denn bereit, mir zuzustimmen, daß es in beiden Berufen Defizite gibt, nicht nur im Beruf des Masseurs, sondern auch im Beruf des Krankengymnasten?
Ich wäre dann ganz sicher und könnte Ihre Frage bejahen, wenn wir nicht als Limit die Anforderungen an den Physiotherapeuten den Anforderungen an den Krankengymnasten gleichgestellt hätten. Von daher sind keine Nachqualifikationen für diesen Bereich notwendig.
Als nächste Rednerin Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das stimmt nicht, daß ich noch nie da war. Außerdem arbeite ich natürlich sehr gut mit meiner Kollegin zusammen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bedeutung physiotherapeutischer Behandlung im Gesamtkonzept der Medizin steigt weiter an. Das hat kürzlich die zwar späte, aber nunmehr auch in der Bundesrepublik erfolgte Schaffung eines eigenständigen Facharztes für dieses Gebiet unterstrichen. Angesichts erweiterter Einsatzfelder nicht nur in der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation, sondern zunehmend auch in der Prävention ergeben sich deutlich gewachsene und zugleich gewandelte Ansprüche an das Profil der entsprechenden mittleren medizinischen Berufe und an das Niveau ihrer Ausbildung.
Die Notwendigkeiten der Anpassung an den europäischen Wirtschaftsraum und die innerdeutsche Rechtsangleichung haben den Handlungsbedarf im Sinne klarerer Berufsbilder und qualitätssichernderer Standards noch verstärkt.
Was hat die Bundesregierung aus dieser Situation, die bekanntlich schon seit längerem den Gesetzgeber herausfordert, nun gemacht? Sie hat ein Gesetz vorgelegt, das zweifellos Fortschritte und Verbesserungen bringt.
Auch im Ergebnis der Arbeit des Ausschusses sind noch positive Korrekturen angebracht worden. — Das wäre dann ein direktes Lob. — Ich denke hier z. B. an die Möglichkeit, den theoretischen Unterricht bei der Durchstiegsqualifikation auch in Form eines Fernunterrichts zu gestalten, oder an die Flexibilisierung der vorgesehenen Altersgrenzen für Ausbildungsanfänger.
Entscheidender ist allerdings, daß wiederum nicht das alte Gleis einer einmal historisch entstandenen deutschen Sonder- und Fehlentwicklung verlassen wurde. Das ist eine Kritik, die sicher in erster Linie den Ausschuß betrifft. Die Chance einer wirklich grundlegenden Neuregelung, die vorrangig an den wissenschaftlichen und praktischen Erfordernissen der Berufsentwicklung und weniger an widerstreitenden Gruppenegoismen ausgerichtet ist, wurde hier wieder einmal vertan.
Ich denke — natürlich spreche ich hier im Namen der PDS —, für die Zukunftsorientierung der Berufsangehörigen und für ihre Wettbewerbsfähigkeit auch über die Grenzen dieses Landes hinaus wäre es besser gewesen, den modernen internationalen Entwicklungen gleich richtig Rechnung zu tragen,
die bisherige Trennung der beruflichen Profile aufzuheben sowie einen komplex ausgebildeten Physiotherapeuten zu schaffen.
Trotz mancher gegenteiliger Aussage liegt es übrigens auf der Hand, daß ein Physiotherapeut, der sowohl die Bereiche der klassischen Krankengymnastik als auch die der manuellen und physikalischen Therapie, also sowohl die stärker aktiven als auch die mehr passiven Methoden beherrscht, letztlich auch für die Kooperation mit den Ärzten ein geeigneterer Partner ist.
Selbstverständlich soll und muß es weiterhin — darüber kann es gar keinen Streit geben — den Beruf des Masseurs und medizinischen Bademeisters mit den entsprechenden Durchstiegsmöglichkeiten geben.
Schließlich ist es sehr wichtig, daß der Berufszugang für Sehbehinderte und Blinde voll erhalten bleibt. Jeder weiß um ihre qualifizierte Arbeit gerade auf dem zur Debatte stehenden Gebiet.
Abschließend bleibt wiederum festzustellen, daß die Bundesregierung auch mit diesem Gesetz nicht den leisesten Versuch gemacht hat, gemeinsam mit den Ländern die generellen Mängel und Strukturfehler der medizinischen Berufsausbildung — sprich: Schulstandards, Lehrerqualifikation, Ausbildungsvergütungen und anderes mehr — anzugehen.
Ich danke Ihnen.
Nun spricht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Bergmann-Pohl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den Diskussionen über das Physiotherapeutengesetz wird oft allzuleicht übersehen: Es ist ein Berufszulassungs- und Berufsausbildungsgesetz. Es betrifft diejenigen, die sich künftig für die Berufe des Masseurs und medizinischen Bademeisters oder des Physiotherapeuten als Lebensberuf entscheiden. Sie alle brauchen eine an die Entwicklung angepaßte qualitativ hochwertige Ausbildung, damit sie dem schärfer werdenden Kon-
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18694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl kurrenzkampf innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums besser gewachsen sind und den gestiegenen Anforderungen in der Physiotherapie gerecht werden können. Darauf haben auch die Patienten einen Anspruch.
Das, meine Damen und Herren, sind die Ziele des Physiotherapeutengesetzes.Der vorliegende Gesetzentwurf ist weder ein Berufsstatus- noch ein Berufschancengesetz. Es ist schon gar nicht ein Gesetz, mit dem bestimmte Regelungen des Gesundheits-Strukturgesetzes außer Kraft gesetzt werden können. Einziger Maßstab für dieses Gesetz müssen allein die Anforderungen sein, die sich vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren erfolgten differenzierten Entwicklung an die Berufe in der Physiotherapie heute und morgen stellen. Diesen aktuellen Anforderungen wird der Gesetzentwurf gerecht. Wir können es uns nicht leisten, die überfällige Neuordnung in diesem Bereich erneut zu zerreden. Die Neuordnung muß jetzt kommen.Wir versuchen nun zum dritten Mal, das inzwischen 35 Jahre alte Gesetz über die Ausübung der Berufe des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten durch moderne Regelungen abzulösen.
— Genau: endlich. — Jetzt, beim dritten Anlauf, schienen die Gegensätze zwischen den Berufsgruppen endlich überwunden.
Leider haben aber die Masseure ihren kurz zuvor erklärten Konsens teilweise wieder aufgegeben.
Sie wünschen noch weitere Erleichterungen für den Erwerb der Zusatzqualifikation zum Physiotherapeuten.Ich sage in aller Deutlichkeit: Es wird keine Zusatzqualifikation im Sonderangebot geben. Ein nur dreimonatiger Lehrgang würde weder den Patienten noch den Masseuren und medizinischen Bademeistern gerecht. Die notwendige fachliche Qualifikation bliebe bei einem solchen Schnelldurchlauf auf der Strecke. Ärztliche und krankengymnastische Experten haben klar herausgestellt, daß eine solche Minimalzusatzausbildung jenseits des medizinisch Verantwortbaren läge.Auch qualitative Aspekte sprechen dagegen, einen physiotherapeutischen Einheitsberuf zu schaffen. Zwar überlappen sich die Tätigkeiten zum Teil in ihren Kernbereichen, aber sie stellen sehr differenzierte Anforderungen an den jeweiligen Beruf. Es kann deshalb keinen Einheitsberuf geben. Die Folge wäre, daß der hohe Standard der physiotherapeutischen Versorgung auf der Strecke bliebe.In beiden Berufen muß eine ausreichende Lebens-und Existenzgrundlage möglich sein. Schon aus diesem Grunde verbietet es sich, den Überlegungen der SPD zu folgen und sozusagen einen großen Physiotherapeuten und einen kleinen Masseur zu schaffen.
— Es handelt sich um einen Masseur, der wenig zu tun hat, weil er keine Ausbildungsinhalte hat, und der daher auch nicht in der Lage ist, entsprechend qualifiziert zu handeln, lieber Herr Kollege.Meine Damen und Herren, in beiden Berufen werden die Ausbildungen jetzt erheblich verbessert. Die Einzelheiten kennen Sie; ich brauche sie hier nicht noch einmal aufzuzählen. Zwar werden beide Ausbildungen dadurch vordergründig teurer, am Ende kommen sie jedoch für die Berufsangehörigen billiger, weil Kenntnisse und Fertigkeiten bereits in der Grundausbildung vermittelt werden können, für deren Erwerb bisher zeit- und kostenaufwendige Fortbildungsveranstaltungen besucht werden mußten. Eine Ausbildungs- und Prüfungsverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit wird dies näher regeln. Ein Vorentwurf dieser Verordnung hat dem federführenden Ausschuß bereits während der Beratung des Gesetzentwurfes vorgelegen.Ich sage noch einmal: Masseure und medizinische Bademeister erhalten eine faire Chance, unter medizinisch vertretbaren Bedingungen zusätzlich die Qualifikation zum Physiotherapeuten zu erwerben.
Am Ende dieser Zusatzausbildung steht die staatliche Ergänzungsprüfung, die in zwei Teilabschnitten abgelegt werden kann. Dies ist unter fachlichen Aspekten bereits eine sehr großzügige Regelung, von der es keine weiteren Abstriche geben kann.Ich appelliere hier ganz ausdrücklich an den Bundesrat, dies mitzutragen; denn sowohl unter medizinisch-fachlichen wie auch unter berufsbildungspolitischen Gesichtspunkten werden wir keine günstigere Lösung finden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Wir sind es den jungen Berufsanfängern und den Patienten schuldig, daß wir nun endlich, nach 15jähriger fachlicher und politischer Diskussion, nach drei Anläufen
— nach 15jähriger fachlicher und politischer Diskussion, sowie nach drei Anläufen — und erstmals nach 35 Jahren die dringend fällige Neuordnung des Zugangs zu den physiotherapeutischen Berufen vom Tisch bringen. Deshalb hoffe ich, daß Sie heute alle, auch Sie von der SPD, dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.Wir kommen dann zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Berufe in der Physiotherapie auf den Drucksachen 12/5887 und 12/6998. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustim-
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Vizepräsidentin Renate Schmidtmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in Zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Wir kommen nun zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.Wir stimmen nun ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Neuordnung der Berufe in der Physiotherapie auf der Drucksache 12/6998. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/5912 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? —Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/6998 außerdem die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? —Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig bei zwei Stimmenthaltungen angenommen.Ich informiere Sie darüber, daß der Tagesordnungspunkt 6 abgesetzt ist.Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 7:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften— Drucksache 12/6479 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/7005 —Berichterstattung:Abgeordnete Fritz Rudolf Körper Otto RegenspurgerHeinz-Dieter HackelNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Otto Regenspurger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wir beraten heute den Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften. Dahinter verbirgt sich die Neugestaltung der dienstrechtlichen Regelungen zur Teilzeitbeschäftigung und langfristigen Beurlaubung im Beamtenverhältnis. Das Gesetz ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Flexibilisierung des öffentlichen Dienstrechts. Es war schon immer ein besonderes Ziel der Dienstrechtspolitik der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien, CDU/CSU und F.D.P., Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung zu fördern, wann und wo immer es möglich ist. Die 1969 eingeführte familienpolitische Teilzeit und die 1980 erstmals aufgenommene arbeitsmarktpolitische Teilzeit sind seitdem kontinuierlich ausgeweitet worden. So kommt dem öffentlichen Dienst bereits heute eine Vorreiterrolle bei der Teilzeitbeschäftigung zu.In den alten Bundesländern waren 1992 18,8 % der Beamten, Angestellten und Arbeiter, somit über 935 000 von fast 5 Millionen teilzeitbeschäftigt. Zusammen mit den neuen Ländern beträgt die Quote 16,3 %. Nahezu jeder fünfte bzw. sechste Beschäftigte im öffentlichen Dienst war somit teilzeitbeschäftigt. Zum Vergleich: In der gewerblichen Wirtschaft beläuft sich der Anteil der Teilzeitbeschäftigten auf ca. 9,4 %.Das vom Bundesminister des Inneren initiierte Programm zur Schaffung zusätzlicher Teilzeitarbeitsplätze im öffentlichen Dienst sieht als einen besonderen Schwerpunkt die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen von Teilzeitbeschäftigung und langfristiger Beurlaubung vor.Hier kommt dem vorliegenden Entwurf in der Ausschußfassung eine besondere Bedeutung zu. Im wesentlichen ist vorgesehen: erstens die Aufgabe der Höchstgrenze von 15 bzw. 20 Jahren bei der familienpolitischen Teilzeitbeschäftigung, also künftig unbegrenzte Teilzeitbeschäftigung, solange die familienpolitischen Voraussetzungen vorliegen.Zweitens. Es ist die Schaffung einer neuen Fallgruppe von Teilzeitbeschäftigung für Bereiche des öffentlichen Dienstes vorgesehen, in denen ein außergewöhnlicher Bewerbermangel für das Beamtenverhältnis besteht und deshalb zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung ein dringendes Bedürfnis zur Gewinnung von Teilzeitkräften gegeben ist.Drittens. Es ist die Aufgabe der Befristung — jetzt bis zum 31. Dezember 1996 — von Teilzeitbeschäftigung oder Urlaub bei der arbeitsmarktpolitischen Fallgruppe vorgesehen. Damit soll eine beamtenrechtliche Dauerregelung mit dem Ziel der Entlastung des Arbeitsmarktes sichergestellt werden, z. B. der Abbau von Arbeitslosigkeit.Viertens. Es ist die Aufnahme einer Ausnahmeregelung vorgesehen, nach der älteren Beamtinnen und Beamten sowie Richtern ab der Vollendung des 50. Lebensjahres Teilzeitbeschäftigung auch ohne die arbeitsmarktpolitischen Voraussetzungen bewilligt werden kann, wenn diese zuvor mindestens 15 Jahre teilzeitbeschäftigt waren und ihnen eine Rückkehr zur Vollzeitbeschäftigung nicht mehr zuzumuten ist.Fünftens. Es ist die Aufnahme eine Regelung vorgesehen, nach der Beamte, die Teilzeitbeschäftigung beantragen, auf die Rechtsfolgen von Teilzeitbeschäftigung oder Beurlaubung insbesondere bei der Versorgung hinzuweisen sind.Meine sehr verehrten Damen und Herren, alle Dienstherrn dürfen auch künftig in ihren Anstrengungen für ein vermehrtes Angebot von Teilzeitarbeitsplätzen nicht nachlassen. Denn Teilzeitbeschäftigung ist eine vollwertige Arbeitsform. Dies wird durch das
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18696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Otto RegenspurgerElfte Dienstrechtsänderungsgesetz noch einmal ausdrücklich unterstrichen.Die vom Ausschuß beschlossene Fassung des Gesetzentwurfs ist eine Grundlage für die Bundesländer — insbesondere im Kultusbereich —, schon jetzt Vorbereitungen für die Personalplanung der zweiten Jahreshälfte 1994, also zum Beginn des Schuljahres 1994/95 zu treffen. Hier können die Länder die beabsichtigten Regelungen gegebenenfalls bereits im Vorgriff auf entsprechende Änderungen des Landesrechts anwenden.Zum Schluß darf ich noch auf eine grundsätzliche Frage eingehen: Bei aller Zustimmung zur erweiterten Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung im Beamtenverhältnis darf nicht unerwähnt bleiben, daß es sich hier um einen Ausnahmetatbestand handelt. Das Beamtenverhältnis ist und bleibt auf Dauer angelegt und erfordert die volle Hingabe mit allen Pflichten, also auch die volle Dienstzeit der Beamtinnen und Beamten.Die CDU/CSU wird an diesen Grundsätzen nicht rütteln lassen. Wir sind uns der Verantwortung für den öffentlichen Dienst, dem Dienst für die Bürger, bewußt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auch einmal den Bediensteten, die oft im Regen stehengelassen werden, für ihre geleisteten Dienste, die ja infolge von Gesetzen und Verordnungen erfolgen, herzlich zu danken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CDU/CSU wird dem vorgelegten Entwurf in der Ausschußfassung zustimmen. Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, auf die stets kollegiale Zusammenarbeit im Ausschuß hinzuweisen. Es ist nicht überall so. Wir haben ein herzliches Verhältnis. Hier geht es um die Sache.Frau Präsidentin, wenn Sie mich loben wollen, weil ich meine Redezeit nicht ausgenutzt habe, habe ich nichts dagegen.
Lob und Dank, Herr Regenspurger.
Als nächster spricht der Kollege Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Nachfrage nach Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen ist außerordentlich hoch. Die Bundesrepublik Deutschland liegt im Angebot an Teilzeitarbeit im internationalen Vergleich auf einem hinteren Platz. Der Anteil der Versicherungsbeschäftigten in Teilzeit, also unter 35 Stunden, lag im März 1993 bei nur 12 %. In vielen anderen OECD-Ländern ist der Anteil weitaus höher; beispielsweise in unserem Nachbarland den Niederlanden beträgt er rund 30 %.Teilzeitarbeit stößt bei vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf eine breite Akzeptanz. Befragungen zeigen auch, daß die Zahl derjenigen, die trotz der Einkommenseinbußen von Vollzeit in Teilzeit wechseln möchten, die Zahl derjenigen weit übersteigt, die umgekehrt statt ihrer derzeitigen Teilzeitstelle lieber eine Vollzeitstelle hätten.Dieser Gesetzentwurf beschäftigt sich mit Änderungen des Angebots an Teilzeitbeschäftigungen im öffentlichen Dienst. Er will sie verbessern und tut es wohl auch. Die bisherigen Regelungen des Beamtenrechts sind deshalb notwendigerweise auszuweiten.Nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion muß das Angebot für Teilzeitbeschäftigung alle Bereiche und Aufgaben des öffentlichen Dienstes erfassen und muß qualifizierte Arbeitsplätze bis hin zur Leitungsfunktion einschließen. Eine Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung entspricht eindeutig den arbeitsmarktpolitischen Erfordernissen.Den persönlichen Bedürfnissen der Beschäftigten im Rahmen der dienstlichen Interessen muß möglichst weitgehend gerecht entgegengekommen werden.
Deshalb sind z. B. die Aufnahme von Teilzeitbeschäftigung und Rückkehr zur Vollzeitbeschäftigung grundsätzlich so zu regeln, daß sie dem Prinzip der Freiwilligkeit Rechnung tragen.
Die bis zum heutigen Tag geltenden Regelungen sind unbefriedigend. Aus diesem Grunde ist es richtig, daß der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung wesentlich verbesserte Voraussetzungen für Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung im Beamtenrecht vorsieht.Kritisch will ich hinzufügen, daß die Bundesregierung bedauerlicherweise mit dem Hinweis auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums daran festhält, Teilzeitbeschäftigung nicht generell zuzulassen,
sondern diese nur unter bestimmten Voraussetzungen auf familien- und arbeitsmarktpolitische Fallgruppen beschränken will. Wir hätten es sehr begrüßt, wenn Teilzeitbeschäftigung generell zugelassen worden wäre und dies nicht bestimmter Tatbestände bedurft hätte.In den Beratungen insbesondere im Bundesrat wurde der vorliegende Gesetzentwurf verändert und ergänzt. Wir halten die beabsichtigte Fortführung der bereits jetzt geltenden Regelung zur Altersteilzeit und zum Altersurlaub für richtig. Entsprechend dem Vorschlag des Bundesrates halten wir es für die Gewährung von Altersurlaub für ausreichend, daß in der Kombination von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung rechnerisch eine Vollzeitbeschäftigung von 20 Jahren vorliegt.Ursprünglich war in dem Gesetzentwurf auch vorgesehen, die Altersgrenze beim 55. Lebensjahr zu belassen. Mit dieser Altersgrenze wurde insbesondere die Problematik derjenigen Beamtinnen und Beamten nicht gelöst, die nach Ausschöpfung aller Teilzeitmöglichkeiten in der Lebensmitte vor der Frage stehen, entweder eine Vollzeittätigkeit wieder aufzunehmen oder aus dem Berufsleben auszuschei-
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Fritz Rudolf Körperden. Deshalb wurde der Vorschlag gemacht, diese Lebensaltersgrenze zumindest auf das 50. Lebensjahr zu reduzieren. Diese Änderung wurde auch von seiten des Innenausschusses einstimmig angenommen, was ein Schritt in die richtige Richtung ist.Die Vertreter der Bundesregierung haben im Zuge der Innennausschußsitzung am 2. März 1994 deutlich betont, daß bei der familienpolitischen Teilzeitregelung zukünftig ein Rechtsanspruch bestehen soll. Das bedeutet, daß die Betroffenen nicht von der Genehmigungspraxis der jeweiligen Behörden abhängig sind. Wir halten es für richtig, daß hier keine Kann-Regelung eingeführt worden ist, sondern daß die Soll-Vorschrift Anwendung findet!Währenddessen enthält der Gesetzentwurf bei der arbeitsmarktpolitischen Teilzeitregelung eine Kann-Bestimmung. Die Praxis muß beweisen, ob diese Regelung in dieser Form praktikabel ist oder nicht.Da durch die Teilzeitbeschäftigung und die Beurlaubung im öffentlichen Dienst mit Sicherheit Mehrkosten entstehen, wird unsererseits die Bundesregierung gebeten, bis zum Juni dieses Jahres in einem Bericht einmal klar darzustellen, welche zusätzlichen Gemein- und Arbeitsplatzkosten sowie Mehrkosten der Beamtenversorgung und Beihilfe entstehen, und einen Vergleich mit den entsprechenden Kosten bei Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung im Arbeitnehmerverhältnis anzustellen.In diesen Vergleich müssen nicht nur die Kosten für die öffentlichen Haushalte, sondern auch die anderweitig entstehenden Kosten, so z. B. bei der gesetzlichen Krankenversicherung, einbezogen werden. Es ist dringend notwendig, dieses Zahlenmaterial für die weitere Beratung zu diesem Thema zu bekommen; denn mit Sicherheit wird es so sein, daß die Teilzeitbeschäftigung wohl auch im öffentlichen Dienst noch mehr ausgeweitet werden muß.Lassen Sie mich noch einen kritischen Satz hinzufügen: Wie — na ja — wenig konzeptionell die Vorgehensweise in diesen Beschäftigungsfragen ist, wird dadurch deutlich, daß wir demnächst im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften die verlängerte Lebensarbeitszeit für Beamtinnen und Beamte beraten. Wir haben das ja das letzte Mal von der Beratung des Innenausschusses abgesetzt. Ich kenne die Geschichte und die Hintergründe dieser Maßnahme. Wenn man aber beide Gesetzentwürfe in dieser relativ kurzen zeitlichen Abfolge sieht, dann muß man zumindest die Frage stellen dürfen, ob da nicht konzeptionell ein gewisser Widerspruch deutlich wird.Wir fordern die Bundesregierung auf, grundsätzlich zu überlegen, wie ihr arbeitsmarktpolitischer Beitrag in der derzeitigen Situation aussehen soll.Ich möchte noch eine Bitte in diesem Zusammenhang äußern, nämlich zu prüfen, inwieweit die Nebentätigkeitsregelungen den heutigen Erfordernissen des Arbeitsmarktes noch entsprechen. Uns liegen Zahlen und Informationen vor, aus denen ersichtlich wird, daß die Nebentätigkeit mittlerweile einen relativ großen Umfang erreicht hat.Meine Damen und Herren, wir haben uns in die Beratungen im Innenausschuß eingebracht. Alternativvorschläge wurden übernommen. Wir stimmen diesem Gesetzesvorhaben zu.Schönen Dank.
Nun hat der Kollege Manfred Richter das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im öffentlichen Dienst gibt es derzeit etwa 900 000 Teilzeitbeschäftigte. Der weitaus überwiegende Teil ist im Bereich der Arbeiter und Angestellten tätig. Mit dem jetzt zur Verabschiedung vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die Teilzeitmöglichkeiten auch für Beamte weiter verbessern.Dies ist notwendig, weil das Berufsbeamtentum nicht aus einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt werden darf. Wir müssen mehr Angebot schaffen, um zu flexibleren Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen zu kommen und um den Veränderungen im Freizeitverhalten der Menschen Rechnung zu tragen.
Die Nachfrage nach mehr Teilzeitarbeit ist eben nicht nur arbeitsmarktpolitisch oder familienpolitisch zu begründen. Deswegen ist es auch besonders zu begrüßen, daß wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen weiteren Schritt unternehmen, in der Perspektive von bestimmten Fallgruppen, die einen Antrag auf Teilzeitbeschäftigung stellen können, wegzukommen.
Ein erster Schritt hierfür ist, daß nunmehr auch für Bereiche des öffentlichen Dienstes, in denen ein außergewöhnlicher Bewerbermangel für das Beamtenverhältnis besteht, die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung geschaffen wird.Wir haben den Gesetzentwurf während der Ausschußberatungen in aus meiner Sicht zwei wesentlichen Punkten nachgebessert:Erstens. Wir haben die bestehenden Möglichkeiten für Altersurlaub bei Beamten erweitert. Danach wird die Gewährung von Altersurlaub bei Beamten nicht nur von einer Vollzeitbeschäftigung von 20 Jahren abhängig sein, es wird ausreichen, daß die Vollzeit-und die Teilzeitbeschäftigung insgesamt 20 Jahre lang ausgeübt wurden.
