Gesamtes Protokol
Meine Dame! Meine Herren! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der gestrigen Kabinettssitzung mitgeteilt: erstens Jahresabrüstungsbericht 1993, zweitens Abkommen mit der Russischen Föderation über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen.
Herr Schäfer, ich möchte Sie trotz der schlechten Präsenz bitten, den einleitenden Bericht zu geben. Wir sind dabei, alle diese Fragen zu regeln und auch das, was Sie bei der Regierungsbefragung beschwert, zu behandeln.
Frau Präsidentin! Meine Herren!
— Entschuldigen Sie! Die Dame telefoniert. Ich konnte sie nicht erkennen, weil die Frisur so ähnlich aussieht wie bei einem Herrn. Pardon!Zu der gestrigen Diskussion über den Jahresabrüstungsbericht 1993 vom 8. März möchte ich kurz Stellung nehmen. Die Bundesregierung hat im Jahresabrüstungsbericht dieses Jahres ihre Bemühungen deutlich gemacht, den Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozeß voranzutreiben. Sie war in den letzten beiden Jahren an diesen Bemühungen sehr aktiv beteiligt. Im Kabinett wurden dazu folgende Punkte besonders herausgestellt.Zum einen geht es um die Unterbindung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Dies ist eine der politischen Hauptaufgaben, deren Bedeutung durch die Zehn-Punkte-Initiative von Bundesaußenminister Kinkel vom 15. Dezember vergangenen Jahres gegenüber der Öffentlichkeit nachdrücklich hervorgehoben worden ist.Die Bundesregierung bleibt führend an den Bemühungen beteiligt, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen im Zusammenhang mit der 1995 fälligen Überprüfungskonferenz unbefristet und unkonditioniert zu verlängern.Der zweite Punkt ist der Abschluß des Übereinkommens über das Verbot von Chemiewaffen. Es konnte Anfang vergangenen Jahres unterzeichnet werden und zielt darauf, eine besonders grausame Kategorie von Waffen weltweit vollständig zu vernichten. An dem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen über dieses bekanntlich lange Jahre umkämpfte und hier im Bundestag immer wieder diskutierte Verbot von Chemiewaffen hatte die Bundesregierung besonderen Anteil.Drittens ist die Umsetzung der Abrüstungshilfe ein wichtiger Punkt des Abrüstungsberichts. Dafür stand im Haushalt 1993 erstmals ein Betrag von 10 Millionen DM zur Verfügung. Es handelt sich hierbei um eine neue, zukunftsgerichtete Aufgabe unserer Abrüstungspolitik, bei der es vor allem darum geht, die ehemals sowjetischen Massenvernichtungswaffen —nukleare wie auch Chemiewaffen — unbrauchbar zu machen. Eine angemessene deutsche Beteiligung ist eine langfristige Investition in unsere eigene Sicherheit.Der vierte Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist die Implementierung von Rüstungskontrollabkommen im konventionellen Bereich, die Vernichtung von militärischem Großgerät, also von Panzern, gepanzerten Kampffahrzeugen, Flugzeugen, Hubschraubern sowie Artillerie. Dies hat im Rahmen des Vertrages über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa — KSE-Vertrag — große Fortschritte gemacht. Auch das wird im Bericht deutlich.Wir beschränken uns aber nicht auf den Nachweis über erbrachte Leistungen, sondern wir machen im Bericht deutlich, wo Abrüstung und Rüstungskontrolle für den Ausbau einer neuen Sicherheitsarchitektur künftig besonders gefordert sind. Es gilt, sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Wir sind uns bewußt, daß im Rahmen einer kooperativ ausgerichteten politischen Gesamtstrategie der Akzent noch stärker als bisher auf Vertrauensbildung, auf Krisenverhütung und Vorsorge sowie auf vorbeugende Diplomatie gelegt werden muß. Konkret werden unsere verstärkten Bemühungen — das wird im Bericht deutlich — um die Unterbindung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Vordergrund stehen. Dabei geht es um die zügige Umsetzung des Übereinkommens zum Verbot chemischer Waffen,
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Staatsminister Helmut Schäferum die Stärkung des Übereinkommens über ein Verbot biologischer Waffen und vor allem um eine zielgerichtete Vorbereitung des Mitte nächsten Jahres anstehenden Ereignisses der Überprüfungskonferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag.Letztlich: Was die Umsetzung der geschlossenen Verträge betrifft, so sind die Ergebnisse bisheriger Abrüstung und Rüstungskontrolle unversehrt zu erhalten. Die diesbezüglichen Verträge, vor allem KSE-Vertrag und START-Verträge, müssen fristgerecht umgesetzt werden, denn tatsächliche Abrüstung ist erst dann erreicht, wenn Streitkräfte und Waffenpotentiale nachweislich beseitigt worden sind. Daran wird die Bundesregierung weiterhin entschieden mitwirken.
Danke schön, Herr Staatsminister Schäfer.
Zur ersten Frage erhält Kollege Würzbach das Wort.
Als Abgeordneter begrüße ich, daß die Regierung diesen Bericht in diesem Jahr sehr früh vorgelegt hat. Im letzten Jahr haben wir übereinstimmend, Regierungsfraktionen und Opposition — ich nehme stillschweigend an, daß das auch heute so ist —, die große Zahl von Initiativen von internationalen Abkommen im Bereich der Abrüstung und der Rüstungskontrolle ausdrücklich anerkannt und gefragt — dies darf ich auch heute tun —, was im Praktischen, Handwerklichen getan wird, um dieses großartige Gerippe von Verträgen in die Praxis umzusetzen. Da nannten Sie die Abrüstungshilfe. Dies ist eine Summe — auch wenn wir im Augenblick jede Million sparen müssen —, die so niedrig ist, daß wir nicht einmal unterste Anfänge machen können.
Welche Initiativen plant unsere Regierung national oder international, mit welchen Partnern, um besonders im Osten Europas alle Waffen — die konventionellen, die chemischen, die nuklearen — schneller als geplant und gründlicher als im Augenblick zu bewachen, zu lagern und zu verschrotten? Können Sie noch ein paar Striche bezüglich der Initiative des Außenministers zeichnen, der Nichtverbreitung Einhaltung zu gebieten? Was ist dazu von deutscher Seite geplant?
Herr Staatsminister.
Herr Kollege, es ist richtig, was Sie sagen: Der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland auf Grund der Beschlüsse dieses Hauses — das Auswärtige Amt hatte einen Ansatz eingebracht, der höher war als der, der vom Haushaltsausschuß genehmigt worden ist — ist in diesem Fall nicht ohne weiteres mit den Summen vergleichbar, die die Vereinigten Staaten von Amerika und einige andere Staaten aufwenden.
Aber wir müssen natürlich einen Zusammenhang sehen— darauf hat auch der Bundeskanzler gestern in der Kabinettssitzung sehr deutlich hingewiesen, als ich ihm die Zahlen genannt habe — mit den enormen Leistungen, die Deutschland in anderen Bereichen für den Aufbau der neuen Staaten in Mittel- und Osteuropa erbringt, im Gegensatz zu den Nationen, die auf dem Sektor der Konversion solcher Waffen mehr Mittel zur Verfügung stellen als wir. Ich glaube, man kann das nicht voneinander trennen.
Wir haben hier eine relativ gute Bilanz vorzuweisen — das sage ich sehr milde —, was die Mittel betrifft, die dieses Land nach Osteuropa gibt, im Vergleich zu den Staaten, die zwar bei der Konversion höhere Mittel zur Verfügung stellen, aber bei der Herstellung von Stabilität, beim Aufbau von Wirtschaft in diesen Ländern keineswegs an die Mittel heranreichen, die wir schon zur Verfügung gestellt haben. Ich glaube, man muß das angesichts der Finanzlage unseres Landes zur Kenntnis nehmen, so gerne wir uns auch bei der Konversion mit höheren Mitteln beteiligen würden.
Zu Ihrer zweiten Frage, der Verbreitung des Nichtverbreitungsvertrages. Wir sind natürlich diplomatisch dabei — und das ist ein ganz wichtiges Thema —, mit den Ländern, die immer noch große Schwierigkeiten haben, diesem Vertrag beizutreten, ständig im Gespräch zu bleiben. Ich darf an Indien, Pakistan und einige andere erinnern. Ich darf darauf hinweisen, daß es uns vor allen Dingen darum geht, daß dieser Vertrag erhalten wird, daß er unkonditioniert verlängert wird und daß natürlich alles unternommen werden muß, um mit solchen Staaten, die diesem Vertrag aus welchen Gründen auch immer nicht beitreten wollen, weiter zu sprechen, nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch auf parlamentarischer Ebene.
Gibt es weitere Fragen zum Jahresabrüstungsbericht? — Herr Koppelin.
Herr Staatsminister, können Sie mir sagen, wieweit die Bundesregierung beobachtet, ob Wissenschaftler aus GUS-Staaten von anderen Staaten geworben werden, um dort vielleicht an Rüstungsproduktionen teilzunehmen?
Das ist ein Feld, dem wir uns schon von Anfang an, Herr Kollege, zugewandt haben, um — seinerzeit auch mit Vorschlägen von Bundesaußenminister Genscher — eine Stiftung zu schaffen, die solchen Wissenschaftlern helfen soll, in ihren Ländern zu bleiben, wo ihnen die Finanz- und Wirtschaftssituation nicht mehr die Möglichkeiten bietet, die sie früher einmal in der Sowjetunion hatten. Wir haben uns also bereits sehr früh diesem Problem zugewandt.Mir liegen im Augenblick keine Unterlagen vor, welche Staaten welche Wissenschaftler abwerben konnten oder abgeworben haben. Aber es ist davon auszugehen, daß das, was in anderen Sparten — ich darf den Vergleich zum Sport ziehen — geschehen ist, nämlich die Abwerbung guter Fachleute aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. der GUS, sicher fortgesetzt wird. Wir beobachten das mit Sorge.Bei allen Gesprächen mit Vertretern der Regierungen der GUS-Staaten, auch Rußlands, bemühen wir uns, alles zu tun, um eine solche Entwicklung nach Möglichkeit zu verhindern. Aber wir haben natürlich auch nicht den allerletzten Einfluß auf solche persön-
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Staatsminister Helmut Schäferlichen Entscheidungen. Daß bestimmte Länder sich von uns wenig raten lassen, wen sie abwerben, können Sie aus Ihrer Kenntnis sicher nachvollziehen.
Weitere Fragen? — Herr Augustinowitz.
Herr Staatsminister, es gibt aktuelle Spannungen zwischen Rußland und der Ukraine auf Grund von Rohstofflieferungen.
Liegen Ihnen Erkenntnisse darüber vor, daß sich diese Spannungen unter Umständen darauf auswirken könnten, die noch in der Ukraine lagernden Atomwaffen Schritt für Schritt nach Rußland zur Vernichtung zu bringen?
Es gibt heute Pressemeldungen in dieser Richtung, die mich überrascht haben, nachdem von Präsident Krawtschuk, Präsident Clinton und Präsident Jelzin in Moskau ein Vertragswerk unterschrieben wurde, das auf der einen Seite die zügige Vernichtung der in der Ukraine lagernden Waffen bzw. ihre Auslieferung an Rußland und dann die Vernichtung beinhaltet, wie auch damit verbunden finanzielle Zuwendungen, insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika, an die Ukraine.
Ich selber werde morgen Gelegenheit haben, in Kiew bei einer Mission der Troika der Europäischen Union auch dieses Thema anzusprechen. Wir werden zwei Tage, morgen und übermorgen, zu Konsultationen der Europäischen Union mit der Ukraine in Kiew sein. Dieses Thema wird angesprochen.
Ich habe diese Pressemeldungen zur Kenntnis genommen. Es wäre natürlich ein Verstoß gegen den erklärten Willen inzwischen auch des ukrainischen Parlaments, kein Junktim zwischen dem Vorhandensein von atomaren Waffen und den Lieferungen von Erdgas herzustellen, wobei die Unterbrechung der Erdgaslieferungen mit der Nichtzahlungsfähigkeit der Ukraine, die man sehen muß, im Zusammenhang steht.
Gibt es weitere Fragen zu diesem ersten Thema? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich das zweite Thema der Befragung der Bundesregierung auf. Es betrifft den Bereich Abkommen mit der Russischen Föderation über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen. Wird dazu zunächst der Bericht gewünscht? — Herr Staatssekretär Lintner, könnten Sie erst einen kurzen Bericht dazu geben.
Mit dem Gesetz zum Abkommen wird die nach Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes notwendige Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zu diesem völkerrechtlichen Vertrag herbeigeführt. Das Abkommen stellt einen weiteren Schritt zur Verbesserung der Beziehungen zur Russischen Föderation dar. Die aus Anlaß der Erdbebenkatastrophe in Armenien 1988 begonnene und dann intensivierte Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der ehemaligen Sowjetunion auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Katastrophenhilfe wird auch mit der Russischen Föderation fortgesetzt und durch die Schaffung einer rechtlichen Grundlage erleichtert.
Die Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Katastrophen oder schweren Unglücksfällen wird insbesondere durch folgende Regelungen erleichtert: Festlegung von Ansprechstellen, Erleichterung des grenzüberschreitenden Verkehrs von Personen und Sachen, Regelung von Schadensersatz und Haftung, Ermöglichung eines teilweisen oder vollständigen Verzichts auf Kostenerstattung, Verstärkung der Zusammenarbeit in der Praxis und des Informationsaustausches über Gefahren.
Kosten können der Bundesrepublik nur erwachsen, wenn von deutschen Kräften in Rußland eine Hilfestellung durchgeführt wird. Die ständige Vertragskommission der Länder und die Innenminister der Länder waren beteiligt.
Hilfeleistungsabkommen mit inhaltlich gleicher Zielsetzung wurden mit Frankreich, Luxemburg, Belgien, der Schweiz, Dänemark und Österreich unterzeichnet und sind zwischenzeitlich ratifiziert worden. Darüber hinaus wurde ein Hilfeleistungsabkommen mit den Niederlanden am 7. Juni 1988 unterzeichnet.
Soweit der Bericht.
Danke. Gibt es dazu Fragen? — Das ist nicht der Fall.
Gibt es zum allgemeinen Bereich Fragen, d. h. nicht an diese beiden Themen gebundene Fragen? — Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Regierungsbefragung und unterbreche die Sitzung bis zum Beginn der Fragestunde.
Ich eröffne die Sitzung erneut und rufe den Punkt 2 der Tagesordnung auf:Fragestunde— Drucksache 12/6965 —Ich beginne mit den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Beantwortung erfolgt durch Staatsminister Helmut Schäfer.Ich rufe als erste die Frage 30 des Kollegen Ortwin Lowack auf:Wird die Bundesregierung denn nun mit der Republik Polen über die aus dem deutsch-polnischen Grenzbestätigungsvertrag ausgeklammerten Vermögensansprüche der vertriebenen Deutschen aus den Oder-Neiße-Gebieten verhandeln, und wie lange will man den Opfern von Unrecht und Vertreibung ein weiteres Zuwarten zumuten?Bitte, Herr Staatsminister.
— Es ist an.
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Es ist an; ich sehe hier rot, sozusagen;
bei Lowack sowieso.
Herr Kollege, wie Sie wissen, hat die Bundesregierung die Vertreibung der Deutschen immer verurteil und die entschädigungslose Einziehung deutschen Vermögens nie gebilligt. Beim Abschluß des deutschpolnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 ist es der Bundesregierung in schwierigen Verhandlungen gelungen, die Vermögensfrage ausdrücklich offenzuhalten. Darüber haben wir uns hier schon öfters ausgetauscht.
Der polnischen Regierung ist der Standpunkt dei Bundesregierung bekannt. Die polnische Regierung ist jedoch nicht bereit, Rückgewähr- und Entschädigungsansprüche anzuerkennen. Es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür, daß sich die polnische Position in dieser Frage gegenwärtig dem deutschen Standpunkt annähert. Gespräche zwischen der deutschen und dei polnischen Regierung Anfang November 1993 haben in der Frage des deutschen Vermögens keine Fortschritte erbracht.
Die Bundesregierung beobachtet etwaige Entwicklungen der polnischen Position gleichwohl genau und wird auch in Zukunft für deutsche Vermögensinteressen gegenüber der Republik Polen mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln eintreten.
Danke schön. — Die erste Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bewußt, daß die Ausklammerung dieser Ansprüche dem Bundesverfassungsgericht dazu gedient hat, zu sagen, daß man keine Ansprüche gegenüber der Bundesregierung geltend machen könne, weil ja diese Ansprüche ausgeklammert und damit eben unter Umständen doch noch durchsetzbar seien, und ist sich die Bundesregierung bewußt, daß sie mit dieser Haltung, nicht an die Regierung Polens heranzutreten, diese Ansprüche, die ja rechtlich gegeben sind und die die Regierung ja selber nun anerkennt, letztlich mehr und mehr obsolet macht?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich will die Interpretationen des Bundesverfassungsgerichtes nicht kommentieren. Ich will nur feststellen, daß zu einer Überbrückung der Gegensätze zwischen Ihrem Anliegen — es ist nicht nur Ihr Anliegen —, nämlich solche Verhandlungen herbeizuführen, und der polnischen Haltung im Augenblick keine Möglichkeit besteht.
Wir haben nie ausgeschlossen, daß diese Frage zu einem späteren Zeitpunkt unter anderen Bedingungen durchaus wieder aufgenommen werden kann. Wir haben immer wieder versucht, sie aufzunehmen. Nur müssen wir von Realitäten ausgehen, die wir nicht ändern können, es sei denn, Sie müßten politische Maßnahmen gegen Polen ergreifen, die hier im
Hause, soweit ich weiß, niemand unterstützen würde.
Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Abgeordneter Lowack.
Herr Staatsminister, angesichts des Sonderopfers, das hier einer bestimmten Bevölkerungsgruppe für die Folgen des Krieges auferlegt wird, frage ich: Könnte und muß es nicht richtig sein, wenn die Bundesregierung jetzt bei dem Antrag der Republik Polen, Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft oder auch im westlichen Sicherheitssystem zu werden, auch auf eine Klärung dieser Fragen drängt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie haben hier sozusagen einen Zusammenhang intoniert. Da Sie die Möglichkeit haben, diesen Gedanken in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages weiter anzusprechen, würde ich Ihnen empfehlen, es dort zu tun.
Es ist richtig, daß Polen einen solchen Antrag einbringen will. Es stellt sich bei der Frage der Aufnahme von Staaten in die Europäische Union immer eine ganze Fülle von wichtigen Fragen etwa zum Niederlassungsrecht und zum Vermögen.
Ich könnte mir vorstellen, daß eine Belebung dieser Frage in diesem Zusammenhang möglich wäre.
Danke schön. Weitere Zusatzfragen zu der Frage 30 liegen nicht vor.Die Fragen 31 und 32 der Abgeordneten Siegrun Klemmer werden auf ihren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 33 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf:Welche Anstrengungen hat die Bundesregierung unternommen, die Entschließung des Europäischen Parlaments von Oktober 1993 zu unterstützen, die alle EU-Mitgliedstaaten aufgefordert hat, sie sollten „durch die Unterstützung von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern die militärische Macht der Aggressoren im früheren Jugoslawien schwächen und damit auch klarmachen, daß sie Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus Aggressorstaaten Asyl gewähren werden"?Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, in Übereinstimmung mit einschlägigen Entschließungen des UNHCR sieht die Bundesrepublik von Abschiebungen außer bei Gefahr einer der betreffenden Person drohenden Verfolgung nur dann ab, wenn erkennbar das Risiko besteht, daß die abzuschiebende Person zu von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig charakterisierten menschenrechtswidrigen Maßnahmen herangezogen wird.Nach den der Bundesregierung vorliegenden Erkenntnissen werden abgeschobene Deserteure und Wehrdienstverweigerer in der Bundesrepublik Jugoslawien, also Serbien und Montenegro, gegenwärtig nicht zu Kriegseinsätzen herangezogen. Diese Einschätzung wird vom UNHCR geteilt.Eine Bereitschaft, ganz generell Deserteure und Kriegsverweigerer aus dem früheren Jugoslawien aufzunehmen, haben weder die Staaten, in die oft
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Staatsminister Helmut Schäfernach Deutschland die meisten Asylbewerber aus dem früheren Jugoslawien gekommen sind — Schweden, Schweiz und Norwegen —, noch andere EU-Mitgliedsstaaten erkennen lassen.Dem entspricht die Haltung der für einen Verbleib der betroffenen Personen zuständigen Bundesländer. Sie tragen mit ihrer Aufnahmepraxis auch aus der Sicht der Bundesregierung der Entschließung des Europäischen Parlaments im humanitär gebotenen Umfang Rechnung.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kubatschka.
Herr Staatsminister, wie beurteilen Sie dann die Aussage von Pax Christi, daß Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren in Restjugoslawien die Todesstrafe oder andere empfindliche Zwangsmaßnahmen drohen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich weiß nicht, worauf Pax Christi diese Kenntnisse stützt. Ich kann diese Erkenntnisse nicht bestätigen.
Daß es Strafen geben kann, will ich nicht ausschließen. Es handelt sich — das darf ich hier sehr deutlich sagen — bei solchen Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren — wie Ihnen bekannt ist — in erster Linie um Angehörige der albanischen Volksgruppe.
Ich kann es nicht bestätigen. Auch viele andere Behauptungen, die hierzu aufgestellt werden, sind nur schwer nachprüfbar.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatsminister, ist es nicht paradox, ein Waffenembargo auszusprechen, aber gleichzeitig jene Menschen abzuschieben, die Waffen bedienen bzw. instandsetzen können? Wäre es nicht wirkungsvoller, ein Soldatenembargo auszusprechen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, daß Menschen, die sich weigern, für einen Staat Krieg zu führen, kaum geeignete — im wahrsten Sinne des Wortes — „ Gewehrsleute " sein werden, um, wenn sie zurückkommen, an der Front erneut zu kämpfen. Das ist nach unseren Erkenntnissen nicht der Fall.
Die andere Frage, die vorhin gestellt worden ist — welchen Strafen solche Leute möglicherweise ausgesetzt sein könnten —, ist relevanter. Hier wird im Einzelfall zu entscheiden sein, ob man jemanden wirklich ins Heimatland abschiebt oder ihn hierläßt. Wir können allerdings nicht generell sagen, daß die Gruppe von Kriegsdienstverweigerern nicht abgeschoben werden kann.
Zusatzfrage des Abgeordneten Bindig.
Herr Staatsminister, wenn diesen Deserteuren oder Kriegsdienstverweigerern zwar nicht Gefahr unmittelbar an Leib und Leben droht, so aber doch die erhebliche Gefahr, daß sie ihre Freiheit verlieren — in der Belgrader Zeitung „Politika" steht heute, daß diesen Menschen Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren drohen —, ist dies dann nicht in besonderem Maße zu beachten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf es noch einmal sagen: Bei den Betroffenen handelt es sich nicht um Serben, die ihrem eigenen Land den Kriegsdienst verweigert haben, sondern um die albanische Minderheit im Kosovo, die nicht nach Belgrad zurückgehen wird. Diese wird natürlich in den Kosovo zurück wollen. Ich sehe nicht, daß die Serben in allen Fällen in der Lage wären, das so genau zu überprüfen.
Ich sage aber noch einmal: Wir handeln nicht anders als alle anderen Staaten der Europäischen Union. Auch der UNHCR liegt auf der gleichen Linie. Wir können nicht generell sagen, daß jemand, der hierhergekommen ist und behauptet hat, er habe dort den Kriegsdienst verweigert — was im übrigen für uns sehr schwer nachprüfbar ist —, nicht abgeschoben werden kann. Wir müssen umgekehrt sagen: Wenn im Einzelfall sicherzustellen und beweisbar ist, daß dem Betreffenden Strafen drohen, wird von einer Abschiebepraxis abgesehen. Es geht nur um die generelle Abschiebung bei der Behauptung, Kriegsdienstverweigerer zu sein.
Die
Frage 34 des Abgeordneten Wilfried Böhm wird auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Welche konkreten Nutzungsmöglichkeiten deutscher Kernkrafttechnologie sind anläßlich des Besuches des brasilianischen Außenministers, Celso Amorim, besprochen bzw. vereinbart worden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, in den Gesprächen des brasilianischen Außenministers am 24. und 25. Februar mit Bundesaußenminister Kinkel und Bundesminister Krüger in Bonn wurde die Frage der Zusammenarbeit im Bereich der Kernenergie nur am Rande gestreift. Außenminister Amorim teilte Bundesminister Kinkel lediglich mit, die brasilianischen Besteller wollten das Kernkraftwerk Angra II zu Ende bauen. Bekanntlich ist dieses Kernkraftwerk zur Zeit zu rund 70 % fertiggestellt.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatsminister, ist in diesem Zusammenhang auch über die ausgesprochen schlechten Sicherheits- und Entsorgungseinrichtungen in dem von Ihnen zitierten Kraftwerk gesprochen worden?Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich habe gerade gesagt, daß diese Fragen zumindest bei dem Gespräch mit Herrn Kinkel nur am Rande eine Rolle gespielt haben. Ich bin nicht sicher, inwieweit mit Bundesminister Krüger intensiver über diese spezielle Frage gesprochen worden ist.
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Staatsminister Helmut SchäferEs ist im übrigen so, daß der brasilianische Senat im vergangenen Monat, nämlich am 9. Februar, dem sogenannten vierseitigen Abkommen zwischen Brasilien, Argentinien, ihrer gemeinsamen Kontrollagentur und der Internationalen Atomenergiebehörde zugestimmt hat, so daß dieses Abkommen in Kraft treten kann und damit sämtliche nukleartechnischen Anlagen beider Länder der internationalen Kontrolle unterstellt werden, wobei die Frage der Sicherheit dieser Kernkraftwerke sicherlich schärfer, als das bisher der Fall war, auch international beobachtet werden kann.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Ich frage noch einmal nach der Organisation der Entsorgung; Sie haben nur auf die Sicherheit abgehoben. Ist darüber gesprochen worden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich würde herzlich bitten, sich vielleicht noch einmal — das können Sie direkt tun — mit dem Bundesministerium für Forschung und Technologie in Verbindung zu setzen, um zu erfahren, inwieweit dieser spezielle Aspekt, der wirklich nicht zum Ressort des Auswärtigen Amtes gehört, angesprochen worden ist. Möglicherweise ist dies der Fall; ich kann es Ihnen nicht sagen. Wir werden Ihnen sicher jede Auskunft geben.
Damit rufe ich die Frage 36 des Abgeordneten Gernot Erler auf:
In welcher Weise ist die Bundesregierung durch die Regierung Frankreichs über Pläne zur Wiederaufnahme französischer Atomversuche unterrichtet worden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Erler, die Bundesregierung ist durch die Regierung Frankreichs nicht über Pläne einer Wiederaufnahme französischer Atomversuche unterrichtet worden.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, was bedeutet es denn für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union, wenn in unserem wichtigen Nachbarland und befreundeten Land Frankreich eine öffentliche Diskussion über die Wiederaufnahme von Atomversuchen, auch durch den Verteidigungsminister dieses Landes, geführt wird und der Bündnispartner Bundesrepublik offiziell hiervon überhaupt keine Kenntnis bekommt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Solange es sich um eine interne politische Diskussion in Frankreich handelt — wobei ja die verschiedenen Ansichten zu beachten sind, etwa die Ansicht des französischen Staatspräsidenten Mitterrand, der sich für eine Beibehaltung des Teststopps ausspricht, und die Tendenz des französischen Verteidigungsministers Léotard, der sagt, wir wollen uns die Option für spätere Kernwaffentests offenhalten —, sehen wir keine Veranlassung, den Franzosen hier Vorwürfe zu machen, sie würden uns darüber nicht informieren. Man kann es nachlesen.
Ihre Frage wäre dann sehr viel gewichtiger, wenn Sie sagten: Es steht ein solcher Atomtest bevor, und Deutschland oder die Europäische Union sind davon nicht informiert worden. Dann würde ich Ihnen allerdings sagen, daß ich das nicht für ein Verhalten hielte, das mit den Vorstellungen einer europäischen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vereinbar wäre.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatsminister, habe ich Sie dann insofern richtig verstanden, als Sie es für normal und auch gedeihlich für unsere europäische Zusammenarbeit halten, wenn ein solcher gravierender Beschluß wie die Wiederaufnahme von Atomversuchen nicht bereits im Stadium der Planung mit Bündnispartnern besprochen wird, sondern erst mitgeteilt wird, wenn die Beschlüsse gefaßt worden sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung. Ich entnehme Ihrer Fragestellung auch Ihre Meinung. Ich kann nur sagen: Ich verstehe unter Europäischer Union und gemeinsamer Außenpolitik, daß beispielsweise nicht ein Land plötzlich seine Grenzen zu einem anderen Land schließt und auch nicht ein anderes Land möglicherweise Atomtests aufnimmt, ohne seine Partner und Freunde — im Falle Frankreichs geht es ja um eine besonders enge Freundschaft, wie immer betont wird — zu informieren. Ich fände das sehr merkwürdig. Ich glaube, wir müssen hier alle darauf achten, daß die Europäische Union glaubwürdig bleibt.
Herr Abgeordneter Erler, darf ich annehmen, daß Ihre Frage 37 im Grunde genommen durch Ihre Zusatzfragen beantwortet ist?
Keinesfalls.
Keinesfalls. Dann kommen wir zur Frage 37 des Abgeordneten Erler:Welches ist die Haltung der Bundesregierung zur eventuellen Wiederaufnahme von französischen Atomversuchen?Bitte sehr, Herr Staatsminister.Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich hatte gar nicht die Absicht, Herr Präsident, das schon vorwegzunehmen, sondern nur die Zusatzfragen zu beantworten.Die Bundesregierung begrüßt, Herr Kollege Erler, daß die französische Regierung am 8. April 1992 ein Testmoratorium verkündet hat und dieses auch nach dem chinesischen Nuklearversuch vom 5. Oktober vergangenen Jahres aufrechterhält.Vor dem Hintergrund der am 25. Januar 1994 bei der Genfer Abrüstungskonferenz mit Beteiligung Frankreichs begonnenen Verhandlungen über einen umfassenden nuklearen Teststopp ist es nach Auffassung der Bundesregierung für einen solchen erfolgreichen Teststoppvertragsabschluß wichtig, daß sich die
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Staatsminister Helmut SchäferNuklearmächte an das bestehende De-facto-Moratoriu n halten.
Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatsminister, gerade weil Sie soeben die Folgen und auch die Schwierigkeiten erwähnt haben, die sich nach der chinesischen Haltung zu dem Teststopp ergeben haben: Was würde denn eine Wiederaufnahme von französischen Atomversuchen für das gemeinsame Ziel der NATO-Partner und auch der KSZE-Staaten für ein weltweit sicheres NPT-Regime ergeben?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich habe Ihnen ja gerade gesagt, daß wir bemüht sind, auf unsere Partner einzuwirken, daß sie sich an das Moratorium, das sie freiwillig ausgesprochen haben, auch in Zukunft halten.
Ihre Frage kann nur sein, ob nicht wieder andere Staaten auf die Idee verfielen, auch wiederum solche Tests zu machen. Ich glaube nun wirklich, unsere Geduld in solche Tests ist reichlich erschöpft, insbesondere angesichts der Tatsache, daß die beiden größten Nuklearmächte, nämlich Rußland und die Vereinigten Staaten von Amerika, ganz offensichtlich bemüht sind, diesen Teststopp durchzuhalten.
Noch eine Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatsminister, sicher teilen wir die Hoffnung, daß es auch vielleicht unter dem Druck der französischen Öffentlichkeit nicht zu dieser Maßnahme kommt. Es gab ja dazu auch eine Umfrage unter der französischen Bevölkerung, die ein erfreulich deutliches Nein zu der Wiederaufnahme der Versuche ergeben hat. Aber gesetzt den Fall, eine französische Regierung kommt doch zu einem anderen Ergebnis: Welche Möglichkeiten hätte denn die Bundesregierung in diesem Fall, auf die französischen Freunde einzuwirken?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Angesichts der zahllosen Treffen zwischen deutschen und französischen Ministern, Regierungsvertretern und Politikern aller Fraktionen dieses Hauses gibt es, finde ich, sehr viele Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen und die französische Regierung auch auf die Folgen einer solchen denkbaren Politik aufmerksam zu machen. Aber ich sehe sie noch nicht. Wir sollten nicht schon jetzt über mögliche Maßnahmen in Frankreich spekulieren, sondern sollten in dieser Phase alle, die wir hier sind, unseren Einfluß nutzen.
Herr Staatsminister, damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs, denn die Fragen 38 und 39 des Abgeordneten Hans-Eberhard Urbaniak werden auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Frauen und Jugend auf. Zur Beantwortung steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelia Yzer zur Verfügung.
Bevor wir die Frage beantworten, möchte ich das Haus darauf aufmerksam machen, daß die Aktuelle Stunde voraussichtlich schon 14.15 Uhr, 14.20 Uhr anfangen wird. Es ist vielleicht gut, wenn die Geschäftsführer das den Fraktionskolleginnen und -kollegen mitteilen.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Michael Habermann auf:
Wann wurde zwischen der Bundesregierung und den Ländern vereinbart, daß die Länder auf eine Finanzierungsbeteiligung des Bundes an den Investitionskosten für den Bau von Kindergartenplätzen verzichten, um den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu realisieren?
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Habermann, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Eine entsprechende Vereinbarung ist zwischen Bund und Ländern nicht getroffen worden. Für eine solche Vereinbarung besteht nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes auch kein Anlaß.
Nach Art. 104 a des Grundgesetzes tragen Bund und Länder gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, also aus ihrer Aufgabenverantwortung, ergeben. In dieser Regelung liegt zugleich das Verbot, Aufgaben der jeweils anderen Seite zu finanzieren. Damit fallen im Verhältnis zwischen Bund und Ländern die Kosten der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe der staatlichen Ebene zur Last, die die Verwaltungszuständigkeit dafür besitzt.
Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe liegt, von einem eng zu definierenden Bereich bundeszentraler Maßnahmen abgesehen, die Verwaltungszuständigkeit bei den Ländern einschließlich der Gemeinden. Daraus folgt, daß die Verfassung keine Möglichkeit für den Bund vorsieht, den Ländern Mittel zweckgebunden für die Wahrnehmung von Aufgaben zuzuweisen, die ihnen selbst bzw. den Kreisen und Gemeinden obliegen.
Der Bundesrat hat am 10. Juli 1992 im Blick auf die finanziellen Folgen des vom Deutschen Bundestag am 25. Juni 1992 beschlossenen Schwangeren- und Familienhilfegesetzes festgestellt, daß der Anteil der Länder an der Umsatzsteuer zu Lasten des Bundes erhöht werden müsse. Im März/April 1993 sind die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern bzw. Gemeinden im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms für die Jahre ab 1995 grundlegend neu geordnet worden.
