Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich verlese zunächst die amtlichen Mitteilungen: Der Kollege Dr. Franz-Josef Mertens feiert heute seinen 60. Geburtstag. Ist er hier im Raum? — Das ist nicht der Fall. Wir wollen ihm trotzdem von hier aus herzliche Glückwünsche aussprechen.
Dann hat die Fraktion der F.D.P. mitgeteilt, daß der Kollege Dr. Bruno Menzel als ordentliches Mitglied und die Kollegin Dr. Cornelia von Teichman als stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ausscheiden. Als neues ordentliches Mitglied wird der Kollege Torsten Wolfgramm und als neues stellvertretendes Mitglied der Kollege Dr. Rainer Ortleb vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Damit sind die Kollegen Torsten Wolfgramm (Göttingen) als ordentliches und Dr. Rainer Ortleb als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. weitere Überweisungen Im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Egon Jüttner, Dr. Rupert Scholz, Erhard Niedenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Lüder, Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Heinz-Dieter Hackel und der Fraktion der F.D.P.: Abschließende Regelungen zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht — Drucksache 12/6748 —b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitierung, Entschädigung und Versorgung für die Opfer der NS-Militärjustiz — Drucksache 12/6418 —c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Aktionsprogramme SOKRATES und LEONARDO — Drucksache 12/6939 —2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste: Haltung der Bundesregierung zum ersten NATO-Kampfeinsatz seit 1949 und zur Beteiligung der Bundeswehr3. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand der EG-Harmonisierung des Exportkontrollrechts für Güter und Technologlen mit doppeltem Verwendungszweck , Stand Ende Oktober 1993 — Drucksache 12/6187 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll — soweit es erforderlich ist — abgewichen werden.Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. 2. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation — Drucksache 12/6718 —Der in der 210. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24 2. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden:Gesetzentwurf der Fraktion der SPD Zweites Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität — Drucksache 12/6784 —Die in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. 1. 1994 überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll nachträglich dem Auswärtigen Ausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bundesbericht Forschung 1993 — Drucksache 12/5550 —Der Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zum Bundesbericht Forschung 1993 auf Drucksache 12/6562 soll ebenfalls dem Auswärtigen Ausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.Die Punkte ohne Aussprache werden vor der Fragestunde aufgerufen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:a) Sicherung des Zukunftsstandortes Deutschland— Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungJahreswirtschaftsbericht 1994 der Bundesregierung— Drucksache 12/6676 —
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18348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
FinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuß- Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungJahresgutachten 1993/94 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung— Drucksache 12/6170 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußAusschuß für GesundheitAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuß— Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Hermann Bachmaier, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDie deutsche Wirtschaft durch Senkungen der Leitzinsen und durch eine europäische Konjunkturinitiative aus der Rezession führen— Drucksachen 12/5362, 12/6665 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Hermann Schwörerb) Aktionsprogramm II für mehr Wachstum und Beschäftigung— Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über den Stand der Umsetzung der Maßnahmen zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland und des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung— Drucksache 12/6907 — Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuß— Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwandlungssteuerrechts— Drucksache 12/6885 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
RechtsausschußAusschuß für Wirtschaft Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer , Dr. Wolf Bauer, Dr. Dionys Jobst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau und die Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private (Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz — FStrPrivFinG)— Drucksache 12/6884 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschuß gemäß § 96 GO— Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über das Programm zur Schaffung zusätzlicher Teilzeitarbeitsplätze im öffentlichen Dienst— Drucksache 12/6936 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung— Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungFörderung von Teilzeitbeschäftigung bei den Bundesressorts— Drucksache 12/6868 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung— Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung zur Verringerung von Beteiligungen und Liegenschaften des Bundes— Drucksache 12/6889 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß— Unterrichtung durch die Bundesregierung Aktionsprogramm für mehr Wachstum und BeschäftigungBericht der Bundesregierung zur Intensivierung des Dialogs zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Staat zu Forschung, Technologie und Innovation— Drucksache 12/6934 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Bildung und WissenschaftNach einer Vereinbarung im Al testenrat sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Bundesminister Rexrodt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18349
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es waren die Prognosen nicht weniger Auguren des politischen Geschehens, das Superwahljahr 1994 werde zu einem Stillstand der Politik führen, und notwendige Entscheidungen würden blockiert. Nicht erst nach Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts und unseres Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung kann eindeutig festgestellt werden: Für den Verantwortungsbereich der Bundesregierung trifft dies nicht zu.
Für einige Länder sehe ich das allerdings anders.
Es hat noch nicht viele Bundestagsdebatten über den Jahreswirtschaftsbericht gegeben, bei denen auf eine so entschlossene und so schnelle Verwirklichung eines so konkreten Handlungsrahmens hätte verwiesen werden können wie heute.
Es gibt viele, die die Bundesregierung und die Koalition über Monate hinweg gescholten haben, sie tue nichts. Dann wird etwas gemacht, mit sehr gravierendem Inhalt, und das Ganze wird als Aktionismus abgetan. Ich überlasse es dem Betrachter, wie er darüber zu urteilen hat.
Zur gesamtwirtschaftlichen Lage und Prognose der Entwicklung in diesem Jahr: Die aktuelle Konjunktur zeigt deutliche Anzeichen einer allmählichen Erholung. Dazu zählen die erheblich verbesserten Geschäftserwartungen — das ist noch einmal durch die Ifo-Veröffentlichung bestätigt worden —, die Stabilisierung der Industrieproduktion, die gestiegenen Auftragseingänge, vor allem aus dem Ausland, und eine erstaunlich kräftige Baunachfrage. Für die weitere konjunkturelle Entwicklung gibt es handfeste Gründe zur Zuversicht. Die Konstitution der Weltwirtschaft hat sich insgesamt verbessert. Wir werden davon profitieren können, daß die angelsächsischen Länder eine boomartige Entwicklung durchmachen.Zweitens. Der erfolgreiche Abschluß der GATTRunde hat die Chancen für Wachstum und Beschäftigung eröffnet. Durch das Standortsicherungsgesetz haben wir so niedrige Steuersätze für gewerbliche Einkommen wie noch nie zuvor in der Bundesrepublik Deutschland. Alle wissen wir, daß sich der Preisauftrieb spürbar abgeschwächt hat, und die Zinsen am Kapitalmarkt liegen heute nahezu am tiefsten Punkt seit 30 Jahren.
Für 1994 erwarten wir 1 % bis 1,5 % Wachstum in Gesamtdeutschland — 0,5 % bis 1 % im Westen, 6 % bis 8 % im Osten. Unsere Projektionen liegen bekanntlich auf der Linie der Mehrheit der Wirtschaftsforschungsinstitute. Verschiedene Mitglieder des Sachverständigenrates, der ja in seinem Gutachten zunächst etwas zögerlich war, haben inzwischen Korrekturen vorgenommen und nähern sich unseren Prognosen an. Wir sind überzeugt, daß wir objektiv nach bestem Wissen und Gewissen mit diesen Zahlen umgehen, und wir sind überzeugt, daß dieses Wachstumsziel erreicht werden kann.Von daher ist beispielsweise das Gerede des Herrn Bundestagsabgeordneten Jens, im vorigen Jahr besonders laut, es gäbe hier reines Wunschdenken und Schönrechnen, nur Polemik.
Herr Jens wird in der Öffentlichkeit wenig gehört. Da muß er schon einmal überziehen, damit er überhaupt wahrgenommen wird.
— Herr Murmann spricht über die Arbeitslosenzahlen. Die Arbeitslosenzahlen werden von ihm so eingeschätzt, wie wir das auch tun, und darauf komme ich gleich zu sprechen.
Wir betreiben keinen Zweckoptimismus, meine Damen und Herren. Wenn wir von 1,5 % Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt sprechen, verstehen das wenige Menschen. Wir sagen aber ungeschminkt: Im Durchschnitt des Jahres 1994 wird es etwa 450 000 Arbeitslose mehr geben als im Durchschnitt des Jahres 1993.
— Was heißt da gesundbeten? Das ist die bittere Wahrheit, die wir auch aussprechen, weil wir nur auf diese Weise die Instrumentarien einsetzen können und einsetzen werden, um mit diesem Problem fertigzuwerden.Auch und gerade bei der Arbeitslosigkeit gibt es inzwischen weitgehenden Konsens, daß der eigentliche Kern des Problems, die zunehmende Sockelarbeitslosigkeit, strukturell bedingt ist, und zwar nicht nur bei uns in Deutschland, sondern in der gesamten Europäischen Union, in den OECD-Staaten insgesamt.Niemand kann versprechen, daß er die Arbeitslosenprobleme in Ostdeutschland oder Westdeutschland mit Patentlösungen rasch beheben könne — auch die Opposition nicht. Ich will hier gar nicht polemisieren. Sie sagen das ja auch nicht. Wir alle wissen: Wer das Patentrezept anbietet, ist ein Scharlatan.
Um so entschlossener müssen wir die Strukturfehler korrigieren, die für den wachsenden Sockel von Arbeitslosen verantwortlich sind. Das ist zentrales Anliegen der Politik der Bundesregierung, und es ist auch Kernthema unseres Jahreswirtschaftsberichts. Die wichtigsten Teile unseres Aktionsprogramms, mit
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18350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtdem wir den Standortbericht ausfüllen und umsetzen wollen, sind: erstens konsequente Fortsetzung der Konsolidierungspolitik; zweitens Festlegung der steuerpolitischen Grundlinie für die nächste Legislaturperiode: Unternehmensteuerreform, Freistellung des Existenzminimums und Erleichterung der Beschäftigung in privaten Haushalten durch Steuervereinfachung; drittens Existenzgründungs- und Innovationsoffensive im Mittelstand, auf den wir setzen, den wir fördern wollen und der Motor und Lokomotive beim Herauskommen aus der Rezession sein kann; viertens Verbesserung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums. Hier haben wir Entscheidungen getroffen oder eingeleitet, die gravierender Natur sind, die dazu angetan sind, die Probleme am Arbeitsmarkt zu erleichtern — nicht zu lösen, aber Schritt für Schritt zu erleichtern.In der vergangenen Woche habe ich, meine Damen und Herren, im Kabinett einen Zwischenbericht zur Umsetzung der Maßnahmen zur Zukunftssicherung und des Aktionsprogramms vorgelegt. Er zeigt, daß die Bundesregierung und die sie tragende Koalition die Dinge voranbringen. Er weist aus, daß von 90 Maßnahmen, die im Bereich des Bundes vorgesehen sind, 62 bereits verwirklicht oder auf den Weg gebracht worden sind. Auch das letzte Drittel werden wir in dieser Legislaturperiode noch umsetzen. Darunter sind wichtige, sensationelle Maßnahmen. Es ist kompliziert, vielfach auch nicht transportierbar. Aber es wird sich in einer besseren Entwicklung der Wirtschaft auszahlen. Das Planungsvereinfachungsgesetz, das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, die Novelle des Gentechnikgesetzes, was wir bei Bahn und Post in Gang gebracht haben und was wir jetzt am Arbeitsmarkt tun: Ich möchte Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten, und den Bundesrat bitten, diese Gesetze jetzt zügig zu beraten und zu verabschieden.
Unsere Initiativen zur Standortsicherung haben auch der wirtschaftspolitischen Diskussion in der Öffentlichkeit eine positive Wende gegeben. Wir haben die Zeichen gesetzt, und wir haben die Diskussion vorangebracht; sie ist Allgemeingut geworden. Die Menschen, auch die einfachen Menschen, sonst nicht übermäßig an Politik und Wirtschaft interessiert, wissen, was wir mit der Standortdiskussion meinen: daß es um Arbeitsplätze geht, daß es um ein Auflösen der Erstarrungen in dieser Gesellschaft geht, daß viele umdenken müssen, auch die in der Opposition, wenn wir die Probleme lösen wollen.
Das haben wir zustande gebracht.Forderungen nach kurzatmigen Ausgabenprogrammen kommen heute nur noch aus dem Teil derSPD, den ich als den verstaubten, den vorgestrigen Teil bezeichnen möchte.
Da gibt es den Herrn Ehrenberg, der will sogar zusätzliche umfangreiche kreditfinanzierte Ausgabenprogramme; das steht beispielsweise in der „Frankfurter Allgemeinen" vom 17. Februar. Die Zinszahlungen sollen dabei aus Bundesbankgewinnen erfolgen, die derzeit zur Verringerung der Altschulden eingesetzt werden. Er übersieht dabei völlig, daß das natürlich höhere Zinsen für Altschulden bedeutet und damit nicht ein einziger Pfennig gespart werden kann. So der Herr Ehrenberg. Herr Scharping sprach sich demgegenüber strikt gegen eine höhere Neuverschuldung
und gegen klassische Konjunkturprogramme aus: „Kölner Stadtanzeiger".Wo sollen die 40 Milliarden DM denn auch herkommen, die immer wieder von einigen von Ihnen gefordert werden, wenn nicht durch eine Erhöhung der Nettoneuverschuldung? Da geht man her und fordert ein neues Konjunkturprogramm — ein Strohfeuer, wie wir wissen — und eine Aufstockung der Nettoneuverschuldung um 40 Milliarden DM,
und auf der anderen Seite, Frau Matthäus-Maier, kritisiert man die angeblich unsolide Haushaltsfinanzierung.
Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden.
Dann stellen Sie sich hin und sprechen davon: Ihr müßt sparen, Ihr müßt bei den Subventionen hinsehen. Was ist denn, wenn wir die Kohlesubvention herunterfahren wollen? Wo ist denn Herr Rau zu hören? Wenn wir die Werftsubventionen abbauen wollten: Wo ist denn Herr Schröder?
Was sagen Sie denn, wenn wir an die Landwirtschaft heranwollten?
Oder wenn wir den Aufbau Ost weniger finanzieren wollten? Wo sind denn da Ihre Beiträge? Nichts als Polemik. Das Jahr 1994, meine Damen und Herren, findet statt.
Herr Thierse hat vorgeschlagen, daß die Bundesanstalt für Arbeit die noch bestehenden Lohndifferenzen in den neuen Bundesländern mindestens teilweiseBundesminister Dr. Günter Rexrodtausgleichen sollte. Frau Matthäus-Maier wiederum erklärt im Mitteldeutschen Rundfunk am 23. Oktober 1993:Von staatlichen Lohnkostenzuschüssen halte ich nichts, aus einem ganz einfachen Grunde: Wenn noch so gut gewillte Tarifpartner das Gefühl haben, sie vereinbaren etwas Teures, und ein Dritter, nämlich der Staat, wird im Zweifelsfall für die Bezahlung eintreten, dann verführt das die Menschen dazu, daß sie etwas Hohes vereinbaren, weil sie wissen, ein Dritter zahlt.Wunderbar, wohl wahr.
Auch Herr Scharping unterstrich vor kurzem, daß die Belastung der breiten Massen mit Steuern und Abgaben schon jetzt zu hoch sei.
Ich füge hinzu: nicht nur der breiten Masse. Von Ihnen, von Herrn Jens und anderen, höre ich von dieser Stelle immer wieder den Ruf nach einer Mehrbesteuerung der sogenannten Besserverdienenden und zusätzlichen Steuern dafür, daß sogenanntes leistungsloses Einkommen erzielt wird. Was ist eigentlich „leistungsloses Einkommen"?
Meine Damen und Herren, mit Polemik und mit Vorschlägen, die Steuern an Stellen, wo unsere Leistungsträger betroffen sind, zu erhöhen, werden Sie das Gegenteil dessen erreichen, was in diesem Lande zur Zeit angesagt ist.
Was wir brauchen, ist eine Stärkung der Leistungsträger: der Leistungsträger im Mittelstand, in der Wirtschaft, in den freien Berufen und auch in der Politik. Da vermisse ich Leistungsträger, solche mit wirtschaftlicher Kompetenz, insbesondere in Ihren Reihen, meine Damen und Herren.
Wo sind denn Ihre Wirtschaftspolitiker? Wo sind denn Ihre Vorschläge? Es kommt nichts als blauer Dunst.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Positionen des Jahreswirtschaftsberichts kurz erläutern. Strukturelle Fehlentwicklungen, die ich für die zunehmende Sockelarbeitslosigkeit verantwortlich gemacht habe, gibt es sowohl bei den Kosten als auch bei der Produktivität. Das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren, das Verhältnis zwischen Kosten und Produktivität entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland. Die beschäftigungsfördernde Strukturverbesserung muß an diesen beiden Hebeln ansetzen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, gerne.
Herr Minister, Sie haben gerade gesagt, Sie träten auch für die geringere Besteuerung von politischen Leistungsträgern ein. Sind Sie ernsthaft der Ansicht, daß auch Sie zu diesen politischen Leistungsträgern gehören?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Oh Gott.
Ich würde mir ja gerne ein Vorbild an Ihnen nehmen; aber das Niveau ist gegeben. Haben Sie noch eine Frage, Herr Abgeordneter? — Das ist gut.
Meine Damen und Herren, auf der Kostenseite geht es nicht um die Kosten der Arbeit allein. Es geht auch um die Belastung mit Steuern und Abgaben, um Regulierungskosten, um Strom und Telekommunikationstarife und vieles mehr. Deshalb richtet sich unsere Politik der Standortverbesserung auf all diese Kostenbestandteile. Deshalb wollen und werden wir ein steuerpolitisches Konzept vorlegen. Deshalb werden wir gegen Ihre Widerstände bei der Postreform vorankommen. Deshalb habe ich versucht, einen Energiekonsens herbeizuführen, um von daher Entlastung zu bringen. Aber das ist durch den ideologisierten Teil der SPD unmöglich gemacht worden.Im gegenwärtigen Zeitpunkt kommt es darauf an, daß die Tarifpartner ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie entscheiden nicht nur über Löhne und den Großteil der Lohnzusatzkosten. Mit den tariflichen Regelungen zur Arbeitszeit entscheiden sie im wesentlichen auch über Produktivität. Zur Verbesserung der Relation zwischen Kosten und Produktivität muß die Tarifpolitik entscheidend beitragen. Es kommt darauf an, daß wir Zurückhaltung bei den Löhnen üben und daß wir mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten erreichen. Das Produktivitätssteigerungs- und Kostensenkungspotential einer besseren Auslastung teurer Produktionsanlagen durch flexiblere Arbeitszeiten ist gerade bei uns auf Grund der besonders kurzen Wochenarbeitszeiten sehr hoch zu veranschlagen.
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18352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Dr. Günter RexrodtWir machen deshalb das Beschäftigungsgesetz von 1994. Wir führen arbeitspolitische Maßnahmen durch, mit denen wir von staatlicher Seite einen Beitrag zur Flexibilisierung leisten. Ich erwarte, daß das in den tariflichen Abschlüssen, die noch vor uns liegen, seinen Niederschlag finden wird, in gleicher Weise wie beispielsweise bei den Abschlüssen der Chemieindustrie, die den richtigen Weg gezeigt haben.
Pauschale Regelungen für die Situation des einzelnen Unternehmens müssen wegfallen. Wir brauchen eine Differenzierung und Individualisierung. Das gilt für den Osten wie für den Westen.
Nichts ist derzeit schlimmer als die Aussicht auf einen Streik. Wer heute auf einen Streik zusteuert — unverantwortlich auch deshalb, weil die beiden Parteien nicht einmal wissen, was die jeweils andere will —, der schadet dem sich abzeichnenden Aufschwung. Ein Streik ist das letzte, was wir derzeit gebrauchen können.
Ich appelliere an die Tarifpartner, daß sie so schnell wie möglich einen Kompromiß finden, um auch Ruhe und Sicherheit in die Politik, in den Arbeitsmarkt und in die wirtschaftliche Entwicklung zu bringen.
— Wozu haben wir beigetragen?
— Wir haben wohl dazu beigetragen — da haben Sie recht —, daß auch der Tarifpartner Arbeitgeber Flexibilität durchzusetzen versucht. Wir haben das aber nicht getan, weil wir in irgendeiner Weise parteilich sind,
sondern deshalb, weil es das Gebot der Stunde ist.
Bei Ihrem Denken aus der Vergangenheit, daß Besitzstände nicht in Frage gestellt werden sollen, daß alles so bleiben muß, wie es ist,
laufen den Gewerkschaften die Leute weg, und auch Ihnen werden die Leute weglaufen, weil die Menschen gemerkt haben: Erstarrungen müssen aufgelöst werden.
Meine Damen und Herren, zum Aufbrechen der Erstarrungen gehören viele Maßnahmen im Bereich der Deregulierung und der Entbürokratisierung. Davon würde insbesondere der Mittelstand profitieren. Kleine und mittlere Unternehmen sowie Existenzgrunder brauchen weniger Hindernisse. Wir müssen sie aus dem Weg räumen. Wenn dort eine Deregulierung stattfände, dann würden wir am wirkungsvollsten Innovation, Strukturwandel und zusätzliche Beschäftigung fördern.
Zum Ausräumen von Hindernissen gehört auch der erleichterte Zugang zum Kapitalmarkt. Wir wollen das mit der kleinen AG und mit der erleichterten Umwandlung von Unternehmen erreichen. Wenn es Ihnen bei der SPD mit einer Erleichterung des Strukturwandels durch mittelständische Anpassungsflexibiltiät ernst wäre, dann müßten Sie in diesen Punkten mitziehen. Dafür möchte ich werben und Sie bitten, den Gesetzentwürfen zuzustimmen.
Jahreswirtschaftsbericht und Standortbericht gehören zusammen. Ich sage noch einmal: 62 von 90 Maßnahmen sind auf den Weg gebracht. Wir tun etwas. Wir machen unsere Schularbeiten.
Wir erwarten, daß auch andere Gruppen der Gesellschaft das tun und daß das erstarrte Besitzstandsdenken auch in bestimmten politischen Parteien überwunden wird. Wir haben gravierende Veränderungen angestoßen. Wir erwarten Umdenken bei den Unternehmen, bei den Gewerkschaften und bei der Politik. Wir müssen Erstarrungen auflösen und scheinbar Selbstverständliches in Frage stellen. Wir machen unsere Schularbeiten.
Sie werden sich wundern, und wir werden Erfolg haben. Freuen Sie sich nicht zu früh. Die Weichen in der Wirtschaftspolitik sind richtig gestellt. Von Ihnen kommt keine Alternative als die, die Besserverdienenden höher zu besteuern
und 40 Milliarden DM zusätzlich Schulden zu machen. Wo ist Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz?
Wir haben angestoßen, wir haben aufgezeigt, was gemacht werden muß.
Sie ziehen nach, und wenn Sie nachziehen, ziehen Sie sogar schlecht nach. Das merkt der Bürger.
Als nächster spricht der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18353
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Herren! Angesichts der großen Besorgnis in der Bevölkerung über den Anstieg der Arbeitslosigkeit konzentriert sich die Bewertung des Jahreswirtschaftsberichts auf eine Frage — das interessiert sicherlich diejenigen, die uns hier im Saale zuhören, ebenso wie diejenigen, die uns draußen zuhören —: Welche wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen schlägt die Bundesregierung vor, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr zu bremsen — ich formuliere: den Anstieg der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr zu bremsen — und die Arbeitslosigkeit mittelfristig zurückzuführen?Festgestellt werden muß: Die Bundesregierung selbst geht in ihrem Jahreswirtschaftsbericht nicht davon aus, daß ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit führen wird. Im Gegenteil: Sie rechnet für dieses Jahr mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um rund eine halbe Million und mit einer Arbeitslosenquote von 10 %.
Dabei ist von besonderer Bedeutung, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung ein sogenanntes Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung zum integralen Bestandteil des Jahreswirtschaftsberichtes erklärt hat. Der aufmerksame Leser stellt aber zu seinem Erstaunen fest: Keine der im Aktionsprogramm vorgestellten Maßnahmen hat dazu geführt, daß die im Bericht vorgelegte Jahresprojektion zu Investitionen, Beschäftigung und Wachstum nach oben korrigiert worden wäre. Die Bundesregierung geht also selber davon aus, daß das auch von Herrn Bundeswirtschaftsminister angesprochene Aktionsprogramm 1994 keine nachhaltigen Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung haben wird.Dieser Einschätzung der Bundesregierung schließen wir uns an, schließt sich auch die kritische Öffentlichkeit an. Dieses Aktionsprogramm — das ist keine Erfindung der SPD, Herr Bundeswirtschaftsminister — wird in der kritischen Öffentlichkeit als politischer Aktionismus bewertet.
Es ist — etwas locker formuliert — mehr oder weniger weiße Salbe.
Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung seit langem eine ordnungspolitisch klare und tragfähige Orientierung fehlt. Dabei könnte die Bundesregierung bei der Bundesbank nachlesen, wo sie ansetzen müßte, wenn Wachstum und Beschäftigung wirklich vorangebracht werden sollen. Die Bundesbank schreibt in ihrem neuesten Monatsbericht:Für das Anhalten der Rezession sind vor allem heimische Faktoren— vor allem heimische Faktoren —verantwortlich. Während der Konjunktureinbruch zunächst von einem Absacken der Auslandsnachfrage ausgelöst und verstärkt wordenwar, konzentrieren sich die Schwächetendenzen jetzt auf den privaten Verbrauch und die Investitionstätigkeit.Wenn sich die Schwächetendenzen auf den privaten Verbrauch und die Investitionstätigkeit konzentrieren, dann wäre eigentlich zu erwarten, daß die Wirtschafts- und Finanzpolitik jetzt alles unternimmt, um den privaten Verbrauch und die Investitionstätigkeit zu stärken.
Tatsächlich aber trägt die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung diesem Erfordernis nur eingeschränkt Rechnung.Beginnen wir mit dem privaten Verbrauch: Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, die Erhöhung der Verbrauchsteuern und die Kürzung sozialer Leistungen schmälern den privaten Verbrauch und sind daher Gift für die Konjunktur.
Auch die Finanzierung der notwendigen Maßnahmen für die deutschen Einheit, wesentlich über die Sozialversicherungsbeiträge, ist wirtschaftspolitisch der falsche Weg. Statt den privaten Verbrauch zu stabilisieren, haben Sie Steuer- und Abgabenbelastungen auf neue Rekordhöhen gebracht und die Preise nach oben getrieben. Das sind auch wesentliche Gründe dafür, weshalb im Jahre 1993 die realen Nettoeinkommen der westdeutschen Arbeiter spürbar gesunken sind.
Daß die Bundesregierung nicht erkannt hat, daß sich die Schwächetendenzen jetzt auf den privaten Verbrauch konzentrieren, beweist eine weitere Passage des Jahreswirtschaftsberichtes. Auf Seite 5 heißt es:Der Bund strebt in den Tarifverhandlungen 1994 eine Nullrunde für den öffentlichen Dienst an.Nach Adam Riese wären damit weitere reale Einkommensverluste programmiert, da die Bundesregierung ja bei Steuer- und Abgabenerhöhungen und bei der Inflation — wenn ich richtig orientiert bin — keine Nullrunde vorgesehen hat.Es ist offenkundig, daß die Bundesregierung nicht nur die konjunkturpolitische Bedeutung des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst, sondern auch die Auswirkungen ihrer Vorgaben auf die übrigen Tarifverhandlungen — ich formuliere zurückhaltend — nicht ausreichend bedacht hat.
Kennzeichnend für die unstete Politik dieser Bundesregierung ist aber auch, daß ihre Festlegungen keinen Bestand haben. Ich unterstelle einmal, daß auch der Herr Bundeskanzler ganz persönlich Zeit gefunden hat, im Jahreswirtschaftsbericht bis Seite 5 zu lesen, wo er mit seinem Kabinett eine Nullrunde für den öffentlichen Dienst gefordert hat.
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18354 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Dies hinderte ihn aber nicht daran, einige Wochen später eine Sockellohnerhöhung im öffentlichen Dienst zu empfehlen.
— Er ist nur bis Seite 4 gekommen. Ich vermag hier natürlich nicht verbindlich zu erklären, bis zu welcher Seite unser Bundeskanzler ganz persönlich gekommen ist.
Ich will darauf hinweisen, daß er mit der Sockellohnempfehlung natürlich auch das Thema der Besserverdienenden aufgegriffen hat, allerdings von der anderen Seite.Nur, meine Damen und Herren: Wenn Sie ordnungspolitische Klarheit wollen, dann sollten Sie nicht an dem vorbeigehen, was nun seit 20 Jahren kritisch zu den Folgewirkungen der Sockellohnpolitik im Hinblick auf eine Beschäftigung zu niedrigen Löhnen in unserer Republik überall gesagt wird. Wenn Sie also beispielsweise so sehr gegen Besserverdienende polemisieren — —
— Meine Damen und Herren, die Freude sei Ihnen gegönnt: Ich habe mich versprochen.Wenn Sie so sehr gegen die Forderung nach einer gerechteren Beteiligung auch der Besserverdienenden an den Belastungen aus der Finanzierung der deutschen Einheit polemisieren, ist zumindest diese Empfehlung des Herrn Bundeskanzlers in sich nicht konsequent.
Im übrigen sage ich Ihnen noch einmal, wenn Sie es nicht begreifen wollen: Wer soziale Leistungen kürzt, wer Verbrauchssteuern erhöht, wer soziale Versicherungsbeiträge über Gebühr anhebt, wer Unternehmenssteuern stolz um 11 % gesenkt hat, der kann nicht für sich in Anspruch nehmen, daß er eine gerechte Verteilung der Lasten der deutschen Einheit vornimmt.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mit großem Vergnügen. Bitte sehr.
Herr Ministerpräsident, würden Sie uns das Vergnügen machen, uns Ihre Position zu der Frage der Nullrunde und der — wie Sie es nennen — Sockellohnerhöhung darzustellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe dies bereits mehrfach getan.
— Nun halten Sie doch einmal die Luft an! Ich wollte es gerade noch einmal wiederholen, auch für diejenigen, die nicht immer dazu kommen, zu lesen oder zuzuhören.Ich halte in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation angesichts des Rückgangs des privaten Verbrauchs die Empfehlungen zu Nullrunden und zu Lohnkürzungen konjunkturell nicht für verantwortbar.
Meine Damen und Herren, zu Ihrer unsteten Politik, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Bundeskanzler wenige Wochen nach Erscheinen des Jahreswirtschaftsberichts eine wichtige Festlegung selbst wieder einsammelt, sage ich: Entweder hätte der Bundeskanzler wissen müssen, daß es unklug und wirkungslos sein würde, eine solche Formel in den Jahreswirtschaftsbericht zu schreiben. Dann hätte er verhindern müssen, daß der Satz mit der Nullrunde im öffentlichen Dienst in den Jahreswirtschaftsbericht aufgenommen wird. Oder aber der Bundeskanzler hat diese Formel bei den Beratungen im Kabinett für richtig gehalten. Dann hätte er sie aber nicht selbst schon wieder in Frage stellen dürfen, als die Druckerschwärze des Jahreswirtschaftsberichts noch nicht trocken war.Inkonsequenter geht es doch nicht mehr, meine Damen und Herren! Hier liegen die Ursachen der Ergebnisse Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben einige kritische Bemerkungen an die Leistungsträger in der SPD gemacht.
Heiner Geißler hat auf Ihrem Bundesparteitag gesagt: Nur wer sich selbst imponiert, imponiert anderen.
Ich mache Sie vorsorglich darauf aufmerksam, Herr Bundeswirschaftsminister, daß dies kein Naturgesetz ist.
Meine Damen und Herren, Heiner Geißler hat nämlich an anderer Stelle gefordert, man könne das Bundeswirtschaftsministerium ja auch abschaffen. Ob dies ein Kompliment an die Leistungsträger in Ihren Reihen ist, werfe ich zumindest als Frage auf.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18355
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Auch ein anderer, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, hat eine ähnliche Äußerung gemacht.
Man kann seine Kritik an der Wirtschafts- und Finanzpolitik natürlich auf verschiedene Art und Weise ausdrücken; aber ein Kompliment an die Leistungsträger in Ihren Reihen, meine Damen und Herren, ist diese öffentliche Diskussion nun bei Gott nicht. Das wollen wir doch einmal festhalten.
Wenn von der Bundesregierung selber die konjunkturelle Notwendigkeit übersehen wird, den privaten Verbrauch zu stärken, dann wundert es nicht, wenn auch einzelne Arbeitgeberverbände übersehen, daß Tarifverträge auch den konjunkturellen Erfordernissen Rechnung tragen müssen. Ich wiederhole noch einmal: Pauschale Lohnkürzungen und Nullrunden passen nicht in die konjunkturelle Landschaft. Sie würden den privaten Verbrauch weiter schwächen und die Arbeitslosigkeit noch weiter erhöhen.Es wäre daher notwendig, daß die Bundesregierung das falsche Signal, das sie beim öffentlichen Dienst mit ihrem Jahreswirtschaftsbericht den Tarifpartnern gegeben hat, korrigiert. Sie muß deutlich machen, daß sie selber im Jahreswirtschaftsbericht an einer anderen Stelle von einem moderaten Anstieg der Bruttolohn- und gehaltssumme ausgegangen ist und daß dieser Anstieg Voraussetzung für das von ihr prognostizierte Wachstum ist. Wenn dieser nämlich nicht kommt, können Sie die Zahlen korrigieren oder in den Wind schreiben, wie immer Sie das formulieren wollen.Meine Damen und Herren, ich stimme Ihnen zu, daß wir jetzt, in dieser labilen Lage der Konjunktur, keinen Streik gebrauchen können. Wir sollten aber all diejenigen einfangen, die an der falschen Stelle mit überzogenen Forderungen operieren. Pauschale Lohnkürzungen und Nullrunden passen tatsächlich nicht in die konjunkturelle Landschaft.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne, wenn es mir nicht auf die kostbare Redezeit angerechnet wird.
— Herr Abgeordneter Dr. Schäuble, auf Sie komme ich bei Gelegenheit noch zu sprechen. Sie können sich darauf freuen.
Bitte schön.
Herr Ministerpräsident, könnten Sie mir und diesem Hause im Zusammenhang mit Ihrer Ablehnung der Nullrunde Aufklärung darüber geben, wie die Haltung des Saarlandes bei den gegenwärtigen Verhandlungen über die
Abschlüsse im öffentlichen Dienst ist und ob das I Saarland bei diesen Verhandlungen auf der Arbeitgeberseite eine abweichende Auffassung, ein Sondervotum, gegenüber den übrigen Verhandelnden vertritt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, bei Tarifverhandlungen ist es immer so, daß die Tarifpartner zunächst von zwei Maximalforderungen ausgehen.
Dies ist Ihnen sicherlich bekannt. Auf der anderen Seite wäre es dumm, töricht und absurd — um ein berühmtes Wort aufzugreifen —, wenn ich von hier aus Festlegungen träfe, wie das Endergebnis der Tarifverhandlungen aussehen wird. Genau dies kritisiere ich bei Ihnen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte. Dann aber würde ich bitten, im Zusammenhang vortragen zu dürfen.
Das können Sie entscheiden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Unter Hinweis auf den Sachverhalt, daß Sie meine Frage nicht beantwortet haben, wiederhole ich: Ist es also richtig, wenn ich Ihrer Antwort entnehme, daß das Saarland kein Sondervotum eingenommen und ausdrücklich den Ausgangspunkt einer Nullrundenforderung akzeptiert hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Unter Hinweis, Herr Abgeordneter, darauf, daß Sie meine Antwort nicht verstanden haben, wiederhole ich: Es ist töricht, öffentlich Ergebnisse von Tarifverhandlungen festklopfen zu wollen.
Pauschale Lohnkürzungen und Nullrunden wären sozialpolitisch nicht vertretbar. Sie würden die schwierige Lage der einkommensschwächeren Arbeitnehmer noch weiter verschärfen. Über die nettolohnbezogene Rentenformel würden sie auch dazu führen, daß es im nächsten Jahr erstmals zu einer Kürzung der Renten kommt. Diese Gefahr droht erst recht angesichts der Steuer- und Abgabenerhöhung, die die Bundesregierung vorsieht.Wer solche Maßnahmen vorschlägt, meine Damen und Herren, muß der Öffentlichkeit auch die Konsequenzen darlegen. Nachdem Sie an zwei Stellen schwere Fehler begangen haben, indem Sie gesagt haben, es gebe keine Steuererhöhungen, dann aber eine Steuererhöhungsorgie durchgeführt haben,
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18356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
indem Sie weiter gesagt haben, es werde keine Kürzung sozialer Leistungen geben — ich zitiere den Herrn Bundeskanzler: Von Kürzungen sozialer Leistungen kann gar keine Rede sein —, dann aber soziale Leistungen in großem Umfang gekürzt haben, ermahne ich Sie, den Rentnerinnen und Rentnern die Wahrheit zu sagen und die Konsequenzen Ihrer Politik nicht zu verschweigen.
Über diese Konsequenzen und über diese Verantwortung müssen sich Bundesregierung und Tarifpartner im klaren sein. Wir brauchen jetzt dringend konjunkturgerechte Tarifabschlüsse. Ich appelliere an beide Tarifparteien, aufeinander zuzugehen und zu einem vernünftigen Kompromiß zu finden.Beim privaten Verbrauch ist nachgewiesen, daß die Bundesregierung durch ihre Entscheidungen die rezessiven Tendenzen eher verstärkt hat. Bliebe die Hoffnung, daß ausreichende Maßnahmen ergriffen werden, um die Investitionstätigkeit zu fördern. Dabei wird als bekannt vorausgesetzt, daß der Rückgang der Gesamtnachfrage die Investitionstätigkeit nicht gerade anregt. Insbesondere bei der Förderung der Investitionstätigkeit muß sich die Bundesregierung Versäumnisse vorwerfen lassen. Daß das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung die Investitionen in den neuen Ländern entscheidend behindert hat, ist mittlerweile nicht mehr bestritten.
Die Bundesregierung trägt hierfür die Verantwortung.Aber auch die Steuerpolitik der Bundesregierung hat die Aufgabe, die Investitionen der Unternehmen zu fördern, nicht ausreichend erfüllt. Es nimmt sich im nachhinein wie ein wirtschaftspolitischer Treppenwitz aus, daß die Bundesregierung beim Standortsicherungsgesetz eine Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen für Investitionen vorgeschlagen hat. Wir haben das im Bundesrat verhindert. So konnte diese Bestrafung der investierenden Unternehmen gerade noch abgewendet werden.Um die Investitionskraft der Unternehmen zu stärken, wollen wir auch die Lohnnebenkosten senken. Wir wollen eine wirtschaftspolitisch vernünftige Strukturreform: auf der einen Seite Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge und im Gegenzug eine gerechte und systematisch saubere Steuerfinanzierung.
Diese Senkung der Lohnnebenkosten würde alle Arbeitnehmer und alle Unternehmen entlasten. Das käme nicht zuletzt auch den kleinen und mittleren Unternehmen zugute.Meine Damen und Herren, auch hier eine kritische Bemerkung an Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister; nicht um zu polemisieren. Wenn Sie von Leistungsträgern sprechen, dann dürfen Sie nicht nur an den Mittelstand, an selbständige Unternehmer oder Politiker denken, dann müssen Sie endlich erkennen, daß die Leistungsträger in unserer Volkswirtschaft dieArbeitnehmer sind, die den Wohlstand durch ihre Arbeit geschaffen haben.
Deshalb ist es eine ordnungspolitische Fehlorientierung Ihrer Regierung, daß Sie bei Leistungsträgern immer nur an diesen einen Teil denken.
Das sehen Sie ja auch an der Kompensationsdebatte. Ich will das Thema jetzt hier nicht noch einmal aufwärmen. Wenn Sie die Kompensationsdebatte wirklich ordnungspolitisch klar geführt hätten, dann hätten Sie darauf hinwirken müssen, daß die Lohnnebenkosten nicht weiter steigen, daß auch die Arbeitnehmer nicht weiter und zusätzlich belastet werden; denn nicht nur die Leistungsträger in der Wirtschaft, unter denen Sie Unternehmer und Selbständige verstehen, müssen entlastet werden, auch die Arbeitnehmer können nicht ständig mit steigenden Steuern und Abgaben belastet werden.
Das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft sieht in § 26 für Investitionen einen Abzug von der Einkommensteuer in Höhe von 7,5 % vor, der anzuwenden ist, „wenn es zu einem erheblichen Rückgang der Nachfrage nach Investitionsgütern oder Bauleistungen kommt". Diese Lage ist ohne Frage gegeben.Jetzt müßte alles getan werden, um die Unternehmen zu mehr Investitionen zu bringen. Die Bundesregierung hat durch ihre Schuldenpolitik ihren Handlungsspielraum so eingeengt, daß konjunkturell gebotene Maßnahmen zur Förderung der privaten Investitionen auf ernstzunehmende finanzpolitische Einwände stoßen. Das zeigt: Die Finanzpolitik der Bundesregierung wird auch zum Investitionshindernis. Solange die Bundesregierung keine glaubwürdige Konsolidierungsperspektive vorlegt — und daß Sie die nicht haben, bescheinigen Ihnen alle Sachverständigen und die Bundesbank —, liefert sie auch der Bundesbank die Argumente für eine zurückhaltende Geldpolitik. Es wäre außerordentlich wünschenswert, wenn die Bundesbank in der gegenwärtigen Situation die Zinsen mutiger senken könnte, um damit zu einem Aufschwung in Deutschland und in Europa beizutragen. Diese Forderung wird auch aus dem Kreis der G 7 erhoben.Tatsache ist aber, daß die Bundesbank nach eigenem Bekunden diese notwendigen geldpolitischen Maßnahmen nicht ergreifen kann, weil die Bundesregierung nicht in der Lage ist, einen vertrauensbildenden Konsolidierungspfad darzulegen, auf den sich die Märkte verlassen können.
Im Gegenteil, der Anstieg der Staatsverschuldung wird immer mehr zu einer Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Die sprunghaft steigende Staatsverschuldung ist auch die Hauptursa-
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Ministerpräsident Oskar Lafontaine
che für die gegenwärtige Vertrauenskrise bei Investoren und Verbrauchern.Vor allem der Anstieg der Zinsbelastung ist besorgniserregend. Die Zinsausgaben des Bundes und seiner Nebenhaushalte lagen 1982 noch bei 28 Milliarden DM; in diesem Jahr sind es über 100 Milliarden DM. 1997 sind es nach den Planungen der Bundesregierung rund 130 Milliarden DM.
— Ich will Ihnen das gerne beantworten, Herr Abgeordneter, da Sie mir das immer wieder entgegenhalten. Im Saarland wurde 1985 zum ersten Mal eine Opposition aus dem Stand heraus in eine absolute Mehrheit gewählt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Warum? — Weil die Wirtschaft katastrophale Ergebnisse hatte und die Finanzen total zerrüttet waren.
Wenn ich an die nächsten Monate denke: So etwas wiederholt sich; davon können Sie mit Sicherheit ausgehen, meine Damen und Herren.
Dieser sprunghafte Anstieg der Zinsbelastung führt den Bund in die Handlungsunfähigkeit. Die Finanzpolitik muß — damit zitiere ich Karl Schiller — durch Säen und Jäten alles daransetzen, die Handlungsfähigkeit des Staates wiederherzustellen. Die Grenzen der Staatsverschuldung sind zweifelsfrei erreicht. Deshalb müssen wir jetzt mit einem mittelfristig angelegten Sanierungskonzept eine glaubwürdige Konsolidierungsperspektive schaffen.Konjunktur und Arbeitsmarkt werden auch dadurch belastet, meine Damen und Herren, daß der Bundesregierung in der Mittelstandspolitik eine klare Orientierung fehlt. Sie hat 1991 das Eigenkapitalhilfeprogramm in Westdeutschland abgeschafft. Jetzt, kurz vor den Wahlen, will sie es wieder einführen. Was ist denn das für eine unstete Wirtschafts- und Finanzpolitik!
Wundern Sie sich dann noch, daß nichts mehr draußen ankommt, was Sie vielleicht jetzt in guter Absicht wieder beschließen?
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich würde jetzt bitten, daß ich nicht ständig von Fragen unterbrochen werde; ich habe das vorhin angedeutet. Ich würde gerne im Zusammenhang vortragen.Jetzt, kurz vor den Wahlen, will sie dies wieder einführen. Wir begrüßen das, meine Damen und Herren. Das kommt aber leider viel zu spät. Die Chancen, rechtzeitig Maßnahmen zu mehr wirtschaftlicher Dynamik zu beschließen, sind vertan.Ein weiteres Beispiel: Sie selbst, meine Damen und Herren, haben die Aufstiegsfortbildung nach dem AFG für angehende Handwerksmeister völlig gestrichen. Jetzt versuchen Sie, diesen Fehler zu korrigieren. Ich wiederhole: Was ist das für eine unstete Wirtschafts- und Finanzpolitik,
die übersieht, welchen Beitrag das Handwerk zur Stabilität der Beschäftigung überall bei uns geleistet hat und in Zukunft leisten muß!Im Gegensatz zu dem früheren Zuschußprogramm sind die jetzt vorgesehenen Darlehen aber nur ein halbherziger Versuch.Das ist keine glaubwürdige Mittelstandspolitik. Dieses Hin und Her, diesen Aktionismus kann sich der wirtschaftliche Mittelstand und kann sich der Standort Deutschland nicht leisten. Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen und die Existenzgründer brauchen klare und berechenbare Rahmenbedingungen.Meine Damen und Herren, wenn Sie Ihre Steuerpolitik der letzten Jahre selbst als klar und berechenbar bezeichnen, dann weiß ich wirklich nicht, was wir unter klar und berechenbar verstehen.
Bei dieser Bundesregierung ist die mittelständische Wirtschaft mehr und mehr zum Stiefkind geworden. Die Unternehmenssteuersenkungen der letzten Jahre, meine Damen und Herren, haben teilweise den Nachteil gehabt, daß sie den kleinen Betrieben relativ wenig gebracht haben. Wir haben in Verhandlungen immer wieder darauf hingewiesen, beispielsweise bei den Lohnnebenkosten etwas zu tun. Dies hätte allen Betrieben, auch dem kleinsten Betrieb, etwas gebracht, und wenn er nur eine Halbtagskraft beschäftigt hätte. Aber Sie haben diese Forderungen immer wieder in den Wind geschlagen und teilweise, eben bei der Vermögensteuer, in erster Linie die Betriebe entlastet, die sowieso nebenher noch Finanzanlagen großen Umfanges vorhalten.
Die jetzt geplante Abschaffung des Rabattgesetzes, meine Damen und Herren, wird vom Mittelstand ganz entschieden abgelehnt. Wie die Bundesregierung mit der Beseitigung von Preisklarheit und Preiswahrheit den Standort Deutschland stärken will, ist nach Meinung der großen Mehrheit des Handels und der Fachinstitutionen ihr Geheimnis. Die Folge wird eher sein, daß die Großbetriebe die kleinen und mittleren Einzelhandelsbetriebe noch mehr vom Markt verdrängen.Es darf daher niemanden überraschen, daß nach einer Meinungsumfrage des Europaverbandes der Selbständigen 96 % der Klein- und Mittelbetriebe mit der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung unzufrieden sind. Um dies zu korrigieren, meine Damen und Herren, haben wir die Anhebung des Freibetrages für die Klein- und Mittelbetriebe durchgesetzt und immer wieder auch eine steuerstundende Inve-
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Ministerpräsident Oskar Lafontaine
stitionsrücklage gefordert, um die Investitionstätigkeit der Klein- und Mittelbetriebe zu fördern.
Sie sind viel zu spät darauf eingegangen. Sie haben es nur anders genannt. Aber wir begrüßen, daß Sie es dann aufgenommen haben.Die Wirtschaftspolitik muß sich stärker als bisher den berechtigten Anliegen des wirtschaftlichen Mittelstandes zuwenden. Die kleinen und mittleren Unternehmen sind das Rückgrat unserer Volkswirtschaft: Sie erbringen in den alten Ländern rund 50 % der gesamten Wirtschaftsleistung, sie stellen rund 70 % der Arbeitsplätze, und sie übernehmen rund 85 % der gesamten Ausbildungsleistungen unserer Volkswirtschaft. Sie hätten es wirklich verdient, stärker in den Mittelpunkt unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik gestellt zu werden.
Es muß ebenfalls darauf hingewiesen werden: Für den Standort Deutschland ist es lebensgefährlich, daß bei dieser Bundesregierung Forschung, Bildung und Wissenschaft vernachlässigt werden.
Auch bei ihrer jüngsten Kürzungsrunde hat die Bundesregierung den Forschungsetat als Steinbruch benutzt. — Herr Abgeordneter Solms, Sie rufen hier „Transrapid" dazwischen. Sehen Sie, Sie haben bei der Forschungspolitik des Bundes — das war nicht nur diese Bundesregierung, sondern, das füge ich fairerweise hinzu, das waren auch Vorgängerregierungen — schon manches Milliardengrab anfinanziert und dann ohne Ergebnis liegenlassen.
— In bester Absicht, selbstverständlich. Ich unterstelle Ihnen beim Transrapid auch keine schlechte Absicht. Darum geht es nicht. Aber ich sehe einfach nicht, daß sich Gesamteuropa auf dieses System umstellt; und nur dann hätte es einen Sinn. Wenn das aber nicht erfolgt, bleibt es eine Einzelmaßnahme, die in sich unschlüssig und inkonsequent ist.
Aber Sie wollen aus Fehlern nicht lernen. Sie wollen auch die kritischen Stimmen der Öffentlichkeit nicht hören. Deshalb werden die Wählerinnen und Wähler diesen falschen Kurs korrigieren müssen.Wenn die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft dauerhaft gesichert werden soll, müssen wir mehr in Forschung, Entwicklung, Bildung und Wissenschaft investieren. Wir müssen die anwendungsorientierte Forschung stärken. Wir müssen auch für eine schnellere Umsetzung neuer Technologien in marktgängige Produkte und Produktionsverfahren sorgen. Wir müssen vor allem auch dafür sorgen, daß in den neuen Ländern eine leistungsfähige Forschungslandschaft aufgebaut wird.Es kann von uns nicht bestritten werden — ich halte nichts von pauschalen Urteilen —, daß die Bundesregierung, was die öffentliche Infrastruktur angeht, enorme Anstrengungen in den neuen Bundesländern unternommen hat. Aber genauso richtig ist es, daß Sie versäumt haben, einen Schwerpunkt auf den Ausbau der Forschungsinfrastruktur in den neuen Ländern zu legen. Dies wäre dringend geboten gewesen, meine Damen und Herren.
Entscheidende Voraussetzung für Wohlstand und Beschäftigung in Deutschland ist die Qualifikation der Menschen. Bildungsinvestitionen sind die wichtigsten Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Deshalb wollen wir beispielsweise dafür sorgen, daß auch der Bund seine Verpflichtung beim Hochschulbau erfüllt. Damit wollen wir eine der wichtigsten Forderungen des Bildungsgipfels in die Tat umsetzen.Wir wollen auch dafür sorgen, daß die BAföGLeistungen an die steigenden Lebenshaltungskosten angepaßt werden. Das jetzt von der Bundesregierung geplante Einfrieren bis 1996 würde dazu führen, daß sich die Studienzeiten eher verlängern, weil sich die Studenten eben mehr einem Nebenerwerb widmen müssen. Diese Maßnahme würde auch bedeuten, daß das Studium wieder mehr zum Privileg der Begüterten wird.
Wir dürfen aber nicht zulassen, daß die Intelligenz und die Leistungsfähigkeit der Kinder aus sozial schwächeren Familien ungenutzt bleiben.
Meine Damen und Herren, auch hier ein Beispiel für die unstete Politik dieser Regierung: Es war noch nicht vom Kabinett beschlossen, da hat es der neu gewählte Minister schon in Frage gestellt. Was wollen Sie den Menschen eigentlich noch glaubwürdig erzählen, wenn Sie all das kassieren, was Sie einige Wochen vorher mit großer Begründung nach draußen posaunt haben?
Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts zu stärken, brauchen wir auch eine ökologische Modernisierung. Ökologie ist ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür setzen, daß die deutsche Wirtschaft auf den Zukunftsmärkten für energiesparende Produkte und Umweltschutz erfolgreich ist.Die Bundesregierung hat sich in bezug auf die Stabilisierung des privaten Verbrauchs und die Förderung der Investitionstätigkeit keine großen Meriten erworben. Da könnte man vielleicht erwarten, daß über die Arbeitsmarktpolitik der Versuch unternommen würde, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Aber auch hier ist die Bilanz eher negativ. Zum falschen Zeitpunkt wurden bei der Bundesanstalt für Arbeit die Mittel für Beschäftigung, Aus- und Weiterbildung gekürzt. Dadurch wurde die Arbeitslosigkeit in unserem Lande weiter erhöht.
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Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Wenn wir den sozialen Sprengstoff der Massenarbeitslosigkeit entschärfen wollen, müssen wir die aktive Arbeitsmarktpolitik nachhaltig stärken. Die Leitidee der aktiven Arbeitsmarktpolitik muß sein, die Mittel, die jetzt vor allem noch für die Bezahlung von Arbeitslosigkeit ausgegeben werden, künftig verstärkt zur Finanzierung sinnvoller Arbeit einzusetzen.Der reguläre Arbeitsmarkt hat Vorrang. Wir brauchen aber auch einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt als Beschäftigungsbrücke in den regulären Arbeitsmarkt. Wenn wir die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen wollen, führt an einer intelligenteren und gerechteren Verteilung der Arbeit kein Weg vorbei. Wir brauchen mehr Flexibilität und Verkürzung der individuellen Arbeitszeit. Wir brauchen eine umfassende Teilzeitoffensive. Überall müssen mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden: in der privaten Wirtschaft, auch im öffentlichen Dienst. Der Staat muß dabei Hilfestellung leisten.Auch hier ein Beispiel für Ihre mangelnde längerfristige ordnungspolitische Orientierung: Noch vor einiger Zeit geißelte der verehrte Herr Bundeskanzler alle Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung als dumm, töricht und absurd, wie er zu sagen pflegt. Um seinen Vorbehalt gegen diese Forderung bildhaft deutlich zu machen, vergriff er sich in der Wortwahl und sagte dem erstaunten Volk, daß Deutschland kein Freizeitpark werden dürfe. Die Bundesregierung sah die Arbeitszeitverkürzung als eines der gravierenden Standortprobleme an und leistete damit Fehlentwicklungen der Wirtschaft erheblichen Vorschub.
Nun aber — meine Damen und Herren, wir begrüßen dies — wurde Saulus Kohl zum Paulus der Arbeitszeitverkürzung. Ich zitiere den Herrn Bundeskanzler ganz persönlich:Wir haben jetzt etwas über 4 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das ist viel zuviel.Wo er recht hat, hat er recht.Aber wir haben vor der Haustür ja das Beispiel mit den Niederländern. Die sind mit uns vergleichbar. Und in den Niederlanden sind 34 % der Arbeitsplätze Teilzeitarbeitsplätze. Und bei uns sind es gerade 14 %. Wir haben zweieinhalb Millionen Leute, die gerne Teilzeitarbeitsplätze haben würden, die schon arbeiten. Das heißt, wir können schnell umwandeln ... Der Staat — ich muß das auch zu uns sagen, Bund, Ländern und Gemeinden —, die Firmen, die Gewerkschaften müssen jetzt versuchen, diejenigen, die das wollen, möglichst rasch auf diese Möglichkeit umzusetzen, neue Plätze zu schaffen.Recht hat der Bundeskanzler. Nur: Diese Einsicht kommt leider viel zu spät. Seine langjährige Weigerung, eine intelligente Verteilung der Arbeit anzugehen, ist mit Ursache dafür, daß wir diese hohen Arbeitslosenzahlen haben.
Nach diesen Einsichten und nach dieser Feststellung blieb dem Fragesteller Ulrich Wickert nur noch die verblüffte Feststellung:Sie haben ja in Ihrer Rede fast wie ein Oppositionsführer geredet. Sie haben von jahrzehntelangen Verwerfungen gesprochen ... Nun regieren Sie schon zwölf Jahre.Tatsache ist, meine Damen und Herren: Allen Beobachtern fällt auf, daß diese Bundesregierung nach zwölf Jahren Regierungstätigkeit plötzlich in die Rolle der Opposition schlüpfen möchte.
Auch wenn es unsere erklärte Absicht ist, Sie in Ihrem Begehren, in die Opposition zu kommen, nach Kräften zu unterstützen, so müssen wir Sie doch, solange Sie noch in der Regierungsverantwortung sind, an eben diese Regierungsverantwortung erinnern. Sie haben zwölf Jahre lang die Richtlinien der Wirtschafts- und Finanzpolitik bestimmt. Deswegen tragen Sie auch die politische Verantwortung für den desolaten Zustand von Wirtschaft und Finanzen unserer Republik.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben hier echauffiert vorgetragen: Ihnen laufen die Leute weg. Ich weiß nicht, wen Sie mit „Ihnen" gemeint haben. Sie haben das zur linken Seite des Hauses gesagt. Aber wenn man sich draußen im Lande umsieht, stellt man fest, daß uns eher die Leute zulaufen, und Ihnen laufen sie weg. Denn die Leute haben allmählich gemerkt, was die Folgen Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik sind.
Meine Damen und Herren, das Urteil, das die Bundesbank in ihrem Monatsbericht gefällt hat, ist richtig: „Für das Anhalten der Rezession sind vor allem heimische Faktoren verantwortlich." Statt die Binnenkonjunktur zu stärken, verursacht die Bundesregierung mit Steuer- und Abgabenerhöhungen und mit Nullrunden eine weitere Schwächung des privaten Verbrauchs. Statt die Investitionstätigkeit zu fördern, schlägt die Bundesregierung Maßnahmen vor, die das Gegenteil bewirken.Statt mit einer glaubwürdigen Konsolidierungsperspektive die Vertrauenskrise zu überwinden, wird die Bundesregierung mit ihrer Finanzpolitik mehr und mehr zur Belastung für Konjunktur und Arbeitsmarkt. Statt mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik alle Anstrengungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu unternehmen, beschneidet die Bundesregierung die Möglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit und behindert eher eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik. Statt sich in Brüssel für eine europäische Wachstumsinitiative einzusetzen, blockiert die Bundesregierung Vorschläge der Kommission und verhindert damit ein abgestimmtes Vorgehen der europäischen Wirtschaft, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen.Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt: Diese Bundesregierung hat kein überzeugendes Konzept, um die Arbeitslosigkeit, die die Menschen so sehr bedrückt,
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18360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
endlich zurückzuführen. Wenn der Bundeskanzler nach Meinung der Journalisten selbst schon wie ein Oppositionsführer redet, spürt er offensichtlich, daß die Ara Kohl zu Ende geht. Angesichts der Rekordzahlen bei Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung spüren immer mehr Menschen, daß die Zeit für einen Neubeginn in der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik gekommen ist. Aber Ihnen trauen die Menschen das nicht mehr zu.
Als nächster spricht der Kollege Rainer Haungs.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn dies die konzeptionelle Rede des wirtschaftspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion für die Gestaltung des Industriestaates Deutschland und für die Lösung seiner Probleme
im kommenden Jahrzehnt sein soll, dann kann uns nicht bange werden.
In dieser Rede hat er nur eine richtige Frage gestellt: Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu bremsen und mittelfristig zurückzuführen? Aber er hat keine Antwort auf diese Frage gegeben.
Er hat eine richtige Antwort gegeben, nämlich den Appell an die Tarifpartner gerichtet, in dieser wirtschaftlichen Situation nicht zu streiken. Nur war dieser Appell nicht hilfreich; denn er war damit verbunden, aus konjunkturpolitischen und beschäftigungspolitischen Gründen — so habe ich ihn verstanden — auf möglichst starke Lohnerhöhungen zu drängen.
Wenn dies die wirtschaftspolitische Kompetenz sein soll, den Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, zu helfen, ihre Strukturprobleme zu lösen, wenn man aus opportunistischen Gründen jetzt dies sagt — denn wer von den Arbeitnehmern hätte nicht gern mehr Geld in der Tasche —, dann ist dies die alte opportunistische Politik der SPD, von der Hand in den Mund zu leben.
Wenn er die Bundesbank zitiert, indem er sie ermahnt, sie möge doch endlich dafür sorgen, daß niedrigere Zinsen kommen, hat er erstens übersehen, daß wir ein historisch niedriges Zinsniveau haben,
und er hat zweitens vergessen, daß die Bundesbank die Tarifpartner zu Recht ermahnt, in der jetzigen Situation keine hohen Lohnforderungen zu stellen und niedrige Tarifverträge abzuschließen, damit wir die Probleme der nächsten Jahre bewältigen.Meine Damen und Herren, zum Jahreswirtschaftsbericht — der Bundeswirtschaftsminister hat ihn vorgestellt — kann man sagen: Die Konjunktur hat die Talsohle durchschritten. Dies ist nicht die Behauptung der CDU, sondern die positiven Anzeichen für einen moderaten Aufwärtstrend sind unübersehbar. So haben vor allem die deutschen Anlagen- und Maschinenbauer, die als erste von der Krise gepackt wurden, festgestellt: Sie haben seit Jahresfrist einen höheren Auftragseingang, nämlich um 15 % höher. Es sind vor allem die Auslandsbestellungen, die nach dem klassischen Muster eines Aufschwungs über den Export wieder zur Belebung der Konjunktur beitragen.
Die Frühjahrsumfrage des DIHT bei 20 000 westdeutschen und 5 000 ostdeutschen Unternehmen zeigte ein klares Bild: Die Rezession in der westdeutschen Wirtschaft ist zum Stillstand gekommen; in Ostdeutschland gewinnt der Aufholprozeß an Tempo und Breite. Und wenn Sie nach den Reaktionen in der Wirtschaft zur Politik der Koalition fragen, dann kann ich Ihnen sagen — es ist ja sehr gut nachzulesen —, daß sich nicht zuletzt der DIHT-Präsident Stihl ausgesprochen positiv über all die Maßnahmen in unserem Programm für Wachstum und Beschäftigung und in unserem Aktionsprogramm geäußert hat.Sie, Herr Ministerpräsident, haben in Ihrer Rede ein paar Dinge abgeschrieben, bei denen wir bereits dabei sind, sie durchzusetzen. Sie haben übersehen, daß alle entscheidenden Punkte, die wir hier durchsetzen können, in dem Aktionsprogramm enthalten sind.Ich füge hinzu: Dieses Aktionsprogramm wird den Anstieg der Arbeitslosigkeit bremsen. Wir werden in den nächsten Monaten einige hunderttausend neue Arbeitsplätze schaffen, und Sie werden uns daran messen können. Uns allen ist klar, daß der Arbeitsmarkt erst 1995 — also mit einem zeitlichen Verzug zum Aufschwung der Konjunktur — wieder so greifen wird wie in der Vergangenheit.Aber, meine Damen und Herren, wir haben überhaupt keinen Grund, an unseren Maßnahmen zu zweifeln, weil uns der erste klassische Konjunkturaufschwung in den 80er Jahren ebenfalls drei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Ich habe in Ihren ganzen Reden und Ausführungen außer dem Hinweis, daß man die Unternehmenssteuern nicht senken sollte — es gab eine deutliche Kritik an Unternehmenssteuersenkungen — und daß man die Löhne erhöhen sollte, keinen Beitrag gehört, wie Sie die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sichern und damit
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18361
Rainer Haungsdie Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze schaffen wollen.
Herr Abgeordneter Haungs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mosdorf?
Bitte schön.
Erstens haben wir, wie Sie sich erinnern, Unternehmenssteuern gesenkt, und zweitens möchte ich die Frage an Sie richten, ob Sie das, was Sie eben gesagt haben, noch einmal quantifizieren könnten.
Ich erinnere mich an eine Diskussion, die hier stattgefunden hat, wo es Herr Schäuble und auch Herr Lambsdorff abgelehnt haben zu sagen, wieviel hunderttausend Arbeitsplätze das Aktionsprogramm in diesem Jahr bringen soll. Ich habe das damals positiv bewertet, weil es natürlich falsch wäre, das zu quantifizieren. Sie haben eben gesagt, es seien mehrere hunderttausend. Können Sie das einmal präzise quantifizieren?
Ja. Ohne jetzt in einen intensiven Dialog über das, was Sie tun oder nicht tun, einzutreten, kann ich Ihnen gerne beide Fragen beantworten.Der Ministerpräsident des Saarlandes hat die Unternehmenssteuersenkung vorhin in seiner Rede als sozial ungerecht kritisiert, und ich nehme diesen Hinweis auf und sage: Wir werden im Rahmen unserer Steuerreform in einer Art Standortsicherungsgesetz Nr. 2 zu weiteren Senkungen des Risikos kommen, genauso wie wir zu Senkungen des Risikos im Existenzminimumbereich der Arbeitnehmer kommen, indem wir rechtzeitig eine Steuerreform durchführen. Dazu gehören die von Ihnen kritisierten Unternehmenssteuersenkungen. Das müssen Sie der Wirtschaft erst einmal erklären, wie Sie hier Ihre Kompetenz darlegen können.Das zweite: Sie baten mich um eine Präzisierung der Chancen für den Bereich der Arbeitsplätze durch unser Aktionsprogramm.Ich bin davon überzeugt — ich gebe Ihnen die Antwort gern —, daß wir, wenn wir bei allen Unwägbarkeiten des Arbeitsmarktes all dies, von der Teilzeitarbeit bis hin zu Existenzgründungen, von der Saisonarbeit bis zu den AB-Maßnahmen — Sie haben sicher unser Aktionsprogramm studiert —, durchgeführt haben, auf dem besten Wege sind, einige hunderttausend neue Arbeitsplätze schaffen werden.Daß die Arbeitslosigkeit gewissermaßen immer den Saldo zwischen Zuzug von Arbeitskräften und Schaffung von Arbeitsplätzen darstellt, wissen Sie so gut wie ich. Damit habe ich Ihnen die Frage beantwortet: Unser Aktionsprogramm ist die einzige realistische Alternative,
um kurzfristig den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu bremsen.
Meine Damen und Herren, ich habe darauf hingewiesen, daß der Export wieder anzieht. Besonders gilt dies für die Märkte in Südamerika, in Nordamerika und in Südostasien. Diesen Unternehmen, die sich dort im harten Wettbewerb neue Märkte auch mit neuen Produkten erschließen, können Sie bei Gelegenheit dann auch erklären, daß Sie aus kurzfristigen opportunistischen Gründen — Sie nannten es: aus konjunkturellen Gründen — einen Anstieg der Lohnkosten brauchen.Der Siemens-Chef Herr von Pierer hat auf dem Parteitag der CDU in Hamburg sehr plastisch dargestellt, mit welchen Problemen ein Weltunternehmen wie Siemens, das an verschiedenen Standorten produziert, dadurch zu kämpfen hat, daß wir in der Bundesrepublik die absolut höchsten Lohn- und Personalkosten haben. Jeder, der Wirtschaftspolitik verantwortungsbewußt betreibt, weiß, daß wir uns hier keine Zuwächse mehr erlauben können.Unser Programm für Wachstum und Beschäftigung ist ein optimistisches Programm. Es bejaht den Wandel. Es fordert allerdings auch die Bereitschaft zum Wandel. Nur wer bereit ist, die Probleme von morgen schon heute zu lösen, wird die Herausforderungen der Zukunft meistern können.Hier liegen die große Verschleierung und die Verweigerung der SPD. Diese Rede war eine Rede aus wahltaktischen Gründen, um den Status quo zu zementieren. Sie verschließen die Augen vor dem weltweiten Wandel und auch vor der Realität.
Sonst könnten Sie dieses Ritual der Tarifverhandlungen mit Extremforderungen und Kämpfen in der heutigen wirtschaftspolitischen Situation nicht so vehement verteidigen.Meine Damen und Herren, Teilzeitarbeit: Natürlich, Sie haben den Bundeskanzler richtig zitiert. Das waren übrigens die besten Passagen. Sie haben zwar ein kabarettistisches Talent, aber trotz allem haben Sie den Bundeskanzler wörtlich zitiert. Das waren die besten Passagen Ihrer Rede.Aber ich erwarte von Ihnen auch einen Beitrag, wenn Sie so realistisch sein wollen, zur Jahresarbeitszeit. Reden Sie doch einmal mit den Tarifpartnern, oder geben Sie Ihre Empfehlungen. Freuen Sie sich nicht, wenn Streit entsteht, wenn wir am Bau das einzig Richtige und Vernünftige machen, nämlich eine Jahresarbeitszeit einführen. Bringen Sie Ihren Konsolidierungsbeitrag, indem Sie sagen: Das Schlechtwettergeld war eine Lösung der 60er Jahre, ist aber heute nicht unbedingt notwendig.
Ihre ganzen Forderungen, angefangen bei der BAföG-Erhöhung — ich will gar nicht weitergehen —, waren alles nur Möglichkeiten, wie Sie den Bundeshaushalt weiter überfordern können. Dann sprechen
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Rainer HaungsSie pathetisch von einem langfristigen Konsolidierungspotential.
Ich habe in Ihrer ganzen Rede nicht einen Ansatz zur Konsolidierung gehört. Ihre Verweigerung im Bundesrat ist ja ähnlich.
Ich habe auch nichts von Ihrer Verantwortung als öffentlicher Arbeitgeber im Saarland gehört. Mir ist es verständlich, daß Sie als Ministerpräsident und das Saarland in doppelter Weise die rote Laterne im Vergleich der Bundesländer haben.Ich glaube, es ist zu einfach, im Jahre 1994 hier zu stehen und diese Rede zu halten.
Wir machen es uns nicht so einfach.Wir tragen mit unseren Programmen zu einer Aufbruchsstimmung bei, die man nicht verordnen kann.
— Das ist aber wirklich Ihr Problem, daß Sie nichts merken. Sie sitzen seit einer Stunde da und machen seltsame Zwischenrufe und beschweren sich bei mir, daß Sie nichts merken.