Zweitens. Wir haben den Vorschlag des Bundesrates aufgegriffen, die Altersgrenze auf 50 Jahre herabzusenken.Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist gut, wenn wir Beamten mehr Freiheit für ihre individuelle Lebensgestaltung und mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung außerhalb des Berufs geben, und zwar dort, wo der Wunsch besteht, also freiwillig
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18698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Manfred Richter
und nicht gezwungenermaßen, wie es sich wohl der saarländische Ministerpräsident vorstellt.
Insofern habe ich mich, Herr Körper, über Ihre deutlichen Worte sehr gefreut.
— In der Tat.Es besteht auch gar keine Veranlassung dazu, das Prinzip der Freiwilligkeit von Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung über Bord zu werfen. Ich wünsche mir übrigens noch eine größere Ausweitung der Teilzeitmöglichkeiten. Um die Grundprinzipien des Berufsbeamtentums ist mir dabei, lieber Otto Regenspurger, nicht bange.
Ich denke, wir sollten über dieses Thema im Gespräch bleiben. Wie immer man es beurteilen mag, auch die weiteste Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Und den tun wir heute.
Ich glaube, wir sind uns auch einig, wenn ich sage, daß man einigen Mißverständnissen in der Erwartung vorbeugen muß. Im Ergebnis darf Teilzeitarbeit natürlich nicht zu einer Erhöhung des Personalkostenanteils der öffentlichen Haushalte führen. Das können wir uns aus haushaltspolitischen Gründen auch gar nicht leisten. Es ist aber auch nicht wünschenswert, die Zahl der Mindestversorgungsempfänger zu vergrößern. Mehr Teilzeitbeschäftigung heißt nicht zwangsläufig mehr Ausgaben. Es muß vielmehr durch organisatorische Maßnahmen aufgefangen werden.
Denn wir sind uns darüber einig, daß der Dienstbetrieb nicht beeinträchtigt werden darf.Ich glaube, daß uns in diesem Sinne ein gutes Gesetzeswerk gelungen ist. Ich freue mich, daß wir diese Arbeit heute zum Abschluß bringen können.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften auf den Drucksachen 12/6479 und 12/7005. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei zwei Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. —
Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? —Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung bei zwei Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 8 und Zusatzpunkt 6 auf:
8. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines . . . Strafrechtsänderungsgesetzes — §§ 175, 182 StGB
— Drucksache 12/4584 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/7035 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Eylmann Jörg van Essen
Dr. Jürgen Meyer
ZP 6 — Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstrafrechts
— Drucksache 12/4232 —
— Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der psychosexuellen Entwicklung von Jugendlichen — Streichung der §0 175 und 182 StGB, § 149 StGB/DDR
— Drucksache 12/1899 —
— Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsgleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/850 —
Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
— Drucksache 12/7035 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Eylmann
Jörg van Essen
Dr. Jürgen Meyer
Zum Strafrechtsänderungsgesetz liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe als erste Frau Dr. Barbara Höll auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der heutige Fall des §175 des Strafgesetzbuches bringt eine lange und unheilvolle Geschichte dieses Paragraphen zu Ende. Bereits im Reichstag des Kaiserreiches brachte die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18699
Dr. Barbara HöllSPD, noch unter Führung von August Bebel, einen Antrag zur ersatzlosen Streichung des § 175 ein, gefolgt von gleichen Anträgen z. B. durch die KPD im Reichstag der Weimarer Republik. Die Faschisten verschärften diese Vorschrift durch § 175a, der in der BRD bis 1969 geltendes Recht war.Heute nun wird eine halbherzige Lösung und natürlich keine ersatzlose Streichung durch den Bundestag beschlossen werden. Selbst die SPD ist von einer ersatzlosen Streichung so weit entfernt wie von der Politik August Bebels. Ganz erstaunlich ist der Gleichklang der Diskussionen — oder eher „Nicht-Diskussionen" —, den Bürgerinnen der DDR aus der Zeit kennen, als der dem jetzigen § 175 Bleichlautende § 151 des Strafgesetzbuches der DDR gestrichen wurde.Das paßt in die Linie einer konservativen Politik, die die Selbstbestimmung von Menschen völlig an den Rand stellt. Die neue Vorschrift bestraft plötzlich sexuelle Beziehungen zwischen Frauen unter 21 Jahren mit Frauen über 21 Jahren, deren Auswirkung nicht einmal als sozialschädigend bewiesen wurde. Auch dies ein Ergebnis der herrschenden patriarchalischen Strukturen in der Bundesrepublik.Ein anderes kritisches Themenfeld ist die Bestrafung von Beziehungen von unter 16jährigen und über 14jährigen gegen Entgelt. Jugendliche Stricher werden nach Ihrem Entwurf zu Freiwild erklärt, eine ergebnisorientierte Aids-Prävention unter ihnen fast unmöglich gemacht. Wer angesichts der immer noch erheblichen Infektionszahlen in der Bundesrepublik so vorgeht, handelt verantwortungslos.Die Erprobung der eigenen Sexualität muß für Jugendliche unbelastet von der Befürchtung, in Strafverfahren verwickelt oder zu Aussagen gegen die Sexualpartnerin bzw. den Sexualpartner gezwungen werden zu können, stattfinden. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis: Eine neuerliche Jugendschutzvorschrift steht im krassen Gegensatz zur Lebensrealität der jungen Generation, schränkt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein.Die Streichung der §§ 175 und 182 des Strafgesetzbuches der BRD und 149 des Strafgesetzbuches der DDR und eine damit verbundene realistische, vernünftige und empirisch gesicherte Gesetzgebung in bezug auf den Umgang mit Sexualität würde auch einen positiven Einfluß auf deutsch-deutsche Rechtsangleichung haben.Unsere Auffassung ist es auch, daß sich die Bundesrepublik an den Empfehlungen und Entschließungen des Europarates bzw. des Europäischen Parlamentes von 1981 und 1984 und der weitaus fortschrittlicheren Rechtspraxis anderer europäischer Lander orientieren sollte.Und im übrigen: Politischer Handlungsbedarf besteht wohl genauso zwingend hinsichtlich der Gleichstellung von Lesben und Schwulen mit heterosexuell orientierten Menschen in nichtehelichen Lebensformen, im Einkommens- und Steuerrecht, Erbrecht, Adoptionsrecht sowie Ausländerrecht. Deshalb ist die PDS/Linke Liste ja auch in der Verfassungskommission so aufgetreten und hat ihren entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht.Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen wollen die Rechtssituation in der Bundesrepublik verändern. Die Chance, eine gesellschaftliche Diskussion zum Thema Homosexualität und zum Umgang mit Lesben und Schwulen in dieser Gesellschaft anzustoßen, blieb wie bei der Streichung des § 151 des Strafgesetzbuches der DDR ungenutzt.
Frau Kollegin, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Nicht nur dieses Vorgehen zeigt, wer die eigentlichen Erben der spießigen SED-Herrschaft in dieser Beziehung sind. Deshalb sagen wir ein klares Nein zu dieser Änderung der Strafrechtsnorm.
Ich danke.
Als nächster spricht der Kollege Horst Eylmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem §175 verschwindet ein Paragraph aus unseren Gesetzessammlungen, der sicherlich der bekannteste aus dem Strafgesetzbuch war, vielleicht sogar der bekannteste Paragraph überhaupt. Wer auch sonst keinen Paragraphen zu nennen wußte, den § 175 kannte er. Wahrscheinlich, sosehr das auch zu bedauern ist, wird er noch ein zähes Leben haben und in der Alltagssprache immer dann sein Unwesen treiben, wenn von Homosexuellen die Rede ist.Es ist gut, daß er verschwindet, und zwar schon deshalb, weil sein Vorhandensein immer wieder die irrige Auffassung stützte, in der Bundesrepublik würden homosexuelle Handlungen schlechthin unter Strafe gestellt. In Wahrheit ist das schon seit über 20 Jahren nicht mehr der Fall. § 175 des Strafgesetzbuches erfaßte nur homosexuelle Handlungen eines über 18 Jahre alten Mannes mit einem Jugendlichen unter 18 Jahren. Diese Vorschrift sollte also nicht Homosexuelle diskriminieren, sondern Jugendliche schützen.Der Gesetzgeber von 1973 hielt es noch für möglich, daß Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren durch homosexuelle Kontakte in ihrer sexuellen Entwicklung hin zur Homosexualität gelenkt werden könnten. Dies hat sich jedoch inzwischen als unrichtig herausgestellt. Es ist heute eine weitgehend abgesicherte Erkenntnis, daß die Festlegung auf Hetero- oder Homosexualität bereits in den ersten Lebensjahren erfolgt, möglicherweise sogar vererbt wird. Damit gibt es keinen Grund mehr, Jugendliche vor homosexuellen Kontakten strafrechtlich stärker zu schützen als vor heterosexuellen. Das ist der entscheidende Grund für die Aufhebung des § 175.Er wird ersetzt durch eine einheitliche, für Heterosexuelle ebenso wie für Homosexuelle geltende Jugendschutzvorschrift. Mädchen und Jungen unter 16 Jahren sollen unabhängig vom Geschlecht des Täters oder Opfers gegen sexuellen Mißbrauch geschützt werden. Damit wird zugleich ein Stück
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Horst Eylmanndringend notwendiger Rechtsgleichheit in der Bundesrepublik erreicht. In den neuen Ländern gilt nämlich zur Zeit auf Grund des Einigungsvertrags immer noch § 149 des Strafgesetzbuchs der DDR mit einer Schutzaltersgrenze von 16 Jahren. Im Bereich homosexueller Handlungen eine unterschiedliche Schutzaltersgrenze — hier 18 Jahre, dort 16 Jahre — länger bestehen zu lassen wäre verfassungsrechtlich höchst bedenklich und würde auch der inneren Wiedervereinigung nicht zuträglich sein.Der neue § 182 StGB, den wir jetzt einfügen und heute beschließen, enthält zwei Tatbestände. Der erste Absatz bedroht eine über 18 Jahre alte Person mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe, die ein Mädchen oder einen Jungen zwischen 14 und 16 Jahren dadurch mißbraucht, daß sie sie unter Ausnutzung einer Zwangslage oder gegen Entgelt zu sexuellen Handlungen bestimmt. Was diese sexuellen Handlungen also anstößig und damit strafbar macht, ist der dabei ausgeübte Zwang oder die Korrumpierung des Opfers durch das in Aussicht gestellte Entgelt, wobei nach der im Strafgesetzbuch enthaltenen Legaldefinition unter Entgelt jede in einem Vermögensvorteil bestehende Gegenleistung zu verstehen ist.Daß Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren durch das Strafrecht dagegen geschützt werden müssen, durch solche Mittel zu sexuellen Handlungen gezwungen oder verleitet zu werden, leuchtet unmittelbar ein. Es ist schwer zu verstehen, daß die Gruppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste diesen strafrechtlichen Schutz ebenso ablehnen, wie Interessenvertretungen der Homosexuellen es tun. Man begründet dies damit, daß § 182 StGB gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Jugendlichen verstoße. Auch 14- und 15jährige müßten das Recht haben, sich mit älteren Partnern sexuell auszuleben. Meine Damen und Herren, wenn homo- oder heterosexuelle erwachsene Männer sexuelle Kontakte mit 14jährigen Jungen oder Mädchen haben wollen, dann wollen sich in aller Regel nicht diese, die Jungen und Mädchen, sexuell ausleben, sondern die älteren Herrschaften. Die Heuchelei, in diesem Zusammenhang das Interesse der kaum dem Kindesalter entwachsenen Jugendlichen auf ungehinderte Betätigung ihrer Sexualität in den Vordergrund zu schieben, ist in ihrer Unverfrorenheit kaum zu überbieten.Schon in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs habe ich auf den Skandal hingewiesen, daß sich z. B. der Bundesverband Homosexualität gegen die inzwischen verwirklichte Absicht der Bundesregierung wendet, Deutsche für Mißbrauch von Kindern im Ausland auch dann zur Verantwortung zu ziehen, wenn die beklagenswerten Opfer keine deutschen Kinder sind. Es sei nicht Aufgabe der deutschen Strafgerichte, gegen diese physische und psychische Vergewaltigung ausländischer Kinder vorzugehen, meint dieser Bundesverband. Dabei ist, wie wir alle wissen, der sogenannte Sextourismus europäischer Männer — die Deutschen spielen dabei zahlenmäßig eine große Rolle — nach Südostasien, der dort zu einem massenhaften sexuellen Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen führt, eine der widerlichstenErscheinungen der jüngsten europäischen Gesellschaftsgeschichte.
Haben wir, die Koalitionsfraktionen, uns mit der SPD relativ schnell auf die Ausformulierung des ersten Absatzes des § 182 StGB einigen können, ist Abs. 2 wesentlich intensiver und teilweise auch kontrovers diskutiert worden. Dort wird der sexuelle Mißbrauch eines Jungen oder eines Mädchens zwischen 14 und 16 Jahren unter Strafe gestellt, bei dem die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung vom Täter ausgenutzt wird. Ursprünglich war von der Ausnutzung der Unreife des Opfers die Rede. Die jetzt gewählte Formulierung scheint uns genauer und konkreter zu sein.Sicherlich stellt aber auch dieser Begriff den Richter vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten. In vielen Fällen wird zweifelhaft sein, ob denn nun die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung schon hinreichend ausgeprägt war oder nicht. Daß es hier auch geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, läßt sich nicht leugnen. Es gehört zum Allgemeinwissen, daß die sexuelle und die entsprechende psychologische Reifung von Mädchen deutlich früher einsetzt als die von Jungen.Trotz der in vielen Fällen nicht zu leugnenden Schwierigkeiten, die Erfüllung dieses Tatbestands mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen, läßt sich nicht leugnen, daß es schlimme Fälle der sexuellen Ausbeutung von 14- und 15jährigen Mädchen und Jungen, z. B. Hilfsschülern, gibt, bei denen sich der Reifungsprozeß verzögert hat und die deshalb ohne jeden Zweifel noch nicht in der Lage sind, ihre Sexualität selbst zu steuern. Diese Jugendlichen können und wollen wir nicht ohne strafrechtlichen Schutz lassen.Ausgestaltet ist diese neue Vorschrift als eingeschränktes Offizialdelikt. Das heißt, in den Fällen des Abs. 2 des § 182 StGB wird die Tat nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, die Strafverfolgungsbehörde bejaht wegen des besonderen öffentlichen Interesses ein Einschreiten von Amts wegen.Damit ist dem Bemühen übereifriger Staatsanwälte, im Sexualleben von Jugendlichen herumzustochern, von vornherein ein Riegel vorgeschoben, wobei ich aber betonen möchte, daß es solche übereifrigen Staatsanwälte nach meinem Eindruck kaum gibt. Eher halten sich die Strafverfolgungsbehörden bei der Verfolgung von Sexualstraftaten zurück, was im Grundsatz auch richtig ist, aber nicht dazu führen darf, daß die wirklich strafwürdigen Fälle nicht verfolgt werden.Bei der ersten Lesung dieses Gesetzes, meine Damen und Herren, habe ich die Aussichten als günstig beurteilt, eine von einer breiten Mehrheit getragene Neuregelung zu finden. Diese Erwartung ist im Rechtsausschuß auch keineswegs enttäuscht worden. Der vorliegende Gesetzesentwurf ist dem Plenum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD zur Annahme empfohlen worden.
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Horst EylmannDies war das Ergebnis sehr intensiver und sachbezogener Gespräche, wie sie im Rechtsausschuß üblich sind. Hinter dem Bemühen sich zu einigen, stand wohl auch die Erkenntnis, daß ein öffentlicher Streit kaum Vorteile für die eine oder andere Seite bringen würde und der Sache, um die es hier geht, nämlich dem Schutz unserer Jungen und Mädchen vor dem sexuellen Zugriff Älterer, wenig nützt.Nun hat die SPD plötzlich entgegen ihrer Haltung im Rechtsausschuß einen auf die Streichung des Absatzes 2 gerichteten Antrag gestellt. Da gibt es offensichtlich außerhalb der Arbeitsgruppe Recht der SPD einige selbsternannte Expertinnen oder Experten, die schlauer zu sein meinen als die Fachleute im Rechtsausschuß und offensichtlich der Versuchung nicht widerstehen konnten, zuviel Gemeinsamkeit in der Behandlung solcher Dinge für parteipolitisch schädlich zu halten. Ich überlasse es diesem Hause und der Öffentlichkeit, daraus die naheliegenden Schlüsse zu ziehen.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Abschluß noch einmal zu § 175 StGB und damit zur Homosexualität zurückkehren. Daß wir hier unter mäßiger Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dieses heikle und an tief verwurzelte Vorurteile rührende Thema in einer ruhigen Atmosphäre debattieren und nach nur 30 Minuten einhellig zu einer Aufhebung des § 175 kommen, ist ein Indiz dafür, daß das emotionale Potential in den letzten Jahren geringer geworden ist und daß es zugunsten einer sachlicheren und unverkrampften Betrachtung dieses Phänomens zurückgetreten ist.Dennoch weiß ich, daß es für manche in diesem Parlament und natürlich auch für manche in der Bevölkerung nach wie vor ein Problem ist, die Homosexualität als gleichberechtigte sexuelle Orientierung zu betrachten. Das sollte urn der Ehrlichkeit willen an dieser Stelle nicht verschwiegen werden.Aus interessierten Kreisen hört man zuweilen, Duldsamkeit gegenüber den Homosexuellen reiche nicht aus; die Homosexualität müsse akzeptiert, also angenommen werden. Aber welche Form der Sexualität der einzelne für sich annehmen will, wie er sie bewertet, das kann und darf der Staat nicht kommandieren. Denn wenn er sich herausnimmt, alle Lebenseinstellungen seiner Bürger, auch die höchst privaten, in ihrer Totalität beeinflussen und bestimmen zu wollen, dann wird er schnell zu einem totalitären Staat.
Was der Staat einfordern darf und was er auch durchsetzen muß, ist Toleranz gegenüber Homosexuellen — nicht mehr, aber auch nicht weniger. Kein Homosexueller darf wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden, und natürlich, meine Damen und Herren, ist auch der Homosexuelle der Nächste, dem unsere mitmenschliche Solidarität gelten muß.Wem das schwerfällt, den erinnere ich an ein schon 1774 geschriebenes Wort des englischen Philosophen Jeremy Bentham:Dieses Verbrechen, — hat er gesagt —wenn es denn eines ist, bringt kein Elend in diese Welt.Dem Elend dieser Welt— es gibt genug davon — sollte unsere Aufmerksamkeit gelten, nicht der sexuellen Orientierung unserer Mitmenschen.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Dr. Jürgen Meyer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Eylmann, ich kann Sie beruhigen. Die SPD-Fraktion wird hier genauso argumentieren und abstimmen wie im Rechtsausschuß.
Die heute zu beschließende Streichung des § 175 des Strafgesetzbuches und seine Ersetzung durch eine einheitliche Jugendschutzvorschrift ist ein bedeutender Reformschritt. Der Deutsche Bundestag knüpft damit an die Reformen von 1969 und 1973 an, denen, bei allem Bemühen um Liberalität, wie der Kollege Eylmann eben zutreffend ausgeführt hat, noch die Vorstellung zugrunde lag, der männliche Jugendliche könne durch das Strafrecht gegen Störungen seiner Entwicklung und insbesondere gegen die Verführung zur Homosexualität geschützt werden. Wir wissen heute, daß die sexuelle Orientierung und damit auch die Disposition zur Homosexualität bereits in der frühkindlichen Phase und damit lange vor dem 14. Lebensjahr abgeschlossen ist.
Die von uns seit langem geforderte Streichung des§175 beendet die immer wieder und mit Recht kritisierte Diskriminierung homosexueller Manner. Es ist nicht nur ein Grundsatz des liberalen Rechtsstaates, daß gewaltfreie und einverständliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen den Staat nichts angehen; vielmehr ist der § 175 auch und nicht zuletzt durch die Verbrechen der Nazis ein Symbol der Unmenschlichkeit geworden. Ich erinnere an die Massenverschleppung Homosexueller und ihre Ermordung in den Konzentrationslagern. Ich erinnere an 24 447 grausame Strafurteile allein in den drei Jahren von 1937 bis 1939.Diejenigen unter uns, die auch heute noch dazu neigen mögen, homosexuelle Handlungen unter Berufung auf Justinian oder die mittelalterlichen Gesetzgeber als unmoralisch anzusehen, werden sich wohl wenigstens die mehr als 200 Jahre alte Erkenntnis der Aufklärung, beispielsweise Beccarias, zu eigen machen, daß dies keine Sache des weltlichen Richters ist und ein staatliches Strafbedürfnis nicht besteht.Ziel der Reform ist der auch aus unserer Sicht notwendige Schutz von Jugendlichen vor sexuellem Mißbrauch durch Erwachsene, und zwar unabhängig davon, ob Täter oder Opfer männlichen oder weiblichen Geschlechts sind. Erreichen wir dieses Ziel
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18702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Jürgen Meyer
wirklich durch den heute zur Verabschiedung anstehenden Gesetzentwurf? Gewisse Zweifel sind durchaus angebracht. Ob sie berechtigt sind, werden die Erfahrungen in den nächsten Jahren bis zur dann möglicherweise stattfindenden nächsten Reform zeigen.Die SPD-Fraktion ist bei den Gesetzesberatungen vom Entwurf des Bundesrates ausgegangen, der die Handschrift der SPD-regierten Bundesländer trägt. Wir haben deshalb dem neuen § 182 Abs. 1 zugestimmt, der Jugendliche unter 16 Jahren gegen zwei genau beschriebene Formen des Mißbrauchs schützt, nämlich gegen Prostitution und gegen die Ausnutzung von Zwangslagen, wie sie etwa bei wohnungslosen oder drogenabhängigen Jugendlichen bestehen können.Ganz anders verhält es sich mit dem umstrittenen neuen Absatz 2 von § 182, dessen Streichung wir, wie schon in den Ausschußberatungen, auch heute nochmals beantragen. Durch diese Vorschrift sollen Jugendliche unter 16 Jahren vor sexuellen Handlungen von oder mit Personen über 21 Jahre geschützt werden, sofern diese die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzen. Was damit gemeint ist, geht aus dem Gesetzestext nicht hervor. Die Formulierung ist dem in der Literatur als uferlos kritisierten DDR-Tatbestand nachempfunden, der von der „Ausnutzung der moralischen Unreife" spricht. In den Ausschußberatungen haben Sprecher von CDU und F.D.P. durchaus eingeräumt, daß durch eine solche Norm die Schleuse zu Gutachterprozessen geöffnet werden könnte, deren Objekt das jugendliche Opfer werden könnte. Aber man hat die Erwartung ausgesprochen, daß der Tatbestand nur ganz selten angewandt werden würde. Überzeugender war da schon die knappe Feststellung auf Seite 7 der Auswertung der Sachverständigenanhörung durch das Bundesministerium der Justiz vom 26. November 1993 — ich zitiere —:Paragraph 182 Abs. 2 neu StGB sollte aus fachlicher Sicht ganz entfallen.Warum, meine sehr geehrten Damen und Herren, entscheiden wir nicht auch einmal aus fachlicher Sicht?Ich erinnere weiter daran, daß ein wesentlicher Einwand gegen die neue geschlechtsneutrale Jugendvorschrift doch darin bestand, daß sie auch Frauen als Täterinnen einbezieht und neuerdings heterosexuelle oder lesbische Kontakte unter bestimmten Voraussetzungen mit Strafe bedroht, obwohl insoweit, ausweislich der Sachverständigenanhörung, ein Strafbedürfnis aus kriminologischer Sicht eigentlich nicht besteht.
Herr Kollege Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eylmann?
Noch ein Satz, dann gerne.
Um wieviel schwerer müssen derartige Bedenken wiegen, wenn die Neupönalisierung von Frauen nun über einen geradezu uferlosen Straftatbestand vorgesehen werden soll?
Bitte schön, Herr Kollege.
Werter Herr Kollege Professor Meyer, halten Sie es für möglich, daß das Justizministerium sich in fachlicher Hinsicht irren kann, oder halten Sie es für unfehlbar? Das würde zukünftige Beratungen im Rechtsausschuß sehr verkürzen.
Also, Herr Kollege, selbstverständlich kann sich das Justizministerium irren. Die Gefahr des Irrtums wird deutlich herabgesetzt, wenn es nach dem Oktober dieses Jahres unter anderer Leitung stehen wird.