Diese Vereinbarung ist von den Beteiligten unter Berücksichtigung aller damals bekannten Belastungen der Ebenen getroffen worden. Dabei hat der Bund einen sehr erheblichen Teil der Lasten übernommen. So wurde der Anteil der Länder an der Umsatzsteuer von 37 % auf 44 % erhöht. Die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern einschließlich ihrer Gemeinden ist damit gesetzlich so geregelt, daß Länder und Gemeinden ihren Verpflichtungen nachkommen können.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Habermann.
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Frau Staatssekretärin, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen gesagt, daß eine Vereinbarung nicht getroffen wurde, haben dann aber darauf hingewiesen, daß im Zusammenhang mit der Neuverteilung der Mehrwertsteuer eine solche Regelung getroffen wurde, die, wie die Bundesregierung es immer formuliert, die Länder so besserstellt, daß sie jetzt den Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz finanziell nachkommen können. Meine Frage: Wo haben die Länder der Bundesregierung zugesichert, wo haben die Länder mit der Bundesregierung vereinbart, daß genau dieser Problembereich auf Grund der von Ihnen angesprochenen Regelung mit der Neuverteilung der Mehrwertsteuer erledigt ist?
Herr Kollege, Sie hatten nach einer Vereinbarung bezüglich der Investitionskosten bei Kindergärten gefragt. Ich hatte Ihnen hierzu erläutert, daß es eine zweckgebundene Vereinbarung nach unserer Finanzverfassung nicht geben kann. Da den Beratungen zum Föderalen Konsolidierungsprogramm alle Belastungen der einzelnen Ebenen zugrunde lagen, mithin auch der gesetzlich neu geregelte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, sind diese Belastungen der Länder im Rahmen des neuen Bund-Länder-Finanzausgleichs mit erfaßt worden.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, sind Sie in der Lage, mir und dem Hohen Hause ein solches Papier vorzulegen, woraus hervorgeht, daß die Länder genau der Interpretation, die Sie jetzt gewählt haben, zustimmen, daß — wie die Bundesregierung es formuliert — sich damit in Zukunft ihre Finanzierungsbeteiligung an der Realisierung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz erledigt hat?
Herr Kollege Habermann, ich habe bereits erläutert, daß im Rahmen des Bund-Länder-Finanzausgleichs alle Belastungen der einzelnen Ebenen erfaßt werden. Naturgemäß kann ich Ihnen jetzt kein Papier bezüglich der Aufschlüsselung der einzelnen Punkte vorlegen. Aber Sie werden sich sicherlich daran erinnern, daß gerade die Länder im Anschluß an das Föderale Konsolidierungsprogramm und seine Verabschiedung erklärt haben, daß sie sehr gut für sich verhandelt haben. Bezüglich der Länder und ihres guten Abschneidens in den Verhandlungen sind auch entsprechende Äußerungen aus Ihrer Fraktion gekommen. Ich muß daher davon ausgehen, daß die Belastungen der Länder, wenn die Länder den Abschluß für sich als gut und richtig bezeichnen, angemessen erfaßt worden sind.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Uta Würfel,
Uta Würfel . Frau Staatssekretärin, können Sie mir bestätigen, daß bei den Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht zum § 218 auch die
Initiative des Landes Hessen eine Rolle gespielt hat, durch eine Erhöhung des Umsatzsteuervolumens bei den Ländern im Rahmen des Bund-Länder-Finanzausgleichs dafür zu sorgen, daß den Ländern ein höheres Volumen zukommt und sie damit diese Gemeinschaftsaufgabe leisten können, und teilen Sie meine Auffassung, daß es reichlich gespenstisch ist, wie nun die Länder versuchen, sich aus der Verantwortung zu schleichen, nachdem ausweislich der Protokolle bei den Verhandlungen über den BundLänder-Finanzausgleich die Mittel für die Aufgabe der Schaffung von Kindergartenplätzen zwar nicht zweckgebunden bereitgestellt worden sind, aber verhandelt wurde und das Umsatzsteuervolumen um diesen hohen Prozentsatz erhöht worden ist?
Beides, Frau Kollegin Würfel, kann ich nur uneingeschränkt unterstreichen.
Frau Kollegin Hanewinckel, Sie hatten um eine Zusatzfrage gebeten.
Frau Staatssekretärin, ist es möglich, daß uns die Protokolle, von denen die Abgeordnete Würfel eben gesprochen hat und auf die Sie in Ihren Ausführungen mehrfach hingewiesen haben, zugänglich gemacht werden?
Frau Kollegin, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich u. a. um Protokolle des Bundesrates handelt, die öffentlich zugänglich sind.
Bitte sehr, eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, interpretiere ich Sie richtig, daß die Bundesregierung davon ausgeht, daß die Gemeinden, die uns gegenüber ihre Finanznot bei der Umsetzung des Beschlusses beschreiben, nur eine Abwehrdiskussion führen, die nicht auf konkreter finanzieller Not beruht?
Ich erkenne sehr wohl, daß bei den Gemeinden Schwierigkeiten bestehen, was die Umsetzung anbelangt; im übrigen nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch in personeller Hinsicht und was die Frage der baulichen Umsetzung anbelangt. Allerdings habe ich hier mehrfach dargelegt, daß die Länder einschließlich ihrer Gemeinden am Steueraufkommen angemessen beteiligt worden sind, so daß sie die ihnen durch die Verfassung übertragenen Aufgaben wahrnehmen können. Daß dabei stets eine Prioritätensetzung erforderlich ist, die von den Ländern und Gemeinden allerdings eigenverantwortlich vorgenommen werden muß, ist selbstverständlich.
Nun liegt kein Wunsch nach einer Zusatzfrage mehr vor. Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Staatssekretärin.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Klinkert zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994 18565
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergIch rufe die Frage 2 des Herrn Abgeordneten Reinhold Hiller auf:Wie beurteilt die Bundesregierung die Rechtmäßigkeit der Einrichtung der mecklenburgischen Deponie Ihlenberg und von Transporten von Sonder- und Hausmüll aus der Bundesrepublik Deutschland und dem übrigen Europa und deren Ablagerung auf der Deponie unter der besonderen Berücksichtigung der Tatsache, daß auf Anweisung der Regierung der damaligen DDR das Löffler-Krüger-Gutachten, das Grundlage für die positive Einschätzung der Sicherheit der Deponie durch die bundesdeutsche Länderarbeitsgemeinschaft Abfall (Laga) und zahlreicher erfolgreicher Prozesse gegen den Senat der Hansestadt Lübeck war, gefälscht oder zumindest im Sinne der Auffassung der Regierung der DDR „geschönt" worden ist?
Herr Kollege Hiller, wenn Sie einverstanden wären, würde ich Ihre Fragen 2 und 3 direkt nacheinander beantworten, weil sich dadurch vielleicht manche Zwischenfrage erübrigt.
Einverstanden?
Ja.
Dann rufe ich auch die Frage 3 auf:
Welche finanzwirtschaftlichen Maßnahmen sind seitens der Bundesregierung als Vorsorge für mögliche Schadensersatzansprüche, die sich aus Amtspflichtverletzungen wegen der Verwendung eines im Auftrag und mit Wissen der Regierung der damaligen DDR gefälschten Gutachtens zur Sicherheit der Deponie Ihlenberg ergeben, getroffen worden?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit bereits eine Vielzahl von Fragen zum Thema Deponie Schönberg, jetzt Ihlenberg, sowie zu Abfallverbringungen in die damalige DDR beantwortet. Aus diesen Antworten geht u. a. hervor, daß die Bundesregierung die zuständigen Bundesländer stets frühzeitig im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Möglichkeiten bei der Beurteilung der Entsorgungsanlagen in der ehemaligen DDR unterstützte. Sie hat jedoch auch wiederholt auf die Grenzen ihrer verfassungsmäßigen Zuständigkeiten hingewiesen.
Die Bundesregierung hat zu keiner Zeit die von der ehemaligen DDR im Jahre 1988 zur Verfügung gestellten Dokumente über die hydrogeologische Situation im Umfeld der Deponie Schönberg bewertet und daraus abgeleitete Aussagen über die Rechtmäßigkeit des Deponiebetriebes sowie die Zulässigkeit der Abfalltransporte nach Schönberg gemacht.
Der Bundesumweltminister war nur insoweit indirekt an der Aktion zur Abklärung möglicher Gefahrenpotentiale in bezug auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beteiligt, als er sich bereits frühzeitig darum bemüht hat, von der ehemaligen DDR relevante Umweltdaten in dem fachlich erforderlichen Umfange zu erhalten. Die DDR hat diesem Anliegen entsprochen und dem BMU-Vertreter anläßlich eines Expertengespräches am 5. Juli 1988 eine fachliche Stellungnahme zur hydrogeologischen Situation im Umfeld der Deponie Schönberg übergeben.
Die darin enthaltenen hydrogeologischen Angaben wurden zunächst einmal von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in ein reines Faktenpapier ohne Bewertung übertragen. Auf der Grundlage dieses Faktenberichts hat dann eine speziell hierfür einberufene Ad-hoc-Arbeitsgruppe, die Länderarbeitsgemeinschaft Abfall, eine Bewertung nach § 13 Abs. 1 des Abfallgesetzes bezüglich einer möglichen Gefährdung des Wohles der Allgemeinheit im Geltungsbereich des Abfallgesetzes durch den Betrieb der Deponie Schönberg vorgenommen. Die Laga-Arbeitsgruppe kam in ihrer mit Datum vom 28. Dezember 1988 vom Vorsitzenden verteilten bewertenden Stellungnahme zu dem in Ihrer Anfrage festgestellten Ergebnis.
Vor diesem Hintergrund gibt es für den BMU keine aus der bisherigen Beteiligung begründete sachliche Zuständigkeit für eine Überprüfung der in der Anfrage angenommenen Manipulation der DDR-Dokumentation. Insbesondere fehlt der Bundesregierung für eine maßgebliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Deponiebetriebes die verfassungsmäßige Zuständigkeit.
Nach Errichtung des Umweltressorts des Landes Mecklenburg-Vorpommern Ende 1990 liegt dort auch die Zuständigkeit für die Deponie Schönberg. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat unter Bezug auf die aufgeworfenen Fragen zur Sicherheit der Deponie Schönberg seine ausschließliche Zuständigkeit gegenüber dem BMU ausdrücklich unterstrichen. Soweit zu Ihrer ersten Frage.
Ihre zweite Frage beantworte ich wie folgt: Wie aus der eben gegebenen Antwort deutlich hervorgeht, bestand für eine Verwendung des dort angesprochenen Gutachtens durch die Bundesregierung weder ein sachlicher Bedarf noch die erforderliche Zuständigkeit. Eine Amtspflichtsverletzung bei der Verwendung des Gutachtens durch die Bundesregierung war somit nicht möglich und das Ergreifen finanzwirtschaftlicher Maßnahmen zur Abdeckung eventueller Schadenersatzansprüche nicht erforderlich.
Sie haben jetzt vier Zusatzfragen. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, steht der Weiterbetrieb des Altteils der Deponie Schönberg nach dem noch in der DDR entwickelten Positiv-Negativ-Katalog im Einklang mit den abfalltechnischen und abfallrechtlichen Zielsetzungen der Bundesregierung?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich hatte Ihnen bereits klarzumachen versucht, daß die Zuständigkeit — und damit auch das Anlegen von Bewertungsmaßstäben — spätestens seit der Errichtung des Umweltministeriums im Lande Mecklenburg-Vorpommern ausschließlich dort liegt.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, welche haftungsrechtlichen Risiken bestehen für die Treuhandanstalt aus dem zeitweiligen Eigentum an der Betriebsgesellschaft der Deponie Ihlenberg?
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18566 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Diese juristische Frage ist im Falle von auftretenden Ansprüchen durch Rechtsstreit zwischen der Treuhandanstalt und dem späteren Übernehmer zu klären. Auch hier besteht seitens des BMU keine direkte Zuständigkeit.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, in diesem Hause ist häufig die Befürchtung geäußert worden, daß enorme Risiken entstehen können, wenn das Trinkwasser in der Region Lübeck gefährdet werden sollte. Ist die Bundesregierung bereit, sich an der Finanzierung eines Gutachtens für ein Programm zur Untersuchung und Sicherung des Lübecker Trinkwassers zu beteiligen?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Auch das ist eine Angelegenheit, die zwischen den betroffenen Ländern zu klären ist — die übrigens Abfall nicht nur annehmen, sondern auch exportieren. Dazu gehört nicht zuletzt das SPD-regierte Land Hamburg. Ich unterstelle der SPD vieles, aber nicht, daß sie die Gesundheit der betroffenen Bürger bewußt aufs Spiel setzt. Insofern empfehle ich Ihnen, Bedenken in dieser Richtung einmal dort zur Sprache zu bringen.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich könnte jetzt fragen, welche Anstrengungen die Bundesregierung in den vergangenen zehn Jahren in dieser Hinsicht unternommen hat. Ich möchte Sie aber lieber danach fragen, welche Folgerungen die Bundesregierung aus der Tatsache ableitet, daß sowohl die CDU-Fraktion im Schweriner Landtag als auch der dortige Umweltminister an den Aussagen und der Beweiskraft der vorhandenen Gutachten, die die Grundlage für die Genehmigung der Deponie sind, zweifeln.
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Wenn der Umweltminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern an den Unterlagen zweifeln sollte, läge es in seiner Zuständigkeit, die daraus resultierenden Maßnahmen zu beschließen.
Was im übrigen die Maßnahmen der Bundesregierung in den letzten zehn Jahren betrifft, verweise ich auf die Vielzahl der von Ihnen gestellten Anfragen in den letzten Jahren und die dazu erhaltenen Antworten.
Ich lasse noch eine Zusatzfrage zu.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß das Land Mecklenburg-Vorpommern auch in Zukunft mit den Risiken dieser Deponie allein wird fertigwerden können?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Sollte das Land Mecklenburg-Vorpommern irgendwann einmal der
Meinung sein, daß das nicht der Fall ist, kann es sich selbstverständlich an das BMU wenden. Bisher ist dieser Schritt nicht erfolgt.
Nunmehr hat eine Zusatzfrage der Abgeordnete Jürgen Koppelin.
Herr Staatssekretär, ich möchte auf den Ursprung der Fragen des Kollegen Hiller zurückkommen und die Bundesregierung fragen: Können Sie bestätigen, daß das Gutachten, was behauptet wird, gefälscht oder geschönt ist?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung liegen zur Zeit keine Anhaltspunkte — weder in der einen noch in der anderen Richtung — vor. Die Länderarbeitsgemeinschaft Abfall hatte seinerzeit an dem Inhalt und den Aussagen dieses Gutachtens — das sich übrigens nicht mit der Deponie selbst beschäftigte, sondern mit ihren möglichen Auswirkungen auf das Gebiet der alten Bundesländer — keinerlei Zweifel.
Die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, auf Grund einer Antwort darf ich weiter fragen: Wie beurteilt die Bundesregierung den Tatbestand, daß der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg seit Jahren den Ausstieg aus Schönberg dadurch durchführt, daß er immer mehr Müll nach Schönberg liefert?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Hier geht es wieder um eine Zuständigkeit, die Sie bitte in Hamburg klären müssen. Ich glaube, daß der Hamburger Senat aus den vorgelegten Unterlagen für sich und die Umgebung der Deponie Schönberg, zu der ja auch die Stadt Lübeck gehört, keine direkte Gefährdung ableitet und im übrigen sehr wohl darauf angewiesen ist, den Hamburger Abfall auf Deponien loszuwerden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Küster.
Herr Staatssekretär, auf Grund einer Antwort, die Sie vorhin gegeben haben, habe ich noch eine Nachfrage. Wie stellt sich prinzipiell die haftungsrechtliche Seite dar, wenn Verwaltungsentscheidungen der DDR fälschlicherweise getroffen wurden, wie möglicherweise bei der Deponie Schönberg oder in ähnlich gelagerten Fällen? Wer haftet zukünftig für solche Dinge: das Land oder der Bund?Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Das ist eine juristische Frage, deren Beantwortung nicht im Zuständigkeitsbereich des BMU liegt. Im übrigen gehe ich davon aus, daß sich im Jahre 4 der deutschen Einheit, in dem diese Deponie immer noch betrieben wird, diese Frage in diesem Zusammenhang als null und nichtig erweisen sollte.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994 18567
Dr. Küster, Sie haben noch eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie bitten, gerade dieser Frage noch einmal Aufmerksamkeit angedeihen und uns zu diesem Punkt eine entsprechende Antwort zukommen zu lassen.
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Das nehme ich zur Kenntnis.
Herr Abgeordneter Kubatschka.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade gesagt, Sie unterstellen der SPD vieles. Was unterstellen Sie der SPD in diesem konkreten Fall?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Ich habe diese Frage allgemein beantwortet. Es übersteigt die Möglichkeiten der jetzigen Fragestunde, auf alles einzugehen, was ich der SPD unterstelle. Ich wiederhole aber, daß ich ihr nicht unterstelle, daß sie die Gesundheit der Menschen bewußt aufs Spiel setzt.
Nun möchte ich aber darauf aufmerksam machen, daß sich die Fragesteller bemühen sollten, daß ein direkter Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Frage und den Zusatzfragen besteht, und daß nicht aus den Antworten heraus neue Fragen entwickelt werden sollten.
Herr Kollege Kubatschka.
Das heißt, in dieser konkreten Angelegenheit Schönberg unterstellen Sie der SPD nichts?
Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär: Ich habe diese Frage nicht mit Ja und nicht mit Nein geklärt. Ich nehme nur zum einen zur Kenntnis, daß die SPD im Deutschen Bundestag beklagt, daß die Deponie Schönberg weiterbetrieben wird, während ich zum anderen feststelle, daß SPD-regierte Länder jährlich Hunderttausende von Tonnen Müll weiterhin nach Schönberg liefern.