Durch die praktische Deregulierungs- und konsequente Privatisierungspolitik— der Bundesfinanzminister hat einen beeindruckenden Bericht über die bereits realisierten und laufenden Privatisierungsaktivitäten vorgelegt — schaffen wir mehr Dynamik für neue Arbeitsplätze. Ihre Kommentare beschränken sich beim Verkauf von Bundesbeteiligungen in der Regel auf den Satz: Wiederum wurden Filetstücke veräußert oder das Tafelsilber hergegeben. Das sind in der Regel Ihre Beiträge zur Privatisierung.
Auch die Bahn- und Postreform, die wir durchgeführt haben, wurde von Ihnen höchstens ab und zu wohlwollend begleitet. Ich habe nicht festgestellt, daß von Ihnen große Aktivitäten im Bereich der Privatisierung ausgegangen sind.Darf ich auch einen Satz zum Streik sagen? Ich meine, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze kann man nicht erstreiken. Das hat noch keine Gewerkschaft geschafft. Unsere Hauptaufgaben im internationalen Wettbewerb sind die Ausschöpfung von Kostensenkungspotentialen und die Erschließung neuer Märkte. Die Verantwortung der Tarifpartner wurde uns eindrucksvoll im Chemiebereich gezeigt, wobei ich von der SPD-Fraktion viele lobende Worte überIhren Kollegen Rappe auch wieder nicht gehört habe. Deshalb loben wir ihn.
Ich hoffe, daß dieses Beispiel ansteckend wirkt und daß vor allem der öffentliche Dienst seine Verantwortung in einer schwierigen Zeit wahrnimmt. Auf welche Weise wir unsere Probleme der Arbeitslosigkeit, der zu geringen Investitionstätigkeit der Unternehmen und der zu hohen Staats- und Steuerquote in den Griff bekommen wollen und werden, haben wir, die CDU/CSU-Fraktion, in unserem Aktionsprogramm aufgezeigt.Darüber hinaus hat die Bundesregierung im Standortbericht aufgezählt, was sie konsequent und zügig umsetzen will und wird.Sehr geehrte Kollegen von der SPD, lieber Uwe Jens, Ihre Vorstellungen von einem Mittelstandsprogramm haben Sie doch passagenweise bei uns abgeschrieben. Teilweise sind sie auch veraltet.
Sie fordern ein Eigenkapitalhilfeprogramm, eine verstärkte Förderung von Innovationen — alles richtig, aber haben Sie denn unser Aktionsprogramm nicht gelesen?
Sie haben bei der Betrachtung unserer Wirtschaftspolitik wahrscheinlich vergessen, daß wir in der Zwischenzeit die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes hatten, und Sie wissen ganz genau, daß wir alle Mittel für die Eigenkapitalhilfe und die Existenzförderung in den neuen Bundesländern konzentriert haben, wo es überhaupt keinen Mittelstand gab, und daß wir zu dem Zeitpunkt, wo es wieder geht, nämlich jetzt, unsere Mittel auch als einen Beitrag zum Zusammenwachsen Deutschlands wieder in ganz Deutschland einsetzen. Aber wenn Sie Ihre Prioritäten anders setzen, indem Sie sagen, man hätte in den neuen Bundesländern noch viel länger warten können und sollen, um statt dessen vehement in den alten Bundesländern zu investieren, zu helfen und billige Kredite zu geben, dann werden sich die sachkundigen Zuhörer wohl ihren Reim darauf machen.Meine Damen und Herren, anstatt die Rahmenbedingungen zu verbessern, anstatt wirklich zu konsolidieren, wollen Sie als Sozialdemokraten wieder weitere Milliardenprogramme ganz nach dem alten Denken auflegen.
— Ja, Moment, ich sage es Ihnen ja gerade. Es wurde ja auch von Herrn Lafontaine vorhin genannt: Beschäftigungs- und Wachstumsmaßnahmen mit anderen EU-Partnern in Höhe von 15 bis 20 Millarden DM; Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische
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Rainer HaungsModernisierung" 10 Milliarden DM; Modernisierungsdarlehen zugunsten privater Industrieunternehmen in den neuen Bundesländern über unsere umfassenden Maßnahmen hinaus; Hilfen für Exportförderung durch Sonderkreditplafond; Handelsentwicklungsgesellschaften 9 Milliarden DM; Einführung einer Wertschöpfungszulage 4 Milliarden DM; noch mehr finanzielle Mittel für den Ausbau der Forschungsinfrastruktur in den neuen Bundesländern; zusätzliche Subventionen für die Stahlregionen mit mindestens 2 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, wer soll denn das bezahlen?
— Wir haben ja genug.Wir sagen Ihnen, liebe Kollegen von der SPD, wie wir alte Montanregionen modernisieren: indem wir Subventionen für alte Industrien in Zukunft zielgerichtet für neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze verwenden, um den Menschen eine Perspektive für eine technologische Erneuerung zu geben. Und was tun Sie? Sie polemisieren auf unverantwortliche Weise und hetzen uns mit den falschen Argumenten die Kumpel an den Hals, und dann sprechen Sie von Konsolidierung.Meine Damen und Herren, Sie wollen durch höhere Steuern für Unternehmen und Besserverdienende den Standort weiter gefährden und die Leistung bestrafen. Jetzt bekennen Sie doch endlich einmal Farbe und sagen Sie, wo die Besserverdienenden sind, wo sie anfangen; denn dann würde der Mehrzahl der Wähler klarwerden, wen Sie wirklich meinen: nicht die Reichen und Superreichen, wo auch immer, sondern all diejenigen, die durch harte Arbeit mittlerweile zu einem bescheidenen Wohlstand gekommen sind. Dies ist keine verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik. Nicht genau zu sagen, was man will, ist überhaupt keine verantwortungsvolle Politik. Ihren konkreten Beitrag zur Konsolidierung fordere ich ein und bin gespannt, was die nachfolgenden Redner der Opposition dazu sagen.In letzter Zeit vermeiden Sie es — wir merken es sehr wohl —, über die Ausgabenwirksarnkeit Ihrer schönen Programme zu reden. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Konzeptionslosigkeit in der praktischen Wirtschaftspolitik, indem Sie Gegenfinanzierungsvorschläge vermeiden. Ganz konkret und wirkungsvoll machen wir es mit unserem Aktionsprogramm, das kein Aktionismus ist, sondern das von heute in die nächsten Jahre hinein die Konsequenzen haben wird, die ich hier schon angesprochen habe.Noch einmal zusammengefaßt: nicht durch Sonderkreditplafonds, nicht durch Ausgleichfonds, nicht durch Handels entwicklungsgesellschaften, sondern durch eine Stärkung der Marktwirtschaft, durch Dynamisierung, durch Deregulierung, durch Stärkung des Mittelstandes. Ich vergieße ja Tränen, wenn ich die Worte, die Sie über den Mittelstand gesprochen haben, mit der Praxis vergleiche.
— Darauf wird Ihnen der Kollege Hinsken noch die gebührende Antwort geben. Ich habe meine Rede etwas breiter angelegt.
Die bürokratischen und ungerechtfertigten Rechtsschranken müssen beseitigt werden. Dem Bürger muß die Möglichkeit gegeben werden, seine Kreativität zu entfalten. Nur dadurch kommen neue Unternehmen nach Deutschland, die hier investieren und Arbeitsplätze schaffen. Die zusätzlichen Steuererhöhungen, die Sie anstreben, auch wenn Sie es öffentlich bestreiten — mal so, mal so —, werden risikofreudige und kreative Bürger demotivieren.Deregulierung — ich sage das noch einmal — ist bei uns kein Schlagwort und, im Gegensatz zu der Behandlung bei Ihnen,
auch kein Schimpfwort. Wir lassen den Worten Taten folgen. Um die Deregulierung weiterzuentwickeln, hat die Bundesregierung die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission beschlossen, die Vorschläge zur Beschleunigung, Verkürzung und Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren erarbeiten soll. Eine weitere Kommission soll Möglichkeiten zur Kostensenkung und Deregulierung im Wohnungsbau aufzeigen.Meine Damen und Herren von der Opposition, wie der alternativlose Rudolf Scharping trotz mangelnden Eigenprofils und immer noch meisterhaft verborgener Sachkompetenz, so schreibt es „Focus" sehr richtig, vor allem mit den GRÜNEN eine regierungsfähige Koalition bilden will, bleibt uns schleierhaft. Vielleicht können Sie das einmal mit Ihrem möglichen Koalitionspartner abklären. Wie stellt sich die SPD das vor? Die GRÜNEN haben Ihnen gegenüber den Vorteil, daß sie immerhin das sagen, was sie machen wollen — während Sie es verschleiern.Ich lese folgende Forderungen der GRÜNEN von ihrem Parteitag des Wochenendes, die sie mit Ihnen, den Sozialdemokraten, als gewünschtem Koalitionspartner durchsetz en wollen: Investitionsabgabe von Unternehmen, die nicht im Osten investieren, Stillegung aller deutschen Atomkraftwerke innerhalb von zwei Jahren.Ich gehe davon aus, daß die SPD der deutschen Öffentlichkeit in den nächsten Tagen und Wochen ein klares, deutliches Zeichen im Hinblick auf eine rationale Energiepolitik geben wird.
— Ja, das ist zu befürchten. — Wo bleibt Ihr eindeutiges Ja zu einem Energiemix? Wissen Sie, daß dies alles leeres Gerede ist, wenn Sie ein Drittel unserer Energieversorgung stillegen? Es soll Lohnsubventionen des Staates geben. Großverdiener, Kapitalerträge und Grundeigentum sollen stärker besteuert werden, dirigistische Steuerungsinstrumente eingeführt, die Mineralölsteuer zunächst um 50 Pfennig und dann noch mehr erhöht werden usw., usf.
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18364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Rainer HaungsWenn in Deutschland weiter eine vernünftige Wirtschaftspolitik betrieben werden soll, dann nur mit dieser Koalition, der CDU/CSU und der F.D.P.
Zu dieser Wirtschaftspolitik gibt es keine Alternative.Was wir in den letzten Jahren für die Wirtschaft, für die Menschen, die Bürger in unserem Land erreicht haben, ist vielen gar nicht klar. Ich gehe davon aus, daß das in den nächsten Monaten schon etwas klarer wird. Es geht um die richtigen Weichenstellungen, die uns über die Folgelasten von 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft in Ostdeutschland und die Folgen der weltweiten Rezession sowie der strukturellen Veränderungen im internationalen Bereich hinweghelfen werden. Nur damit wird die Basis für neue und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen.Ich komme zum Schluß
und will Ihnen stichwortartig noch einmal einige der Leistungen der letzten Jahre nennen: Steueränderungsgesetz 1991 mit Sonderabschreibungen und Investitionszulage; Steueränderungsgesetz 1992 mit erhöhtem Freibetrag und einer Gewerbesteuer-, Gewerbekapital- und Vermögensteueraussetzung in den neuen Bundesländern; Zinsabschlagsgesetz mit der Verzehnfachung der Sparerfreibeträge; Föderales Konsolidierungsprogramm; Standortsicherungsgesetz mit deutlicher Senkung der gewerblichen Spitzensteuersätze; MiBbrauchsbekämpfungsgesetz; Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm, das den Bundeshaushalt um 20 Milliarden entlastete. Das ist praktische Konsolidierung;
Ihre Zustimmung dazu haben wir nicht gehört. Auch die verstärkte Mittelstandsförderung zeigt, daß Worte und Taten bei uns nicht auseinanderfallen. Die Novelle zur Handwerksordnung haben wir in erstaunlich schneller Zeit durchgebracht.
Genauso wie unsere Politik für Industrie und Handel von Herrn Stihl gelobt wird, wird diese Politik vom Handwerkspräsidenten Späth gelobt.
— Ja, zu Recht.Meine Damen und Herren, die entschlossene Fortführung der Standortpolitik, die die bestehenden Arbeitsplätze sichert, und das Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung, dem Sie nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen haben, verbessern die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes, konsolidieren die öffentlichen Haushalte. Eine Existenzgründungsoffensive wird begonnen, die Entbürokratisierung weiter fortgesetzt. All dies sind beachtliche Leistungen einer Regierung, die bei weitem nicht am Ende ihres Lateins oder — wie Sie es hoffen — am Ende ihrer Kräfte ist. Wir schaffen die Voraussetzungen für diese Erfolge. Es wird unsere Anstrengung sein, dem Bürger in den nächsten Monaten klarzumachen, daß wir die einzige berechenbare Alternative sind und daß wir Deutschland aus dieser Krise der Arbeitsplätze herausführen werden.Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Verehrter Herr Haungs, die GRÜNEN, die Sie zitiert haben, haben doch recht gehabt. Die SPD frißt heute offensichtlich alles.
In ihrem Drang zur Macht kann man ihr also auch alles zumuten.
Das sieht dann so aus — ich will noch ein paar Forderungen hinzufügen —: Wiederherstellung des früheren Asylrechts;
die Bundeswehr wird abgeschafft; heraus aus der NATO; Verbot jeglicher Form der Gentechnologie; Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden; gesetzlicher Mindestlohn; Sockellohnerhöhung für untere Einkommen — die hat allerdings erstaunlicherweise auch der Bundeskanzler vorgeschlagen. Wenn die Unternehmen dadurch in ihrer Existenz gefährdet werden, gibt es Lohnsubventionen durch den Staat. Das hat der Bundeskanzler bisher nicht vorgeschlagen.
Hier, meine Damen und Herren, möchte ich dem Ministerpräsidenten Lafontaine ein Wort zu seinen Ausführungen über Nullrunde, pauschale Lohnkürzung und Kaufkrafttheorie sagen: Selbstverständlich ist das Thema Verbraucherausgabemöglichkeiten ein volkswirtschaftlicher Faktor, der für die konjunkturelle Entwicklung wichtig ist. Aber wenn Sie in einer bestimmten Wettbewerbssituation vor dem Problem stehen, die Kosten so weit zu steigern, daß derjenige, dessen Lohn Sie erhöhen wollen, dadurch seinen Arbeitsplatz verliert und dann gar keine Kaufkraft oder nur noch die der Arbeitslosenunterstützung hat, dann müssen Sie die Entscheidung, so bitter sie ist, treffen, auf weitere Lohnerhöhungen über ein Maß hinaus, das vertretbar ist, zu verzichten.
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Exportsituation
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Dr. Otto Graf Lambsdorffund die Tatsache, daß wir ein Leistungsbilanzdefizit in Deutschland haben.Meine Damen und Herren, außen- und sicherheitspolitisch haben die GRÜNEN — das BÜNDNIS 90 ist ja längst untergebuttert; das gibt es ja gar nicht mehr — —
— Na, hören Sie einmal. Sie gucken mich so an, Herr Schulz. Das kommt mir doch vor wie die berühmte Geschichte vom Joint-venture zwischen Huhn und Schwein. Was machen wir zusammen? Wir machen zusammen „ham and eggs". Da sagt das Schwein: Dabei werde ich doch geschlachtet. Da sagt das Huhn: Beim Joint-venture wird immer einer geschlachtet. — So sind Sie geschlachtet worden.
Außen- und sicherheitspolitisch, meine Damen und Herren, haben die GRÜNEN den Horizont eines Hühnerhofes. Wirtschaftspolitisch machen solche Vorstellungen in kurzer Zeit aus einem der wichtigsten Industrieländer der Erde ein Volk von Jägern, Sammlern und Fallenstellern.
Umweltpolitisch — das will ich nun ausdrücklich an die Adresse der GRÜNEN sagen — ist die Absage an die Nutzung moderner Techniken angesichts der Bevölkerungsexplosion in der Welt der zügellose Egoismus einer Gruppierung rücksichtsloser Fanatiker und nichts anderes.
Aber dann das Tollste: ein Bündnisangebot auf dieser Grundlage an die Sozialdemokraten. Rot-Grün sei's Panier. Man setzt berechnend und berechtigt auf die Machtgeilheit der SPD.
Wenn Gerhard Schröder dem Herrn Trittin freien Auslauf läßt, warum dann nicht das gleiche von Rudolf Scharping erwarten? Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben es weit gebracht, wenn Ihnen solche Offerten zugemutet werden. Wenn Sie jetzt dagegen protestieren, daß man Sie dafür in Anspruch nimmt: Sie hatten eine halbe Woche Zeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Was ist geschehen? — Der Eiertanz des Monats von SPD-Bundesgeschäftsführer Verheugen
und eine einzige klare Absage; das war die von Herrn Rappe. Alles andere war Schweigen im Walde: Vielleicht machen wir es ja doch, wollen wir einmal sehen usw.
Aber so, meine Damen und Herren, ergeht es eben jemandem, der wie Herr Scharping mit Schmirgelpapier, Kleistertopf und Poliertuch zum Meister der Profillosigkeit wird:
auf der sicherheitspolitischen Tagung in München den NATO-Partnern bündnistreue Außen- und Sicherheitspolitik der SPD vorgaukeln, in der Partei selber aber den Fraktionsvorsitzenden Klose in diesem Problembereich gnadenlos versenken, Herrn Dreßler die Halbierung der Arbeitslosigkeit innerhalb von vier Jahren versprechen lassen,
selber davor warnen, sich im Regierungsprogramm konkret festzulegen. Im Bundesrat enthält sich die Regierung Scharping bei der Kohlefinanzierung der Stimme; das war abgesprochen. Aber in Dortmund Kohlesubventionen versprechen und in Hannover am selben Wochenende die Abschaffung des Kohlepfennigs zusagen, das ist schon gekonnte Akrobatik.
Es ist wie beim Meisterjongleur Rastelli: Wir sind gespannt, auf wieviel Kugeln es Herr Scharping bei diesem Spiel noch bringen wird.Mit Näherrücken des Wahltermins verspricht die SPD jedem Bürger sein eigenes Förderprogramm — frei zur Auswahl. Das geht von Forschung und Technologie über die Sanierung ostdeutscher Unternehmen, über einheitliches Kindergeld, über die Entlastung der reinvestierten steuerlichen Gewinne bis zu einem Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit", was immer das ist.
Während die SPD sonst nur von Ergänzungs- und Arbeitsmarktabgaben, von Erhöhung von Grundsteuer, Vermögensteuer, Erbschaftsteuer und Einkommensteuer spricht — Herr Poß hat das gerade in diesen Tagen wieder getan —,
hat sie jetzt die kleinen und mittleren Unternehmen entdeckt. Toll! Als wenn der Mittelstand nicht wüßte, daß er die versprochenen Wohltaten doppelt und dreifach bezahlen wird. Größter Profiteur der Subventionswirtschaft ist sowieso nicht der Mittelstand, sondern sind immer die Großunternehmen. Das lehrt die Erfahrung.
Das beste Mittelstandsprogramm ist nicht ein Sammelsurium von Förderungen, wie es die SPD verspricht, sondern sind stabile und verläßliche Rahmenbedingungen, niedrige Steuern und niedrige Abgaben.
Trotz alledem, was Sie, Herr Lafontaine, hier heute verkündet haben — Sie haben teilweise einen richtig konservativen Haushalts- und Konsolidierungspoliti-
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Dr. Otto Graf Lambsdorffker dargestellt —: Ihre schauspielerische Begabung ist völlig unbestritten.
Sie zitieren Schiller, nicht Friedrich, aber Karl; auch das gehört zur schauspielerischen Darstellung. Sie haben ihn spät begriffen, aber das neueste Buch gelesen. Ich begrüße das.
Aber Sie bleiben, meine Damen und Herren, eine ideologisch orientierte Steuer- und Umverteilungspartei. Der Streit über die SPD-Wirtschaftspolitik — es ist nicht gut, daß er gerade heute in die Zeitungen gekommen ist — zeigt: Sie können sich über nichts einigen, wie Sie das alles finanzieren wollen, was Sie versprechen. Das ist auch vollständig klar. Auch wer Ihre heutige Rede nachliest, wird am Ende der Veranstaltung zu einem beachtlichen Saldo kommen. Für mich heißt der Saldo: SPD wählen heißt teuer wählen.
Daß die Regierung Lafontaine im übrigen mit Geld nicht gut umgehen kann, hat Ihnen der Rechnungshof des Saarlands am 24. Februar bestätigt. 8 Milliarden DM trägt der Bund zur Teilentschuldung des Saarlands bei, und Sie verschärfen die Haushaltsnotlage.
Wir haben es mit einem Ministerpräsidenten zu tun— ich bitte um gütige Nachsicht —, der nicht einmal im kleinsten Flächenland der Bundesrepublik die Anwendung der Steuergesetze, so der Rechnungshof, sicherstellen kann. Und Sie sollen wir nach Bonn holen?
— Herr von Larcher, das Sammelsurium Ihrer Zwischenrufe von heute morgen kann ich nur als so kleinkariert bezeichnen, daß meine einzige Antwort darin besteht: Auf Pepita kann man nicht Schach spielen. Deswegen kann ich darauf nicht antworten.
Meine Damen und Herren, selbst Herr Scharping kriegt es inzwischen wohl mit der Angst zu tun, wenn er die Großzügigkeit seiner Genossen betrachtet. Wie anders ist der Appell denn wohl zu verstehen, sich nicht mit neuen finanziellen Versprechungen zu befassen? Wie ist zu verstehen, daß er vor voreiligen Zusagen warnt, von der jetzigen Regierung durchgesetzte „soziale Ungerechtigkeiten" zurückzunehmen? — Das tut Herr Dreßler jeden Tag. — Heißt das, daß Herr Scharping den ach so geschmähten Sozialabbau letztlich doch unterstützt, daß er froh war, daß diese Bundesregierung dafür geradestand? Heißt das, daß die SPD-geführten Länder im Bundesrat hier nur Theaterdonner aufgeführt haben? Von „sozialenSchweinereien" hat die SPD damals gesprochen — und dann dafür gestimmt.
Meine Damen und Herren, Rot-Grün, das ist provinzielles Denken, Mief und Muff in einer Welt, die Offenheit — sehr unbequeme Offenheit allerdings — verlangt. Gegen Rot-Grün ist der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber geradezu ein Weltbürger.
— Verehrter Herr Hinsken, ich muß schon sagen: Wenn ich aus CSU-Munde höre, ich sei so gut wie Herr Stoiber — das kann ich dem ja entnehmen —, ist das wohl ein Lob. Im übrigen will ich Sie mit Herrn Stoiber ja gar nicht weiter zwicken. Herr Stoiber zwickt Herrn Gauweiler und Herr Gauweiler Herrn Waigel. Lassen wir das doch. Nur, Weltbürger im Vergleich zu den Grünen ist er.Aber diese Welt, meine Damen und Herren, sieht rundum nicht besonders erbaulich aus. Das gilt für fast alle Gebiete. 1990 hat Hans-Dietrich Genscher gesagt: Nichts mehr wird so sein, wie es früher war. — Das war weise Voraussicht. Diese Bemerkung — das haben wir inzwischen wohl begriffen — reicht weit über das Thema „Deutsche Einheit und ihre Folgen" hinaus. Sie gilt auch für die wirtschafts- und sozialpolitische Welt, nicht zuletzt für unser eigenes Land.Herr Lafontaine, von Ihnen war kein Wort darüber zu hören — da hatte Herr Haungs recht —, daß wir nicht allein auf dieser Welt — auch wirtschafts- und sozialpolitisch —leben, sondern daß wir in dieser Welt in Abhängigkeiten eingebunden sind: als eines der weltoffensten — das müssen wir sein —, als eines der exportabhängigsten Länder und als eines der Länder, in dem sich — gerade auch im Zuge der deutschen Vereinigung — die Probleme der Welt, der neuen internationalen Arbeitsteilung wie in einem Brennglas zusammenfassen. Dazu fehlen Ihre Antworten, dazu war heute nichts zu hören. Wenn Sie das nicht korrigieren, sind Sie den GRÜNEN ähnlich, die mit dem Horizont eines Trauringes Politik betreiben wollen.
Dabei empfiehlt es sich, meine Damen und Herren, wenn man in die Welt sehen will, nicht so sehr auf Europa zu schauen, so erfreulich wir es finden, daß die Erweiterungsgespräche jetzt zu guten Ergebnissen geführt haben. Es empfiehlt sich, nicht nur auf Europa zu schauen, wo viele Staaten wie Deutschland mit gesellschaftlicher Verkrustung, staatswirtschaftlicher Einflußnahme und Umverteilungsmentalität zu kämpfen haben. Es lohnt sich ein Blick über Europa hinaus. Er lohnt sich nicht nur, er ist notwendig. — Bei „notwendig" fällt mir ein, ob dieses Wort der deutschen Sprache eigentlich schon immer gemeint hat, daß erst die Not wirklich etwas wendet. Muß dasDr. Otto Graf Lambsdorffeigentlich so sein, oder können wir auch aus Einsicht etwas wenden, bevor die Not uns zwingt?
Meine Damen und Herren, wir müssen in die USA und nach Japan sehen. Während wir Strukturwandel durch Subventionen, Regulierungen und Korporatismus verzögern, ist dort der Strukturwandel dynamisch fortgeschritten. USA und Japan sind in vielen HighTech-Bereichen führend, während wir Produkte von gestern verteidigen. Während wir in Europa immer selbstbezogener werden und uns vom Weltmarkt zurückziehen, setzen sich USA und Japan dem internationalen Wettbewerb aus und sind weitaus stärker konkurrenzfähig. Die Exportstärke Deutschlands mißt sich nicht an unseren Leistungen im Binnenmarkt; sie mißt sich an unseren Leistungen in der Welt außerhalb des Europäischen Binnenmarktes, und das ist nicht mehr so berühmt.
Kritik verdient allerdings die Haltung der USA im akuten Handelsstreit mit Japan.Während wir Arbeitnehmern durch tarifvertragliche Wohltaten vorgaukeln, es sei alles so wie gestern und es sei alles noch gut, werden dort neue Organisationsformen eingesetzt, die die Unternehmen billiger, qualitativ besser und flexibler produzieren lassen. Während wir in der Ideologie der Industriegesellschaft verharren und diese gleichzeitig in eine Kostenkrise treiben, gibt es dort einen leistungsfähigen Dienstleistungsbereich mit einer Vielzahl neuer Arbeitsplätze. Während wir uns Sockellohnpolitik und vielleicht auch noch Streik leisten, konnte der Dienstleistungsbereich dort neben Teilzeitarbeit auch Arbeit für die schlechter Ausgebildeten, für die weniger Anpassungsfähigen bereitstellen.In den USA sind die realen Durchschnittslöhne von 1980 bis 1992 in der niedrigsten Einkommensgruppe um real 8 % gefallen, in Deutschland jedoch allein von 1983 bis 1988 um real 28 % gestiegen. —
Da können wir uns sehr freuen. — Aber wir müssen auch die Konsequenz aus dieser Entwicklung sehen: Die Beschäftigung stieg in den USA von 1970 bis 1992 um 50 %, während wir es in Deutschland im gleichen Zeitraum nur auf magere 9 % brachten. Das sind die ökonomischen Zusammenhänge, die man nicht durch politische Ideologie beiseite schieben kann.
Hohe Wachstumsraten und niedrige Arbeitslosenquoten über die letzte Dekade hinweg sind Markenzeichen dieser Politik in den USA. Das ist der Weg, den wir nach meiner, nach unserer Überzeugung auch in Deutschland gehen müssen. Mehr Soziale Marktwirtschaft wagen muß daher Motto bleiben. Hierzu steht die F.D.P.Es stimmt uns nachdenklich, daß die CDU auf ihrem Hamburger Parteitag Anstalten gemacht hat, sich von diesem Erfolgskonzept zu trennen.
Wer einseitig dem Zeitgeist folgt und das Markenzeichen Soziale Marktwirtschaft opfert, wer den Umbau des Sozialstaates propagiert und dabei auf umlagefinanzierte Pflegeversicherung und auf Kinderlosensteuern setzt, wer behauptet, daß die Bereiche Kohle, Landwirtschaft und Werften nicht nach marktwirtschaftlichen Kriterien beurteilt werden können, wer hier sogar von Zukunftsgestaltung spricht, der hat sich von Ludwig Erhard ziemlich weit entfernt.Herr Haungs, Ihre Ansichten heute zur Frage des Abbaus der Kohlesubventionierung werden von uns — das wissen Sie — längst mitgetragen. Aber bitte ersetzen Sie nicht die eine Subvention durch die andere, sondern nehmen Sie die frei werdenden Mittel und verbessern Sie die Rahmenbedingungen für neue Technologien, für neue Innovationen!
Schaffen Sie nicht ein neues Subventionskarussell. Wenn wir uns da einigen könnten, wäre das besser.Ich sage nur — soweit reicht mein Gedächtnis im Zusammenhang mit der Bundesrepublik und ihrer wirtschaftspolitischen Geschichte zurück —: Die F.D.P. hat Ludwig Erhard schon gegen Konrad Adenauer unterstützt. Kartellgesetz und Korea-Krise sind die Stichworte.Wir setzen auf den Bürger, der in Privatinitiative, Eigenverantwortung und privater Risikoübernahme einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beitrag leistet.Wir setzen auf offene Märkte und Wettbewerb, weil sie die Abstimmung der zahllosen Wünsche und Produktionsentscheidungen in Individualität und Freiheit ermöglichen.Wir setzen auf den Markt als Entdeckungsverfahren; denn dies ist das erfolgreichste Forschungs- und Technologieprogramm zur Zukunftssicherung in Deutschland. Wir setzen nicht auf Technologieräte in irgendwelchen Sälen, sei es auch hier in Bonn.Wir setzen auf die Soziale Marktwirtschaft, weil sie Grundlage für effizientes Wirtschaften und ein freiheitliches Zusammenleben in einer offenen demokratischen Gesellschaft ist.Wir setzen auf die soziale Verantwortung des Staates da, wo es gilt, demjenigen soziale Absicherung zu bieten, der aus eigener Leistung und Kraft nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.Wir wissen, daß die Grenzen der Sozialpolitik dort gezogen werden müssen, wo soziale Rahmensetzung und Einkommensumverteilung die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit gefährden, weil sie das wirtschaftliche Anreizsystem schwächen und weil sie die Eigenverantwortlichkeit der Bürger und der Unternehmungen untergraben.Die F.D.P. setzt auf einen starken Staat, einen Staat, der häufiger als in der Vergangenheit nein sagen muß. Er muß da nein sagen, wo er überfordert ist.Die deutsche Wirtschaft war dem internationalen Wettbewerb nie zuvor so ausgesetzt wie heute. In einem härter werdenden Standortwettbewerb wird
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Dr. Otto Graf Lambsdorffaber die Fähigkeit von Staat und Gesellschaft, Probleme zu lösen, immer mehr zum zentralen Standortfaktor. Nie zuvor mußten sich Politik und Gesellschaft dem Wettbewerb der Systeme so stellen wie heute.Das zieht der Politik enge Grenzen. Die Jahre sind vorbei, in denen man der Politik mit einiger Aussicht auf Erfolg einen Wunschzettel gesellschaftlicher Forderungen zur Erledigung überreichen konnte.Soziale Marktwirtschaft war das Erfolgsrezept der Bundesrepublik. Allem Zeitgeist zum Trotz: Sie wird das Erfolgskonzept auch des vereinten Deutschlands sein.Das Motto des Sachverständigengutachtens „Zeit zum Handeln — Auftriebskräfte stärken" ist ein gutes Motto. Mit dem Jahreswirtschaftsbericht und dem Beschluß zur Umsetzung des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung zeigt diese Bundesregierung, zeigt diese Koalition, daß sie verstanden haben, daß Zeit zum Handeln ist. Die F.D.P.Fraktion wird sie dabei unterstützen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff, nach dem, was Sie gesagt haben, beschäftigen mich zwei Fragen. Die erste Frage bezieht sich auf das Verhältnis zur Macht, das Sie der SPD vorgeworfen haben. Ich würde gerne wissen, wie sich das Verhältnis der F.D.P. zur Macht gestaltet. Soviel ich weiß, stellt die F.D.P. seit 25 Jahren z. B. den Bundeswirtschaftsminister und war noch nie bereit, sich von dieser Art Verantwortung zu trennen, um eine Oppositionsrolle zu übernehmen. Irgendwie muß man, finde ich, nach 25 Jahren auch zu der Wirtschaftsentwicklung stehen, die man in dieser Form mit verantwortet hat, und kann hier nicht solche Reden halten, als ob seit 10, 15 Jahren ganz verschiedene Geister regieren, gegen die man jetzt vorgehen müßte, obwohl Sie es doch immer selbst waren, die regiert haben.Die zweite Frage: Ich finde es nicht fair, auch nicht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, immer den Eindruck zu erwecken, als ob Unternehmensteuern und Steuern für Vermögende, Reiche und Besserverdienende etwas Identisches seien. Das eine belastet Unternehmen, bei dem anderen geht es um Vermögen, das aus den Unternehmen längst abgezogen ist, um den persönlichen Verdienst, der überhaupt nicht investiert wird. Das hat mit Arbeitsplätzen und mit Wirtschaftstätigkeit nichts zu tun. Hier geht es einfach um ein anderes Verhältnis zur Solidarität, in einer Gesellschaft, die sich in einer Krise befindet und in der es darauf ankommt, daß in erster Linie die Vermögenden und Reichen ihren Beitrag zur Lösung der Probleme, der Krise leisten und nicht etwa die sozial Schwächsten, wie es die Bundesregierung organisiert.Machen wir es doch einmal konkret: Wir haben den Solidaritätszuschlag wieder abgeschafft. Die Begründung dafür war eine wirtschaftliche. Jetzt möchte ich einmal wissen: Was haben wir von dem Geldbetrag, den Sie, Herr Graf Lambsdorff, den der Bundeswirtschaftsminister und den ich dabei eingespart haben, investiert? Welchen Arbeitsplatz haben wir damit geschaffen? — Überhaupt keinen. Wir haben einfach unseren eigenen Lebensstandard verbessert — das ist die Tatsache —, während wir in der gleichen Zeit den Sozialhilfeempfängerinnen undd Sozialhilfeempfängern, den Umschülerinnen und Umschülern, den Beschäftigten im Rahmen von ABM, den Arbeitslosen und den Lohnabhängigen Gelder genommen haben. Diese Ungerechtigkeit führt zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung — wie ich meine, völlig zu Recht.Die heutige Aussprache zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung findet in einer Zeit harter Tarifauseinandersetzungen statt. Wir alle appellieren — auch die SPD —, daß es möglichst nicht zum Streik kommt. Ich weiß nicht: Wann paßt denn ein Streik in die Wirtschaft? Wann je würde eine Bundesregierung dazu aufrufen und sagen, heute ist die Zeit zum Streik? Ich kann mir so etwas schlecht vorstellen,
und ich glaube, daß deshalb die Argumente, die dagegensprechen, immer irgendwie herangezogen werden. Aber ich glaube, daß die Kolleginnen und Kollegen in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst und die bei der Post Beschäftigten durchaus begriffen haben, daß sie jetzt einen Arbeitskampf, nicht nur gegen die Arbeitgeberseite, sondern auch gegen die Politik dieser Bundesregierung, führen. Denn wer sonst als diese Regierungskoalition hat mit der Standortdiskussion den Arbeitgebern klar gesagt, man müsse jetzt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Lohnverzicht auffordern? Wer hat denn versucht, den Arbeiterinnen und Arbeitern und Angestellten weiszumachen, daß sie weit über ihre Verhältnisse leben würden? Und wer sonst hat zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit nichts anderes getan, als die Marktkräfte zu beschwören, den sich selbst tragenden Aufschwung herbeizureden, Sozialabbau zu betreiben und Lohnreduzierungen zu predigen? Die aktuellen Tarifauseinandersetzungen finden also nicht nur in einer konjunkturellen und strukturellen Krise statt, sondern auch in einem gesellschaftlichen Klima, das diese Bundesregierung erst geschaffen hat.Die Kolleginnen und Kollegen und ihre Gewerkschaften wissen sehr gut, was nicht nur für sie auf dem Spiele steht. Sie streiken für die Durchsetzung ihrer nur allzu berechtigten Forderungen nach einem Inflationsausgleich. Das ist nicht maßlos überzogen, sondern das absolute Minimum, um wenigstens einen Teil der Preissteigerungen, Steuer- und Abgabenerhöhungen und Mietsteigerungen kompensieren zu können. Aber Null ist den privaten und öffentlichen Arbeitgebern immer noch zuviel. Denn eigentlich wollen die Gewerkschaften nur Null erreichen, wenn man genau hinsieht, nämlich einen Ausgleich für die Kostensteigerung.Die Gewerkschaften kämpfen erneut für Arbeitszeitverkürzung, sind bereit, über flexiblere Arbeitszeitvarianten zu verhandeln, um erstens weitere Massenentlassungen zu vermeiden und die bestehenden
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Dr. Gregor GysiArbeitsplätze zu sichern und um zweitens mit Hilfe der Arbeitszeitverkürzung die gesellschaftliche Arbeit neu und auf breiteren Schultern zu verteilen. Es sind die Gewerkschaften, die derzeit an vorderster Stelle den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit führen, die eine aktive Arbeitsmarktpolitik fordern, während sich die Bundesregierung — außer ihren ideologischen Beschwörungsritualen — durch ihr Nichtstun auszeichnet.Die diesjährige Tarifrunde steht ganz im Zeichen entscheidender Abwehrkämpfe gegen die Kapitalseite und gegen die Politik der Bundesregierung, die die wirtschaftliche Krise und das allgemeine politische Klima im Lande nutzen wollen, um die bereits erreichten und zum Teil hart erkämpften materiellen und sozialen Sicherungen der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellten zu demontieren oder drastisch zurückzuschrauben.Dem Arbeitgeberverband geht es erklärtermaßen um Kostensenkungen in einer Größenordnung von 10 % bis 15 %. Das wollen sie einerseits durch eine Nullrunde erreichen, weiter durch Kürzen oder Streichen des Urlaubsgeldes und der übertariflichen — also der sogenannten freiwilligen — Leistungen.Schließlich wollen die Unternehmen ihre Kosten mittels flexibler Arbeitszeitregelungen ohne Lohnausgleich senken. Die Metallarbeitgeber streben maßgeschneiderte, auf die mikroökonomische Ebene zugeschnittene, höchst flexible Arbeitszeitregelungen für die Beschäftigten an, was wiederum zu weiteren Lohnsenkungen führen muß. Der Mensch wird zu einem reinen Kostenfaktor degradiert. Die Maschinen dienen nicht dem Menschen, sondern die Beschäftigten haben sich den modernen Maschinentaktzeiten unterzuordnen.Aber es geht in Wirklichkeit noch um etwas anderes. Mit den von den Arbeitgebern angestrebten, individuell zugeschnittenen Arbeitszeitregelungen sollen die bestehenden Branchentarifverträge demontiert werden. Alle großen Automobilkonzerne in diesem Land haben sich mit ihren sogenannten Haustarifverträgen ja bereits aus der Flächentarifvereinbarung verabschiedet. Wer aber die Flächentarifverträge zerstört, will britische oder japanische Verhältnisse herbeiführen und letztlich die Kampfkraft der Gewerkschaften schwächen.Das heißt, es geht letztlich um die Sicherung der Tarifautonomie. Es stehen die tarifvertraglichen Beziehungen samt ihren Spielregeln auf dem Spiel. Daß sich die IG Metall, die ÖTV und die Postgewerkschaft sowie Tausende ihrer Kolleginnen und Kollegen dagegen zur Wehr setzen, findet unsere volle Unterstützung.
Der Jahreswirtschaftsbericht dieser Bundesregierung ist ein Offenbarungseid. Die Diagnose für die krisenhaften Entwicklungen in unserem Land lautet erstens, der Standort Deutschland sei zu teuer, und zweitens, es werde zuwenig erneuert und investiert. Die Therapie, die die Bundesregierung ihrem Standort seit einiger Zeit verabreicht, lautet: Konsolidierung der Staatsfinanzen durch strenges Sparen und eine Entlastung der Wirtschaft von Kosten und Abgaben sowie sogenannten Investitionshemmnissen, z. B. den staatlichen Genehmigungsverfahren. Mit anderen Worten: Wenn der Staat nur die richtigen Rahmenbedingungen setze, dann werde auch wieder investiert und würden mit Investitionen auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden.Nun hat diese Krise verschiedene Ursachen, auch globaler Natur; aber keineswegs ist es so, daß der deutsche Standort durch die Kostenlasten erdrückt worden wäre. Die Fakten sprechen eine ganz andere Sprache. Von 1980 bis 1992 sind die privaten Nettogewinne in den alten Bundesländern von 240 Milliarden DM auf 570 Milliarden DM gestiegen, die Nettoinvestitionen aber nur von 123 Milliarden DM auf 192 Milliarden DM. Das Geldkapital oder das sogenannte frei vagabundierende Kapital, das Kapital also, das nicht reinvestiert wurde, hat sich auf über 700 Milliarden DM angehäuft.Daß in den 80er Jahren die Gewinne nur in relativ bescheidenem Umfang reinvestiert wurden, hat überhaupt nichts mit den Kosten zu tun. Es war in Wirklichkeit so, daß die Unternehmen in der langen Wachstumsphase von ihrer Substanz lebten, und zwar sehr gut lebten, weil sie ihre Waren und Dienstleistungen absetzen konnten, ohne in nennenswertem Umfang zu investieren oder Innovationen zu schaffen. Das erkennt, etwas verschämt, auch der vorliegende Jahresbericht der Bundesregierung an.Hinzu kam noch die deutsche Einheit. Sie bescherte vielen westdeutschen Unternehmen unerwartete Sonderprofite. Sie hatten es nicht nötig, in neue Produktionen und Dienstleistungen zu investieren; sie brauchten nur die bestehenden Kapazitäten an den westdeutschen Standorten zu erweitern bzw. voll auszulasten.Ich sage Ihnen, ich habe es auch ein bißchen satt, immer von der maroden Wirtschaft im Osten zu hören, wo jetzt soviel investiert werden muß. Stellen Sie sich doch einmal vor, die Wirtschaft im Osten wäre wirklich höchst effektiv und produktiv gewesen, hätte nur qualitativ hochwertige Produkte erzeugt. Ein westdeutsches Unternehmen nach dem anderen wäre im Konkurrenzkampf pleite gegangen! Das hätte vielleicht erst zu Spannungen in dieser Bundesrepublik Deutschland geführt!
So hat sich ein weiterer Binnenmarkt für die westdeutschen Unternehmen erschlossen, und sie konnten unheimlich viel Profit machen. Das ist doch die Wahrheit!Schauen Sie sich, zweitens, einmal die Entwicklung der Betriebe in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik an. Sie werden nicht bestreiten können, daß die Wirtschaft dort zumindest nicht weniger marode war als in der DDR. Trotzdem haben wir dort nicht so viele Betriebsschließungen, haben wir dort nicht die Massenarbeitslosigkeit wie in den neuen Bundesländern — ganz einfach deshalb, weil es dort nicht wie bei uns war, wo die ostdeutsche Wirtschaft der westdeutschen angepaßt wurde. Denn genau das war der eigentliche Auftrag der Treuhandanstalt, den sie
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18370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. Gregor Gysierfüllt hat, bis es kaum noch Industrien in den neuen Bundesländern gab.
— Wissen Sie, in diesem Zusammenhang von Lohnniveau zu reden ist deshalb etwas abwegig, weil nur noch so wenige beschäftigt sind, daß sich in den neuen Bundesländern in erster Linie die Frage stellt, wie hoch das Arbeitslosengeld ist, wie hoch das Entgelt für Umschülerinnen und Umschüler und für diejenigen ist, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind. Und gerade dieses Entgelt senken Sie. Und außerdem wissen Sie, daß die Kosten in den neuen Bundesländern, was Mieten, Waren und Dienstleistungen betrifft, enorm angestiegen sind und die Lohnentwicklung nicht mitgehalten hat, sondern nach wie vor auf einem wesentlich niedrigeren Niveau stehengeblieben ist, was viele soziale Probleme verursacht.Übrigens ist es auch nicht wahr, daß sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Schere in dem Sinne entwickelt hätte, daß die Löhne schneller als die Gewinne gestiegen wären. Die Wahrheit sieht wie folgt aus: Die Nettoeinkünfte der abhängig Beschäftigten stiegen zwischen 1980 und 1992 um 47,5 %, die Nettogewinne in der gleichen Zeit jedoch um 132,1 %. Der Anteil der Löhne und Gehälter am gesellschaftlichen Gesamteinkommen fiel auf das Niveau von 1990 zurück.In unserem Lande leben 97 Milliardäre, andererseits aber 10 % der Bevölkerung, darunter immer mehr Kinder, unterhalb der Armutsgrenze — Tendenz steigend. 1 Million Menschen sind inzwischen obdachlos. In den kalten Wintertagen sind obdachlos gewordene Menschen in einem der reichsten Länder dieser Erde erfroren; das muß man sich einmal überlegen.Dem deutschen Standort mangelt es nicht an weiteren Kostensenkungen, sondern an einem Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit; denn diese Bundesregierung hat sich längst von der Sozialen Marktwirtschaft verabschiedet. Sie ist zur reinen Umverteilungsmaschine des erarbeiteten Reichtums geworden.Mit der Reform der Unternehmensteuern von 1990 hat dieser Staat auf jährliche Einnahmen in Höhe von 720 Milliarden DM verzichtet und die Kosten der Unternehmen bereits erheblich entlastet. Mit einer weiteren Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer im letzten Jahr sparen die Vermögenden und die Unternehmen zusätzlich 14 Milliarden DM jährlich. Während ein Unternehmer oder eine Unternehmerin im Schnitt etwa 20 % Steuern zahlt, sind die Haushalte der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellten mit weit über 40 % belastet.Im Grunde genommen hat die Bundesregierung eine Drei-Klassen-Gesellschaft geschaffen. Die großen Unternehmen haben sich aus der Finanzierung der deutschen Einheit längst verabschiedet. Sie schrumpfen sich gesund und bezahlen auch den Staat nicht mehr. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Angestellten sowie die mittelständischen Unternehmen, einschließlich der Handwerksbetriebe, finanzieren nicht nur die Defizite, die die großen Unternehmen wegen ihrer gesunkenen Steuer- und Abgabenquoten verursacht haben, mit; sie tragen vielmehr die Hauptlast der Kosten dieser Krise.
Schließlich leisten ausgerechnet die über 4 Millionen Menschen, die erwerbslos sind, aber auch diejenigen, die in Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz beschäftigt sind, einen erheblichen Beitrag. Rund 20 Milliarden DM hat die Bundesregierung ihnen in den letzten Monaten genommen.Hinzu kommt noch, daß Sie immer dann, wenn Sie den sozial Schwachen etwas nehmen, zugleich verursachen, daß die Kaufkraft zurückgeht, daß weniger konsumiert wird, was die Umsätze im Handel, im Dienstleistungsbereich und in der Produktion reduziert und zu weiterem Arbeitsplatzabbau führt. Die Folge davon ist, daß weniger Steuern gezahlt werden. Darm kürzen Sie wieder die Sozialleistungen. Die ganze Spirale setzt sich ewig so fort.Wenn Sie dem Bundeskanzler, Herrn Rexrodt, Herrn Lambsdorff, Herrn Klose und mir 100 DM wegnehmen, konsumieren wir keine einzige Mark weniger, wir sparen höchstens weniger. Wenn wir weniger sparen, organisieren wir bei den Banken Geldknappheit. Wenn wir bei den Banken Geldknappheit organisieren, machen sie eine andere Zins- und Kreditpolitik. Das heißt, es ist eine wirtschaftspolitische Wahrheit: Nehmen Sie den Armen, lähmen Sie Wirtschaftstätigkeit! Nehmen Sie den Reichen, beleben Sie Wirtschaftstätigkeit, weil Sie die Banken zu einer anderen Kredit- und Zinspolitik treiben! Im übrigen leisten Sie dann noch einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit, was Ihnen ganz gut anstünde, solange Sie das Wort „sozial" so oft im Munde führen, aber nichts davon realisieren.Dann sagen Sie, daß es zu Ihrer Politik keine Alternative gibt. — Wissen Sie, das kenne ich. Solche Alleinvertretungsansprüche kommen mir aus einem früheren System sehr bekannt vor. Die haben auch immer erklärt, daß es keine Alternative zu dem gibt, was sie so betreiben.
Es hat sich übrigens als falsch herausgestellt. Solche Sätze deuten immer darauf hin, daß man sich kurz vor dem Ende befindet.Das zeigt auch Ihr Aktionismus. Sie haben jetzt das Aktionsprogramm I vorgestellt. Nun kommt Aktionsprogramm II. In der nächsten Woche soll das Aktionsprogramm III kommen. -- Es kommen keine Aktionen, es kommen nur Programme. Das ist ein bißchen wenig.
Ich will Ihnen auch sagen, worin die Alternativen bestehen. Wir haben genügend finanzielle Ressourcen. Wir könnten Arbeitsplätze schaffen, wirksam etwas gegen Massenarbeitslosigkeit tun, und zwar auf zwei Wegen: erstens auf dem Weg der Arbeitszeitverkürzung, um die Arbeit gerechter zu verteilen, und zweitens, indem wir die Einnahmen des Staates organisieren, Ausgaben reduzieren und mit den dadurch
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Dr. Gregor Gysigewonnenen Mitteln Arbeitsplätze im Bereich der Bildung, Kultur, Wissenschaft, Forschung und Ökologie schaffen, wo es sehr viel Arbeit gibt, aber gering bezahlte. Genau das könnte man ändern.Die 97 Milliardäre und über 200 000 Einkommensmillionäre könnten viel stärker als bisher besteuert werden. Besserverdienende könnten eine Ergänzungsabgabe zahlen, und solchen Menschen, die ich hier vorhin aufgezählt habe, sind höhere Einkommensteuern durchaus zuzumuten. Das Ehegattensplitting kann aufgehoben werden, und daneben könnten die, die in den neuen Bundesländern nachweislich verdient, aber nicht investiert haben, befristet eine Investitionshilfeabgabe zahlen. Die Vermögensteuer und unter Beibehaltung von Freibeträgen auch die Erbschaftsteuer könnten erhöht werden. Die Vermögensteuer könnte auch progressiv gestaltet werden. Auch besserverdienende Beamte, Freiberufler und Selbständige müßten herangezogen werden. Es wäre auch ein Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu der eben auch gehört, daß die Reichen in einer Solidargemeinschaft für die wirtschaftlich Schwächeren aufzukommen haben.Lassen Sie mich dann darauf hinweisen, daß es Veränderungen geben kann, um wirklich zu mehr Finanzen zu kommen. Lassen Sie mich dafür nur zwei Beispiele nennen. Erstens. Das Grundgesetz sieht vor, daß wir auf das frei vagabundierende Kapital von über 700 Milliarden DM auf den Banken zurückgreifen. Warum tut das diese Bundesregierung eigentlich nicht?Zweitens. Überall in der Industrie und im Handwerk besteht Umsatzsteuerpflicht, nur beim Finanzkapital nicht. Wissen Sie, daß das Geschäft mit Aktien, Options- und Warentermingeschäfte, der Devisenhandel und andere Transaktionen im Bereich des Finanzkapitals im letzten Jahr in der Bundesrepublik insgesamt einen Wert von 6 Billionen DM umfaßt haben?
— Nein, 6 Billionen, alle anderen Verkäufe zusammen. — Wenn der Staat darauf eine Umsatzsteuer von nur 2 % nähme, hätte er schon eine Mehreinnahme von 120 Milliarden DM.
— Ich sage Ihnen eins, Graf Lambsdorff: Solange wir das Finanzkapital im Vergleich zu Industriekapital derart fördern, ist das Ergebnis, daß die Menschen ihr Geld zur Bank bringen und genau nicht investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen.So gäbe es noch viele andere Möglichkeiten — die kann ich Ihnen leider jetzt nicht mehr aufzählen, weil meine Redezeit zu Ende ist —, um die Finanzsituation zu verbessern.Ich sage Ihnen auch: Wir brauchen eine Umstellung im Steuer- und Abgabensystem zwischen den hochproduktiven Bereichen mit wenig Beschäftigten und den beschäftigungsintensiven Bereichen. Das heißt, wir müssen auch über eine Maschinensteuer nachdenken. Aber in erster Linie müssen wir in dieserGesellschaft einmal die Solidarität der Reichen mit den Armen organisieren und nicht umgekehrt die Solidarität der Armen mit den Reichen; sonst spalten Sie diese Gesellschaft in einer Art und Weise, die zu einer Eruption führen wird, die letztlich dem Rechtsextremismus in die Hände spielt und die Demokratie gefährdet. Das ist die wirkliche Gefahr, der es zu begegnen gilt.Danke schön.
Herr Kollege Graf Lambsdorff, Sie können erst nach der ersten Runde eine Intervention machen, und die ist erst abgeschlossen, wenn jetzt unser Kollege Werner Schulz hier gesprochen hat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin darüber erfreut, wie intensiv sich die Damen und Herren von der Koalition mit unserem Programm beschäftigt haben. Es zeigt, wie ernst es um Sie steht; denn früher konnten Sie sich immer den Luxus erlauben, uns zu ignorieren.
Es ist eben doch nicht so, daß die GRÜNEN ein vorübergehendes Phänomen dieser Republik gewesen sind; sie kommen erstarkt zurück.
Und Sie werden, wenn Sie sich etwas intensiver und genauer mit unseren wirtschaftspolitischen Vorstellungen beschäftigen, auf überraschende Entdeckungen stoßen. Ich nenne als Beispiel die Investitionshilfeabgabe. Herr Haungs hat sich ja leider schon verdrückt und kann das nicht mehr hören; aber vielleicht übermitteln ihm das die wenigen Kollegen, die noch hier sind. Er kennt offenbar seine eigenen Wurzeln nicht. Bei der Investitionshilfeabgabe sind wir Schüler von Ludwig Erhard. Hier haben wir eine Anleihe aufgenommen; das gab es bereits in den 50er Jahren. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist nämlich auch eine Frage von Unterkapitalisierung, weil es genügend Vermögende gibt — vor allem im Westen —, die ihr Geld offensichtlich lieber auf der Bank als in der ostdeutschen Baugrube arbeiten lassen. Das ist auch ein Riesenproblem, das gelöst werden muß.Graf Lambsdorff, Sie sind ja heute richtig grün-rot, rotgrün vor Eifer und Sorge um dieses Land geworden. So kennen die Leute Sie überhaupt nicht. Bisher waren Sie mehr dafür bekannt, daß Sie sich um sich selbst gesorgt haben, um die Zahl Ihrer Nebenjobs, um die Nebeneinnahmen, die es in diesem Parlament auch noch zu verzeichnen gibt. Aber ich will Ihnen sagen, was aus Ihnen spricht: Es ist die Angst, es ist die
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Werner Schulz
pure Angst, daß es der Mehrheitsbeschaffer F.D.P. nicht mehr schafft.
Wir haben zum erstenmal die Situation, daß es zu einem Regierungswechsel zu Rot-Grün kommen kann ohne die Flatterpartei F.D.P., ohne daß Sie vorher ein taktisches Wendemanöver einleiten, um den nächsten Koalitionspartner zu erschließen, weil sich nämlich die Leute ernsthaft fragen — ich will diese Beleidigung, die Sie in Richtung unserer Partei ausgeteilt haben, gar nicht zurückgeben —: Wozu brauchen wir diese verantwortungslose, zukunftsvergessene Selbstbereicherungspartei noch?Wenn man Herrn Rexrodt gehört und aufmerksam verfolgt hat, dann hört sich seine Rede wie die Erfolgsbilanz der DDR an: Aktionsprogramm I, II, III, IV. Ich erinnere mich an einen Spruch in der DDR; da hieß das immer: 8, 9, 10, Klasse! Bloß, ich glaube, bei Ihnen läuft der Countdown etwas anders. Die Zahlenreihe läuft jedenfalls rückwärts.Es ist richtig, wenn Sie sagen, daß die Arbeitslosigkeit ein strukturelles Problem ist. Bloß leitet sich aus dieser richtigen Erkenntnis bei Ihnen nichts ab. Es kommt kein Handeln. Gerade Sie, Herr Minister, hatten ja die großen Möglichkeiten gehabt, als Vorstandsmitglied der Treuhandanstalt eine vernünftige Strukturpolitik mitzubestimmen. Aber was ist denn passiert? Sie haben im Grunde genommen mit der schnellen Privatisierungsstrategie dieser Anstalt eigentlich einen riesengroßen Ausverkauf eröffnet, ohne die Möglichkeit einer sinnvollen Regionalpolitik, Strukturpolitik und Erneuerung im Osten Deutschlands, d. h. ohne die Möglichkeit, dort eine wirklich moderne, effiziente Wirtschaft aufzubauen, von der Sie immer reden.Wenn die derzeitige Wirtschaftslage von Ihnen analysiert wird, dann vergessen Sie sehr gerne einen Kardinalfehler, der in der Anfangsphase gemacht worden ist, auch wenn der Kanzler mittlerweile dazu bereit ist, hier so ein pauschales Fehlereingeständnis hinzulegen. Neuerdings hört sich das wie eine Haftungsgesellschaft an. Er ist ja der Meinung, nicht nur er, sondern alle hätten sich geirrt. Im Grunde genommen sei das alles nicht voraussehbar gewesen.Zu Beginn der deutschen Einheit ist ja auch ein Fehler gemacht worden, der dazu geführt hat, daß wir in einer solchen Krise stecken. Man hat damals den gesamten wirtschaftspolitischen Sachverstand ausgeschlagen. Es haben viele gewarnt, nicht der Bundesbankpräsident allein oder der Vorsitzende des Sachverständigenrates. Zum Beispiel Lothar Späth, damals noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat im Juni 1990 darauf hingewiesen: Wir marschieren durch ein tiefes Tal, wir bekommen in Ostdeutschland Beschäftigungsverluste in der Größenordnung von 3 Millionen, und dann müssen wir die Menschen auffangen.Es hat also nicht an Warnungen gefehlt, sondern man hat diese alle in den Wind geschlagen und sich statt dessen seinen Blütenträumen hingegeben. Diese Bundesregierung hat immer nur die Experten berücksichtigt, die ihr in den Kram paßten. Analysen des Sachverständigenrates wurden weitgehend ignoriert. Die marktwirtschaftliche Rhetorik diente allenfalls zur Dekoration einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die die mächtigen Klientelinteressen nie aus dem Auge verlor.Der Bundeskanzler will auch in dieser Hinsicht seinem Idol Adenauer folgen. Der wollte seinerzeit die Einrichtung des Sachverständigenrates verhindern, weil er in dem unabhängigen Beratungsgremium unliebsame Kontrolle witterte. Der neue Rat für Forschung, Technologie und Innovation soll dem Kanzler solche Probleme nicht bereiten. Er möchte keine unbequemen Wahrheiten hören, sondern sich nur mit den Experten abgeben, die die Regierungspolitik unterstützen. Das kennen wir seit Jahr und Tag: Die Bundesregierung nimmt Probleme erst wahr, wenn sie Gefahr läuft, darüber zu stolpern.Vor dem Hintergrund der schlimmsten Krise in der Geschichte der Bundesrepublik liest sich der wohl letzte Jahreswirtschaftsbericht dieser Regierung als ein Report der Tauben und Blinden. Der Wirtschaftsminister ignoriert alle Expertenbefunde und redet sich selbst einen neuen Aufschwung ein. Der Finanzminister hat den Schuldenberg in der Finsternis seiner Schattenhaushalte aus den Augen verloren. Er dürfte nicht mehr Theo, sondern er müßte Christo Waigel heißen.
Aber ein Wirtschaftswachstum ist entgegen aller prognostizierten Aufschwünge nicht in Sicht. Die wirtschaftliche Stagnation treibt die Arbeitslosigkeit auf über 4 Millionen, und die finanzpolitische Misere wird sich in diesem Jahr im vollen Umfang zeigen.Der Jahreswirtschaftsbericht beschreibt eigentlich eine gescheiterte Politik. Er belegt nachdrücklich, daß der Bundeskanzler und die Koalition zu Recht das Vertrauen der Wähler und Wählerinnen verloren haben. Von den 10 Millionen Arbeitsplätzen, die es 1989 in Ostdeutschland gegeben hat, ist etwa nur noch die Hälfte übriggeblieben. Die Bundesregierung hat zugelassen, daß die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nahezu ungebremst weitergeht. Sie hat dazu beigetragen, daß sich die Armut in Deutschland immer mehr ausbreitet und die Einkommensentwicklung weiter auseinanderläuft.Dieser ignorante Zweckoptimismus des Wirtschaftsministers kann nicht verdecken, daß die Bundesregierung ohne jedes Konzept dasteht, mit dem sie die wirtschaftliche Krise und die Massenarbeitslosigkeit beenden könnte. Die Papierflut aus dem Bundeswirtschaftsministerium offenbart nur eines: Diese Regierung ist ratlos und gerät in Panik. Die verschiedenen Aktionsprogramme und Berichte sind völlig unkoordiniert und widersprüchlich. Sie belegen einen eigentümlichen Rollenwechsel: Der Bundeskanzler und seine Minister haben sich zu Kritikern ihrer eigenen Politik gemausert. Man gewinnt den Eindruck, daß die Koalition in vorauseilender Anpassung an das Wählervotum schon einmal die Oppositionsrolle üben will.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18373
Werner Schulz
Da wird eine neue Steuerpolitik und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gefordert, als sei die CDU schon seit Jahr und Tag in der Opposition.
Der Kanzler tut so, als habe seine Politik nichts, aber auch gar nichts mit der wirtschaftlichen und sozialen Misere in Deutschland zu tun. Diese Regierung hatte elf Jahre Zeit; in elf Jahren hat sie genau die Probleme geschaffen, die sie jetzt lösen will.
Die Bundesregierung traut sich nicht einmal mehr, sich ernsthaft mit dem Sachverständigenrat auseinanderzusetzen. Der Sachverständigenrat hat unmißverständlich festgestellt, daß diese Regierung kein Konzept mehr hat, um aus der Krise und aus der Massenarbeitslosigkeit herauszufinden.
Kein Wunder, wo schon die Analyse falsch ist. Denn nach Lesart der Bundesregierung sind die Arbeitnehmer die Hauptschuldigen der sogenannten Kostenkrise. Das böse Kanzlerwort vom kollektiven Freizeitpark lenkt von den wirklichen Problemen in diesem Land auf groteske Weise ab. Natürlich geraten in der Rezession viele Unternehmen in die Lage, daß die Kosten die Erträge übersteigen. Aber es macht doch keinen Sinn, angeblich zu hohe Kosten für die Rezession verantwortlich zu machen.Die Probleme des Standorts Deutschland liegen doch ganz woanders. Die wirtschaftliche Vereinigung ist von dieser Regierung erschreckend schlecht gestaltet worden: Aufschwung Ost, Solidarpakt, Solidaritätsprogramm, Aktionsprogramm — das alles sind hilflose und konzeptionslose Versuche, die eigenen Fehler auszugleichen oder zu verdecken.Mit der überstürzten Währungsunion und einer unseligen Treuhandanstalt, die lange Zeit wie ein Konkursverwalter die verwertbaren Aktiva liquidierte, statt die Sanierung ihrer Unternehmen zu fördern, hat die Bundesregierung erheblich dazu beigetragen, daß jetzt der Neuaufbau im Standort Ostdeutschland von einer äußerst schmalen Basis ausgehen muß.Die Chancen, die gerade auch für Ostdeutschland in bewußt beschleunigter, ökologischer Erneuerung liegen, haben die Wirtschaftsminister im Kabinett Kohl dagegen nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Überhaupt liegt bei der Förderung wirklicher Innovationen in diesem Land ein Problem, ein Standortproblem, wenn Sie so wollen. Erst langsam dämmert es den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, daß es nicht so weitergeht wie bisher und daß neue Problemlösungen, Produkte und Verfahren in Ost und West gesucht werden müssen. Risikokapital für diese neuen Entwicklungen ist in diesem Land nicht leicht zu bekommen. Das muß anders werden.Auch die Finanzpolitik der Koalition ist gescheitert; zu Recht betont dies der Sachverständigenrat. Die Bundesregierung hat die Gutachten der letzten beiden Jahre ignoriert. Die Regierung hat sich selbst in eine verhängnisvolle Verschuldungsfalle getrieben, aus der es nun kein Entrinnen mehr gibt. Es ist bekannt und hat sich herumgesprochen: Allein die Zinszahlungen werden in der Zukunft fast jede vierte Steuermark auffressen.Noch steht der Offenbarungseid aus, obwohl schon seit 1990 klar war, daß diese Politik zu katastrophalen Folgen führen würde. Die Koalition hat mit Steuerlügen, mit Versprechungen versucht, sich über die Zeit zu retten, und sie hat die Schuld natürlich auf andere abgewälzt.Jetzt versucht die Regierung, die von ihr angekündigte Konsolidierung der Staatsfinanzen auf Kosten der Schwachen in der Gesellschaft durchzusetzen. Der Sachverständigenrat hat diese Tricks der Regierung deutlich kritisiert. Schon im letzten Gutachten wurde die mißbräuchliche Verwendung der Gelder der Bundesanstalt für Arbeit und der Rentenversicherung für die Finanzierung der deutschen Einheit als finanzpolitisch verfehlt und sozial ungerecht kritisiert. Aus dem neuen Gutachten geht hervor, daß die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen insgesamt verfehlt worden ist.Ebensowenig ist das Sparprogramm der Regierung ein Beitrag zu einer solidarischen Lastenverteilung. Es erschöpft sich lediglich in dem Versuch einer klientelorientierten Konsolidierung des Bundeshaushaltes auf Kosten anderer Ebenen des Staates.Doch die Lasten müssen gerecht verteilt werden. Wir haben einen neuen Lastenausgleich vorgeschlagen, der die Menschen in der Bundesrepublik entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit am wirtschaftlichen und sozialen Aufbau in den neuen Bundesländern beteiligt. Ein neuer Lastenausgleich zielt auf eine gerechte Belastung von Einkommen und Vermögen. Die hohen Einkommen und Vermögen und auch die Gewinner der deutschen Einheit müssen für diese Ziele einen höheren Beitrag als bisher leisten.Marktwirtschaftliche Rhetorik hat die Regierung bisher nie daran gehindert, einen wirtschafspolitischen Aktivismus besonderer Art zu entwickeln, wenn es darum ging, besonders treue Wählerschichten — nicht nur die zahlenden — mit kleinen Aufmerksamkeiten zu versehen. Deshalb verwundert es auch nicht, daß die staatlichen Subventionen in dieser Zeit nicht gesunken sind. Nach einer Berechnung des DIW sind die Subventionen, die Finanzhilfenzuschüsse und die Steuervergünstigungen von 1980 bis heute nahezu kontinuierlich gestiegen. Die Bundesregierung hat entgegen ihren Ankündigungen keinen Kurswechsel in ihrer Subventionspraxis vollzogen.Wir wissen alle noch, mit welchen vollmundigen Versprechungen Herr Möllemann damals als Wirtschaftsminister angetreten ist. Er hat gesagt, er trete zurück, wenn er die Subventionen nicht in einem Jahr um 10 Milliarden DM zurückgefahren habe. Er ist zurückgetreten, aber ich glaube, eben wegen verfehlter Subventionspolitik. Auch das ging in die falsche Richtung, auch das ging wieder in die Familie.Die Bundesregierung hat nicht nur ein unbeschreibliches Steuerchaos angerichtet, sie hat auch dafür gesorgt, daß das Steuersystem ökologisch unverträglich ist. Mit etwa 80 Milliarden DM tragen die ener-
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Werner Schulz
giebezogenen Steuern und Abgaben nur mit etwa 11 % zum Steueraufkommen bei. Der Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen stieg dagegen zwischen 1989 und 1990 von 33 % auf 40 %.Das Mißverhältnis zeigt sich besonders bei der Mineralölsteuer. Dazu muß ich einmal deutlich sagen: Wir fordern nicht eine Anhebung auf 5 DM, wie das die ,,Bild"-Zeitung kolportiert. Das ist eine Forderung der Enquete-Kommission dieses Hauses, die aus Sachverständigen zusammengesetzt war. Wir leiten lediglich die Konsequenz ab, die sich daraus ergibt, daß die Mineralölsteuer in den nächsten Jahren erhöht werden muß, weil nämlich Preise auch die ökologische Wahrheit sagen müssen und weil der Preisindex für die Mineralölsteuer heute niedriger ist als 1985. Auch das gehört dazu. Aber wir setzen die Mineralölsteuer nicht als ein Abschöpfinstrument ein,
um die Staatskasse zu füllen, sondern wir wollen damit natürlich den ökologischen Umbau finanzieren.Dieses Land braucht eine Politik der ökologischen Umorientierung, eine Politik der finanzpolitischen Solidarität und eine Politik der sozialen Gerechtigkeit. Meine Damen und Herren, dieses Land braucht vor allen Dingen eine neue Regierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind damit am Ende der ersten Diskussionsrunde zum Jahreswirtschaftsbericht angekommen.
Bevor ich die zweite Runde aufrufe, möchte ich unserem Kollegen Klaus Lennartz herzlich gratulieren. Er hat heute 50. Geburtstag.
Dann möchte ich gern dem Wunsch des Kollegen Graf Lambsdorff zu einer Kurzintervention gemäß § 27 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung nachkommen. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Wir haben eben zwei Redebeiträge gehört, die noch einmal deutlich gemacht haben, daß man über Wirtschaftspolitik nicht vernünftig und verantwortlich diskutieren kann, wenn man nicht über die Grenzen hinaussieht.
Wenn Herr Gysi vorschlägt, in Deutschland eine 2 %ige Umsatzsteuer auf Börsentransaktionen zu erheben, so ist dies ein Förderungsprogramm für die Börsenplätze Zürich und London. Dann gehen die Geschäfte nämlich dorthin, und hier wird gar nichts getätigt. Das ist — verzeihen Sie, Herr Gysi — schlicht ökonomischer Unsinn.