Aber nun wieder ernsthaft — nach der ja auch etwas scherzhaft gemeinten Zwischenfrage —: Meine sehr geehrten Damen und Herren, es müßte eigentlich die Kolleginnen und Kollegen von der CSU, die den umstrittenen § 182 Abs. 2 mit besonderem Nachdruck gefordert haben, nachdenklich stimmen, wenn ich sie an die ablehnende Stellungnahme erinnere, die das Kommissariat der Deutschen Bischöfe, Katholisches Büro Bonn, und der Rat der Evangelischen Kirche gemeinsam am 22. Oktober 1993 abgegeben haben.Im Anschluß an die von mir bereits genannten Argumente wird in dieser Stellungnahme ein Gegenkonzept vorgeschlagen, das sich mit dem von der SPD in den Ausschußberatungen vertretenen Konzept deckt. Ich zitiere aus der Stellungnahme der beiden Kirchen:Dem Grundgedanken des strafrechtlichen Jugendschutzes gegen sexuellen Mißbrauch, nämlich dem Einfluß als bestimmend empfundenen fremden Willens entgegenzuwirken, entspricht es vielmehr, das qualifizierende Merkmal beim Täter oder der Täterin zu suchen, dem sich der/die Jugendliche aus Vertrauen, Respekt oder auch aus Furcht vor nachteiligen Folgen fügt. Vorwiegend von der Täterstellung her sollte daher das in der Begründung des Regierungsentwurfs bezeichnete Machtgefälle zwischen den Beteiligten beurteilt werden, das auch nach Ansicht der Kirchen diesen Straftatbestand kennzeichnen sollte.Genau das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist auch unser Konzept. Wir schlagen statt des umstrittenen § 182 Abs. 2 eine Präzisierung des § 174 vor, der den sexuellen Mißbrauch von Schutzbefohlenen regelt. Wir schlagen weiter vor, dies mit dem zwingend erforderlichen besseren Schutz anvertrauter Personen in therapeutischen Beziehungen zu verbinden.Ich habe schon in der ersten Lesung der Gesetzentwürfe ausgeführt: Wer mit dem Verfassungsrang des Jugendschutzes Ernst machen will, darf nicht übersehen, daß Jugendliche nicht selten im Rahmen von Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnissen struktureller Gewalt und sexuellem Mißbrauch ausgesetzt sind. Der insoweit durch § 174 vorgesehene Schutz ist
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Dr. Jürgen Meyer
bekanntlich höchst unzureichend. Er sollte deshalb verstärkt werden.Der Bundesgerichtshof hat beispielsweise einen Berufsschullehrer, der sich an eine Schülerin der Berufsschule heranmachte, freigesprochen, weil er sie nicht mehr unterrichtete, so daß kein Obhutsverhältnis mehr bestand. Dasselbe geschah bei einem Beichtvater, der an zwei Mädchen sexuelle Handlungen vornahm; Begründung: Die Beichte sei kein Betreuungsverhältnis. Ähnliches soll für den Fahrlehrer im Verhältnis zu jugendlichen Fahrschülerinnen gelten oder für den Direktor oder Meister eines Industriebetriebs gegenüber einem oder einer Auszubildenden im selben Betrieb, wenn die Ausbildung in der Verantwortung eines anderen Ausbilders stattfindet. Das Gemeinsame dieser Fälle ist der Mißbrauch struktureller Macht- oder Überlegenheitsgefälle.Bei der Anhörung des Bundesrates im März 1992 hat deshalb die Mehrheit der Sachverständigen gefordert, den Schutz Jugendlicher vor sexuellen Übergriffen im Rahmen von Autoritätsverhältnissen zu verbessern. Diese Forderung hat auch bei der Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses Unterstützung gefunden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir freuen uns, daß diese Vorschläge der SPD nunmehr Inhalt eines einstimmig vom Rechtsausschuß zur Annahme empfohlenen Entschließungsantrages geworden sind. Deshalb ist mein letzter Satz: Dies und die Tatsache, daß die von uns geforderte Möglichkeit, von Strafe abzusehen, in den neuen § 182 eingefügt worden ist, ermöglicht uns heute die Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf in der abschließenden Lesung. Das Gesetz bringt uns eine Reform, die manche Wünsche offen läßt. Aber es ist ein Reformschritt in die richtige Richtung.Danke.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. hat es endlich geschafft. Über viele Legislaturperioden hinweg haben wir in den Koalitionsverhandlungen, erst mit der SPD, dann mit der CDU, vergeblich versucht, zu einer weiteren notwendigen Reform in diesem Bereich zu kommen. Erst nach der Bundestagswahl 1990 waren wir erfolgreich.Der Wegfall des § 175 StGB kommt spät, vielleicht zu spät, aber er kommt. Wir haben zu diesem Thema nur eine Kurzdebatte: vielleicht gut so, weil wir ein Thema behandeln, bei dem viele lieber aus dem Bauch als aus dem Kopf reagieren, aber gleichzeitig schade, weil die heutige Debatte vielfältig Anlaß zum Nachdenken geben muß.Wie wenige andere Vorschriften ist dieser Paragraph für hunderttausendfaches Leid, für Folter und Mord verantwortlich. Es gilt, heute an die zu erinnern, die sich ihre naturgegebene Sexualität nicht haben verbieten lassen und dafür im KZ geendet sind.Ich weiß, daß die heute beschlossene Regelung da und dort zu Kritik führen wird. Aber auch Kritiker müssen einräumen: Es gibt endlich kein Sonderrecht mehr für homosexuelle Männer. Wir haben dies nicht durch schrillen Aktionismus, sondern durch ruhige Sacharbeit erreicht.Wir beschränken uns auf das Selbstverständliche: die Strafbarkeit des Verhaltens, das wirklich strafwürdig ist. Weder das Ausnutzen einer Zwangslage noch die Zahlung eines Entgelts führt zu einer freiwilligen Entscheidung des jungen Menschen zum Geschlechtsverkehr. Und weder das Geschlecht des Täters noch das der jugendlichen Person ist dabei von Interesse. Die Kritik am Regierungsentwurf, es würden die normalen Begegnungen unter Jugendlichen in Zukunft strafrechtlich pönalisiert, entbehrt daher jeglicher Grundlage.Ich verschweige nicht: Wir haben uns in den Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner dafür eingesetzt, auf den Abs. 2 des § 182 StGB zu verzichten. Natürlich kann sehr wohl darüber diskutiert werden, ob das Ausnutzen der mangelnden Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung strafwürdiges Verhalten ist. Ich bin sicher, daß die meisten meiner Kollegen in der Staatsanwaltschaft den hohen Aufwand bei der Einschaltung von Sachverständigen scheuen werden und deshalb die Vorschrift in der Praxis leerlaufen kann. Daher kann man es sich leicht machen und sagen: Abs. 2 wird sowieso kaum angewandt werden. Aber wenn man das schon weiß, muß man sich fragen lassen, ob man dann nicht besser auf die Vorschrift ganz verzichtet.Aber ich sehe auch, daß es strafwürdige Fälle gibt, und der Kollege Eylmann hat einige Beispiele hier genannt. Wir werden deshalb dem Änderungsantrag der SPD nicht zustimmen.
Ich freue mich sehr, daß meine Anregung, ob man nicht die Absehensklausel des bisherigen § 175 StGB in das neue Recht übernimmt, positiv beantwortet worden ist. Insbesondere die Bedenken gegen den Regierungsentwurf, die aus der Arbeit mit jugendlichen Strichern und Prostituierten geäußert worden sind, verlieren damit ihre Begründung. Es gibt keinen Rückschritt mehr. Gegenüber der bisherigen Rechtslage ändert sich nichts. Auch das ist für mich ein wichtiger Punkt bei der Ablehnung des Änderungsantrages der SPD.Die F.D.P. freut sich über die Abschaffung des § 175 StGB, gibt sich mit dem heutigen Gesetz aber nicht zufrieden. Wir sind für weitere Reformschritte offen. Für uns gehört zu einem weiteren Abbau der offenkundigen Diskriminierung von homosexuellen Männern und Frauen auch, daß es möglich sein muß, registrierte Partnerschaften einzugehen. Wir beraten bereits innerhalb der Partei intensiv über dieses Thema und werden dazu sicherlich in absehbarer Zeit Vorschläge für die verschiedenen Gruppierungen machen.
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Jörg van EssenDer Kollege Meyer hat die Therapie- und Abhängigkeitsverhältnisse angesprochen. Ich bin ihm sehr dankbar, daß er uns im Rechtsausschuß darauf aufmerksam gemacht hat. Wir haben das in den Entschließungsantrag aufgenommen, der heute auch zur Abstimmung vorliegt.Die heutige Debatte gibt Anlaß zur Zufriedenheit, daß eine schlimme Vorschrift endlich, nach 120 Jahren, aus dem Strafgesetzbuch verschwindet. Es gibt wieder eine Rechtseinheit in Deutschland. Ich freue mich besonders darüber, daß wir das mit breiter Mehrheit beschließen werden.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, die nächste Wortmeldung kommt von Frau Christina Schenk. Sie hat jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Tag hätte ein wahrhaft historisches Datum werden können, wenn der § 175, der während der letzten hundert Jahre die gesetzliche Grundlage für die Verfolgung schwuler Männer und die Ursache für unendliches Leid war, endlich da gelandet wäre, wo er hingehört, nämlich auf den Müllhaufen der Geschichte.
Leider ist das nicht der Fall. Der § 175 wird nicht gestrichen, ohne daß die Bundesregierung für einen Ersatz gesorgt hat, für eine Hintertür, mit deren Hilfe nicht nur schwule Beziehungen, sondern jegliche Form nonkonformer sexueller Kontakte zwischen Personen unter 16 und solchen über 21 weiterhin gesetzlich verfolgt werden können.
Daß Schwule und von nun an auch Lesben als erste dazu prädestiniert sind, durch den neuen Paragraphen bedroht zu werden, liegt auf der Hand. In der Beantwortung mehrerer Anfragen, die ich an die Bundesregierung gestellt habe, konnte die Bundesregierung die Notwendigkeit der neuen sogenannten Jugendschutzvorschrift in keiner Weise plausibel machen. Insbesondere die Notwendigkeit der Neupönalisierung von lesbischen und nichtlesbischen Frauen in einer Situation, in der fast 99 % — wer es genau wissen will: 98,7 % — aller Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen nach §§, 174 und 176 StGB von Männern begangen werden, konnte weder durch Zahlen noch durch andere Argumente belegt werden.
Die nun vorgeschlagene Ersetzung des in diversen Anhörungen nahezu einhellig kritisierten Begriffs der „Unreife" durch den Begriff des Fehlens der „Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung" verbessert den Gesetzentwurf in keiner Weise. Er erzeugt, ebenso wie die zuerst zum Kriterium erhobene „Unreife", Rechtsunsicherheit und wird bei prozessualen Auseinandersetzungen immer dazu führen, daß die betroffene jugendliche Person, die zum Opfer einer selbstgewählten Liebesbeziehung degradiert wird, vor Gericht auch noch wegen der vermeintlich fehlenden Fähigkeit, selbst über die eigene Sexualität zu bestimmen, gedemütigt wird. Lesbische Mädchen, deren sexuelle Orientierung ohnehin schon immer als ein Zeichen von Unreife abgetan worden ist, sind durch die neue Vorschrift besonders bedroht.
Für ebenso schädlich halte ich die Vorschrift, nach der bestraft werden soll, wer sexuelle Handlungen mit, von oder an Personen unter 16 gegen Entgelt vornimmt. Wer die Sozialarbeit mit jugendlichen Prostituierten und Strichern verhindern will, wer sie kriminalisieren und abdrängen will, fernab jeglicher Fürsorge und Prävention, der muß genau dieses Gesetz verabschieden. Er sollte dann allerdings ehrlicherweise nicht von einer Jugendschutzvorschrift, sondern von einem jugendgefährdenden Gesetz reden, von einem Gesetz zur Verbreitung von Rechtsunsicherheit unter Jugendlichen und deren Abdrängung in die Illegalität.
Wer hingegen den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung tatsächlich will, muß die Reform der §§ 174 sowie 177 bis 179 StGB endlich in Angriff nehmen. Insofern bin ich sehr froh, daß Herr Professor Meyer das hier ausführlich erwähnt hat.
Ich möchte noch eines in aller Klarheit sagen: Ich halte es für vollkommen wirklichkeitsfremd, den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung an neuen Altersgrenzen festmachen zu wollen und den eigentlichen Hintergrund sexueller Gewalt, nämlich die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen bzw. von Hierarchien, weitgehend außer acht zu lassen. Wer hier untätig bleibt,
muß sich sagen lassen, an einem wirksameren Schutz der sexuellen Selbstbestimmung kein Interesse zu haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Schluß der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Bundesjustizministerin, unsere Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist heute doch ein historischer Tag
und sehr wichtig für verantwortungsbewußte liberale Rechtspolitik. Denn endlich kommen wir heute dazu, den — von allen Rednern eindeutig so bezeichneten — historisch belasteten § 175 StGB abzuschaffen. Mit ihm — auch das ist hier schon mehrfach betont worden — verbindet sich die schlimme Erinnerung an die Massenverschleppung von Homosexuellen, an ihre Ermordung in Konzentrationslagern. Damit ist er ein Symbol der Unmenschlichkeit. Ich glaube, das
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kann man am heutigen frühen Abend in dieser Debatte gar nicht oft genug wiederholen.
Ab jetzt gibt es nicht nur mehr Freiraum für homosexuelle Handlungen; der Staat macht auch deutlich, daß ihn gewaltfreie und einverständliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Fast-Erwachsenen nichts angehen.Was bleibt und bleiben muß, ist der Jugendschutz. Dies war Gegenstand der intensiven, nicht leichten Beratungen nach den Anhörungen der Sachverständigen. Der sexuelle Mißbrauch von Jugendlichen muß zum Schutz vor nachteiligen Folgen ihrer psychologischen und sozialen Entwicklung weiterhin mit Strafe bedroht sein. Durch das Konzept eines Jugendschutztatbestandes, bei dem das Geschlecht des Täters und des Opfers keine Rolle mehr spielt, wird endlich die strafrechtliche Ungleichbehandlung von Homosexualität und Heterosexualität beseitigt. Auch das ist ein eminent wichtiger Beitrag zum Abbau von Vorurteilen und gesellschaftlichen Diskriminierungen gegenüber Homosexuellen.Der neue § 182 StGB führt auch keineswegs dazu, wie teilweise behauptet wird, daß künftig über allen sexuellen Kontakten von und mit Jugendlichen unter 16 Jahren das Damoklesschwert der Strafbarkeit schwebt. Mit Strafe werden drei Fallgruppen bedroht, in denen nachteilige Folgen für die Entwicklung von Jugendlichen zu befürchten sind. Sie sind nach sorgfältiger Auswertung der Sachverständigenanhörungen im Bundesrat und im Bundestag entwickelt worden.Es ist bei der Formulierung der Vorschrift bewußt darauf geachtet worden, jugendtypische Beziehungen nicht zu erfassen. Das gilt auch für den § 182 Abs. 2 StGB, an dem sich die sehr sachlichen Gespräche entzündet haben. Mit der Festschreibung eines Altersunterschieds von mindestens fünf Jahren zwischen Täter und Opfer ist deutlich gemacht worden, daß es in der Bewertung eines strafbaren Verhaltens nur um einen gewissen Bereich von Handlungen geht, dem der Mißbrauch und die Ausnutzung der fehlenden Selbstbestimmung zur Sexualität zugrunde liegen.Ich sage ganz offen: Hier ist ein Kompromiß geschlossen worden. Er spiegelt auch das wider, was im Moment in den Beratungen machbar gewesen ist. Damit ist aber der § 182 StGB insgesamt, nämlich sein Abs. 1 und sein Abs. 2, fachlich sehr wohl vertretbar. Hinzu kommt, daß mit dem in den letzten Beratungen noch aufgenommenen Absatz über das Absehen von Strafe bei geringem Unrecht der Tat auch die Möglichkeit besteht, aufwendige Verfahren, bei denen man am Ende nicht weiß, welches Verhalten letztlich mit — vielleicht nur geringer — Strafe belegt werden sollte, zu vermeiden.
Ich glaube, mit der Regelung, daß es die Möglichkeit gibt, von Strafe abzusehen, kann man auf die Umstände des Einzelfalls flexibel reagieren und eine zu weitgehende Kriminalisierung vermeiden. Bestraftwird nur ein echtes kriminelles Fehlverhalten gegenüber Schwächeren.Die Neuregelung ist gleichzeitig ein wichtiges Stück deutsch-deutscher Rechtsangleichung. Auch das ist in dieser Debatte betont worden. Ich glaube, daß es wichtig ist, hier nicht Schluß zu machen, sondern deutlich zu machen, daß das ein erster, sehr wichtiger Schritt ist. Der Kern liegt darin, daß der § 175 abgeschafft wird, daß wir uns auf einen so fairen und vernünftigen Kompromiß verständigen konnten und daß selbstverständlich überlegt werden muß, wie es in diesem Bereich zu weiteren vernünftigen Regelungen auch im Interesse des Schutzes der Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung kommen kann.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes auf den Drucksachen 12/4584 und 12/7035 Buchstabe a).Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7044 vor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Änderungsantrag ist bei Gegenstimmen von der SPD und Enthaltungen bei der Gruppe PDS/Linke Liste abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Gegenstimmen aus der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe PDS/Linke Liste und von Herrn Abgeordneten Dr. Krause ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.Unter Buchstabe b) seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/7035 empfiehlt der Rechtsausschuß, den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Sexualstrafrechts für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! —Stimmenthaltungen? — Bei einigen Stimmenthaltungen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Schutz der psychosexuellen Entwicklung von Jugendlichen auf Drucksache 12/1899.Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7035 unter Buchstabe c), den Gesetzentwurf abzulehnen.
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18706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Vizepräsident Helmuth BeckerIch lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1899 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste zur Rechtsgleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität im Strafrecht auf Drucksache 12/850.Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7035 Buchstabe d), den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/850 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Der Rechtsausschuß empfiehlt unter Buchstabe e) seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Gegenstimme ist die Beschlußempfehlung angenommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich den Tagesordnungspunkt 9 aufrufe, teile ich mit, daß die Fraktion der CDU/CSU fristgerecht beantragt hat, zu den Gesetzentwürfen zum Basler Übereinkommen — Tagesordnungspunkt 9 b) und c) — von der in § 81 Abs. 1 genannten Frist für den Beginn der zweiten Beratung abzuweichen.Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Fristverkürzung? — Gegenprobe! — Der Antrag ist mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.Somit rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Dr. Liesel Hartenstein, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEckpunkte für eine ökologische Stoffwirtschaft und ein neues Abfallrecht— Drucksache 12/6250 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
RechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzungb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 über die Kontrolleder grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung
— Drucksache 12/5278 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/7032 —Berichterstattung:Abgeordnete Steffen Kampeter Susanne KastnerBirgit Homburgerc) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung
— Drucksache 12/6351 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/7032 —Berichterstattung:Abgeordnete Steffen Kampeter Susanne KastnerBirgit Homburgerbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/7033 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans Georg Wagner Michael von SchmudeDr. Sigrid HothZum Ausführungsgesetz liegt ein Entschließungsantrag der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Steffen Kampeter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer kennt sie nicht, diese Fernsehsendungen über die angeblich illegal verbrachten Giftstoffe im Ausland? Meist publizitätsträchtig aufgedeckt und identifiziert von Umweltschutzorganisationen, die vor laufenden Kameras dem Publikum erzählen, daß wir die Folgelasten unserer Industriegesellschaften auf Entwicklungsländer und Schwellenländer abladen.Dies ist eine erschreckende Form der Umweltkriminalität, die in den letzten Jahren ein immer stärkeres Maß erreicht hat. Diejenigen Staaten, die mit dieser Form von teilweise mafiös unterstütztem Rechtsbruch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18707
Steffen Kampeterein Ende machen wollen, ratifizieren die Basler Konvention und setzen sie mit Hilfe eines Durchführungsgesetzes in nationales Recht um.
Der Umweltausschuß des Deutschen Bundestages hat gestern auf Betreiben der Koalitionsfraktionen die beiden Gesetzentwürfe zum Basler Übereinkommen verabschiedet. Mit der heute vorgesehenen Verabschiedung hier im Deutschen Bundestag wird grünes Licht für das Inkrafttreten dieses wichtigen Umweltgesetzes gegeben.Künftig sind Abfallexporte, insbesondere für nicht verwertbare Rückstände, in Länder außerhalb der Europäischen Gemeinschaft und der EFTA verboten. Sofern es trotz dieses Verbotes zu Exporten kommt, müssen die Verursacher bzw., falls diese nicht mehr zu greifen sind, ersatzweise die für die Überwachung und den Vollzug zuständigen Bundesländer für die Rückführung dieser Stoffe sorgen.Die CDU/CSU ist davon überzeugt, daß mit der hier vorgeschlagenen Neuregelung den illegalen Abfallexporten, insbesondere in die Staaten Mittel- und Osteuropas und der Dritten Welt, ein wirksamer Riegel vorgeschoben wird.
In den Beratungen des Umweltausschusses gab es auch eine ganze Reihe von streitigen Punkten. Ein umweltgefährdender Export von Abfall ist nach deutschem und europäischem Recht heute bereits verboten. Es fehlt teilweise nicht an den Gesetzen, sondern an einer wirksamen Durchsetzung von bestehenden Vorschriften.Die von uns vorgeschlagenen Regelungen des Durchführungsgesetzes stellen noch einmal klar, daß es auch an den Ländern liegt, bestehende und jetzt geschaffene rechtliche Instrumente im Rahmen ihrer Vollzugskompetenz auszunutzen, so daß ein Beitrag dazu geleistet wird, daß illegaler Export von Stoffen, von Abfällen unterbunden wird.Damit wollen wir deutlich machen und auch noch einmal politisch betonen, daß es die Länder sind, die ihrer Verantwortung bei grenzüberschreitenden Verbringungen nachzukommen haben. Dies gilt für den Vollzug der Kontrolle ebenso wie für die daraus erwachsenden finanziellen Verpflichtungen.Die in dem Basler Übereinkommen geforderte Staatshaftung kann aber nicht bedeuten, daß der Bund für eventuelle Vollzugsdefizite der Länder auch die finanzielle Verantwortung zu tragen hat. Wir haben uns daher im Rahmen der Ausschußdiskussionen dafür eingesetzt, daß neben den Sicherheitsleistungen und den Pflichtversicherungen, die der Verursacher zu tragen hat, die Länder im Rahmen der sogenannten Steuerlösung für ihre Vollzugsdefizite nicht nur politisch, sondern auch finanziell einzustehen haben.Dabei betone ich hier bei der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfs deutlich, daß es all den Ländern freisteht, auch verursachernähere Lösungen zu finden und die Unternehmen im Rahmen von Ländergesetzen in eine stärkere finanzielle Verantwortung zu nehmen, als es uns bei den Beratungen für verfassungsrechtlich zulässig erschien.Auch die private Entsorgungswirtschaft ist aufgerufen, im Rahmen von verbindlichen, aber freiwilligen Lösungen dazu beizutragen, daß bei Verbringung, für die ein Verursacher nicht mehr feststellbar ist, die jetzt nach dem alten Recht bestehenden Finanzschwierigkeiten und -streitigkeiten zwischen Bund und Ländern ausbleiben.
Zuerst zahlt der Verursacher, dann die Gemeinschaft.Dies gilt im übrigen auch für alle Formen des Gütesiegels. Es gibt zahlreiche private Gütegemeinschaften. Wir brauchen hierfür nach unserer Auffassung keine gesetzlichen Regelungen, wenn subsidiär entsprechende Gütesiegel für an diesen Geschäften beteiligte Unternehmen auch privatwirtschaftlich organisiert sind.In diesem Sinne ist das heute vorgelegte Gesetzespaket auch ein Beitrag zur Sicherung des Wirtschafts-und Umweltstandorts Deutschland. Denn es gibt wohl keinen Bereich, in dem so nachhaltig ein außenpolitischer Schaden verursacht wird, als den, in dem sich hemmungslose Unternehmer aus einem reichen Industrieland unter Umgehung von Rechtsvorschriften kurzfristige Kostenvorteile in weniger entwickelten Ländern verschaffen.Die hohe außenpolitische Brisanz dieses Themas kann man auch daran ersehen, daß es erst vor kurzem in der amerikanischen Öffentlichkeit eine sehr intensive Diskussion darüber gegeben hat, in welcher Form die Amerikaner ihre umfangreichen Verbringungen zur Verwertung und Entsorgung ins nichtamerikanische Ausland einschränken sollten. Die Vereinigten Staaten haben das Basler Abkommen bisher nicht ratifiziert; eine Ratifikation ist auch nicht absehbar.In diesem Zusammenhang haben wir in den Ausschußberatungen auch die Vorschläge der Opposition abgelehnt, die darauf hinausgelaufen wären, die deutsche Beteiligung an einem qualifizierten internationalen Wertstoffhandel vollständig zu unterbinden.Die CDU/CSU-Fraktion glaubt, daß die von uns vorgeschlagene Regelung — z. B. im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der an diesem Geschäft beteiligten Unternehmen — ein erhebliches Mehr an außen-sowie umweltpolitischer Sicherheit bringt. Auch im Hinblick auf die Wertschöpfungsmöglichkeiten im Partnerland wäre dieses Verbot nicht geboten.Eines wird durch Basel deutlich: Wir haben uns unserer umwelt-, aber auch unserer umweltaußenpolitischen Verantwortung gestellt.