Herr Staatssekretär, damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich bei Ihnen.
Den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft brauche ich nicht aufzurufen, weil die Abgeordnete Christa Lörcher um schriftliche Beantwortung ihrer Fragen 4 und 5 gebeten hat. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Hier steht uns Herr Staatssekretär Wighard Härdtl zur Verfügung. Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Wallow auf:
In welcher Form hat die Bundesregierung indirekt oder direkt die Inkatha-Institute mit BMZ-Steuermitteln über die KonradAdenauer-Stiftung oder andere Organisationen finanziert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist bemüht, mit der Förderung vielfältiger gesellschaftspolitischer Maßnahmen der politischen Stiftungen und anderer privater Träger zu einem erfolgreichen demokratischen Wandel in Südafrika beizutragen. Sie hält dabei Projekte, die die Dialogbereitschaft der südafrikanischen Parteien untereinander fördern und zum Abbau von Demokratiedefiziten in der südafrikanischen Gesellschaft beitragen, für besonders wichtig und stellt dafür Haushaltsmittel zur Verfügung.
Im Rahmen des Demokratieentwicklungsprogramms arbeitet die Konrad-Adenauer-Stiftung auch mit Inkatha-Organisationen und nahestehenden Organisationen zusammen.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, welche konkreten Maßnahmen sind in Zusammenarbeit mit dem Inkatha-Institut durchgeführt bzw. finanziert worden?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Eine konkrete Maßnahme ist das Demokratieentwicklungsprogramm mit dem Inkatha Ressource and Information Center. Dieses Programm läuft bereits seit mehreren Jahren. Dafür sind Haushaltsmittel in einer Größenordnung von insgesamt 6 Millionen DM zur Verfügung gestellt worden. Das Programm läuft von 1983 bis 1995.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung die Inkatha-Bewegung für eine Organisation, die sich in Zukunft nach demokratischen Regeln entwickeln und auf Gewalttaten verzichten wird?
Wighard Härdtl, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich sagte bereits, daß die Bundesregierung den demokratischen Wandel insgesamt unterstützt, und zwar mit allen politischen Stiftungen — das sind fünf an der Zahl —, die in Südafrika tätig sind. Wir sind der Auffassung, daß keine politische Gruppierung von diesem Prozeß ausgeschlossen werden sollte. Das Verhalten der Inkatha-Führung, sich aus dem Prozeß in Südafrika nicht auszuschalten, ist in den jüngsten Gesprächen ja deutlich geworden.
Die Frage der Gewalttaten, Herr Abgeordneter, sowie die Frage, wer für welche Gewalttaten wann verantwortlich ist, läßt sich selbst in Südafrika nur schwer beantworten; schon gar nicht kann sie von hier aus beantwortet werden.
Danke schön. — Weitere Wünsche nach Zusatzfragen liegen mir nicht vor. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär.Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie und Senioren auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns die Parlamentarische
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18568 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergStaatssekretärin Roswitha Verhülsdonk zur Verfügung.Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Michael Habermann auf:Wie beurteilt die Bundesregierung die Entschließung der Familienverbände anläßlich der Tagung der Deutschen Liga für das Kind am 21. Februar 1994 in Bonn?
Herr Kollege Habermann, bei der von Ihnen zitierten Entschließung handelt es sich nicht urn eine EntschlieBung der Familienverbände, sondern um eine von den Teilnehmern der Arbeitstagung „Die familienpolitische Strukturreform des Sozialstaats: Verfassungsauftrag ohne Folge" verabschiedete Entschließung. Die unter diesem „Tagungsergebnis" aufgeführten Verbände sind in ihren dafür zuständigen Gremien mit diesem Papier nicht befaßt worden; das hat eine Rückfrage ergeben.
Zum Inhalt der Resolution stellt die Bundesregierung fest, daß die wirtschaftliche Situation der Familien differenzierter zu sehen ist, als es in dieser Entschließung zum Ausdruck kommt. Ganz entschieden weist die Bundesregierung die Unterstellung zurück, daß den Vorgaben für die steuerliche Freistellung des Existenzminimums nicht Rechnung getragen worden ist. Den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai und 12. Juni 1990 ist durch einen Kinderfreibetrag von 4 104 DM und ein Mindestkindergeld von 70 DM entsprochen worden.
Ziel der Bundesregierung ist es, die in den vergangenen Jahren eingeleiteten Weichenstellungen für eine weitergehende Familienförderung Schritt für Schritt auszubauen. — Darüber haben wir noch heute morgen im Ausschuß debattiert. — Dabei ist es Ziel der Bundesregierung, den Kinderfreibetrag auf die Höhe des Existenzminimums anzuheben — d. h. des dann anzurechnenden Existenzminimums, da das ja eine Größe ist, die sich verändert — und das Kindergeld von diesem Zeitpunkt an bedarfsorientiert neu zu gestalten.
Voraussetzung für eine Fortentwicklung der Familienförderung ist die Möglichkeit, dafür entsprechende Mittel im Bundeshaushalt bereitzustellen, sowie die Unterstützung der entsprechenden Maßnahmen durch die Mehrheit des Parlaments. In diesem Sinne sieht die Bundesregierung in der Entschließung eine Unterstützung der auch von ihr vorgesehenen Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs.
Zusatzfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Habermann.
Frau Staatssekretärin, wie beurteilen Sie die in der Entschließung genannten familienpolitischen Leistungskürzungen von etwa 6 Milliarden DM allein für 1994, und zu welchem Zeitpunkt in dieser Legislaturperiode wollen Sie die von Ihnen angekündigten Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Kinderlastenausgleichs dem Parlament konkret vorlegen?
Herr Kollege, Sie wissen, daß diese Legislaturperiode nach Ostern — es beginnt ja jetzt die Osterpause — noch ganze sechs Sitzungswochen umfaßt. Sie werden also als alter Fuhrmann nicht erwarten, daß man in sechs Wochen in dieser Frage noch eine Gesetzgebung in Gang setzen kann. Ich gehe aber davon aus, daß die Parteien — sowohl die CDU und die CSU als auch die F.D.P. —, die diese Regierung tragen, in ihren Wahlaussagen, die ja in diesem Jahr relevant sind, die entsprechenden Perspektiven zur Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs vortragen, den Wählern diese vorstellen und in der nächsten Legislaturperiode danach auch handeln werden.
Zum ersten Teil Ihrer Frage, der sich offensichtlich auf die hier angegebenen Kürzungen in Höhe von 6 Milliarden DM im Jahre 1994 bezieht, habe ich mir auch Gedanken gemacht, wie die Rechnung zustande gekommen ist.
Ich gehe einmal davon aus, daß ein geringerer Ansatz beim Bundeserziehungsgeldgesetz, der im Haushalt von vornherein vorgesehen war, hineingerechnet worden ist, der aber auf der Tatsache beruht, daß in den neuen Ländern die Geburtenzahlen rückläufig sind, folglich also bei diesem Leistungsgesetz von vornherein mit weniger Ausgaben zu rechnen war, auch auf Grund der Zahlen, die im letzten Jahr ausgegeben worden sind.
Bei dem SKWP-Gesetz — Sie waren ja daran beteiligt und haben diesen Teil intensiv mitberaten -- sind Einsparungen in Höhe von 1,21 Milliarden DM im Bereich des Kindergeldes erfolgt, vorwiegend durch Einziehung einer neuen, sehr hohen Einkommensgrenze. Oberhalb dieser Grenze erhalten Familien mit mehr als drei Kindern nur noch den gesockelten Kindergeldbetrag von 70 DM. Es sind auch Bestimmungen zur Anrechnung eigenen Einkommens der Kinder neu in Kraft getreten. Dies macht 1,2 Milliarden DM aus.
Im Erziehungsgeldgesetz sind Einsparungen dadurch eingetreten, daß ein sehr kleiner Personenkreis, der über 140 000 DM im Jahr verdient, künftig kein Erziehungsgeld mehr erhält und daß die Anrechnung des Einkommens aktualisiert worden ist. Ansonsten kann ich mir die Zahl von 6 Milliarden selbst nicht erklären.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, in dieser Entschließung wird angekündigt, daß Familien möglicherweise in Massen so steht es hier wörtlich — in Karlsruhe klagen werden. Unter anderem spielt dabei die Frage des Kindergeldzuschlags und der Vorenthaltung dieses Zuschlags für untere Einkommensgruppen eine Rolle, nachdem der neue Steuertarif 1993 bis 1996 für die unteren Einkommen gilt.Meine Frage an Sie: Beabsichtigt die Bundesregierung, im Laufe der nächsten Monate diese soziale Ungerechtigkeit durch eine entsprechende Maßnahme — als Gesetzesvorlage oder in Form einer Verwaltungsvorschriftenänderung — noch zu korrigieren?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994 18569
Zunächst weise ich zurück, daß es sich bei den derzeitigen Regelungen um eine Ungerechtigkeit handelt. Es wird niemand schlechter behandelt als bisher. Aber dies haben wir ja auch in einer Fragestunde kürzlich behandelt. Ich verweise also auf die Aussagen, die zu diesem Punkt hier gemacht worden sind, insbesondere auf die Rede meiner Ministerin innerhalb der Aktuellen Stunde, die Ihre Fraktion zu diesem Thema beantragt hat.
Ansonsten gilt auch hier, daß in den verbleibenden sechs Sitzungswochen ein solches Gesetzgebungsverfahren praktisch gar nicht mehr möglich ist, da es sich in diesem Falle, wenn man Korrekturen vornehmen wollte, ja nicht um Änderungen des Kindergeldrechts oder des Kindergeldzuschlagrechts handeln würde, sondern um komplizierteste Änderungen im Steuerrecht. Ich habe hier schon einmal darauf hingewiesen, daß in einer Übergangszeit, wenn auf Grund von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich neue Regelungen auch für den Grundfreibetrag eintreten und eine Übergangsregelung greift, nicht alle Feinheiten der Auswirkungen in Gesetzgebung umgesetzt werden müssen, sondern daß auch da der Spielraum der Regierung ausreicht, um bis zur endgültigen Regelung des neuen Grundfreibetrages diese Probleme anzupacken und zu lösen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Riegert.
Frau Staatssekretärin, Sie haben bestätigt, daß lediglich einzelne Mitglieder der Familienverbände anläßlich einer Tagung die Entschließung abgefaßt haben und daß die Entschließung keinesfalls auf Beschlüssen der Verbände beruht. So hat z. B. der Zentralverband des deutschen Kolpingwerkes erst auf Nachfrage der Arbeitsgruppe unserer Fraktion überhaupt von der Entschließung erfahren. Ebenso bezeichnet der Familienbund der deutschen Katholiken die Entschließung maximal als Tagungsresolution, da kein Vorstandsbeschluß gefaßt worden sei.
Halten Sie es für zweckmäßig, über alle Tagungsergebnisse in Deutschland zu den verschiedensten Themen im Plenum des Deutschen Bundestages zu diskutieren?
Herr Kollege Riegert, ich halte es nicht für sehr zweckmäßig; aber ich kann nichts dagegen tun, wenn Kollegen aus dem Parlament einen solchen Tagungsergebnisbericht zum Anlaß nehmen, grundsätzliche Fragen zur Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs an die Regierung zu stellen.
Ich danke Ihnen aber sehr für den Hinweis, den Sie gegeben haben, daß die Verbände doch auch ihrerseits Ihnen gegenüber auf Rückfrage darauf hingewiesen haben, daß es in den zuständigen Beschlußgremien keine Befassung mit dieser Entschließung gegeben hat.
Es war offensichtlich so, daß zu dieser Tagung aus dem Bereich aller Familienverbände in großem Umfang Gäste geladen waren, die sich mit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Verband in eine Anwesenheitsliste eingetragen haben. Auf Grund der Anwesenheitsliste sind dann hier alle Verbände als mitbeschließend aufgeführt worden. Die Methode ist nicht sehr elegant und nicht sehr redlich. Außerdem hat eine solche Sache sehr kurze Beine, denn es erweist sich schon bei der ersten parlamentarischen Beratung, daß das Gewicht, das dieser Sache durch die vielen Adressen, die darunter stehen, scheinbar gegeben werden soll, gar nicht gegeben ist.
Herr Abgeordneter Ortwin Lowack möchte eine Zusatzfrage beantwortet haben.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, wohin nach den von Ihnen selbst eingeräumten erheblichen Streichungen familienpolitischer Leistungen die entsprechenden Gelder gewandert sind?
Sie meinen, für was sie verwandt werden? Ich nehme an, daß sie das Defizit decken oder die Finanzprobleme des Bundes lösen helfen, die dadurch entstanden sind, daß die Bundesregierung gezwungen ist, in einem sehr großen Umfang Finanzströme des Bundes in die neuen Länder hineinzulenken.
Die Formel „Jede vierte Steuermark geht in den Aufbau der neuen Länder" dürfte Ihnen, Herr Kollege, auch bekannt sein. Mit den Mitteln, die der Bund durch Einsparungen in allen Bereichen, in allen Haushalten, in einem begrenzten Umfange auch in unserem Haushalt, vorgenommen hat, werden Infrastrukturmaßnahmen, Stabilisierungsmaßnahmen für die Wirtschaft, für Betriebe in den neuen Ländern geleistet. Insoweit kommt das, was geleistet wird, den Familien zugute, denn die beste Politik für Familien ist, wenn man sichere Arbeitsplätze für die Väter und Mütter dieser Familien schafft, was wir in den neuen Ländern zur Zeit mit allem Nachdruck betreiben, mit der Kraft, die der Bund dafür aufwenden kann.
Danke schön, Frau Staatssekretärin. Damit ist Ihr Geschäftsbereich erledigt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit auf. Hier steht uns der Staatssekretär Baldur Wagner zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 8 des Abgeordneten Hubert Hüppe auf:
Vor dem Hintergrund der Untersuchung der amerikanischen Food and Drug Administration, daß auf dem Wege einer bewußten Manipulation des Nikotingehaltes durch die Tabakindustrie ein anhaltendes Suchtverhalten der Raucher gefördert wird, frage ich die Bundesregierung, ob ein ähnliches Vorgehen bei in Deutschland vertriebenen Zigarettenmarken bekannt ist bzw. ob Untersuchungen in dieser Richtung durchgeführt werden?
Herr Abgeordneter, in der Bundesrepublik Deutschland muß der Nikotingehalt auf den Zigarettenpackungen angegeben werden. Die Einhaltung dieser Vorschrift wird von den für die Lebensmittelüberwachung zuständigen Landesbehörden überwacht. Über eine Manipulation des Nikotingehalts durch Zusatz von Nikotin in Zigaretten
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18570 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994
Staatssekretär Baldur Wagnerliegen der Bundesregierung keine Informationen vor.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Hüppe.
Auf Grund der Ergebnisse und auf Grund der Meldung, auf die ich mich beziehe, wurde behauptet, daß zunächst einmal der Nikotingehalt aus den Blättern herausgezogen wird und anschließend wieder hineingeführt wird, und zwar zum Teil auch mit einem anderen Gehalt, als der Tabak ihn naturgemäß hätte. Jetzt frage ich die Bundesregierung, ob es solche Erkenntnisse gibt bzw. ob geprüft wird, ob ein solches Verfahren auch in Deutschland angewendet wird.
Baldur Wagner, Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß Sie eine Information des FDA meinen. Uns liegt diese Untersuchung nicht vor. Wir kennen auch nicht die Hintergründe dieser Untersuchung. Wir werden uns an das FDA wenden, um nähere Informationen zu bekommen. Vor dem Hintergrund dessen, was ich gesagt habe, halte ich eine besondere Untersuchung ohne konkrete Hinweise in Deutschland nicht für erforderlich.
Zweite Zusatzfrage.
Das heißt aber auch, daß Sie es nicht ausschließen können, daß ein solches Verfahren bei in Deutschland vertriebenen Zigaretten angewendet wird?
Baldur Wagner, Staatssekretär: Das ist korrekt. Uns liegen keine Informationen vor. Wir kennen die Hintergründe und die Ergebnisse der amerikanischen Studie nicht. Wir werden sie zu Rate ziehen. Wir werden natürlich auch mit den Partnern aus den Ländern in dieser Frage Kontakt aufnehmen. Wenn es dafür einen Anhaltspunkt gibt, werden wir natürlich handeln.
Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Dr. Willfried Penner werden auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 11 der Abgeordneten Dr. Marliese Dobberthien auf:
Wird die Bundesregierung sich in der Diskussion zur NovelFood-Verordnung im Binnenmarkt-Rat entsprechend den parlamentarischen Voten, nämlich dem Beschluß des Gesundheitsausschusses am 25. November 1993 anläßlich der Beratung des SPD-Antrages „Einsatz der Gentechnik und anderer neuartiger biotechnologischer Verfahren in der Lebensmittelproduktion" und dem Beschluß des Europäischen Parlaments, für eine Kennzeichnung einsetzen, die folgenden Kriterien genügt: die Kennzeichnung ist verpflichtend, die Kennzeichnungspflicht bezieht sich auf alle neuartigen Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die Kennzeichnungspflicht umfaßt sämtliche Lebensmittel und Lebensmittelzutaten aus gentechnischer Herstellung, auch wenn das Endprodukt keine gentechnisch veränderten Organismen mehr enthält, und die Kennzeichnung ist für die Verbraucher/Verbraucherinnen eindeutig und klar erkennbar?
Baldur Wagner, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, sind Sie damit einverstanden, daß ich beide Fragen im Zusammenhang beantworte?
Ja.