Herrn Schulz habe ich zugehört. In seinem Redebeitrag war nicht ein einziges Wort, mit dem er über die deutschen Grenzen hinausgeschaut hätte. Damit ist Wirtschaftspolitik in Deutschland und in dieser Welt nicht zu machen.
Zu einer Erwiderung gemäß § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung erhält nun der Kollege Dr. Gysi das Wort.
Graf Lambsdorff, erstens haben wir bestimmte Steuern und andere Abgaben, die in anderen Ländern nicht erhoben werden. Dennoch fließt mehr ausländisches Kapital nach Deutschland als deutsches Kapital ins Ausland. Das heißt, daß wir nach wie vor für ausländisches Kapital durchaus attraktiv sind, was zum Teil andere Ursachen hat.
Zweitens habe ich gar nicht davon gesprochen, daß das nur in Deutschland eingeführt werden sollte. Ich bin sehr dafür, dies im Rahmen der Europäischen Union einzuführen. Die Bundesregierung hat einen beachtlichen Stellenwert in dieser Europäischen Union. Wann nutzt sie eigentlich einmal ihren Einfluß, um solche Dinge europaweit durchzusetzen? Ich bin ja gar nicht dafür, das nur auf Deutschland zu beschränken. Alle führenden Industriestaaten stehen vor dem Problem, daß es sich in erster Linie lohnt, Geld zur Bank zu tragen, und daß es sich viel weniger lohnt, Geld zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen.
Wenn wir uns nicht überlegen, wie wir Finanzkapital entprivilegieren, wird es bei diesem Zustand bleiben. Das Geld auf den Banken wird sich immer weiter anhäufen, wir werden kein Investitionsklima bekommen und irgendwann, wenn dieses Geld dann doch auf den Markt kommt, einen Schwarzen Freitag erleben, im Vergleich zu dem derjenige aus dem Jahre 1929 ein harmloses Vorspiel war.
Meine Damen und Herren, bevor wir jetzt in die zweite Runde der Debatte eintreten, gibt es noch eine Kurzintervention. Herr Kollege Schulz, bitte.
Herr Präsident, ich habe ja die Möglichkeit zu erwidern, weil Graf Lambsdorff mich angesprochen hat.Graf Lambsdorff, Ihre Kurzintervention hatte, bezogen auf die BÜNDNISGRÜNEN, keinen Krümel sachliche Substanz, wie Ihre Ausfälle schon in Ihrer Rede. Ich glaube, daß Sie im Denken begrenzt sind. Denn wer heute die Wirtschaft auf Umweltverträglichkeit umstellt, Graf Lambsdorff, der wird nicht nur die ökologische Dividende ernten, sondern darüber hinaus weltweite Wettbewerbsvorteile erzielen. Wenn Sie das immer noch nicht verstanden haben, dann bezeugen Sie, daß Ihre Partei einfach keine wirtschaftliche Kompetenz mehr hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18375
Werner Schulz
Das ist vorbei. Sie hatten das einmal in den fünfziger Jahren. Ihr Image verblaßt, Graf Lambsdorff. Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis.
Darauf möchte nun noch einmal Graf Lambsdorff gemäß § 27 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung antworten.
— Er kann das; ich lasse das auch zu. Bitte sehr.
Herr Präsident! Herr Kollege Schulz ist heute in der Zuerkennung von Farbwirkungen großzügig. Erst hat er gesagt, ich sehe rot-grün aus. Jetzt sehe ich verblaßt aus.
Ich kann vielleicht nicht denken, Herr Schulz, aber ich kann lesen, was in Mannheim beschlossen worden ist.
Was Herrn Gysi anlangt: Ich habe bewußt einen Finanzplatz erwähnt, der nicht der Europäischen Union angehört, nämlich den in Zürich. So ganz einfach geht es wohl nicht. Wenn Sie hier Wünsche angemeldet haben, von deren politischer Nichtdurchsetzbarkeit Sie selber überzeugt sind, dann brauchen wir uns nicht zu streiten.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nachdem auch die Bundesregierung angesprochen worden ist, kann sie, wenn sie will, jetzt etwas dazu sagen; denn es erhält jetzt das Wort der Bundesminister für Verkehr, unser Kollege Matthias Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir über den Standort Deutschland und die künftige wirtschaftliche Entwicklung sprechen, dann, glaube ich, ist es gegenüber unseren Mitbürgern überzeugender, wenn sich Debattenbeiträge nicht auf Klagen, Schimpfen, Jammern und Kritisieren beschränken, sondern wenn wir sagen, was wir tun und was die einzelnen politischen Kräfte in diesem Hause vorhaben.
Wenn es ums Tun geht, dann muß auch von den Infrastrukturinvestitionen gesprochen werden, die Teil einer überzeugenden wirtschaftspolitischen Strategie sind. Das Bundesverkehrsministerium investiert im Jahre 1994 26 Milliarden DM in die Verkehrswege in Ost und West. Herr Kollege Schulz, bei allem, was uns besorgt, bei allem, was wir gerade in den neuen Bundesländern zu bewältigen haben: Ich glaube, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern wissen sehr genau, daß wir neben den Problemen beispielsweise beim Ausbau und Neubau unserer Verkehrswege in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren ein gewaltiges Stück vorangekommen sind.
35 Milliarden DM zum Auf- und Ausbau in den neuen Bundesländern: Das ist keine hohle Theorie, das ist praktische Wirtschafts- und Verkehrspolitik. Oder wie es der Vorstandsvorsitzende von RollsRoyce bei der Gründung des gemeinsamen Werks mit BMW in Dahlewitz bei Berlin vor einigen Wochen gesagt hat: Ohne die dort geschaffene gesunde Infrastruktur wären wir nicht in der Lage gewesen, privates Kapital zum Aufbau eines neuen Betriebs, eines hochmodernen Werks zu bekommen. Dies müssen wir in den neuen wie in den alten Bundesländern weitertreiben. 1 Milliarde DM für den Verkehrswegebau eingesetztes Kapital schafft und sichert im Schnitt 12 000 Arbeitsplätze. Wir reden also nicht nur über Infrastrukturinvestitionen, wir reden auch über die Folgewirkungen im Interesse von Beschäftigung.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns weiß, daß die zentrale Herausforderung dieser Zeit die Überwindung der Arbeitslosigkeit ist. Aber die Vernünftigeren, die nicht nur parteitaktisch operieren, wissen auch: Auf einem weltweit verbundenen Markt gibt es keine Insellösungen. Dort wird sich der behaupten, der die intelligentesten Produkte besitzt, der am meisten die Innovation fördert, der die günstigsten Rahmenbedingungen für unsere Tüftler, Erfinder, Ingenieure und Facharbeiter schafft und der auch den Mut hat, große Technologieentscheidungen in einem Land, in dem die Bedenkenträger manchmal zu überwiegen scheinen, durchzusetzen.Natürlich weiß ich, daß es Einwände gibt. Kein Konzept löst nicht auch Widerspruch aus. Aber ich sage vor diesem Haus auch ganz offen: Ich fände es unverständlich, wenn das Konzept des Transrapid, das das Bundeskabinett gestern beschlossen hat, im parteipolitischen, kleinkarierten Taktieren versickern würde. Wir sind fest entschlossen, es gemeinsam durchzusetzen.
Und das nicht, weil es uns um ein Prestigeprojekt geht, sondern weil wir der Meinung sind: In Zeiten knapper Kassen darf man alles abschneiden, Herr Lafontaine, bloß nicht die Blutzufuhr zum Kopf.
In Zeiten knapper Kassen muß man alles dafür tun, daß unsere Ingenieure, unsere Erfinder, unsere Techniker gerade dann, wenn sie mit ihren Entwicklungen wie beim Transrapid fünf Jahre vor den Japanern liegen, auch die Chance bekommen, dieses Produkt in Deutschland zu verwirklichen.Ich hoffe, daß der Ratschlag von Herrn Voscherau und von Herrn Klose für den Transrapid in Ihrer Partei auf fruchtbaren Boden fällt.
Ich will dieses Thema nicht in die parteipolitischeAuseinandersetzung führen. Ich sage nur: Wir können
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18376 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Matthias Wissmannes uns nicht länger erlauben, bei einem großen Technologieprojekt nach dem anderen den Bedenkenträgern das Feld zu überlassen. Wir können die großen Technologien nicht ins Museum schieben. Wir können nur dann auf Dauer ein Land mit hohen Löhnen bleiben, wenn wir technologieintensiven Produkten eine Gasse bahnen. Ich glaube, das sollten wir uns bei dieser Standarddebatte gemeinsam ins Bewußtsein rufen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Matthäus-Maier?
Ja.
Bitte, Frau Kollegin Matthäus-Maier.
Herr Bundesverkehrsminister, ich halte den Transrapid für eine technologisch beeindruckende Entwicklung, und ich wünschte ihm allen wirtschaftlichen Erfolg. Aber meine Frage an Sie ist: Ist es nicht doch so, daß das Finanzierungskonzept wirklich unsolide ist, daß es zu einem Milliardengrab für den Bundeshaushalt wird, daß in einer Zeit, in der Sie heute morgen einen Gesetzentwurf vorlegen, der Mautgebühren mit Mauthäuschen für den Autofahrer vorsieht — weil die Finanzen durch Sie an die Wand gefahren sind —, gleichzeitig zusätzliche Milliarden für den Transrapid benötigt werden? Wäre es nicht besser, daß diejenigen — wie Ihre Koalition und die Wirtschaft —, die immer von Privatisierung reden, den Transrapid als Anwendungsfall für Privatisierung nehmen und ihn wirklich privat durchführen und finanzieren?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich kann das ganz ruhig beantworten. Heinrich von Pierer, der Vorstandsvorsitzende von Thyssen Industrie Dr. Rohkamm, viele andere Experten haben dieses Konzept mit uns zusammen erarbeitet. Dieses Konzept sieht als erstes großes Infrastrukturprojekt in Deutschland vor, daß der gesamte Betrieb des Transrapid ausschließlich privatwirtschaftlich finanziert wird. Es gibt keine staatlichen Garantien. Um es klar zu sagen: Der Transrapid wird mit Strom angetrieben und nicht mit Subventionen.
Ich halte das für einen großen Fortschritt, den auch Sie konstatieren sollten.
Daß wir für den Bau der Strecke des Transrapid öffentliche Gelder aufbringen, ist nur zu selbstverständlich. Ich habe die Freude, in wenigen Monaten den Baubeginn der ICE-Strecke Nürnberg-Ingolstadt-München zu vollziehen. Dort nehmen wir ebenfalls öffentliche Gelder in Anspruch.
Würden wir den Transrapid auf der Strecke Hamburg-Berlin nicht verwirklichen, müßten wir wegen des hohen Passagieraufkommens eine Hochgeschwindigkeitsstrecke ICE bauen. Da sage ich ganz klar: Wenn wir diesen Innovationssprung an einer Stelle in Deutschland mit der Chance, die sich daraus auf den Weltmärkten ergeben kann, nicht mehr schaffen und uns scheuen, dabei auch ein Risiko in Kauf zu nehmen, dann sind wir nicht in der Lage, unsere führende Stellung in der Welt als Technologie- und Industrienation zu behaupten.
Deswegen lade ich Sie ein, lösen Sie sich bitte von Vorurteilen.
Ich bin zu jeder Information jederzeit, auch in Ihrer Fraktion, bereit.
Mir liegt nicht daran, die Konfrontation zu suchen. Mir liegt daran, mit aufgeschlossenen Geistern auch in Ihren Reihen — ich hoffe, es gibt sie in großer Zahl — dieses Konzept gemeinsam durchzusetzen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Weng?
Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Minister, teilen Sie meine Auffassung, daß die Glaubwürdigkeit einer Fragestellung, wie sie Frau MatthäusMaier hier gerade unter Aspekten der Finanzierung vorgebracht hat, doch sehr fragwürdig ist, wenn man sich vor Augen hält, daß die SPD schon vor einigen Jahren eine Referenzstrecke in Nordrhein-Westfalen mit ganz anderen Begründungen verhindert hat?
Eigentlich ist das eine unzulässige Dreiecksfrage, aber bitte, Herr Minister.
Herr Kollege Weng, ich lese heute im „Handelsblatt": In der Frage des Transrapid scheiden sich in der SPD die Geister.
Es ist in der Tat so: Die Politik anerkannter sozialdemokratischer Forschungsminister wurde von unseren Kollegen überzeugend fortgeführt. Heinz Riesenhuber hat dieses Projekt auf die Schiene gesetzt. Ich wäre froh, wenn die Sozialdemokraten in der Tradition
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18377
Bundesminister Matthias Wissmannihrer ehemaligen Forschungsminister blieben und sich nicht aus opportunistischen Gründen von der selbst einmal eingeschlagenen Linie verabschiedeten.
Meine Damen und Herren, es ist gerade zu Recht gesagt worden: Heute liegt auch ein Entwurf zu einer verbesserten Privatfinanzierung im Verkehrswegebau vor. Wir gehen diesen Weg einer verstärkten Mobilisierung privaten Kapitals im Verkehrswegebau auch deswegen, weil wir die dringend notwendigen Investitionen für Bahn und Straße brauchen.Allein 5 200 Kilometer Ortsumgehungen sind in Deutschland im Bundesverkehrswegeplan vorgesehen, und danach rufen die Bürger. Ich habe jeden Tag Bürgerinitiativen zu Gast, die mir sagen, wie dringend ihre Ortsumgehung sei. Wir können diese Investitionen nur leisten, wenn wir mehr privates Kapital mobilisieren.
Wir haben im letzten Jahr — ich bin dem Bundesfinanzminister dankbar, daß wir den Weg gemeinsam beschreiten konnten — die ersten zwölf Privatfinanzierungsprojekte in Deutschland freigegeben. Wir brauchen die vierte Elbtunnelröhre in Hamburg, die so dringend notwendig ist, den Engelbergtunnel in meiner Heimat Stuttgart
Heute legen wir ein Gesetz vor, das dann, wenn Regionen und private Kapitalgeber zu der Überzeugung gelangen, daß ein nicht im Bundesverkehrswegeplan vorgesehenes Projekt — ich denke an die verschiedenen Ideen vom Ruhrtunnel — auf privatem Kapital aufbauend realisiert werden soll, die Möglichkeit eröffnet, dafür eine Refinanzierung über Gebühren vorzusehen.
— Lieber Kollege Lennartz, die Vorschläge zum Ruhrtunnel sind keineswegs Vorschläge, die nur aus einer politischen Ecke kommen. Sie kommen aus der Industrie, sie werden zum Teil von Sozialdemokraten mitgetragen.Ich finde, der Bundesverkehrsminister hat die Pflicht und Schuldigkeit, dafür Rahmenbedingungen zu schaffen. Die werden durch den heute von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Gesetzentwurf ermöglicht. Ziel ist nicht, eine allgemeine Maut einzuführen. Ziel ist, die Voraussetzungen dort zu ermöglichen, wo ein Projekt sonst 30 Jahre warten müßte und die Menschen in der Region sich entscheiden: Dieses Projekt muß sein, und wir sind bereit, dafür auch Gebühren zu zahlen.
Ich glaube, das ist eine gute Entscheidung.
Wir werden insgesamt in der Wirtschafts- und Verkehrspolitik viel stärker auf private Initiative, auf privates Kapital, auf mehr Markt und weniger Staat setzen müssen. Deswegen haben wir die Bahnreform durchgesetzt und sind jetzt dabei, sie konsequent umzusetzen. Deswegen privatisieren wir die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Autobahnen. Deswegen haben wir die Organisationsprivatisierung der deutschen Flugsicherung durchgeführt, und jeder Fluggast weiß, daß die wesentlich geringere Zahl von Verspätungen, die wir heute im Flugverkehr in Deutschland gegenüber der Zeit vor zwei Jahren haben, auch ein Ergebnis dieser von meinem Vorgänger durchgesetzten Organisationsprivatisierung bei der deutschen Flugsicherung ist.
Deswegen gehen wir den Weg der Privatisierung der Lufthansa und tun das in einer sehr sorgfältigen Weise und auch in Kooperation mit den Gewerkschaften.In einer Zeit knapper Kassen darf die Ordnungspolitik nicht leiden, sondern müssen wir konsequenter als je zuvor auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen und darauf, daß wir Privaten den Vorrang vor bürokratischer Intervention geben. In einer solchen Zeit kann man nicht in erster Linie auf Subventionen für die alten Industrien setzen, sondern muß Rahmenbedingungen für Zukunftstechnologien schaffen. Das tun wir in der Verkehrspolitik, das tun wir zusammen mit dem Bundeswirtschaftsminister in der Wirtschaftspolitik; das ist das Ziel der Bundesregierung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier — Sie werden das gespürt haben — nicht vom Wünschenswerten geredet, ich habe nicht geschimpft und kritisiert. Die Menschen erwarten von uns nicht Reden, Kritisieren und Schimpfen, sie erwarten von uns Entscheidungen und Handlungen — und von der Opposition klare Alternativen. Davon würde ich heute gerne mehr hören. Bisher habe ich davon leider wenig gehört.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Uwe Jens das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Gerede vom Transrapid gerne gehört. Bei uns gibt es unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema. Das gebe ich gerne zu. Aber wenn jemand glauben sollte, das Problem, das uns unter den Nägeln brennt, nämlich die Massenarbeitslosigkeit, werde mit diesem Vorhaben irgendwie gelöst, dann irrt er sich ganz gewaltig. Frühestens im Jahre 2005, wahrscheinlich erst im Jahre 2010 wird dieses Projekt realisiert. Es ist wiederum ein von der Regierungskoalition vorgelegtes Thema, das dafür sorgen soll, von den eigentlichen Problemen der Menschen abzulenken.
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18378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. Uwe JensIch glaube auch, meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande verstehen mehr von Wirtschaft und von Wirtschaftspolitik, als die Politiker hier im Raum sich manchmal vorstellen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich einmal dieses Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung, wie es so schön heißt, anzugucken. Da steht in etwa das drin, was Graf Lambsdorff 1982 in seinem Lambsdorff-Papier vorgeschlagen hat. Jetzt, ein halbes Jahr vor der Wahl, wird das alles aufgelistet und soll realisiert werden. Sie haben Angst, Sie haben Torschlußpanik! Das ist die Realität.
Die Sachen, die Sie dort vortragen, lösen unsere Probleme wirklich überhaupt nicht. Man kann das eigentlich mit der Überschrift „Zurück in das vorige Jahrhundert! " versehen.
Ich sage Ihnen, mit Gerede und mit Propaganda werden Sie den heißersehnten Aufschwung nicht herbeiführen. Der Deutsche Industrie- und Handelstag schätzt das gesamtwirtschaftliche Wachstum bestenfalls auf 0,5 %, und der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Murmann, stellt gerade heute wieder fest, daß die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr um weitere 500 000 zunehmen wird. Die Arbeitslosigkeit wird also kräftig steigen, die Konjunktur wird nur schleppend Tritt fassen.Das, meine Damen und Herren von der Regierung, liegt nicht an irgendwelchen bösen Mächten. Das liegt auch an einer verfehlten und inkompetenten Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung.
Die Prognosen der Experten gelten im übrigen unabhängig davon, ob es zu einem Streik im öffentlichen Dienst oder in der Metallindustrie kommt. Ich sage das, weil es bekanntlich Regierungsmitglieder gibt, die jetzt schon wieder kräftig vorbauen — nach dem Motto: Wenn die Konjunktur nicht anspringt, dann sind die Gewerkschaften schuld. Für diese Regierung und vor allem für Herrn Rexrodt sind die Gewerkschaften ja immer schuld, und zwar ganz alleine. Diese einseitige und verbohrte Politik muß dringend beendet werden.Ich möchte deshalb festhalten: Extrem niedrige Tarifabschlüsse werden sich negativ auf die Konjunktur auswirken. Die Kaufkraft der von der Industrie gezahlten Löhne und Gehälter ist in den beiden letzten Jahren bekanntlich um 51 Milliarden DM gesunken. Das hat mit massivem Stellenabbau, mit niedrigen Tarifabschlüssen, mit Kürzungen von Extras und anderem mehr zu tun. Extrem niedrige Tarifabschlüsse werden im übrigen dafür sorgen, daß die Renten im nächsten oder im übernächsten Jahr gesenkt werden müssen. Auch das sollten wir den Rentnern einmal deutlich sagen. Dann haben sie vielleicht ein wenig mehr Verständnis für die schwierige Position der Gewerkschaften.Ein Streik wäre in der Tat, wie immer, volkswirtschaftlich nicht sonderlich sinnvoll. Aber die Tarifrunden sind leider extrem verhärtet, weil der amtierendeWirtschaftsminister vor allem bei den Arbeitgeberverbänden völlig falsche Erwartungen geweckt hat.Finanzminister Waigel meint nach Angaben der „Wirtschaftswoche", es sei falsch, mit niedrigen Zinsen die Konjunktur anzukurbeln. Bei solchen Aussagen muß man sich unwillkürlich fragen, was dieser Finanzminister eigentlich für ökonomische Kenntnisse hat.
Die Leitzinsen der Bundesbank sind leider immer noch 2 % höher als in früheren Rezessionsphasen, bei denen es wesentlich einfacher war, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Es ist ein unerträglicher Zustand, daß mit dem Kauf von Finanzanlagen wesentlich leichter Geld verdient werden kann als durch Investition in Sachkapital.
Der Finanzminister ist offenbar Gefangener einer völlig verfehlten Finanzpolitik.
Meine Damen und Herren, die Regierung ist schon wieder dabei, diese Gesellschaft zu spalten.
Sie hat sich eifrig darum bemüht, unsere Gesellschaft langsam, aber sicher kaputtzumachen.
Der Streit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, latent immer vorhanden, ist also gefördert worden und nicht kleiner geworden. Der erste Punkt, der die Spaltung belegt, ist: Hilfen für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital sind abgeschafft worden, Mitbestimmungsregelungen sollen in Zukunft beseitigt werden.Der zweite Punkt. Es gibt relativ viele, denen es am Ende dieser zwölfjährigen Regierungszeit der jetzigen Koalition deutlich bessergeht. Aber einem Drittel dieser Gesellschaft geht es leider deutlich schlechter. Auch daran sehen wir eine Spaltung der Gesellschaft durch diese Regierung.
Drittens. Es kommt zur Spaltung — dies vor allem wollte ich sagen —
zwischen denen, die Geldkapital besitzen, und denen, die um einen Arbeitsplatz kämpfen. Dies wird die dynamische Wirtschaftsentwicklung dauernd hindern. Die statischen Werte, um mit Schumpeter zu sprechen, wollen hohe Realverzinsung. Wer dagegen junge Unternehmer fördern, wer die dynamischen Kräfte beleben und Arbeitsplätze schaffen will, der muß für niedrige Zinsen sorgen. Wenn wir also wieder einmal Investition und Innovation wollen, dann muß auch die verfehlte Geldpolitik dringend geändert
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18379
Dr. Uwe Jenswerden. Der wichtigste Schlüssel dafür — auch das sage ich aus voller Überzeugung — liegt allerdings in Bonn und nicht in Frankfurt.
Insgesamt sechs Millionen Menschen suchen in diesem Lande einen Arbeitsplatz und finden keinen. In diesem Jahr werden es mindestens noch einmal eine halbe Million Menschen mehr sein. Die Anzahl der Unternehmenszusammenbrüche hat einen neuen Rekord erreicht. In Deutschland hat der Pleitegeier 1993 20 000 Firmen — das entspricht einem Zuwachs von 30 % — in den Konkurs getrieben. In den neuen Bundesländern gab es den traurigen Zuwachs von 120 %. Auch 1994 wird die Anzahl der Unternehmenszusammenbrüche weiter steigen. — Aber was soll's? Diese Regierung merkt immer noch nicht, daß ihre Politik falsch angelegt ist.Bundeskanzler Kohl hat auf dem Parteitag der CDU in Hamburg 90 Minuten zu den Delegierten gesprochen,
und zwar, wie wir gelesen haben, offenbar mit tollem Erfolg. Anschließend hat er sechseinhalb Minuten Beifall von den CDU-Delegierten bekommen.
Innerhalb seiner gesamten Rede hat er doch zum Thema Arbeitslosigkeit nur einen Satz gesagt, und der dauerte genau 15 Sekunden.
Der CDU und ihrer Koalitionsregierung ist das Schicksal von sechs Millionen arbeitslosen Menschen und denjenigen, die demnächst noch zusätzlich arbeitslos werden, offenbar völlig egal.
Wie hatte der Bundeskanzler doch in den neuen Bundesländern noch vor der letzten Bundestagswahl lautstark getönt: Es wird vielen bessergehen und niemandem schlechter. Damit auch jeder weiß, was der Bundeskanzler damit meint, fiel ihm das Bildnis von den blühenden Landschaften ein.
In der Tat: Auf den ausgewiesenen Gewerbeflächen, auf denen keiner siedeln will, oder den stillgelegten Industriebrachen blühen demnächst wunderschöne Hundeblumen. Nur, davon können die Menschen in den neuen Bundesländern nicht leben, und von Almosen aus den alten Bundesländern wollen sie nun wirklich auch nicht mehr leben, meine Damen und Herren.
Wir Sozialdemokraten werden alles tun, um die Arbeitslosigkeit zu verringern.
Das wird unser erstes und wichtigstes wirtschaftspolitisches Ziel sein.Auf Rekordhöhe sind allerdings auch seit langem die Staatsquote mit 51,5 % und die Steuer- und Abgabenquote mit 44 %. Um diese Quoten zu senken und die Arbeitslosigkeit zu verringern, brauchen wir vor allem und zuerst einen deutlichen Anstieg des Bruttosozialprodukts. Wir werden deshalb alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen darauf ausrichten, daß es zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum in unserer Gesellschaft kommt. Wir brauchen mehr Forschung und Bildung. Da darf es keine Kürzungen geben, wie Sie es gemacht haben.Wir brauchen mehr Investitionen und Innovationen. Diese Bundesregierung hat auf diesen Feldern auch in den 80er Jahren versagt. Warum sollte sie also in Zukunft auf diesen Feldern irgend etwas leisten?Mit Transrapid und Technologierat werden jetzt gewissermaßen Beruhigungspillen verabreicht. Aber diese sind keine Hinweise auf eine grundlegend neue Politik. Es sind nur Zeichen von Angst vor den Wahlbürgern, aber Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber.Angst macht sich offenbar auch in den Ministerien breit, wie ich gerade gestern gehört habe. Dort gibt es nämlich noch schnell Beförderungen von bewährten Helfern dieser Regierung in die Positionen der Ministerialdirektoren und -dirigenten,
um auf diese Art und Weise sicherzustellen, daß Sie auch nach dem Regierungswechsel einigermaßen gut mit Informationen versorgt werden.
Aber das, meine Damen und Herren, ist kein gutes Zeichen.
Da sollten Sie einmal bei den relevanten Ministerien aufpassen, daß so etwas möglichst unterbleibt.
Es bringt ja, meine Damen und Herren, meistens nicht allzuviel ein, darüber zu streiten, wer zuerst da war — die Henne oder das Ei. Aber die CDU will das Eigenkapitalhilfeprogramm in den alten Bundesländern wieder einführen. Gut so, sagen wir. Wir haben das jahrelang gefordert.Die CDU spricht neuerdings von der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft — auch das ist richtig. Das haben wir auch schon lange gefordert. Sie entdeckt die Teilzeitarbeit, und Kanzler Kohl übernimmt sogar die Idee eines Technologierats und wird sein eigener Präsident.Graf Lambsdorff hält überhaupt nichts davon.Allerdings: Der Bundeskanzler als Vorsitzender dieses Technologierats — für mich ist das geradezu
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18380 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. Uwe Jenslächerlich, muß ich hinzufügen. Nein, so kann man wirklich keine vernünftige Politik gestalten. Alle Beispiele waren seit langem Forderungen der Sozialdemokraten — auch der Technologierat. Schön, daß Sie das machen. Daß Sie das aber falsch machen, ist nicht so schön.Wenn die CDU jetzt das tut, was wir für richtig halten, dann wollen wir das grundsätzlich natürlich nicht kritisieren.
Nur, der Wähler weiß eben genau: Man sollte stets das Original wählen und nicht das Abziehbild.
Ich will noch einmal einige Politikbereiche nennen, wo wir uns von der CDU und der Regierungskoalition deutlich unterscheiden. Wie ist es um die Seriosität dieser Regierung bestellt? Das zeigt das Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz — ein Wortungetüm. Aber was verbirgt sich dahinter? Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich, daß in Zukunft Tunnel oder Brücken privat finanziert werden sollen und daß bei Durchfahrt auch abkassiert werden soll.
Man versucht, Haushaltslöcher im Etat des Bundesverkehrsministers durch Anzapfen privater Gelder zu stopfen. Heraus kommt dann ein Flickenteppich. Während überall sonst die Benutzung der Infrastruktur ohne Maut möglich ist, entstehen in den betroffenen Regionen Zusatzkosten, die diese Standorte zusätzlich belasten. Es ist ein untauglicher Versuch mit untauglichen Mitteln.
Sie haben bei der Forschung, bei der Bildung und auch beim Mittelstand kräftig gekürzt. Ich weiß, das bringt Sie zum Jaulen. Das ist ja eigentlich Ihre angestammte Klientel. Dringend notwendig ist allerdings, wie Kollege Lafontaine schon gesagt hat, daß gerade für den Mittelstand, der Arbeitsplätze sichert und der Innovationen tätigt, wesentlich mehr getan wird als bisher. Da kann sich der Mittelstand diesmal auf uns verlassen und nicht mehr auf die F.D.P. oder die CDU.
Herr Kollege Dr. Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Würfel? — Bitte, Frau Kollegin Würfel.
Herr Kollege, zum Jaulen bringen Sie mich nicht. Aber ich möchte Sie trotzdem etwas fragen. Glauben Sie wirklich, daß es der Bevölkerung gefällt, wenn Sie als Vertreter der Sozialdemokraten immer solche Kampfbegriffe wie ,,Abkassieren" und andere im Munde führen? Ist es denn nicht so, daß die Bevölkerung durchaus bereit ist, für eine erbrachte Leistung auch einen entsprechenden Obolus zu entrichten?
Unsere Soziale Marktwirtschaft, auf die Sie immer so gern zurückgreifen, zeichnet sich dadurch aus, daß das Benutzen der Infrastruktur, von Straßen und Tunneln oder Brücken, für die Menschen eigentlich kostenlos war.
Das ist auch sinnvoll. Das andere hat eben erhebliche Nachteile für die wirtschaftliche Entwicklung zur Folge. Deshalb bitte ich Sie herzlich: Prüfen Sie diesen ganzen Unsinn noch einmal, und hören Sie wirklich damit auf! Ich wiederhole das aus voller Überzeugung: Hören Sie damit auf, daß demnächst an bestimmten Brücken oder Tunneln abkassiert wird!
Wir brauchen — auch davon bin ich überzeugt — bei unseren viel zu hohen Zinsen, wenn sie nicht endlich deutlich nach unten gehen, z. B. ein neues Kreditprogramm. Damit sollten in den neuen Bundesländern Modernisierungs- und Erweiterungsinvestitionen begünstigt werden. In Gesamtdeutschland geht es vor allem um die Bereitstellung von Risikokapital. Machen Sie das endlich, und lassen Sie sich nicht dauernd dazu auffordern!Eine ökologische Steuerreform muß dafür sorgen, daß, wie Ernst-Ulrich von Weizsäcker es vorgeschlagen hat, ökologisch schädliche Produkte verteuert werden. Wenn wir das hereinkommende Geld, so meine Sicht, benutzen, um die Lohnnebenkosten zu senken, würde der Faktor Arbeit billiger werden. Das würde die deutsche Volkswirtschaft wettbewerbsfähiger machen. Das würde vor allem auch mehr Beschäftigung in unserem Land bedeuten. Hier sollten wir mit gutem Beispiel notfalls auch alleine vorangehen. Die Zeit ist wirklich reif für eine Umweltpolitik mit marktwirtschaftlichen Instrumenten.
Wenn wir wirklich die Innovationskraft unserer Volkswirtschaft steigern wollen, dann müssen wir uns über die Verbindungen zwischen Kreditwirtschaft und Industrie unterhalten. Dann gilt es, diese Verflechtungen bloßzulegen. Hier liegt eine Wachstumsbremse ersten Ranges. Wir haben immer wieder gefordert und fordern es auch in Zukunft, daß die Beteiligung von Banken an Nichtbanken verringert und daß die Anzahl der Aufsichtsratsmandate einer Person wesentlich stärker als bisher begrenzt wird. Diese Bundesregierung, die sonst immer gern von Deregulierung spricht, könnte auf diesem Feld wirklich die Innovationskraft der Volkswirtschaft steigern. Aber sie tut es nicht. Sie schafft es einfach nicht. Sie ist mit den Interessen vor allem eben der Großwirtschaft zu eng verflochten. Aber, meine Damen und Herren, das geht wiederum zu Lasten der kleinen und mittleren Unternehmen, zu Lasten aber auch der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Aber auch hier geschieht etwas offenbar erst, wenn die Regierung endlich gewechselt hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18381
Dr. Uwe JensWir Sozialdemokraten würden eine neue Außenwirtschaftspolitik konzipieren. Dabei geht es selbstverständlich zunächst darum, daß die GATT-Beschlüsse vom Dezember 1993 zügig umgesetzt werden.Dringend notwendig ist aber auch der Aufbau einer internationalen Wettbewerbsordnung, wie Immenga das soeben in der „FAZ" vorgeschlagen hat. Warum kümmern Sie sich nicht darum? Warum unternimmt diese Bundesregierung eigentlich nichts gegen extrem diskriminierende Währungspraktiken? Warum bemüht sie sich nicht um die Einhaltung von sozialen und ökologischen Mindeststandards? Es ist aus unserer Sicht verfehlt, wenn Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen eine Repräsentanz in Singapur aufbauen. Das wäre die ureigenste Aufgabe der Bundesregierung, damit sie der deutschen Wirtschaft insgesamt, auch den neuen Bundesländern, auf diese Art und Weise helfen kann. Aber Bundeswirtschaftsminister Rexrodt versteht von diesen ganzen Sachen nichts, oder sie passen nicht in sein verzerrtes Weltbild. Ich weiß, dies ist ein schweres Geschäft; aber es geht eben nicht, daß sich diese Regierung um dieses Problem überhaupt nicht kümmert, wie es bisher der Fall gewesen ist.
Bürger haben in unserem Lande für die Politik der Bundesregierung mittlerweile kein Verständnis mehr. Sie ist einseitig und ideologisch, sie ist zur Lösung der brennenden Probleme zuwenig geeignet. Hier will man Antworten von Ihnen hören.Vor kurzem las ich in einem Leserbrief — ich zitiere —:Rexrodt führt die unsinnige F.D.P.-Politik der Verdrängung des Mittelstandes munter weiter.
Recht hat der Schreiber gehabt, meine Damen und Herren.
Dem muß endlich ein Ende bereitet werden!
Meine Damen und Herren, so lustig das in diesem Fall auch ist, die Debatte geht aber ernst weiter. Deswegen hat der Kollege Ernst Hinsken das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist meiner Meinung nach schon ein dreistes Stück von Ihnen, verehrter Herr Ministerpräsident Lafontaine, wenn Sie nach Bonn kommen und die hohe Schuldenlast des Bundes beklagen, obwohl Sie den Haushalt in Ihrem eigenen Lande viermal abgelehnt bekommen haben und Sie vom Landesrechnungshof mehrmals animiert worden sind, in Zukunft einen Haushaltsplan aufzulegen, der hieb- und stichfest ist und nicht bekrittelt werden muß.
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, so ein Ministerpräsident möchte nach Bonn kommen und Bundesfinanz- oder Bundeswirtschaftsminister werden. Wie arm wären wir dran!
Meine Damen und Herren:Gott sei Dank gibt es den Jahreswirtschaftsbericht, der kein schönes Bild zeigt, der jedoch ein sehr realistisches Bild unserer voraussehbaren ökonomischen Entwicklung vermittelt. Es ist einfach nicht seriös, wenn man so tut, als hätte diese Bundesregierung alles das zu verantworten, was auf uns zukommt.
— Hören Sie bitte mit dem Lachen auf.... In einer marktwirtschaftlichen Ordnung haben wir eine Fülle von Trägern der Wirtschaftspolitik.
Ein Träger ist die Bundesregierung. Aber es gibt daneben ... auch die Tarifvertragsparteien. Es gibt auch die Deutsche Bundesbank, und es gibt natürlich auch die großen Unternehmen, die sich meines Erachtens ebenfalls sehr viel Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt auf ihre Schultern gelastet haben.
Meine Damen und Herren, diese Sätze sprachen Sie, verehrter Herr Professor Jens, nicht vor wenigen Wochen, sondern in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht am 19. Februar 1981 in diesem Hohen Haus.
Ich möchte mir ersparen, weiter zu zitieren, sonst würden Sie gegebenenfalls in Lachsalven ausbrechen.
Aber ich meine schon, daß auch dies einmal gesagt werden muß.
Wenn man sich einmal so geäußert hat, dann darf dies nicht in Vergessenheit geraten,
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18382 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Ernst Hinskenund man darf sich gegen diese hervorragende Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung nicht so hartnäckig aussprechen, wie das heute von der SPD und den übrigen Oppositionsparteien gemacht worden ist.
Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?
Gerne, aber ich möchte noch einen Satz hinzufügen, Herr Präsident, weil der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff vorhin einiges von sich gegeben hat,
was ich nicht ganz so verstanden habe. Ich habe das sehr wohl in der Jahreswirtschaftsdebatte des Jahres 1981 nachgelesen und mußte feststellen: Auch bei dem, was damals gesagt wurde und was heute gesagt wird, paßt nicht mehr alles zusammen. — Jetzt bitte die Zwischenfrage.
Herr Kollege Hinsken, ich möchte vorwegschicken: Die klugen Bemerkungen des Jahres 1981 von meinem Kollegen Jens teile ich vollständig. Darf ich daraus für Sie die Erkenntnis ableiten, die Sie mir vielleicht expressis verbis bestätigen könnten, daß es zwar die Bundesbank, die Gewerkschaften und andere Akteure gibt, aber daß der verbleibende Rest tatsächlich auf die Bundesregierung zurückzuführen ist?
Ich pflichte dem letzteren bei. Die Regierung hat deshalb mehrere Programme aufgelegt, insbesondere das jüngste 30Punkte-Aktionsprogramm. Sie wird die ganzen Probleme bewältigen, wird die Rahmenbedingungen verbessern, damit sich die Wirtschaft erholen kann und wir möglichst bald aus dieser Rezessionsphase herauskommen.
Im übrigen verstehe ich nicht, Herr Kollege Schwanhold, daß Sie vorhin gelacht haben, als ich den Kollegen Professor Jens zitierte, und jetzt diese Zwischenfrage stellen. Auch das paßt nicht ganz zusammen.Im Rahmen dieser Generaldebatte zur Wirtschaftspolitik möchte ich mich mit den momentanen Problemen und Gegebenheiten auseinandersetzen, nämlich die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland beschreiben. Die Bundesregierung hat meines Erachtens richtig angesetzt, wenn sie in dem Bericht, der uns allen vorliegt, schreibt:Zentrale Aufgabe der kommenden Monate und Jahre ist es, am Standort Deutschland die Beschäftigung zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Zwar sprechen die aktuellen Konjunkturdaten dafür, daß die Talsohle der Rezession durchschritten ist und sich ein neuer Aufstieg abzeichnet. Wir haben es aber nicht nur mit einer normalen Rezession zu tun, sondern auch mit zu lange aufgestauten Strukturproblemen.Es wird weiter festgestellt:Neue Konkurrenten haben auf dem Weltmarkt gegenüber Deutschland aufgeholt. Deshalb muß die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland langfristig und durchgreifend verbessert werden. Dafür brauchen wir eine Generalinventur unserer Gesellschaft. Wir müssen umdenken, neue Wege einschlagen, flexibler werden und neue Handlungsspielräume gewinnen.
Soweit die Bundesregierung in ihrer Vorlage. Ich meine, die Bundesregierung liegt mit diesem Aktionsprogramm und dieser Vorlage, die uns allen auf dem Tisch liegt, richtig.Unbestritten, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die Rezession hat unser Land erfaßt.
Erste Lichtblicke, daß es in diesem Jahr konjunkturell wieder aufwärtsgehen wird, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir uns in einer Kosten-, Struktur- und Innovations- sowie einer Bewußtseinskrise befinden.Nicht nur die Automobilindustrie ist gerädert, auch Vorzeigebranchen wie Maschinen- und Werkzeugbau, Elektrotechnik und Elektronik und selbst die Chemie sehen sich einem gewaltigen Konkurrenzdruck ausgesetzt. Viele Produkte lassen sich zwischen Tschechien, Ungarn, Hongkong, Japan und den USA zu Kosten herstellen, die vielfach zwei Drittel unter den deutschen liegen.Der Bestsellerautor Konrad Seitz hat meines Erachtens recht, wenn er sagt:Die deutsche Industrie läuft Gefahr, zwischen die Mühlsteine der Niedriglohnländer einerseits und der Hochtechnologieländer USA und Japan andererseits zu geraten.Es ist doch unbestreitbar, daß schlichte Massenware schon längst überall preiswerter hergestellt wird als bei uns in Deutschland. Im High-Tech-Bereich brechen unsere Märkte mehr und mehr weg. Weltspitze sind wir dagegen in der Abgabenlast, den Lohnstückkosten, in der kurzen Arbeitszeit und der langen Ausbildungsdauer.
Deshalb muß alles getan werden, eine Trendwende zu mehr Wachstum und mehr Beschäftigung herbeizuführen.
Hier sind alle gefordert, insbesondere die Tarifparteien. Sie vor allem bestimmen den Preis für die Arbeit. Setzen sie ihn zu hoch, bleiben Arbeitsuchende auf der Strecke. Überall dort, wo sich der Preis der Arbeit dem Markt anpaßt, herrscht dagegen Vollbeschäftigung. Das beste Beispiel dafür liefern die grassierende Schattenwirtschaft und das Vorhanden-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18383
Ernst Hinskensein von Wanderarbeitern aus Polen, Tschechien oder Rumänien.Ich möchte auch heute von diesem Platz aus an die Gewerkschaften appellieren, gerade bei den jetzt anstehenden Tarifverhandlungen Einsicht zu zeigen. Es gibt in der gegenwärtigen Situation fast nichts zu verteilen. Auch alles Gerede über Gerechtigkeitslükken ändert nichts an der Binsenweisheit, daß alles, was der Sozialstaat verteilt, zunächst erwirtschaftet werden muß.
Verweigern die Gewerkschaften ihren Beitrag zur Standortsicherung, wird es noch weniger Direktinvestitionen in Deutschland geben, sich der Exodus lohnintensiver Betriebe aus Deutschland fortsetzen und die Arbeitslosigkeit weiter steigen.Es gleicht schon langsam einem Treppenwitz, daß gleichzeitig Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden ist. Ich möchte nicht fordern, daß das deutsche Lohnniveau auf den Level der osteuropäischen Staaten abgesenkt wird, aber mehr Flexibilität und Einfallsreichtum muß dieser Tarifrunde schon abverlangt werden. Gleiches gilt in dem Fall wie für die Arbeitnehmer auch für die Arbeitgeber.In diesem Zusammenhang sei mir auch ein Blick über die Grenzen zu unseren österreichischen Nachbarn erlaubt. Dort vereinbarten im vergangenen Jahr die Tarifpartner in der Metallindustrie eine Öffnungsklausel, durch die Arbeitgeber und Betriebsrat von der betrieblichen Lohnerhöhung abweichen können. Bedingung ist nur, daß die eingesparten Lohngelder beschäftigungsfördernd verwendet werden müssen.Meine Damen und Herren, ich meine, „Umdenken" heißt das Gebot der Stunde: die Unternehmer, die durch neue Produkte wettbewerbsfähig bleiben und sich neue Absatzmärkte erschließen müssen; die Gewerkschaften, die einsehen sollten, daß Sozialstaat nicht gleich Solidarität ist; wir alle, der Staat, der seinen vermeintlichen Finanzbedarf drosseln muß, wie das mehr und mehr gerade in letzter Zeit geschehen ist; und Sie von der SPD, daß Sie nicht zu viel versprechen und nur das versprechen, was Sie zu halten in der Lage sind.
Wer meint, meine Damen und Herren, den Leistungsträgern der Gesellschaft immer höhere Aufgaben aufbürden zu können, höhlt das System der Sozialen Marktwirtschaft aus und treibt den Mittelstand in die politische Radikalisierung. Das Beste, was wir für die Beschäftigung in der momentanen Situation überhaupt tun können, ist die Förderung von Eigeninitiative, Selbständigkeit und Unternehmergeist.
Dazu benötigen wir einen starken Mittelstand. Handwerk, kleine und mittlere Unternehmen, Selbständige, Freiberufler und leitende Angestellte tragen neben der Industrie entscheidend zur Bewältigung der Herausforderungen an die deutsche Wirtschaft bei.Deshalb möchte ich gerade bei dieser Jahreswirtschaftsdebatte darauf verweisen, daß die kleinen und mittleren Unternehmen die unverzichtbaren Träger des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts sind. Sie stehen für Kreativität, für Leistungsbereitschaft, für unternehmerischen Wagemut und für dynamische Anpassungsfähigkeit. Sie sind die Antriebskräfte der Sozialen Marktwirtschaft. Je mehr Gewinn die Unternehmer erwirtschaften, desto mehr Sozialleistungen und Umweltschutz kann es geben. Meine Damen und Herren von der rot-grünen Seite, nehmen Sie das zur Kenntnis.Allerdings sind wir im Deutschen Bundestag gezwungen, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern. Es war schon rührend, wie Professor Jens einerseits und Ministerpräsident Lafontaine andererseits in den vorhin gehaltenen Reden den Mittelstand umworben haben. Ich hoffe, es bleibt nicht nur bei Worten, sondern wir werden Sie auch an den Taten messen, sei es im Wirtschaftsausschuß oder sonstwo.
Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbericht wird in einer Zeit zwischen Verzagtheit und Zuversicht debattiert. Es gibt deutliche Anzeichen, daß die deutsche Wirtschaft allmählich aus der Talsohle herausfindet. Das ist eine Feststellung, die übereinstimmend von den meisten Wirtschaftsinstituten, der Bundesregierung und führenden Wirtschaftsmanagern getroffen wird. Zurückzuführen ist dies auch auf die Maßnahmen, die die Bundesregierung in dieser schwierigen Übergangszeit seit der Wiedervereinigung getroffen hat. Ich kann mich auf das beziehen und berufen, was mein Kollege Haungs in seiner vorhin hervorragend vorgetragenen Rede bereits ausgeführt hat.
Das jüngst aufgelegte 30-Punkte-Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist ein Schritt in die richtige Richtung. Man ist wieder zuversichtlicher als noch vor einem halben Jahr. Das stellt auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Hans-Peter Stihl, fest, wenn er sagt:Mit ihrem Aktionsprogramm hat die Regierung wirklich wichtige Schritte eingeleitet, damit wir schnell aus unserer schwierigen Lage herausfinden.Und er sagt weiter:Diese Bundesregierung hat Dinge bewegt, die viele Regierungen vor ihr nicht geschafft haben, z. B. Privatisierung von Post und Bahn, die Einrichtung der Europäischen Zentralbank für Frankfurt oder den GATT-Abschluß.Daher sein Urteil, das ich gerne zitiere:Für mich ist die wirtschaftspolitische Kompetenzder Bundesregierung höher als die der SPD.Ich wiederhole: Hans-Peter Stihl, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages.
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Ernst HinskenMeine Damen und Herren von der rot-grünen Seite womit beweisen Sie Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz? Sie reden von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen, propagieren aber gleichzeitig einen zweiten Arbeitsmarkt als alleinseligmachende Lösung. Sie versprechen die Sicherung des Wirtschaftsstandorte Deutschland, doch schon bei der Verlängerung dei Maschinenlaufzeiten fallen Sie um.Es muß doch jedem Bundesbürger zu denker geben, wenn Sie sich des weiteren zwiespältig äußern:Erstens. Sie sprechen von überhöhten Bundesschulden, haben aber in den von Ihnen regierten Bundesländern die höchste Schuldenlast.Zweitens. Sie lamentieren über die hohe Staatsquote, sind aber gegen Privatisierung.Drittens. Sie fordern mehr Arbeitsplätze, sind aber gegen die Zukunftstechnologien, wie den Transrapid.
Viertens. Sie fordern die Sicherung von Arbeitsplätzen, sind aber z. B. gegen eine Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes wegen der Dual-use-Güterexporte.Fünftens. Sie fahren alle mit dem Auto, sind aber gegen den Bau von Straßen.
Sechstens. Sie predigen steuerliche Entlastung, sind aber für eine enorme Erhöhung der Mineralölsteuer.Siebtens. Sie versprechen eine Halbierung der Zahl der Arbeitslosen, sind aber gegen die Maßnahmen der Bundesregierung im Arbeitsförderungsgesetz.Achtens. Sie versprechen den Kumpeln den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, verhindern aber den hierzu erforderlichen Energiekonsens zur Kohlesicherung.So, meine Damen und Herren von der Opposition, macht man keine Politik. Sie sind mit Ihren Aussagen von den Bürgern längst durchschaut.Wir setzen dem ein klares marktwirtschaftliches Konzept entgegen. Darin, meine ich, setzen wir vor allen Dingen darauf, daß die Eigenkapitalbasis der Unternehmen verbreitert werden kann. Wir setzen mit unserem Programm darauf, eine Existenzgründungswelle in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere im mittelständischen Bereich zu erzeugen.Ich meine auch, wenn es uns gelingt, die bürokratischen Hemmnisse beiseite zu schaffen, die als Mühlstein am Halse jedes einzelnen Unternehmers hängen, dann sind gewisse Voraussetzungen geschaffen, um die Wirtschaft wieder zum Florieren zu bringen und in wenigen Jahren verzeichnen zu können, daß die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist.Die Bundesbürger sind mit dieser Bundesregierung unter Helmut Kohl und Theo Waigel hervorragend gefahren.
Sie werden ihr auch das Vertrauen schenken, daß dies alles so eingelöst werden kann.Ich darf mich für die Aufmerksamkeit herzlich bedanken.
Als nächster spricht der Kollege Jürgen Timm.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wissenschaft, Forschung und Technologie gehören zum Wirtschaftsstandort Deutschland. Sie gilt es von staatlichen Belastungen zu befreien, und zwar von Belastungen jeglicher Art.Jetzt wissen wir es alle: Es wird einen Rat für Forschung, Technologie und Innovation geben. Die SPD jubelt darüber — wenn auch als Opposition gedämpft; sie darf nicht lauter. Herr Kollege Jens vermutet trotzdem Verrat, weil er sich in der Urheberfunktion glaubt, da —jedenfalls rein rhetorisch — sein seit langer Zeit gewünschter Technologierat irgendwie beim Bundeskanzler berücksichtigt worden ist. Auch die Kollegen der CDU/CSU freuen sich, zusammen mit Herrn Teufel aus Baden-Württemberg, weil auch ihre Vorstellungen in dem Kabinettsentscheid berücksichtigt sind. Nur die böse F.D.P. hat offensichtlich irgend etwas gegen einen solchen Rat.Ich kann Sie da beruhigen — ich sehe das alles ganz gelassen —: Es wird keine Räterepublik bei uns geben. Entscheidend ist, in allem gebotenen Ernst: Bildung, Wissenschaft und Forschung brauchen eine viel größere Lobby, als sie sie bisher in unserem Staat erfahren haben.
Es gab und gibt immer vollmundige Forderungen zur Wichtigkeit und Zukunft dieser Bereiche. Ich meine, das reicht. Wir sind darauf angewiesen, einen Dialog zu führen, um die Situation für Bildung, Wissenschaft und Forschung in unserem Land zu verbessern.Es geht dabei um einen zwischen BMFT, dem Wirtschaftsminister, dem Bildungsminister und uns abgestimmten Vorschlag zur Verbesserung der Koordination zwischen den Ressorts und zur Stärkung der innovativen Bereiche. Es bedarf nicht mehr der Analyse; die Probleme sind bekannt. Es ist Handeln gefragt, und zwar Handeln eines jeden in seinem Verantwortungsbereich; denn bei der Verwischung von Verantwortlichkeiten liegen die Wurzeln unserer Ablehnung jeder Art von Dirigismus oder Lenkung in diesen Feldern.Die Vergangenheit zeigt nur zu deutlich, wohin es führt: In dem Moment, wo auch nur der Eindruck entsteht, der Staat favorisiere eine bestimmte Technik, stelle womöglich sogar Geld dafür zur Verfügung, setzt bei vielen Unternehmen die Kreativität aus oder wird nur noch darauf verwandt, die staatliche Förderung möglichst komplett zu ergattern. Wenn das schiefgegangen ist, hat das für die weisen Lenker in einem irgendwie gearteten Gremium nicht die geringsten Konsequenzen.
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Jürgen TimmMeine Damen und Herren, in Deutschland wurde das Verfahren für das Telefax-Gerät entwickelt, auch der Ihnen sicherlich bekannte kurvengängige Pendolino-Zug. Gebaut aber wurden diese Anlagen nicht bei uns. Wir haben sie erst später wieder von außen einkaufen müssen.Wenn ich all das gestern in der Fragestunde und auch heute richtig verstanden habe, wenn ich den Vorstellungen insbesondere der SPD und anderer Ideologen folgen soll,
— das heißt das, was ich gesagt habe —, dann würde das auch bedeuten: Wir haben den Transrapid zwar zu Ende entwickelt — er ist ein hervorragendes Gerät geworden —, er soll aber bloß nicht bei uns eingeführt werden. Wir warten erst, bis er anderswo gebaut wird, und kaufen ihn dann für teures Geld wieder ein; anders kann es doch nicht gehen.
Was mich noch stört: Die Industrie erträgt dies alles fast klaglos. Ich denke, es gibt gar kein besseres Beispiel dafür: Das alles ist zu viel Staat.Deshalb wird es mit der F.D.P. auch in der Zukunft nicht anders gehen,
als darauf zu achten, daß staatliche Forschungspolitik die Rahmenbedingungen für qualitativ hochwertige Forschung aufstellt, Hindernisse beseitigt und die Anstrengungen aller effektiv koordiniert werden,
um die Umsetzung der erreichten Erkenntnisse zu beschleunigen. Hierfür ist der Dialog aller Verantwortlichen entscheidend. Ihm dienen die vorgestellten Gremien mit Wissenschaft, Forschung, Technik und Wirtschaft, ohne daß dabei die Verantwortlichkeiten verwischt werden. Das wird dann auch helfen, Wachstum und Beschäftigung zu mehren.Wir Forschungspolitiker sind froh darüber, daß im Forschungsausschuß alle Fraktionen ein gemeinsames Strategiepapier zur Verbesserung des Forschungs- und Innovationsstandortes Deutschland einstimmig verabschiedet haben.
Das ist doch eine vernünftige Basis für die zukünftige Zusammenarbeit auf diesem Gebiet.Es ist überhaupt nicht die Rede davon, daß wir einen Technologierat benötigen. Vielmehr ist die Rede davon, daß wir den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Staat brauchen, um der Technologiepolitik eine bessere Chance zu geben. Es geht um die Beseitigung von Schwachstellen in Forschung und Technik. Es geht um die Förderung der Grundlagenforschung. Es geht um die bessere Organisation des Technologietransfers. Unsere oberste Ressource ist die Intelligenz und dieWissenschaft. Dieses Potential muß effizienter eingesetzt werden. Die Bedeutung der Forschung muß hervorgehoben werden.
Herr Timm, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Timm, ich höre Ihnen wirklich mit Vergnügen zu. Je mehr ich Ihnen jedoch zuhöre, desto mehr drängt sich mir die Frage auf: Wie paßt zu Ihrer Rede eigentlich die Tatsache, daß der Forschungshaushalt zusammengekürzt worden ist?
Herr Kollege von Larcher, die Mittel, die wir in unserem Staatshaushalt zur Verfügung haben, sind begrenzt. Sie werden jedoch an vielen Stellen auch ineffektiv ausgegeben. Deswegen können wir diesem Vorgang nur dadurch begegnen, daß wir zu einer effektiveren Ordnung kommen — ich komme im weiteren Verlauf noch darauf zu sprechen —, damit die zur Verfügung stehenden Mittel dort ankommen, wo Forschung betrieben wird, wo die Wissenschaft etwas entwickelt, was letztendlich in Produktion umgesetzt werden kann. — Ich komme gleich noch auf diesen Punkt zurück.Nur die Forschung in dem eben auch angesprochenen Rahmen, d. h. effizienter durchgeführt und effizienter finanziert, kann und wird die Beschäftigungssituation, die Umwelt und auch den Wohlstand unseres Landes bestimmen. Dazu brauchen wir keine irgendwie gearteten Beschimpfungsstrategien gegeneinander. Was wir brauchen, ist ein technologiepolitischer Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat und auch eine gesellschaftspolitische Akzeptanz. Es ist ja in vielen Bereichen so, daß eine große Technologiefeindlichkeit herrscht. Wir müssen, glaube ich, und zwar alle Verantwortlichen zusammen, auch in der Wirtschaft mit ihrer Eigenverantwortung, die Forschung stärken und in unsere Gesellschaft hineinwirken, damit erkannt wird, daß diese Ressource, die wir haben, für die Menschen in unserem Land positiv genutzt werden kann. Die Wirtschaft muß ihre eigenen Beiträge dazu erbringen, und der Staat muß seine Forschungsförderung effizienter gestalten. Zu Zeiten knapper Mittel ist das Zusammenführen Bleichgelagerter Forschungsvorhaben unter einer zusammengefaßten Administration unerläßlich. Wir wollen mehr Projektförderung statt Institutsförderung. Wir wollen die Koordinierung zwischen Förderungsvorhaben der einzelnen Ressorts und wollen, daß die Mittel, die in unserem Staat für Forschung und Technologie ausgegeben werden, sich nicht genau aufteilen zur Hälfte in Forschungshaushalt und zur anderen Hälfte in all den anderen Ressorts. Hier muß es zu einer Koordinierung kommen; denn da, Herr Kollege von Larcher, verschwinden administrativ viel zu viele Mittel. Es wird unter Umständen sogar doppelt geforscht.Unsere Wirtschaft muß in die Lage versetzt werden, ohne großen Aufwand von den Forschungsergebnissen für ihre Produktion Gebrauch zu machen. Das
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Jürgen Timmheißt, wir brauchen auch hier eine Koordinierung. Es kann nicht angehen, daß ein mittelständischer Unternehmer allein deshalb vor der Nutzung von Forschungsergebnissen zurückschreckt, weil er einen Stapel von Papier und Bürokratie, der damit verbunden ist, vor sich sieht, den er selber gar nicht bewältigen kann. Er muß eine Koordinierungsstelle haben, zu der er hingehen und aus der er seine Möglichkeiten schöpfen kann. Es ist also ernst mit dem Vorhaben, daß die Spitzenstellung der deutschen Forschung und der Technologie im internationalen Wettbewerb gesichert werden muß und zu verbessern ist. Ich meine, der Forschungsstandort Deutschland darf nicht kurzatmigem Parteiengeplänkel preisgegeben werden.Ich fordere alle Verantwortlichen hier im Parlament, aber auch an anderer Stelle auf, dafür zu sorgen, daß Forschungsergebnisse in vernünftiger Weise und zügig umgesetzt werden können. Wir brauchen keine Laufzeiten von über 20 Jahren, wie wir es bisher in manchen Bereichen gehabt haben.Vielen Dank.
Als nächster hat das Wort der Kollege Ottmar Schreiner.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da sich der Bundesarbeitsminister weigert, hier zu reden — er scheint in einen Individualstreik getreten zu sein —,
kann ich auch schlecht auf ihn antworten.
— Aber das ist normalerweise üblich. — Aber dann will ich mich, da es vielleicht nicht schaden kann, wenn Arbeits- und Sozialpolitiker im Rahmen dieser Debatte mit den Wirtschaftspolitikern kommunizieren, erst einmal an Graf Lambsdorff versuchen. Meine erste Behauptung, Graf Lambsdorff, betrifft die ökonomisch-soziale Kernpolitik der Bundesregierung. Umverteilung von unten nach oben, Sozial- und Lohnabbau und Deregulierung sind die zentralen ökonomisch-sozialen Botschaften dieser Koalition.
— Sind Sie Geschäftsführer oder Zwischenrufer vom Dienst hier?
Die drei zentralen ökonomisch-sozialen Botschaften — Umverteilung von unten nach oben,
Sozial- und Lohnabbau und Deregulierung — sind wesentliche Gründe dafür, daß der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland im westeuropäischen Vergleich seit 1991 mit Abstand am stärksten war und ist.
Ich will versuchen, Ihnen dazu einige Sätze zu sagen. Das heißt im übrigen, daß Sie bei Fortsetzung dieser grundlegend falschen Politik sehenden Auges in Kauf nehmen, daß die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland weiter ansteigt.Nun hat Graf Lambsdorff vor weiteren, wie ich verstanden habe, erheblichen Steigerungen der Löhne und der Lohnkosten gewarnt, weil dies im Ergebnis zu einer Gefährdung der Arbeitsplätze und damit zu weiteren Beschäftigungseinbrüchen führen könnte.
Ja, ja, ob das sehr richtig ist, sei dahingestellt. Und zwar unter Hinweis — das ist ja immer wieder der Vortrag — auf die angeblich zu hohen Arbeitskosten in der Bundesrepublik Deutschland.Ich will einen früheren Abteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium, Professor Wilhelm Hankel, zitieren, der in einem Aufsatz vom 28. Januar dieses Jahres zu diesen Grundthesen wie folgt formuliert hat:Die von Arbeitgebern, großen Teilen der Wissenschaft und auch in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptierte These von der „Kostenkrise" hat hier in der rezessiven Entwicklung ihren eigentlichen Grund; denn von einer Explosion der Lohnstückkosten kann nicht die Rede sein. Explodiert sind im letzten Jahrzehnt die Gewinne, . . .Soweit Professor Hankel. Hankel fährt dann eine Seite weiter fort, die gegenwärtige Beschäftigungskrise habe ihre wesentlichen Ursachen auch in den Lohnenthaltungen:... denn Lohnenthaltungen bedeuten weder, daß die betrieblichen Lohnersparnisse" automatisch investiert werden, also Arbeitsplätze schaffen oder sichern; sie verstärken in der Krise lediglich die Firmenkasse für Schuldentilgung, Finanzanlagen oder Spekulationen. Noch kann von Lohn ersparnissen" eine Verstärkung der volkswirtschaftlichen Nachfrage und damit eine Verbesserung des Konjunkturklimas erwartet werden —im Gegenteil: Nachfrage, Kapazitätsauslastung und Produktivität werden sinken!Das ist genau der Kern der Kritik, die wir seit Jahren an der Politik der Bundesregierung hier vorzutragen haben,
diesmal aus dem Munde des früheren Abteilungsleiters im Wirtschaftsministerium unter Führung damals von Professor Schiller, den Sie heute ebenfalls in Ihrem Redebeitrag in die Debatte erneut eingeführt haben.Es wird nicht bestritten, auch von uns nicht, daß wir seit 1992 eine vergleichsweise kritische Lohnstückkostenentwicklung haben. Diese kritische Lohnstückkostenentwicklung seit 1992, Graf Lambsdorff, ist im wesentlichen von der Bundesregierung selbst politisch verursacht worden. Seit dem Frühjahr 1991 sind einigungsbedingte Leistungen, die von der gesamten Gesellschaft, also steuerfinanziert zu regulieren
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Ottmar Schreinergewesen wären, völlig einseitig den sozialen Sicherungssystemen aufgebrummt worden
mit einem Volumen von immerhin 4 % der Bruttolöhne und einem absoluten Volumen von rund 50 Milliarden DM allein im Jahre 1993. Das ist aus politischen Erwägungen eine ganz massive zusätzliche Aufgabe. Weil die Bundesregierung zu feige war, es steuerpolitisch zu regulieren, hat sie aus politischen Erwägungen den Arbeitskosten diese zusätzlichen Verteuerungen aufgebrummt. Das könnten Sie morgen korrigieren. Das ist bis zur Stunde nicht geschehen.Zweiter Grund, auch darauf wird von Ökonomen immer wieder hingewiesen: Wir haben eine Kapazitätsauslastung der Produktionsstätten in Deutschland in Höhe von etwa 77 bis 78 %, also eine massive Unterauslastung. Bei annähernd gleicher Beschäftigungsgröße führt dies natürlich zu einer massiven Verteuerung der Lohnstückkosten. Das hängt aber wiederum wesentlich damit zusammen, daß die Nachfrage, gerade auch die private Nachfrage nach Produkten, auf Grund der Umverteilungspolitik zu Lasten der schwächeren Einkommen erheblich abgesunken ist. Das heißt, die betrieblichen Unterkapazitätsprobleme sind nicht nur, aber mit eine Folge des sozialpolitischen Lohn- und Sozialabbaus dieser Bundesregierung in den letzten Jahren.
Dritter Punkt: Wir werden von Experten immer wieder darauf hingewiesen, daß eine Aufwertung der D-Mark bei einer Größenordnung von 10 %, bezogen auf die Kostensituation der Unternehmungen, gleichzusetzen wäre mit einer Lohnerhöhung von über 30 %. Wenn man sich die Aufwertungsprozesse der letzten Jahre anguckt, wird man mit einer Annahme von 10 % kaum hinkommen. Das hat die deutschen Exportgüter — und wir sind eine extrem exportabhängige Volkswirtschaft — in hohem Maße verteuert und trägt umgekehrt dazu bei, daß die nach Deutschland importierten Güter dann natürlich auf eine wesentlich günstigere Konkurrenzlage, bezogen auf die im Inland produzierten Güter, treffen. Das sind die wesentlichen Gründe für die außerordentlich besorgniserregende Entwicklung auf dem Arbeits- und Beschäftigungssektor. Wenn Sie Ihre Politik in dem heute morgen vorgetragenen Maße fortsetzen, werden Sie die Beschäftigungskrise weiter dramatisch verstärken.
Graf Lambsdorff hat dann zum zweiten unter Namensnennungen kritisiert, daß aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion und der Partei das Ziel formuliert worden sei, die Massenarbeitslosigkeit innerhalb von vier oder fünf Jahren zu halbieren. Man kann in der Tat mit guten Gründen darüber reden, ob es einen Sinn macht, dies öffentlich anzukündigen. Drei Meter oder dreieinhalb Meter von mir entfernt sitzt jemand, der das 1983 gemacht hat. Er hat damals gesagt, innerhalb von zwei Jahren wolle er die Massenarbeitslosigkeit halbieren. Davon war im Ergebnis keine Rede.Ich will aber nur daran erinnern, Graf Lambsdorff, daß das im Spätwinter vergangenen Jahres der Öffentlichkeit präsentierte Beschäftigungs- und Wachstumsweißbuch der EG-Kommission als zwingende gesellschaftspolitische Zielsetzung der EG-Kommission bis zum Jahr 2000 ebenfalls die Halbierung der westeuropäischen Massenarbeitslosigkeit gefordert hat. Also so ganz isoliert sind die Stimmen aus der SPD nicht. Wir sind in bester Gesellschaft.Wenn ich es richtig sehe, ist das Weißbuch der EG-Kommission auch mit Zustimmung der Bundesregierung zustande gekommen. Es kann doch nicht sein, daß eine EG-Kommission der Öffentlichkeit gegen die Widerstände nationaler Regierungen in grundlegenden Fragen Dokumente präsentiert, und zwar mit erheblichen Wirkungskreisen.
Herr Abgeordneter Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Graf Lambsdorff?
Bitte schön, aber vielleicht kann ich erst den nächsten Punkt ansprechen; denn Sie, Herr Lambsdorff, sind noch einmal an der Reihe.
Dann wollte ich zum Wirtschaftsminister übergehen.Graf Lambsdorff, Sie haben auf das sogenannte amerikanische Beschäftigungswunder hingewiesen. Wenn ich mir Ihre Zahlen richtig aufgeschrieben habe, dann haben Sie gesagt: In den zehn Jahren von 1982 bis 1992 sind in den niedrigsten Lohngruppen, Einkommensgruppen der USA die Reallöhne um etwa 8 % gefallen. Ich bin nicht sicher, ob Sie genau wissen, worüber Sie reden.In der Sozialwissenschaft wird das amerikanische Beschäftigungswunder mit einem Aufwuchs von Niedrigsteinkommensverhältnissen erklärt; das Stichwort heißt „arme Erwerbsarbeit". Das sind Einkommensverhältnisse, die deutlich unterhalb der von der Europäischen Kommission definierten Armutsgrenze liegen. Das sind Einkommen, von denen die Menschen nicht leben können. Wenn man amerikanische Einkommensverhältnisse anstrebt, dann muß man dazusagen, ob man bereit ist, amerikanische Gesellschaftsverhältnisse mit in Kauf zu nehmen;
denn die extreme Einkommensdifferenzierung in den USA zu Lasten der schwächsten Einkommen ist ein wesentlicher Grund dafür, daß in Amerika von der „Ghettoisierung von Armut und Wohlstand" gesprochen wird.