Wir als reiche Industrienation sind bereit, auch finanzielle Lasten hierfür zu tragen. Es liegt nun am Bundesrat, mit einer raschen Verabschiedung der hier heute vorgelegten Gesetzentwürfe dafür Sorge zu tragen, daß wir die Basler Konventionen fristgerecht, nämlich im Mai 1994, in Kraft setzen.
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18708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Steffen KampeterDie Koalitionsfraktionen legen Ihnen hier zwei Gesetzentwürfe vor, die dies leisten können.Mein Appell geht an die Verantwortlichen in den Ländern, unsere Nation jetzt nicht durch parteipolitische Auseinandersetzung innerhalb der Bundesrepublik in eine außenpolitisch schwierige Situation zu bringen. Aus diesem Grunde werden wir den beiden Gesetzentwürfen in der Ausschußfassung zustimmen.Der von den Sozialdemokraten vorgelegte Entschließungsantrag bringt inhaltlich nichts, was in den Ausschußberatungen nicht schon ausgiebig diskutiert worden wäre,
sondern es sind alles die alten Hüte, die auch schon zu Beginn der ersten Lesung bekannt waren. Wir werden den Antrag ablehnen.Der von den Sozialdemokraten vorgelegte zweite Antrag zur Stoffflußwirtschaft umfaßt all das, was wir im Rahmen der Beratungen zum Kreislaufwirtschaftsgesetz, die wir am 13. April beabsichtigen abzuschlieBen, schon stundenlang im Ausschuß diskutiert haben. Wir werden dabei auch diesen Antrag noch gebührend beraten und der Überweisung in den Umweltausschuß zustimmen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, nun hat unsere Frau Kollegin Susanne Kastner das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Liebe Kolleginnen! In der Tat, Herr Kollege Kampeter, die Schlagzeilen sind es, die auch in den vergangenen Tagen wieder die Öffentlichkeit erschreckt haben: „480 Tonnen Altpestizide, deklariert als humanitäre Hilfe, die zwischen 1991 und 1992 nach Albanien exportiert wurden". Diese Schlagzeilen aus den letzten Monaten signalisieren, wie wichtig das Übereinkommen zur Verhinderung von Müllexporten, die Basler Konvention, gerade auch für die Bundesrepublik Deutschland geworden ist.
Denn mit der EG-Abfallverbringungsverordnung, die am 6. Mai dieses Jahres unmittelbar geltendes Recht in der Bundesrepublik wird, ist das Ausführungsgesetz einfach notwendig geworden.
Was hier heute aber beschlossen werden soll, führt die Absicht der Basler Konvention teilweise ad absurdum. Ihr Gesetzentwurf führt neue Abfallbegriffe ein mit dem Argument, das Wort „Abfall" sei zu „negativ" belegt. Da wirft Herr Töpfer heute den Leuten von Greenpeace, die die „legalen Pestizidexporte" — O-Ton Herr Töpfer — aus Albanien zurückholen, vor, sie würden „illegalen Sondermüllimport" betreiben. Da haben wir doch das perfekte Beispiel, Herr Töpfer, für das Problem des Abfallbegriffs: Solange das Zeug außer Landes geht, ist es nach Ihrer Vorstellung wiederverwertbar, kommt es wieder hinein — welch ein Wunder —, wird es plötzlich Sondermüll.
Sie wissen genausogut wie wir, daß Müllschieber ihre Exportware immer für verwertbar oder recyclebar deklarieren. Deshalb ist es wichtig, daß wir einen eindeutigen Abfallbegriff in dieses Gesetz aufnehmen. Nachdem Sie diesen EG-Begriff nicht übernehmen, ist der deutsche Abfallbegriff in der Europäischen Union nicht kompatibel, und damit öffnen Sie den Müllschiebern Tür und Tor.
Frau Kollegin Kastner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Töpfer?
Gerne.
Bitte, Kollege Töpfer.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was Sie gerade zitiert haben, vom baden-württembergischen Umweltminister festgestellt worden ist?
Meiner Information nach, Herr Töpfer, war es Ihre Äußerung, aber in der Zielsetzung beschreibt es doch das Problem:
Wenn es exportiert wird, ist es recyclebar, und wenn es wiederkommt, dann ist es Sondermüll.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Frau Kollegin? — Bitte, Kollege Töpfer.
Frau Kollegin, da ich der Zitierte bin, dürfte ich vielleicht von Ihnen erwarten, gesagt zu bekommen, wo ich das gesagt haben soll?
Meine Kollegin Caspers-Merk hat es gerade gesagt: Es hat in der „Badischen Zeitung" gestanden. Es besteht vielleicht die Möglichkeit, sich mit der „Badischen Zeitung" auseinanderzusetzen.
Aber ich will jetzt zum zweiten Problem kommen. Genau deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch unsere zweite Forderung so wichtig, nämlich das generelle Verbot des Exports in Nicht-OECD-Staaten. Die USA haben es uns in dieser Woche vorgemacht, und das Europäische Parlament hat sich einschließlich der deutschen Christdemokraten dafür ausgesprochen, aber Sie sagen nein. Die Christde-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18709
Susanne Kastnermokraten im Europäischen Parlament haben mitgemacht.Da läßt sich Herr Töpfer als Heilsverkünder in den betroffenen Ländern, so z. B. in Rumänien— das, Herr Töpfer, konnte ich unmittelbar mitverfolgen —, feiern. Er stellte sich hin und sagte, es sei ihm eine Herzensangelegenheit, illegal verbrachten Müll nach Deutschland zurückzuholen. Das freut mich ja. Aber hier weigert sich die Union, einem Exportverbot in Nicht-OECD-Staaten zuzustimmen.Genauso verhält es sich mit der von uns geforderten Clearingstelle, die beim Umweltbundesamt angesiedelt werden soll und die auch als Anlaufstelle in der Sache dienen soll. Sie, meine Damen und Herren, wollen dies alles die Länder regeln lassen, wohlwissend, daß im aktuellen Fall Albanien auch der Zoll die stinkenden Fässer einfach nicht hatte abfertigen dürfen.Der Gipfel in der Debatte um das Ausführungsgesetz zur Basler Konvention aber war in der Tat die Diskussion um den Haftungsfonds, Herr Kollege Kampeter. Wir haben in dieser Frage unsere Eckpunkte formuliert. Das Land Niedersachsen hat eine hervorragende Diskussionsgrundlage erarbeitet, aber von Ihnen kam leider gar nichts.
In den Medien konnten wir von den Unionspolitikern immer wieder die Forderung nach einem Haftungsfonds hören, allein, die F.D.P. wußte dies wieder einmal zu verhindern. Die F.D.P., die in dieser Frage nicht nur als Sprachrohr der Metallindustrie auftrat, weigerte sich schlicht, über einen Haftungsfonds überhaupt zu verhandeln,
und stellte — zum wievielten Male eigentlich schon — in diesem Jahr wieder einmal die Koalitionsfrage.
Frau Kollegin Kastner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kampeter?
Aber bitte!
Bitte, Herr Kollege Kampeter.
Frau Kollegin Kastner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir uns, wie wir es im Ausschuß mehrfach erklärt haben, der Fondslösung deshalb nicht anschließen konnten, weil die erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, die von seiten verschiedener Ministerien vorgetragen worden sind, auch von Ihnen nicht ausgeräumt werden konnten?
Herr Kollege Kampeter, dann hätte ich gerne von Ihnen die Erklärung, warum sich viele Unionskollegen auch in der Öffentlichkeit — u. a. der Vorsitzende des Umweltausschusses — für diesen Haftungsfonds ausgesprochen haben.
Ich stelle fest: Wieder einmal wedelt in diesem Parlament der Schwanz mit dem Hund, und die Unionsparteien kuschen.
Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., wollen die Kosten der Rückführung illegaler Müllexporte auf die Lander abschieben mit dem Argument, diese seien für die Genehmigung zuständig. Sie verschweigen dabei geflissentlich, daß die Kosten dann von den Steuerzahlern übernommen werden müssen. Das ist wirklich ein starkes Stück, wenn man weiß, daß allein die Rückholaktion aus Rumänien etwa 10 Millionen DM gekostet hat und die Entsorgungsindustrie bereit wäre, einen Haftungsfonds zu gründen, der auch die illegalen Exporte abdeckt.
Ich bin sicher, das werden die Länder zu korrigieren wissen. Ich frage mich aber auch: Ist der Vermittlungsausschuß wirklich dafür da, die Regierungsunfähigkeit der Koalition immer wieder auszugleichen?
Ich denke, das kann nicht Aufgabe des Vermittlungsausschusses sein. Sie haben sich mit diesem Ausführungsgesetz weiß Gott keine Lorbeeren verdient.
Wir Sozialdemokraten haben in unserem Entschließungsantrag, den wir heute vorlegen, unsere Forderungen noch einmal exakt formuliert und geben Ihnen die Gelegenheit, sich eines besseren zu besinnen. Ansonsten müssen und werden wir in der weiteren Gesetzgebung sicherstellen müssen, daß illegale Müllexporte so weit wie möglich verhindert werden, vor allem aber, daß die Kosten für eventuelle Rückholaktionen bei den Verursachern und nicht bei den Steuerzahlern liegen.
Es tut mir leid, Frau Kollegin Homburger, ich bin mit meiner Rede fertig.
Meine Damen und Herren, nun hat Frau Kollegin Birgit Homburger das Wort und kann gleich all das erklären, was sie eigentlich schon in der Frage darstellen wollte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mir natürlich jetzt selber keine Frage stellen, sondern ich werde in meinen Ausführungen — das werden Sie merken — auf die Vorwürfe der Frau Kollegin Kastner und auf das, was voraussichtlich von der Frau Kollegin Caspers-Merk zu erwarten sein wird, eingehen.
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18710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Birgit HomburgerDie EU-Verordnung zum Basler Übereinkommen wird im Mai dieses Jahres für uns zum unmittelbar geltenden Recht. Deswegen wird es höchste Zeit, daß wir mit dem Ausführungsgesetz zum Basler Übereinkommen die ergänzenden Regelungen auf den Weg bringen, nicht zuletzt auch, um Ländern und Wirtschaft eine Vollzugserleichterung zu bieten.Ich bin froh, daß wir im Umweltausschuß dieses Gesetz in weiten Teilen parallel mit der Novellierung des Abfallgesetzes beraten konnten. Denn so waren wir in der Lage, die EG-Begriffe aus dem Kreislaufwirtschaftsgesetz in das Basler Übereinkommen zu übernehmen. Das ist im übrigen ganz entgegen Ihrer Auffassung eine klare Begrifflichkeit, die mit dem EG-Recht harmoniert. Es ist eine sehr wichtige Voraussetzung für die Ratifizierung des Basler Übereinkommens.
Im Hinblick auf den freien Warenverkehr ist eine solche einheitliche Begriffsbestimmung unerläßlich.Ich weise noch einmal darauf hin, daß wir im Ausschuß und in den Diskussionen immer wieder deutlich gemacht haben, daß wir materiell und inhaltlich die Begrifflichkeiten, die von der EG vorgegeben werden, voll übernommen haben, daß wir aber nicht bereit sind, bestimmte Begriffe in ihrer Übersetzung zu übernehmen. Es fehlt mir aber leider die Zeit, dies noch einmal in allen Einzelheiten auszuführen.Die Abfallverbringungsverordnung schränkt grenzüberschreitende Abfalltransporte weitgehend ein. Außerhalb der EU und der EFTA-Staaten dürfen keine Abfälle mehr zur Beseitigung exportiert werden. Zur Wiederverwertung dürfen Abfälle grundsätzlich nur in OECD-Staaten verbracht werden, in Nicht-OECD-Staaten nur aufgrund bilateraler Vereinbarungen, die den Umweltschutz gewährleisten sollen.Mit dieser Regelung, die auf Drängen Deutschlands und der Niederlande zustande kam, wurde ein besserer Schutz, insbesondere der Entwicklungsländer, erreicht. Ein Verbot — wie es die SPD fordert — der Verbringung in OECD-Staaten brauchen wir nicht, und zwar deswegen nicht, weil es hier um die Problematik dessen, was vorher schon angesprochen worden war — z. B. immer wieder der Fall Rumänien und um die Problematik: legal oder illegal —, geht. Hier geht es schlicht auch um den Gesetzesvollzug und die Überprüfung.Für den Fall, daß illegale Abfallexporte erfolgen, muß die Rückholung durch die Exporteure gesichert sein. Es entspricht dem Verursacherprinzip — und jetzt komme ich zu Ihrer Fondslösung — und unserer verfassungsgemäßen Zuständigkeitsverteilung, daß die Länder subsidiär eintreten müssen. Schließlich liegt die Überwachung der Abfälle in der Verantwortung der Länder.Es geht nicht, daß das finanzielle Risiko schlampigen Gesetzesvollzugs auf die Wirtschaft abgewälzt wird. Deswegen haben wir diesen Zwangsfonds abgelehnt. Damit sollen aber freiwillige Lösungen nicht von vornherein ausgeschlossen sein.Ebenso lehnen wir das Bestreben der Länder ab, dem Bund Vollzugsaufgaben zu übertragen. Schon in der Vergangenheit war es unerträglich, wenn die Bundesregierung für illegale Abfallexporte verantwortlich gemacht wurde, die die Länder bei sorgfältigerem Vollzug hätten verhindern können.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Caspers-Merk?
Ja, gern.
Bitte, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Homburger, könnten Sie mir bitte erklären, warum gegen den Haftungsfonds, der jetzt bei den Pauschalreisen eingeführt wird, keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, wieso aber ausgerechnet der Haftungsfonds, der den Steuerzahler in Zukunft davor schützt, bei illegalen Giftmüllexporten das Ganze hinterher bezahlen zu müssen, verfassungswidrig sein soll? Was ist da der Unterschied? — Es wäre ganz nett, wenn auch die Frau Justizministerin zuhörte; denn es hieß immer, sie habe das verhindert. Es wäre einmal ganz interessant zu hören, warum die Verfassung beim selben Tatbestand so unterschiedlich interpretiert wird.
Zunächst einmal, Frau Kollegin Caspers-Merk, kann ich zu dieser Reiserichtlinie nicht allzuviel sagen, weil ich dafür keine Expertin bin. Ich kann lediglich feststellen, daß es bei dieser Reiserichtlinie jedenfalls keine Überwachung und keinen Vollzug durch die Länder gibt und deswegen auch keine Zuständigkeit der Länder. Insofern besteht schon einmal eine Unterschiedlichkeit in dem Punkt.
Es gab hier verfassungsrechtliche Bedenken. Das wurde intensiv geprüft. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Zwangsfonds, den Sie vorgeschlagen haben, konnten nicht ausgeräumt werden. Insofern bleiben wir hier bei unserer Meinung.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Kastner?
Nachdem ich das vorher nicht durfte, bin ich gern bereit, der Frau Kollegin Kastner die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage zu geben.
Bitte, Kollegin Kastner.
Frau Kollegin Homburger, können Sie mir erklären, warum sich der Bundesverband der Entsorgungswirtschaft für diesen Haftungsfonds einsetzt?
Frau Kollegin Kastner, ich kann Ihnen natürlich nicht in allen Einzelheiten erklären, warum sich der Bundesverband der Entsorgungswirtschaft für diesen Fonds einsetzt. Aber offensichtlich war der Bundesverband der Entsorgungswirtschaft auch auf freiwilliger Basis bereit, hier etwas
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18711
Birgit Homburgerzu tun. Das haben wir nicht verhindert. Wenn hier auf freiwilliger Basis ein Fonds entsteht, dann kann der gerne gemacht werden. Das einzige, wogegen verfassungsrechtliche Bedenken bestehen und wogegen wir uns wehren, ist die Einrichtung eines Zwangsfonds, bei dem auch diejenigen, die nicht bereit sind, für illegale Exporte aufzukommen, einbezogen werden, bei dem sozusagen diejenigen, die legal exportieren und ihre Verantwortung wahrnehmen, dann für illegale Exporte bezahlen müssen. Das lehnen wir ab.
— Es gibt auch noch andere Verbände als den Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft, und es gibt vor allen Dingen, Frau Kollegin Kastner, eines: Es gibt eine Verantwortung dieses Parlaments. Ich persönlich bin — ganz im Gegensatz zu Ihrer hohen Meinung von meiner Person — nicht bereit, nur deswegen, weil der eine oder andere Verband das eine oder andere will, auch das eine oder andere zu tun. Vielmehr bin ich der Meinung, daß wir uns eine Meinung bilden müssen und dann verantwortlich handeln müssen. Genau das tim wir mit unserem Vorschlag.
Ich möchte mich jetzt noch kurz zu dem Antrag der SPD zur ökologischen Stoffwirtschaft äußern. Da der Antrag ja heute nur überwiesen wird und wir noch an anderer Stelle Zeit haben werden, uns mit diesem Antrag ausführlicher auseinanderzusetzen, möchte ich mich auf einen Punkt beschränken. Ein gravierender Unterschied zwischen dem Antrag der SPD und dem Koalitionsentwurf zur Novellierung des Abfallgesetzes liegt darin, daß von der SPD die Rückstandsvermeidung verlangt wird, wohingegen wir eine Abfallvermeidung anstreben. Mit welchen Instrumenten eine Rückstandsvermeidung erreicht werden soll, bleibt allerdings offen. Wollte man nämlich wirklich eine Rückstandsvermeidung erreichen, sind Instrumente nötig, die eine starke Reglementierung bedeuten würden und schließlich sogar eine staatliche Produktnormung.Abgesehen davon, daß wir mit einem solchen Vorgehen bei der EG an unsere Grenzen stoßen würden, wenden wir uns gegen eine solche staatliche Reglementierung. Ein derartiger Eingriff in die Wirtschaft und in die Produktion hätte zur Folge, daß der Staat zur Wirtschaft wird. Das kann nicht unser Ziel sein.Wir setzen also auf die Abfallvermeidung, die nicht nur durch Vermeidung, sondern auch durch die umweltfreundliche Verwertung möglich sein wird. In diesem Zusammenhang setzen wir auf die Ausdehnung der Produktverantwortung bei der Wirtschaft. Das führt indirekt dazu, daß Abfälle vermieden werden. Wenn wir die Wirtschaft selbst in die Verantwortung nehmen und ihr Entscheidungsspielraum lassen, dann hat sie auch die Möglichkeit zur schnellen Anpassung an den Markt und Spielraum für Innovationen. Solche Innovationen sind letztlich dringend nötig, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. Diesen Ansatz halten wir für ehrlicher und für besser, aber wir werden ja noch Gelegenheit haben, das auch im Umweltausschuß zu diskutieren.Danke.
Meine Damen und Herren, es ist nicht immer ganz einfach für den amtierenden Präsidenten, den richtigen Augenblick abzupassen, wenn jemand sehr schnell spricht, um festzustellen, wann ein Satz zu Ende ist und der nächste beginnt. Frau Kollegin Homburger, Sie sind nur deswegen um Ihre Zwischenfrage gekommen, weil Susanne Kastner sich so verhalten hat.
Nun hat das Wort die Frau Kollegin Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das stimmt ja überhaupt nicht, Herr Kollege Kampeter. Übrigens ist Frau Kollegin Homburger dafür bekannt, daß sie so schnell spricht.Frau Kollegin Homburger, Sie haben besonders die Verantwortung des Bundes betont. Dabei ist mir allerdings dann schleierhaft, warum Sie die Verantwortung letzten Endes auf die Lander abschieben.
Müll ist nicht nur ein mehr oder weniger notwendiges Übel in unser ach so zivilisierten Gesellschaft, Müll ist zu einem der größten Exportschlager und damit zu einer munter sprudelnden Profitquelle geworden. Nach einer BMU-Statistik ist die Bundesrepublik weltweit der größte Giftmüllexporteur: 500 000 t pro Jahr kommen aus der Bundesrepublik. Im Vergleich dazu kommen 141 000 t aus den USA und 110 000 t aus den Niederlanden.Von den 328 Projekten der Müllverschiebung in 13 osteuropäische Länder sowie GUS-Länder in den letzten drei Jahren kamen mehr als 60 % aus der Bundesrepublik. Töpfers touristische Reisen in Sachen des als Wirtschaftsgut oder sonstwie deklarierten Sondermülls ist uns ja allen noch im Gedächtnis.Weltweit steht das Verbot des Exports von gefährlichen Abfällen in Nicht-OECD-Staaten längst auf der Tagesordnung. Auch im Basler Abkommen geht es nicht um genehmigte Exporte innerhalb der EU, sondern ausschließlich um die große Grauzone der Exporte in die Dritte Welt, die osteuropäischen Länder und die GUS-Staaten. Dieser Grauzone, die inzwischen fast unbemerkt zum Feld organisierter Kriminalität wurde, ist nur beizukommen mit einem klaren und eindeutigen Verbot des Exports in alle Gebiete außerhalb der EU.Wir hoffen, daß die Ankündigungen der USA, in den kommenden Verhandlungen eine Verschärfung der Regelungen des Abkommens einzufordern, tatsächlich ernstgemeint sind.Eine drastische Beschränkung des Müllexports oder sein Verbot hätte durchaus positive Wirkungen auf die
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18712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Dagmar EnkelmannBundesrepublik. Er könnte Anreiz für durchgreifende Maßnahmen zur Abfallvermeidung und Voraussetzung für den so notwendigen Innovationsschub bei der Umwelttechnologie sein. Dieser Intention allerdings wird das Ausführungsgesetz der Bundesregierung zum Basler Übereinkommen in keiner Weise gerecht.Wie wir inzwischen auch aus den Beratungen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes wissen, ist das offenkundig gar nicht gewollt. Unklare Begriffe fördern unklare Regelungen und lösen das Problem nicht. Hier gibt es ja klare Aussagen — z. B. der Sachverständigen — über die Begriffsbestimmung, daß nämlich genau die dazu führt, daß es letzten Endes zu den folgenden Ausführungsproblemen kommen wird.Herr Kampeter, Sie haben sich der Umwelt gestellt. Ich denke, hier fehlt doch noch einiges. Die PDS/Linke Liste wird das vorliegende Ausführungsgesetz ablehnen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht das Basler Übereinkommen selbst, wohl aber die nationalen Umsetzungsversuche erfüllen den Tatbestand der vorsätzlichen Täuschung.
Endlich, nach monatelangem quälenden Tauziehen, haben die Koalition und die Bundesregierung es geschafft, uns eine Art Minimallösung vorzulegen. Doch über weite Strecken ermöglichen diese Vorlagen auch weiterhin mehr oder weniger unkontrollierte Giftmüllexporte, jetzt aber mit dem Genehmigungssiegel bundesdeutscher Verwaltungen. Die Forderungen der Opposition wurden dagegen wie üblich abgeschmettert. Herr Kampeter hat das schon ganz genüßlich in seine Rede eingebaut.
Die Metallindustrie war wieder einmal stärker als alle umweltpolitischen Einwände. Das fängt schon mit den Begriffen an. Genauso wie beim Entwurf des Kreislaufwirtschaftsgesetzes ist nun beschönigend die Rede von Sekundärrohstoffen bzw. Rückständen. Aber egal, wie die Begriffe gesetzt sind: Hier wird einfach verniedlicht und verdrängt, daß die Bundesrepublik der größte Giftmüllexporteur der Welt ist.
Wie das funktioniert, sehen wir doch gerade wieder einmal in Albanien.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat im Umweltausschuß drei essentielle Forderungen gestellt, die allesamt von der Koalition abgebügelt wurden:
Erstens. Abfallexporte in Staaten der Dritten Welt sind auch dann nicht zulässig, wenn dies unter dem Tarnmäntelchen Verwertung geschieht.
Zweitens. Wenn denn schon Abfälle oder Sekundärrohstoffe exportiert werden, dann dürfen diese unseres Erachtens nur in Anlagen behandelt werden, die den Standards in der Bundesrepublik entsprechen. Es gibt doch sicherlich gute Gründe für die hiesigen Standards. Es kann eigentlich keinem Menschen zugemutet werden, in Anlagen zu arbeiten oder neben Anlagen zu wohnen, die diese Anforderungen nicht erfüllen. Umweltgeschütztes Leben kann doch kein deutsches Privileg sein.