Dann rufe ich auch die Frage 12 der Abgeordneten Dr. Dobberthien auf:
Wird die Bundesregierung daher die im Verordnungsentwurf lediglich vorgesehene Unterrichtung der Verbraucher/Verbraucherinnen nur bei etwaigen signifikanten Unterschieden zwischen den Merkmalen der neuartigen Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten und den Merkmalen gleichwertiger herkömmlicher Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten als völlig unzureichend in der Debatte im Binnenmarkt-Rat zurückweisen?
Baldur Wagner, Staatssekretär: Vielen Dank. — Die Vorschläge der Europäischen Kommission im geänderten Verordnungsvorschlag über die spezielle Kennzeichnung neuartiger Lebensmittel und neuartiger Lebensmittelzutaten sind nicht ausreichend. Die Bundesregierung hat weitergehende Vorschläge, insbesondere was die Kennzeichnungspflicht angeht. Sie setzt sich für klare Kennzeichnungsregelungen ein, die dem Verbraucherbedürfnis nach eindeutiger Information gerecht werden.
Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, sollen nach Auffassung der Bundesregierung durch Hinweise auf die gentechnische Veränderung gekennzeichnet werden. Bei diesen Produkten kann nicht akzeptiert werden, besondere Kennzeichnungen nur dann vorzunehmen, wenn signifikante Unterschiede zu herkömmlichen Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten bestehen.
Auch Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus gentechnisch veränderten Organismen gewonnen werden — das ist z. B. der sogenannte Gen-Tomatensaft — sollen grundsätzlich gekennzeichnet werden. Allerdings wissen Sie auch: Wir haben das europäisch zu regeln. Es gibt eine Vielzahl von Partnern. Ich glaube, wir müssen uns in diesem Bereich sprachfähig, kompromißfähig und damit entscheidungsfähig halten.
Bei den übrigen neuartigen Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten wird die Entscheidung über eine Kennzeichnung im Einzelfall im Rahmen des Zulassungsverfahrens als sachgerecht angesehen.
Frau Abgeordnete Dr. Dobberthien, die Fragestunde ist fast zu Ende. Ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, Ihre Zusatzfragen zu stellen, wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie es sehr konzentriert machen würden.
Danke schön, Herr Präsident. — Ich würde nachfassend gerne wissen, ob die Bereitschaft der Bundesregierung, die Sie gerade signalisierten, hier noch Verbesserungen durchzusetzen, auch umfassen kann, daß Sie sich dafür einsetzen, daß Enzyme und Zusatzstoffe, die gentechnisch verändert wurden, in den Geltungsbereich der Verordnung aufgenommen werden.Baldur Wagner, Staatssekretär: Wir sind der Auffassung, daß die umfassende Kennzeichnungspflicht, die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994 18571
Staatssekretär Baldur Wagnerdie Bundesregierung in diesem Bereich vorschlägt, kaum zu übertreffen sein wird. Wir haben auch Probleme mit der Vorlage, insbesondere was die Abgrenzung zwischen den neuartigen und den gentechnisch veränderten Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten angeht. Die Frage, die Sie jetzt im einzelnen konkret gestellt haben, werden wir im Laufe der weiteren Beratungen prüfen müssen.
Zusatzfrage.
Eine Zusatzfrage bitte noch: Ich würde gerne wissen, wie weit die Kompromißbereitschaft, die Sie signalisieren, geht. Ich denke, im Sinne des mündigen Verbrauchers, der einen Anspruch auf eine umfassende Kennzeichnung haben sollte, darf die Kompromißbereitschaft der Bundesregierung nur sehr eng zu verstehen sein.
Baldur Wagner, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, ich habe deutlich gemacht, daß die Bundesregierung eine sehr umfassende Kennzeichnungspflicht anstrebt. Ich habe im zweiten Teil meiner Ausführungen gleichzeitig deutlich gemacht, daß selbst in den Bereichen, wo es sich urn Beispiele wie diesen gentechnisch veränderten Tomatensaft handelt, die Bundesregierung grundsätzlich eine Kennzeichnungspflicht will. Nur, wir werden in Europa mit unseren Partnern reden müssen. Es hat ja keinen Sinn, wenn wir uns in keinem der Punkte sprechbereit zeigen. Dann sind wir auch von Entscheidungen ausgeschlossen. Wir wollen ja ein gutes Ergebnis in Europa haben. Das ist unser Ziel, und nach unserer Vorstellung soll dieses Ergebnis natürlich so nahe wie möglich an den Positionen der Bundesregierung liegen.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe dann den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abschiebung von Flüchtlingen und Deserteuren nach Rest-Jugoslawien über Rumänien
Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Anderung des Asylrechts, die am 26. Mai 1993 beschlossen wurde, hat der Deutsche Bundestag den Weg frei gemacht für die unmenschliche und unwürdige Flüchtlingspolitik, die nun mit der angedrohten Abschiebung von mehr als 200 000 jugoslawischen Bürgerkriegsflüchtlingen einen traurigen Höhepunkt erfährt.Anlaß für diese Aktuelle Stunde ist der heimtückische Versuch der Bundesregierung, sich der verfolgten, an Leib und Leben bedrohten Flüchtlinge aus dem zerfallenen Jugoslawien zu entledigen. Was die Öffentlichkeit aufschreckt, ist die große Anzahl der Flüchtlinge, die aus Deutschland ausgewiesen werden sollen. Dabei wurden doch seit Inkrafttreten der neuen Asylgesetze regelmäßig Menschen in Bürgerkriegsgebiete abgeschoben. Anscheinend wird das hierzulande aber erst dann als Skandal empfunden, wenn Hunderttausende davon betroffen sind. Nein, die Abschiebung eines jeden einzelnen Menschen — jedes Kindes, jeder Frau, jedes Mannes — in ein Bürgerkriegsland ist ein beschämender und ungeheurer Skandal.Besonders Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, die auch deportiert werden sollen, sind gefährdet: Hohe Freiheitsstrafen oder der Einsatz an Todesfrontabschnitten erwarten sie. Seit den Massenmobilisierungen im Herbst 1991 sind zwischen 110 000 und 200 000 junge Männer aus Serbien und Montenegro als Wehrdienstverweigerer ins Ausland geflüchtet. Sie haben von ihrem Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch gemacht, einem Menschenrecht, das die Serben nicht kennen, sondern mit hohen Freiheitsstrafen verfolgen.Skandalös ist es insbesondere, wie die Bundesregierung dabei vorgeht. Weil die Tschechische Republik neuerdings Durchreisevisa für die abzuschiebenden Flüchtlinge fordert, sollte ein schmutziger Deal mit Rumänien gemacht werden. Aber nicht das Auswärtige Amt hat das vorbereitet, sondern der Bundesgrenzschutz hat mit den rumänischen Behörden, dem dortigen Grenzschutz und der Fluggesellschaft Tarom verhandelt. Auf dieser Ebene war der Deal auch perfekt. Die rumänische Fluggesellschaft Tarom zeigte sich geldgierig genug, die Flüchtlinge zurück in ihr Elend zu bringen. Ich denke, niemand, der einen Funken Anstand im Leibe hat, sollte noch jemals die Dienste dieser Mafia-Airline in Anspruch nehmen.Ungleich gewichtiger ist aber der politische Skandal. Hat Deutschland wirklich keinen handlungsfähigen und kompetenten Außenminister mehr? Dürfen die Beamten des Innenministeriums wirklich wieder einmal, wie schon bei den beschämenden und erpresserischen Verhandlungen mit Polen, die Deutschen in Mißkredit bringen? Ich frage die Bundesregierung: Welche Garantien hat die Bundesregierung von Rumänien für die Sicherheit der abzuschiebenden Flüchtlinge verlangt? Oder haben Sie nur über das Kopfgeld verhandelt?Erst in dieser Woche hat nach meinen Informationen das Auswärtige Amt die rumänische Regierung offiziell über das unterrichtet, was die Grenzschutzbeamten ausgeküngelt hatten. Erfreulicherweise hat sich die rumänische Regierung nicht erpressen lassen und das deutsche Ansinnen zurückgewiesen. Diese Art Außenpolitik, die vom Innenminister diktiert wird, schädigt das Ansehen Deutschlands und ist eine Zumutung für alle in diesem Land. Ich fordere den Außenminister nachdrücklich auf, sein Amt endlich wieder wahrzunehmen und sich die ständigen schädlichen Expeditionen des Innenministers zu verbitten.
Die Bundesregierung hat heute bestätigt, daß sie sich am morgigen Donnerstag an einem Treffen in Wien beteiligen wird, auf dem mehrere europäische Staaten — darunter die Schweiz, Österreich, Norwegen, die Niederlande und die Bundesrepublik
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18572 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994
Konrad Weiß
Deutschland — ihre Abschiebepolitik abstimmen wollen. Daß auch andere europäische Staaten die Flüchtlinge in die Bürgerkriegsgebiete zurückschieben, ist längst kein Geheimnis mehr. Aber das kann doch für die deutsche Regierung keine Rechtfertigung sein, nun ihrerseits rücksichtslos abzuschieben.Ich frage die Bundesregierung: Trifft es zu, daß die am Wiener Treffen beteiligten Länder in einer konzertierten Aktion die vergewaltigten Frauen, die desertierten Soldaten, die elternlosen Kinder, die verfolgten Oppositionellen, die Deserteure und die Wehrdienstverweigerer, die zahllosen verwundeten, hungernden, notleidenden, heimatlosen Flüchtlinge zurückschicken wollen — ohne Rücksicht auf ihre Sicherheit?BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert die Bundesregierung auf, die Abschiebungen sofort einzustellen, für einen menschenwürdigen Aufenthalt der Flüchtlinge in Deutschland Sorge zu tragen und alle Verhandlungen mit Drittstaaten über Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz gesucht haben, abzubrechen. Wir erwarten von der Bundesregierung und den Parteien, die dem Asylkompromiß zugestimmt haben, endlich die seinerzeit angekündigten aufenthaltsrechtlichen und sozialen Regelungen für Flüchtlinge zu verwirklichen.Wir fordern die Bundesregierung auf, für Kosovo-Albaner Aufenthaltsbefugnisse zu erteilen, Abschiebungen auszusetzen und sich auf der Konferenz der Innenminister dafür einzusetzen, daß die Bundesländer entsprechend verfahren. Flüchtlinge, die sich mit oder ohne Visum im Bundesgebiet aufhalten, sollten als Kontingentflüchtlinge anerkannt werden sowie Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis haben.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richtet schließlich an die Bundesregierung und an die Innenminister der Länder den dringenden Appell, von einer Abschiebung der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer abzusehen und ihnen einen gesicherten Rechtsstatus zu verleihen, der auf Dauer ihre Abschiebung verhindert. Durch die ausdrückliche Unterstützung von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern könnte die Bundesrepublik Deutschland dazu beitragen, die militärische Macht der Aggressoren im früheren Jugoslawien zu schwächen, und somit einen aktiven Beitrag zur Befriedung des Landes leisten.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Meinrad Belle das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! So etwas habe ich hier, in diesem Saal, noch nicht gehört, so etwas Entstellendes. Da wird der Sachverhalt auf den Kopf gestellt; da wird behauptet, wir verhielten uns schändlich, es sei beschämend, wir würden uns rücksichtslos verhalten.
Ich frage: Was ist denn Sache, meine Damen, meine Herren?Deutschland steht mit der Aufnahme von rund 400 000 Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien an der Spitze aller Nationen auf der Welt. Wir in Deutschland allein haben mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen als alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammen. Deutschland hat unmittelbar und über die Europäische Union Hilfe vor Ort im Werte von rund 500 Millionen DM geleistet. Da sagt der Kollege Weiß, das, was wir machen, ist schändlich, es ist beschämend, er schämt sich für unser Verhalten.
Meine Damen und Herren, so kann nicht argumentiert und diskutiert werden. Jedem Bürgerkriegsflüchtling war von vorneherein klar, daß sein Auf enthalt in Deutschland nur begrenzt sein kann und daß es kein Aufenthalt auf Dauer sein kann. Der Kollege Weiß hat davon gesprochen, daß jetzt 200 000 Flüchtlinge zurückgeführt werden sollen. 250 000 dieser 400 000 Flüchtlinge kommen aus Bosnien-Herzegowina; etwa 60 000 kommen aus Kroatien. Es sind nach Sachlage voraussichtlich etwa 40 000 bis 50 000 Flüchtlinge, die in die Bereiche Restjugoslawiens zurückgeführt werden können, in denen kein Bürgerkrieg herrscht.
Der Unterschied besteht also zwischen 40 000 bzw. 50 000 und 200 000 Personen.Nun, meine Damen und Herren, jeder Bürgerkriegsflüchtling wußte, daß er zurückgeführt werden muß und daß es so nicht bleiben kann. Es sind in der Innenministerkonferenz Regelungen getroffen worden, die zu einer in humanitärer Weise ablaufenden Rückführung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Kroatien führen sollen. Zwischenzeitlich wurde nun das Embargo der Vereinten Nationen gegen Serbien aufgehoben. Damit sind auch Flugverbindungen wieder möglich. Ich frage: Warum soll denn jetzt, unter diesen Umständen, die seit über 2 Jahren unterbrochene Rückführung von Flüchtlingen aus den nicht vom Bürgerkrieg betroffenen Teilen Restjugoslawiens, insbesondere Serbien, nicht aufgenommen werden? Was spricht denn dagegen? Dort ist kein Bürgerkrieg. Warum sollen denn die Menschen hier bleiben? Vergessen wir doch auch nicht, daß die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien mehrmals ihr erhebliches Interesse an der Rückführung der Bürgerkriegsflüchtlinge erklärt haben. Diese jungen Menschen werden dort auch zum Wiederaufbau gebraucht.
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Meinrad BelleWenn ihre Rückkehr verlangt wird, können wir uns dem doch nicht verschließen. Wir können uns dieser Rückkehrverpflichtung nicht entziehen.
— Das ist die Tatsache; das ist die Wahrheit, Herr Bindig.Wenn nun Absprachen des Innenministeriums mit den zuständigen Stellen über die Rückführung und mit ausländischen Luftfahrtgesellschaften über die geordnete und geregelte Rückführung getroffen werden, dann kann doch ein derartiges Verhalten nicht beanstandet werden. Im Gegenteil, ich bin der Meinung: Der Bundesinnenminister erfüllt sachgerecht seine Aufgaben. Es muß natürlich hier zu einer klaren Regelung kommen.Jetzt komme ich noch auf den entscheidenden Punkt, meine Damen und Herren: Die Entscheidungen im Ausländerrecht — das wissen Sie genauso wie ich —, insbesondere die Abschiebungen, gehören nach unserer Verfassungslage in die Zuständigkeit der Bundesländer.
Zu Recht achten unsere Bundesländer auch darauf, daß diese Zuständigkeitsregelungen beachtet werden. Der Bundesinnenminister hat hier kein Weisungs- und kein Kontrollrecht. Er ist auch nicht der Vorgesetzte der Länderinnenminister. Die jetzt in Nordrhein-Westfalen vorgesehene Rückführung von Flüchtlingen entzieht sich dann einfach auch der Beurteilung durch die Bundespolitik. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß das Land Nordrhein-Westfalen nicht nach Recht und Gesetz verfahren würde, wenn das nun losgehen sollte und losgehen könnte. Der Innenminister Herbert Schnoor hat nach Presseberichten klipp und klar erklärt, daß er nicht nur die Prüfung jedes Einzelfalles zusichert, sondern er hat auch zusätzlich erklärt, daß eine Abschiebung nur in den Fällen, in denen sie ohne Gefahr für Leib und Leben möglich ist, auch tatsächlich durchgeführt werde.Unter diesen Umständen, meine Damen und Herren, gehen die Vorwürfe gegen den Bundesinnenminister und gegen die Bundesregierung ins Leere. Sie können bei einigermaßen objektiver Würdigung gar nicht aufrecht erhalten werden, und ich weise sie entschieden zurück.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben in diesen Wochen immer wieder eine rege öffentliche Auseinandersetzung über das Wohl und Wehe der Bürgerkriegsflüchtlinge. Vor kurzem war es das Schicksal der Kroaten. Gottlob sind die Innenminister von ihren ursprünglichen pauschalen Abschiebungsplänen ab 1. Mai dieses Jahres abgerückt. Sie haben ein modifiziertes, zeitlich gestrecktes Verfahren beschlossen.Heute sprechen wir über die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und Deserteure nach Restjugoslawien. Im einen wie im anderen Fall geht es um den Konflikt zwischen Gesetz und Einzelschicksal. Rechtlich mag es keine Einwände gegen die jetzt bevorstehenden Rückführungen geben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben auch nach den Kategorien politischer Moral zu handeln.
Die Bundesrepublik hat fast 400 000 Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien aufgenommen, mehr als andere Staaten Europas. Nur brauchen wir uns deshalb nicht lobend auf die Schulter zu klopfen, Herr Belle.
Schließlich stehen wir schon aus historischen Gründen in der Pflicht zum starken, humanitären Einsatz, weil der bewaffnete nicht in Betracht kommt.