— Damit auch Sie es verstehen, weil Sie angeblich beim Telefonieren sind. — Da ist die Frage, ob wir das besorgniserregende Ausmaß amerikanischer Gewaltquoten in den Großstädten, amerikanischer Alltagskriminalität mit in Kauf nehmen wollen. Das ist der Preis für diese Einkommensdifferenzierung zu Lasten
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Ottmar Schreinerder Schwächsten der Gesellschaft. Wir sind auf dem besten Wege dazu.Alle, die die gesellschaftspolitischen Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland beobachten, weisen uns immer wieder auf die Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft hin. Wenn man noch mehr Kriminalität, noch mehr Unsicherheit, noch mehr Gewaltbereitschaft, noch mehr Ausländerfeindlichkeit, noch mehr Rassismus verhindern will, muß man für gerechte Einkommensstrukturen auch in diesem unserem Lande kämpfen.
Herr Schreiner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich habe eigentlich erst angefangen, Frau Präsidentin.
Ihre Redezeit ist trotzdem zu Ende.
Sie ist zu Ende? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ja, gucken Sie.
Ja, dann ist sie halt zu Ende. — Schönen Dank, Frau Präsidentin.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Graf Lambsdorff.
Herr Kollege Schreiner, ich möchte gern zu zwei Teilen Ihrer Ausführungen kurz Stellung nehmen.
Erstens. Sie werden sich vielleicht daran erinnern, daß ich hier in diesem Hause das Weißbuch, das in Kopenhagen von der Europäischen Kommission vorgelegt worden ist, bereits kritisiert habe, und zwar dem Inhalt nach — ich habe ausdrücklich mein Bedauern zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung dies nur sehr zurückhaltend getan hat —, vor allem aber den Finanzierungsvorschlägen nach. An den Finanzierungsvorschlägen ist es dann auch im nächsten Europäischen Rat zunächst einmal gescheitert, weil niemand sagen kann, woher die Beträge genommen werden sollen, es sei denn, wir würden der Europäischen Gemeinschaft die Möglichkeit des Erhebens eigener Steuern oder die Möglichkeit der Aufnahme eigener Kredite einräumen und damit alle Geldmengenpolitik der nationalen Notenbanken unterlaufen. Was das Unterlaufen der Geidmengenpolitik angeht, so können Sie sich die Folgen an Hand der gestrigen Börsenentwicklung weltweit betrachten.
Zweitens. Ich finde es doch etwas weitreichend, wie Sie die amerikanische Gesellschaft schildern. So sieht es in Amerika glücklicherweise nicht aus.
Man kann dieses Zerrbild von Amerika zeichnen. Ich teile das aber nicht.
Ich bin mit Ihnen darin einig, daß es in Amerika einen Bereich niedriger Einkommen gibt, die wirklich kaum ausreichen, die Lebenshaltungskosten zu dekken, so daß sich die Frage auftut, wie man durch zusätzliche Maßnahmen den Menschen helfen kann, das Existenzminimum zu erreichen. Dennoch, Herr Schreiner, ist es immer noch besser, solche Arbeitsplätze zu haben, als überhaupt keine Arbeitsplätze zu haben,
als die Arbeitsplätze so zu verteuern — auch in den untersten Einkommensbereichen —, daß sie nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. Dieses Problem haben Sie im Prinzip richtig angesprochen. Wir werden uns damit auseinanderzusetzen haben. Aber einfach die Antwort zu geben: wir erhöhen die Kosten, gleichgültig, ob dadurch die unteren Einkommen und die damit verbundenen Arbeitsplätze völlig wegfallen, und wir überlassen das alles dem Staat, das geht nicht.
Im Rahmen einer Kurzintervention hat jetzt Herr Schreiner Gelegenheit zu antworten.
Ich will nur zwei Sätze dazu sagen.
— Sie sind wirklich ein Kindskopf! Das ist ja unglaublich!Graf Lambsdorff, bislang hat niemand von unseren Rednern einer weiteren Erhöhung der Arbeitskosten das Wort geredet. Ganz im Gegenteil. Die SPD-Fraktion und die SPD insgesamt hat seit dem Frühjahr 1991 bis heute die grundlegende ordnungspolitische Fehlentscheidung, einigungsbedingte Leistungen über die Sozialversicherungssysteme zu transportieren und zu finanzieren, massiv kritisiert. Das Gegenteil war also der Fall. Von uns ist immer wieder — zuletzt heute morgen von Oskar Lafontaine — darauf hingewiesen worden, daß die Arbeitskostenproblematik nicht nur eine ökonomische Standortproblematik ist, sondern gleichzeitig auch ein Problem in dem Sinne darstellt, daß sich Nettoeinkommen und Bruttoeinkommen in einem Maße voneinander entfernt haben, daß von vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ernsthaft die Frage aufgeworfen wird: Lohnt sich unsere Arbeit eigentlich noch? Wir haben also ein doppeltes Interesse, den Faktor Arbeit in erträglichen Grenzen zu halten. Die Behauptung, die Sozialdemokratie habe das Gegenteil gepredigt, ist falsch; das Gegenteil ist richtig.
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Ich weise darauf hin: Trotz aller Erregung — „Kindskopf" ist kein parlamentarischer Ausdruck.
— Ich hatte „Kindskopf" verstanden.
Als nächster spricht der Bundesarbeitsminister, Dr. Blüm.
Frau Präsidentin, ist es erlaubt, meinen Kollegen mit „Herr Kollege Schreier" anzusprechen?
— Lieber Kollege Schreiner, ich bin ja ganz freundlich. Ich wollte nur erklären, warum ich Sie vorgelassen habe. Es war der Respekt vor Ihnen.
Auf eines sollten wir uns einigen: Ich habe niemals Arbeitsplatzziele angegeben und damit auch keine Arbeitslosenzahlen vorausbestimmt, weil das ein Staat nicht machen kann. Der Staat ist weder Besitzer noch Beschaffer von Arbeitsplätzen. Er kann natürlich die Rahmenbedingungen festlegen. Diese liegen in seiner Verantwortung.
Nur in einer Staatswirtschaft kann man so reden, wie der Kollege Dreßler geredet hat: als könnte man Arbeitslosenzahlen für zwei Jahre verbindlich nennen. Das können erstrebenswerte Ziele sein — in der Marktwirtschaft geht das nicht. Ich sage dies ohne jede Aggression. Ich will dies nur darstellen. Weil dies so ist, habe ich Arbeitsplatzziele auch niemals verbindlich — von Staats wegen, von Amts wegen — vorgegeben.Ich wollte noch zu ein paar Bemerkungen aus der Diskussion von heute morgen Stellung nehmen. Der von mir geschätzte Herr Ministerpräsident Lafontaine
hat heute morgen ja noch das Rententhema angeschnitten und die Rentenanhebung des Jahres 1995 angesprochen. Dazu muß ich sagen: Wir schreiben heute den 3. März 1994. Wir sind am 3. März 1994 nicht fähig, die Rentenerhöhung vom 1. Juli 1994 anzugeben. Wieso man den Ehrgeiz haben sollte, das für 1995 voraussagen zu wollen, das weiß ich nicht. Das könnte möglicherweise darauf zurückzuführen sein, daß man das Rentensystem noch einmal erklären muß, ganz langsam zum Mitschreiben:Die Renten folgen den Löhnen, sie folgen den Nettolöhnen. Das ist unsere gemeinsame, im Rentenkonsens festgelegte Rentenmaxime.
— Auch für Sie ganz besonders sage ich das.Die Renten im Westen folgen den Löhnen in einem Abstand von einem Jahr. Man müßte also ein Jahr weiter sein, um sagen zu können, wie 1995 im Westen die Renten steigen. Die Renten im Osten steigen parallel zu den aktuellen Löhnen. Man müßte ein Wahrsager sein oder etwas ähnliches, ein Zauberer,
wenn man die Rentenerhöhung im Osten angeben könnte. Wenn damit allerdings gemeint sein sollte — das war ja offenbar der Hintergrund —, daß die Rentner an einer Lohnerhöhung nach dem Motto „Je höher, desto besser" interessiert sein müßten, dann ist das ein großer Irrtum. Denn wir haben ja eine nettolohnbezogene Rente. Wenn durch eine falsche Lohnpolitik die Arbeitslosigkeit steigt, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder steigen die Beiträge — wenn die Beiträge in der Arbeitslosenversicherung steigen, sinken die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer, und dann sinken auch die Renten; eine falsche Lohnpolitik dämpft also die Rentenerhöhung des nächsten Jahres —, oder es gibt keine Beitragserhöhung, sondern der Staat verschuldet sich. Dann steigt die Inflation. Und von einer Inflation haben die Rentner am wenigsten.
Was haben sie eigentlich von einer Rentenerhöhung von 3 %, wenn die Preise um 4 % steigen?
Das ist das, wie ich meine, Betriebsgeheimnis oder die Klugheit des Rentensystems, daß alt und jung in einem Boot sitzen. Das ist die Rentensicherheit. Insofern müssen auch die Rentner an einer vernünftigen Lohnpolitik interessiert sein. Es wäre kurzsichtig zu sagen: Je höher die Lohnabschlüsse, desto besser ist unsere Rentenanpassung. Wir würden unser System gefährden, denn es basiert auf Beschäftigung.
— Noch einmal zum Mitschreiben: Nettolohn bedeutet, daß, wenn die Beiträge steigen, die Rentenanpassung sinkt, es also eine niedrige Rentenanpassung gibt. Wenn die Beiträge nicht steigen, weil der Staat einspringt, dann steigen die Verschuldung und die Inflation, und dann sinkt die Kaufkraft der Renten.Lassen Sie mich zusammenfassen: Unsere gute alte Rentenversicherung hat zwei Weltkriege überlebt und zwei Inflationen.
— Sie hat alle Regierungen überlebt, sogar dieSchmidt- und Brandt-Regierung. Lassen Sie doch die
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Bundesminister Dr. Norbert BlümKalauer weg! Also, wenn schon, dann sage ich: Sie hat zwei Weltkriege, zwei Inflationen überlebt, und sie hat 4 Millionen Rentner aus der DDR übernommen. Eine Sozialversicherung, die das alles überlebt hat, wird auch das Bellen von wadenbeißenden Rentendackeln überleben,
auch wenn sie in Rudeln auftreten.Können wir die Aufregung wieder zurücknehmen und sagen, es gilt unser Rentenkonsens? Das ist das beste Programm für Rentensicherheit. Sind wir darin einig? Rentensicherheit ist das höchste Gebot, und dafür stehen wir, auch, wie ich hoffe, alle in diesem Haus vertretenen Parteien.
— Graf Lambsdorff, ich weiß noch viele lohnende Objekte, bei denen Sie noch etwas lernen können. Insofern sollten wir uns gemeinsam auf den Weg begeben.Übrigens, damit Sie gleich etwas lernen, muß ich Ludwig Erhard gegen Ihr Mißverständnis in Schutz nehmen.
Er soll nach Ihnen gesagt haben, Soziale Marktwirtschaft und Umlagesystem wären nicht unter einen Hut zu bringen.
— Ich bin ja noch nicht fertig, langsam!Der Ludwig Erhard hat das umlagefinanzierte Krankenversicherungssystem verteidigt. Und nun, Graf, erklären Sie mir mal den Unterschied zwischen Krankheit und Pflege! Das Risiko der Pflege ist sogar noch höher. Das Schicksal eines Pflegebedürftigen ist in völliger Nachbarschaft zur Krankheit. Das geht ineinander über. Sagen Sie einmal, wie sich ein Langzeitkranker in der Realität von einem Pflegebedürftigen unterscheidet! Und da der Ludwig Erhard das umlagefinanzierte Krankenversicherungssystem verteidigt hat, bin ich ganz sicher, daß er sich mit mir und durch mich gegen Ihr Mißverständnis wehren würde.
— Sie können es ja noch werden. Man soll der Gnade Gottes keine Grenzen setzen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?
Bitte, Herr Kollege Urbaniak.
Herr Minister, ich kann mich gut daran erinnern, wie wir 1992 die Rentenreform, bezogen auf die Perspektive bis in das nächste Jahrhundert, erörtert haben. Nun können wir doch davon ausgehen, daß — bezogen auf das Rentensystem — die bisherigen Lohn- und Gehaltsbewegungen, die von den Tarifpartnern bewirkt worden sind, eigentlich immer im Rahmen geblieben sind. Darum können doch Löhne und Gehälter hier keine Problematik auslösen. Ist es nicht eigentlich so, daß uns die Rahmenbedingungen und die falschen ordnungspolitischen Entscheidungen der Bundesregierung gerade auf diesem Feld in ganz große Schwierigkeiten bringen? Und dies geben Sie ja offensichtlich nicht zu.
Ich habe gar nichts zuzugeben. Ich habe das System darzustellen und mache darauf aufmerksam, daß eine falsche Lohnpolitik nicht nur die Arbeitsplätze der aktiven Arbeitnehmer gefährdet, sondern auch die Rentensicherheit und die Rentenanhebung dämpft.
Das ist System, noch nicht mal Norbert Blüm.Jetzt aber doch zu dem Hauptthema: Kampf der Arbeitslosigkeit. Meine Damen und Herren, ich meine, das Schlüsselwort, das Lösungswort für Krise heißt Innovation,
und zwar auf allen Feldern: neue Produkte, neue Beschäftigungsfelder, neue Arbeitsorganisation.Und damit wir nicht abstrakt reden: Transrapid ist ein neues Produkt. Wir brauchen Zugmaschinen, die die Phantasie beflügeln!
Wenn wir den Industriestandort Deutschland halten wollen, werden wir es nicht auf der Grundlage einer rot-grünen Philosophie tun.Ich meine, das umweltschonendste Gefährt ist wahrscheinlich die Postkutsche. Zurück zur Postkutsche! Das werden selbst die Grünen nicht mitmachen, dann erreichen sie nämlich nicht mehr die Demonstrationen, da kommen sie nämlich mit dem Zug oder mit dem Auto angereist.
Ich habe den Kollegen Oskar Lafontaine heute morgen zu diesem Thema in einer großen Tradition gehört, in einer Tradition der Technikängstlichkeit, ich will nicht Technikfeindschaft sagen, aber -ängstlichkeit.Als erstes hat er mal einen Flop für den Transrapid angekündigt. Ich komme aus der Opelstadt Rüsselsheim. Dieser alte Adam Opel hat erst Fahrräder gebaut. Dann wollte er sich auf Nähmaschinen umstellen. Da hat ganz Rüsselsheim und Umgebung geschrien: „Flop! Das wird nie funktionieren." Die Schneidermeister haben ihn mit Prügeln bearbeitet. Es war kein Flop. Er hat gute Geschäfte gemacht. Und dann hat er auf Automobilproduktion umgestellt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18391
Bundesminister Dr. Norbert Blüm„Flop" war die allgemeine Redensart. Alle haben gesagt: „Das wird nie funktionieren! " Wenn der nicht Adam Opel geheißen hätte, sondern Oskar Lafontaine, würden die in Rüsselsheim heute noch Fahrräder herstellen.
Allerdings hätten sie mit Sicherheit keine 30 000 Beschäftigte!
Wenn er Oskar Lafontaine geheißen hätte, hätten sie vielleicht auch Blaupausen hergestellt. Nur, glaube ich, mit Blaupausen ist kein Industriestandort zu halten. Das ist Butter ohne Brot! Können Sie sich vorstellen, wir könnten die Blaupausen vom Transrapid in Sao Paulo verkaufen, wenn wir ihn in Deutschland nicht bauen?
Das wäre, als würde ein Automobilverkäufer seine Kunden auf dem Fahrrad besuchen. Das funktioniert nie. Oder haben Sie schon einmal eine Kneipe gesehen, die sich halten kann, wenn sie statt Essen Kochrezepte verteilt?
Deshalb: Wer den Industriestandort halten will, der muß auch im eigenen Land das produzieren, was er nach draußen exportieren will. Darauf warten die Arbeitnehmer, im übrigen auch in Nordrhein-Westfalen,
was eine gute Strecke hergegeben hätte für den Transrapid, gescheitert an der Ängstlichkeit einer sozialdemokratischen Regierung.Das ist die Kernfrage: neue Produkte. Haben wir den Mut, auch wirklich innovativ Neues auszuprobieren. Natürlich ist das mit einem Risiko verbunden. Das Neue war immer mit großem Risiko verbunden, weil es dafür keine Erfahrungen gibt. Aber keine neuen Erfahrungen sammeln zu wollen, das ist das größte Risiko.
Neue Beschäftigungsfelder: Ich glaube, daß im Haushalt ein neues, unentdecktes Beschäftigungsfeld liegt. Mir ist es relativ egal, wo jemand Beschäftigung findet. Hauptsache, er findet Beschäftigung.
Nur wegen ideologischer Bretter sollten wir uns Beschäftigungschancen im Haushalt entgehen lassen, zumal sie gewachsen sind? Vieles von dem, was früher die Großfamilie von Amateuren besorgen ließ, muß heute professionell über den Markt erbracht werden. Warum öffnen wir nicht den Haushalt auch für neue Beschäftigungschancen?
Ich glaube im übrigen: Auch die Pflege schafft neue Beschäftigungsfelder. Es gibt einen großen Bedarf an Pflegediensten. Das ist im übrigen nicht nur wirtschaftlich wichtig, sondern wir lassen damit auch die Chancen wachsen, daß die Menschen in ihren vier vertrauten Wänden bleiben können.Der Hauptpunkt dessen, was ich heute vortrage, ist die neue Arbeitsorganisation. Wir haben in unseren Betrieben auch Modernitätsverspätungen in der Arbeitsorganisation. Wir haben zuviel Hierarchie und zuviel Hackordnung. Manche Bürokratien in Großkonzernen sind kein Jota besser als die überwuchernde staatliche Bürokratie.
Insofern brauchen wir auch hier eine Entbürokratisierung. Kooperation ist das neue Wort, nicht die alten Hierarchien. Ein moderner Betrieb funktioniert nicht mehr nach dem alten Motto Stramm stehen, Befehl von oben. Motivation halte ich für den wichtigsten Produktionsfaktor. Arbeit ist nicht nur Broterwerb. Ich glaube sogar, daß die Menschen mit wachsender Freizeit empfindlicher gegen die Zwänge der Arbeit geworden sind.Der größte Zwang ist unsere fast militärische Ordnung der Arbeitszeit: Alles im Gleichschritt marsch! Insofern ist das Thema Teilzeit fast zu niedlich formuliert, als ginge es nur um ein bißchen Arbeit teilen. Das ist viel zu defensiv. Es geht eher um eine Arbeitszeit á la carte als um eine Arbeitszeit von der Stange. Es geht nicht nur um ein bißchen Rumbasteln an der Vollerwerbsarbeit, sondern es geht darum, die neuen Chancen zu nutzen, die die neue Technik bietet.Zur Zeit der Dampfmaschine und des Fließbands war der Mensch Lückenbüßer eines Maschinenparks. Dort, wo die Maschine die Lücke gelassen hat, hat er sie gefüllt. Das war das Schicksal der Arbeiterschaft. Der Mikrochip ist die Symboltechnologie einer neuen Zeit. Sie läßt Individualisierung zu. Sie läßt Arbeitszeiten ganz anderer Art als in der alten Kolonne zu. Sie entzerrt die Arbeit sowohl räumlich als auch zeitlich.Fünf Gründe für eine solche neue Arbeitszeitordnung: Wir könnten die Betriebe viel besser nutzen. Wir achten ja fast verkrampft nur auf die individuelle Arbeitszeit. Dort werden ganze Weltanschauungsschlachten geführt. Es geht um die Betriebslaufzeiten.Es geht auch um den Samstag. Das alte IG MetallBlatt: „Samstag gehört Vati mir" halte ich für veraltet. Das Eis schmilzt ja auch in Kaiserslautern. Wir brauchen eine stärkere Auslastung der Kapazitäten, was doch gar nicht heißt, daß die individuelle Arbeitszeit dadurch wachsen müßte.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Um das Stichwort „Sonntag" abzuhandeln: Ich bin nicht dafür, daß der Sonntag in die
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18392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Dr. Norbert BlümArbeitsflexibilisierung einbezogen wird, weil ich glaube, dann entsteht ein Zeitbrei. Der Mensch braucht Orientierung. Es muß einen Tag geben, der anders ist als sechs graue Arbeitstage.
Vom Sonntag zur Frage?
Bitte schön.
Ich wollte Sie fragen, da Sie mehr Flexibilität der Arbeitszeit und vor allen Dingen mehr Flexibilität bei den sogenannten Maschinenlaufzeiten oder Betriebsnutzungszeiten gefordert haben, ob es zutrifft, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Wochenschnitt von 73 Stunden Maschinenlaufzeiten im EG-Vergleich an der Spitze liegen und daß die seit 1989 verbreitete Zahl von 53 Wochenstunden auf manipulative Statistiken zurückzuführen ist und daß insoweit überhaupt kein Nachholbedarf auf die Maschinenlaufzeiten bezogen besteht?
Zweitens möchte ich fragen, ob es richtig ist, daß in dem in den nächsten Wochen in dritter Lesung zur Verabschiedung stehenden Arbeitszeitgesetzentwurf der Bundesregierung zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik und seit Bestehen von arbeitszeitlichen Regelungen der Sonntag von dieser Bundesregierung aus ökonomischen Gründen als Ruhetag enttabuisiert wird.
Erstens zur Statistik: Nach der mir vorliegenden Zahl liegen wir in Deutschland 13 Stunden unter dem Durchschnitt der europäischen Maschinenlaufzeiten.
— Dann kommen Sie hinter dem Mond hervor, und dann betrachten wir uns gemeinsam Europa! Da brauche ich gar keine Statistik. Die Italiener, die Spanier, die Belgier hatten immer ein viel lockereres Verhältnis, sie waren von ihrer Natur her gar nicht so trainiert, in diesen Kolonnen zu marschieren, in denen wir offenbar unsere Arbeitszeit organisiert haben.
Ich wollte den Vorteil dieser neuen Arbeitszeitformen auch als ein humanes Angebot verstanden wissen. Wieso arbeiten 60jährige genauso lange wie 20jährige? Warum gleiten wir nicht in den Ruhestand hinüber? Warum haben die Maurer im Dezember, wenn das Wetter schlecht ist, dieselbe Arbeitszeit wie im Sommer? Warum arbeiten Automobilbauer in ganz bestimmten Monaten für die Halde, und anschließend werden diese Halden wieder dem Käufer zugeführt? Eine Verschwendung! Warum atmen unsere Arbeitszeiten nicht sehr viel stärker? Mit sozialem Schutz, nicht mit Willkür!
Um Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube, daß der Gesetzgeber gar nicht für diese Arbeitszeitkontingente zuständig ist, daß er lediglich feststellen sollte, wann Ruhepausen sein müssen, wie groß die Abstände zwischen zwei Arbeitszeiten sein müssen.
Im übrigen sollten wir das den Gewerkschaften und den Arbeitgebern überlassen. Die alte Arbeitszeitordnung konnte das nicht. Sie stammt aus dem Jahre 1938. Da gab es keine Gewerkschaften. Da mußte der Staat so handeln. Aber diesen Staat haben wir Gott sei Dank hinter uns gelassen.
Der Sonntag bleibt ein Sonntag, mit Ausnahmen, aber er bleibt generell der Ruhetag. Das werde ich auch gegen jedermann verteidigen.
Ich will nur noch die Vorteile einer neuen Arbeitszeitordnung deutlich machen. Auch bildungspolitisch haben wir uns ja daran gewöhnt, Bildung ins erste Drittel des Lebens zu zwängen. Wieso können wir nicht Teilzeitarbeit für ältere Arbeitnehmer auch mit Qualifikation verbinden? Neu auftanken! Partnerschaft! Mann und Frau teilen sich die häusliche Arbeit. Vielleicht braucht man auch dazu neue Arbeitszeitformen.
— Keine Gesetze, nur das Angebot, daß man durch eine neue Arbeitszeitordnung den Lebensrhythmus stärker selbst bestimmt und ihn nicht nur in Abhängigkeit vom Arbeitsrhythmus gestaltet.
Ich sehe im übrigen dann auch die Raumordnung entlastet. Unsere Arbeitszeiten belasten die Infrastruktur gezeitenhaft, Ebbe und Flut. Hätten wir eine entkrampfte Arbeitszeit, hätten wir nicht diese Stoßzeiten. Um 5 Uhr sind die Straßen wie Parkplätze, zwei Stunden später können sie als Spielplätze genutzt werden. Infrastrukturen liegen zeitweise brach, zu anderer Zeit sind sie überfüllt.
Ich glaube, daß wir — Gewerkschaften, Arbeitgeber und Politiker — sehr viel mehr Kreativität entwickeln müssen, um aus der Krise nicht eine Defensive zu machen, sondern einen neuen Aufbruch zu neuen Arbeitszeitformen. Wir sollten die Diskussion nicht so führen, als ginge es nur darum, Mangel zu verwalten. Es geht darum, neue Chancen, die in der Entwicklung liegen, zu nutzen und gleichzeitig Arbeit zu schaffen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in diese Debatte geeilt, weil ich hörte, daß der Kollege Schreiner hier reden würde. Ich erhoffte mir von ihm eine Lösung des Rätsels, wie es der SPD denn gelingen könnte,
welche Rezepte sie anwenden würde, um ihre Prognose und ihre Ankündigung wahrzumachen, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Ich habe es mir schon vorher gedacht, und es war auch so, daß an Rezepten wirklich überhaupt nichts angeboten wurde. Das einzige, was ich wieder hören konnte, war, wir hätten das alles falsch angefaßt, und man müsse
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18393
Dr. Gisela Babeldie Arbeitskosten dadurch entlasten, daß man das über die Steuern regelt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß die Sozialpolitiker manchmal die finanz- und haushaltspolitischen Debatten völlig verpassen. Sie sind dann wahrscheinlich in ihren Schreibstuben und hören nicht zu. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß alle Haushaltsmittel voll ausgeschöpft sind. Das ist alles ausgereizt
und überhaupt kein gangbarer Weg.
Ich gebe zu: Auch die F.D.P. vertritt mittlerweile den Standpunkt, daß wir uns überlegen sollten, inwieweit es richtig ist, arbeitsmarktpolitische Instrumente allein über die Beitragszahler zu finanzieren,
und ob langfristig nicht eine Umsteuerung richtiger wäre, dergestalt, daß der Steuerzahler diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente mit einsetzt. Daß wir das aber nicht heute, nicht kurzfristig tun können, das würde ein Blick auf die Haushaltskasse eigentlich alle lehren, meine Damen und Herren. Damit kommen Sie nicht weiter.Die Frage ist also nach wie vor offen: Die SPD weiß nicht, wie sie die Beschäftigung anregen kann.
Das hören wir von Ihnen nicht; im Gegenteil: Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die wir zur Verfügung haben und die wir einvernehmlich richtig finden — Maßnahmen der AB, die Regelungen nach § 249h AFG, jetzt ausgedehnt auf den Westen —, werden mit der SPD doch in einer geradezu hanebüchenen Weise blockiert, weil sie der Auffassung ist, die Anwendung dieser Maßnahmen könne nur innerhalb der Grenzen der Tarifhoheit geschehen. Es ist nicht möglich, daß sich ein privates Unternehmen wirksam an den Maßnahmen nach § 249h AFG beteiligt; denn der Unternehmer ist an die Tarife gebunden, kann sich also an der jetzt vorgesehenen Absenkung der Zuschüsse nicht beteiligen. Es gibt keine Öffnungsklauseln, die ihm erlauben würden, eine Maßnahme mitzutragen, mit seinen Arbeitskräften hier einzusteigen, was nach § 249h AFG ja gerade gewollt ist. Dies kann den Arbeitslosen also nicht zugute kommen, weil ihm diese Tarifbindung auferlegt wird. Das ist völlig unbegreiflich. Man sollte es doch möglich machen, daß es in dieser Frage nun einmal, zumindest im Osten, ein kooperatives Verhalten gibt. Hier stoßen wir an sture Grenzen, die ich überhaupt nicht verstehe.
Frau Kollegin — —
Nein, lassen Sie mich bitte im Zusammenhang sprechen. Ich kenne die Fragen von Herrn Schreiner sowieso schon.
Meine Damen und Herren, ein zweiter Punkt. Wir reden von der Lohnbelastung. In der Tat: Alle Sozialversicherungssysteme hängen dem Lohn wie ein Mühlstein um den Hals. Auf Grund der nettolohnbezogenen Rente merken mittlerweile auch die Rentner — die F.D.P. ist nach wie vor sehr stolz, daß sie die nettolohnbezogene Rente erreicht und damit die Disproportion von Rente und Lohn beseitigt hat —, daß sich eine stetige Erhöhung von Lohnnebenkosten auf die Rente auswirkt.Ich sage in diesem Hause eine sehr unbequeme Wahrheit: Gerade die alten Menschen freuen sich ja auf die Pflegeversicherung und fordern sie vehement. Aber ich bin mir nicht darüber im klaren, ob den Rentnern vor Augen steht, daß die Pflegeversicherung natürlich auch die Anpassung der Renten beeinflussen wird. Die Renten werden niedriger ausfallen, weil sich die Pflegeversicherung, wie gesagt, in der netto-lohnbezogenen Rente auswirkt. Insofern sind alle diese umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme von uns als F.D.P. immer außerordentlich kritisch betrachtet worden.Nun gibt es in den Verhandlungen ja neue Bewegung. Sie ist vielleicht noch nicht allen offenbar, aber sie entlädt sich in der SPD in mehr oder weniger heftigen Diskussionen. Es geht um die Überlegung, daß eine Finanzierung auch dadurch möglich werden kann, daß sich nicht nach altem Modell Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Beiträge teilen, sondern daß der Arbeitnehmer die volle Beitragslast trägt. Ich hätte es für unmöglich gehalten, in diesem Hause einen solchen Gedanken überhaupt zu äußern. Aber mittlerweile zeichnet sich ab, daß die Diskussion einer solchen Lösung zustrebt. Ich sage Ihnen: Das wird dazu beitragen, daß die Transparenz unserer Rechtsordnung, was soziale Wohltaten anlangt, zunimmt.
Es wird nämlich jedem Arbeitnehmer deutlich, wie groß seine Arbeitskraft sein muß, um das alles zu tragen. Ich bin nicht dafür, daß sich der Arbeitgeber da herausstiehlt; ein solches Ergebnis wird in die Lohnverhandlungen sicher einfließen. Aber der Arbeitnehmer erkennt nun ganz deutlich, was von seinem verdienten Geld in diese Systeme abfließt.
Ich verspreche mir von einer solchen Umsteuerung durchaus ein Bewußtsein bei Arbeitnehmern dafür, was Sozialstaat kostet und was es ihn kostet. Ich könnte mir denken, daß auch der Gesetzgeber in Zukunft etwas zaghafter ist,
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18394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. Gisela Babelwenn es um das permanente Verbessern sozialer Wohltaten geht, die dem Arbeitnehmer im Grunde aus der Lohntüte genommen werden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir uns in der Diskussion der kommenden Wochen mit diesen Aspekten noch einmal intensiv auseinandersetzen müssen. Aber insgesamt bin ich doch überrascht, daß sich Sozialdemokraten einem solchen Gedanken nähern. Ich halte das insgesamt für positiv.Ich bedanke mich.
Ich erteile jetzt dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages, unserem Kollegen Friedhelm Ost, das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wer das Sachverständigengutachten, den Jahreswirtschaftsbericht und das Aktionsprogramm der CDU/CSU-F.D.P.Koalition aufmerksam durchliest, wird gerade nach den Beiträgen der sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen festgestellt haben: Es gibt gar keine Alternative zu diesen Vorlagen.
Wir sind auf dem richtigen Kurs, und wir haben auch wirksame Rezepte anzubieten.Es ist richtig: Nach über einem Jahrzehnt eines ununterbrochenen Aufschwungs haben wir 1993 in Westdeutschland eine Delle bekommen, einen Einbruch. Aber bereits zu Beginn dieses Jahres zeichnet sich zumindest eine Stabilisierung und — sicherlich — ein mühsamer, langsamer Aufstieg aus der Talsohle ab. Wir haben gute Chancen, in diesem Jahr rund 1 % reales Wachstum in Westdeutschland zu erreichen, und wir haben beste Chancen, diesen Aufschwung 1995 zu verstärken.
— Lieber Herr Kollege Jens, Sie wissen ganz genau, daß Wachstum zwar nicht alles ist, aber ohne Wachsturn ist alles nichts — auch für den Arbeitsmarkt.
Ich sage einmal ganz deutlich: Es gibt natürlich nicht nur die konjunkturellen Probleme. Es gibt strukturelle Probleme. Niemand kann leugnen — vielleicht sollten das auch sozialdemokratische Experten studieren —, daß wir seit Anfang der 90er Jahre durch die von uns allen begrüßte Öffnung Mittel- und Osteuropas eine völlig veränderte Lage in Europa haben, aber auch eine völlig veränderte Lage in der Weltwirtschaft. Wir müssen uns neu orientieren. In wenigen Wochen ist das nicht möglich. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß neue Standorte in der Konkurrenz zum deutschen Standort entstanden sind, die ein Kostenniveau vorweisen, das teilweise eben nur ein Zehntel oder 20 % oder 30 % dessen aufweist,was wir hier haben. Wir müssen uns umorientieren —
nicht dadurch, daß wir jetzt sagen, entsprechend müssen die Löhne herunter, sondern wir müssen intelligenter wirtschaften, wir müssen anders wirtschaf ten.
— Ja, wenn Sie das so einsehen, dann würde ich nicht alles so ausbremsen. Sie haben Bedenken gegen alles: gegen Transrapid, gegen Gentechnologie.
Sie haben Bedenken gegen moderne Energietechnologie. Wo sind denn die großen technischen Werke in der Energie abgerissen worden? Der Hochtempera-turreaktor in Hamm-Uentrop: Liegt das auf dem Mond, oder liegt das in Nordrhein-Westfalen?
Abriß des Schnellen Brüters in Kalkar: Wo liegt das denn? Auch in Nordrhein-Westfalen.Wenn ich ein Energiezentrum Nordrhein-Westfalen bilden will, dann muß ich ja sagen zum Konsens Kohle und Kernenergie. Da kann ich nicht dauernd zappeln.
Natürlich müssen Sie sehen, daß die SPD überhaupt keinen Vorschlag gemacht hat, lieber Herr Kollege Jens. Ich habe das zumindest von Ihnen erwartet, von anderen nicht.
Sie sind ja ein studierter Ökonom.
— „Wozu?" Das kommt jetzt. Ich meine einen intelligenten Vorschlag, wie wir in der Tat innovative Kreativität in Deutschland entwickeln. Sind Sie bereit, mitzugehen, nicht nur bei der Entwicklung und Forschung — selbst da zappeln Sie hin und her —, sondern auch bei der Realisierung. Denn wir müssen schneller realisieren als bisher, sonst werden wir in der Tat
den dritten, vierten, fünften, zwölften oder gar keinen Platz in der internationalen Konkurrenz erreichen.Nun sage ich Ihnen noch eines: Der Herr Scharping reist jetzt schon immer als SPD-Möchtegernkanzler durch die Gegend und stiftet nur Verwirrung. Ich selber und viele andere wissen ja gar nicht, was er überhaupt will. Will er etwa die Steuern erhöhen? Da sagt er: Insgesamt nein, aber wer schon über 2 000 DM Steuern zahlt — das sind auch Facharbeiter, das sind Mittelständler —, der soll dann noch einmal 10 % drauflegen. Herr Klose schlägt vor, die Mineralölsteuer noch einmal kräftig zu erhöhen. Herr Scharping hat da vielleicht etwas Bedenken, aber so ganz klar formuliert er das auch nicht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18395
Friedhelm OstDann kommen Sie mit den „leistungslosen Einkommen". Sind denn Sparguthaben, auch Aktiendepots oder Anleihendepots nicht in der Tat entstanden, weil Leute vorher wirklich große Leistungen erbracht haben? Brauchen wir das nicht? Sie wollen — da haben Sie besonders forsche Damen; die forscheste ist nicht mehr hier — das Bankgeheimnis aufheben. Denken Sie nicht an die Konsequenzen, die dadurch entstehen? Werden Sie das Geld dadurch nicht scheu machen? Es ist scheu wie ein Reh. Wird da nicht viel Kapital flüchten? Werden die Zinsen, für deren Herabsetzung Sie sich, Herr Kollege Jens, immer stark einsetzen,
wenn durch die Aufhebung des Bankgeheimnisses Kapital abfließt, nicht steigen?
— Natürlich bekommen Sie den. — Mit Schnüffeln und Schröpfen à la SPD werden Sie eine enorme Kapitalflucht bekommen. Das ist keine zukunftsorientierte Politik, sondern der Weg zurück in den sozialistischen Klassenkampf.
— Nein, lieber Herr Kollege Jens.
Die SPD betreibt, auch jetzt in den Wahlkämpfen, Wundertütenpolitik. Sie blasen immer neue heiße Luft in die Tüte, produzieren Null- und Luftnummern und enttäuschen das Publikum, selbst wenn es via Satellit beglückt wird,
Wir, CDU, CSU und F.D.P., wollen eine Leistungsgesellschaft, in der sich Leistung lohnt, in der dynamische Kräfte entfesselt werden. Wir müssen — das ist richtig — die Staatsquote und die Abgabenquote nicht weiter erhöhen, sondern senken. Deshalb hat die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte für uns absolute Priorität.An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, steht so schön in der Bibel.
Schauen Sie sich einmal an — ich habe es fast nicht geglaubt —: Sie haben in zehn Jahren SPD-geführter Regierung, von 1972 bis 1982 — Sie können diese Zahlen nachlesen; in den Sachverständigengutachten ist das nachzulesen —, die Schulden des Bundes von 62 Milliarden DM auf über 300 Milliarden verfünffacht. Das können Sie doch nachlesen. Sie haben das sogar vor sich auf dem Tisch. Lesen können Sie bei den Sozialdemokraten doch alle, denke ich,
— Sie halten nicht einmal Konsolidierung für ein Thema. Das ist wichtig. Sie haben die Schulden verfünffacht. Sie haben im Schnitt 5 % Inflation gehabt.
— Sie haben 5 % Inflation produziert und die Schulden verfünffacht: Damit Sie es genau hören. Und Sie haben keine Wiedervereinigung gehabt.
Wir haben die Schulden in unserer gesamten Regierungszeit einschließlich der Wiedervereinigung, weil wir gut und solide gearbeitet haben,
etwas mehr als verdoppelt. Fünffach ist doch mehr als zweifach. Sie können doch gar nicht rechnen.
Sehen Sie sich die Zahlen an!
Herr Kollege Ost, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jens?
Ja, bitte.
Bitte, Herr Dr. Jens.
Da ich annehme, Herr Ost, auch Sie können lesen: Können Sie so nett sein, alle Nebenhaushalte in diese Sache einzubeziehen? Würden Sie mir, wenn Sie die Zahlen dann richtig lesen, zustimmen, daß die Verschuldung des Bundes seit 1982 mit etwa 380 Milliarden DM einschließlich aller Nebenhaushalte, die Sie geschaffen haben, um dieses Problem zu verniedlichen, mittlerweile auf etwa 1 500 Milliarden DM gestiegen ist?
— Ihr könnt nicht lesen.
Lieber Herr Kollege Jens, das ist nicht ganz richtig. Sie können es im Sachverständigengutachten nachlesen. Selbst wenn Sie die Nebenhaushalte, die teilweise durch die Wiedervereinigung entstanden sind, hinzunehmen, hat sich der Schuldenstand lediglich verdreifacht. Verfünffacht ist immer noch mehr als verdreifacht. Das werden Sie bei einfachster Anwendung der Mengenlehre selbst feststellen.Lieber Herr Kollege Jens: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
Wir können das am Einzelbeispiel sehen. Der Haushalt des Saarlands — ich will Nordrhein-Westfalen gar
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18396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Friedhelm Ostnicht erwähnen — ist zum viertenmal hintereinander vom Landesrechnungshof gerügt worden. Er stimmt nicht mit Recht und Gesetz überein, und dann preisen Sie uns Herrn Lafontaine mit großen Worten noch als den Finanzminister für die gesamte Nation an. Es reicht nicht einmal für die Kreisklasse, nicht für die Regionalliga, und da wollen Sie ihn in der Bundesliga spielen lassen. Er steigt sowieso gleich wieder ab.
Natürlich reden Sie plötzlich auch über Preisstabilität. Preisstabilität ist in der Tat wichtig.
Im Schnitt haben Sie in den zehn Jahren der SPD-geführten Regierung eine Inflationsrate von über 5 % gehabt, mit flotten Sprüchen des früheren Kanzlers Helmut Schmidt.
Wir liegen im Schnitt bei etwa 3 %. Wir haben jetzt 3,3 %.
— Lieber Herr Kollege Jens, ich werde Ihnen das einmal sagen. In der Tat haben wir — Sie haben auch hierzu die Zahlen; Sie können sie ja nachlesen — seit 1990 einen Anstieg der Löhne in Deutschland um 25 %. Die Produktivität ist nur um 8 % angestiegen. Die Folge war ein Plus bei den Arbeitslosen um eine Million.
— Lesen Sie doch einmal nach. Herr von Larcher, früher in der Schule habe ich gelernt: Man sagt nur etwas, wenn man gefragt wird. Vielleicht sollten auch Sie sich das einmal hinter die Ohren schreiben.
— Er hat ja nichts zu sagen.
Ich nenne Ihnen die Zahlen. Von 1982 bis 1989 sind Löhne und Produktivität in etwa im Gleichschritt gestiegen. Erfolg für uns: drei Millionen neue Arbeitsplätze.
Das zeigt doch ganz deutlich, liebe Kollegen, welche Verantwortung vor allem die Tarifpartner haben. Falsche Abschlüsse gehen zu Lasten der Beschäftigung, vor allem vor dem Hintergrund, daß wir im Wettbewerb neue Alternativen zum Standort Deutschland haben. Wo arbeitsintensiv gearbeitet wird und wo die Lohnkosten weiter steigen, nehmen die Überlegungen zu, etwa in die Tschechei, in die Slowakei, nach Polen oder Ungarn zu gehen. Dasmüssen wir zur Kenntnis nehmen. Früher gab es solche tollen Alternativen gar nicht. Aber heute überlegt ein Drittel der deutschen Unternehmen den Schritt in Richtung Mittel- und Osteuropa. Deshalb kann ich alle, die sich jetzt in Solidarität mit den Streikenden oder denen, die den Arbeitskampf planen, sozusagen zu Kompagnons machen, nur warnen. Lassen Sie uns sehr offen auch aus dem Bundestag heraus sagen: Wer jetzt streikt, streikt noch mehr Arbeitsplätze kaputt und schafft keine Arbeitsplätze.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, daß es nicht richtig ist, wenn die SPD jetzt mit dem neuen Slogan „Sicherheit statt Angst" startet. Das ist Etikettenschwindel; das ist absoluter Etikettenschwindel. Denn was haben Sie denn in den letzten Jahren getan? Sie schüren Angst, Sie schüren Mißtrauen, Sie erzeugen Unsicherheit und operieren permanent mit Neidparolen.
— Ja, doch.
Der Inhalt hält nicht, was die Parole verspricht. Sie sind so unverfroren, daß Sie den Bürgern die Räuber von gestern als Leibwächter von heute anpreisen.
Wir haben vorhin über leistungslose Einkommen gesprochen. Ich bin schon der Meinung, bei den Leistungen von Scharping und Lafontaine sollte man darüber nachdenken, ob die leistungslosen Einkommen für diese Ministerpräsidenten wesentlich zu hoch sind.
Natürlich wäre eine rotgrüne Koalition hier in Bonn Gift für die wirtschaftliche Entwicklung, ein Alptraum für Unternehmer und Arbeitnehmer, vor allem für den Mittelstand.
Sie selber singen ab und zu, meistens etwas kakophonisch, das schöne Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit".
Was Sie indessen an konkreter Politik anbieten, das haben wir heute gemerkt. Es war dekuvrierend. Das reicht nicht einmal für „Brüder zum Mond" — dahin kommen Sie nie, weil Sie ja die Technologie ablehnen —, und es reicht nicht für „Freiheit", sondern, wie Friedrich von Hayek gesagt hat, zur Knechtschaft. Sie versprechen den Bürgern wieder einmal Rücknahme aller möglichen Sparbeschlüsse. Sie versprechen den Bürgern Pudding, bevor Sie überhaupt eine Ahnung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18397
Friedhelm Osthaben, woher Sie das Geld für die Milch bekommen.
Deshalb: CDU und CSU treten für Freiheit und Eigenverantwortung, für die Entfesselung dynamischer Kräfte von Unternehmen und auch Arbeitnehmern ein, nicht mit mehr Staat, sondern mehr privat.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich will Sie auf etwas aufmerksam machen — die drei Fraktionen sind hier noch vertreten, die beiden Gruppen nicht mehr —: Es war heute morgen eine vierstündige Debatte vereinbart. Wir sind jetzt weit über diese Zeit. Wenn die Debatte so weitergeht, dauert sie noch eine Stunde. Ich setze einfach das Einverständnis voraus, daß wir so weiterdebattieren.
Ich erteile nun dem Kollegen Ernst Schwanhold das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung zu Ihnen, Herr Ost, machen: Sie haben erst gar nicht den Versuch unternommen, mit uns ernsthaft über Wirtschaftsthemen der Zukunft zu diskutieren. Vielmehr haben Sie sich gleich dahin geflüchtet, mit Kalauern und auf einem Niveau unterhalb Ihrer Möglichkeiten billige Effekthascherei zu betreiben. Ich finde dies angesichts der Dramatik des Themas beschämend.
— Wenn Sie mit dem Niveau zufrieden sind, Herr Hinsken, würde ich Sie bitten zusammenzupacken. Die Menschen, die draußen am Fernseher sitzen, erwarten mehr als so ein Geflapse und solche blöden Reden von Ihnen.
Lassen Sie mich etwas zur wirtschaftspolitischen Erwartung des DIHT nach der Umfrage, die er bei den 20 000 Betrieben Westdeutschlands und den 5 000 Betrieben Ostdeutschlands angestellt hat, sagen. Der DIHT erwartet ein gesamtdeutsches Wirtschaftswachstum von etwa 0,5 %, von sehr niedrigem Niveau ausgehend. Es liegt also deutlich unterhalb von dem, was uns die Bundesregierung aus den schöngeredeten Prognosen des Jahreswirtschaftsberichtes mit den Zahlen von 1,0 % bis 1,5 % vorgaukeln will.
Bei den 20 000 westdeutschen Unternehmen wollen 5 % ihre Beschäftigtenzahl in diesem Jahr erhöhen, und — Herr Ost, hören Sie genau zu — 44 % kündigen an, weitere Entlassungen vorzunehmen.
Bei der Inflationsrate, die übrigens deutlich über 3 % liegt, macht der DIHT mit pessimistischer Betrachtung folgende Aussage: Wir würden uns glücklich schätzen, wenn es bei 3 % Preissteigerung bliebe.
Das sind also alles Voraussetzungen und Aussagen, die Ihre Annahmen aus dem Jahreswirtschaftsbericht nicht bestätigen.
Der Geschäftsführer Franz Schoser führt weiter aus, daß die geringe Kaufkraft die wirtschaftliche Entwicklung bremse und die Konjunkturerwartungen insbesondere des Handels verdüstere. Auch im Dienstleistungsbereich hätte die Rezession die Zukunftsperspektive eingetrübt. Das bisher frostige Investitionsklima habe sich noch nicht entscheidend erwärmt.
In den Aussagen Ihrer Klientel werden Erwartungen formuliert, die Sie zu erfüllen nicht in der Lage sind, die Sie auch nicht erfüllen wollen. Jedenfalls ist das mein Eindruck.
Sie nehmen noch nicht einmal zur Kenntnis, was Sie in den letzten 25 Jahren uneingeschränkter Wirtschaftspolitik der F.D.P. und in den letzten 12 Jahren uneingeschränkter Finanzpolitik der CDU/CSU angerichtet haben. Hier ruft der Brandstifter der letzten Jahre nach der Feuerwehr und meint, er müsse noch das Wasser liefern, obwohl schon längst alles abgebrannt und der See ausgetrocknet ist.
Herr Kollege Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Nein. Es tut mir leid, Kollege Hinsken.
Ich möchte die Diskussion nicht unnötig verlängern.
— Das ist auch nett von Ihnen. Sie kriegen das nächste Mal auch von mir wieder eine Zwischenfrage zugelassen, Herr Hinsken.Im Jahre 1994 hatten wir laut Statistik über 4 Millionen Arbeitslose, mit steigender Tendenz. Sie selber gestehen 4,5 Millionen ein. Tatsächlich fehlen uns 6 Millionen Vollzeitarbeitsplätze.Daß die Arbeitslosen nicht kurzfristig wegzumanipulieren sind, daß es keine kurzfristigen Lösungsmechanismen gibt, ist uns allen klar. Niemand hat Patentrezepte in der Tasche.Aber mein Vorwurf ist, daß Sie heute durch Ihre Ignoranz die Chance vertun, in den nächsten Jahren diese Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dazu müssen heute Grundsteine gelegt werden. Sie haben nur Worthülsen produziert.
Ich will den Versuch unternehmen, Ihnen ein paar Dinge dazu zu sagen.
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18398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Ernst SchwanholdGestatten Sie mir allerdings noch den Hinweis darauf, daß die Arbeitslosigkeit dieses nie gekannten Ausmaßes und eine Schuldenpolitik, die von Ihnen verursacht wurde, noch die Zins- und Tilgungslasten für mehrere Generationen unserer Kinder beinhaltet. Auch denen nehmen Sie Zukunftschancen. Niemand in diesem Land traut dieser Regierung wirklich noch eine Lösung zu, weder Gewerkschaften noch Unternehmen, noch Sie sich selbst, sonst hätten Sie den Versuch unternommen, hier Lösungsansätze zu bieten.
Konjunktur- und Strukturkrise haben sich zu einer explosiven Mischung verdichtet. Ich will den langfristigen Aspekt der Strukturkrise ansprechen. Wir sind heute allenfalls auf dem tiefsten Punkt der Rezession — allenfalls —, obwohl die Stimmung noch sehr schlecht ist. Ein tragfähiger Aufschwung wird nicht ohne Lösung der dringendsten Strukturprobleme zu erreichen sein. Eine langfristige Sicherung des Standortes Deutschland und die damit einhergehende langfristige Wiedererreichung der Vollbeschäftigung muß deshalb heute eingeleitet werden.Wer sich in der Zukunft auf den Weltmärkten behaupten will, muß heute die Produkte und Verfahren von morgen entwickeln. Eine Schlüsselrolle dabei nimmt die Forschungs- und Technologiepolitik ein,
eine zweite die Bildung und Ausbildung von qualifizierten Fachkräften. Anstatt in diesen Bereich zu investieren und zu klotzen, streichen Sie das Hochschulausbauprogramm zusammen. Im Bereich von Forschung und Technologie haben Sie über mehrere Jahre die Ausgaben eingefroren und damit de facto reduziert. Im Haushaltsplan 1994 ist der Ansatz gegen anders lautende Ankündigung im Bereich F und T um 250 Millionen DM gekürzt worden.Das sind Zeichen und Signale, die in einem ganz wichtigen Feld zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung deutlich gegen die Notwendigkeiten der Bundesrepublik stehen. Das muß negative Konsequenzen für die Grundlagenforschung haben, ebenso für die anwendungsorientierte Forschung. Wer so tut, als ob dies nicht der Fall sei, hat mindestens zu verantworten, daß in den letzten zehn oder zwölf Jahren viel zuviel dafür ausgegeben worden ist. Denn eines geht nur. Man kann nicht auf der einen Seite sagen, wir können sparen, und auf der anderen Seite die Haushaltslücke nicht beklagen. Genau in diesem Bereich der Forschung und der anwendungsorientierten Entwicklung benötigen wir aber kurz- bis mittelfristige Ergebnisse, damit wir Forschungsergebnisse in neue Technologien und marktfähige Produkte umsetzen können.Die Stichworte dazu sind schnell genannt. Ich will sie wiederholen — ich sage aber auch etwas zu den begrenzenden Rahmenbedingungen —: neue Kommunikationstechniken, neue Werkstoffe, neue Transportsysteme, auch Verkehrsleitsysteme, Energiegewinnungssysteme, die dem Prinzip der Nachhaltigkeit folgen, und auch die Biotechnologie.
In keinem dieser Bereiche haben Sie es geschafft oder den Willen gezeigt, Rahmenbedingungen zu setzen, die es Wissenschaft, Forschung und Industrie ermöglichen, Entwicklungen planungssicher voranzutreiben. Durch Ihre Untätigkeit auf diesem Gebiet gefährden Sie schon heute die Chancen zur mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Konsolidierung.Ich will Ihnen dazusagen, daß es nicht um Technologiegläubigkeit geht. Wenn ich diese neuen Techniken initiieren will, dann muß ich die Rahmenbedingungen dafür nennen. Ich habe eine genannt: Nachhaltigkeit.Die zweite, die dazugehört, ist die Akzeptanz. Wer ein Forschungsprogramm einsetzt, um neue Werkstoffe entwickeln zu lassen, und nicht am Anfang der Entwicklung auch die Entsorgungswege und die Wiederverwertungswege mitentwickeln läßt, schafft keine Technologieakzeptanz, sondern Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung. Das ist das schlechteste, was wir in Forschung, in Entwicklung und innerhalb der Wirtschaft gebrauchen können. Aber das haben Sie mit Ihrem Forschungsprogramm zu verantworten.
Es geht übrigens nicht in erster Linie um die Bereitstellung von Geldern. Da kann die Wirtschaft manches von sich aus organisieren. Es geht zuallererst darum, deutlich zu machen, welches die Entwicklungslinien sein sollen, um diese dann auch durchzuhalten. Ihnen gelingt es noch nicht einmal, eine Abstimmung zwischen den Ressorts innerhalb dieser Bundesregierung vorzunehmen.
Wie anders ist denn zu erklären, daß das Wirtschaftsministerium, das Forschungs- und Technologieministerium und das Umweltministerium völlig isoliert voneinander etwas in die Gegend hineinblasen, was man beim besten Willen nicht auf einen Nenner bringen kann?
Akzeptanz für neue Technologie und Innovationen werden wir innerhalb der Bundesrepublik nur dann erreichen, wenn nicht nur neue wirtschaftliche Chancen geschaffen werden, sondern auch Fortschritte zur Erreichung von sozialer Stabilität absehbar sind und ökologische Risiken gemindert oder zumindest begrenzt werden. Wir brauchen eine zukünftige Wirtschaftspolitik, die das Ziel der Vollbeschäftigung bei möglichst großer Energie- und Stoffeffizienz erreicht. Das sind Stichworte, die Sie überhaupt nicht wahrnehmen.Wer heute die Entwicklung neuer Werkstoffe fördert — das will ich Ihnen noch nicht einmal vorhalten —, muß die Entsorgung entscheidend berücksichtigen. Das Signal „Wir müssen Schluß machen mit derErnst SchwanholdUmweltpolitik" gefährdet genau diesen Standort. Denn nur wenn wir integrierten Umweltschutz bei Forschung und Entwicklung tatsächlich einbeziehen, bekommen wir Zukunftschancen. Diese Koordination und diese Aussage fehlen völlig in Ihrem Konzept.
Die Regierung ist bisher nicht in der Lage, diese Koordinationsleistungen wirklich voranzutreiben. Wir alle wissen, daß der Individualverkehr sich nicht so weiterentwickeln kann, wie er sich bisher entwickelt hat. Wir werden nicht die Flächen zur Verfügung haben, um Ausweitungen des Autoverkehrs zulassen zu können. Wir werden nicht die Ressourcen haben, um weiter Autos wie bisher produzieren zu können. Wir werden nicht die Senken haben, um am Ende der Nutzungsdauer die Abfälle in den Boden packen zu können. Wir werden nicht die Senken haben, um die aus dem Individualverkehr resultierenden CO2-Emissionen dauerhaft ohne Schaden für Mensch und Umwelt aufzunehmen.Daraus folgt eigentlich als Konsequenz, heute nicht auf die Restrukturierung oder uneingeschränkte Neubelebung der Automobilindustrie der bisherigen Zeit hinzuwirken, sondern genau jene Systeme zu entwikkeln, die nachhaltig notwendig sind. Welche Impulse haben Sie da gesetzt? Welche Chancen für den Arbeitsmarkt der Zukunft haben Sie in diesen zwölf Jahren Ihrer Regierungszeit geschaffen? Nichts und wieder nichts ist erkennbar. Sie verspielen heute schon die Chancen.
— Sie haben kein einziges Beispiel dazu genannt. Allein die Aussage, das sei falsch, reicht nicht. Sie erinnert an Ihre Rede von eben: Sie ignorieren das, was Sie getan haben. Sie ignorieren die Verantwortung für den desolaten Zustand dieser Wirtschaft.
— Sie handeln so, daß dabei am Ende sechs Millionen fehlende Arbeitsplätze herauskommen, die Massenarmut zunimmt, die Menschen in Deutschland auf der Straße leben, Sozialhilfeempfänger aus den Mülleimern leben. Das ist das Ergebnis Ihrer Wirtschaftspolitik, die wir zur Zeit haben.
Es schafft neue Arbeitsplätze und Marktchancen, genau den Weg einzuleiten, den ich gerade beschrieben habe. Wer diese ökologisch vertretbareren Automobile nicht heute entwickelt, wird nach meiner Meinung in spätestens 15 bis 20 Jahren keine Fahrzeuge auf den Weltmärkten mehr absetzen können. Deshalb darf die Botschaft auch nicht sein: Wir brauchen ein Moratorium im Bereich der Umweltpolitik. Nein, wir brauchen die festen Rahmenbedingungen, an denen sich Innovations- und Technologieentscheidungen der Unternehmen orientieren können.Nebenbei bemerkt — Herr Ost, vielleicht hören Sie zu; es muß aber nicht sein, Sie können ja alles nachlesen oder auch schon wissen —: Die einzige Branche, die Zukunftsraten hat, ist die Umwelttechnik. Dort gibt es 600 000 Beschäftigte. Ich will Ihnen einmal sagen, wie es im Bereich der Umwelttechnik wirken muß, wenn das wirtschaftspolitische Signal kommt: Wir brauchen ein Moratorium. Dieses Moratorium bedeutet natürlich auch hohe Forschungs- und Entwicklungskosten und fehlende zusätzliche Schwerpunktsetzung.
Herr Abgeordneter Schwanhold, Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Ende kämen, zumal wir in der Planung insgesamt bereits eine Stunde zurückliegen.
Es ist mir schon klar, daß ich die Zeit überschritten habe. Ich danke Ihnen für den Hinweis, Herr Präsident. Ich hatte das bisher übersehen. Ich will damit auch zum Ende kommen, zumal die Zeit vorher genutzt worden ist.
Ich bitte Sie sehr herzlich, darüber nachzudenken, ob wir im Bereich der Zukunftssicherheit von Arbeitsplätzen und der Entwicklung von zukünftigen Arbeitsplätzen die gegenseitigen Vorwürfe nicht besser unterlassen. Dazu gehört aber zunächst einmal, daß Sie Ihre Fehler zur Kenntnis nehmen und sie auch eingestehen. Aus dieser Verantwortung werden wir Sie nicht entlassen, nicht nur bis zur Wahl, sondern auch über die Wahl hinaus, wenn wir Regierungsverantwortung zu tragen haben.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Erich Maaß.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich ausschließlich auf den Bereich Rat für Forschung, Technologie und Innovation einlassen. Ich begrüße es ausdrücklich — das ist die Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion —, daß dieser Rat nun auf Grund eines Kabinettsbeschlusses in der vergangenen Woche geschaffen wird. Das ist die Forderung der Fraktion, das ist die Forderung der Partei, und das ist auch die Forderung der „Zukunftskommission Wirtschaft 2000" des Landes Baden-Württemberg.
— Mein lieber Herr Kollege Jens, ich werde auf die graduellen Unterschiede gleich noch eingehen.Ich möchte jetzt versuchen, die Auswirkungen der verbalen Nebelkerzen, die den ganzen Morgen hier geworfen worden sind, zu beseitigen und sichtbar zu machen, wo die gravierenden Unterschiede sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wollen wir damit erreichen? Wir brauchen in einer Phase der strukturellen Rezession einen Motivationsschub in unserer Republik. Wir müssen deutlich machen, wo die Defizite liegen, und sichtbar machen, daß wir bereit sind zu mobilisieren. Wer kann das besser als der Kanzler, wenn er sich an die Spitze der Bewegung stellt? Dieser Aufforderung der Fraktion ist er nachgekommen.
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18400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Erich Maaß
Das ist nicht so ganz abwegig, meine sehr verehrten Damen und Herren der Opposition, wenn man vergleicht, wie es die anderen Länder machen, die unsere Mitbewerber sind. Schauen Sie sich die Situation in den USA an: Was macht Herr Clinton im Augenblick? — Er geht zu einer Technologie- und Innovationsoffensive über. Er stellt sich an die Spitze der Bewegung. Die Japaner machen es ähnlich.Deshalb ist die Kritik, die Sie, Herr Kollege Jens, hier anbringen — Ihre Pressemeldung besteht ja nur aus Polemik —, völlig abwegig. Sie merken nicht, daß zu einer gezielten Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik auch Psychologie gehört. Das verkennen Sie. Deshalb sind Sie in dieser Frage nicht der entsprechende Berater.
Was wollen wir? Ich greife hier die Ausführungen von Graf Lambsdorff auf: Wir wollen keinen staatlichen Dirigismus, keine Bevormundung durch den Staat gegenüber der Wirtschaft, sondern ein Zusammenführen und eine Bündelung unserer Kräfte. Wir wollen den Rat der Wirtschaft und Wissenschaft und wollen von der Politik her flankierend unterstützen. Das ist unser Konzept. Das entspricht auch den Forderungen, die führende Wirtschaftspolitiker und -manager in den letzten Tagen und Wochen in der Öffentlichkeit immer wieder geäußert haben.Wir gehen sogar so weit — das muß im Grunde genommen ein Armutszeugnis für die Opposition sein —, daß wir selbst in der Lage sind, aus Fehlern zu lernen, und bereit sind, auch in schwierigen Situationen umzusteuern. Eigentlich ist es die Aufgabe der Opposition, massiv die Fehler aufzuzeigen und deutlich zu machen, was sie will. Von Ihnen habe ich dazu heute morgen leider noch nichts gehört. Vielmehr sind wir in dieser Phase der Rezession bereit und fragen, wie wir es besser organisieren können.Fangen wir bitte bei uns an: Wie können wir die jeweiligen Ressortzuständigkeiten im Kabinett neu organisieren, damit exzellente Forschungsergebnisse durch gezielte Steuer- und Wirtschaftspolitik auch relativ schnell umgesetzt werden können? Das ist die Voraussetzung, damit wir einen weiteren Aufschwung propagieren können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt kommt ein weiterer Punkt: Wo unterscheiden wir uns? Was uns vorgehalten wird, wir wollten eine neue „Räterepublik" installieren, ist falsch. Wenn Sie meine Ausführungen gehört haben, können Sie das beurteilen.So wie es die Opposition, die SPD, haben will, kommt es für uns überhaupt nicht in Frage. Sie wollen einen großen Rat installieren, der mit großem Brimborium alle zwei Jahre ein Gutachten übergibt. Das ist eine Verschiebung der Aktionen, die wir eigentlich brauchen: Wir brauchen Handlungsaktivitäten, die jetzt umgesetzt werden müssen. Deshalb wollen wir den Vorschlag, den Sie unterbreitet haben, nicht in dieser Form annehmen.Ich darf einen weiteren Punkt ansprechen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, warum besitzen wir nicht die Bereitschaft, zu lernen, wie es die Mitkonkurrenten machen? Den großen Bereich anGrundlagenforschung, wo wir exzellent sind, sollten wir beibehalten. Wir sollten aber den Mut haben, auch im Bereich der angewandten Forschung umzustrukturieren, und zwar auf die Notwendigkeiten hin, was der Markt in den nächsten 10 oder 15 Jahren erfordert. Wir müssen bereit sein, national zu emotionalisieren und dann die Wettbewerbsmöglichkeiten herauszufinden, die unsere Wirtschaft stärken. Die Amerikaner tun es, auch die Japaner durch ihr MITI. Nur wir lernen nicht dazu.Lassen Sie mich, wenn ich mir die Debatte von heute morgen angucke, in der krampfhaft versucht wurde, sich an Themen vorbeizumogeln, einen weiteren Punkt ansprechen: Wir befinden uns nicht nur in einer strukturellen Krise, in einer strukturellen Rezession, sondern auch in einer Identitätskrise. Wir müssen endlich einmal klären — da tragen auch Sie Verantwortung —, wie wir aus dieser negativen Haltung, die unsere Republik beschleicht, herauskommen. Da trägt das Parlament Verantwortung, da tragen auch andere, gesellschaftlich relevante Gruppen Verantwortung. Ich habe es vor wenigen Tagen deutlich gesagt: Auch unsere Medien tragen hier Verantwortung. Wir können neue Technologien nicht permanent niederreden oder versuchen, mit Angst dem Bürger den Weg in neue Technologien kaputtzureden. Damit bekommen wir eine Blockadepolitik und merken nicht, daß wir dabei die Wettbewerbsfähigkeit verlieren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: Deregulierung. Das wird ja auch hier immer wieder hochgezogen. Wir haben eine exzellente Forschung; deren können wir uns rühmen. Was uns verlorengegangen ist, ist die Identifizierung mit diesen Forschungsergebnissen, daß wir stolz auf die Produkte sind, die wir herstellen.
— Stolz auf die Produkte, die wir herstellen. Andere Länder machen es uns vor. Bei uns wird es teilweise als Makel hingestellt. Bei uns ist Mäkeln an der Tagesordnung.
— Doch, das ist die Wahrheit, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wenn ich mir angucke, wie uns das andere Länder vormachen, dann muß ich sagen: Wir müssen uns sputen, daß wir in diesen Wettbewerb mit eintreten können. Gucken Sie sich bitte die Diskussion der letzten Tage und Wochen über das Chemikaliengesetz an, was uns hier präsentiert worden ist. Hier müssen wir dringend eine Entrümpelung vornehmen.Nehmen Sie bitte das Tierschutzgesetz. Gehen Sie bitte in Ihre eigene Fraktion hinein, die nicht einmal in der Lage war, die dringenden Notwendigkeiten seitens der Forschungsklientel hier mit umzusetzen. Sie haben sich der Stimme enthalten. Da sind doch die wahren Bremser in unserer Republik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich einen weiteren Punkt ansprechen: Transrapid. Heute
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18401
Erich Maaß
morgen stellt sich im Frühstücksfernsehen Ihr umweltpolitischer Sprecher hin und sagt: Um Gottes willen, der Lärmpegel dieses Transrapid ist ja so gewaltig, deshalb wollen wir ihn nicht haben. Eine Stunde später lese ich eine Presseerklärung Ihres forschungspolitischen Sprechers, der sich hinstellt und sagt: Die Technologie ist ja gut, aber die Strecke paßt uns nicht, und deshalb wollen wir ihn nicht haben. Eine Stunde später stellt sich Herr Lafontaine hier hin und sagt: Die Option für die Zukunft ist so katastrophal, lassen wir es lieber gleich sein!Wenn die Reichsbedenkenträger bei Ihnen weiterhin solche Urständ feiern, dann werden Sie zum Risiko, zum Risiko dieses Standorts Bundesrepublik Deutschland. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Da tragen Sie mit Verantwortung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier müssen wir bitte anfangen. Ich habe jetzt bewußt versucht, so extrem zu polarisieren. Da tragen auch Sie Verantwortung. Dieser Verantwortung müssen Sie gerecht werden.Gehen Sie bitte nach Niedersachsen, und überlegen Sie sich folgendes. Vor einem Jahr noch wollte Herr Schröder bundesweit Rot-Grün machen. Jetzt stellt er sich hin und sagt: Nein, wir wollen allein regieren. Wenn er aber in Technologiefragen kritisiert wird, sagt er: Ich kann nicht, ich habe ja einen Koalitionspartner!So ein Liebeswerben um diesen Koalitionspartner beginnen Sie auch bundesweit. Wenn ich mir die Beschlüsse der GRÜNEN und des BÜNDNISSES 90 angucke, die diese vor wenigen Tagen auf ihrem Parteitag gefaßt haben, dann kann ich nur feststellen: Wenn so etwas in dieser Republik Wahrheit wird, dann gute Nacht, diese Republik! Das wird zum Risiko. Damit sichern wir nicht den Standort und schaffen wir keine Arbeitsplätze.
Ich bitte Sie, das zu bedenken.Herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus Lennartz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung zeigt deutlich, daß die Bundesrepublik von einer ökologischen Umorientierung unserer Volkswirtschaft meilenweit entfernt ist. Die volkswirtschaftliche Krise ist auch darauf zurückzuführen, daß die Bundesregierung die Zukunft verschlafen hat. Die Modernisierung unserer Volkswirtschaft, die von Unternehmensverbänden und auch von der F.D.P. mit Nachdruck eingefordert wird, findet sich im Jahreswirtschaftsbericht nur mit einer Aneinanderreihung von Worthülsen wieder. So klingt der umweltpolitische Teil Ihres Jahreswirtschaftsberichts so, als stünde die Bundesregierung erst am Anfang der Regierungsarbeit, meine Damen und Herren. Tatsächlich stehen Sie nicht nur am Ende einer Legislaturperiode, sondern auch am Ende Ihres Lateins und — die Spatzen pfeifen es doch vom Dach — auch am Ende Ihrer Regierungszeit.
Herr Maaß, Sie sprechen davon, es gäbe eine Krise, wenn wir an die Regierung kämen. Wer hat denn die höchste Arbeitslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg verursacht? Wer hat denn die höchste Verschuldung nach dem Zweiten Weltkrieg verursacht? Wer hat denn die höchste Zahl an Insolvenzen seit dem Zweiten Weltkrieg und die höchste Kriminalitätsrate nach dem Zweiten Weltkrieg verursacht? Sie sind doch diejenigen, die die Ursachen dafür mit geschaffen haben. Das ist doch das Ergebnis Ihrer Politik von zwölf Jahren.