Drittens. Selbst einen aktiven Sachkundenachweis für sogenannte Abfallmakler hält die Koalition nicht für erforderlich, vermutlich weil die Vergangenheit gezeigt hat, wie reibungslos und mit welcher kriminellen Energie die Verschiebungsgeschäfte funktionieren.
Meine Damen und Herren, abgesehen von den genannten inhaltlichen Minimalforderungen kann von einer geordneten Beratung im Ausschuß überhaupt keine Rede sein.
Herr Kollege Feige, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Homburger?
Schönen Dank, wenn es auf meine Redezeit nicht angerechnet wird!
Herr Kollege Feige, könnten Sie mir bitte erklären, warum Sie diese Sach-und Fachkunde fordern und welcher Zusammenhang zwischen krimineller Energie und der nötigen Sach-und Fachkunde besteht?
Das ist recht einfach. Ich denke, daß eine Sach-und Fachkunde notwendig ist, damit auch hier die gesetzlichen Regelungen eingehalten werden, damit wir auch dort Makler haben, die in der Lage sind, zwischen den entsprechenden Materialien zu unterscheiden.
Meine Aussage bezüglich der kriminellen Energie ist ein Zitat des Kollegen Friedrich aus der Ausschußberatung. Er hat ausdrücklich gesagt, daß wir in unserer Auseinandersetzung darauf achten müssen, daß in dieser Hinsicht schon ein hoher Fachverstand vorliegt. Das sieht man an der kriminellen Energie.
Wenn Sie Ihre eigene Argumentation, die zur Ablehnung unseres Arguments geführt hat, nicht werten wollen, tut es mir herzlich leid. Aber genau dieser Tatbestand ist von Ihnen selbst eingebracht worden.
Noch eine Zusatzfrage der Kollegin Homburger.
Herr Kollege Feige, ist es nicht vielmehr so, daß wir gesagt haben, daß die notwendige Zuverlässigkeit geprüft werden soll, da das Vorliegen krimineller Energie nicht in Zusammenhang mit der Sach- und Fachkunde, sondern mit der Zuverlässigkeit steht? Deshalb ist nicht die Sach-und Fachkunde entscheidend, sondern die Zuverlässigkeit derjenigen, die in diesem Geschäft tätig sind.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18713
Jetzt wird es ein wenig sophistisch. Ich weiß nicht, warum die Differenzierung zwischen diesen beiden Begriffen, die Sie jetzt provozieren, so wesentlich ist. Nehmen wir einmal an, daß dies so problematisch transportiert werden könnte, wie es hier von Ihnen eingefordert wird. Darm hätte man diese Formulierung durchaus in das Gesetzeswerk aufnehmen können und unseren Antrag nicht ablehnen müssen.
Herr Kollege Feige, es gibt noch den Wunsch des Kollegen Kampeter nach einer Zwischenfrage.
Herr Feige, wie begründen Sie Ihre Behauptung, daß es im Ausschuß keine ordnungsgemäße Beratung dieser beiden Gesetze gegeben hat, vor dem Hintergrund der Tatsache, daß zwei Tagungen des Umweltausschusses mangels Anträgen und Diskussionswünschen auch auf Ihrer Seite ausgesetzt werden mußten? Es gab also hinreichend viel Beratungsspielraum.
Wir haben selbst eine heftige Debatte zu Verfahrensfragen geführt. Dies ist in den Protokollen leicht nachzulesen. Es ist ein Aufeinanderzugehen vorhanden gewesen. Ich habe auch heute mit dem Antrag auf Fristeinrede nichts anderes erreichen wollen, als daß auch wir, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nachdem wir alle dieses Gesetz in Hektik durchgearbeitet haben, die Chance bekommen, einen gemeinsamen Beschluß zu fassen. Deshalb wäre nichts verloren, wenn wir dies auch nur um eine einzige Woche hätten verschieben müssen.
Es liegt übrigens auch nicht an uns, daß im Ausschuß diese fast panische Situation entstanden ist. Es lag doch an Ihnen, daß immer noch Anträge und Anträge nachgereicht wurden.
Jetzt fahre ich ganz einfach mit meiner Rede fort. Es war zwar nicht unerwartet, aber in gewissem Sinne peinlich, daß sich z. B. der Gesundheitsausschuß nicht in der Lage gesehen hat, als mitberatender Ausschuß ein Votum zu einem solch dramatischen und wesentlichen Sachgegenstand abzugeben. Aber für mich stellte sich auch die Frage, worüber er denn hätte abstimmen sollen, wenn erst in der letzten Sitzung unseres Ausschusses die letztgültige Version auf den Tisch gelegt wurde.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen die Umsetzungsvorlage ab. Mit uns wird es Regelungen zum Abfallexport geben, die diesen Namen verdienen und tatsächlich die Schlupflöcher dichtmachen. Wer den Vorlagen der Koalition zustimmt, verhindert nicht nur keine Abfallexporte, er schadet gerade wegen der weiterhin zu erwartenden Giftmüllskandale dem Ruf der Bundesrepublik insgesamt.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, nun hat unsere Frau Kollegin Marion Caspers-Merk das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir heute zu später Stunde gezwungen werden, Filetstücke der deutschen Umweltgesetzgebung quasi im Schweinsgalopp zu beraten,
wirft dies ein ganz besonderes Licht — ich glaube, daß Ihnen dies nicht gefällt — auf die Durchsetzungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz der Bundesregierung.
Wir sprechen einerseits vom Abkommen von Basel, was ja schon seit mehreren Jahren zur Ratifizierung ansteht, und wenn wir uns nicht beeilt hätten, wären wir automatisch über das EU-Verfahren dann ratifizierender Teilnehmer von Basel geworden, und wir sprechen andererseits auch über unser Eckpunktepapier, was zu den Beratungen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes dazugehört.
Der Umweltminister hat im März vergangenen Jahres sein Kreislaufwirtschaftsgesetz begeistert eingebracht, von dem heute nur noch Bruchstücke übriggeblieben sind.
— Abfall, richtig. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, daß ein Gesetz, das die Hürden des Kabinettstisches genommen hat, hinterher durch das Wirtschaftsministerium, Industrieverbände und interessierte Kreise so demontiert werden kann, daß die Vertreter der Koalitionsfraktionen sage und schreibe nach elf Monaten Streit de facto ein neues Gesetz vorlegen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese elf Monate gut genutzt, um mit dem heute vorgelegten Eckpunktepapier unsere Philosophie einer ökologischen Stoffwirtschaft und ihre konkrete Umsetzung darzulegen.
Im Gegensatz zur Bundesregierung denken wir nicht vom Abfall her, weil das für uns eine klassische Verengung auf End-of-the-Pipe-Strategien ist. Wir wollen in Zukunft die Input-Seite stärker in das Blickfeld der Umweltpolitik rücken.
Frau Kollegin Homburger, ich kann Sie trösten. Das ist natürlich mit der Fraktion abgestimmt. Bei uns herrschen ja noch nicht Sitten wie bei der F.D.P.
Wir beschäftigen uns also mit Stoffen, ihrer Verarbeitung, ihrer Verwertung und ihrer Entsorgung. Es ist eine Tatsache, daß hinter jeder Tonne Hausmüll, die wir sehen, acht Tonnen Hausmüll stecken, die schon bei der Produktion anfallen, und daß diese Produktionsrückstände als Rückstände oder Wertstoffe oder was auch immer auf unseren Deponien landen oder — schlimmer noch — in den Ländern der Dritten Welt.
Frau Kollegin Caspers-Merk, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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18714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Selbstverständlich beantworte ich Zwischenfragen.
Bitte, Frau Kollegin Homburger.
Frau Kollegin Caspers-Merk, wenn Sie denn wirklich die letzten elf Monate genutzt hätten, könnten Sie mir dann bitte freundlicherweise erklären, warum wir im Umweltausschuß weitere Änderungsanträge der SPD nicht beraten konnten, also auch mit dem Verfahren im Umweltausschuß nicht fortfahren konnten und warum Sie uns dann zur Begründung angegeben haben, daß Sie noch Abstimmungsschwierigkeiten mit den Wirtschaftspolitikern Ihrer Fraktion hätten
und noch in die Fraktion müßten?
Frau Homburger, Sie erinnern sich wahrscheinlich an das, was Sie bezüglich des Abstimmungsbedarfs mit den Wirtschaftspolitikern zu Protokoll gegeben hatten. Bei uns war das anders. Es war doch so, daß wir am 17. Februar erst Ihre Änderungsanträge auf den Tisch des Hauses bekommen haben — das läßt sich ja im Protokoll nachlesen —
und in der letzten Sitzung noch Begründungen nachgereicht wurden und sogar handschriftlich vom Justizministerium noch neue Formulierungen eingebracht wurden. Insofern, glaube ich, haben wir uns da gegenseitig nichts vorzuwerfen.
Im übrigen, Herr Kollege Kampeter, wissen Sie ganz genau: Bei Basel waren Sie nicht satisfaktionsfähig, weil Sie praktisch auch die Änderungsanträge nicht rechtzeitig und fristgemäß eingereicht hatten.
Es ist gerade die Tragik bei der Diskussion um das Kreislaufwirtschaftsgesetz, daß wir immer nur Endof-the-Pipe-Regelungen haben und daß wir wie beim DSD jetzt eine ähnliche Flut von Verpackungen und Packmitteln erzeugen, für die dann hinterher aufwendig mit Rechtsverordnungen Regelungen getroffen werden, die nicht greifen.
Wir haben deshalb in unserem Eckpunktepapier sowohl Grundsätze für eine ökologische Stoffwirtschaft formuliert als auch unsere grundlegende Kritik am Kreislaufwirtschaftsgesetz festgeschrieben. Das ökologische Eckpunktepapier ist also die Kür. Der Pflicht unterziehen wir uns derzeit im Umweltausschuß bei der Beratung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz, indem wir für jeden einzelnen Paragraphen unsere konkreten Änderungsanträge vorbereiten. In unseren Änderungsanträgen — wir haben 12 bereits eingereicht, weitere 36 werden folgen — machen wir unsere fünf Hauptkritikpunkte deutlich.
Erstens. Wir brauchen eine EG-konforme Begrifflichkeit, die leicht vollziehbar und eindeutig in der Terminologie ist. Ihr Gesetzentwurf wird dem nicht gerecht.
Zweitens. Wir brauchen eine klare Hierarchie bei der Abfallpolitik. Es muß erstens Abfall vermieden, zweitens Abfall primär stofflich verwertet und erst dann der Abfall entsorgt werden.
Drittens. Wir brauchen klare Anforderungen an Produkte und müssen eine Produktverantwortung der Hersteller bereits als Grundpflicht in das Gesetz hineinschreiben.
Viertens. Entgegen den Privatisierungsideologien des kleineren Koalitionspartners setzen wir auf eine klare Abgrenzung der Pflichten zwischen privater Entsorgungswirtschaft und öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, um auch für die Zukunft eine Planbarkeit und eine Entsorgungssicherheit für Bürgerinnen und Bürger und für die kommunalen Gebietskörperschaften darzustellen.
Fünftens und letztens. Wir wollen nicht, daß wieder ein Gesetz beschlossen wird, das vieles nur auf dem Wege über Rechtsverordnungen regelt; denn ansonsten warten wir auf diese Rechtsverordnungen, Herr Umweltminister, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Dies zeigt ja, daß Sie all die Rechtsverordnungen, die Sie noch groß angekündigt hatten, wie die Altpapierverordnung, die Elektronikschrottverordnung, die Kennzeichnungsverordnung und die Altautoverordnung zurückgezogen haben.
Wir haben also mit diesem Eckpunktepapier eine klare Alternative zum derzeitigen Regierungsentwurf formuliert, aber wir machen uns auch bei den Ausschußberatungen an die detaillierte Ausformulierung von Änderungsanträgen, um wenigstens in kleinen Teilbereichen ökologische Zielsetzungen der Abfallpolitik zu retten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als letztem dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herrn Kollegen Dr. Klaus Töpfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem gebe ich Frau Kollegin Caspers-Merk sehr nachhaltig recht. Es ist schade, daß wir dieses wichtige Thema hier in so kurzer Zeit und ohne eine wirklich breite, vertiefende Diskussion behandeln müssen. Es zeigt, daß wir uns der gesamten Breite der Industriegesellschaft stellen müssen. Dazu gehören die Fragen der Abfälle, ihrer Vermeidung, ihrer Wiederverwertung und ihrer umweltverträglichen Entsorgung. Gerade weil dem so ist, ist es notwendig, daß wir alles daransetzen, damit es nicht zu kriminellen Exporten von Abfallstoffen kommt.Um eines deutlich zu machen: Das, was die Vereinigten Staaten gestern verkündet haben, geht nicht um einen Zentimeter über das hinaus, was in Deutsch-Deutscher Bundestag — 12.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18715Bundesminister Dr. Klaus Töpferland Rechtsgrundlage ist. Alle Bundesländer — sie genehmigen Exporte — haben klar gesagt, daß sie Sonderabfallexporte nicht genehmigen. Dies ist genau das, was die Vereinigten Staaten gestern ebenfalls gesagt haben. Ich halte das für richtig und für gut. Ich habe mich bei den Kollegen zu bedanken. Ich wäre noch dankbarer, wenn sie das, was sie dort gesagt haben, auch wirklich lückenlos überprüfen und kontrollieren würden. Das würde an vielen Stellen noch mehr Probleme beseitigen.
Wir haben nicht zufällig, sondern entscheidend daran mitgearbeitet, daß es das Basler Übereinkommen gibt. Deswegen ist es notwendig, daß wir es jetzt nicht nur formal, sondern wirklich auch inhaltlich ins deutsche Recht umsetzen. Deswegen nur ganz wenige Sätze dazu.Es ist gut und notwendig, daß wir die Grauzone zwischen Abfall und Wirtschaftsgut beseitigen. Da kann man lange über Begriffe rechten. Darüber, ob die größere Klarheit darin liegt, daß wir wie in der EG-Verordnung den Oberbegriff „waste" und die Unterbegriffe „waste for recovery" und „waste for disposal" verwenden oder sagen, es gibt Rückstände und Sekundärrohstoffe und Abfälle, die beseitigt werden sollen, gehe ich mit Ihnen gern jede Diskussion ein.
Ich habe es an anderer Stelle schon einmal dem Kollegen Feige gesagt, und Frau Kollegin Enkelmann muß man es vielleicht auch noch einmal sagen — sie konnte damals nicht in der Ausschußsitzung sein —: Warum sind Sie alle, die Sie mir immer gesagt haben, ich sollte das Sero-System erhalten, eigentlich so sehr gegen den Begriff „Sekundärrohstoffe"? Hätte es den Begriff „Sekundärrohstoffe" nicht gegeben, hätte es offenbar nicht ein Sero-System gegeben, sondern es wäre ein Waste-System gewesen. Genau das hat die Bereitschaft von Menschen, darüber nachzudenken, wie sie mit Rohstoffen umgehen, beflügelt. Deswegen bin ich der Meinung, Sie müßten diejenigen sein, die mit großem Nachdruck sagen, der Begriff „Sekundärrohstoff" sei in Ordnung.
Ich frage Sie ein Weiteres. Sie halten mir vieles zu Recht vor, auch die Tatsache, daß ich mich international bewege. Aber ich lade Sie wirklich herzlich dazu ein, einmal darüber nachzudenken, welche Aufgaben wir gegenwärtig im Zusammenhang mit der GATTLösung und dem Problem Handel und Umwelt zu bewältigen haben. Erklären Sie den verantwortlichen Ministern außerhalb der OECD doch einmal, warum Sekundärrohstoffe, die zur Wiederverwertung bestimmt sind, zu ihnen nicht mehr kommen dürfen! Das, was Sie gesagt haben, Herr Feige, wird von anderen im Sinne von nichttarifären Handelshemmnissen gegeißelt. So ist doch die Situation.
Da muß man vielleicht einmal fragen, ob wir wirklich nur daran denken, anderen eine Freude zu machen, oder ob wir nicht wirklich in der Sache etwas Vernünftiges machen. Ein Sonderabfallexport aus Deutschland ist verboten. Wo er erfolgt, ist er ein krimineller Akt.
Es ist zu beklagen, daß es eine Abfallmafia gibt; das ist wahr. Deswegen muß die Grauzone beseitigt werden. Deshalb brauchen wir die Rücknahmeverpflichtung. Deswegen ist es notwendig, daß wir alles dafür tun, die Exporteure in ihrer Verantwortung zu lassen; dies gilt auch für die Bundesländer. Deswegen lassen Sie uns das im Bundesrat in Ruhe weiter diskutieren und hoffentlich, ohne daß wir einen Vermittlungsausschuß brauchen, zu einem Abschluß bringen.Lassen Sie mich, weil es angesprochen worden ist, in der gebotenen Kürze einiges zu der Situation in Albanien sagen. Frau Kollegin Kastner, ich habe mir die Pressemitteilung des Kollegen Schäfer vom heutigen Tag gerade noch einmal kommen lassen. Da gibt es die üblichen Schläge auf den Bundesumweltminister. Es steht aber schon in der Überschrift: „Greenpeace Giftmüllaktion weist politisch in richtige Richtung. Aber keine Sonderrechte für Greenpeace. Schäfer entläßt Greenpeace nicht aus Verantwortung für illegalen Giftmüllimport" . — Das hat Herr Schäfer gesagt, nicht Herr Töpfer. Ich wollte Ihnen das nur gesagt haben.
Ich kann gerne ein Stückchen weiter zitieren. Im Gegensatz zu Ihnen kritisiere ich den Kollegen Schäfer nicht.
— Entschuldigen Sie bitte. Was Kollege Schäfer macht, ist völlig richtig. Es ist rechtlich absolut in Ordnung. Ich hätte es hier auch gar nicht zitiert, wenn nicht mit dem Brustton der Überzeugung und der Empörung gesagt worden wäre: Dann kommt Töpfer noch und sagt, das ist illegaler Giftmüllimport. — Wenn Sie dann sagen, Herr Schäfer hat recht, dann müssen Sie auch sagen, daß Herr Töpfer, wenn er genau dasselbe sagt, auch recht hätte.
— Einverstanden. Sehen Sie, darum ging es mir. Das ist gar nicht so schlecht.Ich sage Ihnen über die eine Tonne, die jetzt in Kehl steht, hinausgehend folgendes: Es bedurfte eben nicht der Aktion von Greenpeace; denn natürlich sind wir darüber informiert — und nicht nur mit Blick auf Albanien —, daß in der unmittelbaren Umbruchzeit nach dem Ende der DDR noch eine große Menge von Pflanzenschutzmitteln mehr oder weniger legal exportiert worden ist, an manchen Stellen wirklich völlig illegal, mit Methoden und mit Verbindungen, die auf Stasi und anderes mehr hinweisen, und daß viele, viele Tonnen solcher Pflanzenschutzmittel Abfall geworden sind. Das wird bei uns sofort Giftmüll.
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18716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Bundesminister Dr. Klaus TöpferDas sind überlagerte, nicht richtig gelagerte Pflanzenschutzmittel aus der ehemaligen DDR. Das ist nicht eine Tonne, sondern in Albanien sind das mindestens 380 Tonnen. Da muß ich mich doch fragen: Was sind das für welche? Wie sind sie verpackt? Wie kann ich sie zurückbringen? Wie kann ich sie in Deutschland entsorgen? Das ist nicht eine Tagesaktion, sondern das muß wirklich umfassend vorbereitet werden. Ich kann Greenpeace hier nicht sagen, wohin sie mit dieser einen Tonne sollen.Zunächst einmal muß ich diese Tonne — das will der Kollege Schäfer richtigerweise machen — untersuchen. Ich muß wissen: Was ist das für ein Pflanzenschutzmittel? Kann das verbrannt werden? Muß das in eine Untertagedeponie? Deswegen appelliere ich auch hier noch einmal an die Vernunft von Greenpeace: Hebt die Blockade auf! Laßt die Sachen untersuchen, dann werden wir sie umweltverträglich entsorgen. Weil es unsere Verpflichtung ist, werden wir den Rest aus Albanien ebenfalls zurückholen und ihn hier sachgerecht behandeln.
Das ist doch eine vernünftige Position. Das kann doch sogar eine Opposition in diesem Hohen Hause mittragen, meine Damen und Herren.Ich sage Ihnen schon jetzt: Ich habe die Sorge, daß wir aus älteren Zeiten noch viele, viele Tonnen Pflanzenschutzmittel aus der ehemaligen DDR finden werden, die einmal exportiert worden sind, als noch niemand an die deutsche Einheit dachte. Aber daran muß ich doch heute denken, wenn ich etwas zurückhole. Hören Sie doch auf zu sagen: Das ist wieder einmal das Versagen von Herrn Töpfer. Es ist doch geradezu kindisch, was wir da machen.
Lassen Sie uns uns doch mit den Bundesländern, mit dem Bund und mit der Opposition zusammensetzen und diese Schleifspuren, die aus dem deutschen Einigungsprozeß entstanden sind, vernünftig aufarbeiten! Es täte dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland weiß Gott gut, wenn wir uns darüber zu Hause nicht in die Haare gerieten, sondern die Dinge bewältigten. Darum geht es, und darum bitte ich ganz schlicht.
Herr Minister, lassen Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Caspers-Merk zu?
Gerne, obwohl ich weiß, daß ich überzogen habe.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Minister Töpfer, ich teile Ihre Beurteilung der Sache, daß noch mehr dieser Fälle auf uns zukommen können. Könnten Sie uns dann erklären, warum der Haftungsfonds, dem die Idee zugrunde liegt, daß die Entsorgungswirtschaft, die an der Entsorgung verdient, hinterher bei gescheiterten oder illegalen Exporten für die Kosten aufkommt, in Ihrem Gesetzentwurf mit keinem Satz vorkommt und die Koalitionsfraktionen, entgegen dem Votum Ihres Staatssekretärs, auch Eckpunkten für diesen Haftungsfonds nicht zugestimmt haben?
Zwei kurze Antworten, Frau Kollegin Caspers-Merk.Erstens. Zur Bewältigung dieser Probleme wird jeder Fonds, den wir machen wollen, immer zu spät kommen. Sie können nicht hinterher kommen und sagen: Was vorher gewesen ist, machen wir jetzt in einer Umlage auf die Wirtschaft.
Ich glaube, das muß man einfach aus der Rechtssystematik heraus klarmachen. Es kann ja wohl nicht anders sein. Wenn das nicht so wäre, wie könnte ich dann z. B. bei der Braunkohle eine Privatisierung des aktiven Bergbaus vornehmen und die Altlasten dem Staat übergeben? Das ist eigentlich, wenn Sie so wollen, auch eine Folge der bisherigen Tätigkeiten eines abgewirtschafteten, kaputtgegangenen Regimes. Das fällt in die Verantwortung der Allgemeinheit. Ich sage das ganz nüchtern.Ein Zweites sage ich Ihnen dazu. Natürlich bemühe ich mich nach wie vor intensiv darum, eine Mitwirkung und eine Mitfinanzierung der Wirtschaft dafür zu bekommen. Ich glaube nicht — so habe ich die Frau Kollegin Homburger auch nicht verstanden —, daß es eine Gegenmeinung gäbe. Ich glaube, daß wir mit der Wirtschaft zusammen eine Lösung bekommen, an der sie mitwirkt. Wenn sie da freiwillig mitwirkt, dann wollen wir das mit allem Nachdruck machen. Das ist, glaube ich, keine Utopie, sondern das ist Realität. Das kann man erreichen. Lassen Sie uns dies erst einmal vernünftig durchdiskutieren, auch mit den Bundesländern.Eines möchte ich allerdings nicht: Ich möchte nicht, daß mit dem Hinweis auf einen Fonds die Kontrolldichte und die Kontrollverantwortung irgendwo verwischt werden. Das kann es nicht sein;
denn da müssen wir schon ein Stück mit einfordern. Ich glaube, auch da werden Sie uns ganz sicherlich recht geben.Also zusammengefaßt, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir brauchen diese Umsetzung des Basler Übereinkommens. Wir sind bereit, dieses Basler Übereinkommen weiter zu verschärfen. Exporte von Sondermüll darf es nicht geben. Aber es kann doch nicht richtig sein, daß wir Sekundärrohstoffe nicht als solche auch auf dem Markt behandeln. Genau das machen die Amerikaner. Das, was in Albanien und an anderen Stellen ist, werden wir weiterhin mit allem Ernst und hoffentlich auch mit baldigem Erfolg beseitigen. Ich hoffe, wir können das aus dieser Parteidiskussion wieder herausbringen.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18717
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 9a. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/6250 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 9 b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf des Zustimmungsgesetzes zum Basler Übereinkommen, Drucksache 12/5278. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/7032 Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 c. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ausführungsgesetzes zum Basler Übereinkommen, Drucksachen 12/6351 und 12/7032 Nr. 2. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit der gleichen Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den: Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7034. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 11 a bis c:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer , Günter Graf, Dr. Hans de With, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems
— Drucksache 12/6141 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten
— Drucksache 12/6484 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Verkehr
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Bachmaier, Dr. Hans de With, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Harmonisierung der Strafrahmen — Drucksache 12/6164 —
Überweisung svorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Frauen und Jugend
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Jürgen Meyer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit unserem Gesetzentwurf zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensvstems und unserem Antrag zur Harmonisierung der Strafrahmen setzen wir die rechtspolitischen Initiativen fort, die wir in dieser Legislaturperiode mit unserer Großen Anfrage vom November 1991 eingeleitet haben. Wir knüpfen damit an die beiden Strafrechtsreformgesetze von 1969 und 1970 und an das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch von 1974 an, die allesamt die Handschrift sozialdemokratischer Justizminister tragen.Der Deutsche Juristentag 1992 hat uns in diesen Bemühungen mit der Feststellung unterstützt, daß neuere Entwicklungen in Wissenschaft und Strafrechtspraxis, und zwar im In- und Ausland, und insbesondere die Verstärkung der Opferperspektive im Straf- und Strafprozeßrecht sowie die deutsche Wiedervereinigung den Anstoß zu einer Ergänzung und Modifikation des geltenden Sanktionensystems geben sollten.Einen ersten Erfolg hatten unsere heute zu diskutierenden Initiativen vom November vergangenen Jahres bereits; denn mehr als drei Monate danach hat die Regierungskoalition in ihrem Entwurf eines Verbrechensbekämpfungsgesetzes vom 18. Februar I 994 einzelne Vorschläge übernommen, abgekupfert, müßte man eigentlich sagen.