Deswegen kann unsere Antwort in dieser Frage nur lauten: Gerade, weil die Lage auf dem Balkan so unübersichtlich und so schwierig ist, taugen pauschale Lösungen nicht; weder ein allgemeines, umfassendes Bleiberecht für alle, noch kurzfristige, undifferenzierte Rückführungsaktionen, die sich nur an den Vorschriften orientieren.Gefordert sind äußerst differenzierte und behutsame Vorgehensweisen. Entscheidend muß sein, ob den Flüchtlingen Gefahr für Leib und Leben droht und ob sie auf halbwegs erträgliche Bedingungen bei ihrer Rückkehr stoßen. So dürfen wir sie nicht in Gebiete schicken, die völlig zerstört sind, oder in denen die Kämpfe wieder aufflammen können. Deshalb muß z. B. für Bosnien-Herzegowina der allgemeine Stopp bestehen bleiben und rechtzeitig verlängert werden.In anderen Regionen jedoch, wo es Zeichen der Normalisierung gibt, kann man den ehemaligen Flüchtlingen den Wiedereinstieg zumuten. Daß es ein Neubeginn mit Entbehrungen sein wird, ist mir klar.Nun zu den Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern: Das Auswärtige Amt und auch andere Quellen, wie der Hohe Flüchtlingskommissar, sagen, daß die Menschen allenfalls mit geringen Strafen zu rechnen haben. Anderes lese ich heute in der Zeitschrift „Politika", wo von hohen Strafen die Rede ist.Bisher tritt kein Landesminister für einen generellen Abschiebestopp ein. Dennoch fordere ich an dieser Stelle die Bundesregierung auf: Drängen Sie mit allen Mitteln, die Ihnen zu Gebote stehen, darauf,
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Dr. Cornelie Sonntag-Wolgastdaß Deserteure amnestiert werden und daß das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anerkannt wird.
Wo auch nur der Hauch eines Zweifels auftaucht, daß Menschen vielleicht doch in akute Bedrohung geraten, kann das Fazit für uns nur sein, sie im Zweifelsfalle erst einmal hier zu behalten.Noch ein Wort zu Nordrhein-Westfalen und dem aktuellen Fall: Es wird dort viel differenzierter gegenüber den ausreisepflichtigen Staatsangehörigen verfahren, als es der Bund in seiner Einschätzung für nötig hält, z. B. wird, wenn ein Betroffener Abschiebungshindemisse anmeldet, sein Fall noch einmal eingehend geprüft.Im übrigen wird es die Abschiebung auf dem Umweg über Temesvar so nicht geben; nach Auskunft Rumäniens sind die Vereinbarungen gar nicht abgeschlossen. Wie es allerdings zu dem Wirrwarr der Meldungen der letzten Tage kommen konnte, ist mir unerfindlich. Es bedrückt mich, daß solche bilateralen Unstimmigkeiten auf dem Rücken von Menschen ausgetragen werden, die damit in Angst und Unsicherheit gestürzt werden. Das finde ich in der Tat beschämend.Ein Wort sei mir zu den mißhandelten bosnischen Frauen gestattet, deren Asylanträge im Moment beim Bundesamt auf Eis liegen. Ich kenne die Gründe; wir haben es mit einem sogenannten Entscheidungsstopp wegen der sich ständig ändernden Situation in Bosnien zu tun. Aber geben Sie diesen Frauen, die zum Teil Opfer von Massenvergewaltigungen sind, wenigstens die sichere Zusage dafür, daß sie bis auf weiteres nicht an die Stätten ihres Leidens zurückgeschickt werden.Zum Schluß noch eine dringende Mahnung, auch wenn sie schon häufiger von diesem Platz aus kam: o 32 a des Ausländergesetzes muß endlich Realität werden, nämlich der gesicherte Status für die Bürgerkriegsflüchtlinge, der ihnen den Gang ins Asylverfahren erspart. Ich weiß, daß die Länder hier besonders gefordert sind, durch finanzielle Regelungen für Abhilfe zu sorgen. Wir haben die bundeseinheitlichen Gesetzgebungen geschaffen, und Bund und Länder haben die Pflicht, sie endlich zu praktizieren.Das Schwarzer-Peter-Spiel, das wir seit Wochen erleben, haben wir allerdings gründlich satt. Deswegen noch einmal ein Appell an die Länder,
insbesondere an den Bund: Tun Sie endlich etwas — den Menschen zuliebe, um die es geht!Danke schön.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man muß es in aller Klarheit und Offenheit sagen: Wir Europäer machen eine klägliche Figur.
Wir haben in der Bundesrepublik in der Tat mehr Flüchtlinge aufgenommen als in allen anderen westeuropäischen Staaten zusammengerechnet; das ist wahr. Europa war über die allabendlichen Fernsehtoten entsetzt. Mit Flüchtlingen wollten unsere Nachbarn nichts zu tun haben.Wir reden über nahezu 60 000 bis 100 000 Menschen: Albaner aus dem Kosovo, Kroaten mit serbischen und bosnischen Ehepartnern, Bürgerkriegsflüchtlinge und Flüchtlinge, die den Bürgerkrieg zum Vorwand genommen haben, zu kommen. Ihre Rechtsstellung in der Bundesrepublik ist düster. Sie haben überhaupt keine Rechtsstellung; sie haben eine Duldung. Das Recht würde es erlauben, ihnen eine Bewilligung zu geben. Wenn sie jedoch eine Bewilligung bekommen, verlieren sie ihren Arbeitsplatz; denn der Arbeitsminister hat die Vorrangregelung getroffen: Sobald ein anderer den Arbeitsplatz in Anspruch nehmen könnte, würde der Flüchtling, der bisher nur geduldet ist, seinen Arbeitsplatz in der Bundesrepublik verlieren.Die Menschen, die sich in Abschiebehaft befinden, sind dort zum großen Teil länger als zwei Monate. Sie wissen häufig nicht, wo ihre Angehörigen sind. Sie wissen nicht, ob ihre Familie und ihre Ehepartner auch in Abschiebehaft sind. Was mit ihrer persönlichen Habe geworden ist, wird ihnen durchaus nicht immer mitgeteilt. Ich finde, daß das nicht in Ordnung ist.Ich beklage, daß kein Innenminister irgendeines deutschen Bundeslandes, die sonst so eifrig in der Wahrnehmung ihrer Interessen sind, Gelegenheit genommen hat, zur Behandlung dieses Themas hier zu erscheinen. Auch das ist nicht in Ordnung. Wahlkampf!
Zur Abschiebung über Temesvar: Es werden sachkundige Zweifel daran geäußert, daß der Transportweg für die Flüchtlinge sicher ist. Ich hörte eben über Telefon, daß die Abschiebung gestoppt sein soll. Ich finde, daß uns die Bundesregierung sagen muß, ob die Abschiebung über Rumänien wenigstens im Verfahren wirklich sicher ist.Zur Einzelfallprüfung: Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen sagt, er mache eine Einzelfallprüfung. Vielleicht kann er das bei seinen Zahlen. Können das auch Baden-Württemberg und Bayern? Was ist mit den Menschen, die ein Kriegsdienstverweigerungsrecht in Anspruch nehmen, das es in unserer Verfassung gibt, die nicht in einen Krieg ziehen wollen, der nicht ihr Krieg ist, sondern ein ethnischer Vernichtungskrieg? Wollen wir sie der Gefängnisstrafe ausliefern und sagen, wir appellieren wenigstens an die Regierung des Empfängerlandes, sich vernünftig zu verhalten? Ist die Konsequenz eigentlich, daß die anderen Blauhelme schicken, wir Wehr-
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Dr. Burkhard Hirschpflichtige für die andere Seite? Ist das unsere Politik?
Zu § 32 a: Ich muß sagen, daß es nicht so einfach ist, alles auf die Seite der Bundesregierung abzuladen. Wir haben uns bei dem Asylkompromiß gegenseitig versprochen, einen Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge einzuführen. Auf der Seite der Länder waren Herr Stoiber, Herr Teufel, Herr Schröder und Herr Scharping vertreten.
Nun wird gesagt, sie könnten sich finanziell nicht einigen. Warum denn eigentlich nicht? Uns wurde heute im Innenausschuß gesagt, bei dem Föderalen Konsolidierungsprogramm sei die Vereinbarung getroffen worden; die Länder hätten gesagt: Wir sind hervorragend befriedigt! Von anderer Seite höre ich, daß über die Bürgerkriegsflüchtlinge bei den Verhandlungen über das FKP überhaupt nicht verhandelt worden ist. Wer hat denn eigentlich die Verhandlungen geführt? Ich möchte jetzt wissen, ob über die Behandlung des § 32 a, über die Bürgerkriegsflüchtlinge, bei diesen Finanzverhandlungen überhaupt gesprochen worden ist oder ob sie als eine Quantité négligeable durch den Rost fallen. So geht es nicht.
Wir können unsere föderalen Streitigkeiten nicht auf dem Rücken von Menschen austragen, die hierhergekommen sind, weil sie uns vertraut haben.
Wenn wir Leute aufgenommen haben, dann können wir nicht sagen: Es geht uns nichts mehr an. Wir haben eine Verantwortung für sie — wenn nicht rechtlich, dann jedenfalls politisch.Noch eine Bemerkung möchte ich dazu machen: Der Innenminister des Bundes könnte durchaus, wenn ein Land es beantragt, die Aufnahmebewilligung für solche Leute wenigstens auf sechs Monate verlängern. Er könnte es. Er könnte es.
Es gibt kein Vetorecht irgendeines Bundeslandes.
Das wollen wir einmal festhalten.
Ich sage Ihnen eines: Es geschieht ja selten, und ich finde das besonders hervorhebungswürdig, daß beide christlichen Kirchen an die Bundesregierung appellieren, ihre Politik in der Abschiebungsfrage zu überdenken.
Beide Kirchen appellieren gemeinsam.Täuschen Sie sich nicht, meine Damen und Herren. Was für den einen so populär sein mag: Abschieben, Starksein, Entlastung von Mißbrauchsfällen. DenkenSie daran, daß sich in diesem Bereich viele Menschen, wie ich auch, innerlich engagieren und daß Sie Ihre Einstellung zum Staat und zu dem, was wir hier vorführen, auch davon abhängig machen, ob wir die humanitäre Qualität unserer Rechtsordnung und unseres Verhaltens, die wir sonst immer so beschwören, ernst meinen oder ob das in der Tagespolitik keine Rolle spielt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland steht kurz vor den größten Massenabschiebungen in ihrer Geschichte. Jedenfalls sind Zahlen von 200 000 Menschen vom Innenministerium bisher nicht widerlegt worden.Offenbar will man Nägel mit Köpfen machen. Nicht kleckern, sondern klotzen — nach diesem Motto will man sich einer der größten Flüchtlingsgruppen entledigen. Die Bundesrepublik will sich der Last der Flüchtlinge aus dem sogenannten Restjugoslawien entledigen. Betroffen davon sind u. a. Kosovo-Albaner und Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Serbien.Da mögen Kirchen und Menschenrechtsorganisationen noch so dringlich darauf hinweisen, daß serbische Deserteure mit Haftstrafen, Folter oder sofortiger Entsendung an die Front rechnen müssen. Was kümmert es die Bundesregierung, wenn das Europäische Parlament sie auffordert — ich zitiere —, „durch eine Unterstützung von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern die militärische Macht der Aggressoren im früheren Jugoslawien zu schwächen"?Das Bundesinnenministerium läßt sich von seinem unmenschlichen Tun auch nicht von dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes abhalten. Das hatte nämlich immerhin festgestellt, daß es zu — ich zitiere — „zahlreichen willkürlichen Übergriffen, körperlichen Mißhandlungen und Folter" gegenüber der albanischen Bevölkerung im Kosovo gekommen sei.Der letzte Beweis, daß das Bundesinnenministerium genau weiß, was es tut, ist seine eigene Lagebeurteilung. Das BMI gesteht eine bedrängte Lage für Kosovo-Albaner und Muslime ein — ich zitiere —, „welche auch von Repressalien und Diskriminierungen gekennzeichnet ist".Meine Damen und Herren, dieses Vorhaben, Flüchtlinge aus dem Gebiet Jugoslawiens über Rumänien zurückzuführen, ist meines Erachtens in äußerstem Maße verwerflich. Man erinnere sich daran, daß die Bundesregierung es geschafft hat, aus dem für die BRD größten Herkunftsland für Flüchtlinge, also Rumänien, durch bürokratische Schikanen gegen Asylsuchende und einer skandalösen Beurteilung der Lage vor Ort, einen sicheren Herkunftsstaat zu machen; dies trotz Pogromen, die bekanntgeworden sind, gegen Roma und Sinti.
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Ulla JelpkeMit dem jetzt anstehenden Schritt der Zwischenlagerung von Flüchtlingen in Rumänien macht die Bundesregierung den Staat Rumänien zu ihrem Komplizen, wenn sie Kosovo-Albaner und serbische Deserteure möglichen Mißhandlungen aussetzt. Für mich ist dies ein unglaublicher Zynismus. Ich frage mich, ob es sich hier nicht um den Tatbestand der Verschleppung von Menschen handelt.
Wie kommen das Bundesinnenministerium und irgendwelche Grenzschutzdirektionen dazu, Menschen aus Restjugoslawien einfach nach Rumänien zu verfrachten? Wieso nicht gleich nach Bulgarien oder ein x-beliebiges Land?Eine letzte Bemerkung. Der Presse war heute zu entnehmen, daß das rumänische Außenministerium erklärt habe — das ist hier auch schon genannt worden —, daß es auf keinen Fall für diese Art von Deportationen von Zufluchtsuchenden aus Serbien und Kosovo und Montenegro zur Verfügung stehe. Das war ein Zitat. Es gibt meines Erachtens keinen Grund, die Glaubwürdigkeit der rumänischen Regierung geringer zu schätzen als die der deutschen. Bisher hat die deutsche Bundesregierung noch jeden Widerstand gegen ihre Abschiebungsprojekte mit Geld und Druck beseitigt. Ich befürchte, so wird es auch in diesem Fall geschehen. Dem Deal mit den Regierungen werden Menschenrechte und Humanität geopfert.Danke.
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs mit aller Deutlichkeit auf eines hinweisen. Bei der heutigen Diskussion zur Problematik der Abschiebung von Ausländern nach Restjugoslawien — hier beispielsweise über Rumänien — geht es nicht um die unstreitig gegebenen rechtlichen Voraussetzungen der Ausreiseverpflichtung jugoslawischer Staatsangehöriger aus Serbien und Montenegro und darum, ob sie in ihr Heimatland abgeschoben werden dürfen. Die Prüfung der materiellen rechtlichen Voraussetzungen für die Abschiebung ist auch nicht Angelegenheit des Bundesministers des Innern. Hier geht es allein um die praktische Frage, auf welchem Weg die vollziehbare Ausreisepflicht durchgesetzt und die Abschiebung nach Restjugoslawien vollzogen werden kann.Meine Damen und Herren, das Ausländergesetz sieht die Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers, sei es nach illegaler Einreise, sei es nach rechtskräftiger Ablehnung eines Asylantrags, sei es nach Ablauf der Geltungsdauer der Aufenthaltsgenehmigung, als unverzüglich zu erfüllende Rechtspflicht durch die insoweit zuständigen Länder vor.Herr Kollege Weiß, erlauben Sie mir eine Anmerkung zu Ihrem Beitrag. Ich halte ihn für unter allerKritik. Zumal scheint Ihnen in diesem Zusammenhang noch nicht einmal die Rechtslage bekannt zu sein.
Ausdrücke wie „Deportation" und „Geldgier" sind Schmähworte, die ich schärfstens zurückweise. Sie sind angesichts des vorliegenden Sachverhalts und der gegebenen Sachlage auch nur als böswillig und polemisch zu kennzeichnen.
Auf Grund des bestehenden UN-Embargos, meine Damen und Herren, gegenüber dem aus Serbien und Montenegro bestehenden Restjugoslawien sind Abschiebungen auf dem Luftweg nach Belgrad, wie Sie wissen, nicht möglich. Aus diesem Grund muß, um die überfällige Abschiebung ausreisepflichtiger jugoslawischer Staatsangehöriger, zu denen nach einer Erhebung des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen auch eine hohe Zahl von Straftätern gehören, nach Restjugoslawien zu ermöglichen, nach alternativen Abschiebewegen über Drittstaaten gesucht werden. Es handelt sich also — das möchte ich noch einmal unmißverständlich klarstellen — ausschließlich um Ausreisepflichtige, denen auch kein Abschiebungshinderungsgrund zur Seite steht.
Die Bundesrepublik Deutschland ist dabei im übrigen nicht allein. Auch andere westeuropäische Staaten mit hohen Zuwanderungszahlen aus Restjugoslawien, insbesondere Norwegen, Schweden und die Schweiz, stehen vor dem gleichen Problem und sind damit befaßt, andere Abschiebemöglichkeiten nach Serbien und Montenegro zu prüfen; so auch das Ergebnis der Wiener und der Berliner Konferenz.Bei der Suche nach alternativen Abschiebemöglichkeiten hat die Grenzschutzdirektion auf Einladung rumänischer Fluggesellschaften vor kurzem in Rumänien Gespräche mit Vertretern staatlicher Stellen und der Luftverkehrsgesellschaften Jaro und Tarom über die Möglichkeit von Abschiebungen jugoslawischer Staatsangehöriger über Rumänien geführt. Dabei konnte auf Arbeitsebene eine vorläufige Absprache getroffen werden, die eben vorsah, daß jugoslawische Staatsangehörige auf dem Luftweg nach Timisoara und von dort unter polizeilicher Begleitung auf dem Landweg an die serbische Grenze transportiert werden können.Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich ausdrücklich bei dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen für seine öffentlich bekundete Unterstützung in dieser Frage bedanken. Frau Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast, das von Ihnen angewandte Schema moralisch hie und unmoralisch dort wird, wie Sie aus dieser gemeinsamen Aktivität schon sehen, dem Problem bei weitem nicht gerecht.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung begrüßt es, daß die Rumänen jedenfalls auf Expertenebene die Bereitschaft haben erkennen lassen, die
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerRückführung jugoslawischer Staatsangehöriger über Rumänien zu ermöglichen. Mittlerweile gibt es zwar Irritationen über das Ergebnis der geführten Gespräche in Rumänien selbst; wir sind aber dennoch zuversichtlich, daß es nach weiteren Gesprächen auf Regierungsebene zu einer verbindlichen Vereinbarung zwischen Rumänien, der Bundesrepublik Deutschland und auch anderen europäischen Staaten kommen wird. Die Bundesrepublik Deutschland bleibt jedenfalls daran auch weiterhin interessiert.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rudolf Bindig das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Tat geht es hier um das Schicksal von rund 60 000 Menschen, im weitesten Sinne sogar um ca. 370 000 Menschen, aus dem ehemaligen Jugoslawien, die sich bei uns aufhalten. Ich halte diese Frage für so wichtig, daß wir sie nicht nur den Innenministern überlassen dürfen, sondern es muß auch aus humanitärer und menschenrechtlicher Sicht hierzu Stellung bezogen werden. Gerade bei Ihrer Rede, Herr Staatssekretär, hatte man den Eindruck, daß die Menschen gar nicht vorkommen, sondern daß es nur um Organisationstechnokratie geht.