Sie tun hier in Ihren Reden so, als fingen Sie erst heute an.Die Bundesregierung ignoriert die Tatsache, daß der Markt für Umwelttechnik in der Bundesrepublik mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6 % stark expandiert. Diese Rate, meine Damen und Herren, könnte noch viel höher sein.Unser Land verdankt seinen Wohlstand auch den hohen Umweltstandards, die Innovationen gefördert haben. Jede Mark, die in den Umweltschutz investiert wird, bringt einen volkswirtschaftlichen Nutzen von 5 DM. Es ist ein Armutszeugnis, daß die Bundesregierung diesen positiven Umwelttrend nicht verstärkt, sondern heute noch mehr als in den vergangenen Jahren deutlich verhindert, meine Damen und Herren.So muß der Jahreswirtschaftsbericht verschleiern und vertuschen, daß diese Regierung fast alle in der Regierungserklärung versprochenen umweltpolitischen Ziele nicht erreicht, sondern längst aufgegeben hat. Das ist die Wahrheit.Wir wollen, meine Damen und Herren, eine ökologische Steuerreform, um neue Produkte zu fördern und neue Marktchancen zu eröffnen. Sie haben das finanzpolitische Instrumentarium bisher nicht für den Umweltschutz genutzt. Wir wollen eine strikte Durchsetzung des Verursacherprinzips, des Vorsorgeprinzips und des Kooperationsprinzips. Sie haben die regierungsamtliche Umweltpolitik wirklich zum Reparaturbetrieb verkommen lassen, die nur auf Umweltschäden reagiert, statt Vorsorge zu betreiben und Weichen für eine umweltgerechte Industriegesellschaft zu stellen.
Wir wollen ein Bundesbodenschutzgesetz. Sie schaffen es seit Jahren nicht, einen ordentlichen Gesetzentwurf überhaupt vorzulegen. Wir wollen eine wirksame Klimaschutzpolitik, die Ihr eigenes Versprechen, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 um ein Viertel bis ein Drittel zu senken, auch umsetzt. Dies ist im nationalen Interesse und auch für unsere internationale Glaubwürdigkeit gut.
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18402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Klaus LennartzFür Sie spielt dieses Ziel nur in Sonntagsreden eine Rolle. Die großen Versprechungen, die Sie in Rio durch Bundesumweltminister Töpfer gemacht haben, sind doch längst Makulatur.Wir wollen eine internationale Harmonisierung der Umweltschutzstandards, und zwar auf hohem Niveau. Sie haben den deutschen Einfluß in der EG nicht genutzt, um Umweltdumping in den anderen Mitgliedsländern und damit die Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen zu verhindern. Dies ist von Ihnen zu keiner Stunde, zu keinem Tag in Europa genutzt worden.
Wir wollen, daß alle, die Energie sparen, auch steuerlich entlastet werden. Sie haben in den vergangenen Jahren die steuerliche Förderung von Energiesparmaßnahmen und Energieeffizienz doch fast gegen Null gefahren. Sie haben es zu verantworten, daß die großen Wettbewerbschancen gerade auf diesen Sektoren von der deutschen Industrie wirklich nicht genutzt werden konnten. Das ist Ihre Politik, und Ihre Politik hat das zu verantworten.Die traurige Wahrheit in Deutschland ist, daß die jahrelangen Versäumnisse der Bundesregierung in der Umweltpolitik den Wirtschaftsstandort Deutschland unmittelbar schädigen. Das geistige Vermögen unserer Ingenieure und Erfinder vergammelt doch in den Schubladen des Bundespatentamtes, da diese Regierung sich nicht darum kümmert, die Entwicklung und die Markteinführung neuer Techniken zu koordinieren und zu fördern.So beklagt beispielsweise die deutsche Automobilindustrie — gestern waren Michael Müller und unsere Arbeitsgruppe bei einem großen deutschen Automobilkonzern —, daß für ein Unternehmen allein beispielsweise die Entwicklung eines Keramikmotors zu teuer ist. Währenddessen, Herr Maaß, zwingt das japanische Handelsministerium Forschung und Lehre an einen Tisch mit den japanischen Autobauern und koordiniert und finanziert deren gemeinsame Entwicklung eines Keramikmotors mit. Das ist eine vernünftige, zielorientierte Industriepolitik. Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen. Das ist eine Politik, die auch von uns in dem Sinne mit übernommen werden müßte.
So sehen eine aktive Industriepolitik und eine ökonomische Umweltpolitik aus, meine Damen und Herren. Lassen Sie es mich einmal lax formulieren: Bei Ihnen muß das Erfinden ja neuerdings neu erfunden werden, so wie Sie mit unseren Techniken und mit unserer Forschung umgehen.
Umweltfreundliche Produktionsverfahren und Produkte werden zu wenig oder gar nicht steuerlich genutzt. Erneuerbare Energien: Dieser Markt der Zukunft stagniert hier bei uns im wahrsten Sinne des Wortes und fristet ein Exotendasein, weil diese Bundesregierung kein Interesse daran hat, die Markteinführung erneuerbarer Energien zu unterstützen. Statt dessen setzt Wirtschaftsminister Rexrodt alle Hebel in Bewegung, um den Konzentrationsprozeß in derStromwirtschaft noch weiter zu beschleunigen und so eine gestaltende Energiepolitik in Zukunft noch schwieriger als heute zu machen.Nein, meine Damen und Herren, zu oft hat diese Regierung in den vergangenen Jahren mit bunten Sträußen in der Umweltpolitik Aktionismus vorgegaukelt, statt sachlich etwas zu bewegen. Nun stehen Sie vor dem Scherbenhaufen einer Umwelt- und Wirtschaftspolitik, die ihren Namen wahrhaftig nicht verdient. Weil Sie nichts vorzuweisen haben, zieht der Umweltminister jetzt durch die Lande und verkauft einen geringfügigen Rückgang von CO2-Emissionen, der eindeutig, Herr Ost, durch Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit verursacht wurde, als Erfolg der Klimaschutzstrategie der Bundesregierung — welch ein Hohn zu Lasten der Arbeitslosen, meine Damen und Herren.
Hinzu kommt: Man schämt sich nicht, eine derartige Politik hier noch als Erfolg zu verkaufen.Sie haben auf dem Hamburger Parteitag versucht, den Begriff der ökologischen Marktwirtschaft in das Parteiprogramm der CDU aufzunehmen. Doch Sie lassen den Worten keine Konzepte und erst recht keine Taten folgen. Wenn man sich ansieht, wer dort wofür gestimmt hat, dann weiß man doch, daß das reine Makulatur ist. Es ist das Papier nicht wert, auf dem diese Worte geschrieben sind, meine Damen und Herren.
So wird das Ende Ihrer Regierungszeit vom Ergebnis der umweltpolitischen Klausurtagung der CDU/ CSU-Fraktion im letzten Jahr gekennzeichnet, wonach bis Oktober 1994 kein Umweltgesetz und keine Umweltverordnung mehr angefaßt werden. Das ist eine traurige Bilanz, meine Damen und Herren, die allerdings in das Gesamtbild paßt: Lähmung, Stagnation, Rückschritt.Die Menschen im Land haben in diesem Jahr des öfteren Gelegenheit zu zeigen, was sie von dieser Art Politik halten. Wir sind überzeugt, daß sie es sehr deutlich zeigen werden; denn weder Natur noch Wirtschaft kann diese Regierung weiter zugemutet werden, meine Damen und Herren.Visionen, neues Handeln, neues Denken für das 21. Jahrhundert und praktische Politik für die Menschen heute und am morgigen Tag sind gefragt; aber dazu ist diese Regierung nicht mehr fähig.
Das Wort erteile ich nun der Abgeordneten Frau Dr. Maria Böhmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es würde mich schon reizen, muß ich sagen, dem Kollegen Lennartz einiges mit auf den Weg zu geben, was die Umweltpolitik anbetrifft. Gerade weil Sie den letzten Parteitag der CDU erwähnt haben, wo wir die Weichenstellung hin zur ökologischen und sozialen Marktwirtschaft vorge-
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Dr. Maria Böhmernommen haben, kann ich Ihnen nur eines mit auf den Weg geben: Ihre Rede zeichnet sich dadurch aus, daß Sie Entwicklungen und Fakten ignorieren und nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Wir haben heute sehr viel darüber gehört, daß Innovation ein ganz zentrales Element ist, um den Standort Deutschland zu sichern — Innovationen sicherlich nicht nur im Bereich Forschung und Entwicklung, sondern Innovation auch im Bereich der Arbeitszeitmodelle. Auf diesen Punkt möchte ich unter einem ganz besonderen Aspekt eingehen. Wir haben heute immer allgemein über die Arbeitslosigkeit und deren Bekämpfung gesprochen. Aber: Zwei von drei Arbeitslosen sind Frauen; und die Weichenstellungen, die wir vornehmen müssen, müssen auch dazu geeignet sein, die Arbeitslosigkeit von Frauen konkret zu bekämpfen. Ich sehe hier eine große Chance bei dem Beitrag, den der öffentliche Dienst im Hinblick auf mehr Arbeitszeitflexibilisierung leisten kann, und zwar im Sinne einer Vorreiterfunktion, die es zu übernehmen gilt.
Da wir in diesem Bereich von der Opposition heute oft mit leeren Formeln konfrontiert worden sind, möchte ich Ihnen einen Rat geben: Wer nach einem Programm zur Schaffung von mehr Teilzeitarbeitsplätzen fragt, sollte sich ganz genau den Entwurf für das Zweite Gleichberechtigungsgesetz der Bundesregierung ansehen.
Hier werden Nägel mit Köpfen gemacht; hier wird Ernst gemacht mit der Umsetzung von mehr Flexibilität im öffentlichen Dienst.Ich denke, daß wir mit Recht sagen können: Die Bundesregierung verfährt schon jetzt entsprechend dieser Vorschläge für zukunftsweisende Regelungen zur Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst. Es ist eine Vorreiterrolle, die ihr zukommt, für die Wirtschaft, aber auch für den Bereich des öffentlichen Dienstes der Länder und der Kommunen. Da hoffe ich, daß gerade in den Ländern, in denen die SPD an der Regierung ist, endlich einmal Farbe bekannt und nicht nur geredet wird.
Teilzeitbeschäftigung darf auch nicht so aussehen, daß Teilzeitbeschäftigte die Stiefkinder des Arbeitsmarkts sind. Wer die neue Studie von McKinsey liest, sieht sehr wohl, welch große Chance hier liegt. Über zwei Millionen Arbeitsplätze mehr bietet die Flexibilisierung. Aber das bedeutet auch, daß wir von starren Denkmustern wegkommen müssen, daß endlich das greift, was wir schon seit vielen Jahren fordern und was im gewerkschaftlichen Bereich oft auf Betonmauern stieß. Dort wurde mehr Flexibilisierung abgelehnt. Die Gewerkschaften müssen sich heute fragen lassen, ob sie damit wirklich die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten haben. Ich meine, nein.
Gefordert werden mehr Flexibilität und mehr Kreativität. Wer die Zukunft unter dem Gedanken sieht, daß Computer- und Glasfasertechnik weitere Verbreitung finden werden, sieht hierin auch die Chance für eine stärkere Lösung der örtlichen und zeitlichen Bindung des Arbeitsplatzes. Wir sollten nicht beim Reden stehenbleiben und neue Modelle nicht nur freudig begrüßen und um publizistische Aufmerksamkeit für sie werben, sondern jetzt geht es darum, in die konkrete Umsetzungsphase zu kommen.Ich verstehe, daß dies für manchen mittelständischen Unternehmer gar nicht so einfach ist. Deshalb brauchen wir hier mehr Information und mehr Beratungshilfen.Ich will überwechseln in den Bereich, in dem wir in der Tat eine Vorreiterfunktion wahrnehmen müssen, nämlich in den öffentlichen Dienst. Wenn Teilzeitarbeit dort ein Privileg für weibliche Angestellte und für Beamtinnen des mittleren Dienstes ist, so ist dies eine klare Verkennung der Chancen. Wenn es in der Hälfte der Ressorts im höheren Dienst gar keine Teilzeitbeschäftigten gibt, so müssen wir diesen Bereich endlich enttabuisieren. Es darf nicht nur Teilzeitarbeit für Sekretärinnen geben, es muß auch Teilzeitarbeit für die Chefinnen und für die Chefs geben.
Ich wünsche mir auch, daß wir möglichst schnell zu konkreten Ergebnissen bei der Umsetzung des Zweiten Gleichberechtigungsgesetzes kommen. Dies ist konkreter Bestandteil des Aktionsprogramms der Bundesregierung und bedeutet, daß wir keine zeitliche Begrenzung für Teilzeitarbeit mehr haben, wenn sie auf Grund familiärer Verpflichtungen in Anspruch genommen wird, und daß wir dafür sorgen wollen, daß es für diejenigen, die sich für Teilzeitarbeit entscheiden, keinen Karriereknick mehr gibt. Die Realität war in der Vergangenheit leider oft eine andere. Deshalb ist es wichtig, daß im Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung festgeschrieben ist: Teilzeitarbeit darf das berufliche Fortkommen nicht beeinträchtigen.Ich sage Ihnen: Ich wünsche mir keine Verhältnisse wie in den Niederlanden, wo es zwar einen hohen Anteil Teilzeitbeschäftigter gibt, wo aber die in vielen Fällen nicht sozialversicherungspflichtig abgesicherte Teilzeitarbeit dringend verbesserungsbedürftig ist. Wir wollen in eine andere Richtung: Wir wollen attraktive, sozialversicherungspflichtig abgesicherte Teilzeitarbeitsplätze haben, und wir wollen alle Möglichkeiten ausschöpfen, die hier ergriffen werden können. Dafür ist ein Bündnis der Tarifpartner notwendig, dafür ist es notwendig, die Ideen, die von dem Aktionsprogramm ausgehen, so schnell wie möglich umzusetzen. Dafür ist es notwendig, daß die Initiativen, die die Bundesregierung für ihren eigenen Bereich ergriffen hat, wirken und möglichst viele Nachahmer finden. Dann, denke ich, haben wir heute
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Dr. Maria Böhmernicht nur in einigen Bereichen Forderungen aufgestellt, sondern wir sind auch bereits in einer Phase, in der man sagen kann, daß sich in bezug auf mehr Arbeitsplätze in Deutschland schon konkret etwas geändert hat.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Der Regierungschef des Saarlandes, eines Landes, das sich nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in einer extremen Haushaltsnotlage befindet und das seit Jahren kontinuierlich verfassungswidrige Haushalte fährt,
hat heute morgen in der ihm eigenen Art der Bundesregierung Unstetigkeit in der Finanz- und Steuerpolitik vorgeworfen. Da kamen mir Erinnerungen an die stundenlangen und nächtelangen Verhandlungen um und in Vermittlungsverfahren dieser Legislaturperiode — allein sechs aus dem steuerpolitischen Bereich —, die wir gemeinsam geführt und begleitet haben. Er hat überwiegend teilgenommen, und ich hatte einen Sperrsitzplatz. Dann kam mir der Verdacht: Das einzig Unstetige ist die finanzpolitische Denke von Oskar Lafontaine, der sich immer wieder zu populistischen Äußerungen gerade in Fragen der Unternehmensteuerreform hinreißen läßt. Dabei will ich ihm gar nicht einmal einen so großen Vorwurf machen, denn mit den Ländern — auch das sei einmal gesagt — war es in diesem Vermittlungsverfahren noch besser als mit der Bank der Bundestagsabgeordneten. Mit ihnen alleine hätten wir diese guten Ergebnisse überhaupt nicht erreichen können.Aber beim FKP war das etwas anders. Da rangen uns die Länder nicht nur 7 Prozentpunkte bei der Mehrwertsteuer ab, nachdem sie uns vorher für die Konversion schon 2 Prozentpunkte abgerungen hatten — insgesamt also 9 —, sondern sie lasteten uns auch noch über 400 Milliarden DM Erblastschulden an, 230 Milliarden DM Treuhand, 140 Milliarden DM Kreditabwicklungsfonds, 31 Milliarden DM kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsbau. Dann geht man hier und heute her und wirft uns, dieser Regierung, eine zu hohe Verschuldung vor. Sie ist natürlich zu hoch; aber wir haben sie, wie allein an diesem Beispiel klar wird, doch nicht zu vertreten.Ich kann immer nur wieder sagen: Unsere Steuerstrategie und Steuerphilosophie ist geradlinig. Sie läßt sich auf eine einzige Feststellung zurückführen, nämlich möglichst niedrige Steuersätze bei möglichst wenigen Ausnahmen haben zu wollen. Ich räume ein, daß wir diese Geradlinigkeit nicht haben durchhalten können, aber doch nur deshalb nicht, weil wir in den Vermittlungsverfahren immer wieder zu unglaublichen Kompromissen gezwungen worden sind. Wenn dann Sie, lieber Herr Kollege Jens — Sie wissen, daß ich Sie schätze —, und Oskar Lafontaine heute auf einmal meinen, ihr Herz für den Mittelstand entdekken zu sollen,
dann wundert mich das schon sehr.Ich bringe Ihnen in Erinnerung: Welcher Widerstand von Ihnen regte sich gegen die Nichteinführung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer in den neuen Ländern und gegen die Reduzierung der Sätze dieser Steuerarten in den alten Bundesländern! Ich bringe Ihnen weiter in Erinnerung: Wir hatten es im Kompromißwege kaum geschafft, die Freibeträge bei der Vermögensteuer — sie sind für den Mittelstand von existentieller Bedeutung — und für den Erbfall auch bei der Erbschaftssteuer in das Gesetz hineinzuschreiben, da haben Sie Überlegungen angestellt, sie wieder zu kassieren. Ich denke an die leidvolle Diskussion um die notwendige Senkung der Steuersätze.
Wir wollten den Körperschaftsteuersatz und den Einkommensteuersatz unter 45 % einheitlich senken. Im Kompromißwege haben wir ganz mühsam einen Satz von 45 % bei der Körperschaftsteuer und einen Satz von 47 % bei der Einkommensteuer erreicht. Für neun von zehn mittelständischen Unternehmen ist die Einkommensteuer überhaupt d i e Unternehmensteuer. Diese Steuersätze haben wir Gott sei Dank, wenn auch mühsam, für den Mittelstand durchsetzen können.Oder noch ein anderes Beispiel: Die eigenkapitalschonende Ansparabschreibung, die wir erdacht haben, könnte jetzt schon, seit 1. Januar 1994, in Kraft sein. Nein, im Vermittlungsverfahren mußten wir uns auf den Kompromiß einlassen, sie erst zum 1. Januar 1995 einzuführen.Oder die Diskussion um die Spargesetze: Es war doch abenteuerlich, wie dort polemisiert worden ist. Von sozialem Kahlschlag und von allem möglichen war da die Rede. Wie wollte man refinanzieren? In der Diskussion war doch nur, den Solidaritätszuschlag zeitlich nach vorn zu ziehen oder/und die Mineralölsteuer über die 16 Pfennig pro Liter hinaus nachhaltig zu erhöhen, also immer nur weitere Belastungen für unsere Wirtschaft.Lassen Sie mich hinzufügen: Wir müssen konsequent — so schwierig der Weg auch ist — an unseren Überlegungen hinsichtlich der Unternehmensteuern festhalten. Das werden wir tun. Wir müssen die Gewerbekapitalsteuer weghaben, wir müssen die Gewerbeertragsteuer vermindern, die in das europäische Konzept überhaupt nicht mehr hineinpaßt, und wir müssen auch von den zu hohen, immer noch gesplitteten Steuersätzen herunter. Das können wir natürlich erst dann leisten, wenn wir den Haushalt konsolidiert haben.Eigentlich sollte ich hier zum Umwandlungssteuerrecht sprechen. Dazu nur noch einen Satz. Auch das ist ja gerade für die mittelständischen Unternehmen von
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18405
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldganz großer Bedeutung. Es macht überhaupt gar keinen Sinn, wenn wir ein neues Umwandlungsrecht schaffen, aber das gleichzeitig mit Nachteilen, etwa der Versteuerung stiller Reserven oder aber der Einbußen von Verlustvorträgen, verbinden. Deswegen müssen wir dieses Umwandlungsrecht mit dem steuerlichen Umwandlungsrecht begleiten, damit wir auch in diesem Bereich ein Mehr an dringend notwendiger Flexibilität für unsere Unternehmen erwirken. Ich lade Sie herzlich ein, dabei mitzumachen.Schönen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Krause .
Herr Präsident! Liebe 22 anwesende Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Wirtschaftsbericht ist eine Bilanz. Die Wirtschaftsbilanz der Bundesregierung 1993/94 ist die folgende:
Erstens — das wurde von einigen Rednern der SPD schon gesagt —: steigende Arbeitslosigkeit ohne konkrete Programme für Beschäftigung in arbeitsintensiven Wirtschaftszweigen.
Zweitens: nahezu eine Verdoppelung der Staatsverschuldung auf über 2 Billionen DM bei ständig steigenden Nettozahlungen an das Ausland. Ich denke nur an die enorme Steigerung der Nettozahlung an die EG in diesem Jahr.
Drittens: Steigerung der Kriminalität — es ist sehr makaber, das zu sagen — um jeweils eine Million Straftaten pro Innenminister. Der jetzige, der dritte Innenminister hat alle Chancen, diese Steigerung um eine Million auch noch zu erreichen. Warum gehört das hier in diesen Bericht? Massenkriminalität ist ein Wirtschaftsfaktor geworden.
Viertens: Immigration von einer Million Menschen allein 1993 ohne Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie belastet die deutsche Wirtschaft gegenüber ausländischen Konkurrenten, die nicht mit annähernd gleichen Soziallasten für diese zusätzlichen Menschen — Deutsche wie Nichtdeutsche — fertig werden müssen.
Fünftens: die Demontage der mitteldeutschen Industrie, und zwar eine gründlichere Demontage, als sie der angloamerikanische Bombenterror des Zweiten Weltkrieges und die darauffolgenden Demontagen 1946 bis 1955 zusammen fertiggebracht haben. Das ist die nackte Wahrheit.
Verbunden damit sind bis zu 80 % Gewerbeabmeldungen gegenüber Neuanmeldungen in einigen mitteldeutschen Regionen mit bisher ungekanntem menschlichen Leid.
Herr Dr. Krause, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Janzen zu beantworten?
Ja, bitte.
Herr Kollege Krause, würden Sie mir bitte mal interpretieren, was Sie unter „mitteldeutsch" verstehen?
Mindestens Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen; der Rest ist Norddeutschland in den Ländern der ehemaligen DDR.Demontage der mitteldeutschen Industrie — was sich da an menschlichem Leid in einer Weise auftut, für die es in der DDR-Zeit seit den letzten Zwangsaussiedlungen 1961 keine Übung mehr gab! Man muß sagen, das ist nicht nur Morgenthau, das ist schon Abendrot ohne Chancen auf Wiederbeschäftigung.Was braucht Deutschland, damit dies nicht so weitergeht? Wir brauchen, wie andere Hochsozialländer auch, eine protektionistische Handelspolitik, ähnlich wie sie die USA in ihrem § 301 des Handelsgesetzbuches haben. Allerdings sind die USA noch lange kein Sozialstaat.Aber nicht nur Deutschland braucht das. Wir können das mit einigen anderen gemeinsam machen, mit den Beneluxländern, mit Dänemark z. B. auch. Aber darüber hinaus mit allen zu teilen — ich komme gleich im einzelnen darauf —, das geht auf die Dauer nur mit ständig steigender Arbeitslosigkeit.Die Hauptursachen für diese Negativbilanz sehe ich im Abschnitt D dargelegt: „Mit offenen Märkten die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung ausschöpfen" . Nein, es fehlt hier im Bericht völlig eine Kritik, es fehlen Alternativen. Es ist eine Lobeshymne, wie ich sie aus Zeitungen über Günter Mittags Reden auf SED-Parteitagen kenne.Es fehlt völlig, welche Marktanteile bei uns in Deutschland in Zukunft an Billigimporteure abgegeben werden sollen. Wer soll denn als nächster abgewickelt und arbeitslos werden? Wenn ich hier z. B. lese, die Zölle wurden durch GATT um ein Drittel gesenkt, dann gilt das aber natürlich nicht nur für deutsche Waren für andere Länder. Sie werden bei diesen niedrigeren Zöllen natürlich auch Billigimporte aus Billiglohnländern hereinnehmen und nicht unbedingt in dem teuren Hochlohnland Deutschland kaufen.Der neue Antidumpingkodex, wo ist er? Dumpingpreise, Dumpinglöhne und Dumpingumweltbedingungen in Europa kommen über die Grenze des freien Marktes herein. Ganz konkret wird es, wenn ich hier von der längerfristigen Bildung einer Freihandelszone zwischen Europäischer Union und Rußland, vorher noch mit den anderen Ländern, lese.Hier wird die Arbeitsbilanz mit dem Handel für uns immer negativer. Wir werden immer mehr Billigprodukte mit hohen Arbeitsstunden einführen, mit gleicher Technologie, oft von den gleichen deutschen Firmen im östlichen Ausland gefertigt. Hier werden nur noch einige wenige Produktionszweige bleiben, die sowieso nur wenig Arbeitsplätze bieten.Wenn es so mit Freihandel und Billiglohnländern weitergeht, dann wird der Verfall des Sozialstaats, wie er sich jetzt in den neuen Bundesländern schon sehr drastisch zeigt, auf dreierlei Weise vorangehen. Ich habe das hier schon des öfteren gesagt.
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18406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. Rudolf Karl Krause
Erstens. Alles, was anderswo billig produziert werden kann, wird immer mehr importiert werden. Dienstleistungen werden ausgeflaggt.Zweitens. Investitionen schaffen in der Regel keine neuen Arbeitsplätze, sondern mit höherer Technologie wirken sie sich sogar negativ auf den Arbeitsmarkt aus, wobei die Subventionen für neue Investitionen die anderen deutschen Wirtschaftszweige anteilig noch belasten.Drittens. Dauerarbeitslosigkeit — das sehen wir gerade z. B. im fleißigen Sachsen-Anhalt — bei hochqualifizierten und arbeitswilligen Menschen führt zu stabilen Handwerks- und Dienstleistungsbranchen des grauen Marktes ohne Lohnnebenkosten. Wenn jemand vorher neben seiner Arbeit 30 bis 40 Schweine mit Kiepe und Karre gefüttert hat und jetzt mit 40 oder 45 Jahren gezwungen ist, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben, braucht man sich nicht zu wundern, wenn drei oder vier Wohnungen ohne eine Mark Lohnnebenkosten ausgebaut werden.Die fleißigen Menschen, die durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Arbeitslosigkeit gezwungen werden, werden sich heute genauso, wie es in der DDR nach Feierabend möglich war, zumal es keinerlei Zulieferungsbeschränkungen durch Baumärkte oder irgend etwas gibt, einen grauen Markt schaffen, der die größte Gefahr für die Beibehaltung unseres Sozialstaates darstellt.Die Zukunft braucht die Renationalisierung der Wirtschaft und vor allem der Handelspolitik. Deutschland muß in allen seinen Regionen wieder Wirtschaftsstandort werden —
Herr Abgeordneter Dr. Krause, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
— und nicht nur eine Absatzkolonie internationaler Handelsimperien.
Wir brauchen deshalb eine Umkehr der bisherigen Wirtschafts- und Freihandelspolitik.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist irgendwie der Tag, an dem man ein wenig auf Namen anspielt. Das war wirklich krauses Zeug.
Die Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt kommen inzwischen leider immer öfter. Die von uns seit längerem befürchtete Arbeitsmarktlücke von etwa 6 bis 7 Millionen Arbeitsplätzen wird inzwischen auch von der Wirtschaft befürchtet und bestätigt.Jetzt setzt die Wirtschaft selbst noch eins drauf. Ein weiterer Anstieg der offenen erfaßten Arbeitslosigkeit auf 4,5 Millionen wird inzwischen allein im Laufe dieses Jahres erwartet. Dann würden uns inzwischen also sage und schreibe 6,5 bis 7,5 Millionen Arbeitsplätze fehlen. Das ist das Ergebnis.Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund der größten und offensichtlich folgenreichsten Konjunktur- und Strukturkrise der Nachkriegszeit ist die Zurückhaltung dieser Bundesregierung in bezug auf Maßnahmen zur Überwindung der Lähmung in der Wirtschaft schon sehr befremdlich. Die Bundesregierung geht mit ihren wirklich sehr verhaltenen Bemühungen um eine Belebung der Wirtschaftstätigkeit das Risiko ein, daß der Arbeitsmarkt und die Wirtschaft dieses Landes einen Grabenbruch erleiden, eine Verwerfung, von der sie sich womöglich nie wieder richtig erholen können.Was j etzt her muß, ist vor allem ein Konjunktur- und Beschäftigungsprogramm bisher nicht gehabten Umfangs. Die 250 Milliarden Dollar der japanischen Regierung zur Konjunkturankurbelung geben einen Eindruck davon, wie in vergleichbaren Ländern die Krise wahrgenommen und beantwortet wird.Vor allem muß — das fordert zu Recht z. B. die Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik" — die Nachfrage angekurbelt werden. Öffentliche Aufträge müssen erhöht und vorgezogen werden. Die Sozialleistungen müssen stabilisiert werden, statt weiter gekürzt zu werden. Die Lohn- und Gehaltsentwicklung muß stabilisiert werden. Die Erhöhung der Kaufkraft der Konsumenten ist kein Allheilmittel — das muß man immer wieder betonen —, aber sie ist unerläßlich zum Durchstarten, und es muß jetzt endlich konjunkturpolitisch durchgestartet werden.Angesichts der unbestreitbaren Strukturprobleme der Wirtschaft — Maschinenbau, sonstiger Anlagenbau, sonstige Investitionsgüterindustrie, also Fahrzeugbau, Chemie, Elektronik- und Elektroindustrie — müssen die Forschungs- und Entwicklungsleistungen ausgebaut werden — diese Bundesregierung kürzt die entsprechenden Ansätze —, müssen Synergieeffekte von öffentlicher Forschung und privatwirtschaftlicher Entwicklungstätigkeit systematisch gefördert werden, müssen Hochschuleinrichtungen und deren Zusammenarbeit mit den Betrieben ausgebaut werden.Um die Innovationsprobleme der Wirtschaft besser zu lösen als bisher, müssen Beteiligungsmöglichkeiten für die Beschäftigten geschaffen werden, vom betrieblichen Vorschlagswesen bis zum Patentrecht und bis hin zu technologischen Initiativrechten z. B. für die betrieblichen Interessenvertretungen. Solche Ansätze müssen geschaffen bzw. verbessert werden.Um den Wagemut, die Risikobereitschaft in der Wirtschaft zu erhöhen, muß der kalte Griff der Banken und des sonstigen Finanzkapitals, die sich ja am liebsten hundertprozentige Sicherungen geben lassen und zugleich für das nicht oder kaum vorhandene Risiko saftig kassieren, auf die produzierende Wirtschaft gelockert werden. Nicht umsonst gelten deutsche Finanzierungsinstitute im internationalen Vergleich als besonders risikoscheu. Aber auch der Staat
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Dr. Ulrich Briefsmuß hier, wenn das deutsche Finanzkapital mauert, in die Bresche springen und Innovationsrisikokapital zur Verfügung stellen, für kleine und mittlere Betriebe, aber auch für Alternativprojekte, für ökologische und soziale Initiativen und — wichtig ist das z. B. in Berlin — für Frauenprojekte.Einiges, allerdings noch viel zuwenig, geschieht zum Glück auf Landes- und Kommunalebene. Aber was nutzt alles Bemühen auf der Länderebene und in den Gemeinden, wenn die Bundesregierung nicht mitzieht, wenn sie nicht vorangeht, zumal und obwohl sie ja ganz andere und viel umfangreichere Mittel zur Verfügung hat?Der Verzicht dieser Bundesregierung auf konjunktur- und beschäftigungsstimulierende Ankurbelungsmaßnahmen, das einseitig angebotsorientierte Herumfingern an den sogenannten Rahmenbedingungen — ein völlig unzureichendes Ersatzhandeln — mit der Konsequenz des massiven Sozialabbaus und des Abbaus von Schutzrechten der Beschäftigten lasten auf der Wirtschaft dieses Landes und lähmen ihre über die Nachkriegszeit hinweg immer wieder bewiesene Bereitschaft, Auswege aus Krisensituationen zu finden. Dieses Mal steht jedoch zu befürchten, daß es womöglich bei einer Dauerdepression in weiten Bereichen der Wirtschaft bleibt.Weil in der Vergangenheit die Wirtschaft — das muß man auf der anderen Seite auch sehen — bei der Krisenbewältigung immer wieder Entwicklungen in Gang gesetzt hat, die neue Krisenbedingungen geschaffen haben, z. B. in Form moderner, teurer, heute großenteils urausgelasteter Überkapazitäten, müssen industriepolitische Ansätze her. Deshalb müssen Absprachen, verbindliche Konsensbildungsprozesse, Konzertationsstrukturen her, bei denen der Staat eine aufgeklärt moderierende, informierende, indikative Rolle zu spielen hat.Deshalb dürfen diese Krise und der Ausweg aus ihr nicht allein der Wirtschaft überlassen bleiben. Es steht einfach zuviel auf dem Spiel. Das diffuse Hoffen auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft hilft hier einfach nicht weiter.Zu all den Markt-, Nachfrage-, Auslastungs- und in der Folge dann auch Kosten- und Beschäftigungsproblemen kommen ja auch noch die ökologischen Probleme, die ja nicht dadurch verschwinden, daß man vor der weiteren Belastung und Vergiftung von Luft, Wasser, Boden und der weiteren Aufheizung der Atmosphäre die Augen verschließt.Und dennoch — das sage ich ganz bewußt als jemand, der nach wie vor zum grün-alternativen Lager zählt —, erste Aufgabe muß es sein, den Wirtschaftskreislauf wieder richtig in Gang zu bringen, die Beschäftigung drastisch zu erhöhen, die Massenarbeitslosigkeit ebenso drastisch abzubauen. Ein ökologischer Umbau z. B. über eine umfassende ökologische Steuerreform oder eine konsensorientierte Wende in der Energiepolitik können doch erst richtig in Gang kommen, wenn sich eine durchgreifende Besserung am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft insgesamt abzeichnet. Wie wollen wir denn solche Dinge sonst den Menschen in diesem Lande überhaupt verständlich machen?Die tiefe depressive Wirtschaftslage macht ökologische Radikalformeln, nicht jedoch eine Zug um Zug betriebene bewußte und behutsame Ökologisierung der Wirtschaftspolitik obsolet.
Schon gar keine Lösung bringt das kurzatmige Aufstellen von tiefgreifenden Forderungen nach wirtschaftspolitischen Veränderungen wenige Monate vor den Bundestagswahlen, getrieben von der Hoffnung, damit die notwendigen Stimmen zum Wiedereinzug ins Bundesparlament herbeizuschaffen. Wer wirklich etwas beeinflussen will, muß von Anfang an am Ball bleiben. Bei vernünftiger Argumentation ist man dann vielleicht auch eher geneigt, hier und da die roten Socken, die ja unübersehbar sind,
zu übersehen.Kontinuierliche, konzeptionelle, kompetente wirtschaftspolitische Arbeit und ihre Durchsetzung auf breiter Basis sind notwendig, um wirklich einen Ausweg aus der jetzigen Wirtschaftsmisere zu finden. — Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. — Gelingt das nicht, gerät womöglich das ganze, ehedem so stabile politische und wirtschaftliche Gefüge dieses Landes ins Rutschen und stürzt wie das sprichwörtliche Kartenhaus in sich zusammen. Ich denke, das ist ein Risiko, das wir alle nicht haben wollen können.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Liebes sachverständiges Kollegium! Meine Damen und Herren! Ich gehe davon aus, daß in dieser Debatte nur noch die Guten übriggeblieben sind.
Die Situation in Deutschland wird insgesamt tatsächlich immer gespenstischer. Während die Angst umgeht, und zwar eine ganz reale und nicht hinwegzudiskutierende Angst um Arbeitsplätze, leider auch in immer höher qualifizierten Bereichen — denken Sie an unsere Flugzeugindustrie —, die Angst vor der Zukunft und den ungeheuren Belastungen, die hier aufgebaut werden, die Angst vor einer inneren und äußeren Unsicherheit, die immer stärker wird, die Angst vor einer konfusen Rechtssituation, wobei nun auch das europäische Recht mit all seinen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten herüberschwappt, legt die Bundesregierung jede Woche ein neues Programm, neue Initiativen vor. Sie merkt nicht, daß es längst zu einem Programm der Zukunftsverunsicherung, der Hektik, der Instabilität verkommen ist.Die ordnende Hand fehlt. Lieber Herr Ost, Ihre Beiträge sind ja immer wieder zuhörenswert. Ich würde mir nur wünschen und erhoffen, daß auch die Bundesregierung Ihnen einmal zuhört und wenigstens einen Teil von dem umsetzt, was Sie hier
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Ortwin Lowackrichtigerweise als Forderung artikulieren. Es fehlt die Übersicht, es fehlt die Motivation, vor allen Dingen die motivierende Kraft, die von einer Regierung ausgehen muß, wenn sie in der Lage sein will, den Karren aus dem Dreck herauszuziehen.Hier ist vieles über die Bedeutung des Mittelstandes gesagt worden. Ich möchte das noch betonen: Der Mittelstand ist unsere Zukunft, in den Gemeinden und überall. Er ist der Träger der wirtschaftlichen Kraft. Gleichzeitig muß ich aber feststellen: Niemand wurde mehr betrogen, mehr getäuscht, mehr enttäuscht als der Mittelstand — und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, von allen Parteien.Die Union hat eine Mittelstandsvereinigung. Das ist der größte Verein innerhalb der Fraktion überhaupt. Auch ich habe mich dafür ja einmal eingesetzt, bis ich festgestellt habe: In dieser Mittelstandsvereinigung werden nicht nur Betriebe mit zwei Mitarbeitern repräsentiert, sondern auch solche mit 20 000. Wie wollen Sie da eine Mittelstandspolitik betreiben, die tatsächlich hilft, die tatsächlich wirksam ist?Die Sozialdemokratie hat es immer fertiggebracht, ihre Klientel in den Großbetrieben, weil sie gewerkschaftlich nun einmal stärker organisiert war, mit einer Subventionitis zu unterstützen. Diese Milliardentransfers haben woanders dringend gefehlt, wenn es darum ging, so manchen mittelständischen Betrieb dazu zu bringen, erst einmal zu investieren und sich erhalten zu können.Die Freien Demokraten haben ihre Klientel leider immer so berücksichtigen wollen, daß bei den letzten Steuerveränderungen gerade die bedacht wurden, die nichts mit dem Mittelstand zu tun haben.
Die Masse der Betriebe, die heute investieren will, hat deshalb eher unter Steuerverschlechterung zu leiden, als daß sich Verbesserungen ergeben hätten.Alle drei Parteien haben — leider — an wirtschaftlicher Kraft verteilt, haben viele Transfers beschlossen, was überhaupt noch nicht erwirtschaftet war. Das ist das Grundübel unserer Zeit: daß durch die Politik laufend etwas verteilt wird, was überhaupt noch nicht erwirtschaftet wurde, und so neue öffentliche Lasten angehäuft werden.Ich frage: Wo ist denn eigentlich die aufkommensneutrale Investitionsanleihe, die die Mittelstandsvereinigung der Union fordert? Kein Wort darüber heute in dieser Debatte.
— Gut, dann können wir uns darüber gleich noch ein bißchen unterhalten.Warum hat man denn die Abschreibungen ausgerechnet für die mittelständischen Betriebe verschlechtert? Warum hat man denn für die Pioniergeneration der Unternehmer in den neuen Bundesländern mit einem Federstrich des Finanzministers zum Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 die Schulden um 1 000 % aufgestockt, für die Generation von Unternehmern, die heute zusammenbricht, weil sie diese Belastung überhaupt nicht mehr aushält? Was da an unternehmerischem Geist kaputtgemacht wurde, werden wir in den nächsten Jahren noch präsentiert bekommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Mittelstand hat nur dann die Chance, sich zu entwikkeln und dazu beizutragen, das Rückgrat unserer wirtschaftlichen Entwicklung zu sein, wenn er weltweit operieren kann. Aber gerade hier frage ich: Wo gibt es eine Initiative dieser Bundesregierung oder der Koalition, es beispielsweise einem Unternehmen in Deutschland zu ermöglichen, sich über weltweite Forschung, Technologie und Lizenzen innerhalb kürzester Zeit zu informieren, wenn man neue Produkte und Leistungen anbieten will? Es gibt noch nicht einmal Ansätze dazu. Es herrscht heute ein fürchterliches Tohuwabohu.Ich frage: Wo sind die Forschungsmittel auch für die kleinen und mittleren Betriebe, die oft ein unglaublich kreatives Innovationspotential hätten, die aber keinerlei Unterstützung von der öffentlichen Hand bekommen?Meine sehr verehrten Damen und Herren, letztlich frage ich doch: Wie lange wollen wir die Belastungen des deutschen Steuerzahlers, die ja durchschlagen auf unsere Wirtschaft, durch die sogenannte Europäische Union hinnehmen? Ich freue mich, daß die Bundesbank dieses Thema vor drei Monaten auf die Tagesordnung gebracht hat. Seit zweieinhalb Jahren spreche ich darüber. Die Ungerechtigkeit der Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft zu Lasten der deutschen Betriebe muß abgebaut werden. Wer zahlt denn die 93,3 Milliarden DM in die europäische Kasse ein, damit wir 27 Milliarden DM für die Betriebe oder für Strukturen in den neuen Bundesländern bekommen, wenn nicht in erster Linie der Mittelstand?Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer zahlt für die sinkende Investitionsbereitschaft unserer Kommunen? Wieder der Mittelstand, den zu unterstützen Sie hier so wunderschön vorgetragen haben.Letztlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Was helfen uns Projekte wie die Magnetschwebebahn mit all ihren Zweifeln und auch technischen Problemen, die tatsächlich noch nicht gelöst sind, über die längere Strecke? Was hilft uns das, wenn eine Bundesregierung sich gleichzeitig nicht geniert und so dumm ist, eine 12-Milliarden-Unterstützung für unsere Werftindustrie, die gerade in Norddeutschland ja sehr viele Investitionen tätigen müßte, zu blockieren? Aber das Transrapid-Vorhaben will sie mit Hilfe der deutschen Steuerzahler bezahlen.Es ist Unsinn, was hier geschieht. Die Chancen, die wir haben, werden nicht wahrgenommen. Sie werden blockiert, aber zu Lasten der Steuerzahler werden neue Riesenprojekte aufgelegt.
— Du weißt ganz genau, mein lieber Kurt, was hier für Chancen vertan wurden. Es ist nur bedauerlich, daß Du nicht den Mut hast, das auch einmal innerhalb der Fraktion zu sagen. Du solltest dort einmal aufstehen und Klarheit darüber herstellen und das auch wirklich
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Ortwin Lowackeinmal so vertreten. Das ist das Problem. Das ist leider auch der Untergang der Union, weil sie so viele in ihren Reihen hat, die eben nicht den Mut haben, einmal aufzutreten und auch einmal einem Bundeskanzler Paroli zu bieten und klar zu sagen, worum es wirklich geht.
Ich frage: Wo ist denn der Gemeinschaftsgeist, den wir brauchen, wenn wir die Probleme wirklich lösen wollen? Es ist doch nichts Schlechtes, ein guter Europäer und gleichzeitig auch ein guter Deutscher zu sein.
Herr Abgeordneter Lowack, darf ich Sie auf meine Zeichen aufmerksam machen, die ich so dezent zu vermitteln versuche.
Jawohl. Ich komme zum letzten Satz. Ich habe ja auch schon eine gewisse Steigerung eingebaut, um langsam mein Schlußwort vorbereiten zu können.
Das tröstet mich wenig. Ich wäre Ihnen schon dankbar, wenn Sie sehr schnell zum Schluß kämen.
Herr Präsident! Auch für Sie — vielleicht können Sie das auch noch akzeptieren — mein Appell: Nur selbstbewußte Bürger, meine sehr verehrten Damen und Herren, können damit fertig werden, daß eine Bundesregierung so viel Schulden aufgehäuft hat, daß allein die Zinslast bereits mehr als 90 % der Erträge aus Ersparnissen der Menschen in dieser Republik ausmacht.
Deswegen ganz zum Schluß: Jeder Tag ist zu viel, den Sie weiter nur mit Hektik und nicht mit wirklichen Entscheidungen verbringen. Jeder Tag verschlechtert die Situation. Bitte machen Sie diesem Drama so schnell wie möglich ein Ende so wie ich jetzt mit meiner Rede.
Meine Damen und Herren, damit kann ich die Aussprache schließen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Die deutsche Wirtschaft durch Senkungen der Leitzinsen und durch eine europäische Konjunkturinitiative aus der Rezession führen". Die Beschlußempfehlung liegt Ihnen auf Drucksache 12/6665 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/5362 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die übrigen Vorlagen zum Tagesordnungspunkt 3 a und b an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen.Der Bericht der Bundesregierung über den Stand der Umsetzung der Maßnahmen zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland und des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung — er liegt Ihnen auf Drucksache 12/6907 vor — soll zusätzlich an den Haushaltsausschuß überwiesen werden.Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist auch das beschlossen.Interfraktionell ist vereinbart worden, Zusatzpunkt 1 a und b von der Tagesordnung abzusetzen. Zu Ihrer Erinnerung: Es handelt sich um Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu abschließenden Regelungen zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Rehabilitierung, Entschädigung und Versorgung für die Opfer der NS-Militärjustiz. Das sind die Drucksachen 12/6748 und 12/6418. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist auch das beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13a bis g sowie Zusatzpunkt 1 c auf:13. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Deutsche Bundesbank— Drucksache 12/6909 —Überweisungsvorschl ag:Finanzausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. Dezember 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation über die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen— Drucksache 12/6906 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen— Drucksache 12/6838 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschußd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. Juni 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
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18410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergund der Repubik Georgien über den Luftverkehr— Drucksache 12/6849 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr Finanzausschuße) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 1993 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam über die Seeschiffahrt— Drucksache 12/6850 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehrf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Juni 1993 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ukraine über die Seeschiffahrt— Drucksache 12/6851 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehrg) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 16. Oktober 1980 über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge— Drucksache 12/6852 —Überweisungsvorschlag: InnenausschußZP1 c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Aktionsprogramme SOKRATES und LEONARDO— Drucksache 12/6939 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Auswärtiger AusschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. zu den Aktionsprogrammen Sokrates und Leonardo auf Drucksache 12/6939 soll zusätzlich dem EG-Ausschuß überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist dann auch beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 a bis m auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzeszur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes
— Drucksache 12/6380 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 12/6912 —Berichterstattung:Abgeordnete Hermann Bachmaier Jörg van EssenAndreas Schmidt
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß .596 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/6913 —Berichterstattung:Abgeordnete Thea BockAdolf Roth
Dr. Wolfgang Weng
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über das Schuldnerverzeichnis— Drucksache 12/193 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/6914 —Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Gres Dr. Eckhart Pickc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung— Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über den transeuropäischen Telematikverbund von Verwaltungen— Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über Leitlinien für den transeuropäischen Telematikverbund von Verwaltungen— Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über eine mehrjährige Gemeinschaftsaktion zur Unterstützung des transeuropäischen Telematikverbunds für den Datentausch zwischen Verwaltungen
— Drucksachen 12/5749 Nr. 3.2, 12/6793 —Berichterstattung:Abgeordnete Dorle MarxFranz Heinrich KreyWolfgang Lüderd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18411
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergEntschließung zu den Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte— Drucksachen 12/5181, 12/6820 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Ulrich Janzen Hans-Wilhelm Pesche) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Dreißigste Verordnung zur Anderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/6068, 12/6890 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmannf) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 18 03 Titel 642 07 — Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschußgesetzes —— Drucksachen 12/6505, 12/6761 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth
Dr. Wolfgang Weng Dr. Konstanze Wegnerg) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 04 Titel 681 23 — Sonderleistungen für Zivildienstleistende nach Maßgabe des Unterhaltssicherungsgesetzes —— Drucksachen 12/6523, 12/6762 —Berichterstattung:Abgeordnete Susanne Jaffke Ina AlbowitzDr. Konstanze Wegnerh) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04
— Drucksachen 12/6524, 12/6763 —Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid HothErnst Kastningi) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 616 31 — Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit -- Drucksachen 12/6503, 12/6764 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Dr. Gero PfennigIna Albowitz Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 893 01 — Prämien nach dem Wohnungsbau-Prämiengesetz und nach der Verordnung zur Einführung des Bausparens in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet —— Drucksachen 12/6522, 12/6765 —Berichterstattung:Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng Thea Bockj) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bis zur Höhe von 28 643 838,75 DM bei Kapitel 60 03 Titel 671 02 — Einmaliger Pauschalausgleich für einigungsbedingte Sonderlasten der Kirchen —— Drucksachen 12/6494, 12/6766 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)1) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 141 zu Petitionen — Drucksache 12/6886 —m) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 143 zu Petitionen — Drucksachen 12/6888 —Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 14 a, Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes. Er liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/6380 und 12/6912 vor. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuß-fassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Gegenstimme und mehreren Enthaltungen aus der SPD-Fraktion ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 14 b, Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften über das Schuldnerverzeichnis. Es handelt sich um die
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18412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergDrucksachen 12/193 und 12/6914. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD-Fraktion in zweiter Lesung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf insgesamt zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD-Fraktion mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 14 c: Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum transeuropäischen Telematikverbund, Drucksache 12/6793. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen und einigem Stimmenverzicht der SPDFraktion ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 14 d: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte, Drucksachen 12/5181 und 12/6820. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 14 e: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, Drucksachen 12/6068 und 12/6890. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Lowack einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 14 f bis 14 k: Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1993. Sie liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/6761 bis 12/6766 vor. Wenn Sie damit einverstanden sind, was ich hoffe, lasse ich über die sechs Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — Das Haus ist einverstanden. Dann kann ich so verfahren. Wer stimmt für die sechs Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD-Fraktion und des Abgeordneten Lowack angenommen.Tagesordnungspunkt 141 und 14m: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/6886 und 12/6888. Es handelt sich dabei um die Sammelübersichten 141 und 143. Wer stimmt diesen Beschlußempfehlungen zu? — Dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sind die Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen worden.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde— Drucksache 12/6892 —Wir kommen zunächst einmal zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Hier steht uns zur Beantwortung die Staatsministerin Frau Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.
Welche „Befürchtungen" hatte das Auswärtige Amt gegen die Teilnahme des Dalai Lama an der 1200-Jahr-Feier der Stadt Frankfurt am Main?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort.
Danke, Herr Präsident. Das tue ich sehr gerne.
Herr Kollege Lowack, die Bundesregierung hat gegenüber der Stadt Frankfurt keine „Befürchtungen" gegen die Teilnahme des Dalai Lama an der 1 200-Jahr-Feier der Stadt geäußert. Sie hat auf Anruf der Stadt Frankfurt — zunächst telefonisch, anschließend schriftlich — darauf aufmerksam gemacht, daß politische Ehrengäste dieser Feier wie der Bundespräsident und der französische Staatspräsident so rechtzeitig von der Möglichkeit eines Zusammentreffens mit dem Dalai Lama unterrichtet werden müssen, daß ihnen, falls sie dies für erforderlich halten, eine Überprüfung ihrer eigenen Teilnahmeentscheidung möglich sei. Eine solche Abstimmung ist im Umgang mit Staatsoberhäuptern eine protokollarische Selbstverständlichkeit.
Auf den Hinweis, daß der Oberbürgermeister der Partnerstadt Frankfurts, Kanton, ebenfalls an den geplanten Festveranstaltungen teilnehmen werde, wies das Auswärtige Amt darauf hin, daß chinesische Politiker an Veranstaltungen, zu denen auch der Dalai Lama geladen ist, nicht teilzunehmen pflegen.
Das Auswärtige Amt hat in diesem Telefongespräch und in dem anschließend übermittelten Schreiben korrekt über den gegebenen Sachverhalt aufgeklärt. Es hat der Stadt Frankfurt keine Empfehlung für ihre eigene Enscheidung gegeben. Es war nicht Sache des Auswärtigen Amtes, der Stadt Frankfurt eine Entscheidung in eigener Angelegenheit abzunehmen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lowack.
Frau Staatsministerin, es gibt andere, die sagen: Auch wenn man hier eine falsche Bezeichnung bringen würde, wäre es durchaus ehrenvoll, manchmal sogar noch ehrenvoller. Frau Staatsministerin, glauben Sie nicht, daß der Hinweis des Auswärtigen Amtes darauf, daß aus rotchinesischer Sicht Bedenken bestünden, wenn der Dalai Lama erschiene — das ist ja leider kein Einzelfall bei ihm; ich will das nicht weiter konkretisieren —, doch die Schlußfolgerung zuläßt, daß sich das Amt in der Zwischenzeit auf dem tiefsten Punkt der Würde- und Prinzipienlosigkeit und wohl auch der politischen Kurzsichtigkeit befindet, so als ob man davon ausginge, daß das kommunistische Regime in Peking von Dauer wäre und sich nie überleben würde?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18413
Herr Kollege Lowack, die Qualifizierungen, die Sie gegenüber meinem Hause gemacht haben, weise ich entschieden zurück.
Zu dem Inhalt Ihrer Frage bzw. zu Ihren Ausführungen, weshalb man sich über die Teilnahme des chinesischen Gastes geäußert hat, möchte ich folgendes sagen: Es war die Pflicht des Auswärtigen Amtes, ordnungsgemäß darauf hinzuweisen, nachdem die Stadt Frankfurt das Auswärtige Amt um einen Rat gefragt hat. Wenn wir dieses nicht erwähnt hätten, wäre das, denke ich, ein Fehler gewesen.
Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatsminister, nachdem mir Protokolle vorliegen, in denen die zuständigen Referenten des Auswärtigen Amtes bei Vorhaben, an denen auch China beteiligt sein könnte, sogar wörtlich formuliert haben: „Da müssen wir in Peking nachfragen", möchte ich von Ihnen wissen: Halten Sie es nicht für erforderlich, daß von der grundsätzlichen Fragestellung her, die zu beantworten ist, endlich eine koordinierte westliche Politik gegenüber Rotchina herbeigeführt wird, damit die Erpressungen, die natürlich auch deshalb möglich sind, weil das Auswärtige Amt die Auffassung Rotchinas der Stadt Frankfurt vorträgt, ein Ende haben?
Herr Kollege Lowack, ich teile Ihre Ansicht nicht, daß es sich hier um Erpressung handelt. Deshalb habe ich auch keine Veranlassung, weiterhin auf Ihre Frage einzugehen.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger aus Wangen.
Frau Staatsministerin, teilen Sie, teilt Ihr Haus die Auffassung, daß die Anwesenheit des Dalai Lama als eines besonders verehrungswürdigen Religionsoberhauptes in unserer Welt für eine Feier, wie sie die Stadt Frankfurt veranstaltet hat, eine ausgesprochene Bereicherung und es von daher zu begrüßen gewesen wäre, wenn seine Teilnahme dort ermöglicht worden wäre?
Herr Kollege Jäger, die Position der Bundesregierung gegenüber der Person des Dalai Lama ist völlig unbestritten. Er gilt als eine ganz große Persönlichkeit der Zeitgeschichte. Das hat in diesem Zusammenhang überhaupt nichts damit zu tun, wie die Bundesregierung die Person des Dalai Lama einschätzt.
Es ging lediglich darum, daß der Herr Bundespräsident wissen mußte, daß der Dalai Lama teilnimmt, der ja in seiner Person — das wird hier niemand abstreiten können — ein gewisses politisches Problem darstellt.
Dies mußte der Herr Bundespräsident wissen, und nur dies hat das Auswärtige Amt der Stadt Frankfurt mitgeteilt. Ich halte dies für einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem Staatsoberhaupt, auf den es einen Anspruch hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Bindig.
Wird das Auswärtige Amt dieses „gewisse politische Problem", welches in der Person des Dalai Lama nach Ihren Worten liegt, auch gegenüber dem Deutschen Bundestag zum Ausdruck bringen, wenn der Dalai Lama demnächst auf Einladung des Unterausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages wahrscheinlich zu einer Anhörung hier sein wird?
Herr Kollege Bindig, es ist überhaupt nicht zweifelhaft, daß die Bundesregierung und auch das Auswärtige Amt es begrüßen, wenn der Dalai Lama, wie geplant — Sie haben es hier gerade dargestellt —, vom Unterausschuß für Menschenrechte empfangen wird und dort eine Diskussion über die Situation in Tibet geführt wird.
Ich darf vielleicht kurz auf die Position des Dalai Lama in dieser Frage eingehen. Er hat in letzter Zeit wiederholt öffentlich geäußert, daß er keine Sezession Tibets anstrebt, sondern daß sein Ziel eine angemessene Autonomie innerhalb des chinesischen Staatsverbandes ist. Dies ist auch das Ziel der Bundesregierung.
Die Bundesregierung appelliert an die chinesische Regierung, die Bereitschaft des Dalai Lama zu einem Dialog ohne Vorbedingung zu nutzen und Gespräche über die Zukunft Tibets und über die Ausgestaltung der inneren Autonomie Tibets aufzunehmen.
Abgeordneter Norbert Gansel mit einer Zusatzfrage.
Da man sich ja versprechen kann, Frau Staatsminister, möchte ich Sie bitten, Ihre Formulierung zu korrigieren, daß der Dalai Lama ein „gewisses politisches Problem" darstellt. Das „gewisse politische Problem" stellt die Volksrepublik China in ihrer Politik gegenüber Tibet und dem Dalai Lama dar, aber nicht der Dalai Lama selbst.
Ich glaube, Herr Kollege Gansel, Sie haben den Sinn, der hinter meinen Worten gestanden hat, sehr wohl begriffen. Aber wenn Ihnen das ein Anliegen ist, bin ich gerne bereit, klarzustellen, daß der Dalai Lama selbst kein politisches Problem ist. Doch in seiner Persönlichkeit repräsentiert er diesen schrecklichen Konflikt seit vielen Jahren in ganz besonderer Weise. Er versucht unter den zur Zeit nicht zu ändernden Bedingungen für sein Volk das Beste zu erreichen. Ich habe Ihnen vorgetragen, welchen Vorschlag die Bundesregierung hier macht und daß sie mit dem genannten politischen Ansatz ganz übereinstimmt.
Damit kommen wir zur Frage 12 des Abgeordneten Gerd Poppe:
In welcher Weise war das Auswärtige Amt an den Vorgängen beteiligt, aufgrund deren sich der Dalai Lama veranlaßt sah, von der Teilnahme an den Feierlichkeiten zur 1200-Jahr-Feier der Stadt Frankfurt am Main abzusehen?
Herr Kollege Poppe, das Auswärtige Amt wurde in der Woche
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18414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Staatsministerin Ursula Seiler-Albringvor dem 28. Januar 1994 vom Protokoll der Stadt Frankfurt angerufen. Das Protokoll wies selbst auf die Problematik hin, daß der Dalai Lama zu den Frankfurter Festveranstaltungen eingeladen sei und daß gleichzeitig mit ihm der Bundespräsident und der französische Staatspräsident eingeladen seien. Das Auswärtige Amt gab die erwähnte sachliche Aufklärung.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Poppe.
Frau Staatsminister, ich würde gerne von Ihnen wissen, wie sich das Auswärtige Amt in Zukunft zu verhalten gedenkt, wenn öffentliche oder nichtöffentliche Veranstaltungen unter Teilnahme des Dalai Lama in Deutschland vorgesehen sind. Werden Sie mit Rücksicht auf die chinesische Seite ähnliche Bedenken äußern, wie Sie das vorhin in der Antwort auf die Frage des Kollegen Lowack geschildert haben, oder werden Sie — im Gegenteil — die öffentlichen Auftritte des Dalai Lama in Deutschland fördern?
Daß wir die öffentlichen Auftritte des Dalai Lama unterstützen, bedarf hier keiner weiteren Erläuterung.
Es ging in diesem Fall, Herr Kollege Poppe, darum, zunächst einmal den Herrn Bundespräsidenten darüber zu informieren, wie sich die Situation angesichts dieser Einladung darstellte. Das gleiche galt gegenüber dem französischen Staatsoberhaupt, dem Staatspräsidenten Mitterrand. Das ist eine selbstverständliche Pflicht, die das Auswärtige Amt zu erfüllen hat.
Es ist auch eine Selbstverständlichkeit, daß man auf mögliche Reaktionen von anderer Seite — in diesem Fall des Bürgermeisters der Partnerstadt Frankfurts, nämlich Kanton — hinweist. Das Auswärtige Amt hat keinerlei Handlungsanweisung gegeben, sondern den Sachverhalt sachlich dargestellt. Das werden wir auch in Zukunft tun.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte schön.
Konnte Ihnen nicht auf Grund früherer Begegnungen des Bundespräsidenten mit dem Dalai Lama klar sein, daß es von seiten des Bundespräsidenten keinerlei Bedenken gegen ein Zusammentreffen auf dieser Veranstaltung geben würde?
Herr Kollege Poppe, daß der Herr Bundespräsident, wie wir alle, die Person des Dalai Lama außerordentlich schätzt, steht überhaupt nicht zur Debatte. Es geht auch gar nicht um irgendwelche Wertschätzungen oder Qualifizierungen der Person des Dalai Lama. Es geht, um es noch einmal zu sagen, um die Selbstverständlichkeit, daß ein Staatsoberhaupt wissen muß, wer eingeladen ist. Daß es hier möglicherweise ein Problem geben würde, lag durchaus auf der Hand. Die Stadt Frankfurt hat anschließend gehandelt, ohne jegliche Beratschlagung durch das Auswärtige Amt.
Abgeordneter Lowack zu einer Zusatzfrage.
Frau Staatsministerin, ist dann die Mitteilung der „Süddeutschen Zeitung" vom 17. Februar 1994 falsch, in der es ausdrücklich heißt — ich zitiere —:
Das Auswärtige Amt hatte die Stadt davor gewarnt, zu ihrer 1 200-Jahr-Feier am 22. Februar gleichzeitig den Oberbürgermeister der chinesischen Schwesterstadt Kanton, Li Zilin, und das geistliche Oberhaupt der Tibeter einzuladen. Dies könnte
— jetzt wird aus dem Schreiben bzw. der mündlichen Information zitiert —
zu „Problemen" führen, teilte das Ministerium dem Frankfurter Oberbürgermeister Andreas von Schoeler mündlich und schriftlich mit.
Ich frage Sie: Ist, falls das nicht zutreffend sein sollte, eine presserechtliche Gegendarstellung von seiten des Auswärtigen Amtes abgegeben worden, weil es doch ein sehr peinlicher Vorfall wäre, und falls dies nicht erfolgt ist, warum nicht?
Herr Kollege Lowack, wenn das Auswärtige Amt auf jede Falschmeldung reagieren würde, müßten wir beim Haushaltsausschuß erheblich mehr Personal beantragen. Dies wird wohl nicht der Fall sein.
Ich möchte noch einmal sagen: Das Auswärtige Amt hat keine Warnung abgegeben, sondern das Auswärtige Amt und seine Beamten haben pflichtgemäß über den Tatbestand informiert.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Pflüger.
Mich interessiert, was genau in dieser Information gestanden hat und, wenn ich das hinzufügen darf, ob diese Information auch in dem Bewußtsein erfolgt ist, daß der Bundespräsident nach unserer Verfassung keine eigenständige Außenpolitik betreiben kann, daß dem Bundespräsidenten, wenn man ihn in einer bestimmten Weise informiert, also praktisch gar nichts anderes übrig bleibt, als den Besuch des Dalai Lama als ein Problem zu sehen.
Diese Meinung, Herr Kollege Pflüger, kann ich nicht teilen. Ich kann Ihnen aber selbstverständlich gerne das Schreiben des Auswärtigen Amtes in Kopie zur Verfügung stellen.
— Sie haben doch gesagt, Sie wollten den Inhalt dieses Schreibens kennenlernen. Ich stelle es Ihnen gerne zur Verfügung.
— Den habe ich auch beantwortet.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18415
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger.
Frau Staatsminister, darf ich Ihren Antworten entnehmen, daß nach den Erkenntnissen und nach Auffassung der Bundesregierung die Nichtteilnahme des Dalai Lama an den Veranstaltungen zur 1 200-Jahr-Feier der Stadt Frankfurt ausschließlich auf Maßnahmen der Stadtverwaltung von Frankfurt zurückzuführen ist?
Herr Kollege Jäger, ich sage es zur Klarstellung noch einmal: Das Auswärtige Amt ist um Information bzw. auf Grund der Tatsache, daß offensichtlich der Stadt Frankfurt die protokollarischen Probleme aufgefallen sind, um eine Sachdarstellung gebeten worden. Dies ist geleistet worden. Eine Qualifizierung bzw. eine Warnung ist unsererseits nicht ausgesprochen worden.
Danach hat das Auswärtige Amt mit diesem Vorgang nichts mehr zu tun gehabt. Die Stadt Frankfurt hat, was selbstverständlich ist, selber gehandelt und muß dies auch selber verantworten.
Der Abgeordnete Oostergetelo möchte noch gerne eine Zusatzfrage stellen.
Frau Staatsminister, ist nun nach Kenntnis des Schreibens, das Sie haben, von einer Falschmeldung durch die Presse oder von einer Falschmeldung durch das Auswärtige Amt zu reden?
Herr Kollege Oostergetelo, auch Ihnen stelle ich das Schreiben gerne zur Verfügung. Ich kenne den Artikel aus der „Süddeutschen Zeitung" nicht; deshalb kann ich ihn auch nicht qualifizieren. Ich kann nur noch einmal sagen, daß das Auswärtige Amt die Stadt Frankfurt zu keiner Handlung veranlaßt hat.
Ich rufe nunmehr die Frage 13 des Abgeordneten Gerd Poppe auf:
Welche Kontakte des Auswärtigen Amtes gab es in der Frage der Teilnahme des Dalai Lama — vor seiner Absage — mit der Stadt Frankfurt am Main, mit der chinesischen Seite, mit der Vertretung des Dalai Lama in Europa und mit anderen internationalen Gästen an den Feierlichkeiten oder deren Vertretern, hier insbesondere mit der französischen Regierung?
Herr Kollege Poppe, in dieser Frage gab es nur den geschilderten telefonischen Kontakt und ein Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 28. Januar 1994 — das ist hier mittlerweile mehrfach angesprochen worden —, das den Inhalt des Telefongespräches festhielt. Es gab insbesondere keine Kontakte mit der chinesischen Seite, mit der Vertretung des Dalai Lama in Europa oder internationalen Gästen, auch nicht mit der französischen Regierung.
Zusatzfrage? — Bitte schön.
Sind Ihnen andere Einwände oder Bedenken zur Kenntnis gelangt, die von der chinesischen Seite einerseits und von der französischen Seite andererseits geäußert worden wären?
Nein, da ist uns nichts bekannt.
Herr Abgeordneter Poppe, bitte achten Sie darauf, daß das Mikrophon eingeschaltet ist, weil es sonst sehr schwer ist, Sie zu verstehen.
Sie haben jetzt noch eine Zusatzfrage. — Sie verzichten darauf.
Herr Abgeordneter Lowack.
Frau Staatsministerin, in voller Würdigung dessen, daß Sie gesagt haben, es habe keinen Kontakt zwischen dem Auswärtigen Amt und der rotchinesischen Seite im Vorfeld der Reaktion des Auswärtigen Amtes gegeben: Möchten Sie damit zum Ausdruck bringen, daß es so etwas wie vorauseilenden Gehorsam gegeben hat?
Nein, Herr Kollege Lowack, das will ich ausdrücklich nicht.
Der Wunsch nach weiteren Zusatzfragen besteht nicht.Ich teile dem Haus mit, daß die Fragen 14 und 15 des Abgeordneten Dr. Kübler auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kämen nun zur Frage 16 des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner, den ich nicht im Saal sehe. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.Weiter kann ich Ihnen mitteilen, daß die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer und die Frage 19 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard-Schmid auf deren Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Frau Staatssekretärin, ich bedanke mich bei Ihnen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts auf.Hier hat der Abgeordnete Dr. Egon Jüttner um schriftliche Beantwortung seiner Frage 1 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich kann nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern aufrufen.
— Der Innenminister war offensichtlich vorher so gut unterrichtet, daß er wußte, daß alle Fragen schriftlich beantwortet werden sollen, daß also die Frau Abgeordnete Ingrid Köppe ihre Fragen 20 und 21 schriftlich beantwortet wissen wollte; gleiches gilt für die Frage 22 der Abgeordneten Frau Dr. Elke LeonhardSchmid. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
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18416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergDamit kommen wir nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner zur Verfügung.Wir kommen zunächst zu Frage 34 des Abgeordneten Klaus Harries:Sieht die Bundesregierung in den derzeitigen Aktivitäten der Automobilkonzerne, durch Verträge mit Industriebetrieben zu einem flächendeckenden Netz von Autodemontagezentren zu kommen, eine Benachteiligung und/oder eine Existenzgefährdung der jetzt bereits bestehenden und gut arbeitenden mittelständischen Autorecyclingfirmen?
Herr Kollege Harries, die Bundesregierung hat derzeit keine Anhaltspunkte dafür, daß die geplante Kooperation von VW mit Preussag bestehende mittelständische Autorecyclingfirmen in ihrer Existenz gefährden oder benachteiligen würde. Das gilt auch für Kooperationen, die derzeit laut Pressemitteilungen von anderen Firmen geplant werden.