Denn die bloße Erwähnung unserer geistigen Urheberschaft, Herr Kollege, kann sich eine Koalition, die sich bekanntlich nicht gerade durch Kreativität auszeichnet, anscheinend nicht leisten.
Immerhin gibt es nun gewisse Übereinstimmungen, die in den Ausschußberatungen vertieft werden sollten. Die Überprüfung der Strafrahmen kann nämlich nicht, wie die Koalition anzunehmen scheint, auf die
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18718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Dr. Jürgen Meyer
Reparatur von zwei Tatbeständen aus dem Bereich der Körperverletzungsdelikte beschränkt werden.Mein Kollege Hermann Bachmaier legt in seiner Rede, die er wegen der heute eingetretenen Verzögerung dieser Debatte zu Protokoll geben mußte, dar, daß es um eine konzeptionelle Neubewertung der Straftaten gegen die Person gegenüber den Eigentums- und Vermögensdelikten gehen muß. Wir fordern eine seriöse Reform statt eines hastigen Flickwerks.
Dasselbe gilt für den Täter-Opfer-Ausgleich, der sich nicht auf die Bestätigung einer längst Praxis gewordenen Rechtsprechung beschränken darf.Aus Zeitgründen kann ich aus unserem Reformkonzept, das auch ein kriminalpolitisches Programm für die nächsten Jahre sein soll, nur drei Vorschläge vorstellen.Ich beginne mit dem Täter-Opfer-Ausgleich. Wir wollen durch unseren Reformvorschlag die Opfer von Straftaten stärkèr in den Mittelpunkt des Strafverfahrens rücken. Wir sind davon überzeugt, daß durch Wiedergutmachung und einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer der Rechtsfrieden in vielen Fällen besser als durch Strafe im herkömmlichen Sinne wiederhergestellt werden kann. Das ist die große Reformforderung, die gegenwärtig nicht nur in Deutschland, sondern weltweit diskutiert wird.Unsere Antwort sollte aber nicht so halbherzig ausfallen, wie es die Regierungskoalition in ihrem vor wenigen Tagen vorgelegten Verbrechensbekämpfungsgesetz vorschlägt. Denn die dort vorgesehene bloße Möglichkeit der Strafmilderung bei Schadenswiedergutmachung wird längst von der Rechtsprechung angewandt, und zwar als Verhalten nach der Tat nach § 46 Abs. 2 des Strafgesetzbuches, der bekanntlich das Bemühen um Schadenswiedergutmachung und einen Ausgleich mit dem Verletzten ausdrücklich erwähnt. Das ist also längst geltendes Recht.Die von der Koalition vorgeschlagene Verbindung dieser Kann-Milderung mit dem Maßstab des § 49 ist kein ausreichender Reformschritt. Wir gehen in zweifacher Hinsicht weiter.Erstens knüpfen wir bei der Überprüfung der Strafrahmen an die Unterscheidung zwischen Straftaten gegen die Person einerseits und Eigentums- und Vermögensdelikten andererseits an und schlagen eine obligatorische Strafmilderung dann vor, wenn es sich um Eigentums- und Vermögensdelikte ohne Gewaltanwendung oder Androhung von Gewalt handelt.Weitere Voraussetzung der Muß-Milderung ist allerdings, daß die Wiedergutmachung vor der Entdeckung der Tat geleistet wurde. Denn nur in diesen Fällen handelt es sich um eine das Strafbedürfnis grundsätzlich mindernde tätige Reue und nicht die bloße Erfüllung einer ohnehin nach der Entdeckung zu erwartenden Schadensersatzforderung.Zweitens wollen wir, daß der im Strafzumessungsrecht längst anerkannte Aspekt des Täter-OpferAusgleichs auch im Strafverfahrensrecht Eingang findet, also insbesondere bei der Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens oder die Vollstreckung von Freiheitsstrafen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein zweiter Schwerpunkt unseres Reformkonzepts ist die Zurückdrängung der Vollstreckung von Freiheitsstrafe dort, wo sie mehr Schaden als Nutzen stiftet. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage ausdrücklich eingeräumt, daß die Freiheitsstrafe in vielen Fällen keine Hilfe zur sozialen Eingliederung des Täters ist. Wie könnte sie das auch sein, wenn der Arbeitsplatz und die Wohnung verlorengehen und die sozialen Beziehungen zerstört werden?Schlußfolgerungen aus dieser Einsicht zieht die Regierungskoalition aber nicht, möglicherweise deshalb, weil man der Auffassung ist, es ginge hier um eine „weiche Welle" gegenüber Straftätern. Das ist natürlich barer Unsinn. Es geht nicht um weicheres oder härteres, sondern um ein besser ausgestaltetes Recht und damit um ein gerechteres und im Interesse des Rechtsgüterschutzes wirkungsvolleres Sanktionensystem.Ich will das mit zwei Beispielen aus unserem Reformentwurf verdeutlichen. Wir wollen in Übereinstimmung mit dem Votum des Deutschen Juristentages die Freiheitsstrafe für nicht bezahlte Geldstrafen, also die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe, zurückdrängen. Das geschieht dadurch, daß Geldstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden können. Mir hat noch niemand erklären können, warum bei uns zwar die Freiheitsstrafe, nicht aber die Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. In anderen westeuropäischen Ländern gibt es diese seltsame Unterscheidung jedenfalls nicht.Ein zweites Beispiel. Wir wollen die Möglichkeiten für die Auferlegung gemeinnütziger Arbeit erweitern. Diese ist in vielen Fällen, auch aus der Sicht des Steuerzahlers, sinnvoller als die Vollstreckung von Freiheitsstrafe, für die er, der Steuerzahler, pro Tag etwa 150 DM bezahlen muß.
— Arbeit gibt es genug in Deutschland, Herr Kollege. Man muß die für gemeinnützige Arbeit geeigneten Arbeitsplätze nur einrichten wollen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krause?
Ja, bitte schön.
Bitte, Kollege Krause.
Da ich nachher sicher als letzter rede, möchte ich eine Frage an Sie stellen, damit Sie sie beantworten können. Wie haben Sie sich die gemeinnützige Arbeit vorgestellt? Für Arbeitslose ist das klar; solche Fälle kenne ich. Aber wann soll jemand, der im Beruf steht, die gemeinnützige Arbeit von z. B. 90 Arbeitstagen leisten?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18719
Es gibt praktische Erfahrungen mit gemeinnütziger Arbeit, die auf Grund des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch in verschiedenen Bundesländern längst gemacht sind. Wir wollen, daß diese praktischen Erfahrungen jetzt bundesweit ausgeweitet werden. Es ist kein theoretischer, sondern ein seit Jahren, seit dem EGStGB von 1974, längst praktisch erprobter Vorschlag.
Übrigens: Wenn die Regierungskoalition nur ein wenig konsequent wäre, müßte sie unseren Vorschlägen geradezu erleichtert zustimmen. Denn im sogenannten Verbrechensbekämpfungsgesetz fordert sie eine massive Ausweitung der Untersuchungshaft
— Herr Kollege Geis! —, ohne sagen zu können, woher in unseren bekanntlich überfüllten Gefängnissen die dafür benötigten zusätzlichen Haftplätze kommen sollen. Eine seriöse Politik ist das jedenfalls nicht.
Als dritten Schwerpunkt unseres Reformentwurfs nenne ich die Einführung des Fahrverbots als Hauptstrafe. Voraussetzung ist, daß es sich um ein Verkehrsdelikt oder eine Straftat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges handelt, etwa einen Versicherungsbetrug durch Vortäuschen eines Verkehrsunfalls. Die Täter sind durch ein Fahrverbot in aller Regel stärker zu beeindrucken als durch eine Geldstrafe, die unter der Rubrik „Geschäftsunkosten" abgebucht wird. Das selbständig verhängte Fahrverbot hat sich in anderen westeuropäischen Ländern längst als äußerst wirkungsvolle Sanktion erwiesen. Bei uns ist es im Strafrecht bisher nur als Nebenstrafe neben einer verhängten Geld- oder Freiheitsstrafe vorgesehen, und zwar beschränkt auf die Dauer von einem Monat bis zu drei Monaten.
— Herr Kollege Geis, wenn Sie Fragen stellen wollen, bitte schön, aber reizen Sie mich nicht durch Zwischenrufe. Das ist nicht günstig für Sie.
— Auch das ist etwas, was mich eher nachdenklich stimmt; aber das muß ja nicht schädlich sein.
Die wesentlich mehr Bürokratie erfordernde Entziehung der Fahrerlaubnis hat, wie wir alle wissen, eine Mindestdauer von sechs Monaten. Die zwischen der Höchstdauer des Fahrverbots von drei Monaten und der Mindestdauer der Fahrerlaubnisentziehung von sechs Monaten bestehende Lücke sollte geschlossen und ein eigenständiges Fahrverbot für die Dauer von einem Monat bis zu einem Jahr eingeführt werden.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Gesetzentwurf stützt sich auf eigene und auf rechtsvergleichend gewonnene Erfahrungen im westeuropäischen Ausland, auf die intensiven Beratungen des Deutschen Juristentages 1992 und auf eine mehrjährige parlamentarische Vorarbeit. Er könnte der Öffentlichkeit zeigen, daß Rechtspolitik nach der Auffassung nicht nur des Rechtsausschusses, sondern des ganzen Bundestages kein kurzatmiges Tagesgeschäft ist, sondern eine Reformaufgabe, der sich dieses Parlament seriös, kompetent und aufgeschlossen für neue Einsichten immer wieder stellen muß.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Heinz Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor etwa zehn Jahren habe ich in einer meiner ersten Reden hier im Deutschen Bundestag bereits von der Notwendigkeit gesprochen, das bestehende strafrechtliche Sanktionensystem behutsam zu ändern. „Behutsam" heißt in diesem Zusammenhang, daß man sich tatsächlich bemüht, in jedem Einzelfall die geltenden Vorschriften zu hinterfragen, ob sie noch in unsere Zeit passen, ob sie geändert werden müssen oder ob sie Bestand haben sollen. Im Grunde dürfen wir sicher sein, daß sich das geltende Sanktionensystem des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung bewährt hat.
Aber es ist auch sicher, daß die gesellschaftliche Entwicklung neue Regeln fast erzwingt. Das gilt auch für die Harmonisierung der Strafrahmen.
Je deutlicher es wird, daß Straftaten gegen Menschen oft mit geringeren Strafen geahndet werden als etwa Eigentumsdelikte, um so mehr fragen sich Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, wie es denn nun eigentlich um unseren Rechtsstaat bestellt ist. Das Gewaltpotential in Deutschland ist erschreckend gestiegen. Politischer Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und die gerade genannte Gewaltbereitschaft gefährden den inneren Frieden unseres Landes. Mich hat das gestrige schreckliche Ereignis im Amtsgericht Euskirchen schon sehr betroffen gemacht.Es ist auch Aufgabe der Politik, die Ächtung aller Gewalt wieder stärker im Bewußtsein der Menschen zu verankern. Natürlich richtet sich diese Aufgabe auch an alle gesellschaftlichen Gruppen und Einrichtungen, ja an alle Bürgerinnen und Bürger. Wir, die Vertreter dieser Menschen, haben alles in unserer Kraft Stehende zu tun, um die Achtung von Leib und Leben aller zu gewährleisten.Ganz besonders geht es mir um einen stärkeren strafrechtlichen Schutz bei Taten, die sich gegen die körperliche Unversehrtheit richten. Deswegen sehen es CDU und CSU auch als geboten an, das Strafgesetzbuch mit dem Ziel zu ändern, Taten gegen das
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18720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994
Heinrich SeesingLeben und die körperliche Unversehrtheit einer höheren Strafandrohung zu unterwerfen.
Dabei muß das seit 100 Jahren bestehende Mißverhältnis zur Bestrafung von Eigentumsdelikten beseitigt werden. — Ich zitiere übrigens aus Beschlüssen unserer Fraktion aus dem vergangenen Frühjahr. — Es ist einfach so, daß Diebstahl heute nach dem Gesetz höher bestraft werden kann als Körperverletzung. Wenn ich mich recht erinnere, beträgt die Höchststrafe bei Diebstahl fünf Jahre Freiheitsstrafe, während die Höchststrafe bei Körperverletzung — wenn sie überhaupt verhängt wird — nur drei Jahre Freiheitsstrafe beträgt. Hier wird ein Widerspruch der Wertigkeiten sehr deutlich.Gerade wegen der zunehmenden Bedeutung der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit bedarf dieser Zustand dringend der Korrektur. Wir sind auch der Auffassung, daß die Strafaussetzung zur Bewährung bei Gewaltdelikten so eingeschränkt werden muß, daß Freiheitsstrafen von den Tätern wieder als ernsthafte Strafen empfunden werden.Das Problem bleibt aber, wie wir ein solches Denken in die Köpfe der Menschen hineinbekommen. Über das Gewaltpotential in unseren Ehen, Familien und Schulen wird häufig gesprochen, auch hier im Deutschen Bundestag. Das gleiche gilt auch für die Wirkung der in den Medien dargestellten Gewalt.
Dennoch sind gerade diese gesellschaftlichen Elemente wiederum diejenigen, die zu neuen Einstellungen der Menschen beitragen können und, so meine ich, sogar müssen.Ob man es will oder nicht: Menschen können im Erwachsenenalter Grenzen nur dann erkennen und respektieren, wenn sie solche Grenzen in ihrer Kindheit und Jugend erfahren haben.
Dabei will ich eingestehen, daß sich der eine oder andere Mensch auch noch später von dem Sog oder der Sucht nach Gewalt befreien kann. Aber dann braucht er das Umfeld, das ihm hilft. Und wo gibt es diese Umgebung heute?
Wir werden also mit großem Interesse und viel Zustimmung den Antrag der SPD-Fraktion zur Harmonisierung der Strafrahmen diskutieren, wobei ich allerdings, mit Verlaub, das siebte Beispiel — mit „Vollrausch" überschrieben — als nicht gerade passend empfunden habe, auch als Beispiel nicht. Hinzu kommt — das hat gerade schon Herr Professor Meyer gesagt —, daß Ansätze zur Lösung des geschilderten Problems doch wohl schon im Verbrechensbekämpfungsgesetz vorhanden sind.Ich habe meine Rede mit einem Hinweis auf das Sanktionensystem begonnen. Ich möchte diese Frage wieder aufgreifen. Dabei kommt es mir zunächst darauf an, darzustellen, daß sicherlich über viele Anliegen im Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, von der SPD-Fraktion eingebracht, gesprochen werden kann und meinetwegen auch entschieden werden muß.Ich will aber nicht verschweigen, unter welchen grundsätzlichen Einstellungen ich an diese Diskussion herangehen werde: Ich bin nämlich ein altmodischer Mensch, wenn es um Rechtsfragen geht. Bei einigem Nachdenken bin ich darauf gekommen, daß meine nun schon elf Jahre dauernde Mitarbeit im Rechtsausschuß — ich als Lehrer bin meist unter lauter Juristen, jetzt auch noch unter Rechtsprofessoren — nicht wenig zu meiner Haltung beigetragen hat. Dabei habe ich von Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen gelernt. Ich habe mich in dieser Zeit in manchen Reden in diesem Hause auch mit der Frage nach dem Sinn der Strafe und dem Zweck des Strafrechts befaßt. Noch immer bin ich der Ansicht, daß der Staat um der Gerechtigkeit willen die Pflicht hat, zu strafen, wenn ein Mann oder eine Frau gegen die Regeln verstoßen, die das Leben der Gemeinschaft und in der Gemeinschaft sichern.Es gibt vielerlei Gründe, warum Menschen straffällig werden. Sie liegen häufig im einzelnen Menschen begründet. Ich hoffe nur, daß es der modernen Gentechnologie nie gelingt, diese Charaktereigenschaften eines Menschen schon im embryonalen Zustand zu entschlüsseln.
Sonst muß das Leben auf dieser Erde furchtbar werden; denn das Wissen über eigene Erbanlagen, z. B., ob man an bestimmten Krankheiten irgendwann im Leben einmal leiden oder gar sterben wird, ist schon nicht von allen Menschen zu ertragen.Gründe für das Straffälligwerden liegen oft auch im Umfeld des Straftäters. Sie können aber auch in der Änderung, sprich: Aufweichung, von ethischen und rechtlichen Grundsätzen ihre Ursachen haben. Das Reden etwa von Gewalt gegen Sachen, aber keine Gewalt gegen Menschen oder von anderen mundgerecht geformten Phrasen zeigt solche Aufweichungen auf. Ich verweise j etzt nur auf das, was ich soeben über die Harmonisierung der Strafrahmen sagte.Auch der schon einmal von Landesministern geforderte Verzicht auf Verfolgung von Ladendiebstählen bis zum Wert von 100 DM kann nach meiner Auffassung nicht zu einer Rechtsverbesserung beitragen. Ich zweifle noch immer daran, ob der labile Täter durch solche Verschonung auf den rechten Weg gebracht wird.Ob nun das jetzige Strafensystem den möglichen Täter von Straftaten abhält, ist natürlich auch anzweifelbar. Erst die Tatsache, daß ein Täter mit seiner Verfolgung und Überführung rechnen muß, kann — ich betone: kann! — eine abschreckende Leistung des Sanktionensystems darstellen.Strafen haben nach meiner Auffassung aber nicht nur die Aufgabe der Abschreckung. Wichtiger wäre mir die tagtägliche Verkündigung eines Werte-
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Heinrich Seesingsystems, das von vielen Menschen noch gelebt wird, das vielen aber auch abhanden gekommen ist.Strafen haben auch den Inhalt, eine Schuld wieder abzutragen, die Schuld einer Tat, durch die der Täter einzelne Menschen, eine Familie, vielleicht aber auch die ganze menschliche Gesellschaft getroffen hat. Ich möchte davor warnen, diesen Inhalt der Strafen als gering anzusehen.Schließlich sollte für manche Täter die Strafe ein Weg sein, neue Ansätze für ein Leben ohne Straftaten zu finden. Dabei will ich nun nicht in eine Resozialisierungseuphorie ausbrechen. Es kommt auf die Form der Strafe und die Qualität des Strafvollzugs an.Mit dieser Grundeinstellung will ich die Vorschläge der SPD-Fraktion prüfen. Was dort z. B. über Opferinteressen und den Täter-Opfer-Ausgleich gesagt wird, erzwingt zumindest die Diskussion über diese äußerst wichtige Frage. Ich bin mir bewußt, daß noch viele Einzelfragen zu klären sind. Ich wünsche mir dabei eine offene, weiterführende Debatte.
Nun spricht der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die F.D.P. habe ich bereits bei der Debatte über die Große Anfrage der SPD deutlich gemacht, daß auch aus unserer Sicht trotz der grundsätzlichen Bewährung unseres Sanktionensystems Diskussionsanlaß besteht.
Viel interessanter als das, was die SPD vorschlägt, ist für mich das, was sie nicht angeht.
Die größte Schieflage im Sanktionensystem haben wir doch eindeutig beim Verhältnis zwischen den Ordnungswidrigkeiten und den Straftaten.
Im letzten Jahr gab es auf der einen Seite trotz des erfreulichen Rückgangs bei den Unfallzahlen eine erneute Verschärfung bei den Sanktionen für die bloßen Straßenverkehrs-Ordnungswidrigkeiten. Ich nenne als Beispiel die viel zu schnelle Verhängung des Fahrverbots. Auf der anderen Seite erweitern wir bei dem größeren kriminellen Unrecht im Rechtspflegeentlastungsgesetz den Anwendungsbereich der Bestimmungen der Strafprozeßordnung, die bei Geringfügigkeit die Einstellung des Verfahrens erlauben, bis in den Bereich der mittleren Kriminalität.
Obwohl diese Fehlentwicklung für jedermann offenkundig ist, kommt dazu von der SPD keinerlei Vorschlag.
Das Wort „Fahrverbot" leitet über zu meiner nächsten Kritik. Die SPD verläßt das aus meiner Sicht bewährte System, das auf der einen Seite das kurzzeitige Fahrverbot und auf der anderen Seite die Entziehung der Fahrerlaubnis vorsieht.
Wie wollen Sie eigentlich verantworten, daß jemandem nach einem Jahr und damit nach einem langen Zeitraum ohne jegliche weitere Prüfung der Umstände die Fahrerlaubnis einfach wieder zukommt?
Wie ist es eigentlich bei einer Partei wie der SPD mit dem sozialen Gedanken, wenn jemand aus finanziellen Gründen, da er keinen Führerschein hat und deshalb für ihn die Strafe „Fahrverbot" gar nicht in Betracht kommt, möglicherweise mit einer Freiheitsstrafe büßen muß, während der finanziell bessergestellte Nutzer eines Dienstwagens mit Chauffeur das Fahrverbot ohne jegliche persönliche Einschränkungen übersteht?
Sie sollten über diese Frage wirklich noch einmal nachdenken.
Sie können das nicht beantworten. Sie können das auch mit Zwischenfragen nicht gutmachen, Kollege Singer. Ihre Zwischenfragen sorgen im übrigen auch nicht für eine Klärung.
Herr van Essen, darf ich davon ausgehen, daß Sie keine Zwischenfrage zulassen wollen?
So ist es, Frau Präsidentin.
Ja, also gut.
Sehr gefreut habe ich mich, daß die SPD den von mir bei vielen Debatten geäußerten Gedanken einer stärkeren Berücksichtigung der Opfer mit Vorschlägen zum Täter-Opfer-Ausgleich aufgegriffen hat. Auch die Koalition hat im Verbrechensbekämpfungsgesetz dazu eigene Vorschläge gemacht. Ich bin sicher, daß wir uns im Rechtsausschuß hier auf eine Linie der Vernunft werden einigen können.
Anders sieht es bei der Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung auch bei der Geldstrafe aus. Schon der 59. Deutsche Juristentag hat nach einer sorgfältigen Diskussion eine solche Lösung abgelehnt. Die Geldstrafe würde ihre Funktion, eine spürbare Alternative zur Freiheitsstrafe zu bilden, durch die Möglichkeit der Aussetzung verlieren. Ich teile nach wie vor die Auffassung der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD zum Sanktionensystem, daß die Gefahr nicht übersehen werden kann, daß die Gerichte auf eine wenig spürbare Geldstrafe verzichten und lieber auf eine Freiheitsstrafe mit ihrer größeren spezialpräventiven Wirkung zurückgreifen würden.
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Jörg van EssenDies würde dem Ziel der Strafrechtsreform, die kurzen Freiheitsstrafen weitestgehend zurückzudrängen, zuwiderlaufen.Meine letzte Bemerkung betrifft den Vorschlag des Bundesrates zum Schwarzfahren. Durch diese Straftat entsteht ein hoher volkswirtschaftlicher Schaden. Auch dadurch können die Nahverkehrsunternehmen nicht die notwendigen Attraktivitätssteigerungen vornehmen, die allein schon zur Entlastung der Umwelt wünschenswert wären. Setzen wir nicht das falsche Signal, wenn wir diesen Vorgang bagatellisieren?Wie will man im übrigen feststellen, daß jemand wiederholt handelt und sich damit strafbar macht? Denn die Ordnungswidrigkeit, die ja Voraussetzung dafür ist, will man gar nicht registrieren. Diese Frage muß der Bundesrat uns erst einmal beantworten.Ich habe schon bei der letzten Debatte zum Sanktionensystem erklärt, daß ich zu einer ständigen Überprüfung des Sanktionensystems bereit bin. Der jetzige Zeitpunkt erscheint mir jedoch besonders ungünstig und besonders ungeeignet. Ich denke, wir sollten die Debatte im nächsten Bundestag fortsetzen. Ich freue mich darauf.