Wer hier ganz formal und legalistisch vorgeht, kommt zu unakzeptablen Ergebnissen. Die Komplexität der Problemlagen von Bürgerkriegen läßt sich nicht in Gesetzesparagraphen unseres Ausländer-und Asylverfahrensrechtes voll einfangen. Dann kommt es eben zu unmenschlichen Einzelergebnissen. Ohne einen gewissen humanitären Pragmatismus kommt man hier nicht aus.Die Innenminister haben zunächst einen undifferenzierten Beschluß zur Abschiebung gefaßt. In der nächsten Etappe haben sie eine gestaffelte Abschiebungsregelung getroffen. Auch zu dieser Regelung ist schon das Wort gefallen, daß es sich um einen Erlaß von Organisationsfetischisten handelt, die nicht wissen, was sie tun. Sie handeln mit Willen, ohne Bewußtsein. Man hat manches Mal den Eindruck, eine kritische Öffentlichkeit und menschenrechtsbewußte Menschen müssen in Etappen Humanität und Menschlichkeit in das Handeln der Innenminister hineinbringen.
Man muß in der Tat verschiedene Härtefallgruppen und Härtefalltypen herausfinden. Bei den kroatischen Flüchtlingen gibt es eine Reihe, die zurückkehren können und bei denen man sagen kann : Die Rückkehr ist kein besonderes Problem. Aber andere haben es äußerst schwer, solche z. B., die nicht in die Häuser und Wohnungen in ihrer Heimat zurückkehren können, da das Gebiet von Serben kontrolliert wird. Weitere Härtefälle können z. B. nach Deutschland geflüchtete Kroaten sein, die mit Serben verheiratet sind, oder solche Geflohene, deren angestammter Wohnsitz in der Nähe aktiver Frontlinien liegt, oder vertriebene ethnische Nichtserben, z. B. Kroaten, Ungarn oder Ruthenen.Ganz besonders problematisch ist die Frage der Rückführung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren. Solange es nicht verbindliche Aussagen der kroatischen Regierung darüber gibt, daß diese Menschen nicht nur an Leib und Leben geschont, sondern auch vor längerer Freiheitsstrafe verschont werden, können und sollten diese Menschen nicht zurückgeführt werden.Härtefallproblemgruppen gibt es auch in Rest-Jugoslawien und hier insbesondere bei den Kosovo-Albanern. Formal ist es wieder richtig: Das Embargo des UN-Sicherheitsrates bezieht sich nicht auf den Verkehr von Personen. Formal ist es richtig: Weder die drohende noch die erfolgte Einberufung in die jugoslawischen Streitkräfte begründet ein Abschiebehindernis nach § 53 des Ausländergesetzes. Aber faktisch fallen diese Menschen durch unsere Paragraphen, insbesondere dann, wenn man nicht endlich den § 32 a des Ausländergesetzes mit Inhalt füllt.
Was formal zutreffend ist, muß nicht auch aus menschenrechtlichen oder humanitären Aspekten richtig sein.Es gibt auch im Rahmen der Sanktionsmaßnahmen der UN die Diskussion, ob nicht zukünftig bei UN-Embargomaßnahmen die Nichtrückführung solcher Personen mitbeschlossen werden soll, die sich aus völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen oder völkerrechtswidrigen Entscheidungen ihrer Regierung heraushalten wollen.Der Weltflüchtlingskommissar hat dies zum Ausdruck gebracht, indem er sagt: Eine Person, die sich zu Zeiten des offiziellen Kriegszustandes bzw. der tatsächlichen Kampfhandlungen der jugoslawischen Armee in Kroatien oder Bosnien-Herzegowina dem Wehrdienst dieser Armee entzogen hat, hat dies aus flüchtlingsvölkerrechtlicher Sicht gerechtfertigterweise getan.Asyl und Rückführungsschutz für serbische Wehrpflichtige ist insoweit auch eine geeignete Maßnahme zur Sicherung des Gewaltverbots nach Art. 2 Abs. 4 der UN-Satzung.Wenn man nach den gesetzlichen Regelungen nur den nicht zurückschieben darf, dessen Freiheit und Leben gefährdet ist, dann reicht das nicht aus. Es muß auch gefragt werden: Hat er eventuell eine lange Haftstrafe zu erwarten? Es sind gerade die Deserteure, die befürchten müssen, eine lange Haftstrafe verbüßen zu müssen.Aus diesem Grunde meine ich, daß die Innenminister gut beraten wären, wenn sie ihren Beschluß menschenrechtlich anreicherten, Härtefalltypen bildeten, Einzelfallprüfungen vornähmen, wer zu diesen Härtefalltypen gehört, und dann nach § 54 eine Aussetzung von Abschiebungen für diese Härtefallgruppen schafften. Das wäre eine humanere, eine
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18578 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994
Rudolf Bindighumanitärere und eine menschenrechtsachtende Regelung.Danke schön.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ulrich Irmer das Wort. — Er ist überrascht.
Vielen Dank, Herr Präsident! Ich hatte gar nicht damit gerechnet, daß ich schon drankomme.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Weiß, ich glaube, Sie haben der Sache, um die es Ihnen geht, keinen Gefallen getan, indem Sie in Ihrer Eröffnungsrede so maßlos überzogen haben.
Worum es uns hier doch geht, ist das Schicksal der Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind und die bei uns Zuflucht gefunden haben.
Man muß zunächst einmal sagen: Wir gehen im Ausland mit sehr stolz geschwellter Brust herum und verweisen immer darauf, daß wir diejenigen sind, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Ich sage: Wir tun das mit vollem Recht, und es ist schandbar, daß sich andere europäische Lander der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen bisher in weitem Maße verweigert haben.
Wenn wir aber stolz darauf sind, daß wir die vielen Flüchtlinge aufgenommen haben, dann müssen wir uns natürlich auch sehr sorgfältig Gedanken darüber machen, wie wir denn mit ihnen umgehen, wenn sie hier sind, wenn aber möglicherweise die Gelegenheit gegeben ist, daß sie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Da kann man nicht pauschal sagen: Das wird alles über den gleichen Kamm geschoren. — Hier muß man in der Tat differenzieren.
Ich finde es ja gut, daß Staatssekretär Lintner vorher auf die Rechtslage verwiesen hat. Aber — das ist hier mehrfach gesagt worden — Rechtslage ist die eine Sache, die Umsetzung der Rechtslage in menschlicher, in zivilisierter Weise ist die andere.
Wenn wir es nicht schaffen, mit diesem Problem menschlich und zivilisiert umzugehen, dann wird das, was uns im Ausland an Bewunderung und Anerkennung für die Aufnahmebereitschaft zuteil geworden ist, umschlagen in Ärger, möglicherweise Entsetzen und in Verachtung dessen, wie wir dieses Problem weiterbehandeln.
Hier sind wir auch in der Haftung für vorangegangenes Tun. Wir können nicht erst sagen, daß die Leute alle zu uns kommen sollen, und sie nachher behandeln, als ob es keine Menschen wären. Wir können mit ihnen also nicht umspringen wie mit einem Stück Vieh oder einem Material.
Ich verstehe nicht, weshalb die Bundesregierung hier pauschal angegriffen wurde. Es ist ein Skandal, daß bisher die Einigung über den Bürgerkriegsstatus nicht herbeigeführt werden konnte.
Sie, meine lieben Kollegen von der SPD, sollten sich hier einmal an Ihre Genossen wenden und diese ganz massiv drängen, statt gleich die Bundesregierung zu beschimpfen.
Das wäre nämlich der richtige Adressat. Ich kann natürlich die Innenminister der von CDU oder CSU geführten Länder aus der Kritik hier nicht ausnehmen, sondern auf die trifft das in gleicher Weise zu.
— Es wäre gut, wenn wir von der F.D.P. demnächst ein paar Länderinnenminister stellen würden. Wir werden uns auch Mühe geben, das zu erreichen. Dann würde nämlich die Politik vielleicht doch etwas menschlicher und vernünftiger gemacht.
Eines ist völlig klar, meine Damen und Herren, und darüber kann kein Zweifel bestehen: In dem Fall, wo die bedrohliche Lage des Bürgerkriegs, die zur Flucht Anlaß war, vorüber ist, muß man Menschen zurückschicken können.
Das ist auch im Interesse der Länder, und es ist im Interesse der Menschen selbst. Es ist nicht so, daß wir sie wegschicken, weil sie uns lästig sind, sondern weil von vornherein die Geschäftsgrundlage hieß: Wenn die bedrohliche Situation vorüber ist, müssen sie bitte zurück. Sonst macht es auch gar keinen Sinn, einen eigenen Status für diese Flüchtlinge einzuführen. Aber dann muß eben differenziert werden. Dann muß man tatsächlich fragen: Ist die Gegend, wo jemand hingeschickt werden soll, sicher, oder wird er da weiter verfolgt? Hat er überhaupt ein Dach über dem Kopf?
Was die Kriegsdienstverweigerer angeht, meine Damen und Herren — das ist dann meine letzte Bemerkung —: Es geht doch nicht an, daß wir ein Embargo verhängen, wonach dorthin nichts geliefert werden darf, weil wir den Krieg beenden wollen, aber dann die Serben frei Haus mit Soldaten beliefern.
Das ist nicht hinzunehmen. Deshalb muß für Kriegsdienstverweigerer eine besondere Regelung gefunden werden.
Danke schön.
Der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann hat nun das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994 18579
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gegenstand dieser Aktuellen Stunde ist die Abschiebung von Serben, Montenegrinern, Kosovo-Albanern und Menschen aus der Vojvodina in ihre Heimat. Weder die Abschiebung als solche noch die Suche nach einem möglichen Reiseweg gibt aber Grund für die inszenierte Aufregung.
Asylbewerber, von denen feststeht, daß sie nicht asylberechtigt sind, müssen in ihre Heimat zurück, sofern keine sonstigen Abschiebungshindernisse vorliegen. Nur um solche ausreisepflichtigen Ausländer geht es. Für einen generellen Abschiebestopp für Menschen aus dem sogenannten Rest-Jugoslawien besteht kein Grund. Wer sich der Wehrpflicht entzogen hat, ist nicht mit der Todesstrafe bedroht.
Nach den uns vorliegenden Berichten werden Deserteure nicht unverhältnismäßig hart bestraft. Auch eine gewaltsame Rekrutierung erfolgt nicht. Sichtlich gibt es genug Freiwillige für diesen abscheulichen Krieg auf dem Balkan. Da es um eine Abschiebung in friedliche Gebiete und nicht in Bürgerkriegsgebiete geht
— ich wiederhole: in friedliche Gebiete und nicht in Bürgerkriegsgebiete —, droht auch sonst keine Gefahr für Leib oder Leben.
Was nun die Durchführung der Abschiebung angeht, so suchen Bund und Länder seit geraumer Zeit nach einem handhabbaren Weg. Ein solcher wäre es gewesen, diese Menschen nach Temesvar in Rumänien zu fliegen und von dort mit Bussen in ihr Heimatland zu bringen. Den Rumänien dabei entstehenden Aufwand hätte Deutschland selbstverständlich erstattet. Nach der völlig falschen Schreckensmeldung, es handle sich um mehr als 200 000 Flüchtlinge, ist dieser Weg nun möglicherweise verschüttet.
Wer auch immer diese Informationen an den „Spiegel" gegeben hat, muß sich fragen lassen, ob das etwa seine Absicht war. Will hier etwa jemand vernünftige Lösungen hintertreiben, weil die von der Union als erster als richtig erkannten Änderungen im Asylrecht heute Erfolg zeigen? Wer verhindert, daß diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns gekommen sind, Deutschland wieder verlassen müssen, schadet denen, die wirklich unseres Schutzes bedürfen. Das muß jedem bewußt sein.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerd Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Debatte mit etwas Unbehagen verfolgt, und zwar deswegen, weil bei diesem ernsten Problem — wo es übrigens gar nicht um viele Menschen gehen muß; ein einziger unrechtmäßig abgeschobener Flüchtling würde für diese Debatte ausreichen — von verschiedensten Seiten erst einmal mit falschen Tatsachen und falschen Voraussetzungen operiert wird, einschließlich derjenigen — auch das sei mit Verärgerung bemerkt —, die sich für Flüchtlinge, für die Menschen einsetzen wollen.Bezüglich der Kroaten wurde vor vier Wochen die Zahl von 200 000 genannt. Es sind wohl 60 000, die in der Bundesrepublik einen ungesicherten Status haben, 60 000 Fälle, um die es wert ist, zu ringen und zu kämpfen.Warum mußte der wohltemperierte Kleinbürger montags durch den „Spiegel" oder durch Politiker mit falschen Zahlen in Wallung gebracht werden?Diesmal ist es genauso: Es sind nicht so viele, sondern es ist eine weitaus geringere Zahl. Es war vorgesehen, 700 Menschen aus Nordrhein-Westfalen zurückzuschieben. Hierbei handelt es sich um Personen, die ein individuelles Asylverfahren durchlaufen haben, d. h., die Fälle sind individuell aufwendig geprüft worden. Nachdem diese Fälle rechtskräftig abgeschlossen worden sind, sind die Abschiebungshindernisse geprüft worden. Daraufhin sollte die Abschiebung erfolgen.Man kann natürlich trotzdem fragen, ob es sinnvoll ist, sie jetzt abzuschieben. Nur: Es geht nicht einfach — um mit Frau Jelpkes fürchterlichen Begriffen zu operieren — um eine wahllose Deportation. Hier hat in einem langen und komplizierten Prozeß ein rechtsstaatliches Verfahren stattgefunden.Ich glaube, wir sollten bei den Tatsachen bleiben. Wenn wir bei den Tatsachen bleiben, ist es immer noch schwierig genug, vernünftige Regelungen zu finden.Ich will deutlich machen, wie schwierig es im Moment ist, von einem generellen Abschiebestopp im Falle Kosovo zu reden. Der Hohe Flüchtlingskommissar hat vor knapp einem Monat einen Brief geschrieben. in dem er aussagt:Der Hohe Flüchtlingskommissar stellt daher erneut fest, daß er, solange ein offenliegender Konflikt nicht ausgebrochen ist, sich grundsätzlich nicht in der Lage sieht, die Zurückführung von Personen— gemeint ist: ins Kosovo —zu rügen, die nach ordnungsgemäßer Prüfung ihres Asylantrags in einem rechtsstaatlichen Verfahren abgewiesen wurden. Der grenzüberschreitende Verkehr ethnischer Albaner von und nach Kosovo ist immer noch beachtlich. Bisher hat es keine Hinweise darauf gegeben, daß abgelehnte Asylbewerber bei ihrer Rückkehr besonderen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen wären.Dieses Schreiben des Hohen Flüchtlingskommissars stammt vom 14. Februar 1994.
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18580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 215. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. März 1994
Gerd Wartenberg
Wenn man sagt, das reiche als Sicherung nicht aus, kann man natürlich darüber diskutieren, ob jetzt zurückgeschoben werden soll. Ich finde, wir sollten nicht so tun, als erfolgten in diesem Staat durch die Behörden konzertiert unrechtmäßige Aktionen. Das hilft uns nicht sonderlich.
Da bin ich etwas anderer Auffassung als manch einer hier in diesem Saal, vielleicht aus wohlverstandener Argumentation für die Betroffenen.Es ist durch Druck dieses Parlaments bei Bund und Ländern durchgesetzt worden, daß für Kroaten eine differenzierte Lösung angestrebt wird, über die asylrechtlichen Lösungen hinaus: Es sollen Fallgruppen gebildet werden, die nicht zurückgeschoben werden. Das halte ich für richtig. Die Problematik auch der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer muß geprüft werden. Nicht nur bei den Kroaten, auch für die anderen Herkunftsgruppen werden wir so etwas prüfen müssen. Es geht neben dem individuellen Prüfvorgang im rechtlichen Sinne — Asylrecht etc. — auch noch um gruppenspezifische Probleme, die Abschiebungshindernisse beinhalten können, innerhalb der Gesamtgruppe. Das muß differenziert betrachtet werden. Ich glaube, dann kommt man auch zu Lösungen, die vernünftig sind. Sie setzen aber voraus, daß man sich sehr genau anschaut, wie die einzelnen Fälle gelagert sind.In Nordrhein-Westfalen befinden sich ca. 60 000 Menschen aus „Rest-Jugoslawien". Von diesen kommen, wenn rechtlich alles ordnungsgemäß abläuft, maximal 15 000 in die Abschiebeverpflichtung. Das ist eine große Zahl. Aber es sind eben nicht, wie heute überall behauptet wird, 200 000. Innerhalb dieser Gruppe von 15 000 Menschen muß man noch einmal zu differenzieren versuchen. Diese Aufgabe sollten wir den Innenministern übertragen.Kurz noch zur Bürgerkriegsregelung. Hier gebe ich Herrn Dr. Hirsch vollkommen recht: Das ist nicht nur eine Aufgabe der Bundesregierung. Ich rüge hier noch einmal ausdrücklich, daß die Finanzierung bei den Verhandlungen über das FKP nicht angesprochen wurde. Die Länder haben im Vorfeld darauf verzichtet, weil sie finanziell so gut weggekommen waren. Insofern haben die vier Ministerpräsidenten, die in Vertretung aller Ministerpräsidenten bei dem Asylgespräch anwesend waren, letzten Endes eine Abmachung nicht eingehalten. Die Bundesregierung hat es auch nicht angesprochen. Sie sollte ja auch etwas zahlen. Warum sollte sie dieses Thema ansprechen? Diejenigen, die etwas haben wollten, hätten es ansprechen müssen. Der Schwarze Peter ist nicht nur einer Seite zuzuschieben. Ich rüge diejenigen, die die entsprechende Abmachung unterzeichnet haben.