Freiwillige Kooperationen dieser Art zwischen Automobilkonzernen und Verwerterbetrieben werden von der Bundesregierung als Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Abfallpolitik im Bereich der Altautoentsorgung begrüßt. Sie hat dabei die Erhaltung mittelständischer Strukturen sehr wohl im Blick. Das Bundeskartellamt wird im Rahmen seiner Aufgaben darauf achten, daß der Wettbewerb durch Zusammenschlußvorhaben dieser Art nicht in gesetzwidriger Weise beeinträchtigt wird.
Zusatzfrage des Kollegen Harries, bitte.
Ist Ihnen, Herr Staatssekretär, bekannt, daß in mittelständischen Recyclingbetrieben nach Bekanntwerden der Gespräche mit den Konzernen große Unruhe entstanden ist?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Kollege, aber ich glaube, diese Unruhe beruht auf einer verständlichen Irritation. Nach bisherigen Pressemeldungen ist es so, daß es auch bei den privat beabsichtigten Kooperationen eine Einbindung bestehender mittelständischer Verwertungsbetriebe geben soll.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Harries? — Keine.
Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage 35 des Kollegen Klaus Harries:
Ist die Bundesregierung ggf. bereit, sich in geeigneter Weise in die laufenden Gespräche der Automobilhersteller mit den Industriekonzernen mit dem Ziel einzuschalten, die mittelständischen Betriebe, wenn sie bereit und in der Lage sind, ordnungsgemäß zu entsorgen, in ihrem Bestand zu schützen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, wie gerade erwähnt, ist es nach den Pressemeldungen so, daß Preussag bestehende mittelständische Verwerterbetriebe in die beabsichtigte
Kooperation einbinden und zur umweltgerechten Demontage anleiten will. Es besteht daher für die Bundesregierung zumindest derzeit keine Veranlassung, sich in laufende Kooperationsgespräche zwischen Unternehmen einzuschalten.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß diese Zusammenarbeit mit den Verwerterbetrieben ohne marktbeherrschende vertikale oder horizontale Konzentrationen vonstatten geht. Ich darf noch einmal erwähnen: Das Bundeskartellamt wird diese Entwicklung natürlich beobachten.
Vizepräsident Helmuth Becker Zusatzfrage des Kollegen Harries.
Nachdem Sie, Herr Staatssekretär, soeben die Vokabel „derzeit" gebraucht haben: Würden Sie mir zustimmen, wenn ich skeptisch sage, daß es für mittelständische Betriebe natürlich sehr schwierig ist, sich noch einzuschalten, wenn Verträge abgeschlossen sind, alles flächendekkend eingerichtet und die Sache festgezurrt ist?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, Sie haben nach der Einschaltung der Bundesregierung in Gespräche zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen gefragt. Wenn es hier marktbeherrschende Konzentrationen geben könnte, ist dies in der Tat eine wettbewerbliche Frage, die uns auf den Plan rufen muß. Ich finde aber, daß die Erklärung der beteiligten Unternehmen, die bestehenden mittelständischen Unternehmen in eine solche Entsorgungsstrategie einbinden zu wollen, doch darauf hoffen läßt, daß es solche, wettbewerbsrechtlich problematische Konzentrationen nicht geben wird.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Harries, bitte.
Gehen Sie davon aus, Herr Staatssekretär, daß die in Vorbereitung befindliche Altautoverordnung Aussagen und Bestimmungen enthalten wird, die darauf hoffen lassen, daß man mittelständische Betriebe angemessen beteiligt oder sich überhaupt entfalten läßt?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nicht unmittelbar wettbewerbsrechtliche Regelungen, aber mittelbar werden die Bedingungen, die in dieser Verordnung festgelegt werden können, natürlich Einfluß auch auf die Entsorgungsstruktur haben.
Jetzt kommt die nächste Frage, die Frage 36 des Kollegen Horst Jaunich.Bitte, Herr Staatssekretär.
— Die Fragen sind nicht zusammen, sondern getrenntbeantwortet worden. Zur ersten Frage hat es eineZusatzfrage gegeben. Zur zweiten Frage gibt es dann
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18417
Vizepräsident Helmuth Beckernur zwei. Ich habe ausdrücklich gefragt: Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
-- Bitte sehr, Herr Kollege Harries, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Herr Staatssekretär, rechnen Sie damit, daß die Altautoverordnung noch in dieser Legislaturperiode erlassen wird?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Eine abschließende Antwort darauf ist schwierig und, Herr Kollege Harries, aus Ihrem Arbeitsgebiet mindestens genauso gut zu beurteilen wie aus unserer Sicht. Wir halten aber eine Inkraftsetzung in diesem Jahr für wünschenswert und arbeiten daran.
Nun kommen wir aber zur Frage 36 des Kollegen Jaunich — ich bitte um Entschuldigung, ich hatte sie ja schon aufgerufen —:
Ist es zutreffend, daß die Bundesregierung im Rahmen einer Novellierung des energie- und kartellrechtlichen Ordnungsrahmens die Abschaffung freiwilliger Demarkationsverträge sowie gebietsbezogener Konzessionsverträge für leitungsgebundene Energien plant?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jaunich, die Bundesregierung hat bereits im Standortbericht und im Jahreswirtschaftsbericht für dieses Jahr wirksamen brancheninternen Wettbewerb für Strom und Gas sowie die Reduzierung staatlicher Aufsicht angekündigt. Das Bundeswirtschaftsministerium hat dazu nach intensiver Diskussion mit der Wirtschaft, den Verbänden, den Ländern und den Kommunen einen Gesetzentwurf für ein neues Energiewirtschaftsgesetz vorbereitet.
Nach diesem vorbereiteten Gesetzentwurf würden künftig folgende Verträge dem allgemeinen Kartellverbot unterliegen: Absprachen zwischen Versorgungsunternehmen, sich im Versorgungsgebiet des jeweils anderen keine Konkurrenz zu machen, sowie vertragliche Verpflichtungen einer Gemeinde, Rechte zur Verlegung von Leitungen in öffentliche Straßen und Plätze nur einem einzigen Versorgungsunternehmen, also z. B. dem eigenen Stadtwerk oder einem Flächenversorger, einzuräumen. Über dieses Konzept und den Zeitplan der Verwirklichung wird die Bundesregierung in Kürze entscheiden.
Zusatzfrage des Kollegen Jaunich, bitte.
Herr Staatssekretär, nach diesem Vorlauf: Können Sie dem Haus beschreiben, welche Haltung die kommunalen Spitzenverbände zu diesem Vorhaben eingenommen haben?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jaunich, wie nicht überraschend ist — auch nicht für Sie als in diesem Bereich Tätiger —, haben die Betroffenen, an deren Besitzständen in diesem
Zusammenhang gerührt wird, natürlich Bedenken gegen ein solches Vorhaben geäußert. Wem Monopolrechte genommen werden, der wird dabei nicht in Zustimmung ausbrechen.
Noch eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Jaunich, bitte.
Herr Staatssekretär, welche positiven Aspekte, insbesondere im Hinblick auf Versorgungssicherheit in der Fläche z. B. mit Erdgas, versprechen Sie sich von einem solchen Vorhaben?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Von einem erweiterten Wettbewerb oder überhaupt der Zulassung von Wettbewerb in diesem Zusammenhang versprechen wir uns letztlich Vorteile für den Verbraucher. Die Ermöglichung von Wettbewerb ist immer etwas, was verbraucherschutzfördernd ist.
Nun kommen wir zur Frage 37 des Kollegen Horst Jaunich:
Welche Auswirkungen hätte eine solche Maßnahme auf die Versorgungssicherheit besonders mit Erdgas und auf die Kommunen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jaunich, die beabsichtigte Reform wird die Versorgungssicherheit bei Strom und Gas nicht beeinträchtigen. Die vertraglichen Lieferpflichten der Unternehmen gegenüber ihren Kunden und die nach dem Energiewirtschaftsgesetz im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren bestehende allgemeine Anschluß- und Versorgungspflicht bleiben ja bestehen. Eine Gefährdung der Erdgasbeschaffung auf den internationalen Märkten ist auch nicht zu erwarten. Der Erdgasbezug ist ja durch langfristige Lieferverträge abgesichert. Außerdem wird der Gesetzentwurf der Importabhängigkeit der deutschen Gaswirtschaft Rechnung tragen.
Für die Kommunen hat die Reform zur Folge, daß Wegerechte zur Leitungsverlegung nicht mehr ausschließlich vergeben werden dürfen. Für das Aufkommen aus der Konzessionsabgabe hat das allerdings keine unmittelbare Auswirkung. Die 1992 in Kraft getretene Konzessionsabgabenverordnung sieht einheitliche Höchstsätze vor, unabhängig davon, ob Wegerechte als ausschließliche oder als einfache Rechte vergeben werden.
Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung wird nicht verletzt; Planungshoheit der Gemeinden und das Recht zur Aufstellung örtlicher Versorgungskonzepte werden nicht beeinträchtigt. Leistungsfähige Stadtwerke werden sich auch im Wettbewerb behaupten, zumal sie ja beim Strom- und Gasbezug auch neue Chancen erhalten und auch ihrerseits zusätzliche Kunden gewinnen können.
Vizepräsident Helmuth Becker Zusatzfrage des Kollegen Jaunich, bitte.
Halten Sie es für zutreffend, was der Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft zu diesem Thema ausgesagt hat, wonach alle Hauptlieferländer Europas beim Erdgas-
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18418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Horst Jaunichexport zentralistisch mit starkem staatlichen Einfluß organisiert sind, und daß eine Zersplitterung der Nachfrage die Position der deutschen Erdgaswirtschaft, der Importeure, nachhaltig beeinträchtigen würde?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, eine Zersplitterung muß nicht die notwendige Folge sein. Im übrigen ist es so, daß die Absicherung von Leitungsmonopolen noch nicht unmittelbare Auswirkungen auf die Bezüge von Erdgas aus dem Ausland haben muß.
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Jaunich, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie sich, wenn diese Ihre Vorstellungen realisiert sind, vorstellen, daß dann bei der Versorgung z. B. mit Erdgas ein Großkunde in einer Stadt eine besondere Belieferung durch ein Unternehmen erfährt und damit die Finanzsituation der die Allgemeinheit versorgenden Betriebe, der Stadtwerke, nachdrücklich geschmälert würde?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann mir vorstellen, daß die Aufhebung von Leitungsmonopolen in diesem Bereich dazu führen kann, daß mit diesem Wettbewerb zusätzlicher Preisdruck entsteht. Ich finde, daß ein solcher Preisdruck im Sinne des Verbrauchers und der Preisstabilität durchaus erwünscht sein kann.
Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Staatssekretär, hat dann die Gemeinde überhaupt noch Entscheidungsfreiheit, ob eine Leitung in ihrem Gemeindegebiet verlegt werden kann, ja oder nein?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nicht mit der Möglichkeit, einen anderen Anbieter völlig auszuschließen. Die Planungshoheit selbst bleibt davon völlig unberührt.
Wir kommen jetzt zu den beiden Fragen des Kollegen Norbert Gansel. Ich rufe Frage 38 auf:
Hat die Bundesregierung Hinweise über die Beteiligung deutscher Staatsbürger oder in der Bundesrepublik Deutschland tätiger Geschäftsleute am Bau von geheimgehaltenen Tunnelanlagen oder an der Entwicklung von ABC-Waffen in Libyen?
Herr Staatssekretär.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, der Bundesregierung liegen Informationen vor, nach denen Libyen in der Tat an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und zu ihrer Ausbringung nutzbaren Trägersystemen arbeiten und entsprechende Projekte auch in unterirdischen Tunnelanlagen errichten soll. Insbesondere soll nach diesen Informationen an einer unterirdisch angelegten zweiten Chemiewaffenanlage gearbeitet werden.
In diesem Zusammenhang gab es auch — wenn auch vage — Hinweise auf eine angebliche Tätigkeit von im deutschen Wirtschaftsgebiet ansässigen Personen in entsprechenden Projekten in Libyen. Die Bundesregierung hat die entsprechenden Informationen unverzüglich zur Überprüfung an die zuständigen Untersuchungsbehörden weitergegeben. Über vage Hinweise hinausgehende konkrete Anhaltspunkte für eine Tätigkeit von Gebietsansässigen in Deutschland in militärischen Projekten in Libyen haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung hierbei jedoch bisher nicht ergeben.
Dienstleistungen Gebietsansässiger, die sich auf Waren des Teils I Abschnitt A der Ausfuhrliste, also auf Waffen, Munition und Rüstungsmaterial, beziehen, bedürfen, wie Sie wissen, im übrigen gemäß § 45b Abs. 1 der Außenwirtschaftsverordnung der Genehmigung, wenn sie in Libyen erbracht werden. Aber entsprechende Genehmigungen sind nicht erteilt worden.
Zusatzfrage des Kollegen Gansel, bitte.
Seit wann, Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Kenntnisse über dieses Projekt? Sind Sie insbesondere darüber informiert, daß, wie eine Sprecherin des Stuttgarter Landgerichtes bereits erklärt hat, dort wegen eines Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz in diesem Zusammenhang Anklage erhoben worden ist? Welche Maßnahme hat die Bundesregierung getroffen, um die deutsche Geschäftswelt, insbesondere die einschlägige Industrie, davor zu warnen, sich auf ein „Rabta2-Projekt", bewußt oder unbewußt, einzulassen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, Ihre drei Fragen darf ich wie folgt beantworten — ich bitte Sie, mir zu helfen, falls ich jetzt einen Teil Ihrer Fragen vergesse —: Zunächst beziehe ich mich auf die Frage, seit wann uns Hinweise dazu vorliegen. Die ersten vagen Hinweise, von denen ich gesprochen habe — wenn ich es im Moment richtig sehe —, sind seit etwa anderthalb Jahren bekannt. Unverzüglich sind die notwendigen Maßnahmen der Bundesregierung dazu ergriffen worden. Dazu gehörte auch, daß die zuständigen Stellen die Staatsanwaltschaft informiert haben. Ob vor irgendeinem Gericht bereits eine Anklage erhoben worden ist, entzieht sich im Moment meiner Kenntnis. Es gibt jedenfalls Ermittlungsverfahren.
Habe ich Ihre Fragen beantwortet? — Ich glaube, ja.
Ich will noch einmal darauf aufmerksam machen: Fragen müssen kurz gestellt sein, und sie dürfen höchstens zweigeteilt sein. Ich bitte, ein bißchen darauf zu achten. Es erleichtert uns die Arbeit.
Der Kollege Gansel hat eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, — —Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Keine Adelung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18419
Pardon, ich hatte den anderen im Visier; es war eine Freudsche Fehlleistung.
Herr Staatssekretär, welche erheblichen Schwierigkeiten sind bei dem Bau dieses „Rabta-2-Projekts" in Libyen durch die Maßnahmen der Bundesregierung — von denen der Staatsminister beim Bundeskanzler, Herr Schmidbauer, gesprochen hat — entstanden? Warum haben Sie nicht öffentlich die Alarmglocken klingeln lassen, sondern statt dessen eine Diskussion über die Liberalisierung des Rüstungsexportrechts vom Zaun gebrochen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, die Frage, welche Schwierigkeiten und wodurch sie in Libyen entstanden sind, möchte ich mit Ihrer vorherigen Frage nach den Maßnahmen der Bundesregierung verbinden, die im Hinblick auf die Information der betroffenen Wirtschaft ergriffen worden sind. Nach den Rabta-Vorgängen ist ein Frühwarnsystem mit den beteiligten Verbänden und Wirtschaftsorganisationen vereinbart worden. Über diesen Weg sind entsprechende Informationen sofort weitergegeben worden, als diese der Bundesregierung bekanntgeworden sind.
Im übrigen ist es natürlich so, daß sich Libyen möglicherweise nach unseren zusätzlichen umfangreichen rechtlichen und organisatorischen Maßnahmen und Vorkehrungen nach Rabta darüber klar gewesen ist, daß das, was unmittelbar zur Beschaffung einer etwaigen Chemiewaffenanlage erforderlich ist, auch über Umwege nicht in Deutschland zu bekommen ist.
Keine Zwischenfragen. Eine Zusatzfrage des Kollegen Bindig.
Wer sind denn die in Ihrer ursprünglichen Antwort genannten zuständigen Untersuchungsbehörden, an die Sie die Erkenntnisse weitergegeben haben? Ist das die Staatsanwaltschaft? Haben Sie die Firmen angezeigt?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist zunächst einmal das Bundesministerium der Finanzen, das Zollkriminalamt, das dazu nach Rabta eingerichtet worden ist, und bei Verdacht auf Straftaten die Staatsanwaltschaft.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Erler, bitte.
Herr Staatssekretär, welche Wirkungen hat denn die Tatsache, daß jetzt möglicherweise ein „Rabta 2" erneut mit deutschen Lieferanten in der Weltöffentlichkeit in Verbindung gebracht wird? Welche Wirkung hat denn diese Tatsache, die die Bundesregierung offenbar nicht verhindern konnte, für ein Exportland wie Deutschland und für die gegenwärtige Diskussion, die weltweit beachtet wird, über eine Liberalisierung der deutschen Rüstungsexportgesetze?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich denke, auch an diesem Beispiel wird deutlich werden, daß wir mit dem von uns nach Rabta verschärften Exportkontrollrecht eines der strengsten und schärfsten Exportkontrollrechtssysteme in der Welt haben, das auch in diesem Fall dazu beigetragen hat, daß, wenn dort tatsächlich eine unterirdische Chemiewaffenfabrik entsteht, dies nicht mit deutschen Lieferungen erfolgt.
Das, was hier das Problem ist und was Herr Kollege Gansel in der weiteren Frage angesprochen hat, betrifft den Punkt, inwieweit möglicherweise durch Tarnfirmen aus Drittländern Baugeräte und ähnliches für die Tunnelarbeiten aus Deutschland gekommen sein könnten, aber nicht die Chemiewaffenfabrik selbst.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Staatssekretär, warum haben Sie denn nicht öffentlich Alarm geschlagen, nachdem Sie diese vagen Hinweise bekommen hatten?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist zu Recht Wert darauf gelegt worden, daß die zuständigen Behörden alle Möglichkeiten, die sich dabei ergeben, ausgeschöpft haben. Dazu gehörte auch das, wie Sie es nennen: Alarmschlagen; wie ich es formuliert habe: Frühwarnsystem. Das ist eine Vereinbarung mit der Wirtschaft, über BDI, DIHT und andere Organisationen betroffene Unternehmen oder solche, die potentiell betroffen werden können, durch entsprechendes Nachfragen vorher darauf hinzuweisen und davor zu warnen, daß möglicherweise solche Unternehmungen — etwa in Libyen — geplant werden. Es hat auch entsprechende Presseveröffentlichungen gegeben, soweit uns damals Informationen hierzu zur Verfügung standen.
Wir kommen nun zur Frage 39 des Kollegen Gansel.
-- Ich habe Sie nicht gesehen, Herr Poppe. Bitte eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß die beschriebenen Vorgänge möglicher deutscher Beteiligung an diesem Vorhaben die Auffassung rechtfertigen, daß die deutsche Außenwirtschaftsgesetzgebung einschließlich ihrer Restriktionen in der jetzigen Form erhalten bleiben muß und daß sie nicht, wie mancherorts gefordert, aufgeweicht werden darf?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich möchte noch einmal sagen, daß die Bundesregierung nach Bekanntwerden des Baus der ersten Kampfstoffabrik in Rabta in Libyen umfangreiche rechtliche und organisatorische Vorkehrungen zur wirksamen Verhinderung ähnlicher Vorgänge getroffen hat. Es ist nicht beabsichtigt, diese oder andere gesetzliche Regelungen zu verändern. Der jetzt bekanntgewordene Fall bestätigt, daß wir uns aus guten Gründen eines der strengsten Exportkontrollrechtssysteme der Welt gegeben und dieses nach
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18420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Pari. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnerdem Vorgang in Rabta noch einmal verschärft haben.Vizepräsident Helmuth Becker Nunmehr kommen wir zur Beantwortung der Frage 39 des Kollegen Gansel:Für welche Länder hat die Bundesregierung seit dem 1. Oktober 1990 welche Produktions- und Exportgenehmigungen für Kriegsschiffe nach dem Kriegswaffenkontroll- bzw. Außenwirtschaftsgesetz erteilt?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, seit dem 1. Januar 1990 wurden Herstellungs- und Exportgenehmigungen für die Länder Türkei, Portugal, Griechenland, Vereinigte Arabische Emirate, Israel, Indonesien sowie Südkorea erteilt. Diese Angaben betreffen den kommerziellen Bereich des Kriegswaffenkontrollgesetzes.
Der Kollege Gansel stellt eine Zusatzfrage.
Da ich nach den Produktions- und Exportgenehmigungen sowohl nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz wie auch nach dem Außenwirtschaftsgesetz gefragt habe, und dies für alle Länder seit 1990, und da ich zugebe, daß die Beantwortung im Rahmen der mündlichen Fragestunde vielleicht etwas lang ausfallen würde, möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, mir eine Aufstellung, unterschieden nach Kriegswaffenkontrollgesetzgenehmigungen und Außenwirtschaftsgenehmigungen, nach Ländern und nach Kriegsschifftypen, schriftlich zur Verfügung zu stellen. Das ist ja so allgemein, daß dadurch der Datenschutz nicht tangiert sein kann.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Soweit der Datenschutz nicht tangiert wird, kann dies erfolgen, Herr Kollege Gansel. Allerdings müssen wir dabei die bestehenden gesetzlichen Bedingungen beachten. Da es nur wenige Hersteller gibt, die dafür in Betracht kommen, müssen die Angaben so erfolgen, daß keine Rückschlüsse auf einzelne Hersteller möglich sind.
Der Kollege Gansel stellt eine weitere Zusatzfrage.
Nehmen Sie es mir nicht übel, aber wenn die U-Boote geliefert sind, weiß man, wo sie herkommen, es sei denn, Sie wollen wie bei der „Südafrika-Kiste„ das Design so verändern, daß die Herkunft vernebelt wird. Es sind ja große Kriegsschiffe, die auf Paraden vorgeführt werden können. Da können Sie uns doch mitteilen, an welche Staaten, auf welcher Grundlage und zu welchem Zeitpunkt sie von der Bundesrepublik geliefert worden sind.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, ich darf noch einmal sagen: Die erfragten Angaben habe ich Ihnen gemacht. Sie haben nach den Produktions- und Exportgenehmigungen gefragt. Offensichtlich meinen Sie das, wie ich Ihrer Erläuterung entnehme, nicht kumulativ, sondern es geht Ihnen auch um die Fälle, in denen es nur um Exportgenehmigungen, also nicht um Produktionsgenehmigungen geht. Das betrifft vor allen Dingen die NVA-Schiffe. Ich nehme an, daß das der Hintergrund Ihrer Frage ist.
Jetzt stellt der Kollege Koppelin eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob Sie die Politik der Bundesregierung nach wie vor für richtig halten, die 1991 den Bau eines Hubschrauberträgers für Thailand — Wert 350 Millionen DM — abgelehnt hat, so daß dieser jetzt in Spanien gebaut wird?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, diese generelle Frage im Hinblick auf unser Exportrecht muß natürlich tatsächlich im Zusammenhang auch mit den Harmonisierungsbemühungen in der Europäischen Union gesehen werden. Die Bundesregierung ist dafür — soweit dies möglich ist —, eine Harmonisierung herbeizuführen. Sie wissen, daß es im Bereich der Dual-use-Güter entsprechende Richtlinienvorschläge gibt. Im übrigen Bereich des Exportrechtes sind wir leider noch weit von einer solchen Harmonisierung entfernt.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär Göhner, daß Sie hier waren.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie und Senioren auf. Zur Beantwortung steht uns Frau Parlamentarische Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk zur Verfügung.
Die Fragen 40 und 41 der Kollegin Anke Fuchs sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit kommen wir zur Frage 42, die der Kollege Gernot Erler gestellt hat:
In welchen Bundesländern führt die Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes zur Anwendung des Sachleistungsprinzips auch für sogenannte privilegierte Asylbewerber und solche, die nicht in Sammelunterkünften untergebracht werden?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Erler, kann ich davon ausgehen, daß Sie unter „sogenannten privilegierten Asylbewerbern" den Personenkreis verstehen, der unter § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes fällt, also die sogenannten Altfälle, deren Verfahren länger als zwölf Monate gedauert haben, bestimmte Geduldete, die auf Grund von behördlichen Maßnahmen hierbleiben, und einen Teil der Bürgerkriegsflüchtlinge, die noch im Verfahren sind? — Gut, dann kann ich Ihnen wie folgt antworten:Herr Kollege Erler, auf eine Umfrage des Bundesministeriums für Familie und Senioren nach der Form der Leistungen für den Personenkreis des § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes bei den für die Durchführung dieses Gesetzes zuständigen Ländern haben bisher nicht alle Bundesländer geantwortet. Ich sage Ihnen gleich, wer geantwortet hat: Bayern,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18421
Parl. Staatssekretärin Roswitha VerhülsdonkBremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.Nach den Ergebnissen, die wir erhalten haben, werden dem Personenkreis des § 2 Sachleistungen sowohl in Einrichtungen als auch außerhalb von Einrichtungen in den Ländern Bayern, MecklenburgVorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen gewährt. In Bremen werden Sachleistungen an diesen Personenkreis erbracht, der in Einrichtungen untergebracht ist. In Niedersachsen werden an den Personenkreis des § 2 unabhängig von der Unterbringung überwiegend Geldleistungen erbracht. Als Sachleistungen werden allerdings teilweise Unterkunft, Heizung sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts gewährt.Die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz an die übrigen Leistungsberechtigten — also nicht die des § 2 — , die nicht in Sammelunterkünften untergebracht sind, werden in Form von Sachleistungen und Wertgutscheinen, zum Teil auch als Geldleistungen erbracht. Ein detaillierter Überblick hierüber liegt der Bundesregierung noch nicht vor. Das hängt mit der kurzen Zeitspanne zusammen, seitdem das Gesetz in Kraft getreten ist.
Herr Kollege Erler, Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, wie beurteilt denn die Bundesregierung die Folgen für die Betroffenen, die daraus entstehen, daß, wie aus Ihrer Antwort hervorging, eine völlig unterschiedliche Handhabung des Asylbewerberleistungsgesetzes in den verschiedenen Bundesländern vorgenommen wird, zumal, wie ich hinzufüge, auch noch dadurch, daß die weitere Ausfüllung dieses Gesetzes teilweise den Bundesländern überlassen wird, und durch eine Delegierung von Verantwortung an die Kreise und Städte eine noch weitere Differenzierung erfolgt?
Herr Kollege, ich habe Ihnen ja jetzt geantwortet im Hinblick auf den von Ihnen als „sogenannte privilegierte Asylbewerber" bezeichneten Personenkreis, bei dem ja die folgende Sondersituation vorliegt: Es gibt keine abgesenkten Leistungen, sondern es gibt dieselben Leistungen, wie sie nach dem BSHG auch deutsche Sozialhilfeempfänger erhalten. Die Mehrzahl der Länder, die bisher geantwortet haben — die anderen werden das in Kürze tun —, verfahren auch bei diesem Personenkreis so, daß sie überwiegend Sachleistungen erbringen. In anderen Ländern differenziert man nach der Frage, ob die Personen in Einrichtungen oder außerhalb von Einrichtungen untergebracht sind. Sie wissen aber sicher, daß im Gesetz die Möglichkeit offengehalten worden ist, in einem mehrstufigen Verfahren da, wo Sachleistungen für eine Verwaltung kaum in einer vernünftigen Weise erbracht werden können, Wertgutscheine oder auch in bestimmten Fällen Geldleistungen zu gewähren.
Ich kann nur sagen, daß sich in den Unterlagen, die wir bisher vorliegen haben, nirgendwo Anhaltspunkte für eine rechtswidrige Praxis ergeben. Drei Länder haben beispielsweise darauf hingewiesen, daß bei rechtswidriger Anwendung des Gesetzes die Kosten vom Land nicht erstattet werden. Das heißt, es ist den kommunalen Stellen mitgeteilt worden, daß sie bei rechtswidrigem Verhalten damit rechnen müssen, von den Ländern die Kosten nicht ersetzt zu bekommen.
Im übrigen ist es so, daß auch die Länder ihrerseits fachaufsichtliche Weisungen an die Sozialämter, die zuständigen Behörden auf der kommunalen Ebene, gegeben haben. Uns liegen keine Anhaltspunkte vor, die darauf hindeuten, daß irgendwo rechtswidrig verfahren wird.
Soweit die Länder in ihren Berichten — sie haben einen detaillierten Fragebogen erhalten — Erfahrungen mitteilen, wie sich die einzelnen Leistungsformen im Einzelfall darstellen, können wir feststellen, daß bei Wertgutscheinen offenbar positive Erfahrungen vorliegen. Dasselbe gilt für die Verwendung von Kundenkontoblättern. Nur die Hansestadt Bremen berichtet, daß es in bestimmten Fällen mit Kostenübernahmescheinen Schwierigkeiten gegeben habe. Das ist das, was ich Ihnen an Erfahrungen mitteilen kann, die uns auf unsere Anfrage hin bekanntgeworden sind.
Meine Damen und Herren, in der Fragestunde ist es eigentlich Vorschrift, daß Fragen kurz sein und eine kurze Antwort ermöglichen müssen. Ich bitte, mich dabei zu unterstützen, daß wir die Richtlinien einhalten können.
Bitte, Kollege Erler.
Frau Staatssekretärin, Ihre Ausführungen zum Kostendruck von seiten der Länder
— das beobachte ich — führen eher dazu, daß der Kreis derer, die Sachleistungen erhalten sollen, ausgedehnt worden ist. Wie beurteilen Sie etwa die Tatsache, daß in Sammelunterkünften Asylbewerber, die bis zwölf Monate, und solche, die über zwölf Monate in der Bundesrepublik verweilen, unterschiedslos Sachleistungen erhalten, daß darüber hinaus durch Interpretation des Gesetzes einfach jede
— auch private — Unterkunft, in der nur eine einzige Familie oder eine einzelne Person wohnt, zur Sammelunterkunft erklärt wird und damit unter das Asylbewerberleistungsgesetz im Sinne der Sachleistung fällt? Ist das nach Ihrer Auffassung auch kein Verstoß gegen Sinn und Zweck des Gesetzes?
Ich sagte ja schon, daß das Gesetz ein mehrstufiges Verfahren vorsieht, das einen Ermessensspielraum auf der kommunalen Ebene zuläßt, wobei zunächst einmal Sachleistungen zu erbringen sind. Nur in den Fällen, wo Schwierigkeiten mit Sachleistungen, insbesondere unwahrscheinlicher Verwaltungsaufwand oder andere unzumutbare Situationen eintreten, sind dann die weiteren Möglichkeiten, die ich schon genannt habe, vorgegeben.In der Diskussion im zuständigen Ausschuß für Familie und Senioren ist von den Abgeordneten sehr wohl deutlich gemacht worden, daß eine unterschiedliche Behandlung von Personen, die in Sammelunterkünften sind, nicht sehr sinnvoll und wünschenswert ist, weil sie natürlich zu psychologischen Belastungen
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18422 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonkund zu Schwierigkeiten unter den Betroffenen führen kann. Insoweit würde ich persönlich sagen, daß es vernünftig ist, wenn Personen, die in derselben Sammelunterkunft sind, auch in der gleichen Weise ihre Zuwendungen erhalten.
Zusatzfrage der Kollegin Christel Hanewinckel.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich kann mich erinnern, daß der Personenkreis des § 2 u. a. ja wohl die betrifft, die länger als zwölf Monate im Asylbewerberverfahren in der Bundesrepublik Deutschland sind. Dieser Personenkreis soll nach dem BSHG behandelt werden. Das heißt doch, daß sie aus dem Leistungsanspruch dieses Gesetzes herausfallen, und das bedeutet meines Erachtens dann auch — ich frage Sie, ob das nicht auch Ihrer Meinung nach so sein müßte —, daß sie nach den Richtlinien des BSHG ihre Leistungen bekommen und nicht nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Die Höhe der Leistungen richtet sich in dem Fall nach dem BSHG. Es sind also keine verkürzten Leistungen.
Zur Art und Weise, wie diese Leistungen erbracht werden: Ich sagte schon, insbesondere da, wo es sich um Sammelunterkünfte handelt, können es durchaus Sachleistungen sein. Die Länder, die berichtet haben, daß sie so verfahren, haben damit auch keine negativen Erfahrungen gemacht.
Ich weiß, Sie waren ja selbst bei der Diskussion dabei. Wenn ich mich recht erinnere, kam auch aus dem Kollegenkreis Ihrer Fraktion die Frage auf, wie sich die Situation psychologisch entwickelt, wenn in derselben Sammelunterkunft die einen so und die anderen so behandelt werden, die einen also einen geringeren Geldbetrag bar ausgehändigt bekommen und die anderen über die gesamten Mittel verfügen können.
Eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Andrea Lederer.
Frau Staatssekretärin, ist der Bundesregierung bekannt, in welchen Ländern, in denen nach den jetzt vorliegenden Antworten Sachleistungen erbracht werden, klageweise gegen diese Regelung vorgegangen wird?
Nein, das ist uns nicht bekannt. Der Fragebogen, den wir verschickt hatten, hat die Frage nach Klagen nicht enthalten. Es ist mir also nicht bekannt, daß da Meldungen vorliegen. Das wird sicher in der Realität so sein, aber ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten.
Nun kommen wir zur Frage 43 des Kollegen Gernot Erler:
Wie beurteilt die Bundesregierung die bisherigen Erfahrungen mit der Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes, und wo sieht sie gegebenenfalls einen Nachbesserungsbedarf?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Erler, der Bundesregierung liegen zur Zeit noch keine umfassenden Erfahrungen mit dem Asylbewerberleistungsgesetz vor — ich habe es schon gesagt —, aus denen sich gegebenenfalls ein Nachbesserungsbedarf ergeben könnte.
Die Bundesregierung steht seit der Beschlußfassung über das Gesetz in Kontakt mit den Ländern und verfolgt die Umsetzung des Gesetzes. Um sich einen genaueren Überblick und Aufschluß über den aktuellen Stand der Umsetzung zu verschaffen, hat mein Haus im Dezember letzten Jahres — auch das habe ich schon gesagt — einen umfangreichen Fragenkatalog an die Länder gerichtet.
Das angestrebte Informationsziel konnte jedoch bisher nicht erreicht werden, da, wie ich schon sagte, lediglich acht Länder auf die einzelnen Fragestellungen eingegangen sind, so daß ein umfassender und aussagekräftiger Sachstandsbericht bisher leider noch nicht vorliegt.
Von einigen Ländern stehen die Antworten noch aus, andere Länder sehen sich vor allem wegen der Kürze der Zeit nach dem Inkrafttreten am 1. November 1993 bisher noch nicht in der Lage, zu berichten. Ich weiß z. B., das Land Nordrhein-Westfalen hat die Fragen an die Bezirksregierungen weitergegeben, die dann wiederum als Zwischeninstanz weiter nach unten recherchieren. Dieser Verfahrensweg führt natürlich zu einem längeren Zeitraum, bevor Antworten vorliegen.
Die Bundesregierung steht aber weiterhin in Kontakt mit den Ländern, insbesondere auch wegen der Frage, ob gesetzliche Änderungen notwendig sind. Auch diese Frage ist an die Lander gerichtet worden.
Zusatzfrage des Kollegen Erler.
Frau Staatssekretärin, ist für die Meinungsbildung der Bundesregierung ausschließlich relevant, welche Rückläufe von den Ländern kommen, oder nimmt die Bundesregierung auch zur Kenntnis, welche Ereignisse im öffentlichen Raum stattfinden, z. B. teilweise flächendeckende Hungerstreikaktionen der betroffenen Asylbewerberkreise, z. B. erhebliche Protestaktionen von Helferkreisen aus der Bevölkerung für die betroffenen Asylbewerber, z. B. Klagen von Ärzten, die nicht hinnehmen wollen, daß sie inzwischen chronische Erkrankungen nicht mehr behandeln dürfen und überhaupt jede Behandlung kostenmäßig anmelden müssen? Nimmt die Bundesregierung solche Aktionen und Reaktionen gar nicht zur Kenntnis?
Zunächst einmal zur gesetzlichen Lage: Beim Asylbewerberleistungsgesetz handelt es sich wie beim Bundessozialhilfegesetz um ein Bundesrahmengesetz. Die Ausführung und Durchführung dieses Gesetzes obliegt den Ländern bzw. den kommunalen Sozialämtern.Im Hinblick auf die Anwendung des Gesetzes sind also andere zuständig. Deswegen haben wir — wie ich schon sagte — bei denen nachgefragt, ob es Anwen-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18423
Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonkdungsschwierigkeiten gibt und ob gegebenenfalls die Länder einen Reformbedarf sehen. Ich habe Ihnen geantwortet, daß das bisher in qualifizierter Form oder überhaupt in irgendeiner Form nicht geltend gemacht worden ist.Das hat sicher auch etwas mit dem Zeitablauf zu tun, den ich auch gerade erwähnt habe. Natürlich nehmen wir die Pressemeldungen zur Kenntnis, die Sie zum Teil angeführt und zitiert haben. Deswegen haben wir uns an die zuständigen Behörden in der Frage gewandt: Gibt es Anwendungsschwierigkeiten?
Zusatzfrage des Kollegen Erler.
Frau Staatssekretärin, was beabsichtigt denn die Bundesregierung mit diesen umfangreichen Fragebogenaktionen gegenüber den Ländern? Wollen Sie das nur für Ihren Schreibtisch und für Ihre Akten haben, oder werden Sie daraus Schlußfolgerungen insofern ziehen, als Sie eine Zusammenfassung des Berichts an den zuständigen Ausschuß zur Beratung geben, so daß auf diese Weise auch das Parlament mit den Erfahrungen, die wir insgesamt mit dem Asylbewerberleistungsgesetz haben, vertraut wird?
Ich denke, der Bericht, wenn er vorläge, würde mir z. B. die Möglichkeit geben, Ihre Fragen noch genauer zu beantworten. Er wird uns auch in den Stand setzen, die Fragen im Ausschuß entsprechend zu behandeln. Er wird uns vor allen Dingen aber auch im Gespräch mit den Ländern die Möglichkeit geben, Umsetzungsschwierigkeiten zu erkennen und festzustellen, ob diese Umsetzungsschwierigkeiten durch eine gesetzliche Änderung oder etwa durch andere Maßnahmen behoben werden können, beispielsweise dadurch, daß ein Informationsaustausch zwischen den einzelnen Ländern zustande kommt, den wir beschleunigen und befördern könnten, so daß Länder, die bei ihrem Verfahren keine Probleme feststellen, dann auch im Kreise der Vertretungen der Länder ihre Erfahrungen weitergeben können.
Eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Christel Hanewinckel.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, sind Ihnen Fälle von Asylbewerberinnen bekannt, die schwanger sind und einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wollen, wobei es Probleme schon im Vorfeld mit der Beratung gibt, aber auch mit der Finanzierung des Schwangerschaftsabbruches, der j a im Leistungskatalog des Asylbewerberleistungsgesetzes z. B. so nicht vorgesehen ist?
Ja, es sind solche Fälle bekannt geworden, und es sind auch entsprechende Vorkehrungen getroffen worden, insbesondere im Hinblick auf die Information an die Länder, daß Beratungen und Schwangerschaftsabbrüche in bestimmten Fällen stattfinden können.
Wir sind damit am Ende der Beantwortung der Fragen aus dem
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie und Senioren. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Verhülsdonk, ich bedanke mich, daß Sie hier waren.
Meine Damen und Herren, wir sind damit gleichzeitig auch am Ende der Fragestunde. Die noch vorliegenden Fragen aus den Geschäftsbereichen des Bundesministeriums für Verkehr und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit werden nach unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste
Haltung der Bundesregierung zum ersten NATO-Kampfeinsatz seit 1949 und zur Beteiligung der Bundeswehr
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserer Frau Kollegin Andrea Lederer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will, bevor wir uns dem eigentlichen Thema der heutigen Aktuellen Stunde widmen, eine Bemerkung machen: Wir begrüßen es, daß die russische Initiative dazu geführt hat, einen NATO-Einsatz um Sarajevo zu verhindern, aber auch dazu, daß die Waffen in und um Sarajevo — weitgehend wenigstens — schweigen. Wir begrüßen auch die Initiative, mit der es gelungen ist, ein Abkommen zwischen der kroatischen und der bosnischen Republik zu schließen, um so in vielen Fragen einer Friedensregelung vielleicht ein bißchen näherzukommen.Zweifellos ist der Verstoß gegen das Flugverbot durch serbische Kampfflugzeuge ein eskalierender Akt gewesen, ebenso wie auch die zahlreichen Verstöße seit dem 31. März 1993. Aber es gibt dennoch einige Fragen, die, wie wir meinen, in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollten und über die auch in dieser Woche nicht ohne Debatte hinweggegangen werden kann.Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist: Warum jetzt? Warum der Abschuß der Maschinen, kurz nachdem durch die russische Initiative erstmals ein kleiner Hoffnungsschimmer für eine politische Lösung am Horizont erschienen ist? Warum jetzt, nachdem es diese Verstöße so zahlreich gegeben hat? Heißt dies möglicherweise, daß das Motiv darin besteht, daß die NATO-Staaten mit diesem Kampfeinsatz gegenüber Rußland die Initiative zurückgewinnen wollten? Wenn das der Fall wäre — und ich erwarte hier eine Antwort der Bundesregierung —, dann wäre dieser Kampfeinsatz ein schlimmes machtpolitisches Spiel mit dem Feuer. Wenn der Flugzeugabschuß Handlungsinitiative zurückerobern soll, dann kann dies auch nach sich ziehen — und das ist eben genau die Gefahr und das Risiko, das hätte einkalkuliert werden müssen —, daß eine Art neue Blockkonfrontation
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18424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Andrea Ledererentsteht. Ein solcher Weg kann nicht allen Ernstes als friedensfördernd betrachtet werden.Zweitens. Der NATO-Einsatz hat im besonderen Maße auch einen innenpolitischen Aspekt. Bundesaußenminister Kinkel hat mitgeteilt, daß Bundeswehrsoldaten an diesem Einsatz beteiligt waren. Wie viele eigentlich genau, wirklich nur einer, oder waren es doch mehr?
Wußte die Bundesregierung vor dem Kampfeinsatz, daß ein Bundeswehrsoldat beteiligt werden soll? Hat sie zu verhindern versucht, daß dieser Soldat beteiligt wird?
Wann, wo und mit welchem Inhalt hat sie interveniert?
— Sie können ja gleich antworten! — Hat sie diese Frage im nachhinein mit den Bündnisstaaten besprochen? Soll das künftig ausgeschlossen werden, zumindest bis in der Hauptsache durch Karlsruhe entschieden worden ist?Damit komme ich auf den dritten Punkt zu sprechen, die verfassungsrechtliche Lage. Dieser Kampfeinsatz unter Beteiligung der Bundeswehr ist ein klarer Verstoß gegen die Verfassung.
Es handelt sich erstens eindeutig um einen Kampfeinsatz, zweitens eindeutig um einen Kampfeinsatz außerhalb des Bündnisgebietes — und zwar den ersten der NATO seit ihrem Bestehen —, und an diesem Kampfeinsatz war eindeutig die Bundeswehr beteiligt.
Dies bedeutet: Die Bundesregierung nimmt nicht einmal die einstweilige Entscheidung aus Karlsruhe ernst, nach der nämlich, entgegen der Erklärung aus manchen Regierungsmündern, nicht festgeschrieben ist, daß das alles wunderbar von Karlsruhe gedeckt ist. Vielmehr ist eindeutig festgeschrieben: Bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist diese Frage offen, nicht geklärt.
Das heißt in diesem Fall: Die Bundesregierung hat offenkundig wissentlich entschieden, wiederum die schärfere Gangart einzuschlagen, also sich an Kampfeinsätzen zu beteiligen, anstatt mit solcherlei Aktivitäten zu warten, bis Karlsruhe eindeutig entschieden hat.Sie wissen, daß wir derlei Kampfeinsätze ablehnen, daß wir weiterhin vehement Widerstand gegen diese ganze Entwicklung leisten werden. Aber es zeigt eindeutig: Ihre Hauptdevise ist, Fakten zu schaffen — Hauptsache, man ist dabei.
Dies versuchen Sie mit allen Mitteln, egal, ob es in diesem Parlament eine Mehrheit gibt oder nicht,
egal, wie die überwiegende Mehrheit in der Bevölkerung denkt,
egal, wie Karlsruhe entscheidet, egal, wie die Grundgesetzinterpretation seit 40 Jahren ist.
Sie versuchen, durchzupeitschen, was Sie in Ihren Gesetzentwürfen etc. vorgeschlagen haben.
Das wiederum ist ein eindeutiger Schritt in Richtung Militarisierung der Außenpolitik.
Ich will zum Schluß noch einen Aspekt ansprechen:
Mit der Beteiligung der Bundeswehr an diesem Kampfeinsatz widerspricht die Bundesregierung all ihren eigenen Erklärungen, daß gerade in Jugoslawien eine Beteiligung an Kampfeinsätzen seitens der Bundeswehr auf Grund der historischen Erfahrung nicht in Betracht kommt. Ich zitiere den Kanzler.
Es bleibt aber trotzdem, auch wenn wir jetzt die Verfassungsänderung hätten,— „hätten" wohlgemerkt, so die Interpretation des Bundeskanzlers, wie er sie sich wünscht —eine Frage, ob nach den historischen Abläufen der Jahre '41 bis '45 jetzt ausgerechnet die Deutschen die richtigen Partner sind. Ich komme auf den Punkt. Ich sage das jetzt einmal ganz allgemein auf Kampftruppen bezogen: Ich bin nicht dafür. Ich habe das immer gesagt. Ich glaube, die Geschichte ist hier noch ganz lebendig.Auch ich glaube, die Geschichte ist ganz lebendig.
Frau Lederer, Ihre Redezeit ist abgelaufen, längst abgelaufen.
Ich komme zum Ende. — Diese Äußerung datiert vom 17. Februar dieses Jahres. Zwei Wochen später ist das Gegenteil die Realität. Das ist der Kurs der Bundesregierung:
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18425
Andrea LedererFalsche Behauptungen und anschließend versuchen, die Positionen durchzupeitschen, egal wie.Danke.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, machen Sie es mir doch nicht besonders schwer. In der Aktuellen Stunde, so heißt es — das kann jeder nachlesen —, darf jeder bis zu fünf Minuten reden, nicht mehr als fünf Minuten.Nun hat als nächster unser Kollege Paul Breuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 28. Februar 1994 haben die Völkergemeinschaft und die NATO durch einen Militäreinsatz nach meiner Einschätzung
ein klares politisches Signal gesetzt — das klare politische Signal, daß man nicht weiter bereit ist, ständige Überschreitungen und ständiges Vergehen gegen Resolutionen der Vereinten Nationen seitens der Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien, hier insbesondere seitens der Serben, zu dulden.
Frau Kollegin Lederer, ich glaube, daß im Vordergrund der deutschen Auseinandersetzung nicht die Frage der Verfassungsmäßigkeit stehen darf, auch wenn sie natürlich eine Rolle spielen muß. Im Vordergrund stehen muß vielmehr, ob den Menschen im ehemaligen Jugoslawien und dem Friedensprozeß eine Chance eingeräumt werden kann.
Es besteht kein Grund, meine Damen und Herren, über diesen Militäreinsatz zu jubeln — fürwahr nicht —, aber es besteht durchaus Grund zu glauben, daß ein klares Signal gesetzt worden ist, daß die Völkergemeinschaft entschlossen ist, zum einen durch diesen Einsatz der NATO eine weitere Eskalation nicht zuzulassen und zum zweiten nun um so stärker den politischen Prozeß für einen Friedensplan in Bosnien zu befördern.
Ich weiß natürlich, daß dies in der deutschen politischen Diskussion manchen absolut nicht in den Kram paßt. Die Frage, inwieweit ein militärischer Einsatz ein zulässiges politisches Mittel ist, ist in der deutschen Diskussion nicht nur in der jüngsten Vergangenheit, sondern im Prinzip in der Nachkriegsvergangenheit Deutschlands immer umstritten gewesen.
Aber, ich denke, daß hier an diesem Beispiel sehr deutlich wird, welche Dimension Streitkräfte als politisch kontrolliertes Mittel zur Beförderung eines Friedensprozesses haben können. Das ist die Hoffnung, die ich mit diesem Einsatz verbinde; denn die Serben scheinen — das wird deutlich in den letzten Tagen — ein Stück weit begriffen zu haben, daß das diplomatische Katz-und-Maus-Spiel, das sie ja nicht nur mit ihren eigenen Landsleuten betreiben, sondern mit der ganzen Welt — nicht nur mit der westlichen Welt —, vorbei ist.
Interessant ist die Reaktion der politischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland im Nachklang zu diesem Einsatz. Vielleicht darf ich als ein Beispiel dafür im ernstzunehmenden Bereich — damit meine ich die SPD —
den Kollegen Opel heranziehen. Die Redner der SPD haben ja Möglichkeiten, sich von seinen Äußerungen in dieser Debatte zu distanzieren.
Herr Opel führt folgendes aus. Er ist der Meinung, daß die Beteiligung der Bundeswehr an dem AWACS-Einsatz — also an dem Feuerleiteinsatz — verfassungswidrig sei. Nun wollen wir darüber nicht weiter streiten. Lassen wir das einmal dahingestellt.
Er sagt: Ich bin für diesen Einsatz, ich unterstütze ihn moralisch. Aber dann sagt er etwas, was mir sehr seltsam vorkommt. Er sagt nämlich, die Verfassung müsse deshalb so schnell wie möglich geändert werden, und das fordere die SPD seit Monaten.
Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, dann lassen Sie uns doch darüber abstimmen!
Der Vorschlag der Koalition liegt auf dem Tisch.
Nur, wenn ich jetzt Ihren Vorschlag gewichte, der auf dem Tisch liegt, dann ist es doch wohl eindeutig, daß er einen solchen Einsatz nicht zuließe. Er ließe einen solchen Einsatz nicht zu! Ich denke, Sie müssen sich jetzt aus dem Zwielicht herausbewegen. Sie sagen Ihren eigenen Parteileuten zum Teil — —
— Herr Duve, das wissen Sie doch besser als ich. Sie sagen Ihren eigenen Parteileuten zum Teil: Der Parteitagsbeschluß läßt Kampfeinsätze der Bundeswehr nicht zu.
Herr Kollege Breuer, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich bin gerade fertig. — Herr Scharping geht zur Wehrkundetagung in München und sagt: Die Position der SPD nähert sich der der Bundesregierung an; wir sind außenpolitisch handlungsfähig.Entweder kann das eine der Fall sein, oder das andere kann der Fall sein. Das, was Herr Opel sagt, kann aber überhaupt nicht der Fall sein.
Ich bitte, in dieser Debatte aufzuklären — und zwar vor der deutschen Öffentlichkeit —, wie diese Wirrnisse innerhalb der SPD denn zu verstehen sind.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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18426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Also, noch einmal mein Appell: bis zu fünf Minuten.
Nun hat das Wort der Kollege Freimut Duve.
Die letzten Tage haben gezeigt, daß der neue Frieden eine Chance hat. Welche Chance? Zivile Friedensregelungen können nicht länger von den Gewaltbereiten als zahnlos diskriminiert werden. Der Vertragsentwurf von Washington ist ein erstes Zeichen. Der ethnische Trennungsplan von Vance/Owen ist endgültig beseitigt. Der neue Vertrag ermöglicht Zusammenarbeit und zieht keine neuen Grenzen. Der neue Vertrag vermeidet all die tödlichen Gefahren, die bisher aus den Plänen drohten: Frage des Zugangs zum Meer, Auseinanderzerren von Wirtschaftsräumen, gewaltsame Trennung von Menschen unterschiedlicher religiöser Herkunft. Der neue Vertrag eröffnet die Chance zur Rückkehr in die Zivilgesellschaft. Der Vance/Owen-Plan barg das Risiko des neuen religiösen Fanatismus.
Aber der Frieden, der jetzt seine Chance hat, bleibt ein Siegfrieden. Die serbische Seite hat die meisten ihrer Kriegsziele erreicht. Daß die Bitterkeit der Verlierer nicht zur Quelle für neue Konflikte wird, hängt auch davon ab, wie wir jetzt mit den Bosniern, den Moslimen und Kroaten, umgehen und wie wir ihnen bei der Ausführung dieses ersten Schritts von Washington helfen.
Der Abschluß des Föderations- und Konföderationsabkommens ist erst unter dem Eindruck der festen Haltung der UNO möglich geworden. Das sagen uns die deutschen Partner aus dem Auswärtigen Amt, die an diesen Gesprächen in Washington teilgenommen haben. Kroaten und Moslems haben sich geeinigt — ich nenne einige wichtige Punkte —: Erstens werden Grenzen nicht verändert. Auch die Krajina, jetzt von serbischem Militär besetzt, gehört weiter zum kroatischen Staat. Zweitens. Zwischen der Föderation und Kroatien wird ein Verbund entstehen, der auf die Einverleibung der Herzegowina verzichtet, aber die intensive Zusammenarbeit regelt. Drittens. Serbien ist eingeladen, die bosnischen Serben sind eingeladen, an dieser schwierigen Konstruktion mitzuwirken. Bisher haben wir keine total ablehnenden Signale.
Außerdem haben wir die reale Chance, daß der Flughafen von Tuzla geöffnet wird. Sie werden verstehen, daß ich persönlich mich darüber besonders freue, denn ich habe mir erlaubt, dies vor einem Jahr als Forderung in den Bundestag einzubringen. Der Einsatz von etwa 50 russischen Militärbeobachtern ist geplant. Ich mache darauf aufmerksam, daß dies bereits eine Planung aus dem Dezember ist. Wer da jetzt etwas anderes unterstellt, daß die Russen da nun plötzlich sein wollen, irritiert die Situation. Es ist unter Zustimmung von allen bereits im Dezember ausgemacht worden, daß auf dem Flughafen von Tuzla auch Russen, ganz wenige, zugegen sein werden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Der Frieden ist mit diesem Abkommen nicht garantiert, aber er hat eine neue Chance bekommen.
Wir sollten konstruktiv an dieser Chance mitarbeiten und sie nicht zerreden.
Je mehr wir dabei leisten, um so stärker werden andere zögern, ihn wieder einmal zu zerschießen. So bitter es auch für mich und uns alle ist: Vielleicht hätte es ohne den Abschuß der vier Maschinen über Banja Luka den Abschluß von Washington so nicht geben können.
Es gibt keine wirkliche Kritik an der Aktion.
Herr Kollege Duve, die Redezeit ist wieder weit überschritten. Ich bitte, doch zum Schluß zu kommen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18427
Ich will nur sagen: Eine Regierung Scharping hätte
nach meiner Überzeugung ähnlich reagiert wie das Präsidium meiner Partei, nämlich zustimmend zur Kenntnis nehmen, was dort jetzt an Chancen möglich geworden ist.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, als nächstem Redner erteile ich jetzt unserem Kollegen Jürgen Koppelin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der deutschen und in der internationalen Öffentlichkeit ist der Einsatz der Vereinten Nationen und in ihrem Auftrag der NATO gegen die Verletzer des Luftraums über Bosnien auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Zu Triumphgefühlen besteht jedoch — das ist hier schon gesagt worden — überhaupt kein Anlaß, solange der unsägliche Krieg nicht beendet und der Friedenswille aller Beteiligten nicht glaubhaft bewiesen ist.Gerade in den letzten Tagen mehren sich jedoch die Anzeichen dafür, daß die internationalen Sanktionen und der Wille der Völkergemeinschaft, den Krieg in Ex-Jugoslawien zu beenden, die Aggressoren aller Seiten endlich zur Vernunft bringen könnten. Wenn die UNO- und die NATO-Bemühungen hierzu beitragen, dann sind beide Organisationen ihrer Aufgabe, dem Frieden zu dienen, nach unserer Auffassung überzeugend gerecht geworden. Meine Damen und Herren, fest steht: Es wurde nicht frivol Kriegsspiel getrieben — das sage ich einmal in Richtung PDS —, sondern das war eine Aktion der UN, ausgeführt durch die NATO, gegen Völkerrechtsverbrecher.Nun zur deutschen Beteiligung: In einer Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im April letzten Jahres zugestimmt, daß deutsche Soldaten bei den AWACS-Verbänden im Einsatz bleiben. Jedem war klar, was der AWACS-Einsatz bedeutet. Neben der Observierung und Verfolgung, dem Veranlassen zur Umkehr oder zur Landung schloß dieser Einsatz auch den äußersten Fall ein: die gezielte Herstellung der Kampfunfähigkeit nach entsprechender Vorwarnung.
Mit der Beauftragung der NATO durch die UNO und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, daß die deutschen Soldaten an Bord bleiben, lag ein Auftrag vor, der die Möglichkeit der Erzwingung mit Waffengewalt einschloß, mithin also ein Kampfauftrag. Zum jetzigen Zeitpunkt vom ersten NATO-Kampfeinsatz seit 1949 — so die PDS — zu reden, ist falsch; denn dieser Einsatz findet seit April letzten Jahres statt.
Meine Damen und Herren, möglicherweise ist bei den serbischen Kampfführern der Eindruck entstanden, bei der Luftüberwachung werde es nicht so genau genommen, und der Wille der Völkergemeinschaft, dem Völkermord in Ex-Jugoslawien Einhalt zu gebieten, sei nicht besonders stark. Dieser Eindruck ist nunmehr auch durch diesen Einsatz am 28. Februar korrigiert worden. Ich hoffe nun, daß die Chancen für einen Frieden nicht schlechter, sondern besser geworden sind. Es kann nur richtig sein, wenn Deutschland im Kreis der demokratischen Allianzen, im Kreis regionaler Sicherheitsstrukturen und im Auftrag der Vereinten Nationen seinen bescheidenen Beitrag erfüllt — und dies in Übereinstimmung mit den zivilisierten Nationen. Wer fordert, daß wir aus dieser großen Gemeinschaft austreten, der will die Isolierung Deutschlands.
— Na, Herr Kollege Duve! Das habe ich ganz anders gehört. Lesen Sie einmal nach, was Ihre Fraktion gerade vor einem Jahr bei der Debatte zum AWACSBeitrag gesagt hat. Das empfehle ich zur Lektüre.
Unser Land will nicht mit Kraftmeierei in der Welt auftreten, genausowenig aber auch nicht kleinlich und verzagt sich der aktiv betriebenen Verteidigung des internationalen Rechts entziehen.Ich will bei dieser Gelegenheit diese Debatte nutzen, um Ihnen, Herr Bundesaußenminister, recht herzlich für Ihr Engagement zur Lösung der Probleme in Ex-Jugoslawien zu danken.
Sie haben immer wieder zusammen mit Ihrem französischen Kollegen Initiativen ergriffen. Man kann nur hoffen, daß sich Ihre intensiven Bemühungen letztlich doch lohnen werden. Sie haben allerdings — das will ich hier sagen; ich habe einiges an Interviews von Ihnen nachgelesen — immer wieder deutlich gemacht, was auf die NATO zukommen kann. Sie haben niemanden darüber im unklaren gelassen. Auch das darf hier wohl gesagt werden.
Ich will auch durchaus anerkennen, was das Präsidium der SPD zum Abschuß der Kampfflugzeuge über Bosnien-Herzegowina gesagt hat. Sie haben sich da sehr moderat verhalten, und der Kollege Duve hat das ähnlich getan. Herr Kollege Duve, auch auf Grund Ihres Zurufes von vorhin sage ich Ihnen: Lesen Sie wirklich durch, was vor einem Jahr Ihr Kollege Günter Verheugen mit sehr schweren Vorwürfen gegen den Bundesaußenminister hier gesagt hat.
Sie können die Vorwürfe, die Sie vor einem Jahr gemacht haben, in keiner Weise aufrechterhalten. Und Herr Verheugen hat damals — das kommt ja noch hinzu — in der Debatte auf Befragen eines Kollegen von der CDU/CSU — ich glaube, es war der Kollege Lamers — gesagt: Auch wenn rechtlich alles geklärt wäre, die SPD würde die Beteiligung deutscher Soldaten bei AWACS-Flügen ablehnen.
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18428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Jürgen KoppelinEr hat weiter gesagt — ich zitiere —:Wohin ist die Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes in den Händen dieser Regierung geraten?Ich sage Ihnen dazu: Die Außen- und die Sicherheitspolitik ist bei dieser Koalition, bei dieser Regierung in den richtigen Händen. Wären wir in der Vergangenheit der SPD gefolgt, wären wir garantiert in der Isolierung.Vielen Dank für Ihre Geduld.
Nunmehr hat unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Krieg — nicht etwa ein innerjugoslawischer Bürgerkrieg, sondern es ist Krieg in Europa, Krieg in einem Land, in dem schon einmal vor einem halben Jahrhundert unter Beteiligung deutscher Truppen Greuel eines Ausmaßes verübt worden sind, daß dieses Europa seither weiß: Krieg ist kein Mittel der Politik, sondern ein Werkzeug der Barbarei, eines der in Nürnberg verurteilten Verbrechen gegen den Frieden.Wenn in einem Land mitten in einem Europa, das dieses alles sehr genau weiß, nun wieder in diesem Sinne Krieg ist, dann kann man dem britischen Außenminister Douglas Hurd nur zustimmen, wenn er den Abschuß von vier serbischen Kampfflugzeugen durch NATO-Luftstreitkräfte einen „sehr ernsten Vorfall " nennt.Aber — das müssen wir uns jetzt fragen, meine Damen und Herren — wie steht es denn um unsere Politik, wenn erst eine solche Kriegshandlung des Abschusses von vier Flugzeugen nötig ist, damit wir begreifen, wie ernst unsere Lage ist?Sie ist schon deswegen ernst, weil es beinahe ein Jahr gedauert hat, bis die NATO-Streitkräfte ernst gemacht haben mit der Durchsetzung eines Flugverbotes, das die UNO bereits am 31. März 1993 beschlossen hatte. Mein Kollege Poppe hat schon damals darauf hingewiesen, daß die Resolution 816 eigentlich viel zu spät gekommen ist, weil schon damals deutlich war, daß die serbischen Aggressoren ihre Eroberungsziele im wesentlichen erreicht hatten. Heute sind sie dabei, sich den von ihnen geraubten Territorialbesitz international garantieren zu lassen. Insofern war der verbotene Flug ein Test, wie weit sie mit dieser internationalen Indulgenz schon gekommen sind.
Insofern war es höchste Zeit, klarzustellen, daß es für die Aggressoren in der Tat ernst wird, weil jetzt wenigstens für sie gilt, was ihnen schon längst hätte klargemacht werden müssen: Dans la guerre — comme la guerre. Aber leider haben sie erst jetzt erfahren, daß sie nicht nur wehrlose Frauen zu Kontrahenten haben, die man nur zu vergewaltigen braucht, oder spielende Kinder, die man aus dem sicheren Versteck niederkartätschen kann. Die legitime Autorität der UNO und deren Waffen haben sie dort gestellt, wo sie sich schon immer befunden haben: bei einem Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit.
Aber der ganze Ernst unserer Lage wird uns erst klar, wenn wir die zweite Hälfte von Douglas Hurds Sentenz hören.
— Ich glaube, wenn Sie das gehört haben, meine Herren Kollegen, werden Sie zurückhaltender mit billigen Zwischenrufen.
Der Flugzeugabschuß dürfe die Friedensanstrengungen nicht beeinträchtigen, hat Herr Hurd gesagt.Aber ich frage uns alle — ohne daß ich die Bemühungen des Herrn Bundesaußenministers jetzt kleinreden will —: Haben diese Anstrengungen in einem sehr ernsthaften Sinne des Wortes eigentlich schon begonnen? Man kann es sich an der deutschen Beteiligung an der NATO-Aktion klarmachen. Die AWACS-Spezialisten haben getan, wozu sie das Karlsruher Urteil ermächtigte, und es steht mir nicht an, das in Frage zu stellen; ich will es auch nicht.
Aber ist diese Mitwirkung denn von Ferne, was als Friedensanstrengung von uns erwartet wird?Der erste Schritt einer Friedensanstrengung wäre ein gerade von unserem Land, einem gegenüber den Völkern des ehemaligen Jugoslawien moralisch so tief verschuldeten Land, mit besonderem Engagement zu betreibendes UNO-Verfahren zur Verurteilung der Aggression gegen Bosnien,
zur Nichtanerkennung der aus Aggression entstandenen Grenzverschiebungen und zur Ermittlung gegen die Verantwortlichen, die ja bekannt sind und die im Mazowiecki-Bericht dokumentiert sind.Ein zweiter Schritt wäre die Einberufung eines Tribunals zur Aufklärung und Ächtung jenes Mißbrauches, den die serbische Akademie der Wissenschaften — wie sie sich nennt — mit ihrer Wissenschaft betreibt, urn ein ganzes Volk zum Verbrechen der Völkerverhetzung zu verführen. Es ist endlich in aller Öffentlichkeit klarzustellen, welchen Anteil die Religionen an dieser Völkerverhetzung haben.Als dritter und entscheidender Schritt wird von uns ein Engagement für die Fortführung des Helsinki-Prozesses erwartet. Kommt nicht ein Skandal ans Licht, meine Damen und Herren, wenn wir das, was in Korb I der Helsinki-Vereinbarungen über Sicherheit der Grenzen und Zusammenarbeit selbstbestimmter Völker steht, mit der Dürftigkeit der Friedensanstrengungen zur Beendigung der serbisch-kroatischen Teilung Bosniens vergleichen?Nichts Geringeres als ein Helsinki II wird von uns erwartet, eine Initiative für Sicherheit durch Zusammenarbeit. Sie kann allein auf Helsinki-Ebene zustande kommen, weil allein hier die USA und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18429
Dr. Wolfgang UllmannRußland selbstverständlich und gleichberechtigt einbegriffen sind.
Herr Ullmann, ich muß Sie auch darauf aufmerksam machen: Ihre Redezeit ist längst abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich komme zum Schluß. Gerade die Deutschen, die mit der Sowjetunion gemeinsam den Zweiten Weltkrieg durch die Teilung Polens eröffneten, sollten die Pflicht zur Selbstprüfung gegenüber dieser Frage besonders ernst nehmen. Friedensanstrengungen beginnen ernsthaft erst da, wo jede Kollaboration durch Duldung der Aggression beendet ist.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erkenntnis, daß Gewalt oft in letzter Konsequenz nur mit Hilfe von Gegengewalt gestoppt werden kann, ist bitter, sehr bitter sogar. Dennoch, sie entspricht leider der Realität. An der völkerrechtlichen Zulässigkeit des Abschusses von vier Jagdflugzeugen am 28. Februar besteht kein Zweifel. Grundlagen waren die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates Nr. 781 vom 9. Oktober 1992 und Nr. 816 vom 31. März 1993. Der Einsatz ist auf internationale Zustimmung gestoßen. Außenminister Kosyrew hat unterstrichen, daß die für den Vorfall verantwortliche Kriegspartei die alleinige Verantwortung dafür trage. Es deutet einiges darauf hin, daß es sich um bosnisch-serbische Maschinen handelte. Sicher ist es inzwischen immer noch nicht.
An Bord der AWACS-Maschine, die die Verletzung des Flugverbots entdeckte, befand sich ein deutscher Funkmechaniker. Wir waren vorher darüber nicht unterrichtet — weil die Frage gestellt wurde —, aber die Bundesregierung hat am 2. April 1993 entschieden, einen NATO-Beschluß zur Durchsetzung des Flugverbots zu unterstützen, einschließlich deutscher Besatzungsmitglieder auf AWACS-Flugzeugen. Das Bundesverfassungsgericht hat die hiergegen gerichteten Anträge auf einstweilige Anordnung abgelehnt. Dabei wurde der Ernstfall nicht ausgenommen und konnte nicht ausgenommen werden.Mit ihrer Bereitschaft zur Unterstützung friedenserhaltender Maßnahmen und anderer Missionen von KSZE und UN hat die Allianz die Antwort auf das neue regionale Konfliktszenario gegeben, das nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation den Frieden in Europa durch Rückkehr der Barbarei bedroht. Ohne die Festigkeit und ohne die Glaubwürdigkeit desBündnisses hätten die Serben auch ihre schweren Waffen um Sarajevo herum nicht abgezogen.
Frieden und Sicherheit heißt Stärke des Rechts und nicht Recht des Stärkeren.
Wer dies will, muß der Völkergemeinschaft dazu verhelfen, daß sie die notwendigen Handlungsinstrumentarien hat. Ich sage es wiederholt und erneut: Auch wir dürfen dabei nicht abseits stehen, wenn wir glaubwürdig und politisch handlungsfähig bleiben wollen.Die Klärung der verfassungsrechtlichen Grundlagen künftiger Bundeswehreinsätze bleibt deshalb dringlich. Auch wiederhole ich: Die Kultur der Zurückhaltung hat uns gut angestanden. Wir wollen an ihr festhalten. Wir wollen sie nicht aufgeben.
Aber, meine Damen und Herren, wir müssen uns erst einmal in die Lage versetzen, und zwar im Deutschen Bundestag, ja oder nein sagen zu können. Deshalb wiederhole ich meinen Aufruf dringender denn je — er richtet sich an die SPD —: Stellen Sie sich Ihrer Verantwortung, damit Deutschland bündnisfähig bleiben kann!