Nun hat der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu Herrn van Essen möchte ich zu dem sprechen, was die SPD vorgeschlagen hat.Die hier zur Debatte stehenden Gesetzentwürfe berühren im einzelnen unterschiedliche Gegenstände, sie zielen aber in die gleiche Richtung: Es geht ihnen um die Anpassung strafrechtlicher Regelungen an aktuelle Erkenntnisse der Kriminologie und der Strafrechtspraxis, um die Beseitigung vorhandener Ungleichgewichte beim Strafrahmen und um die Beseitigung bestimmter Absurditäten, die bestehende Vorschriften in der Praxis erzeugen. Alle drei Entwürfe verdienen in meinen Augen in ihrem Anliegen und weitestgehend auch in ihrer Ausführung Unterstützung.Besonders interessant ist der Entwurf des Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems. Er stellt einen weiteren Schritt dar weg vom Strafanspruch des Staates als dem Gedanken, um den das deutsche Strafrecht seit mehr als hundert Jahren zentriert war, hin zu einer Sicht, die das Interesse des Opfers sowohl an materieller Sicherstellung als auch an einer seelischen Verarbeitung der Ereignisse mehr in das Blickfeld der Strafrechtspflege rückt.Dem sollen vor allem die Bestimmungen zum Täter-Opfer-Ausgleich, aber auch die angestrebten Änderungen des § 56 StGB dienen. Der Täter soll möglichst in die Lage versetzt oder in einer Lage gehalten werden, in der er materielle Schäden wiedergutmachen kann. Das kann er mit hoher Wahrscheinlichkeit eben nicht, wenn er eine Freiheitsstrafe verbüßt, von allen anderen problematischen Folgen von Freiheitsentziehungen abgesehen.Der Gesetzentwurf hat offenbar die positiven Erfahrungen mit dem Täter-Opfer-Ausgleich verarbeitet, die es im Zusammenhang mit dem Jugendgerichtsgesetz sowie auch im Ausland gibt. Auch in der DDR hat es bestimmte positive Erfahrungen in diesem Zusammenhang gegeben, die 1990 auch in der hiesigen Fachpresse publiziert wurden und für deren Erhaltung damals geworben wurde, die aber inzwischen ebenso untergepflügt wurden wie alle anderen positiven Seiten, die es auch in der Rechtsordnung der DDR gab.Die positiven Erfahrungen mit dem Jugendgerichtsgesetz lassen erwarten, daß das, was hier von der SPD vorgeschlagen wird, kein „totes Recht" sein wird. Umfragen haben ergeben, daß der Täter-Opfer-Ausgleich in ganz hohem Maße akzeptiert wird. Man muß sich natürlich darüber im klaren sein, daß er nicht so einfach im Selbstlauf vollzogen werden kann, sondern daß er der qualifizierten Begleitung bedarf, die natürlich auch einen bestimmten finanziellen Aufwand erfordert. Dieser Aufwand ist aber mittel- und langfristig für die Gesellschaft deutlich geringer als die Alternative des staatlichen Strafens mit den herkömmlichen Mitteln. Der Aufwand ist zunächst ein zusätzlicher Aufwand, und es wäre schade, wenn die Ausbreitung des Täter-Opfer-Ausgleichs daran scheitern würde.Ansonsten sollen durch diese Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung von einigen Ungereimtheiten befreit werden. Wir meinen, dazu gehört auch die Tatsache, daß bisher Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden können, Geldstrafen aber nicht.Ich halte auch die Regelung des § 456b StPO für unterstützenswert, nach der die Ersatzfreiheitsstrafe aufgeschoben werden kann oder muß, wenn der Verurteilte ohne eigenes Verschulden zahlungsunfähig geworden ist und sich ernsthaft um die Wiedergutmachung des Schadens bemüht. Denn oft wären hier Dritte, vor allem Kinder, von den negativen Folgen des Vollzugs der Freiheitsstrafe betroffen.Ebenso vernünftig scheint mir die angestrebte Regelung des § 42a StGB zu sein, die die Anpassung der Zahlungsmodalitäten oder der Tagessatzhöhe an sich verändernde Verhältnisse ermöglicht.Ich begrüße es schließlich auch, daß der Gesetzentwurf den Versuch unternimmt, zu definieren, wie viele Stunden gemeinnützige Arbeit einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprechen. Ob sechs Stunden die adäquate Menge gemeinnütziger Arbeit sind, halte ich für diskussionswürdig. Die Begründung überzeugt mich nicht so recht. Aber darüber werden wir diskutieren.Überzeugend scheint mir auch der Antrag zur Harmonisierung der Strafrahmen zu sein. Sowohl die Beispiele als auch die Tabelle zeigen hier — das ist jetzt auch von der CDU gesagt worden — das bestehende Mißverhältnis der Strafrahmen für Taten gegen das Eigentum sowie gegen die körperliche und seelische Integrität.
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Dr. Uwe-Jens HeuerHält man sich die Werteordnung des Grundgesetzes vor Augen, dann zeigt sich, daß sich — namentlich bei den Mindeststrafen — diese Werteordnung im Strafgesetz nicht adäquat widerspiegelt und sich der Eigentumsschutz im Grunde vor den Schutz des Lebens und der seelischen und körperlichen Unversehrtheit des Menschen geschoben hat. Dem Vorschlag, hier eine unabhängige Kommission einzusetzen, ist zuzustimmen.Ich möchte noch eine Bemerkung zum Kollegen Seesing machen. Er hat von Problemen der Aufweichung des Strafrechts gesprochen und gesagt, natürlich sei Abschreckung notwendig, aber auch tagtägliche Wertverkündung. Ich meine, wir sollten, wenn wir über Strafen sprechen, im Auge behalten, daß es immer auch eine Überlegung geben sollte, daß Kriminalität etwas mit sozialen Verhältnissen zu tun hat und daß Auseinandersetzung mit Kriminalität immer auch etwas mit Änderung von Verhältnissen zu tun haben muß.
Ich meine, daß tägliche Verkündung von Werten nicht ausreicht. Die Leute haben immer gestohlen; es wurde ihnen stets verkündet, sie sollten es nicht tun. Wir sollten überlegen: Wie ändern wir die Verhältnisse?, um uns auch von dieser Seite her mit der Kriminalität auseinanderzusetzen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Im Moment rede vorwiegend ich. Dann können Sie sich wieder gegenseitig beharken.
Jetzt hat erst einmal Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Innerhalb von nur zwei Wochen reden wir hier jetzt zum zweitenmal über Kriminalitätsbekämpfung. Ich konzediere durchaus, daß es wirklich die Sorge um Kriminalität ist, die hier immer wieder neue Vorschläge auf den Tisch bringt.Das, was wir heute beraten, ist nach meiner Einschätzung aber nicht entscheidend dazu angetan, uns in der Frage der Kriminalitätsbekämpfung wirklich weiterzubringen. Denn entweder ist es nicht neu und zum Teil schon Gegenstand des Entwurfs des Verbrechensbekämpfungsgesetzes der Koalitionsfraktionen
— es sind nicht nur das Datum und die Nummer vonDrucksachen entscheidend, sondern gerade ein sokomplexer Gesetzentwurf wie das Verbrechensbekämpfungsgesetz entsteht nach sehr langen Beratungen, auch nach monatelangen Beratungen;
von daher haben wir auch einen sehr umfassenden Gesetzentwurf vorgelegt, der für die unterschiedlichen Formen der Kriminalität sehr differenziert Lösungsansätze aufzeigt; so etwas kann selbstverständlich nicht in nur wenigen Tagen oder Wochen der Beratung in diesem Umfang zu Papier gebracht werden — oder es geht an den Notwendigkeiten einer effektiven Kriminalitätsbekämpfung vorbei.Von daher sind gerade auch die Ansätze, die Sie in Ihrem Entwurf zum Teil haben, schon Gegenstand von Überlegungen der Koalitionsfraktionen gewesen. Ich denke hier insbesondere an die stärkere Berücksichtigung des Täter-Opfer-Ausgleichs im strafrechtlichen Sanktionensystem,
Denn wir haben immer gesagt: Wir brauchen Erkenntnisse aus der Anwendung des Täter-Opfer-Ausgleichs bei Jugendlichen nach dem Jugendgerichtsgesetz.Wir wissen alle gemeinsam — das war auch Gegenstand der Beratungen über Ihre Große Anfrage zum Sanktionensystem —, daß wir da letztendlich gesicherte Erkenntnisse noch nicht haben und nicht vorweisen können. Dennoch haben wir gesagt — wir meinen, daß es ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung ist —, daß wir die Schadenswiedergutmachung auf diesem Wege auch in dem Gesetzentwurf verankern müssen und daß damit auch der Täter-Opfer-Ausgleich erstmals in dieser Form im Erwachsenenstrafrecht verankert werden sollte.Ich hoffe, daß man sich im Laufe der Beratungen über Ihre Vorschläge und den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen auf eine endgültige Fassung wird einigen können.
Ich denke insbesondere daran, daß gerade der Vorschlag der Koalitionsfraktionen hier doch sehr viel ausgewogener ist. Wir versuchen, im Einzelfall flexibler beim Täter-Opfer-Ausgleich zu reagieren, wenn es nämlich darum geht, daß nach der Wiedergutmachung im Rahmen der Bewährungsauflagen ihnen ein relativer Vorrang vor den übrigen Auflagen eingeräumt wird, insbesondere vor den Geldauflagen zugunsten der Staatskasse. Ich glaube, daß das wirklich ein praktikabler Vorschlag zur Besserstellung der Opfer von Straftaten sein kann. Einen solchen Ansatz habe ich in dem Entwurf, den Sie heute hier vorgelegt haben, nicht gefunden.
Ein Wort zu den Strafrahmen: Selbstverständlich haben wir die Notwendigkeit gesehen, unser Straf-
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger rahmensystem einer genauen Prüfung zu unterziehen. Für uns war ganz entscheidend, daß ein Ungleichgewicht in unserem Strafgesetzbuch auch von der Wertentscheidung her beseitigt werden muß, nämlich bei den Strafandrohungen beim Diebstahl, also beim Schutz von Vermögen und Eigentum, wie auf der anderen Seite beim Schutz der körperlichen Unversehrtheit, von Leib und Leben. Deshalb haben wir Vorschläge im Verbrechensbekämpfungsgesetzentwurf vorgesehen, die sich auch auf die qualifizierenden Tatbestände entsprechend auswirken und insofern in sich geschlossen und abgestimmt sind und also nachvollziehbar und begründbar sind.Wir sind nicht dazu übergegangen, generell das gesamte Strafrahmensystem einer Prüfung zu unterziehen, weil uns eines klar war: daß wir es im Rahmen dieses Verbrechensbekämpfunggesetzentwurfes nicht werden leisten können, daß ein wirklich umfassendes Ergebnis in den Gesetzentwurf Eingang finden kann.
— Das ist nicht kurzatmig, sondern das ist seriöse und solide Gesetzgebungsarbeit, die wir leisten wollen,
weil sie auf einen wichtigen Gesichtspunkt eingeht,
daß wir nämlich deutlich machen: Wer Leib und Leben schädigt oder verletzt, der soll mindestens mit denselben Strafen rechnen müssen, als wenn er einen Diebstahl begangen hätte.
Gerade diese Botschaft sollte in unserem Gesetzentwurf gegeben werden.Ich sehe nicht, warum wir eine unabhängige Kommission einsetzen müssen.
Denn es hat schon in der Vergangenheit gewichtige Vorhaben gegeben, die das Justizministerium mit Beteiligung der Landesjustizverwaltungen auf einen guten Weg gebracht und für die es entsprechende Entwürfe vorgelegt hat, so daß ich glaube, wir müssen keine unabhängige Kommission einsetzen, sondern wir sollten uns in der nächsten Legislaturperiode bei Weiterentwicklung liberaler Rechtspolitik auch dieser Fragen annehmen. Da bin ich sehr wohl offen.Denn ich habe schon mehrmals, auch bei anderen Debatten, betont, daß wir uns insgesamt mit einer Reform der Tötungsdelikte und z. B. auch der gemeingefährlichen Straftaten beschäftigen müssen. Wir dürfen dabei aber nicht nur von den Strafrahmen ausgehen, sondern müssen auch von den Tatbeständen und dem materiellen Recht ausgehen. Von daher möchten wir eben keine kurzatmigen Lösungsvorschläge, die eigentlich tatsächlich keine sind, vorlegen.
Ich möchte noch zu zwei Vorschlägen ein Wort sagen, einmal zur Geldstrafe auf Bewährung: Diesem Vorschlag — Herr van Essen hat das schon deutlich gemacht — kann ich mich ebensowenig anschließen wie die F.D.P.-Fraktion und auch die CDU/CSUFraktion.
Das ist auch keine Frage des Zeitpunktes. Wir müssen vielmehr, glaube ich, diesen Vorschlag in ein Gesamtkonzept einbinden, indem wir uns nämlich fragen: Was wollen wir? Wir wollen ja gerade — das war auch ein Ziel der Strafrechtsreform — möglichst wenig kurzzeitige Freiheitsstrafen.
Wenn wir den Weg der Geldstrafe auf Bewährung gehen, dann sehe ich eher die Gefahr, daß es wieder mehr zu kurzzeitigen Freiheitsstrafen kommen könnte.
Ich meine, das ist zu befürchten.
— Ja, das mag sich vielleicht herausstellen, wenn man noch einmal eine umfassende internationale Untersuchung anstellt. Aber die Geldstrafe mit ihrer Funktion, nämlich eine Alternative zur Freiheitsstrafe zu sein, kann sie dann, wenn sie derart ausgestaltet wird, wohl nicht mehr erfüllen.Sie schlagen eine Änderung des Strafbefehlsverfahrens vor. Das gibt es schon in der Praxis. Zum zweiten sind entsprechende Regelungen auch schon in dem am 1. März 1993 in Kraft getretenen Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege enthalten.Ein Wort zum Bundesratsentwurf zur Beförderungserschleichung: Ich halte es für äußerst problematisch, diesen einen Gesichtspunkt losgelöst von der Gesamtproblematik, wie Massenkriminalität tatsächlich besser bewältigt werden kann, auf diese Art und Weise zu regeln.Mit dem Vorschlag der Koalitionsfraktionen, das beschleunigte Verfahren besser auszugestalten, als das bisher der Fall ist, ist eine umfassendere und passendere Antwort auf die Frage gegeben, wie auch unsere Institutionen, Polizei und Justiz, besser mit Massenkriminalität und den Verfahren umgehen können.Zum anderen befürchte ich, daß eher Mehrbelastungen der Strafverfolgungsbehörden und der Verkehrsbetriebe eintreten werden; denn möglicher-
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger weise werden sich die Verkehrsbetriebe veranlaßt sehen, entgegen der bisherigen Praxis auch erstmalige Schwarzfahrer anzuzeigen, um im Wiederholungsfall die Voraussetzung für die Anwendung des Straftatbestandes zu schaffen. Ich glaube, das ist eine Wirkung, die wir alle gemeinsam nicht erzielen wollen.Einen Punkt zum Schluß: Wir sollten wirklich nicht dazu übergehen, immer mehr das Ordnungswidrigkeitenrecht mit weiteren Tatbeständen zu belasten. Wir sollten uns das Ordnungswidrigkeitsverfahren — und das ist aus meiner Sicht ein Vorhaben für die nächste Legislaturperiode — insgesamt vornehmen. Dafür würde natürlich gerade liberale Rechtspolitik bürgen; denn wir müssen sehen, daß wir fast gar nicht mehr in der Lage sind, eine Vielzahl von sachlich oft schwierigen Verfahren in angemessener Zeit zu bewältigen.Außerdem müssen wir das Verhältnis von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten grundsätzlich überdenken und hier nicht an einer Stelle — aus meiner Sicht wirklich kurzsichtig — einen noch nicht voll durchdachten Änderungsvorschlag machen.
Deshalb kann ich ihm nicht folgen und ihn nicht unterstützen.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der SPD trägt den hochtrabenden Titel „Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems". Wenn man ihn genauer ansieht, dann entpuppt er sich — um freundlich zu bleiben — als ein Konvolut von nicht mehr ganz taufrischen Vorschlägen, teilweise bereits realisiert und mehr oder weniger überlegenswert.
— Wir haben uns daran gewöhnt, Herr Kollege Geis, und werden damit fertig.
Nehmen wir einen wesentlichen Punkt heraus: die Schadenswiedergutmachung. Auch wir sind grundsätzlich der Auffassung, daß das Interesse der Opfer an Wiedergutmachung und Genugtuung im Straf-und Strafprozeßrecht stärker berücksichtigt werden sollte. Aber, meine Damen und Herren, es darf nicht als Weg zum Abbau des Strafrechts instrumentalisiert werden. Der Täter darf sich nicht von der Strafverfolgung freikaufen können.
Nebenbei bemerkt: Was passiert denn mit einem Täter, der mittellos ist?
— Ein Zweiklassenstrafrecht, in der Tat.
Der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch darf nicht an die Stelle der Strafe treten. Eine Privatisierung des Strafrechts kommt für uns nicht in Betracht. Deswegen wird es eine Wiedergutmachung, einen Täter-Opfer-Ausgleich, als dritte Spur neben Strafe und Maßregeln nicht geben. Im Verbrechensbekämpfungsgesetz, das heute schon wiederholt zitiert worden ist, haben wir dem Gedanken des Täter-OpferAusgleichs durch § 46a StGB Rechnung getragen
— sofort, Herr Kollege — und damit auch einer Empfehlung des Deutschen Juristentages entsprochen.
Sie gestatten eine Zwischenfrage? — Herr Singer.
Herr Kollege Götzer, da Sie vom Zweiklassenstrafrecht sprechen, frage ich Sie: Was halten Sie denn davon, wenn in großen Wirtschaftsstrafprozessen im Wege des Deals für Schäden in Millionenhöhe Strafen von zwei bis zweieinhalb Jahren ausgehandelt werden, die vergleichbar sind mit der Strafe für einen normalen Kleinkriminellen, der in eine Gaststätte einbricht? Liegt hier nicht ein Zweiklassenstrafrecht vor, wo ein Täter-Opfer-Ausgleich überhaupt keine Rolle spielt, aber die Justiz auf Grund der bestehenden Gesetze nicht in der Lage ist, wirklich große Schäden verursachende Straftaten angemessen zu ahnden?
Herr Kollege Singer, ich maße mir kein Urteil über das Wirtschaftsstrafrecht an. Wenn man einen Deal schließt, dann sind nicht die Gesetze schuld, sondern in der Regel ist es die Komplexität des Sachverhalts und die Arbeitsüberlastung der Gerichte.
Lassen Sie mich in meiner Rede weiterkommen!Ich möchte auch noch einen Gedanken zu dem Thema, das in diesem Gesetzentwurf eine Rolle spielt, äußern, nämlich zur Aussetzung einer Freiheitsstrafe, die über zwei Jahre bis hin zu drei Jahren geht, auf Bewährung. Dies lehnen wir entschieden ab; denn hier wiegt die Schuld des Täters regelmäßig so schwer, daß die zumindest überwiegend gebotene Verbüßung der Strafe eben notwendig ist. Gerade angesichts der bedrohlich steigenden Kriminalitäts-
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Dr. Wolfgang Götzerentwicklung kommt den generalpräventiven Aspekten hier eine besondere Bedeutung zu.
Wir kennen die grundsätzliche Auffassung der SPD zur Freiheitsstrafe; sie klingt auch in diesem Gesetzentwurf immer wieder durch. Ich bin aber nicht der Meinung, daß Maßnahmen ohne Freiheitsentzug unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung des Täters generell eine bessere Wirkung entfalten als die freiheitsentziehende Sanktion;
denn eine Resozialisierung setzt Reue, setzt Umdenken voraus, und die Haft kann hier durchaus heilsam und fördernd sein.
Im übrigen muß bei der Verhängung strafrechtlicher Sanktionen in jedem Einzelfall darauf geachtet werden, daß sämtliche Strafzwecke bestmöglich erreicht werden. Ich weise darauf hin, daß bei der Rechtsverfolgung einer Straftat eben auch der Gemeinschaftsbezug zu beachten ist — es steht nicht nur die Betrachtung des Täters im Mittelpunkt, sondern auch die Gemeinschaft — und natürlich, keinesfalls zu vergessen, die Wirkung auf das Opfer.Ohnehin ist die Praxis doch so, daß der Strafrichter im Zweifel zugunsten der Strafaussetzung entscheidet. Außerdem ist die Entscheidung der Strafaussetzung nach der Revisionsrechtsprechung im Zweifel bis zur Grenze des Vertretbaren zu respektieren. Deshalb ist kein Bedarf für eine Aufweichung des § 56 StGB.Was die in dem SPD-Entwurf festzustellende Absicht angeht, die Ersatzfreiheitsstrafe zu vermeiden, so möchte ich sagen: Auch hier finde ich keinen Handlungsbedarf; denn es gibt schon jetzt die Möglichkeit der Zahlungserleichterung, und es gibt die Möglichkeit der Tilgung durch gemeinnützige Arbeit und bei unbilliger Härte den § 459f StPO. Ich bin der Meinung, es sollte dabei bleiben, daß es auf die Gründe einer Nichtzahlung einer Geldstrafe grundsätzlich nicht ankommt, da ansonsten die Gefahr besteht, daß die Nichtzahlung der Geldstrafe häufig sanktionslos bliebe. Dann hätte die Geldstrafe eben keine spezialpräventive Wirkung mehr. Deshalb sind wir auch dagegen, die Geldstrafe zur Bewährung auszusetzen; denn sie hätte ansonsten keine Alternativfunktion mehr zur Freiheitsstrafe.Lassen Sie mich noch ein Wort zur gemeinnützigen Arbeit anstatt Ersatzfreiheitsstrafe sagen, was gerade in Bayern kürzlich Gegenstand der Erörterung war. Das ist sicherlich ein sympathischer Gedanke und deshalb — wie so vieles — in Bayern am 1. Januar 1983 als Modellversuch gestartet und mit Wirkung vom 1. Januar 1987 landesweit eingeführt worden. Aber die Erfahrung hat leider gezeigt, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß bei den Betroffenen oder den Begünstigten offensichtlich der Grundsatz gilt: Lieber sitzen als schwitzen, und nicht umgekehrt. Denn vollständig abgearbeitet haben ihre Geldstrafe 1993 ganze 80 Verurteilte, während 958 Verurteilte lieber in den Bau gingen. Man kann die Leute nicht dazu zwingen.
Diese Zahlen sprechen für sich.Alles in allem, meine Damen und Herren: Einzelne Bestimmungen unseres strafrechtlichen Sanktionensystems sind sicherlich überdenkenswert. Darüber werden wir in der nächsten Legislaturperiode gegebenenfalls diskutieren. Im wesentlichen aber hat sich unser strafrechtliches Sanktionensystem bewährt.Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Antrag sagen, der die Harmonisierung der Strafrahmen zum Gegenstand hat. Wir sind in der Tat der Auffassung, schon seit langem, daß wir — weil der Schutz von Leib und Leben die vornehmste Aufgabe des Strafrechts ist — das offensichtliche und eklatante Mißverhältnis zwischen den Strafen bei Verletzung der körperlichen Unversehrtheit einerseits und Eigentumsdelikten andererseits beseitigen müssen. Deshalb hat — ich darf wieder den Freistaat Bayern zitieren — Bayern schon 1992 im Bundesrat einen Antrag auf Verschärfung des Strafrahmens bei Gewaltdelikten eingebracht. Dieser ist schließlich in einer ziemlich verwässerten Form beschlossen worden. Wir sind froh, daß im Verbrechensbekämpfungsgesetz wesentliche Punkte bereits verwirklicht sind.
— Ja. — Ich denke dabei an die §§ 223 und 225 StGB in ihrer Neufassung. Dabei kann es nicht bleiben, Herr Kollege Meyer; da stimmen wir Ihnen völlig zu.Aber während die Koalition unter maßgeblicher Mitwirkung — wie so oft — des Freistaats Bayern Tatkraft bewiesen hat und weiter beweist, will die SPD die Probleme auf die lange Bank schieben und eine Kommission einsetzen. Wir alle wissen doch, was es in aller Regel bedeutet, eine Kommission einzusetzen. Damit ist gerade nicht die zügige Lösung eines Problems gewährleistet.Andererseits aber kommen hier immer wieder auch konkrete Vorschläge, die aber nicht in Gesetzesantragsform gekleidet sind, so daß sich der Eindruck des bloßen Aktionismus natürlich schon aufdrängt.