Nur: Die Bürgerkriegsregelung würde uns bei der Regelung der Probleme der Kosovo-Albaner oder der Montenegriner nicht helfen. In ein Bürgerkriegskontingent gemäß § 32a könnten nur Bosnier kommen. Das heißt, die Probleme, über die wir heute reden, hätten wir trotzdem. Das muß man realistischerweise wissen.
Herr Abgeordneter!
Es geht in diesem Zusammenhang nur um die Bosnier. Alle anderen brauchen eine sehr differenzierte Lösung, so wie sie jetzt bei den Kroaten angewandt wird, und keine generelle Abschiebung.
Der Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben die — täglich neuen — schrecklichen Vorkommnisse im Bürgerkriegsgebiet auf dem Balkan vor Augen. Unser Land hat mehr geholfen als alle anderen Länder der Europäischen Union zusammen. Wir haben inzwischen weit mehr als 500 Millionen DM für die Versorgung der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten zur Verfügung gestellt und ausgegeben. Und wir haben — darauf ist schon hingewiesen worden — seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen rund 400 000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Das alles ist, wie gesagt, mehr, als alle anderen EU-Länder zusammen hier getan haben.Heute diskutieren wir über die vorgesehene Abschiebung von teilweise seit langem — teilweise bereits seit Jahren — ausreisepflichtigen Personen. Herr Kollege Weiß, mir ist unbegreiflich, wie Sie hier angesichts eines seit langem bekannten Sachverhalts von Heimtücke reden können. Im übrigen ist hier nicht die Bundesregierung der richtige Adressat — auch das möchte ich noch einmal unterstreichen —, sondern die Abschiebung ist Sache der Länder. Diese verfolgen hier nach meinen Informationen
eine einheitliche Linie, Frau Kollegin, auch wenn sie Ihnen nicht gefällt. Dazu gehört auch der SPD-Innenminister von Nordrhein-Westfalen.Es findet, Herr Kollege Weiß, keine Abschiebung in Bürgerkriegsgebiete statt — Sie haben das hier wieder fälschlicherweise behauptet —, sondern eben nur in solche Gebiete, die nicht umkämpft sind.
Der Abschiebestopp für Bosnien bleibt ausdrücklich aufrechterhalten.
Es findet eine Prüfung eines jeden einzelnen Fallesstatt. Da es sich hier in aller Regel sowieso um
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Dr. Wolfgang Götzerabgelehnte Asylbewerber handelt, hat nach dem bekannten Verfahren ohnehin eine Einzelfallprüfung stattgefunden.Wenn nun als Abschiebeweg der Weg über Rumänien diskutiert wird, dann deswegen — das wissen auch Sie —, weil der Flughafen Belgrad international nicht angeflogen werden kann und weil der Weg über Makedonien nicht möglich ist, da sich dieses Land dagegen sperrt und eine Durchbeförderung verweigert.Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, Ihre Ermahnungen in diesem Zusammenhang richten Sie besser an Ihren nordrhein-westfälischen Innenminister und nicht an diese Seite des Hauses.
Ich möchte Ihnen aus grundsätzlichen Erwägungen auch sagen: Eine Aushebelung des mühsam errungenen Asylkompromisses durch das Konstruieren eines vermeintlichen Gegensatzes von Moral und Recht wird es mit uns nicht geben.Ich möchte nicht verhehlen, daß es in diesem Zusammenhang selbstverständlich Problemfälle, Härtefälle gibt. Dazu rechne ich aber nicht — jetzt muß ich Sie noch einmal zitieren, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast — den Umstand, daß etwa das Heimatgebiet zerstört ist. Das kann doch nicht dazu führen, daß jemand nicht mehr in seine Heimat abgeschoben wird. Im Gegenteil: Ich erwarte von ihm, daß er dort möglichst schnell am Wiederaufbau des zerstörten Landes mitwirkt.
— Ich möchte das grundsätzlich bemerkt haben.Die oppositionellen Kosovo-Albaner ebenso wie die nationalen Minderheiten in Serbien sind nach den allgemeinen asylrechtlichen Bestimmungen zu beurteilen — und sind danach beurteilt worden.Ein sicherlich besonders zu beurteilendes Problem sind die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure. Nach unseren Informationen besteht in der Regel nicht die Gefahr, daß sie zur Teilnahme am Kriegsgeschehen herangezogen werden, wohl aber die, daß sie mit einer Bestrafung rechnen müssen — allerdings nicht, wie hier gelegentlich zu hören war, mit einer Strafe von 10, 20 oder 30 Jahren. Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen muß man von maximal zwei Jahren ausgehen.
Wir kommen nicht darum herum: Eine Durchsetzung der Wehrpflicht begründet in der Regel keine politische Verfolgung.
Allerdings — speziell dann, wenn es sich noch dazu um Vertreter nationaler Minderheiten handelt — kann es in der Tat in Einzelfällen zu willkürlicher Behandlung durch die serbischen Behörden kommen.Aber hier gibt es den § 53 des Ausländergesetzes, der bei Befürchtung besonders schwerer Nachteile ja die Möglichkeit eröffnet, dem Flüchtling weiterhin Aufenthalt im Bundesgebiet zu gewähren.Ich bin dafür, daß wir im Einzelfall sehr gründlich, sehr genau prüfen, ob ein solcher Fall des § 53 des Ausländergesetzes vorliegt. Aber es bleibt festzustellen: Der Aufenthalt von Bürgerkriegsflüchtlingen in Deutschland kann nur vorübergehender Natur sein, und die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen bei uns in Deutschland begründet kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.Nach Ende des Bürgerkriegs — dafür treten wir ganz entschieden ein — müssen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, um beim Wiederaufbau zu helfen.Ich bedanke mich.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Günter Rixe das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Berichte in den Medien über die beabsichtigten Abschiebungen von Flüchtlingen, Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern, die morgen beginnen sollten, machen mich zornig. Das muß ich hier ehrlich sagen.
Meine Damen und Herren, in was für einer Welt leben wir eigentlich? Tagtäglich werden uns im Fernsehen Bilder eines Krieges gezeigt, in dem Menschen getötet werden; und Teile — ich sage das bewußt — der Politik in der Bundesrepublik schicken nun Menschen in die Krisenregion zurück, Menschen, die bei uns Schutz gesucht haben.
Die Kritik beider Kirchen — das sollten Sie einmal wahrnehmen —, der Flüchtlingsorganisationen und anderer gesellschaftlicher Gruppen gegen diese Aktion ist berechtigt. Deshalb begrüße ich auch diese Aktuelle Stunde, damit wir einmal darüber reden können.Ich lehne die beabsichtigte Abschiebung ab. So, wie das jetzt geplant ist, und in dieser Zeit des andauernden Krieges ist das, was da geschehen soll, eine Verletzung von Menschenrechten. Dabei ist es völlig egal, ob andere Länder, wie etwa Schweden oder Österreich, ebenfalls nach Rest-Jugoslawien abschieben. Wir Deutschen haben auf Grund unserer traurigen Geschichte eine besondere Verantwortung für den Schutz von verfolgten Menschen.Die Behauptung, den nach Rest-Jugoslawien zurückgeschobenen Wehrpflichtigen würden keine erheblichen Strafen drohen, ist falsch. Selbstverständlich bestehen in den Teilrepubliken Serbien und Montenegro sowie im Bundesstaat Rest-Jugoslawien Strafen mit einer Dauer von drei Monaten bis zu zehn
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Günter RixeJahren für Fahnenflüchtige. Auch wenn der UN-Flüchtlingskommissar feststellt, daß es bisher noch zu keinen höheren Strafen gekommen ist, frage ich: Wer will von hier aus überhaupt im voraus prüfen, ob einer derjenigen, die jetzt abgeschoben werden sollen, nicht dieser besonderen Gefahr einer hohen Freiheitsstrafe ausgesetzt ist? Es kann doch überhaupt niemand in dieser Bundesrepublik nachvollziehen und prüfen, ob es nicht Strafen von zehn Jahren geben kann.
Und Strafe ist eben immer etwas Schlimmes, gerade in diesem Land und gerade in den letzten Jahren.Die angekündigte Einzelfallprüfung vor der Abschiebung ist doch eine Farce. Wer will das bei der hohen Zahl derer, die abgeschoben werden sollen, prüfen? Die Frage, ob nicht auch die Todesstrafe für einzelne Menschen droht, kann nicht damit überspielt werden, daß der Bundesstaat diese Androhung für Fahnenflüchtige abgeschafft hat — okay, aber in den Einzelstaaten gibt es diese Strafen noch. Die Teilrepubliken kennen diese Strafen noch, und welches Recht sich in einer Kriegssituation durchsetzt, wollen wir einmal offenlassen. Wir können das nicht beantworten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die beabsichtigten Abschiebungen von Deserteuren und Wehrpflichtigen sind in meinen Augen ein Verstoß gegen das Embargo der Vereinten Nationen gegenüber Serbien. Das verhängte Embargo geht davon aus, daß Serbien Kriegspartei ist. Serbien ist an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligt. Serbien unterstützt die bosnischen Serben. Es ist kaum vorstellbar, daß die bosnischen Serben über ein Jahr lang einen Krieg führen können, ohne die militärische, materielle und sonstige Unterstützung durch den serbischen Staat gehabt zu haben. Deshalb sind die Wehrpflichtigen, die jetzt zurücktransportiert werden sollen, nach meiner Auffassung der Gefahr ausgesetzt, an einem Krieg teilnehmen zu müssen, den sie aus innerer Überzeugung ablehnen. Ich sage nur, Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht — und das auf der gesamten Welt und nicht nur bei uns in der Bundesrepublik.
Nach den gestern und heute bekanntgewordenen Informationen, daß das rumänische Außenministerium Vereinbarungen über den Transportweg dementiert hat, frage ich mich, was diese auffallende Eile überhaupt soll. Die Verantwortlichen in Bund und Ländern sollten sich lieber zusammensetzen, um für diese Menschen eine Regelung im Sinne des Status als Bürgerkriegsflüchtlinge zu finden, statt aus Kostengründen jetzt solche Abschiebeaktionen voreilig zu organisieren.Meine Kolleginnen und Kollegen, zu einem erheblichen Teil sind von den beabsichtigen Abschiebungen auch Kosovo-Albaner betroffen. Schon seit Jahren ist bekannt, daß die Serben die Wehrpflicht als Strafe gegen die jungen albanischen Männer aus dem Kosovo einsetzen. Das wissen wir, weil wir selber im Kosovo waren. Es gibt zahlreiche Auflistungen überFolterungen und Ermordungen in den Gefängnissen der Kasernen. Jetzt die zu uns geflohenen jungen Männer aus dem Kosovo ihren Häschern wieder auszuliefern ist eine Schuld, die ich nicht auf mich nehmen werde.
Ich bin dafür, diesen Menschen hier so lange Schutz zu gewähren, bis eine endgültige Friedenssituation im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, also auch einschließlich des Kosovo, geschaffen ist. Ich bitte die Innenminister aller 16 Länder und den Innenminister des Bundes, an diese Aufgabe heranzugehen, nachzudenken und zu überlegen, diese Menschen aber nicht im Moment eilig abzuschieben. Wie geht das denn? Nach Belgrad kann kein Flugzeug einfliegen, aber nach Rumänien, nach Temesvar. Da werden sie mit Bussen an die serbische Grenze gefahren. Dann sind sie an der Grenze. Was ist denn in Serbien? Ein befriedetes Gebiet? Wer das sagt, müßte sich einmal etwas sachkundiger machen.Danke schön.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Friedrich Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Rixe hat gerade wieder so getan, als hätten wir es hier ausschließlich mit Bürgerkriegsflüchtlingen zu tun, obwohl der Tatbestand der ist, daß wir es weit überwiegend mit abgelehnten Asylbewerbern zu tun haben, mit Asylbewerbern, Herr Kollege Hirsch, für die das, was in § 32 a vorgesehen ist, nicht in Betracht kommt.
— Weil es abgelehnte Asylbewerber und keine Bürgerkriegsflüchtlinge sind.
— Es sind rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber.
— Es sind rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber. Ich kann nur darum bitten, daß wir über das reden, womit wir es hier heute wirklich zu tun haben. Wenn ich richtig gelesen habe, ist die Aktuelle Stunde im Blick auf Rest-Jugoslawien beantragt worden. Das ist das eine.
Das heißt, wir haben es mit einem Personenkreis zu tun, der ausreisepflichtig ist, der bisher nicht ausgereist ist, nicht abgeschoben worden ist, weil die Abschiebewege, die tatsächlich vorhanden waren, nicht gangbar waren. Wenn ein tatsächlich vorhandener Abschiebeweg gangbar ist, dann ist diese Abschiebung im Prinzip auch in Ordnung. Ich erin-
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Friedrich Vogel
nere an die Diskussion, die wir gehabt haben, als es um die Frage ging, ob das Asylrecht geändert werden soll. Ich habe sehr wohl im Ohr, wer alles damals gesagt hat: Es geht nicht darum, neues Asylrecht zu schaffen, sondern es geht darum, abgelehnte Asylbewerber auch tatsächlich abzuschieben. — Damit haben wir es in diesem Falle im wesentlichen zu tun. Da hilft überhaupt keine im Brustton der Überzeugung vorgebrachte Entrüstung. Wir haben es damit zu tun, daß wir uns damit beschäftigen, was hier geltendes Recht ist und wie im Rahmen des geltenden Rechts auf der Grundlage, daß wir es mit abgelehnten Asylbewerbern zu tun haben, im Einzelfall zu entscheiden ist. Da gibt uns in der Tat das Gesetz Möglichkeiten, etwa im § 53, gegebenenfalls, Herr Kollege Bindig, im Rahmen des § 54. Aber maßgeblich ist für den Bundesinnenminister wie auch für die Länderinnenminister das, was vom Parlament verabschiedetes Recht ist.Sie haben den Versuch unternommen, dieses in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Recht ein Stück universalrechtlich zu überhöhen. Lieber Herr Kollege Bindig, das ist ein erfolgloser Versuch.
— Aber es geht doch nicht um Bürgerkriegsflüchtlinge, die ins Asylverfahren gedrängt worden sind, sondern es geht urn Leute, die aus Serbien und Montenegro zu uns gekommen sind, nicht aus einem Gebiet, in dem Bürgerkrieg herrscht, die hier in ein Asylverfahren gegangen sind und dieses Asylverfahren ordnungsgemäß durchlaufen haben. Wir sollten nicht so tun, als ginge hier alles über einen Leisten.
Wir haben es mit sehr differenzierten Fallgestaltungen zu tun.Die Diskussion, wie sie hier geführt worden ist, ist zu einem großen Teil unverantwortlich, weil sie den Anschein erweckt, als würde hier willkürlich gehandelt und dabei nicht auf die unterschiedlichen Fallgestaltungen Rücksicht genommen. Es ist ein Unterschied, ob jemand aus Bosnien-Herzegowina kommt. Es ist ein Unterschied, wenn er aus Kroatien kommt, woher er aus Kroatien kommt. Und es ist auch ein Unterschied, ob er aus Serbien und Montenegro kommt. Hier haben wir natürlich auch einige Problemfälle.Aber wer Wehrdienstflüchtling ist, wer Deserteur ist, hat hier ein Asylverfahren durchlaufen. Sie kennen ja die Rechtslage —und Sie kennen sie auch, Herr Kollege Hirsch —, daß Wehrdienstflucht und Desertion von der Rechtsprechung nicht als politische Verfolgung anerkannt sind. Davon haben wir zunächst einmal auszugehen.
— Herr Kollege Weiß, dann müssen Sie herkommen, eine Gesetzesänderung beantragen und sie gut begründen. Wenn Sie überzeugend sind, dann kann das Gesetz geändert werden. Aber das sind alles Dinge,
die hier xmal durchgekaut worden sind, meine Damen und Herren.Eines geht ganz sicherlich nicht, Frau Sonntag-Wolgast: daß wir sagen: Da ist das Gesetz, aber das ist eine ganz schlimme Sache, und dem müssen wir die Kategorien moralischer Entrüstung, politischer Moral entgegenstellen.
Nein, das Wichtigste ist, daß wir uns auch in diesem Fall an die rechtsstaatlichen Prinzipien halten, die verschiedenen differenzierten Fälle auseinanderhalten und versuchen, ihnen gerecht zu werden. Diese Möglichkeiten bietet auch das geltende Recht mit dem § 53 und mit dem § 54 des Ausländergesetzes.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde und gleichzeitig auch am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 10. März 1994, 9 Uhr ein.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist geschlossen.