Ich sage das ganz ruhig und gelassen an die Adresse von Herrn Scharping, der immer betont, zwischen SPD und Bundesregierung, Koalition, bestünden außenpolitisch keine wirklich ernsthaften Differenzen. Ich sage ganz klar: Das ist falsch. Hier wäre wirklich ein klärendes Wort am Platz.
Daß dieser Appell beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch etwas fruchtet, bezweifle ich. Sie haben sich auf ihrem Wahl-Parteitag in Mannheim mit den Forderungen nach Auflösung von Bundeswehr und NATO im wahrsten Sinne des Wortes aus der politischen Wirklichkeit abgemeldet.
— Ja, darum kümmere ich mich ja in der Praxis sehr.
Sie haben mich auch weitgehend unterstützt, aber Sie haben uns in einer ganz wesentlichen Frage bisher im Stich gelassen. Sie unterstützen die Bundesregierung und die Koalition in ganz wesentlichen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik; aber Sie haben uns — das muß in diesem Bundestag gesagt werden — in der Frage der Grundgesetzänderung in einem ganz entscheidenden Punkt im Stich gelassen.
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18430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Dr. Klaus KinkelDie UNO hat im Zusammenwirken mit dem Bündnis sowohl bei dem Sarajevo-Ultimatum wie auch jetzt bei der Durchsetzung des Flugverbots eines ausdrücklich klargemacht —ich bin froh, daß das so gekommen ist —: Die Resolution des Sicherheitsrats stehe nicht nur auf dem Papier. Das hat ganz offensichtlich seinen Eindruck nicht verfehlt. Dieses Momentum muß nun politisch weitergenutzt werden.Das stärkere amerikanische Engagement — das ich von den Amerikanern seit Monaten gefordert habe —, das auf dem Aktionsplan der Europäischen Union aufbaut, zeigt jetzt erste Früchte. Die Bundesregierung und ich begrüßen nachdrücklich das vorgestern in Washington geschlossene Rahmenabkommen zwischen der bosnischen und der kroatischen Regierung. Wir erwarten, daß die Verhandlungsparteien die noch offenen Einzelfragen in gutem Willen und mit dem Ziel einer dauerhaften Verständigung klären. Dann muß darauf aufbauend zusammen mit den Serben eine Gesamtlösung für Bosnien-Herzegowina gesucht werden. Ich sage es noch einmal: Das Momentum, das jetzt in Gang gekommen ist, muß genutzt werden.Wir sind politisch aktiv an den Friedensbemühungen beteiligt. Wir waren und sind in Washington dabei. Zusammen mit meinem Kollegen Alain Juppé habe ich die Friedensgespräche durch unsere Initiative eigentlich erst wieder in Gang gebracht.Die Einbindung Rußlands in die internationalen Friedensbemühungen ist angesichts des russischen Einflusses auf die Serben von ganz erheblicher Bedeutung. Ich möchte noch einmal mit großem Nachdruck und ganz bewußt sagen: Es wird ohne die Beteiligung Rußlands im früheren Jugoslawien keine Lösung geben.
Der jetzt in Washington erzielte Durchbruch zwischen Moslems und Kroaten basiert auch auf den auf dem Petersberg vor kurzem geführten Gesprächen. Ich habe selber mit dem Kollegen Granic aus Kroatien, bevor er nach Washington gefahren ist, stundenlange Gespräche geführt und ihn dringend gebeten, auf das, was sich jetzt abzeichnet, einzugehen.Das Treffen hoher Beamter aus den Staaten der Europäischen Union, den USA, Rußland, Kanada und der UNO vergangene Woche in Bonn hat die Prioritäten für die Verbesserung der humanitären Lage in Bosnien festgelegt, die nunmehr im UNO-Sicherheitsrat beraten werden. Als Folge russischer Bemühungen haben sich die Aussichten auf Wiedereröffnung des Flughafens Tuzla gebessert. Auch ich begrüße das sehr, weil es dringend notwendig ist. Das wäre ein riesiger Fortschritt.Wir dürfen über allem nicht die Notlage der Menschen in anderen umkämpften Gebieten vergessen. Wir müssen jetzt versuchen, mosaikhaft, ausgehend von der Sarajevo-Lösung, die erst noch politisch umgesetzt werden muß, die Hauptbrandherde in den Griff zu bekommen und weiter politisch in erster Linie auf einem friedlichen Prozeß, der hoffentlich zu einer Lösung führt, bestehen. Das muß im absoluten Vordergrund stehen. Ich bin ein klein wenig hoffnungsvoller als vor drei Wochen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Pflüger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, daß es gute Gründe gegen militärisches Engagement im ehemaligen Jugoslawien gibt. Darauf haben nicht zuletzt auch die Generäle der Bundeswehr immer hingewiesen. Bevor man so etwas macht, muß man es sehr verantwortlich durchkalkulieren und auch die Frage aufwerfen, ob man die Befriedung von Bürgerkriegsgebieten von außen überhaupt möglich machen kann.
Alle Gründe aber, die dafür vorgetragen worden sind, ein militärisches Engagement zu lassen, können, so finde ich, letztlich nicht mehr überzeugen, und zwar aus zwei Gründen.
Der erste Grund ist: Wir als Westen, als westliche Wertegemeinschaft, als NATO, als Europäische Union, aber auch als Vereinte Nationen machen uns unglaubwürdig, wenn wir Beschlüsse fassen und dann nicht darauf dringen, daß diese auch umgesetzt werden.
Zum Beispiel kann man sich an den Beschluß, humanitäre Transporte mit allen Mitteln zu schützen, den die UNO gefaßt hat, kaum noch erinnern. Er ist nie umgesetzt worden. Die Schutzzonen für Muslime sind durch Hungerblockaden, durch Belagerung zur Makulatur geworden. Die UNO hat schon im Oktober 1992 ein Flugverbot über Bosnien verhängt, im März 1993 hat eine Resolution des Sicherheitsrates verankert, daß dies auch militärisch durchzusetzen sei. Wenn das die von uns mitgetragenen Beschlüsse der Staatengemeinschaft sind und man inzwischen tausend Mal registriert hat, daß dieses Flugverbot übertreten worden ist, dann kommt irgendwann ein Punkt, ein Rubikon, wenn Sie so wollen, wo man sagen muß: So, jetzt haben wir lange genug gewartet, zugesehen, auf friedliche Lösungen gesetzt! Jetzt muß man handeln! Es ist gut und richtig, daß die NATO das in diesen Tagen gemacht hat.
Ich finde, daß wir keine Papiertiger sein dürfen. Wenn wir für unsere Werte in der innenpolitischen Diskussion streiten, wenn wir uns z. B. gegen das Wiederaufleben von ethnischem und nationalistischem Denken innenpolitisch völlig zu Recht zur Wehr setzen, dann können wir nicht zusehen, daß einige Kilometer vor unserer deutschen Haustür ethnische Säuberungen stattfinden. Ich bin dankbar dafür, daß die NATO eingegriffen hat. Ich bin wirklich dankbar dafür, daß es jetzt endlich dieses Signal gibt. Wir müssen jetzt nur darauf achten, daß dies nicht eine einmalige Aktion bleibt. Vielmehr muß der Druck kontinuierlich weiter ausgeübt werden, weil offenbar nur dieser in der Lage ist, die Friedensverhandlun-
Dr. Friedbert Pflüger
gen, die in der Tat notwendig sind, zu einem Ergebnis zu bringen.
Das ist der erste Grund dafür, warum es notwendig ist, etwas zu tun.
Der zweite Grund ist, daß man es irgendwann — das geht doch jedem so — nicht mehr ertragen kann, zu hören, was dort alles passiert. Peter Schneider hat im „Spiegel" vor etwa zwei Wochen einen Aufsatz über die Zustände in Sarajevo geschrieben. Er hat von einem jungen muslimischen Ehepaar berichtet, das sich, als sie geheiratet haben, versprochen hat, alle Wege in Sarajevo nur noch zusammen zu gehen, damit nicht einer von beiden getötet wird. Drei Wochen nach der Hochzeit sind sie zu einer Wasserstelle gegangen. Dort ist die Frau von einem Granatsplitter ins Herz getroffen worden und gestorben. Seitdem ist der Mann geisteskrank, erkennt niemanden mehr, geht in Sarajevo immer in ein Cafe und zündet sich dort zwei Zigaretten an — die eine raucht er selbst, die andere läßt er im Aschenbecher ausglimmen. Das ist eines von 200 000 Schicksalen; denn 200 000 Menschen sind inzwischen durch diesen Krieg gestorben.
Wenn man sich dann einfach nur hinstellt und sagt: „Es darf nicht militärisch eingegriffen werden; wir beharren auf unserer fundamenal-ethischen, manchmal auch gesinnungspazifistischen Position! ", dann glaube ich, daß wir nicht verantwortlich handeln an dem, was in der Welt vor sich geht.
Ich glaube, Herr Duve, daß das, was Sie hier gesagt haben, richtig und gut ist; ich begrüße es auch. Nur verträgt sich all das, was Sie gesagt haben, nicht mit der nach wie vor fundamentalen Opposition der SPD gegen friedensschaffende Maßnahmen. Ich finde in der Tat richtig, daß hier eine Klärung notwendig ist — nicht, Herr Kollege Glotz, weil wir im Wahlkampf sind, sondern weil es notwendig ist, daß das, was man im westlichen Ausland als die deutsche Verweigerungskultur inzwischen bezeichnet, überwunden wird.
Ich finde — wenn ich das zum Schluß sagen darf —, daß die Evangelische Kirche in Deutschland mit dem Beschluß des Rates „Schritte auf dem Weg des Friedens", der vor kurzem veröffentlicht worden ist, wirklich in die richtige Richtung zeigt und daß das doch dazu beitragen könnte, daß wir uns in der Diskussion vielleicht näherkommen. Dort wird gesagt:
Die belastete Vergangenheit der Deutschen kann nicht dazu führen, daß es eine grundsätzliche Sonderrolle Deutschlands gibt. Prinzipiell ist davon auszugehen: Was für kanadische oder italienische Soldaten gilt, das gilt auch für deutsche. Gerade weil Deutschland militärische Gewalt in verbrecherischer Weise mißbraucht hat und durch den Einsatz militärischer Gewalt von einer Schreckensherrschaft befreit worden ist, hat das demokratische Deutschland allen Grund, sich im Rahmen der Vereinten Nationen oder der von ihnen beauftragten regionalen Organisationen an der Abwehr von Aggressionen und Friedensbedrohung zur Wiederherstellung des Rechtes zu beteiligen.
Das ist doch ein guter Weg —
Herr Dr. Pflüger, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
— und ein richtiger Weg, und auf dem sollten wir gemeinsam voranschreiten.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Peter Glotz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn irgendeine politische Maßnahme dazu führt, daß Menschen, die bisher ständig beschossen worden sind, nicht mehr beschossen werden, dann sollte man sich über diese Maßnahme zuerst einmal freuen. Wie immer man zu dem Sarajevo-Modell der NATO und der Drohung mit Luftangriffen steht — man kann ja skeptisch sein, ob da nicht immer Menschen getroffen werden, die eigentlich nicht getroffen werden sollten, und wie problematisch das ist —, in Sarajevo herrscht jetzt für die Menschen dort größere Sicherheit. Das ist mit Sicherheit zu begrüßen, meine Damen und Herren.
Wenn wir diese Debatte führen, dann führen wir sie unter diesem Aspekt: Wie ist mehr Sicherheit für Menschen aller drei Religionen, aller drei Volksgruppen zu gewinnen?, und nicht unter dem Aspekt, daß wir uns noch einmal unsere längst bekannten unterschiedlichen Rechtsmeinungen zu AWACS unter die Nase reiben und den GRÜNEN-Parteitag kommentieren.
Ich widerspreche zweitens dem Kurzschluß, die NATO müsse nur zum Schießen bereit sein, und schon seien die bosnischen Probleme lösbar. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die NATO, der Westen muß ein einheitliches politisches Ziel haben. Wenn sie das hat, dann kann ihre militärische Infrastruktur, Herr Pflüger, dann kann die Macht der NATO unter Umständen dazu führen, daß dieses Ziel auch politisch durchsetzbar wird. Das Problem der NATO war in den letzten Monaten nicht, daß sie nicht geschossen hat, das Problem der NATO war, daß Amerikaner und Europäer eine unterschiedliche Position vertreten haben; das war der Punkt.
Seit dem Herbst vorigen Jahres, meine Damen und Herren, gibt es eine einigermaßen einheitliche Politik der Europäischen Union, die insbesondere von den Franzosen und von den Deutschen vorangetrieben worden ist. Auch England hat sich Schritt für Schritt angenähert. Diese Politik ist darauf hinausgelaufen,
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18432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. Peter Glotzdarauf zu drücken, daß sich alle drei Kriegsparteien klarmachen, daß der Krieg nicht gewonnen werden kann als Krieg, Kriegsoptionen zu entmutigen. Am deutlichsten ist das beim Petersberger Gipfel im Januar gewesen.Ich will hier deutlich sagen, ich halte diese Politik der Bundesregierung für richtig. Die Bundesregierung und der Bundesaußenminister verdienen die Unterstützung des Bundestages für diese Politik seit September vorigen Jahres.
Man muß aber offen aussprechen, daß die Vereinigten Staaten lange Zeit anders optiert und die Kriegsoption einer Gruppe, nämlich der Muslime, unterstützt haben. Die Russen haben die Serben unterstützt, die Amerikaner die Muslime, und die Deutschen haben die Kroaten zumindest lange vor Sanktionen bewahrt. Das war der eigentliche Grund, warum wir mit den Ideen, Sarajevo und Mostar unter VN-Verwaltung zu stellen oder auch den Krieg in Mittelbosnien zu stoppen, nicht weitergekommen sind. Wenn wir jetzt in einer neuen Lage stehen, wenn wir jetzt eine Föderation bekommen können, dann liegt es vor allem daran, daß seit der NATO-Drohung von Sarajevo die Vereinigten Staaten ihren Schützlingen dasselbe sagen, was wir unseren Schützlingen schon seit Monaten sagen und was jetzt offensichtlich auch die Russen ihren Schützlingen zu sagen beginnen. Ich freue mich, daß es in Washington auch dazu gekommen ist, daß der bosnische Ministerpräsident Silajdzic inzwischen zugestimmt hat, was er lange nicht wollte, daß den Kroaten die Rolle eines konstitutiven Volkes und nicht nur einer Minderheit zugesprochen wird.Die zweite positive Veränderung liegt ohne Zweifel im Einfluß der Russen auf die Serben. Das hat der Bundesaußenminister gesagt. Das Geheimnis des noch sehr wackeligen Erfolges in dieser Tragödie liegt also nicht so sehr im Schießen, es liegt darin, daß jetzt die Amerikaner auf die Moslems, die Europäer, insbesondere auch die Deutschen, auf die Kroaten und die Russen auf die Serben einwirken, und zwar in der gleichen Richtung. Wenn das von Anfang an passiert wäre, hätten viele Tote verhindert werden können, meine Damen und Herren. Und das hätte unser Ziel sein müssen.
Wer will, kann da hinzufügen: Wenn eine solche einheitliche Linie auch militärisch bewehrt wird — da bin ich mit Herrn Pflüger einig —, dann ist das noch glaubhafter als ohne militärische Stützung.Klar ist dabei in jedem Fall: Es genügt nicht, daß man droht oder schießt, man muß auch noch ein politisches Konzept haben, meine Damen und Herren. Das hatten wir bisher nicht gemeinsam. Hoffentlich haben wir es gemeinsam. Halten wir daran fest, bringen es in den Sicherheitsrat der UNO ein und setzen es dort auch durch. Das muß unser Ziel sein.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Ulrich Irmer das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Meine Damen und Herren! Ich stimme dem zu, was Kollege Glotz gesagt hat, daß wir uns darüber freuen müssen, wenn vielleicht durch den militärischen Schlag in Bosnien die Bedrohung für Menschen geringer geworden ist. Das ist völlig richtig, und diese Auffassung teilen wir.Aber, Herr Glotz, wir können Sie und Ihre Partei nicht aus der Verantwortung lassen, daß Sie ja ursprünglich dagegen waren, daß dieses geschehen konnte.
Wir haben letztes Jahr in Karlsruhe als F.D.P.-Fraktion geklagt, weil wir einerseits die Beteiligung Deutscher an den AWACS-Flügen für unerläßlich hielten, auf der anderen Seite aber eine ungeklärte Verfassungsrechtslage vorfanden, die wir für unerträglich gehalten haben, und zwar nicht nur für dieses Parlament, sondern insbesondere auch für die Soldaten, die an dieser Aktion beteiligt werden sollten, und dieses nach unserer Auffassung nur auf klarer verfassungsrechtlicher Grundlage tun sollten.
Das war eine elegante, ungewöhnliche Verfahrensweise. Aber durch den Spruch des Bundesverfassungsgerichts im vorläufigen Verfahren ist dann diese Grundlage hergestellt worden. Ich möchte von dieser Stelle all den deutschen Soldaten danken, die bisher in den AWACS-Flugzeugen ihren Einsatz geleistet haben.
Meine verehrten Damen und Herren, wir sollten noch ein paar Klarstellungen vornehmen. Dieses war keine Aktion der NATO aus eigenem Recht — man muß das immer wieder betonen —, sondern es war ein Auftrag der Vereinten Nationen, bei dem die NATO die Ausführung übernommen hat. Und so sollte es bleiben. Die Verantwortung für Kampfeinsätze sollte bei den Vereinten Nationen monopolisiert sein und bleiben.
Ein zweites, ich habe es schon gesagt und der Kollege Koppelin hat darauf hingewiesen: Nicht der Abschuß war der Beginn des Kampfeinsatzes, sondern schon die Beobachtungsflüge waren auch nach unserer Verfassungslage ein Kampfeinsatz. Insofern ist auch die verfassungsrechtliche Lage seit Beginn des Einsatzes völlig unverändert gewesen.Ich möchte die SPD doch noch einmal etwas fragen. Sie haben — und keiner sollte das — den Einsatz nicht bejubelt. Aber Sie haben eingeräumt, daß er eine
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18433
Ulrich Irmerpositive Wirkung gehabt hat. Sie räumen auch ein, daß im Wiederholungsfall der Verletzung des Flugverbotes auch erneut Abschüsse vorkommen können und — konsequent — müssen.Ich will Sie jetzt wirklich fragen, wenn Sie das neuerdings so sehen, warum sperren Sie sich nach wie vor gegen die Grundgesetzänderung?
Das muß geklärt werden, und zwar in diesem Parlament. Vom Ergebnis her stimmen Sie uns jetzt zu. Kollege Verheugen hat letztes Jahr ungefähr um diese Zeit von dieser Stelle aus noch die Bundesregierung angegriffen und vehement beschimpft mit dem Tenor, uns ginge es nicht darum, den Frieden sicherer zu machen, sondern uns ginge es darum, die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland zu militarisieren. Wir haben dem damals vehement widersprochen. Inzwischen stellt sich heraus — und Sie geben es selbst zu —, daß wir recht gehabt haben. Wir fordern Sie auf, ja wir flehen Sie an: Wirken Sie mit bei dem, was wir notwendigerweise tun müssen.Allerdings habe ich meine Zweifel, daß Ihnen das gelingen kann; denn Sie wollen im Herbst an die Regierung, und als Regierungspartner bieten sich Ihnen die GRÜNEN an.
Die haben gerade gesagt, man sollte die Bundeswehr auflösen, sie nach Hause schicken, aus der NATO austreten. Meine Damen und Herren, da müssen Sie uns und dem Bürger rechtzeitig vor der Wahl noch sagen, wie sich das vereinbaren läßt, wenn Sie eine Koalition mit dieser Partei eingehen wollen.
Diese Frage stellen wir Ihnen immer wieder — bis wir eine befriedigende Antwort bekommen haben.Ich danke.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, unser Kollege Volker Rühe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Massaker auf dem Marktplatz in Sarajevo am 5. Februar war ein trauriger Höhepunkt des Krieges, aber auch ein Wendepunkt; denn danach gab es das Ultimatum der NATO. Ich glaube, daß heute jedermann erkennen kann, daß der Erfolg des Friedensprozesses in Jugoslawien ganz wesentlich von dem Willen der Vereinten Nationen und auch der Allianz abhängt, gegen Aggressoren und Gewalttäter notfalls auch mit militärischen Mitteln vorzugehen.Herr Glotz, es ist eine historische Erfahrung, daß man Gewaltanwendung desto eher verhindern oder doch begrenzen kann, je sicherer der Einsatz von Gegengewalt erwartet werden muß. Darauf hat im übrigen auch der Frieden dieses Landes für viele Jahrzehnte beruht. Vielleicht war es ein Fehler, daß man in den Verhandlungen nicht deutlicher und frühzeitiger diese Ultima ratio auch der Gewaltanwendung eingesetzt hat.Ich bin einverstanden mit Ihnen, daß Schießen nicht alles ist. Natürlich braucht man ein politisches Konzept. Aber das Entscheidende ist die Verbindung eines politischen Konzepts mit der militärischen Abschreckung. Das sind, glaube ich, die Erfahrungen der letzten Wochen. Auf diesem Wege sollten wir weiter fortschreiten.
— Ich glaube, daß Sie das falsch darstellten, als Sie den Amerikanern und den Moslems eine Schuld gegeben haben. Die Amerikaner waren nicht bereit, Druck auf die Moslems auszuüben, um einem ungerechten Frieden zuzustimmen. Ich finde, das war eine nachvollziehbare Haltung.
— Nein, auch Herr Kinkel hat niemals eine solche Position vertreten. Wir brauchen einen gerechten Frieden, denn sonst ist der nächste Krieg vorgezeichnet.
Deswegen brauchen wir eine gerechte Lösung auch für die Moslems in Jugoslawien.Hier soll Jugoslawien im Mittelpunkt stehen. Aber natürlich müssen wir die Verbindung zu unserer Rolle ziehen. Herr Duve hat gesagt, eine Regierung Scharping hätte die Abschüsse der serbischen Maschinen ebenso gebilligt —
— genau, das wollte ich sagen — wie das SPDPräsidium.
Wie stehen Sie zu der deutschen Beteiligung? Lassen wir die rechtliche Analyse mal außer acht! Wie stehen Sie inhaltlich zu der deutschen Beteiligung an den AWACS-Flügen? Der entscheidende Punkt ist doch folgender: Wer immer in Deutschland in den nächsten Jahren regieren wird, wird mit Situationen konfrontiert, in denen es auch darum gehen wird, daß z. B. auch deutsche Flugzeuge — genauso wie niederländische, amerikanische, englische und französische — unter dem Dach und im Auftrag der Vereinten Nationen eingesetzt werden, um solche Aktionen durchzuführen, wie das am Anfang dieser Woche der Fall war. Tragen Sie so etwas inhaltlich mit?
Wenn Sie das grundsätzlich ausschließen — auch ich bin dafür, daß es in dieser Krise nicht von Deutschen gemacht wird; aber ganz generell werden solche Situationen auf uns zukommen —, dann blokkieren Sie die Friedenseinwirkungsmöglichkeiten der
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18434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Volker RüheNATO und der WEU in Europa im Auftrag der UNO. Das ist die Frage, der sich die Sozialdemokraten stellen müssen und zu der sie noch inhaltliche Antworten geben müssen. Das wissen Sie auch, wie Sie hier angezeigt haben.
Es ist vom Außenminister zu Recht gesagt worden, daß Rußland eine konstruktive Rolle gespielt hat und daß wir diese auch weiterhin fördern und in Anspruch nehmen sollten.Ich möchte hier an die Leistungen der Bundeswehr erinnern, die trotz konkreter Gefahr für die Piloten und auch konkreter Drohungen gegen deutsche Flugzeuge täglich die Flüge nach Sarajevo durchführt — wir haben sie am Montag nur einmal für 24 Stunden unterbrochen, zusammen mit den anderen — und jede Nacht, auch diese Nacht, die Versorgung — trotz serbischer Drohungen — der Bevölkerung in Bosnien übernimmt. Ich glaube, das verdient, auch an dieser Stelle gewürdigt zu werden.
Genauso verdient es der Einsatz der Marine beim Embargo in der Adria, gewürdigt zu werden.Schon vor einem Jahr ist der UNO-Beschluß mit der Resolution 816 gefaßt worden. Es ist so lange nicht geschossen worden, weil es eine solche Verletzung durch Flugzeuge bisher nicht gegeben hat. In dem Moment, in dem es sie gegeben hat, ist von seiten der NATO sofort gehandelt worden.Ich glaube, daß die Frage zu Recht gestellt werden kann, wie wir dastünden, wenn wir nicht als Bundesregierung vor einem Jahr in einem schwierigen politischen und rechtlichen Prozeß dafür gesorgt hätten, daß die deutschen Soldaten an Bord der AWACS bleiben. Wir hätten uns international isoliert.
Deswegen sollten wir ohne Häme und in aller Ruhe darüber nachdenken und sind uns hoffentlich einig: Es kann in Zukunft keinen Unterschied geben zwischen dem Einsatz von Deutschen und beispielsweise Franzosen.
— Sie können Ihre Position nachher vertreten. Ich bin nicht der Meinung, daß ein 19jähriger Franzose auf Dauer ein größeres Risiko für den Frieden in Europa tragen soll als ein 19jähriger Deutscher.
Es ist doch nicht in Ordnung zu sagen: Es ist gut, was hier geschehen ist, daß die NATO im Auftrag der UNO gehandelt hat; aber wir wollen uns die Finger mit so etwas nicht schmutzig machen. Wenn das politisch und moralisch richtig ist — ich entnehme Ihren Ausführungen, daß es moralisch richtig war, so zu handeln —, dann müssen sich doch auch Deutsche daran beteiligen.
Es kommt jetzt darauf an, den Friedensprozeß in Bosnien energisch voranzutreiben. Wir brauchen einen gerechten und fairen Frieden. Nur der wird halten. Deswegen darf es keinen falschen Druck geben, sondern es muß der richtige Druck ausgeübt werden, um zu einem gerechten und fairen Frieden zu kommen. Das Zusammenleben aller Menschen in Bosnien muß unter gleichen Bedingungen sichergestellt werden. Die Menschen müssen ja wieder zusammenleben können. Die Bereitschaft hierzu muß gefördert werden. Sonst nützt das schönste Verhandlungspapier nichts.Eine gewaltsame Veränderung von Grenzen ist nicht hinnehmbar. Der Konflikt darf sich über Bosnien hinaus nicht ausweiten. Und jetzt ganz konkret: Hilfe und Schutz für die bosnische Bevölkerung müssen über Sarajevo und die Hoffnung, die es für Tuzla gibt, hinaus der Kern aller Bemühungen sein. Das muß schnell geschehen, damit die Menschen wieder zusammenleben können, damit sie in Frieden leben können. Dann hat der Friedensprozeß auch eine Chance. Dann, Herr Glotz, ist wohl die Lektion gelernt worden, daß man mit der richtigen Mischung von politischer Konzeption, Diplomatie, aber auch Bereitschaft, militärische Mittel einzusetzen, in der Welt, wie sie nun einmal ist, dem Frieden am besten dienen kann.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Christian Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der katholische Bischof von Banja Luka, mit dem ich gestern ein Gespräch geführt habe, hat in für mich sehr eindrucksvoller Art und Weise die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, die die Menschen über Sarajevo und Tuzla hinaus wieder schöpfen, auch wenn es schwierig sein mag, ihn durch die Realität in der Hoffnung zu bestärken, daß wir in der Frage eines fairen und gerechten Friedens schon über den Berg sind. Der Verteidigungsminister hat dies gerade deutlich zum Ausdruck gebracht.Wenn wir von dem Angriff gegen diese Menschen sprechen, dann müssen wir von den aufgestiegenen serbischen Flugzeugen sprechen. Wenn wir von einem Akt der Humanität reden, dann müssen wir den Einsatz der NATO nennen. Wenn wir den Blick auf die letzten Jahre zurück richten — ich will hier nicht nachtarocken —, dann müssen wir dabei eines noch einmal ganz deutlich machen: Das Prinzip der Abschreckung, das die NATO 45 Jahre lang getragen hat und das unseren Frieden in Europa getragen hat, funktioniert noch. Dieses Prinzip der Abschreckung ist leider zwei Jahre zu spät angewendet worden. Wir können uns vorstellen, was mit Vukovar oder Dubrovnik gewesen sein könnte, als es damals darum ging, ein deutliches Zeichen zu setzen.
Wir tun uns — bei allem Respekt vor den persönlichenBeiträgen des Kollegen Duve und des Kollegen
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Christian Schmidt
Glotz — sehr schwer mit unserer verquasten „Verfassungsdiskussion". Wir können sie beim Blick in die Vergangenheit, bei dem ich schon noch einen Augenblick bleiben werde, nicht einfach hinwegwischen. Die Zwischenfrage, Kollege Koppelin, die ich dem Kollegen Verheugen gestellt habe, ist in der Tat dezidiert mit Nein beantwortet worden, nämlich die Frage: Sind Sie, ist die SPD bereit, diesem Einsatz der NATO im Rahmen von AWACS zuzustimmen?Ich entnehme den Äußerungen, die heute gemacht worden sind, daß zumindestens ein Diskussionsprozeß in der SPD darüber im Gange ist, ob das denn der richtige Weg war. Nun gut, das wird möglicherweise nicht der letzte Fall gewesen sein, wo Abschreckung dokumentiert werden muß. Es bleibt zu hoffen, daß es anders ist. Aber daß wir als Parlament uns selbst und der Regierung den Weg versperren und jeweils den Umweg über Karlsruhe nehmen müßten, das kann doch wohl nicht der Sinn und das Ziel Ihrer Politik sein. Hic Rhodos, hic salta! Es wird nicht anders gehen können, als daß Sie hier und heute sagen: Sind wir nun grundsätzlich dafür, daß sich die Bundeswehr im Rahmen des Bündnisses auch bei Operationen, die im Auftrag der Vereinten Nationen außerhalb des Vertragsgebietes laufen, beteiligt oder nicht? Das ist die ganz entscheidende Frage.Ein Vorschlag, Herr Kollege Glotz, wie wir das aus dem Wahlkampf heraushalten: Unser Antrag wird ja immer noch beraten. Wir könnten ja unseren Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes — ich glaube, im Rechtsausschuß liegt er noch — wieder aufnehmen und darüber gemeinsam abstimmen.
Wenn der Deutsche Bundestag ihm mit großer Mehrheit, auch mit Ihren Stimmen, zustimmte, dann hätten wir genau das, was wir brauchen: Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Fähigkeit zur Abschreckung und zum Bündnis.
Bei den jetzigen Entwicklungen, bei der Petersberg-Konferenz und bei dem wesentlichen Beitrag der Bundesregierung zum Zustandekommen der — hoffentlich, sage ich — Friedensregelungen in Bosnien mit der Konföderation und der Föderation zwischen Serben und Moslems, will ich nicht verweilen.
— Entschuldigung, da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Es wäre ja schön, wenn wir es durch den Druck auch schaffen könnten, daß die Serben in Bosnien sich dazu verstehen, mit in eine Föderation einzutreten. Über Details ließe sich immer reden.Lassen Sie mich beim Blick in die Vergangenheit noch einmal auf den Antragsteller dieser Aktuellen Stunde zurückkommen. Jeder, der das martialische Wort vom ersten Kampfeinsatz der Nato und der Beteiligung der Bundeswehr mit dem Unterton unterlegt, da wäre Militarismus im Gange, muß sich fragen lassen, unter wessen Ägide welche deutsche Armee nach dem Zweiten Weltkrieg das einzige Mal in aggressiver Absicht tätig geworden ist. Das war dieNationale Volksarmee 1968 beim Einmarsch in die Tschechoslowakei.
Meine Damen und Herren, jetzt erhält das Wort unsere Frau Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind der Meinung, daß die sich abzeichnenden möglichen politischen Lösungen vor allem ein Erfolg für die Menschen in BosnienHerzegowina und im zerfallenen Jugoslawien sind.
Was mich an dieser Debatte stört, ist, daß ein Teil der Kollegen dies offensichtlich als Beleg dafür nehmen möchte, daß militärische Lösungen wieder möglich seien.
Ich muß sagen: Ich setze hier dagegen. Noch bei der Wehrkundetagung hat Helmut Kohl deutlich darauf hingewiesen, warum kein militärisches Eingreifen praktiziert wird, nämlich um weiteres Blutvergießen zu verhindern.
Ich betone an dieser Stelle, wie der Kollege Glotz: Hätten sich vor zwei Jahren alle Beteiligten, einschließlich USA und Rußland,
in dem politischen Wollen zusammengefunden, eine politische Lösung zu finden, sie wären gefunden worden, und es wäre den Menschen dort vieles erspart geblieben.
Das zweite, das ich ansprechen will: Es war und ist gemeinsame Überzeugung aller Parteien im Deutschen Bundestag, daß die Bundeswehr in Jugoslawien, unabhängig von jeder verfassungsrechtlichen Frage, auf keinen Fall eingesetzt werden dürfe. Auch wir haben unsere Verantwortung. Ich fordere Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen: Nehmen wir sie doch bitte einmal auf eigenem Boden wahr! Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß die Bundesregierung z. B. Kriegsverbrecher auf unserem Boden nicht verfolgt, nicht dafür sorgt, daß sie festgenommen werden, weil Herrn Kinkel die Adressen nicht mitgeteilt worden sind, um nur einmal ein entsprechendes Beispiel zu nehmen.
Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, und zwar abgesetzt jetzt von der Diskussion über das ehemalige Jugoslawien: Es ist ein grundsätzliches Problem — und jeder, der sich darüber hinwegmogeln will, sagt nicht die Wahrheit —, daß der UNO-Sicherheits-
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Heidemarie Wieczorek-Zeulrat die NATO mittlerweile sozusagen als Regionalorganisation der UNO behandelt. Das ist ein Problem, wenn man ein politisches, ein militärisches Verteidigungsbündnis mit solchen Aufgaben betraut. Es könnte im übrigen sehr wohl im Konflikt stehen mit dem Interesse von mittel- und osteuropäischen Ländern, Mitglied der NATO zu werden.Ich betone aber an der Stelle eines — und das versucht ein Teil von Kollegen geflissentlich unter den Tisch fallen zu lassen, auch Herr Rühe, von dem ich übrigens eine andere Klarstellung erwarte —: Der NATO-Vertrag stellt eine Bündnispflicht nur zur Verteidigung dar. Die Frage, ob sich ein Land an der Kriegsführung oder an den angeblichen sogenannten neuen Sicherheitsaufgaben der NATO im Auftrag der UNO beteiligt, ist absolut der eigenen Entscheidung des jeweiligen Landes überlassen. Es gibt keine Bündnispflicht zu einer derartigen Beteiligung.Für die SPD gilt: Wir wollen UNO-Blauhelm-Aktionen zur Hilfe, zur Vermittlung unterstützen, aber wir wollen keine Beteiligung von deutschen Soldaten an Kriegführungen in aller Welt. Und dazu ist die Position absolut klar.
Zu folgendem möchte ich jetzt die Klarstellung von Herrn Riffle. Es geht den Kollegen der CDU/CSU, die hier gesprochen haben, offensichtlich nicht um die Stärke des Rechts. Sonst erwarte ich, daß sich die Bundesregierung von den gestrigen Äußerungen des Generalinspekteurs Naumann in der FAZ distanziert. Lesen Sie bitte, was da gesagt wird — ich zitiere —:Ebenso wichtig sei, daß sich die NATO nicht grundsätzlich zum Mandatsempfänger der UN oder der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa machen lassen dürfe, weil es Situationen geben werde, in denen weder die UN noch die KSZE Beschlüsse zustande bringen würde.Wenn man die NATO so entwickelt, wie es Herr Naumann hier macht, wie es ein Teil der Regierungsparteien offensichtlich will und wie es manche wollen, dann führt das dazu, daß das Recht des Stärkeren in der Welt triumphieren wird, weil eben keine kollektive Sicherheit in irgendeiner Form bindet. Das trägt dann dazu bei, die Position in diesen Fragen zu verunklaren.Ich erwarte hier eine Klarstellung von seiten der Bundesregierung, daß von der Regierung derartige Linien nicht verfolgt werden. Sonst — das sage ich Ihnen — ist die ganze Diskussion, die Sie hier führen, eine vorgeschobene Diskussion. Es geht Ihnen von der CDU/CSU nicht um die UNO, es geht manchen nicht um Menschenrechte, sondern — lesen Sie es bei Herrn Naumann nach — es geht für ihn darum, die NATO auch nach Süden — so hat er es ausgedrückt —, d. h. gegenüber der Dritten Welt, interventionsfähig zu machen.Deshalb bitte ich, daß das hier klargestellt wird und daß wir in der Diskussion auf die Punkte kommen, wohin sich NATO und auch deutsche Verteidigung nicht entwickeln sollen.
Meine Damen und Herren, es gibt noch zwei Wortmeldungen. Die erste ist von Dr. Karl-Heinz Hornhues. Bitte, Kollege Hornhues hat das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Verehrte Frau Kollegin Wieczorek, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar für Ihre Klarstellung, denn Sie haben endlich den Nebelvorhang zerrissen,
den Ihr Vorsitzender und andere hier über die wahre Position der SPD permanent aufzubauen versuchen. Wir hätten uns viel sparen können, lieber Herr Kollege Duve, lieber Herr Kollege Glotz, wenn Sie der Frau Kollegin Wieczorek in der Debatte den Vortritt gelassen hätten.
Dann hätten wir uns manches Nachfragen sparen und uns den zentralen Fragen zuwenden können, die uns heute bewegen müssen.Denn, Frau Kollegin, ich empfinde es als heuchlerisch, einerseits zu sagen, es ist schön, daß da endlich etwas für die Menschen getan werden kann — und da reden Sie über die Menschen —, gleichzeitig aber Ihre Meinung deutlich zu machen, daß Sie dafür sind, daß wir, wenn es im Ernst darum geht, eben nichts für diese konkreten Menschen tun, die — so die letzten Meldungen — inzwischen in Sarajevo wieder mit Mörsergranaten — es soll vier Abschüsse gegeben haben — beschossen werden. Die Frage, wie es denn gelingen kann, Frieden zu schaffen, sind wir in jeder Konsequenz noch nicht los. Wir haben eine unglaubliche Chance.Wir allerdings sollten zurückhaltend sein, so laut „wir" zu sagen. Denn unser Beitrag in Diskussionen, wie Sie sie wieder eingeführt haben, ist nicht gerade so, daß wir mit allzu gutem Gewissen, lieber Herr Kollege Duve, den Menschen dort ins Gesicht sehen könnten. Vielleicht machen Sie das Ihrer Kollegin mal endlich klar.Worum es jetzt gehen muß, ist, daß wir in den Bedrängnissen und Beklemmungen, an denen wir zum Teil nicht ganz unschuldig sind — ich sage nicht „wir", sondern: mancher in diesem Hause —, das Bestmögliche tun, um die Chance, die wir haben, die die Menschen in Bosnien-Herzegowina, im ehemaligen Jugoslawien haben, zu ergreifen, um endlich Frieden zu bekommen.So bitter es sein mag — ich hätte es mir auch anders gewünscht —: Das, was uns über lange Zeit bis heute Sicherheit gegeben hat, nämlich eine glaubwürdige Gegengewaltandrohung für den Fall, daß wir angegriffen würden, war letztlich das Rezept, das in der Konsequenz überhaupt Bewegung in diese scheinbar so hoffnungslos verfahrene Kiste gebracht hat.Ich stehe nicht an, hier allen zu danken, die dazu beigetragen haben, auch denen zu danken, die auf-
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Dr. Karl-Heinz Hornhuesgestiegen sind und auf Befehl Flugzeuge abgeschossen haben, auch den Soldaten der anderen Länder zu danken, die bereit gewesen sind und vielleicht noch bereit sein müssen, mit Gewalt der Gewalt, dem Morden, dem Schlachten und dem Töten ein Ende zu bereiten.Ich bin sicher, daß die Bundesregierung tun wird, was in ihren Kräften steht, um die angelaufenen Prozesse zu unterstützen, zu befördern und nicht nur, Herr Staatsminister, den Petersberg zur Verfügung zu stellen. Ich gehe davon aus — es klang ein bißchen komisch —, daß das ein Licht-unter-den-ScheffelStellen ist. Die Bundesregierung tut viel mehr. Man sollte nicht sagen, man würde gerne die Fazilitäten zur Verfügung stellen, sondern weiter konkret am Frieden arbeiten.Es ist gelungen, in gemeinsamer Aktion vorzugehen, vor allen Dingen auch Rußland zu bewegen, mitzumachen und mit dabei zu sein. Das ist auch für Europa insgesamt, für unsere Entwicklung eine ausgesprochen große und günstige Perspektive.Wir werden nach dem, was die Frau Kollegin Wieczorek-Zeul gesagt hat, damit leben müssen, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß diese Politik in ihrer Konsequenz wohl von uns allein getragen werden muß. Das ist schade. Es wäre besser gewesen, wenn wir endlich Gemeinsamkeit hätten erreichen können. Diese Chance haben Sie vor wenigen Minuten zerschlagen, denn von denen aus Ihrer Fraktion, die gesprochen haben, sind Sie für mich die Maßgebliche, denn Sie sind als Vertreterin von Herrn Scharping die wichtigste Funktionsträgerin der SPD, die sich hier zu Wort gemeldet hat.
Schade, daß eine große Chance zum gemeinsamen Bemühen um Frieden hier vertan worden ist. Ich hoffe auf Nachbesserung. Die letzte Chance liegt immer in der nächsten Debatte. Wir werden uns weiter damit beschäftigen müssen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich unserem Kollegen Dieter Schloten das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwischen dem NATO-Ultimatum zum Abzug der schweren Waffen um Sarajevo und dem Abschuß von vier Bombenflugzeugen in der Flugverbotszone steht ein untrennbarer Zusammenhang. Die UNO und in ihrem Auftrag die NATO haben sich entschlossen gezeigt, Beschlüsse auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.Die Ergebnisse sind: Die Menschen in Sarajevo können wieder etwas freier atmen. Sie gehen auch wieder auf die Straße, obwohl es heute nacht Rückschläge gegeben hat. Sie haben aber wieder ein wenig Hoffnung und nicht nur Angst.Zweitens. Einige Zufahrtswege für humanitäre Hilfen sind wieder offen. Der Flughafen von Tuzla soll geöffnet werden. Aus diesen offensichtlichen Erfolgen beider Maßnahmen ergeben sich unbequeme Fragen an jene, die den Einsatz militärischer Mittel bisher strikt abgelehnt haben. Ich gehöre zu ihnen.Wir müssen uns fragen lassen: Haben wir uns geirrt? Wie viele Menschen mußten diesen Irrtum mit dem Leben bezahlen? Müssen wir das Waffenembargo gegenüber Bosnien überdenken? Ebenso klar müssen wir uns aber fragen: Muß der militärische Einsatz nicht Teil und notwendiges Instrument eines klar formulierten politischen Lösungskonzeptes für Bosnien-Herzegowina und darüber hinaus für die Krajina, für Ostslawonien oder sogar im Hinblick auf den Kosovo sein?Ein klares Konzept gibt es leider immer noch nicht. Zwei Drittel Bosniens sind — zum Teil völkerrechtswidrig — in serbischer Hand. Bei aller politischer und moralischer Empörung darüber: Zu glauben, den Zustand vor Ausbruch des Krieges wiederherstellen zu können, wäre wirklichkeitsfremd.
Aber es gibt Zeichen der Hoffnung. Ich meine den erfolgreichen Abschluß muslimisch-kroatischer Verhandlungen in Washington. Hier wurde unter amerikanischer Schirmherrschaft und mit deutscher Beteiligung ein Abkommen erzielt, welches einen föderalen, demokratischen Rechtsstaat auf dem Territorium Bosnien-Herzegowinas errichten will. In ihm sollen ethnisch-religiöse Mehr- und Minderheiten ohne Beeinträchtigung miteinander leben können.Es war leider kein Zufall, daß die Serben andere muslimische Städte und Enklaven wie Bihac, Maglaj und Tuzla unter verstärkten Beschuß mit Panzerkanonen und Artillerie genommen haben, während die Washingtoner Verhandlungen liefen, und das noch immer tun. Die Leiden der Zivilbevölkerung in diesen eingekesselten Städten gleichen denen in Sarajevo vor Ablauf des Ultimatums.Es bedarf jetzt dringend einer Verzahnung von Verhandlungsoptionen und militärischem Nachdruck, um die Bestialitäten dieses Krieges zu beenden. Der NATO kommt hier eine große Verantwortung zu. Sie muß ihre neue Rolle als im Auftrag der Vereinten Nationen handelnde Organisation gründlich reflektieren. Aber jetzt sollte sie gegenüber anderen Belagerungsringen um bosnische Städte eine vergleichbare Entschlossenheit zeigen wie im Falle von Sarajevo.
Die Bundesrepublik Deutschland sollte die Chance nutzen, den in Teilbereichen begonnenen Friedensprozeß durch ihr diplomatisches Know-how und das fortgesetzte Angebot guter Dienste tatkräftig weiter zu unterstützen. Darüber hinaus muß die Bundesrepublik eine konstruktive Rolle beim Wiederaufbau des zerstörten Landes übernehmen. Das ist angesichts der jüngeren Geschichte hilfreicher als das Auftreten in Uniform.
Nun gestatten Sie mir zum Schluß eine persönliche Meinung: Wo Völkerrecht gebrochen wird, darf
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Dieter Schlotenzukünftig die militärische Option im Rahmen der Bündnisse nicht völlig ausgeschlossen werden.
Eine Politik, die sich diesen Bündnisverpflichtungen entzöge, wäre isolationistisch und für uns Deutsche ein verhängnisvoller Fehler.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes
— Drucksache 12/6908 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die weitere Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Elektrizitätswirtschaft und zur Einführung einer Energiesteuer
— Drucksache 12/6382 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Entsorgungssituation der bundesdeutschen Atomanlagen
— Drucksachen 12/5385, 12/5900 —
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhard Weis , Siegrun Klemmer, Dietmar Schütz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle Morsleben
— Drucksache 12/6422 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Änderung des Beschlusses 77/270/Euratom zwecks Ermächtigung der Kommission, im Hinblick auf einen Finanzbeitrag zur Verbesserung des Wirkungsgrads und der Sicherheit von Kernkraftanlagen in bestimmten Drittländern Euratom-Anleihen aufzunehmen
— Drucksachen 12/4491 Nr. 2.30, 12/6641 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Harries Dr. Klaus Kübler
Gerhart Rudolf Baum
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Herrn Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die konjunkturelle Erholung bedarf der Flankierung durch politisches Handeln, das diesen Trend unterstützt. Das gilt auch für die Energiepolitik; denn Energiepolitik ist Standortpolitik, und Energiepolitik ist in diesem Zusammenhang Kostensenkungspolitik.Der Entwurf eines Artikelgesetzes zur Kohle und Kernenergie ist ein zentrales Element in einem glaubwürdigen wirtschaftspolitischen und energiepolitischen Konzept. Es kommt darauf an, Planungssicherheit für Investitionen in einem auch weiterhin ausgewogenen Energiemix zu gewährleisten. Energieversorgungsstrukturen auf die Zukunft ausrichten heißt auch, Technologien weiterzuentwickeln, heißt, zumindest die Option für die Entwicklung zukunftsorientierter Technologie offenzuhalten. Über all diese Fragen eine breit getragene Verständigung herbeizuführen war Ziel der Energiekonsensgespräche im vorigen Jahr.Die Bundesregierung — das möchte ich auch heute noch und mit Nachdruck sagen — hält nach wie vor am Ziel eines parteiübergreifenden Energiekonsenses fest. Für sie sind aber Kohle und Kernenergie unverzichtbare Bestandteile eben dieses Mixes. Das vorliegende Gesetz schafft hierzu die Grundlage. Es ist bewußt so an- und es ist bewußt so ausgelegt.Der einschneidende Anpassungsprozeß im Steinkohlenbergbau wird sich auch in den nächsten Jahren fortsetzen. Zur Notwendigkeit ausgabenseitiger Konsolidierung habe ich immer wieder das Stichwort Subventionsabbau genannt. Auch der Steinkohlenbergbau wird seinen Beitrag beim Subventionsabbau leisten müssen.
— Das ist richtig. Aber er wird gesteigert werden müssen, und so haben wir das ausgelegt.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung bringt die Interessen der Bergleute auf der einen Seite und der Unternehmen an Planungssicherheit mit unseren nur begrenzt zur Verfügung stehenden Finanzspielräumen auf der anderen Seite in Übereinstimmung.
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Bundesminister Dr. Günter RexrodtDer Bergbau erhält einen gesicherten Finanzrahmen mit einem Plafond für 1996 von 7,5 Milliarden DM und bis zum Jahre 2 000 von 7 Milliarden DM pro Jahr. Das ist eine Begrenzung, wie es sie vorher nicht gegeben hat. Das ist deutlich Ausdruck dessen, daß wir das System umgestellt haben, daß wir auf das Mengengerüst Druck entstehen lassen möchten. Nach dem Jahre 2 000 sollen und müssen die Subventionen weiter gesenkt werden.
Die Verstromungshilfen sind also langfristig degressiv ausgestaltet — ein wichtiger Aspekt im übrigen auch für die Genehmigung durch die Brüsseler Kommission. Dieser Aspekt fehlt im SPD-Entwurf völlig. Damit wäre er auch zum Scheitern verurteilt. Die Bergbauunternehmen werden dadurch noch stärker als in der Vergangenheit dazu gebracht, Rationalisierungsspielräume auszuschöpfen. Der Bundesrat hat — wie sollte es anders sein, meine Damen und Herren — am 4. Februar 1994 den Entwurf der Bundesregierung zunächst einmal abgelehnt.Die Diskussion läßt mich hoffen, daß wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu einer sachlichen, zu einer pragmatischen Behandlung dieser wichtigen Angelegenheit kommen werden.Die neuen Bundesländer werden 1996 erstmalig in die Finanzierung der Steinkohlenverstromung einbezogen. Die Bundesregierung hat aber eine Übergangsregelung vorgeschlagen. In den neuen Bundesländern soll 1996 ein ermäßigter Kohlepfennig gelten. Er wird gegenüber den alten Bundesländern um 25 % gesenkt, d. h. er wird nur 6,4 % des Rechnungsbetrages ausmachen.Meine Damen und Herren, die ostdeutsche Braunkohle ist von einem schmerzhaften Anpassungsprozeß betroffen. Der wichtigste Absatzbereich — Verstromung — ist aber jetzt durch Nachrüstungs- und Neubauentscheidungen für die Zukunft weitgehend stabilisiert. Die Privatisierung kommt gut voran. Wir haben einen Durchbruch erzielt.Ich bin sehr froh, daß die MIBRAG privatisiert ist und daß darüber hinaus 11 von 14 regionalen Stromversorgungsunternehmen veräußert worden sind. Über die restlichen 3 Unternehmen finden derzeit Veräußerungsverhandlungen statt. Ich bin sicher, daß in absehbarer Zeit auch die restlichen 3 privatisiert werden können.Ich begrüße außerordentlich, daß jetzt auch die LAUBAG, also die Braunkohle in der Lausitz, und die VEAG, das Verbundunternehmen im Osten Deutschlands, privatisiert werden können, weil eine Einigung über den Kaufpreis bei der VEAG erreicht worden ist.Zu klären bleibt, wie dem kürzlich vorgetragenen Wunsch nach Berücksichtigung der Interessen der ostdeutschen Länder und Kommunen Rechnung getragen werden kann. Ich gehe davon aus — ich hoffe; so muß ich es ausdrücken —, daß das Käufer-Konsortium der VEAG und die interessierten Lander eine Lösung finden, damit nicht neue Unsicherheiten entstehen. Man kann sich lange darüber unterhalten, ob die Übertragung der westdeutschen Energieversorgungsstrukturen auf Ostdeutschland richtig war. Ich habe auch da eine ganz spezielle Meinung, aber das Ganze ist 1990 von der Übergangsregierung angeleiert und unter Dach und Fach gebracht worden.Heute kommt es darauf an, die riesigen anstehenden Investitionen zu tätigen. Investitionen in Höhe von 30 Milliarden DM liegen dort an. Wenn die Länder und die Kommunen hier Forderungen stellen sollten, die zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen, dann wird es mit Sicherheit dazu kommen, daß die Lösung im Sinne einer verstärkten Investitionstätigkeit weiter auf sich warten läßt. Unsicherheiten laufen gegen die Interessen der Investitionen im Osten Deutschlands.Ich habe von der Elektrizitätswirtschaft, mit der ich vor kurzem gesprochen habe, die Zusicherung erhalten, daß sie an der Neubauplanung für die Kraftwerke kapazitätsmäßig in vollem Umfang festhalten will. Auch sollen alle wirtschaftlich vertretbaren Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um ostdeutschen Braunkohlenstrom zusätzlich in Ost- und in Westdeutschland abzusetzen. Wichtig ist, daß die kommunale Eigenerzeugung auf die vereinbarte Größenordnung von 30 % beschränkt bleibt.Entscheidend für die Schaffung neuer Industrieansiedlungen und die Abfederung des weiteren Rückgangs von Arbeitsplätzen im aktiven Bergbau ist die Weiterführung der Altlastensanierung in der Braunkohle — ein großes Problem und eine teure Angelegenheit. Die Bundesregierung hat einen konkreten Vorschlag vorgelegt, damit die zunächst bis 1997 befristete Altlastensanierung auf der Basis der bisherigen Zusammenarbeit mit den neuen Bundesländern fortgesetzt werden kann. Danach wird es Lösungen geben, um diese dringend erforderlichen Arbeiten weiterzuführen.Meine Damen und Herren, im Energiemix zur Stromerzeugung brauchen wir ein Gegengewicht zur teuren deutschen Steinkohle, um die ökonomischen und ökologischen Auswirkungen abzumildern. Die weitere Nutzung der Kernenergie trägt — wir sind davon überzeugt — zu einer preisgünstigeren Stromerzeugung bei. Das umweltpolitische Ziel einer Reduktion von CO2 ist ohne den Beitrag der Kernenergie nicht erreichbar.
Auch die Sicherung des Technologiestandorts Deutschland, die auch die Opposition immer wieder anmahnt, läßt nicht zu, daß wir unsere Führungsposition in der Reaktortechnik, in der Reaktorsicherheit und im Brennstoffkreislauf einfach aufgeben, schon gar nicht aus ideologischen Gründen. Aber wenn das denn so ist, wenn wir diese Führungsposition bewahren wollen, dann frage ich mich, warum bestimmte Teile und bestimmte Mehrheiten im Präsidium der SPD Herrn Schröder, der einen Ausgleich suchte, eine Option wenigstens offenhalten wollte, haben im Regen stehenlassen. Das war nämlich der Fall. Zudem wären wir nicht fähig, einen wirksamen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftwerke in Mittel- und Osteuropa zu leisten, wenn wir uns von dieser Technologie verabschieden würden.
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18440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Dr. Günter RexrodtAus all diesen Gründen gehört die Kernenergie in das Artikelgesetz. Mit der Einführung eines zusätzlichen Sicherheitsziels für künftige Kraftwerksgenerationen setzt die Bundesregierung dabei ein Zeichen: ein Zeichen, das beim Kernenergieeinsatz Sicherheit als oberstes Gebot erscheinen läßt. Das bedeutet aber auch, daß die Tür für die Kernenergienutzung tatsächlich offenbleibt. Wir können das nicht fordern, wir können nicht erwarten, daß unsere Industrie Millionen und Abermillionen — dreistellige Millionenbeträge — in neue Technologien investiert, wenn sie nicht einmal die Option haben sollte, diese Investitionen eines Tages zu amortisieren, und zwar auch hier in unserem Land.Im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland müssen wir gemeinsam Klarheit in diesen drängenden Fragen schaffen. Dies setzt die Fähigkeit zum Kompromiß bei allen Parteien voraus. Der Entwurf der Bundesregierung ist ein wohlabgewogener Ausgleich der Interessen. Der Gesetzentwurf der SPD schafft diesen Interessenausgleich nicht. Er ist kein Beitrag zum Subventionsabbau, er ist kein Beitrag zur Sicherung des Technologiestandorts Deutschland. Er sattelt drauf, wo Konsolidierung angesagt ist und wo Degression angezeigt ist.
Er geht an den entscheidenden wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten vorbei. Wirtschaftspolitisch notwendig ist, daß jetzt über die Dinge entschieden wird, bei denen im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland, im Interesse eines Energiemixes, im Interesse einer Kostensenkung zur Erhaltung von Arbeitsplätzen in unserem Land jetzt dringender Handlungsbedarf besteht. Energiepolitik gehört dazu. Es muß einen sinnvollen Energiemix aus Kohle und Kernenergie geben. Das wollen wir mit diesem Artikelgesetz.Schönen Dank.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Volker Jung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeswirtschaftsminister, in der letzten Debatte über die Energiepolitik, als Sie Ihr Artikelgesetz angekündigt haben, habe ich Sie gefragt, ob Sie im Ernst daran glauben, auf der Grundlage dieses Gesetzes Investitions- und Planungssicherheit schaffen zu können. Darauf sind Sie uns seinerzeit die Antwort schuldig geblieben. Auch das, was Sie heute ausgeführt haben, war keine Antwort. Es liegt doch auf der Hand — man hört es überall —: Weder die Elektrizitätswirtschaft noch der Bergbau, weder die Beschäftigten in der Kernenergie noch die Bergleute, ja, noch nicht einmal die Ihnen gewogene Presse glauben daran, daß Sie mit diesem Gesetzentwurf auch nur eines Ihrer energiepolitischen Ziele durchsetzen können.Ich habe Sie seinerzeit auch aufgefordert, diese taktischen Spielereien zu unterlassen und mit uns gemeinsam nach Ansatzpunkten zu suchen, bei denen wir einen Konsens in Einzelfragen finden können. Das haben Sie nicht gemacht. Sie haben wertvolle Zeit nutzlos verstreichen lassen. Damit haben Sie sich selber in eine Zeitnot hineinmanövriert, die es heute höchst unwahrscheinlich erscheinen läßt, in der drängenden kohlepolitischen Frage noch vor dem Ende dieser Legislaturperiode eine Lösung zu finden.
Mehr noch: Mit diesen taktischen Spielereien haben Sie sich im Prinzip selbst gespalten, und das in mehrfacher Hinsicht. Sie sind gespalten in der Frage, ob für die Verstromung heimischer Steinkohle überhaupt noch so hohe Fördermittel zur Verfügung gestellt werden sollen. Einige Ihrer Landesregierungen, besonders im Osten und im Süden des Landes, folgen Ihnen da nicht mehr.Sie sind gespalten in der Frage, wie diese öffentlichen Mittel gegenfinanziert werden sollen. Bundesfinanzminister Waigel besteht darauf, daß keine Mark aus dem Bundeshaushalt kommen darf, sondern der Kohlepfennig weiter erhoben wird, obwohl er genau weiß, daß dies auf Dauer keine Gnade mehr in Brüssel finden wird, obwohl er weiß und auch immer wieder gesagt hat, daß dadurch die Strompreise übermäßig belastet werden, und obwohl er auch weiß, daß auf dieser Grundlage die Energieversorgungsunternehmen nach dem Auslaufen des Jahrhundertvertrages keine langfristigen Bezugsverträge mehr abschließen werden.Sie sind gespalten in der Frage, wie mit einem gerade noch vertretbaren Kohlepfennig das notwendige Finanzvolumen bereitgestellt werden kann, um den Absatz der vereinbarten Kohlemengen zu stützen. Dazu ist Ihnen nun eingefallen, den Kohlepfennig für das Jahr 1996 auf die neuen Bundesländer auszudehnen, obwohl auch Sie wissen, daß dies die ohnehin schon höheren Strompreise im Osten abermals erhöhen würde.
Darum haben die ostdeutschen Regierungen ihre Zustimmung im Bundesrat verweigert.In Ihrer Gegenäußerung haben Sie nun nachgebessert und einen abgesenkten Kohlepfennig für Ostdeutschland angeboten. Sollten die ostdeutschen Landesregierungen und die Abgeordneten hier im Bundestag dem zustimmen — was ich mir eigentlich gar nicht vorstellen kann —, dann werden Sie die weitere Frage zu beantworten haben, wie Sie das ausfallende Finanzvolumen ersetzen wollen.Einig sind Sie sich offenbar nur in der Frage, daß die Kohlehilfen in Zukunft degressiv gestaltet werden sollen. Der Bundeswirtschaftsminister hat das noch einmal unterstrichen. Der wirtschaftspolitische Arbeitskreis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat gestern sogar gefordert, die Kohlesubventionen nach dem Jahr 2000 ganz abzubauen. Das heißt mit anderen Worten: Der einzige Punkt, der Sie in der Kohlepolitik heute noch einigt, ist die Absicht, die von Ihnen
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Volker Jung
in der Kohlerunde von 1991 eingegangenen Verpflichtungen nicht einzuhalten.
Das hat der Bundeskanzler mit seinem Wort auf Ihrem Parteitag noch einmal abzuwenden versucht. Aber das haben Sie ja wohl, wenn ich das richtig mitbekommen habe, in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wieder in Frage gestellt. Das heißt, Sie scheuen noch nicht einmal davor zurück, den Bundeskanzler in den Wortbruch zu treiben.
Meine Damen und Herren, um die Liste komplett zu machen: Sie sind auch gespalten in der Frage, ob man jetzt — aus der Sicht der Kernenergiebefürworter ganz konsequent — ohne Not Konzessionen bei der weiteren Nutzung der Kernenergie machen sollte. Das Artikelgesetz ist in unseren Augen deshalb eine Kampfansage an die Erklärungen, die wir übereinstimmend im Bundestag abgegeben haben, nämlich die Bemühungen um einen neuen energiepolitischen Konsens fortzusetzen. Wenn Sie das ernstgemeint haben, dann hätten Sie ein solches Gesetz nicht vorlegen dürfen.Die Bundesregierung hält ihre in der Kohlerunde 1991 eingegangenen Verpflichtungen, eine Jahresfördermenge von 50 Millionen Tonnen heimischer Steinkohle bis zum Jahr 2005 abzusichern, nicht ein. Sie hatten sich in der Kohlerunde 1991 nach schwierigen Verhandlungen auf einen Kompromiß geeinigt, der die Lebensfähigkeit des deutschen Steinkohlenbergbaus langfristig sichern sollte. Eckpunkt dieses Kompromisses war die Vereinbarung, eine feste Fördermenge von 35 Millionen Tonnen Steinkohle in der Verstromung und 15 Millionen Tonnen Kokskohle in der Stahlerzeugung politisch zu gewährleisten, und das heißt eben, finanziell abzustützen.Der Absatz heimischer Steinkohle sollte von 73 Millionen Tonnen 1991 schrittweise bis zum Jahr 2000 auf diese 50 Millionen Tonnen verringert werden. Das ist bereits eine klare Förderdegression, meine Damen und Herren. Alles andere ist zusätzliches Draufsatteln.
Bis Ende 1993 haben der Bergbau, die Bergleute und ihre Gewerkschaften ihre Verpflichtungen aus dem Kohlekompromiß Punkt für Punkt eingehalten und den Rückgang der Förderung sowie den Abbau von über 30 000 Arbeitsplätzen mitgetragen. Aber die Bundesregierung hat ihre Verpflichtungen nicht eingehalten. Sie hat eben kein Finanzierungskonzept vorgelegt, das bis zum Jahr 2005 reicht.Den Beteiligten an der Kohlerunde war bereits 1991 klar, daß eine Verlängerung des Kohlepfennigs keine Lösung mehr sein kann. Deshalb hat Wirtschaftsminister Rexrodt — auch daran muß man heute erinnern — in den Konsensgesprächen eine Kohlefinanzierungsteuer vorgeschlagen. Das ist eine andere Variante einer allgemeinen Energiesteuer, und zwar ohne Degression.Wir haben sogar darüber verhandelt, mit dem Aufkommen aus dieser Steuer die Altlastensanierung der ostdeutschen Braunkohle und einen Einstieg in eine Energiesparstrategie zu finanzieren. Aber dieser Vorschlag ist vom Bundesfinanzminister kassiert worden, bevor er überhaupt ins Kabinett gelangt ist.Statt dessen schlägt die Bundesregierung nunmehr vor, den Kohlepfennig um ein Jahr bis zum Jahr 1996 zu verlängern und auf die neuen Bundesländer auszudehnen. Für die Jahre 1997 bis 2000 wird zwar ein Finanzplafonds von 7 Milliarden DM vorgeschlagen, der aber nicht gedeckt ist.Steinkohlenbergbau und Stromwirtschaft erhalten damit eben nicht, wie Wirtschaftsminister Rexrodt heute wieder behauptet hat, die notwendige Planungssicherheit, um langfristige Investitionsentscheidungen treffen zu können.
Es kann deshalb niemanden verwundern, wenn die jetzt laufenden Vertragsverhandlungen zwischen dem Steinkohlenbergbau und der Stromwirtschaft bislang ohne Ergebnis geblieben sind. Die Stromwirtschaft hat auf dieser unzureichenden Basis nämlich keine Zehnjahresverträge angeboten. Es ist bis heute noch nicht einmal gelungen, Dreijahresverträge abzuschließen. Der Bergbau kann seine Kosten auch nicht senken, wenn die Politik keine überschaubaren Rahmenbedingungen setzt.Das Artikelgesetz bietet dem westdeutschen Steinkohlenbergbau keine sichere Zukunft. Es muß vielmehr befürchtet werden, daß er zum Auslaufbergbau verdammt wird.Die Bundesregierung ist deswegen allein verantwortlich, wenn Hunderttausende von Arbeitsplätzen an Rhein, Ruhr und Saar gefährdet werden. Mit diesem Gesetzentwurf befördern Sie nicht den notwendigen Strukturwandel, sondern riskieren vielmehr die wirtschaftliche Talfahrt ganzer Regionen.
Das Artikelgesetz enthält auch bei der Kernenergie nicht, wie Herr Rexrodt und Herr Töpfer immer wieder behaupten, das Zwischenergebnis, das wir in den Konsensgesprächen erreicht hatten. Wir hatten schon sehr konkret darüber gesprochen, die am Netz befindliche Generation von Kernkraftwerken nur noch befristet zuzulassen. Es ist zu keiner Einigung gekommen, aber wir haben sehr konkret darüber gesprochen. Von dieser Befristung ist in Ihrem Artikelgesetz nicht die Rede.Im Gegenteil: Sie wollen mit neuen, unzureichenden Sicherheitskriterien gerade die unbefristete Nutzung der Kernenergie festschreiben. Das heißt, Sie haben in das Artikelgesetz eigentlich nur das hineingeschrieben, was Sie wollen, und nicht, was wir unbeschadet der noch offenen Fragen in den Konsens-
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verhandlungen gemeinsam für möglich gehalten haben.
Wenn Wirtschaftsminister Rexrodt behauptet, die weitere Nutzung der Kernenergie sei notwendig, um eine preisgünstige Stromerzeugung zu sichern, dann ignoriert er nicht nur die Sicherheitsprobleme, über die wir in den Konsensgesprächen lange diskutiert haben und — das ist ganz entscheidend — deren Kosten im Grunde kein seriöser Fachmann abzuschätzen wagt, sondern dann unterschlägt er auch die noch völlig unbekannten Kosten der Entsorgung.Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf vor, die Möglichkeit der direkten Endlagerung von atomarem Abfall zu eröffnen. Darüber wird man in der Zukunft weiterreden können. Ich bin der Auffassung, darüber wird man weiterreden müssen.Nach meiner Überzeugung würde sich dieser Entsorgungsweg ohnehin durchsetzen, weil er ungleich kostengünstiger ist als die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente. Das haben unter der Hand auch die Vertreter der Stromwirtschaft zu verstehen gegeben. Das würde aber in absehbarer Zeit zum Ende der Plutoniumwirtschaft führen. Ob das bei Ihnen Konsens ist, das wage ich allerdings zu bezweifeln.In den Konsensgesprächen haben wir auch über eine katastrophenfreie Reaktortechnik gesprochen. Das ist kein Geheimnis geblieben. Aber es ist doch auch deutlich geworden, daß erheblich mehr Zeit gebraucht wird, um die Kriterien, die Machbarkeit und vor allem die Kosten solcher Konzepte zu klären.Die entscheidende Frage bleibt, ob es einen katastrophenfreien Reaktor geben kann — was ich nicht glaube —
und, wenn das von allen Experten bejaht werden sollte, ob er dann auch wirtschaftlich betrieben werden kann. Davon werden nämlich die Entscheidungen abhängig gemacht.
Diese Frage ist völlig ungeklärt.Ich kann deshalb überhaupt nicht verstehen, daß Sie in Ihrem Gesetzesvorschlag diesen Diskussionsprozeß jetzt einseitig abbrechen wollen. Statt vorschneller gesetzlicher Regelungen sollten wir ein Verfahren finden, um diese offenen Fragen diskutieren und klären zu können.Es macht also überhaupt keinen Sinn, meine Damen und Herren, diese beiden Fragen, die drängende Frage der Kohlefinanzierung auf der einen Seite und die ungeklärte Frage der Kernenergiesicherheit auf der anderen Seite, in einem einzigen Gesetzentwurf sozusagen verwursten zu wollen. Trennen Sie die Fragen voneinander ab, dann werden wir über jedeFrage in der jeweils angemessenen Form sprechen können.