Was noch erforderlich ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das wird die Koalition in Zusammenarbeit mit den Ländern leisten. Aber der Einsetzung einer Kommission hierfür bedarf es wahrlich nicht.Ich bedanke mich.
Nun hat Herr Abgeordneter Krause das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der erste
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. März 1994 18727
Dr. Rudolf Karl Krause
Gesetzentwurf, der der SPD-Fraktion: Sühne, das ist das, was ich immer sage. Aber: Sühne, sofern der Verwarnte hiermit einverstanden ist, heißt einklagbares Schmarotzertum, eine Schmarotzeroption. Es ist wirklich so, daß viele Dauerkriminelle das Gammel-und Lotterleben in unseren Wohlstandsgefängnissen der gemeinnützigen Arbeit vorziehen.Zum zweiten Punkt, dem Gesetzentwurf des Bundesrates: Von dem, was am heutigen Tag besprochen worden ist, wird das am meisten in der Bevölkerung diskutiert werden, was sozusagen als Schwarzfahrergesetz behandelt wurde. Auch ich bin der Auffassung, daß man angesichts der dramatisch steigenden Kriminalität in unserem Lande keine Bagatellisierungsgesetze machen darf. Aber man muß auch die Verhältnismäßigkeit für den Bürger sehen.Wenn hier sehr hoch bestraft wird, wenn jemand, um drei- oder viermal ein paar Mark einzusparen, betrügt, dann wird jeder in Sachsen-Anhalt den Vergleich zu den sechsstelligen Summen ziehen, die sich die Magdeburger Regierungsabzocker einverleiben durften, ohne daß bisher ein Strafantrag bearbeitet wurde, weil die Strafverfolgung durch Weisung des Justiz- oder Innenministers untersagt wurde.Nun zum letzten: Harmonisierung des Strafrahmens. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, die Strafe für die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit drastisch zu erhöhen. Aber dies geht nicht weit genug. Es greift viel zu kurz. Wir müssen sofort etwas gegen die bandenmäßige Körperverletzung tun. Diese Kriminellen läßt man immer wieder laufen. Sie rotten sich zusammen. Soweit sie sich „politisch" nennen, sind überall V-Männer dabei. Trotzdem wird nicht dagegen eingeschritten.Ich sage Ihnen — und gebe das hier zu Protokoll —, daß ich am 28. Februar wieder einmal wie durch einen Zufall oder durch ein Wunder der Körperverletzung durch 20 Gewaltkriminelle entgangen bin. Ein anderer ist dafür ins Krankenhaus gekommen. Es ist — man möchte fast sagen: glücklicherweise — Raub dabeigewesen. Wenn die Gesellschaft es wollte, könnten hier hohe Strafen verhängt werden.Es darf nicht sein, daß Unterschiede gemacht werden, je nach dem, ob jemand zur Freude eines deutschfeindlichen rassistischen Auslandes handelt oder nicht. Rechte Straftäter müssen — mit Recht — hart bestraft werden, aber sogenannte Linke, die so wenig Karl Marx gelesen haben wie die anderen Adolf Hitler, dürfen nicht immer wieder laufen gelassen werden, als würden sie zur Gesellschaft dazugehören.Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wer zu Demonstrationen gegen friedliche Republikanerversammlungen aufruft, nimmt nicht nur Gewalt billigend in Kauf, er organisiert Gewalt. In Hannover hat der SPD-Oberbürgermeister zu einer Gegendemonstration aufgerufen: Über 50 — vor allem ältere — Republikanermitglieder wurden verletzt. Wer zu Demonstrationen aufruft und billigend in Kauf nimmt, daß Gewaltkriminalität auftritt und sich entfaltet, —
Herr Abgeordneter, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
— der organisiert Gewalt. Auch dies muß in einem neuen, harmonisierten Strafgesetz unter harte Strafe gestellt werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6141, 12/6484 und 12/6164 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer , Günter Graf, Dr. Hans de With, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/4948 —
Ich bitte um Zustimmung, daß die Reden zu diesem Zusatzpunkt zu Protokoll gegeben werden, und zwar die Reden der Kollegen und Kolleginnen Dr. Ullmann, Kemper, Geis, Steinbach, Hirsch, Jelpke, van Essen, de With und Dr. Meyer sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs Lintner' ). Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist dies so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 12 wurde bereits gemeinsam mit Tagesordnungspunkt 21 aufgerufen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Durchführung versicherungsrechtlicher Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften
— Drucksache 12/6959 —
Auch hier besteht der Wunsch, die Reden zu Protokoll zu geben. **) Stimmen Sie dem zu? — Dies ist der Fall. Dann ist auch dies so beschlossen.
Wir müssen j etzt noch gemeinsam die Überweisung beschließen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/6959 — entgegen dem Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung — zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Haben Sie noch anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
*) Anlage 5 **) Anlage 6
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Überwachung des Verkehrs mit Grundstoffen, die für die unerlaubte Herstellung von Betäubungsmitteln mißbraucht werden können
— Drucksache 12/6961 —
Ursprünglich war nach einer Vereinbarung im Ältestenrat für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Es besteht nun — mit zwei Ausnahmen — der Wunsch der Kolleginnen und Kollegen, ihre Reden zu Protokoll zu geben. *) Besteht damit Einverständnis? — Zwei Abgeordnete möchten aber gern ihre Rede halten. Dies ist auch ihr gutes Recht.
Deshalb erteile ich als erstem dem Kollegen Detlef Parr das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Je später der Abend, desto jungfräulicher die Reden.
Ich möchte mich bemühen, diese Rede mit Blick auf den Vorredner in einer Art und Weise zu halten, die diesem Hause doch adäquater ist.Wir beraten hier einen Gesetzentwurf, der im Vorblatt unter „Kosten" Aussagen enthält, die zum einen erfreulich sind. Den Gemeinden entstehen keine Kosten. Zum anderen werden neben dem Bund aber auch die Länder belastet. Die Mehrkosten sind noch nicht zu beziffern, so heißt es.Ich komme aus der Landespolitik, und da lautete ein Grundsatz, den ich gerne vertreten habe: Mit Blick auf die Haushaltssituation sollten keine neuen Gesetzesvorhaben zu Lasten Dritter ohne deren Einverständnis erfolgen. Sie sollten nur angegangen werden, wenn sie keine zusätzlichen Belastungen mit sich bringen. — Ich hoffe, daß wir in den Beratungen intensiv darüber nachdenken, wie wir dieses zweifellos notwendige Gesetz mit möglichst geringem finanziellen Aufwand greifen lassen können.
Dazu gehört auch — und da verstehe ich die Einwendungen des Bundesrates nicht— die Einrichtung einer gemeinsamen Stelle des BKA und des ZKA beim BKA als Mittel für eine enge, beschleunigte Anbindung von Meldewegen.Meine Damen und Herren, 1991 ist die Zahl der Drogentoten gegenüber dem Vorjahr um 42,5 % gestiegen, 2 026 Todesfälle wurden gemeldet, und schätzungsweise 80 000 bis 100 000 Menschen konsumieren in der Bundesrepublik harte Drogen. Die Zahl der polizeilich erfaßten Erstkonsumenten steigt ständig, wobei das Einstiegsalter bei ca. 17 Jahren liegt.Vor diesem Hintergrund müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, den Drogenkonsum möglichst weit zu reduzieren.
') Anlage 7Auf der einen Seite muß dies durch eine Förderung der Grundlagenforschung über Voraussetzungen und Auswirkungen von Suchtverhalten erfolgen. Wir brauchen Langzeitbegleitforschung von Suchtkarrieren; wir brauchen darüber hinaus eine zielgruppenspezifische kontinuierliche und flächendeckende Prävention ab dem Kindesalter. Auch ein ausreichendes Angebot an differenzierten und qualifizierten stationären und ambulanten Entgiftungs-, Entwöhnungsund Entzugstherapieplätzen sowie Nachsorgeplätzen, wie sie von vielen freien Trägern in hervorragender Weise angeboten werden, ist unabdingbar.Erforderlich ist darüber hinaus die stärkere Unterstützung von Selbsthilfegruppen, besonders für die Nachsorge von ehemaligen Süchtigen, z. B. betreutes Wohnen und die Bereitstellung von Arbeitsplätzen. Substitutionsprogramme können helfen, den Ausstieg zu schaffen. Sie sind allerdings nur dann sinnvoll, wenn sie von qualifizierten Ärzten geregelt und von psychosozialen Betreuungsangeboten sowohl für die Abhängigen als auch für ihr soziales Umfeld begleitet werden können.
Meine Damen und Herren, man könnte einen Ausweg in der Legalisierung von weichen und harten Drogen sehen. Das kommt für mich jedoch aus gesundheits- und jugendpolitischen Gründen nicht in Frage.
Es gibt international keinerlei Erkenntnisse darüber, daß wir die bestehenden Probleme durch eine Legalisierung lösen könnten.
— Das weiß ich aus der Fachpresse, und ich verweise auch auf das Methadon-Programm, das wir z. B. in NRW gefahren haben und das außerordentlich zweifelhafte Ergebnisse gebracht hat.
— Das ist keine Legalisierung, sondern die Bekämpfung der Drogensucht mit Mitteln einer Droge, und ich halte das nicht unbedingt für den richtigen Weg.
Dieser Gesetzentwurf soll die mißbräuchliche Abzweigung und Verwendung von Grundstoffen zum Zwecke der unerlaubten Herstellung von Betäubungsmitteln unterbinden bzw. eine strafrechtliche Verfolgung vorsehen. Ich erspare mir hier mit Blick auf die Uhr Einzelheiten; sie sind ja nachzulesen. Ich will nur noch einmal herausstellen, daß äußerst positiv zu bewerten ist, daß alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund einer EG-Richtlinie verpflichtet sind, die gleichen Rechtsvorschriften anzuwenden. Hierdurch wird zwar nicht ausgeschlossen, daß Grundstoffe in andere Länder transportiert werden, um von dort aus in die illegale Produktion zu gehen; es wird jedoch zumindest erschwert.Meine Damen und Herren, die erschreckende Zahl der Drogenabhängigen in der Bundesrepublik zwingt uns dazu, alles nur Mögliche zu versuchen, um diesem
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Detlef ParrProblem Herr zu werden. Dazu gehört für mich auch, daß man so weit wie möglich die Herstellung dieser Drogen eindämmt. Da die Kontrollmaßnahmen zudem — je nach Grundstoffkategorie — die Eigenschaften, den Handelsumfang und Verwendungszweck sowie die Zielländer der Grundstoffe berücksichtigen, ist der Kontrollaufwand so angepaßt, daß der normale Handelsverkehr nicht über Gebühr erschwert wird.Es ist erfreulich, daß Konsequenzen aus dem Obereinkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen endlich gezogen werden.Dieses Gesetz ersetzt keinesfalls die anderen Maßnahmen, insbesondere im Bereich der Prävention. Die allgemeinen Lebenskompetenzen müssen weiterhin durch Förderung altersadäquater Problemlösungskonzepte und Streßmanagement sowie die Stärkung von Kommunikationsfähigkeit und Selbstkontrolle verbessert werden. Doch dieses Gesetz ist ein Baustein im Kampf gegen das Rauschgift.Herzlichen Dank.
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Jungfernrede und Prost!
Damit das Ganze nicht allein stehenbleibt, hat nun der Kollege Johannes Singer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat die unter der Drogenschwemme leidenden Menschen auf den Entwurf für das längst fällige Grundstoffüberwachungsgesetz, der eine EG-Richtlinie aus dem Jahre 1992 umsetzt, lange warten lassen — viel zu lange. Wir sind über viele Jahre mit dem Hinweis vertröstet worden, die Zusammenarbeit zwischen dem Verband der Chemischen Industrie und dem Bundeskriminalamt funktioniere ausgezeichnet: Man unterrichte sich rechtzeitig gegenseitig, wenn in auffälliger Weise Bestellungen aus bestimmten südamerikanischen Ländern nach diesen Grundstoffen — ich erwähne nur Aceton und Allher für die Herstellung von Pasta basica cocaina — zunähmen, und würde dann rechtzeitig Maßnahmen ergreifen. Vor Ort haben wir gegenteilige Erfahrungen gesammelt und sind zum Teil von Vertretern der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA, aber auch von amerikanischen Diplomaten schwer beschimpft worden, daß die Bundesrepublik Deutschland diese Grundstoffe eben nicht in dem erforderlichen Maße kontrolliere.
Wir haben deshalb sehr frühzeitig gefordert, daß es ein Grundstoffüberwachungsgesetz geben müsse. Das wird jetzt mit erheblicher Verspätung vorgelegt.
Wer sich das Gesetz ansieht, wird spöttisch feststellen können, daß es auch ein kleines Arbeitsplatzbeschaffungsprogramm darstellt. Beim Zollkriminalamt wird es 17 neue Stellen geben, eine nicht quantifizierbareVermehrung von Stellen bei der Bundesopiumstelle und anderen Bundesbehörden; genau beziffert wird dies im Gesetz nicht.Ich will auf die Einzelheiten des Gesetzes, das sehr viele bürokratische, sehr komplizierte Einzelvorschriften enthält, nicht näher eingehen; das ist Sache der Ausschußberatungen. Vielleicht können wir das Ganze noch etwas schlanker und handhabbarer machen. Daß solch ein „Gesetzchen" 32 Paragraphen enthalten muß, leuchtet dem Praktiker eigentlich nicht so recht ein. Das ist aber, wie gesagt, Sache der Ausschußberatungen. Darauf möchte ich heute nicht näher eingehen.Wir müssen ein solches Gesetz nicht nur deshalb schaffen, weil wir es als Sozialdemokraten lange gefordert haben, sondern weil uns auch die EG mit ihrer Richtlinie dazu zwingt. Insofern haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen sehr wenig Anlaß, sich in die Brust zu werfen, wenn sie ihre Hausaufgaben nur verspätet, schlecht, zögerlich und widerwillig leisten.
Bei der Gelegenheit muß man, Herr Rüttgers, natürlich die Frage stellen: Warum nutzt man, wenn in diesem Gesetz schon Änderungen des Betäubungsmittelgesetzes vorgeschlagen werden — sie sind wahrscheinlich unumgänglich —, jetzt nicht die Gelegenheit, bestimmte Auswüchse in der Drogenpolitik zu bekämpfen, indem Änderungsvorschläge, die die Sozialdemokraten seit vier Jahren auf dem Tisch liegen haben, endlich umgesetzt werden?
Da erinnere ich an einen „Spiegel"-Artikel, der in dieser Woche zum Drogenmobil der Freien und Hansestadt Hamburg erschienen ist, wonach sogar solche Möglichkeiten, daß sich Abhängige unter streßfreien, hygienisch einwandfreien Bedingungen ihren Schuß setzen können, strafrechtlich behindert werden. Diese Gesundheitsräume — ich nenne noch einmal den alten Ausdruck „Fixer-Räume", weil das der Laie eher versteht — gibt es in fast allen Städten. Sie sind sinnvoll, weil die Alternative die Straße, die unsaubere Spritze und das damit verbundene Elend ist. Daß solche Gesundheitsräume gefördert werden, verlangt übrigens auch die Caritas. Für alle, die sich ihren katholischen Glauben in diesem Hause noch bewahrt haben, möge das vielleicht eine Empfehlung sein.
— Ich hoffe, daß das im Protokoll erscheint. Dann schicke ich das in meinem Wahlkreis herum, Herr Rüttgers.
Da treffe ich sehr wahrscheinlich auf in Ihrem alten Wahlkreis verbrannte Erde. Mir soll es aber recht sein; ich habe dann in den nächsten Monaten nicht mehr so viel Streß. — Auch von anderen Wohlfahrtsverbänden wird empfohlen und gefördert, daß diese Gesund-
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Johannes Singerheitsräume von den staatlichen Strafverfolgungsbehörden unbelastet und unbeeinträchtigt bleiben.Wir haben gemeinsam bedauert — und zwar alle Parteien —, daß sich die Polizei z. B. in Köln wegen der unseligen Bestimmung des Betäubungsmittelgesetzes in § 29 Abs. 1 Nr. 10, wonach das Verschaffen von Gelegenheit schon strafbar ist, verpflichtet gesehen hat, in diesen Gesundheitsräumen Razzien durchzuführen. Damit gehen natürlich Einrichtungen, die von den Sozialämtern und Jugendämtern der Städte — nicht nur in Köln, sondern auch in vielen anderen Großstädten der Bundesrepublik — unterhalten und gefördert werden, kaputt, werden von Abhängigen nicht mehr angelaufen und angenommen, weil diese dort eine polizeiliche Durchsuchung, eine polizeiliche Aktion erwarten müssen. Das ist eine kontraproduktive Entwicklung, der wir begegnen sollten. Wir hätten u. a. bei diesem Gesetz Gelegenheit, notwendige Konsequenzen zu ziehen.Ich sage Ihnen ein Weiteres: Wir sollten das Betäubungsmittelgesetz auch insofern ändern, als wir dem Grundsatz „Hilfe statt Strafe", der von Ihnen oft in Bundestagsreden unterstützt worden ist, stärker Rechnung tragen. Wenn wir schon nicht — das gibt die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage betreffend den Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan in eindrucksvoller Art und Weise wieder — in der Lage sind, einem therapiewilligen Abhängigen innerhalb von kürzester Frist einen Therapieplatz zur Verfügung zu stellen, wenn wir ihn also warten lassen müssen, sechs, sieben und mehr Monate, dann können wir ihm das doch nicht anlasten, indem wir — wenn er seinen Antrag auf Zurückstellung der Strafvollstreckung oder Einstellung der Ermittlungen stellt — nach dem Gesetz von ihm verlangen, daß er sofort diesen Therapieplatznachweis erbringt. Das ist widersinnig. Auch hier hätten wir Möglichkeiten,die §§ 35ff. des Betäubungsmittelgesetzes in vernünftiger und humaner Art und Weise zu ändern.Wenn Herr Parr sich gegen jede Form von Freigabe oder Legalisierung ausgesprochen hat, dann hat er die SPD an seiner Seite. Wir wollen die unnachsichtige Verfolgung der organisierten Rauschgiftkriminalitat.
Wir haben frühzeitig für ein Geldwäschegesetz und die entsprechenden Bestimmungen gekämpft. Herr Hirsch war es, der mir monatelang in die Hacken getreten und uns daran gehindert hat, ein vernünftiges Gesetz zu verabschieden. Das hat mich veranlaßt, hier eine bösartige Bemerkung zu machen, für die ich mich entschuldigt habe. Da ich keine neue Entschuldigung will, werde ich die Bemerkung nicht wiederholen. Aber ich habe sie noch immer im Kopf, Herr Hirsch, und angesichts der Beratungen über das Geldwäschegesetz fällt es mir schwer, sie zu unterdrücken— die CDU hat mir ja erklärt, daß sie ähnliche Bauchschmerzen hat wie ich; sie hat genauso an einem Entzug von Lebensfreude gelitten —, wenn ich sehe, wie lange wir für ein so sinnvolles, dringend notwendiges Gesetz gebraucht haben, das jetzt immer noch löchrig, kaum anwendbar ist und von der Praxis sehr angezweifelt wird. Für ein Gesetz, das wirbrauchen, wenn wir unsere Erklärungen zur Notwendigkeit der unnachsichtigen Verfolgung von Rauschgiftkriminellen wirklich umsetzen wollen, müssen wir der Praxis die Instrumente an die Hand geben. Das geschieht zur Zeit noch immer nicht in dem erf order-lichen Ausmaß.Wie gesagt, Legalisierung und Freigabe kommen für uns nicht in Betracht. Aber von Legalisierung und Freigabe redet man auch in New York nicht. Trotzdem werden da in umfangreichem Maße Substitutions-programme durch Methadon gefahren, und zwar mit Erfolg. Denn dort, wo ich einem Abhängigen, der Therapien mehrfach erfolglos versucht und abgebrochen hat, der aus anderen Gründen therapieunwillig ist, nicht anders helfen kann, bleibt nur die Methadonbehandlung. Ansonsten zwinge ich ihn zur Beschaffungskriminalität oder zur Beschaffungsprostitution. Wer das nicht will, der muß Methadon anbieten.Gott sei Dank haben fast alle Bundesländer ihre Widerstände gegen diese Form der Substitutionsbehandlung aufgegeben und praktizieren sie. Ich würde nur wünschen, daß das noch in stärkerem Maße ausgeweitet wird. Wenn die Schweiz — die Schweizer sind ja weiß Gott kein leichtfertiges Volk, das einfach so mit der Gesundheit der eigenen Bevölkerung umgeht, ohne sich Gedanken zu machen, was das für Schäden nach sich ziehen kann — in mehreren Großstädten ein Experiment mit der kontrollierten und unter ärztlicher Aufsicht vorgenommenen Abgabe von Heroin versuchsweise durchführt, dann sollten wir einem solchen Gedanken zumindest einmal nähertreten.
Ich sage nicht, daß das der Königsweg ist, daß das die große Lösung ist; aber die Schweizer probieren es, die Amsterdamer probieren es, die Australier probieren es, die Amerikaner probieren es. Dann sollten auch wir wenigstens einmal dem Vorschlag des Hamburger Senats nähertreten und uns ernsthaft darüber unterhalten, ob wir es einmal probieren. Wenn es schiefgeht, bin ich sofort bereit, zuzugeben, daß das ein Fehlweg war, der schnell wieder aufgegeben werden sollte, weil er nichts bringt.Aber über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, empfiehlt sich in der Politik immer. Auf eingefahrenen Wegen zu beharren, obwohl man weiß, daß man in weiten Bereichen der Drogenpolitik in diesem Lande gescheitert ist — Sie haben die Zahlen eindrucksvoll zitiert; ich kann sie nur bestätigen —, reicht nicht aus. Da langt es nicht, einfach nur zu sagen: Weiter so! Da sollten wir uns gemeinsame Gedanken darüber machen, wie wir neue Wege finden, sollten auch einmal etwas Neues ausprobieren und von den Mitteln und Wegen wegkommen, die bisher nicht zum Erfolg geführt haben.Schönen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Burkhard Hirsch das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der verehrte Kollege Singer hat offenbar eine „déformation professionelle". Ich fände es sehr gut, wenn er seine eigenen Probleme nicht im Plenum zu Lasten anderer Fraktionen austragen würde.
Er hat offenbar nicht begriffen, daß die beruflichen Rechte, die Anwälte haben, kein Selbstzweck sind, sondern es sind Rechte der Bürger. Sie haben offenbar nicht verstanden, daß die Vorschläge, die wir bei dem Gewinnaufspürungsgesetz gemacht haben, um diese Bürgerrechte zu erhalten, trotzdem ein viel strafferes Kontrollsystem bedeutet hätten, als es uns der Vermittlungsausschuß schließlich vorgeschlagen hat.
Ich habe bei den Beratungen, an denen Sie als Berichterstatter Ihrer Fraktion teilgenommen haben, vermißt und mich gewundert, daß Sie die Vorschläge, die ich gemacht habe, nicht aufgenommen haben, nämlich die Geldwäsche auszudehnen, auch auf die eigentlichen Straftaten, bei denen es sich um organisierte Kriminalität handelt und die wir nun nacharbeiten müssen: Subventionsbetrug z. B., Unterschlagung usw. Ich habe mich sehr gewundert, daß Sie diese Vorschläge nicht aufgegriffen haben. Ich freue mich, daß es uns nun gelingt, sie bei dem Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 nachzuarbeiten.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/6961 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Verkehr mit Medizinprodukten
— Drucksache 12/6991 —
Überweisung svorschlag:
Ausschuß für Gesundheit Rechtsausschuß
Auch hier ist der Wunsch der Kollegen und Kolleginnen, ihre Reden zu Protokoll zu geben.') Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/6991 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Auch das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
') Anlage 8
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Evelin Fischer , Ralf Walter (Cochem), Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Förderung und Intensivierung der deutschdeutschen" Jugendbegegnung
— Drucksache 12/5415 —Überweisung svorschlag:
Ausschuß für Frauen und Jugend Sportausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß
Auch hier ist der Wunsch der Kollegen und Kolleginnen, ihre Reden zu Protokoll zu geben.*) Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie auch damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe als letzten Punkt den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Gruppe der PDS/ Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Straffreiheit bei Straftaten des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit
— Drucksache 12/6370 —
Überweisungsvorschla g:
Rechtsausschuß Innenausschuß (federführend)
Auch hier ist der Wunsch der Kollegen und Kolleginnen, ihre Reden zu Protokoll zu geben.**) Besteht auch damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/6370 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu eventuell anderweitige Vorschläge? — Ich habe es mir beinahe gedacht. Es ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen:
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. März 1994, 9 Uhr ein.
Ich wünsche einen schönen Abend und eine schöne Fraktionssitzung.
Die Sitzung ist geschlossen.