Wenn Sie bei dem Junktim bleiben, werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Darüber sollten Sie sich keine Illusionen machen.Meine Damen und Herren, wir haben einen alternativen Gesetzentwurf zur Finanzierung der Steinkohlenverstromung und zur Einführung einer allgemeinen Energiesteuer vorgelegt. Wir wollen die öffentlichen Zuschüsse direkt an die Bergbauunternehmen zahlen, damit diese den Elektrizitätsversorgungsunternehmen heimische Steinkohle zu Weltmarktpreisen anbieten können. Damit bleibt auch, was hier vom Wirtschaftsminister eingefordert worden ist, der Kostendruck auf dem Bergbau erhalten.Zur Finanzierung wollen wir im Vorgriff auf eine europäische Lösung eine allgemeine Energiesteuer auf alle Energieträger außer erneuerbaren Energiequellen einführen. Die Erfahrung bei der Entwicklung des Energieverbrauchs hat doch gezeigt, daß die Verbraucher dann am stärksten in Energieeinsparung investieren, wenn die Energiepreise hoch sind. Gegenwärtig liegt das Energiepreisniveau bei der Leitwährung Öl — wenn man das so bezeichnen kann — um 30 bis 40 % niedriger als 1990. Dadurch spart die deutsche Volkswirtschaft jährlich über 20 Milliarden DM an Energiekosten. Dieser Spielraum könnte genutzt werden. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist das Versiegen fast aller Anstrengungen zum Energiesparen, sowohl in der Industrie als auch beim privaten Verbrauch. Deshalb sind die Klimaschutzziele der Bundesregierung, die eine Reduzierung des Kohlendioxyd um 20 bis 30 % bis zum Jahre 2005 vorsahen, heute trotz anderslautender Behauptungen praktisch schon Makulatur.Die überfällige ökologische Strukturreform — nicht nur in der Energiewirtschaft, sondern in der ganzen Volkswirtschaft — kommt so einfach nicht voran. In Zeiten fallender Energiepreise ist es daher geboten, mit dem Einsatz fiskalischer und ordnungspolitischer Instrumente den Energieverbrauch zu begrenzen und damit die klimaschädigenden Emissionen zu senken. Deshalb wollen wir aus dem Aufkommen der Energiesteuer nicht nur den Einsatz heimischer Steinkohle sichern, sondern auch die ökologische Umstrukturierung der ostdeutschen Braunkohlegewinnung finanzieren und Investitionen zur Energieeinsparung und zur Entwicklung erneuerbarer Energiequellen fördern.Meine Damen und Herren, unsere energiepolitische Leitlinie heißt: Energiesparreform plus Versorgungssicherheit. Wir stellen sie gegen Ihre Leitlinie, die ich als Kernenergie und Auslaufbergbau interpretiere.Ich glaube nach wie vor, daß ein Konsens zwischen den Parteien notwendig ist. Für uns wäre er unter folgenden Bedingungen möglich: Sicherung der Versorgung mit heimischen Energieträgern auf der Basis der Kohlerunde von 1991 und Hilfen für die ostdeutsche Braunkohle bis zur Erreichung der Wettbewerbsfähigkeit, Einführung einer allgemeinen Energie-
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Steuer auf alle fossilen Energieträger und Strom, Förderung von Energiesparmaßnahmen bei Industrie, Gewerbe und privatem Verbrauch, ökologische Umstrukturierung des Kraftwerkparks sowie eine massive Förderung erneuerbarer Energieträger, damit diese endlich ihre Marktanteile ausweiten können, und schließlich Vereinbarungen über die befristete Nutzung der Kernenergie. Wir sind bereit, über die Ausgestaltung dieser Konsensansätze zu sprechen.Die Frage, die in der knappen Restzeit dieser Legislaturperiode allerdings noch einer dringenden Entscheidung bedarf, ist, ob wir dem heimischen Steinkohlenbergbau gemeinsam eine Perspektive sichern wollen oder ein weiteres Jahr nutzlos verstreichen lassen, indem ein weiterer Teil des Sockels wegbricht. Wenn Sie das auch nicht wollen sollten — woran ich meine Zweifel habe —, dann trennen Sie die Frage der Kernenergie ab und ergreifen die Initiative, damit wir in der Kohlepolitik noch bis zur Sommerpause zu Potte kommen.Wir werden uns jedenfalls Gesprächsangeboten nicht verweigern.Wenn Sie allerdings meinen sollten, meine Damen und Herren, unser Kotau vor Ihrer Kernenergiepolitik sei die Voraussetzung dafür, daß Sie noch einen Finger in der Kohlepolitik rühren, dann möchte ich Ihnen ganz ruhig, aber bestimmt sagen: Den Wortbruch in der Kohlepolitik haben Sie zu verantworten. Das ist bei den interessierten Beobachtern bereits entschieden; daran müssen wir gar nicht mehr arbeiten.Ohne ernsthafte Konsensbemühungen auch auf Ihrer Seite ist Ihre Kernenergiepolitik sowieso zum Scheitern verurteilt, gleichgültig, wer in diesem Lande weiterregieren sollte. Ohne Konsens wird in Deutschland kein Kernkraftwerk mehr gebaut. Das ist allen Beteiligten klar.Wenn Sie in der Endphase Ihrer Regierungszeit noch die Basis für die Kohle zerstören, dann können Sie sich darauf verlassen, daß jedes zukünftige Konsensgespräch erheblich belastet wird und daß die Aussichten dann sehr düster sind.
Das Wort hat der Herr Kollege Dr. Kurt Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 25. Oktober 1993 war ein Unglückstag für den Wirtschaftsstandort Deutschland. An diesem Tag hat die SPD-Delegation im Energiekonsens die Konsensrunde abbrechen müssen, weil das SPD-Präsidium ein Verbot beschlossen hat, über die zukünftige Generation von Kernkraftwerken überhaupt zu reden und zu diskutieren. Das war das Ende der Konsensgespräche.Ich meine, der Konsens war eine große Chance für unser Land. Die SPD hat diese Chance vertan. Wir können deshalb nicht untätig bleiben. Wir brauchen eine berechenbare, planbare, kalkulierbare, sichere Energie, und deshalb liegt dieses Artikelgesetz vor Ihnen.Wir wollen mit diesem Artikelgesetz zum einen sicherstellen, daß der Mix in der Energieversorgung aufrechterhalten wird: Kohle — Steinkohle und Braunkohle —, Kernenergie und alternative Energien zusammen. Wir wollen zum anderen bei der Kohle sicherstellen, daß sie eine Zukunft hat, daß sie auch finanziert wird. Herr Jung, natürlich wird sie ab 1997 finanziert. Es ist eine rein finanztechnische Frage, wie man diese 7 Milliarden DM garantiert. Bis zum Jahre 2000 sind 7 Milliarden DM garantiert. Es gibt viele, die sachlich sagen, das sei vielleicht ein bißchen zuviel, auch in Ihren eigenen Reihen. Hier also von Verunsicherung zu reden ist sicherlich nicht angebracht.Wir wollen auch sicherstellen, daß die Kernenergie in diesem Mix bleibt. 67 % seines Stroms bezieht Hessen aus Kernenergie, 66 % sind es in Bayern, 87 % in Schleswig-Holstein, in ganz Deutschland 30 %. Wollen wir da heraus? Das wäre ein Wahnsinn. Das wäre das Ende einer sicheren Energieversorgung. Wir wollen das nicht. Im Artikelgesetz ist die Zukunft sichergestellt.Was setzt die Opposition, meine Damen und Herren, diesem klaren Konzept entgegen? Ich meine, nur Widersprüchlichkeit, Doppelbödigkeit, Illusionismus und Verantwortungslosigkeit. Wenn ich die Energiepolitik der SPD in diesem Lande in Praxis und Programmatik beobachte, dann bleibt nur die Überschrift Chaos übrig.
Ich will Ihnen das an einigen Beispielen belegen.Reaktorsicherheit und SPD-Energiepolitik: Es gibt in diesem Haus den Antrag auf Drucksache 12/4783 zu Hilfen zur Stillegung der Reaktoren in Rußland, der Ukraine und Litauen. Darin ist ausdrücklich gesagt, daß die Entschärfung der tickenden atomaren Zeitbomben ein zentrales Anliegen Deutschlands sein muß, um Sicherheit auch für uns zu schaffen. Dem stimmen wir zu.Aber gleichzeitig will die SPD nicht nur Atomkraftwerke in der administrativen Praxis abschalten, sondern sie will auch aus der technologischen Entwicklung der Kernkraft heraus. Anstatt also einen Beitrag für mehr Sicherheit sowohl im Osten als auch bei uns zu leisten, weil ja da keine Grenzen gelten, schaffen Sie eine Verweigerungshaltung in der Programmatik und in der administrativen Praxis. Ich meine, daß das eine nach Jonas im klassischen Sinne unverantwortliche Politik ist. Dies kann man nicht verantworten gegenüber den Menschen, die von den Kernkraftwerken im Osten und im Westen bedroht sind.
Ein Zweites, zu Investitionen und Arbeitsplätzen und der SPD-Energiepolitik: Heute früh hat Ministerpräsident Lafontaine von diesem Pult aus noch einmal betont, es wäre ganz wichtig, Investitionsförderung zur Schaffung von Arbeitsplätzen in diesem Land zu betreiben. Gleichzeitig schaffen SPD-geführte Regierungen milliardenschwere Investitionsfriedhöfe quer über das Land: in Kalkar liegen 7 Milliarden DM still, in Hamm-Uentrop 5 Milliarden DM. Das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich gilt als das modernste Kernkraftwerk Europas, aber die Mainzer Umweltministerin Martini — das ist die Umweltministerin des Kanz-
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Dr. Kurt Faltlhauserlerkandidaten der SPD, von Herrn Scharping — verweigert derzeit die Dauerbetriebsgenehmigung. In Niedersachsen behindert Ministerpräsident Schröder den Fortgang der Arbeiten bei Gorleben. Innerhalb der SPD wird gegen das Endlager Morsleben demonstriert.Ich frage die SPD: Liebe Kollegen, wie wollen Sie die Entsorgung des vorhandenen Plutoniums und der abgebrannten Kernbrennstoffe sicherstellen? Wie stellen Sie sich das vor, wenn Sie hier blockieren? Sie müssen die Blockade im Interesse der Sicherheit aufgeben.Weitere Beispiele Ihrer Blockadehaltung: in Brunsbüttel seit August 1992 Stillstand, in Krümmel seit August 1993. Nach Aussage der Hamburgischen Electricitäts-Werke haben diese Blockaden bisher bereits 140 Millionen DM gekostet. Sie können noch die Behinderungen durch Umweltminister Fischer, der hier hinten freundlich lächelt, hinzuzählen, als Beispiel das MOX-Brennelemente-Werk in Hanau.Heute trägt Herr Fischer eine ganz neue Krawatte; er wird immer bürgerlicher. Seine politischen Absichten aber werden nicht bürgerlicher.
— Sie wissen, daß ich das Outfit des Herrn Fischer seit längeren Jahren in besonderer Weise beobachte, weil dies eine Methode der Täuschung der Öffentlichkeit ist: vom Turnschuhminister zum Staatsmann, aber die Inhalte bleiben dieselben.Gestern mußte Minister Töpfer die Stillegung von Biblis A durch bundesaufsichtliche Weisung gegenüber der SPD-Regierung in Hessen verhindern. Es war nur zu Revisionszwecken abgestellt; turnusmäßig mußte dort überprüft werden. Krampfhaft hat der Umweltminister das Werk nach irgendwelchen möglichen Defekten untersuchen lassen, um es für immer abschalten zu können. Ist ihm, dem grünen Überzeugungstäter, der SPD-Ministerpräsident Eichel in den Arm gefallen? — Nein. Hat der SPD-Kanzlerkandidat Scharping, der jetzt viele Entscheidungen an sich zieht, gesagt, das sei unverantwortbar? — Nein, im Gegenteil: Zwischen SPD und dem Wunschkoalitionspartner DIE GRÜNEN besteht eine Übereinkunft, daß durch administrative Behinderung und durch Dehnung des Rechts, durch Verzögerung und Blockade ein De-facto-Ausstieg aus der Kernenergie in diesem Land herbeigeführt wird.Die GRÜNEN haben gerade auf ihrem Parteitag beschlossen, die Kernkraftwerke in zwei Jahren abzuschalten. Einige aus der SPD haben gesagt: Es ist unglaublich, was die wollen! Die Praxis aber zeigt, daß sie dieser Haltung sehr, sehr nahe sind. Die Energieversorgung in diesem Lande stellt deshalb nur die CDU/CSU-F.D.P.-Koalition sicher. Bei Ihnen und bei Rot-Grün werden mit Sicherheit sehr schnell die Lichter ausgehen.Wie sieht es mit dem Umweltschutz und der Energiepolitik der SPD aus? Die SPD will doch von der CO2-Emission herunter, gleichzeitig aber will die schleswig-holsteinische Landesregierung den Abriß des CO2-freien Kernkraftwerks Brunsbüttel, um an derselben Stelle eine CO2-intensive Anlage, nämlich ein Kohlekraftwerk, zu bauen.Nebenbei bemerkt, Herr Jung, soll dies selbstverständlich nicht mit Ihrer nordrhein-westfälischen Steinkohle oder der saarländischen beschickt werden, sondern mit der billigeren Importkohle. Das ist also sehr nützlich.Sie sind natürlich mit dramatischen Worten gegen die Abholzung des Tropenwaldes, wie wir.
Gleichzeitig aber sind Sie gegen das deutsch-brasilianische Nuklearabkommen, also gegen Kernkraftwerke in Brasilien. Wie reimt sich das eigentlich im Hinblick auf den Klimaschutz zusammen?
Wie sieht es schließlich mit der Steuerbelastung und Ihrer Energiepolitik aus? Scharping und Lafontaine sagen täglich: keine zusätzlichen Steuerbelastungen. Sie haben sogar einen entsprechenden Gesetzentwurf mit der Energiesteuer vorgelegt. Alle in Ihren Reihen — ich verweise auf Beschlüsse von Landesparteitagen und auf Meinungen einzelner Abgeordneter — sagen, 20 Milliarden muß das in etwa bringen. Sicherlich, auch wir haben eine zu hohe Abgabenquote zu beklagen; aber sie ist vorübergehend hoch zur Bewältigung einer einmaligen historischen Aufgabe, nämlich der Finanzierung der Aufgaben in den neuen Bundesländern.
Sie wollen durch Ihre ökologische Umsteuerung eine dauerhafte Erhöhung der Belastung der Bürger herbeiführen, und das gilt es zu verhindern.Ich meine also, die Energiepolitik der SPD zeigt am klarsten und auch am empörendsten, wie widersprüchlich sozialdemokratische Politik ist. Ich halte die politischen Aussagen zur Energiepolitik für ein Dokument für die Zukunftsunfähigkeit der SPD, in vielen Teilen sogar für ein Anzeichen einer Politik zurück ins Mittelalter. Deshalb bleibt Ihnen und uns eigentlich gar nichts anderes übrig, wenn wir die Zukunft sichern wollen, als dieses Artikelgesetz zu verabschieden.Ich bedanke mich.
Herr Kollege Klaus Beckmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Energiepolitik ist Langfristpolitik, und Energiepolitik ist Standortpolitik. Die künftige Bedeutung des Industriestandorts Bundesrepublik Deutschland hängt auch davon ab, inwieweit wir fähig sind, eine verantwortungsbewußte Energiepolitik zu betreiben.Zweitens. Energiepolitik braucht den Konsens. Deswegen appelliere ich an alle Seiten, die im Herbst
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Klaus Beckmann1993 unterbrochenen Konsensgespräche nach der Bundestagswahl fortzuführen.Meine Damen und Herren, der Entwurf der Bundesregierung zu einem Energie-Artikelgesetz, das wir hier heute in der ersten Lesung beraten, ist Zeugnis einer an den Realitäten orientierten Politik. Er baut auf Tatbeständen auf, die nicht immer ausschließlich energiepolitisch begründet werden können. Vielfach ist ja die Energiepolitik in der Vergangenheit instrumentalisiert worden. Sie war Mittel, um sich auch aus wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Zwängen zu befreien. Ich erinnere an die Ruhrkohle, die in diesen Tagen ihr 25jähriges Jubiläum begeht; von Feiern kann man ja wohl in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Sie ist ein Beispiel für eine Energiepolitik, die nicht eindimensional verlaufen ist. Mit der Gründung der Ruhrkohle hat man sich den damaligen energiepolitischen Erfordernissen gestellt. Man hat der Kohle in Nordrhein-Westfalen eine Zukunftsperspektive gegeben und den Regionen an Rhein und Ruhr geholfen sowie den Bergleuten die Grundlage für eine vernünftige Lebensplanung ermöglicht.Zu Zeiten des Wirtschaftswunders und des Wachstums war die Kohlepolitik, die ja auch immer finanziell flankiert worden ist, für die alte Bundesrepublik verkraftbar und wurde von einer breiten Bevölkerungsmeinung mit getragen. Wir wissen aber, daß sich heute die Situation dramatisch verändert hat. Die Zeiten sind durch immer knapper werdende Mittel geprägt. Ausgaben müssen auf ein wirtschaftlich und sozial vertretbares Maß zurückgeschraubt werden. Wir brauchen die erneute Rückführung der Steuer- und Staatsquote, um wirtschaftliche Anreize zu geben und die Investitionsbereitschaft zu stärken. Darüber ist heute vormittag ausführlich diskutiert worden. Ich denke, das kann nur durch eine strenge Haushaltsdisziplin in allen politischen Feldern erreicht werden. Es betrifft damit auch das Artikelgesetz zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung.Bereits am 21. November 1988 anläßlich der Eröffnung des 14. Kongresses der IG Bergbau und Energie hat der Bundeskanzler, wie ich meine, richtig festgestellt — ich zitiere —: „ Wir müssen gemeinsam sehen, daß die finanziellen Grenzen unserer Kohlepolitik erreicht sind." Das war im November 1988.Mit der Vorlage des Energie-Artikelgesetzes hat die Bundesregierung die notwendigen Rahmen- und Basisdaten für langfristige Investitionen in der Energiewirtschaft fixiert. Sie hat gleichzeitig einen energiepolitischen Schwerpunkt deutlich gemacht. Energiesparen, rationelle Energieverwendung und der verstärkte Einsatz regenerativer Energieträger werden als Zielsetzung genannt. Die Absicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und die Novellierung des Atomgesetzes sind weitere wichtige Eckpfeiler des Gesetzes.Die zukünftige Steinkohlepolitik wird dabei klar umrissen. Erstens wird für das Jahr 1996 den Bergbauunternehmen ein Finanzplafond von insgesamt 7,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.Zweitens. Für die Jahre 1997 bis 2000 werden Finanzplafonds von insgesamt 7 Milliarden DM pro Jahr bereitgestellt.Drittens. Die Finanzierung der Steinkohleverstromung für den Zeitraum 2001 bis 2005 wird rechtzeitig festgelegt. Dabei werden die Finanzplafonds weiter zurückgeführt.Meine Damen und Herren, damit stellt, so glaube ich, die Bundesregierung ihre Kontinuität in der Kohlepolitik unter Beweis. Ausgehend von den in der Kohlerunde 1991 verabredeten Zahlen wird den Bergbauunternehmen eine tragfähige Basis für ihr zukünftiges wirtschaftliches Handeln gegeben.Ich frage: Was hört man auch von der SPD über die Kohle und die Kohlepolitik nicht alles an Lippenbekenntnissen? Es macht einen doch nachdenklich, Herr Kollege Formanski, wenn ich Ihr Bestreben sehe, z. B. in Ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen ein Kohlekraftwerk in Heßler zu bauen, gleichzeitig aber die SPDMehrheitsfraktion im Rat der Stadt Essen, meiner Heimatstadt, ein solches Kohlekraftwerk ablehnt. Ich denke, schon das kennzeichnet die Einstellung zur Kohle in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.Meine Damen und Herren, mit der Plafondierung der Mittel und der Aussicht, diese spätestens ab 2000 degressiv zu gestalten, ist nicht nur für die Kohlepolitik ein wichtiges und, wie ich meine, auch chancenreiches Signal gegeben worden. Die Bergbauunternehmen — das will ich hier unterstreichen — müssen noch effizienter als heute ihre Arbeit gestalten und ihr Produkt Kohle vermarkten. Für Produktions- und Kostenmanagement gibt es noch erhebliche Spielräume.Meine Damen und Herren, über die Ausgestaltung der einzelnen Zeitabschnitte besteht noch erheblicher Beratungsbedarf. Da ist zum einen als Finanzierungsinstrument für die Jahre 1995 und 1996 auch weiterhin die Abgabe vorgesehen. Dabei ist ja, wie der Wirtschaftsminister eben ausgeführt hat, die Beteiligung der neuen Bundesländer ab 1996 an den Verstromungskosten noch streitig. Ich denke, daß das Angebot der Bundesregierung einer 25prozentigen Kürzung der Verstromungsabgabe gegenüber den alten Bundesländern eine gute Grundlage für unsere zukünftigen Beratungen im Wirtschaftsausschuß bildet.
Wie es ab 1997 mit der Kohlefinanzierung weitergehen soll, ist ebenfalls noch nicht entschieden. Die SPD ist da ja bereits festgelegt. Sie hat sich für die Einführung einer allgemeinen Energiesteuer ausgesprochen und verspricht sich damit Einnahmen in Höhe von 20 Milliarden DM, die sie vor allen Dingen für die Stützung der Kohle und den Einsatz regenerativer Energien verwenden will.Ich denke allerdings, daß sie sich damit wieder einmal als ideologisch gesteuerte Steuer- und Umverteilungspartei darstellt. Wir haben in den Konsensgesprächen im einzelnen darüber debattiert und brauchen dies hier nicht zu wiederholen.
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18446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Klaus BeckmannIch verweise hier auf die Auffassung des früheren Bundesfinanzministers Hans Apel, der Ende Oktober 1983 in einem bemerkenswerten Beitrag die Einführung einer allgemeinen Energiesteuer mit hervorragenden Argumenten ablehnte, weil sie nämlich, so Apel, den jetzt wieder in der Debatte stehenden Standort Deutschland in besonderem Maße gefährden könnte. Dem ist nichts hinzuzufügen.Meine Damen und Herren, wir machen ja in Ostdeutschland die Erfahrung, wohin staatliche Energiepolitik dort geführt hat. Heute müssen wir gemeinsam diese Trümmer aufarbeiten. Dazu gehört auch die Finanzierung der Altlastensanierung der ostdeutschen Braunkohle. Meine Fraktion unterstützt die Bereitschaft der Bundesregierung, auf der Basis der bisherigen Zusammenarbeit mit den betroffenen Ländern die Finanzierung der Altlasten über 1997 hinaus fortzusetzen.
Kommen wir nun zu dem zweiten Eckpfeiler des Energie-Artikelgesetzes, der Novellierung des Atomgesetzes. Wir alle wissen, daß die gleichzeitige Nutzung von Kernenergie und Kohle die unabdingbare Voraussetzung für den hohen Einsatz deutscher Steinkohle in der Verstromung ist.
Denn den Versorgungsanteil der deutschen Steinkohle können -wir uns nur leisten, wenn zugleich die preisgünstige Kernenergie genutzt wird.Die SPD hat mit ihrer Forderung — Einigung nur bei einem Ausstieg aus der Kernenergie; so hieß es in der Konsensrunde — die parteiübergreifenden Energiekonsensgespräche in eine Sackgasse geführt. Mit der ideologischen Selbstblockade — auch wenn die Verhandlungsführer Schröder und Clement versucht haben, die verhärteten Fronten in ihrer Partei aufzubrechen — haben Sie von der SPD das vorläufige Scheitern einer zukunftsweisenden Energiepolitik zu verantworten.
— Gnädige Frau, Sie waren bei diesen Verhandlungen doch gar nicht dabei und maßen sich ein Urteil an. Das steht Ihnen überhaupt nicht zu.Der erste Durchgang des Energie-Artikelgesetzes im Bundesrat war das Spiegelbild einer verworrenen Energiepolitik. Ich erinnere an das merkwürdige Abstimmungsverhalten des Landes Rheinland-Pfalz. Wo steht Herr Scharping eigentlich in der Energiepolitik? Ist er der verläßliche Partner, den die Energiewirtschaft für ihre Investitionen benötigt?
In der Frage der weiteren Nutzung der Kernenergie wird jedenfalls auch von ihm ein offenes Wort erwartet.Meine Fraktion jedenfalls ist der festen Überzeugung, daß zum augenblicklichen Zeitpunkt ein Ausstieg aus der Kernenergie verheerende Folgen für dieSicherung des Standortes Deutschland, für seine ökologische und ökonomische Entwicklung hätte. Energiepolitik erfordert nämlich, meine Damen und Herren, eine globale Betrachtung, auch wenn der Regionalaspekt — wie wir zur Zeit in Niedersachsen sehen — seine gewissen Reize für Parteistrategen haben kann.Auch unter Ausschöpfung großer Potentiale an Einsparmöglichkeiten wird der Energiebedarf zukünftiger Generationen wachsen. Das bedeutet, daß entsprechende Mengen an Energien bereitgestellt werden müssen. Dies muß in einer internationalen Arbeitsteilung und kann nur durch eine globale Diversifikation der Energieträger geschehen. Der Energieträger Kernenergie ist hier unverzichtbar, denn er besticht durch Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit. Er ist ein wichtiger Eckpfeiler im gesamtdeutschen Energiemix.
Ich will in Erinnerung rufen, daß 20 deutsche Kernkraftwerke insgesamt ca. 160 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen. Durch ihren Betrieb wird die Entstehung von fast 160 Millionen Tonnen Kohlendioxid vermieden. Das entspricht ca. 16 % der deutschen Gesamtemissionen.
Damit leistet die Kernenergie einen überzeugenden Beitrag zu unserem ehrgeizigen Ziel einer 25- bis 30prozentigen Minderung der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2000.
Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz in der Energiepolitik.Meine Damen und Herren, bei einem sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie — wie die GRÜNEN ihn fordern — müßte der Anteil der Kernenergie an der öffentlichen Stromversorgung in Höhe von 34 % eingespart, durch regenerative Energien ersetzt oder durch Kohle, 01 oder Gas kompensiert werden. Das ist unrealistisch. Physikalische und technische Gegebenheiten lassen sich durch politische Willenserklärungen und Grundüberzeugungen nicht beugen.Auch Herr Joseph Fischer weiß das. Er selbst hat im Rahmen der Verhandlungen über einen Energiekonsens einen abrupten Ausstieg aus der Kernenergie abgelehnt. Aber in seiner grün-roten Regierung hat er hierfür keine Mehrheit. Ich erinnere an den Beschluß des letzten Wochenendes. Da ist, Herr Kollege Faltlhauser, nicht nur von einem Ausstieg innerhalb von zwei Jahren die Rede, sondern von einem Ausstieg innerhalb von ein bis zwei Jahren. Das zeigt die Realitätsferne dieser Partei.Ich habe allerdings, Herr Kollege Jung, von Ihnen hier ein klares Wort der Distanzierung von diesen grünen Beschlüssen vermißt.
Jedermann von uns weiß, daß die Durchführung eines solchen Beschlusses volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von 300 Milliarden DM verursachen würde.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18447
Klaus BeckmannEs kann doch wohl nicht angehen, daß Sie zu solchen Sachverhalten schweigen, wenn Sie sich auf den Weg machen — was allerdings nicht von Erfolg beschieden sein wird —, die Regierung zu übernehmen.Herr Jung, Sie haben vom Wortbruch in der Energiepolitik gesprochen, von einem Wortbruch, den Sie der Bundesregierung und damit den Koalitionsfraktionen vorwerfen. Ich will es nur der Ordnung halber wiederholen, damit es nicht untergeht und auch immer wieder im Protokoll nachzulesen ist: In der Energiepolitik das Wert gebrochen haben die Sozialdemokraten mit ihren Ausstiegsbeschlüssen der Parteitage von Nürnberg und Bochum, als sie sich vom Konsens Kohle Kernenergie getrennt haben. Wir nehmen heute nach wie vor die Positionen ein, die wir einmal gemeinsam vereinbart haben. Uns jetzt Wortbruch vorzuwerfen verkehrt die Dinge völlig ins Gegenteil. Ich denke, Sie sollten sich dazu noch einmal äußern.
Meine Damen und Herren, die Kernenergie ist eine Hochtechnologie, die auf viele Wirtschaftsbereiche ausstrahlt. Es wäre verheerend, wenn man für die Kernenergie keine belastbare Zukunftsperspektive offenhalten würde. Das käme schlicht einer Kapitalvernichtung und der Auslöschung eines hochentwikkelten Industriesektors gleich. Mit der Novelle des Atomgesetzes verhindern wir dies. Der Gesetzentwurf schafft die Grundlage für die kontinuierliche technologische Weiterentwicklung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Ich glaube, daß wir alle in den Beratungen des Deutschen Bundestages, aber auch des Bundesrates, unsere Bereitschaft unter Beweis stellen werden, an einem schlüssigen Gesamtkonzept für die Energiewirtschaft mitzuwirken. Der Entwurf der Bundesregierung bietet hierzu eine gute Basis.Vielen Dank.
Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Wort zu dem, was Herr Rexrodt hier gesagt hat. Das, was 1990 in der Noch-DDR im Energiesektor passiert ist, war im Prinzip der größte Coup bundesdeutscher Energieunternehmen. Es war ein Vorgeschmack auf das, was nach dem Oktober 1990 passiert ist. Ich denke, die ostdeutschen Kommunen werden dies noch bitter bezahlen müssen.
Im übrigen, Herr Kollege Beckmann: Aus der staatlichen Energieversorgung ist im Prinzip die Monopolstellung von drei Energieunternehmen geworden. Bei beiden handelt es sich um eine Monopolstellung.
Meine Damen und Herren, nachdem die sogenannten Energiekonsensgespräche so „erfolgreich" im Sande verlaufen sind, setzt die Regierung nun den energiepolitischen Hammer an. Die Steinkohle soll in Nibelungentreue an die Atomenergie geschmiedet werden. Jetzt lassen Sie die Katze aus dem Sack: Das also ist Ihre Vorstellung von einem nationalen Energiekonsens. Zugeben muß man sicherlich auch, daß die schillernde „Wackelpudding-Atompolitik" der SPD der Kohl-Regierung als Lobby der Energiewirtschaft leichtes Spiel verschafft.
Die PDS/Linke Liste fordert eine umweltfreundliche, sozialverträgliche und ressourcenschonende Energieversorgung. Diese ist mit der Nutzung der Atomenergie von vornherein unvereinbar, ja der Ausstieg ist quasi Bedingung für eine zukunftsorientierte Energieversorgung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf den Kraftwerksbetreibein durch weitere sogenannte Vorsorgemaßnahmen zur Verhinderung von Kernschmelzen Maßnahmen für eine mögliche Evakuierung der Bevölkerung im Umfeld von Atomkraftwerken ersparen will. Dabei gibt es nur eine wirksame Vorsorgemaßnahme zur Verhinderung von Kernschmelzen: Das ist die Stillegung von Atomanlagen. Erst dann können Sie auf Pläne zur Evakuierung der Bevölkerung verzichten.
Da die Wiederaufarbeitung von Brennelementen teuer und gefährlich ist und die Atommüllberge gigantisch anschwellen, soll die direkte Endlagerung ins Atomgesetz. Der Hintergedanke dabei ist: Weil die notwendigen Abklingzeiten bis zur vorgesehenen direkten Endlagerung sehr lang sind, meint die Bundesregierung, so Zeit für die Lösung der Endlager-Frage zu gewinnen. Bekanntlich ist Gorleben als Endlager ungeeignet. Morsleben ist als Endlager ebenso ungeeignet, und das trotz aller früheren Beteuerungen und ausstehender Sicherheitsgutachten — im übrigen im Auftrag der Landesregierung Sachsen-Anhalts, und das ist nach wie vor eine CDU/F.D.P.-Regierung; aber das wird sich sicherlich ändern.
Zu Morsleben müßte man vielleicht noch einen weiteren Gedanken ausführen.
Ich darf Sie für einen Moment unterbrechen. Ich muß nur an die Adresse des Kollegen Faltlhauser sagen, er möge bitte aufhören, am Mikrofon herumzuschrauben. Dann bin ich es wieder gewesen.
Ein Wort noch zur Einlagerung in Morsleben. Ausgerechnet im Zusammenhang mit dieser Einlagerung ist die DDR Ihrer Auffassung nach wieder ein Rechtsstaat; denn all das, was zu DDR-Zeiten genehmigt wurde, wird von Ihnen als rechtmäßig anerkannt. Es wird sogar auf das übertragen, was jetzt an West-Müll dort eingelagert wird.Wie ist es überhaupt um die Entsorgung der Atomkraftwerke bestellt? In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der PDS/Linke Liste zur Entsorgungssituation der bundesdeutschen Atomanlagen muß die Bundesregierung eingestehen, daß der vom Atomgesetz geforderte Entsorgungsnachweis für sechs Jahre im voraus praktisch nur noch über die Zwischenlagerung und über die Wiederaufarbeitung z. B. in Sellafield gewährleistet wird. Das ist ein mehr als fragwürdiges Verfahren. Das ist ein wohl mehr als fragwürdiges Verfahren.
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18448 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. Dagmar EnkelmannEines möchte ich der Bundesregierung hier ganz besonders ans Herz legen: Beschädigen Sie mit Ihrer Energie- und Atompolitik nicht weiter den Wirtschaftsstandort Deutschland! Lassen Sie den atomaren Faden reißen! Wir brauchen endlich vernünftige Rahmenbedingungen, und zwar einschließlich einer entsprechenden Forschungspolitik, für eine umweltfreundliche, sozial verträgliche und ressourcenschonende Energieversorgung. Konzepte für Energiespartechnologien, fortschrittliche Kohlenutzungstechnologien, hocheffiziente Nah- und Fernwärmesysteme sowie für die Nutzung der zukunftsträchtigen Solarenergie liegen bei einer Reihe von Unternehmen in den Schubladen, haben aber durch die herrschende Politik keine Chance. Hier drohen wir gegenüber fortschrittlichen Ländern immer weiter zurückzufallen. Und nicht bei dem Transrapid, diesem mehr als fragwürdigen Projekt,
sondern bei Energiekonzepten in dem Bereich von Umwelttechnologien liegen Chancen für den notwendigen Forschungsschub. Hier stimme ich mit Herrn Rexrodt z. B. einmal ausnahmsweise überein. Hier könnten Arbeitsplätze geschaffen werden, und zwar mehr, als jemals in der Atomindustrie zu schaffen wären.Meine Damen und Herren, die atomare Erpressungspolitik von Regierung und Industrie gegenüber den Kohleländern weisen wir entschieden zurück. Die PDS/Linke Liste im Bundestag fordert, das Ergebnis der Kohlerunde 1991 nicht anzutasten. Keine Zeche darf geschlossen, kein Arbeitsplatz vernichtet werden.
Nach Auslaufen des Jahrhundertvertrages muß eine klare und wasserdichte Anschlußregelung her, die den sinnvollen Einsatz heimischer Steinkohle in umweltfreundlichen Heizkraftwerken bundesweit sichert. 1996 ist immerhin schnell erreicht.Denken Sie daran: Noch in diesem Jahrzehnt wird der Zenit der Nordseeölförderung überschritten werden, wird die Nachfrage nach Öl auf dem Weltmarkt steigen, wie jüngst selbst die Internationale EnergieAgentur prophezeite. Dies heißt nichts anderes, als daß Öl erheblich teurer wird und damit auch Erdgas und die Importkohle, die heute zu Dumpingpreisen auf den Markt geworfen wird. Wer da die Energievorräte im eigenen Keller absaufen läßt, wird ein langes Gesicht machen, wenn die Preise steigen.Bezüglich der angeblich so teuren heimischen Steinkohle wird oft mit irreführenden Zahlen operiert. Kritische Analysen gehen davon aus, daß der Preis einer Kilowattstunde Atomstrom bei etwa 4 DM liegen müßte, wenn alle externen Kosten eingerechnet würden. Der niedrigere Preis von Welthandelssteinkohle stellt sich bei einer reinen betriebswirtschaftlichen Sichtweise sicher günstiger dar. Gesamtgesellschaftlich sind meines Erachtens aber die Kosten für die Arbeitslosigkeit in den heimischen Revieren in die Rechnung miteinzubeziehen. Die britische Bergarbeitergewerkschaft hat darüber hinaus vorgerechnet, daß sowohl Steinkohle als auch Öl und Gas auf dem Weltmarkt teurer würden, wenn in der EG kein nennenswerter Steinkohlebergbau mehr existierte. Osteuropäische Länder, China und Südafrika exportieren Steinkohle zu Dumpingpreisen, um an Devisen zu gelangen. Wer von billiger Importkohle redet, sollte auch über die Bedingungen reden, unter denen in vielen Ländern Steinkohle gefördert wird. Kinderarbeit in Kolumbien, Hungerlöhne in China und Südafrika, verbunden mit völlig unzureichenden Sicherheitsstandards, ermöglichen solche Preise.
In den USA, Australien und den GUS-Staaten zeugen riesige Kraterlandschaften von dem Raubbau an der Natur.
— Wir sollten wesentlich weiter denken, und zwar über den nationalen Tellerrand hinaus. Das ist meine Forderung dabei.
— Ich habe eben nicht nur den bundesdeutschen Energiemarkt im Blick, sondern gehe ein bißchen weiter als Sie.Zu bedenken ist auch, daß erst der 1986 einsetzende Ölpreisverfall auf dem Weltmarkt den Preis für Welthandelskohle mit in die Tiefe gerissen hat. Zugleich hatte der niedrige Ölpreis den hohen Subventionsbedarf für die heimische Steinkohle zur Folge. Sinnvoll in mehrfacher Hinsicht wäre es gewesen, den dramatischen Preisverfall für Öl auf dem Weltmarkt im Jahre 1986 durch eine Energieabgabe nicht auf den Energiemarkt in der Bundesrepublik durchschlagen zu lassen. Aus dieser Energieabgabe hätten sich Maßnahmen zur effizienten Energienutzung, Energieeinsparung und der Förderung regenerativer Energiequellen finanzieren lassen. Statt dessen versuchte die Kohl-Regierung, sinkende Benzin- und Energiepreise der Bevölkerung als Erfolg ihrer Wirtschaftspolitik zu verkaufen. Die negativen Effekte ließen nicht lange auf sich warten: Der Ölkonsum der Bundesrepublik stieg nach Jahren wieder; regenerative Energienutzung, Energieeinsparung und Fernwärmeausbau stagnieren, bei der Kohlefinanzierung wurde das Loch von Jahr zu Jahr größer.Meine Damen und Herren, die letzte Mineralölsteuererhöhung versickert in den Waigelschen Haushaltslöchern. Notwendiger denn je brauchen wir heute eine Energieabgabe, die signalisiert, daß Energie knapp ist und daß Energieverbrauch die Umwelt belastet.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18449
Dr. Dagmar Enkelmann— Für die Energie- und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik können Sie mich nun nicht auch noch verantwortlich machen.
Ich weiß, ich bin für den Mauerbau verantwortlich usw., aber für das Gott sei Dank nicht.Aus dieser Energieabgabe können Maßnahmen zur Energieeinsparung, zur Energieeffizienzsteigerung, die Einführung von Anlagen zur Nutzung regenerativer Energien und die gesamtgesellschaftlich sinnvolle Stützung der heimischen Steinkohle finanziert werden.Der SPD-Antrag gibt meines Erachtens hier einige brauchbare Ansätze, obwohl er über die Ausgestaltung der von der SPD geforderten Steuer praktisch nichts aussagt. Diesbezüglich wäre in den Ausschüssen sicher auch noch nachzuarbeiten.Meine Damen und Herren, heute gilt es, Bürgerinitiativen, Anti-AKW-Bewegung und die um ihre Arbeitsplätze kämpfenden Bergleute in den Revieren zu unterstützen und für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren: Raus aus der Atomenergie! Weg von den verschwenderischen Strukturen der heutigen Energiewirtschaft! Hin zu einer effizienten Energienutzung und zur Einsparung von Energie!Machen wir uns endlich auf den Weg in das Zeitalter alternativer Energien! Bis wir dies erreicht haben, brauchen wir allerdings die heimische Steinkohle und auch die ostdeutsche Braunkohle.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem stellvertretenden Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Staatsminister Joseph Fischer, Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Rede des Bundeswirtschaftsministers gehört hat, dann fragt man sich, wie er mit dieser Energiepolitik die Bundesrepublik Deutschland aus der schwersten Wirtschaftskrise seit ihrem Bestehen eigentlich herausführen will. Es ist kein Wort darin vorgekommen, geschweige denn ein Politikentwurf oder konkrete Vorschläge, wo die Konsequenzen in Richtung Energiesparen, regenerative Energieträger, bessere Energienutzung gezogen werden. Das alles kommt nicht vor. Wenn man nach Programmen, nach Initiativen der Bundesregierung fragt, dann wird man feststellen: überall Fehlanzeige. Und das in einer Situation, wo es doch dringend darum geht, daß man auf Innovation setzt, daß man auf neue Ansätze setzt.Ich befürchte, daß diese Bundesregierung hier eine einmalige Chance verpaßt, aus der Krise herauszukommen, und in einer Basisfrage, nämlich in der Energiefrage, bei der Neuorganisation der Energiepolitik völlig versagt. Ich sehe den Tag schon kommen — dann wird nicht mehr dieser Bundeswirtschaftsminister im Amt sein —, wo dann entsprechende Technologien, entsprechende Systeme auf dem Weltmarkt eingekauft werden, wo Systeme übernommen werden, weil sie hier nicht entwickelt wurden, weil man dies versäumt hat, sondern weil sie woanders entwikkelt wurden. Das heißt dann auch: Die Arbeitsplätze werden woanders sein.
Meine Damen und Herren, jenseits des Streits um die Frage der Atomenergie sind wir doch jetzt in einer Situation, wo es einen Wettbewerb der besseren Ideen geben müßte, wie wir unter den Bedingungen sowohl der globalen Verantwortung — Stichwort Rio — als auch des Schaffens neuer Arbeitsplätze — und das heißt zuerst und vor allem: neuer wirtschaftlicher Strukturen in diesem Land — tatsächlich aus dieser Krise herauskommen können.Angesichts dessen, was vom Bundeswirtschaftsminister heute hier gesagt wurde, kann ich nur sagen: Lieber eine neue Krawatte als diese ollen Kamellen, die er vorgetragen hat, meine Damen und Herren.
Denn da war nicht ein neuer Ansatz drin. Wenn er wenigstens angekündigt hätte — man ist ja in diesem Lande schon sehr anspruchslos geworden —, was die Bundesregierung in dieser Richtung zu tun gedenkt, welche Energieeinsparvorstellungen sie denn tatsächlich hat!Welche Bedeutung, Herr Kollege Beckmann, das hat, das kann ich Ihnen einmal aus Ländersicht darstellen: Wir haben in Hessen dafür ein Programm von jährlich 100 Millionen DM. Es ist zugegebenermaßen ein bescheidenes Programm, aber angesichts des Landeshaushalts ein ganz erhebliches Programm. Das ist mittlerweile zu einem zentralen Investitionsprogramm vor allen Dingen für das heimische Handwerk und den Mittelstand geworden, und zwar unter dem Gesichtspunkt von rationellerer, d. h. besserer Energienutzung, von Energiesparmaßnahmen — das heißt, daß es zur Energieumwandlung gar nicht kommen muß — und der Förderung einzelner Pilotprojekte, um neue Wege gehen zu können.Warum geht das auf Bundesebene nicht? Warum wird daraus nicht ein Schwerpunkt Ihrer Energiepolitik, meine Damen und Herren? Das schafft doch Arbeitsplätze. Energiesparmaßnahmen schaffen hochmoderne Arbeitsplätze auf Dauer, vor allen Dingen im Handwerk und im gewerblichen Bereich. Das sind Arbeitsplätze mit Zukunft, auf die Sie ganz offensichtlich verzichten wollen.Ich betone nochmals: Wenn wir das nicht machen, dann wird es im Ausland, in anderen Volkswirtschaften gemacht, und dann werden wir unter dem Gesichtspunkt von Arbeitslosigkeit hier wieder einmal den kürzeren ziehen.Ich höre hier Hohn und Spott über die hohen Energiepreise. Ich meine, daß Sie als Steuererhöhungsregierung in die Geschichte der Bundesrepu-
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18450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Staatsminister Joseph Fischer
blik Deutschland eingehen, das steht heute schon fest.
— Sie gehen natürlich auch als Regierung der Schuldenbarone in die Geschichte ein, vor allen Dingen, wenn man die CSU zum Maßstab nimmt.
— Verehrter Herr Ost, wenn ich mir vorstelle, Sie hätten diese Verschuldungspolitik einer rot-grünen Regierung in Ihrer früheren Zeit als Wirtschaftsjournalist zu kommentieren gehabt, dann weiß ich, wie diese Kommentare ausgesehen hätten.
— Auch bei der Einheit.Nirgendwo steht geschrieben, meine Damen und Herren, daß Sie die Einheit durch Schulden finanzieren müssen. Das war doch Ihr Bundeskanzler, der der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollte. Das ist doch der eigentliche Punkt.
— Meine Damen und Herren, Wahrheit weckt offensichtlich auf. Aber gehen wir doch noch einmal weiter.
— Ich habe mich nicht hinsichtlich der Fraktionsgrößen einzumischen, aber ich nehme an, es wird im nächsten Deutschen Bundestag wesentlich anders werden.
— Ich brauche jetzt keinen Beifall, ich möchte jetzt mit Ihnen sachlich debattieren.Noch einmal zurück zur Sache. Entscheidend ist doch, daß Sie für bestimmte Technologien einen Markt schaffen müssen. Herr Kollege Faltlhauser, Sie wissen doch ganz genau, das ist eine Frage der Energiepreise.Diese Bundesregierung vertritt eine Energiepolitik, die allein an der Versorgung orientiert ist: möglichst viel, möglichst billige Energie. Angesichts dessen, was notwendig ist, ist das das Falsche.In den USA hat man in der Reagan-Ära genau diese Energiepolitik mit der Konsequenz betrieben, daß die gesamte Volkswirtschaft technologisch im internationalen Wettbewerb zurückgefallen ist. Deswegen müssen wir aus meiner Sicht eine Energiepreispolitik fahren, die im Rahmen des ökonomisch Vernünftigen am oberen Rand fährt, um den Innovationsdruck aufrechtzuerhalten.Schauen Sie sich doch, Herr Faltlhauser — den Satz möchte ich noch hinzufügen —, die letzte Internationale Automobilausstellung an. Dort konnten Sie das ganze Elend der deutschen Industrie besichtigen. Was die Verbraucher auf der Internationalen Automobilausstellung interessierte, das Ökoauto von einem Flaggschiff der deutschen Industrie, das gab es nicht zu kaufen. Was es zu kaufen gab, den Dinosaurier, interessierte die Verbraucher nicht mehr. Da können Sie sehen, wie man über Energiepreise und falsche Modellpolitik völlig gegen die Wand fahren kann, wenn man beizeiten nicht umsteuert.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Faltlhauser?
Herr Fischer, könnten Sie mir nicht bestätigen, daß es ernsthafte Versuche gab, den Bereich des Energiesparens und auch der Finanzierung der alternativen Energien, um hier Dynamik hineinzubringen, in einem Konsensgespräch mit entsprechenden Automatismen sehr weit voranzutreiben, und daß diese Konsensmöglichkeiten in den Gesprächen, insbesondere mit dem von Ihnen so sehr gewünschten Kanzlerkandidaten Schröder, durch den Beschluß des SPD-Präsidiums von einem Tag auf den anderen unmöglich gemacht wurden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe hier nicht die SPD zu verteidigen,
— aber ich nehme an, es wäre richtig spannend geworden. Abgesehen davon lege ich mich nicht in einer Kandidatenfrage fest, die abgetan ist. Ich weiß gar nicht, woher Sie wissen, daß ich für Schröder gewesen wäre. Aber bitte, das ist Ihr Problem.Ich habe hier nicht die SPD zu verteidigen. Ich kann nur soviel sagen: Spannend wären die Konsensgespräche erst dann geworden, wenn es tatsächlich um ausstiegsorientierte Restlaufzeiten gegangen wäre. Dann hätte ich gern die CSU gesehen; da wären Sie vermutlich herumgehüpft wie neulich im PschorrKeller in München. Aber auch das ist für mich nicht der entscheidende Punkt.Ich denke, wir haben es mit einer Bundesregierung zu tun und nicht mit einer Versammlung trotziger Kinder. Sie können doch im Blick auf das als richtig Erkannte nicht sagen: Nein, das tun wir nicht, wir sind wegen der bösen SPD beleidigt. — Das geht doch nicht. Wenn als richtig erkannt wird, daß wir mit dem Energiesparen beginnen und die Preissignale anders setzen müssen, dann müßte diese Bundesregierung aus ihrer Verpflichtung heraus selbständig handeln und kann das Handeln nicht an die Zustimmung der Opposition binden.
Ich möchte aber noch auf einen zweiten Gesichtspunkt eingehen, den ich für sehr erheblich halte. Es geht hier nicht nur um die Grundsatzfrage, sondern aus der Sicht der Länder geht es auch um die spannende und zentrale Frage: Wie hält es diese Bundes-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18451
Staatsminister Joseph Fischer
regierung mit der Anlagensicherheit im Bereich der Atomenergie?Herr Kollege Faltlhauser, Sie hatten die Gelegenheit genutzt und mich darauf angesprochen. Sie sollen Antwort bekommen. Wir müssen aus hessischer Sicht jetzt im Zusammenhang mit der Wiederinbetriebnahme des Reaktorblocks Biblis A feststellen, daß diese Bundesregierung jetzt ganz offensichtlich durch eine Weisung des Kollegen Töpfer demonstriert, daß ihr Gewinn vor Sicherheit geht. Es tut mir leid, daß ich das in dieser Härte feststellen muß.
Dies — was Sie „unglaublich" nennen — möchte ich hier begründen.Am 17. Dezember 1987 ist im Block Biblis A etwas geschehen, was selbst Befürworter der Atomenergie nicht für möglich gehalten haben. Dort nämlich bemerkte die Reaktormannschaft drei Tage nach dem Wiederanfahren morgens um halb drei, daß ein Lämpchen brannte, woraufhin sie feststellte, daß von zwei Ventilen an einem Rohr, welches vom Primärkreislauf wegführt, der voll unter Druck stand, ein Ventil offen war.
Dieses Ventil wurde dann durch Öffnen des Primärkreislaufes geschlossen.Das führte zu erbitterten Auseinandersetzungen mit der Bundesaufsicht und der damaligen Landesaufsicht. Es kam zu einer Sicherheitsüberprüfung durch unabhängige Sachverständige des TÜV Bayern, heute TÜV Bayern/Sachsen. Es wurde festgestellt, daß der Reaktorblock A in Biblis in wesentlichen Punkten Sicherheitsdefizite hat, die abgearbeitet werden müssen. Diese Sicherheitsdefizite wurden dann von der hessischen Landesregierung in einem Bescheid in 49 Auflagen zusammengefaßt. Die Sicherheitsdefizite sollten innerhalb von drei Jahren abgearbeitet sein.In dem Bescheid von damals hieß es — ich zitiere:Hinsichtlich ihrer zeitlichen Umsetzung— der Umsetzung der sicherheitserhöhenden Maßnahmen —wurde angeordnet, daß die Maßnahmen spätestens bis Ende der 1993 beginnenden Revision auf der Basis der gültigen Regelung bei Änderungen an der Anlage realisiert sein müssen. Diese Frist ist als angemessen anzusehen und aufgrund der sicherheitstechnischen Bedeutung der Anordnungen, die im einzelnen aus der Sicherheitsanalyse zu entnehmen ist, erforderlich. Das ergibt sich aus der Aussage des Sachverständigen, der Betrieb der Anlage ohne Umsetzung der Empfehlung sei nur bis zu diesem festgesetzten Zeitpunkt hinzunehmen.So der Bescheid der hessischen Landesregierung.In der Umsetzung hat sich dann gezeigt, daß die Anlagenbetreiberin von Anfang an versucht hat, die Frist wegzubekommen. Im ersten Gespräch mit der hessischen Atomaufsicht Ende Mai/Anfang Juni wurde mit dem Argument, man könne dieses nicht realisieren, versucht, die Frist wegzubekommen. Die Betreiberin hat die ganze Zeit über argumentiert: Wir wollen die sicherheitserhöhenden Maßnahmen umsetzen, aber wir können sie nicht in dieser Frist umsetzen.Die Betreiberin hat die notwendigen Unterlagen dann in den restlichen Jahren nicht ausreichend schnell beigebracht, respektive nicht in der für einen fristgerechten Abschluß notwendigen Prüfungsdichte vorgelegt.
— Ich will nicht schlicht zumachen. Nein, über die Frage „Atomausstieg" wird am 16. Oktober bei den Bundestagswahlen entschieden. Hier geht es allein um die Frage, ob Sie sich an die vorgegebenen Standards des Atomgesetzes halten oder ob die betriebswirtschaftlichen Ansprüche der Betreiberin Vorrang haben bei Ihnen, ob Sicherheit nachrangig ist oder ob Sicherheit nach dem Atomgesetz den Stellenwert hat, den sie haben muß.Wir haben festgestellt, daß es sich dabei im wesentlichen um Defizite im Brandschutz handelt, daß wichtige Komponenten des Reaktors nicht ausreichend gegen Erdbeben ausgelegt sind, respektive die Nachweise dafür fehlen, daß die Beherrschung der Situation eines explosionsfähigen Wasserstoffaufbaus bei einem Kühlmittelverlust-Störfall nicht nachgewiesen ist, daß die Außensicherung des Reaktors nicht ausreichend ist und daß eine ausreichende Deckungsvorsorge nicht vorgelegen hat. Das waren die gravierendsten Punkte.Daraus ergibt sich — das ist der eigentliche Grund dafür, daß ich heute hier rede, Herr Bundesumweltminister — folgende Frage. Wenn man an dem Bescheid der hessischen Landesregierung festhält— die Bundesaufsicht hat drei Jahre daran nichts zu kritisieren gehabt — —
— Ich verteidige diesen Bescheid, ich bitte Sie.
Herr Staatsminister, Sie sind schon ein gutes Stück über die vereinbarte Redezeit hinaus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich muß mich entschuldigen, aber ich brauche noch ein bißchen Zeit. — Herr Abgeordneter, es geht hier nicht um gut oder nicht gut; es geht um eine zentrale Frage der Sicherheit der hessischen Bevölkerung. Seien Sie mir nicht böse, aber das ist eine Frage, über die Sie vielleicht lachen mögen; ich nehme sie bitterernst.Die entscheidende Frage, die sich jetzt stellt, ist doch: Was geschieht, wenn nach diesen drei Jahren die sicherheitserhöhenden Maßnahmen nicht abgearbeitet sind? Damit das Argument, Fischer habe hier
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18452 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Staatsminister Joseph Fischer
verzögert und auf Halten gespielt, erst gar nicht kommt,
— natürlich! —, will ich Ihnen einmal sagen, was wir vorgefunden und was wir dann gemacht haben, verehrter Herr Kollege. Wir haben nach dem Regierungswechsel für das Biblis-Genehmigungsverfahren ein Referat mit drei Leuten vorgefunden. Die Mehrzahl der Anträge und Unterlagen ist erst im April 1993 bei uns eingegangen. Wir können RWE ja nicht mit vorgezogener Pistole dazu zwingen, Anträge zu stellen. Was haben wir gemacht? — Wir haben zehn zusätzliche externe Leute eingestellt, auf diesen Bereich jetzt insgesamt vier Referate konzentriert, d. h., an diesem Projekt arbeiten jetzt 18 Personen, wo vorher drei Personen gearbeitet haben. Herr Kollege Töpfer, die hessische Landesregierung hat dafür 5 Millionen DM zur Verfügung gestellt, um dieses Verfahren realisieren zu können. Insofern kann ich bei Ihnen nur den Versuch erkennen — politisch verständlich, aber in der Sache überhaupt nicht begründet —, klarzumachen: Hier wurde bewußt verzögert. Aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre — ich unterstelle einmal diese Bösartigkeit — —
Herr Minister, es tut mir leid, aber die Zeit, die Sie jetzt beanspruchen, gibt es für Ihre Gruppierung gar nicht mehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich komme gleich zum Ende.
Ich bitte sehr herzlich darum.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, nein, nicht nur einen Satz, aber ich komme gleich zum Ende. — Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt in diesem Zusammenhang ist, daß Sie, Herr Bundesumweltminister, trotzdem erklären müssen, wie Sie dazu kommen — egal, ob verzögert wurde oder nicht —, durch Bundesweisung einen nicht sicheren Reaktor wieder ans Netz gehen zu lassen.
Wenn Sie der Meinung sind, daß dieser Reaktor sicher ist, dann stelle ich mir die Frage, wie es dazu kam, daß der Kollege Weimar diesen Bescheid erlassen konnte. Wenn Sie der Meinung sind, daß dieser Reaktor nicht sicher ist, dann müssen Sie die Frage stellen, wie darauf zu reagieren ist, daß die Betreiberin ihrer Pflicht nicht nachgekommen ist.
Was ich Ihnen vorwerfe — das ist doch mit Händen zu greifen, Herr Bundesumweltminister —, ist, daß Sie in dieser Situation, unter dem Druck der Stromwirtschaft stehend, sich eben nicht für die sichere Seite entscheiden, sich nicht für die Umsetzung des Atomgesetzes zugunsten der Sicherheit entscheiden, sondern glauben, in der Frage, ob der Reaktor am Montag dieser Woche wieder ans Netz gehen kann, noch Spielräume zu haben.
Ich möchte Sie nochmals nachdrücklich auffordern, Ihrer Pflicht nachzukommen, den Sicherheitsinteressen Vorrang zu geben und betriebswirtschaftliche Interessen nachrangig zu behandeln.
Meine Damen und Herren, es ist natürlich ein sehr problematisches Verfahren, wenn eine Gruppe zehn Minuten Redezeit hat und ein Minister, ein Vertreter des Bundesrats, der dieser Gruppe zugehört, um fast die Hälfte überzieht, das aber der Gruppe nicht abgezogen werden kann, weil sie gar nicht soviel Redezeit hat.
— Nun handelt es sich bei Staatsminister Fischer natürlich um einen durchaus erfahrenen Parlamentarier.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Professor Dr. Klaus Töpfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt haben wir also wieder den Staatsminister in dreifacher Ausfertigung erlebt. Die erste Ausfertigung: der Wirtschaftspolitiker. Ihm sei nur gesagt, daß die Staatsquote am Ende der sozialliberalen Regierung in etwa so hoch war, wie sie jetzt ist. In der Zwischenzeit hat die von der jetzigen Bundesregierung zu verantwortende Finanzpolitik dazu beigetragen, daß die Staatsquote auf etwa 46 % zurückgegangen ist. Durch eine konsequente Finanz- und Wirtschaftspolitik sind überhaupt erst einmal die Voraussetzungen geschaffen worden, daß wir den Prozeß der deutschen Einheit mit der finanziellen Stabilität durchstehen konnten, wie das bisher möglich war.
Was sozialliberale Politik und sozialistische Ausgabenpolitik bei der Staatsquote erreicht haben, haben wir jetzt auf Grund der durch die deutsche Einheit bedingten Aufgaben erkennen können. Ich möchte deutlich sagen, daß das nicht Kosten der deutschen Einheit sind, sondern daß das Kosten der Überwindung sozialistischer Mißwirtschaft und damit verbundener Probleme gewesen sind. Das ist ein kleiner Unterschied.
Dies zum Wirtschaftspolitiker Fischer.
— Wenn ich immer auf die Idee käme, bei Ihnennachzufragen, ob etwas originell sei, dann hätte ich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18453
Bundesminister Dr. Klaus Töpferviel zu tun. Lassen wir uns also wechselseitig darin offen sein.
Kommen wir nun zum allgemeinen Energiepolitiker Fischer. Da ist er schon ernster zu nehmen. Das ist eigentlich auch unser heutiges Thema.Wie geht es denn weiter mit der Energiepolitik im wiedervereinten Deutschland in einem vereinten Europa? Das ist die Meßlatte, an der wir zu messen sind? Viele — die saarländische Landesregierung ist ein besonderes und gutes Beispiel dafür — machen Landesenergiepolitik, die sich dann darin erschöpft, daß man nicht einmal mehr die Durchleitung von Strom zu einem unproblematischen Thema im geeinten Europa werden läßt. Aber die Meßlatte ist eine europabezogene und europaverträgliche Energiepolitik. Darum geht es mir.Deswegen haben wir ein Artikelgesetz vorgelegt, das das aufgreift, was wir in den Energiekonsensgesprächen behandelt haben. Das waren drei Säulen. Die Säule eins sind die heimischen Energieträger Steinkohle und Braunkohle. Die Säule zwei ist die Kernenergie. Die Säule drei ist die Frage der regenerativen Energieträger und des Energieeinsparens. Alle drei Säulen sind bedeutsame und aufeinander bezogene Größen — aufeinander bezogen allein deswegen, Herr Kollege Fischer, weil das etwas mit Energiepreisen und damit mit der Standortqualität zu tun hat.Deswegen ist nicht von uns — ich habe das beim letztenmal hier schon unterstrichen — eine Verbindung zwischen diesen drei Säulen hergestellt worden, sondern sie ist hergestellt worden von denen, die die Energiekonsensgespräche initiiert haben. Das war u. a. der Kollege Schröder, der uns leider in dieser Diskussion schon wieder abhanden gekommen ist.Es gab die Überlegung: Wie können wir durch das Zusammenbinden dieser drei Dinge Energiepreise ermöglichen, die den Standort Deutschland auf Dauer wettbewerbsfähig halten? Das ist doch das Interessante.
Wenn der Kollege Jung jetzt herkommt und sagt, nun laßt uns doch das einzelne einmal herausnehmen, dann bricht genau das zusammen.
Dann können Sie ja möglicherweise eine Zeitlang noch Kohle finanzieren, aber Sie werden hinterher nicht mehr die wirtschaftliche Basis haben, von der aus diese Volkswirtschaft Bundesrepublik Deutschland wirklich überlebensfähig ist.
Das ist es doch. Wir wollen die Dinge nicht deshalb zusammennehmen, weil wir irgend jemanden in Geiselhaft nehmen oder erpressen oder sonst etwas tun wollen. Wir wollen es vielmehr deshalb tun, weil wir nur dann die Kohlearbeitsplätze erhalten können,wenn wir ein Strom- und Energiepreisniveau bekommen, bei dem andere Bereiche der Wirtschaft in Deutschland die Erträge erwirtschaften, die uns auch die nötigen Subventionen ermöglichen.
Dies ist ein schlichter Zusammenhang. Bei der Kohlerunde war das eine ganz selbstverständliche Grundlage. Der Kollege Beckmann hat das doch herausgearbeitet.Aufgekündigt hat den Konsens doch der, der aus dieser Verbindung von Kohle und Kernenergie herausgegangen ist, nicht aber diejenigen, die diese Verbindung jetzt wieder schaffen wollen. Das ist doch eigentlich nachvollziehbar und zumindest nachdenkenswert.
Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie jemand dieses nicht sehen kann. Demjenigen, der dies aufkündigt, sei gesagt, daß er sich an den Arbeitsplätzen im Bergbau versündigt. Genau der ist es. Das wollen wir doch einmal festhalten.
Deswegen ist es uns auch so wichtig, daß wir beim Energiesparen weiterkommen. Deswegen bin ich so daran interessiert gewesen und bin es noch, daß wir in der Kohlefinanzierung zu einer festen Plafondgröße kommen, die unabhängig vom Nachweis einer Fördermenge — zumindest ab 1997 — ist. 1996 können wir das noch nicht machen, weil wir da die Finanzierung über den Kohlepfennig haben und uns dort die Anforderung des Bundesverfassungsgerichts an eine Abgabelösung die Gruppennützlichkeit vorschreibt. Ich möchte doch gerade erreichen, daß Bergbauunternehmen zu aktiven Unternehmen bei der Umstrukturierung ihrer Region werden können. Ich möchte, daß sie etwas machen können, was wir für den HighTech-Standort Deutschland brauchen, nämlich saubere Kohletechnologien zu entwickeln und zu fragen, was denn mit Kohle mehr gemacht werden kann, als sie nur zu verfeuern. Wie kann ich denn wirklich Kohlegewinnungstechnologien exportieren? Wie kann ich dazu kommen, Kohlekraftwerkstechnologien mit Wirkungsgraden zu entwickeln, die an 50 % und mehr herankommen?Das ist die Faszination für den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland, nicht aber nur die Frage, wieviele Tonnen Kohle wir aktuell fördern.
Das ist auch etwas, was wir der nachwachsenden Generation bei uns mitgeben können. Wir müssen ihr sagen können: Bergbau ist nicht gegen anderes zu verteidigen. Bergbau ist ein moderner WirtschaftsZweig mit High-Tech. Wie auch immer sich die weltweite Energiepolitik darstellen wird, die fossilen Energieträger und damit die Kohle werden einen Hauptanteil an der Energieversorgung behalten. Deswegen muß es unsere Aufgabe sein, die Verwendung von Kohle so effizient wie irgend möglich zu gestalten. Warum können wir uns eigentlich nicht darüber
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18454 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Bundesminister Dr. Klaus Töpfereinigen, daß es besser ist, einen Plafond mit freier Verfügbarkeit für die Bergbauunternehmen zur Umstrukturierung und Technologieentwicklung vorzugeben? Das bedeutet möglicherweise Degression in der Menge. Aber ich halte unsere Bergbauunternehmen und die darin Beschäftigten auf allen Ebenen für einsichtig und klug genug, zu sagen, das ist eine Chance.Ich sage dies im Blick auf die IG Bergbau und Energie mit großem Respekt — wir haben viele Gespräche geführt; ich will mich hier in keiner Weise in eine falsche Verpflichtung bringen lassen —, weil auch dort das gesehen wird, was bei vielen, die heute gësprochen haben, ein bißchen untergegangen ist, nämlich wie sich all das, was wir tun, auf die Beschäftigten in der Braunkohle auswirkt. Wer dann hierher kommt, Herr Kollege Jung, und sagt, da macht jemand Kernenergiepolitik und läßt den Steinkohlebergbau auslaufen, der kann doch nicht ernst genommen werden. Die Steinkohle — da sind wir uns doch einig — kann nie Grundlast sein, und die Kernenergie ist immer Grundlast.
— Aber Sie haben doch diesen Satz an das Ende Ihrer Rede gestellt. Da werden Sie doch wohl glauben dürfen, daß ich das aufgreife und mich dagegen verwahre, daß das unsere Politik sein würde. Das kann doch nicht richtig sein. Man muß den Bergleuten doch sagen, wenn man ihnen ehrlich gegenübertritt, daß die Kernenergie die Grundlast schafft und daß nicht die Kernenergie ihre Arbeitsplätze im Steinkohlebergbau gefährdet, sondern möglicherweise die Importkohle und nichts anderes. Das ist die Wahrheit.
Dafür brauchen wir, meine Damen und Herren, in hohem Maße eine — auch und gerade durch Sicherheit bestimmte — Kernenergie.Wir alle sind uns einig: Der nächste Reaktor in Deutschland wird nicht mehr in diesem Jahrzehnt gebaut und auch nicht mehr beantragt, weil es die Nachfrage gar nicht notwendig macht. Das wissen Sie doch. Es ist doch völlig klar. Wir haben jetzt genug zu tun, im Bereich der Braunkohle Grundlastnachfrage zu bewirken, damit das bewältigt wird, was jetzt verabschiedet worden ist. Keiner ist also dieser Meinung. Die Überlegung, die auch Kollege Schröder gehabt hat, war aber: Ich will nicht jetzt schon entscheiden, so daß meine Kinder später nicht mehr sagen können, wir brauchen wieder Kernenergie. Wir wollen die Option erhalten, daß man im Jahr 2005 oder 2008 wirklich sagen kann, es kann wieder ein Kernkraftwerk gebaut werden. Diese Option müssen wir offenhalten. Wir waren doch ganz nahe daran, das zu tun. Warum fallen Sie denn mit dem, was Sie vortragen, in die alten Grabenkämpfe zurück?
Das ist eigentlich nur noch unter Wahlkampfgesichtspunkten zu sehen, denn ernst nehmen kann das wirklich niemand mehr.Deswegen sei dem Kollegen Fischer auf seine Frage, was die Bundesregierung macht, nur gesagt: Die wichtigste Maßnahme zur Durchsetzung von Wind- und Sonnenenergie ist nach wie vor das Stromeinspeisungsgesetz, Herr Kollege. In der Windenergie geht es sogar so weit, daß jetzt viele, auch Sozialdemokraten, aus den norddeutschen Bundesländern kommen und sagen: Wir brauchen aber einen Windenergiepfennig, denn wir können die Zusatzkosten bei der Windenergie nicht mehr regional bei uns tragen; das muß insgesamt national bewältigt werden. Wäre in Deutschland wenig Windenergie entstanden, könnte beim besten Willen niemand auf so eine Idee kommen. Wir sind — zusammen mit Dänemark — weltweit an der Spitze bei denen, die Windenergie nutzen, wir sind — zusammen mit Israel — weltweit an der Spitze derer, die Sonnenenergie nutzen. Dies ist marktwirtschaftliche Energie- und Umweltpolitik, über Preise und deswegen richtig gemacht.Dies ist also ein vernünftiges Angebot. Ich appelliere gerade an diejenigen, die in einer wahlkampfgeprägten Zeit hoffentlich ruhig argumentieren, daß wir uns hier nicht wieder auseinanderdividieren lassen, denn wir werden spätestens nach der Wahl wieder zusammenkommen und genau dies tun. Der Politikverdrossenheit wäre Vorschub geleistet, wenn jeder weiß, wir machen jetzt wieder die Hahnenkämpfe, die hinterher keiner mehr vernünftig weiterführen kann.
Jetzt komme ich zum dritten Teil der Ausführungen des Kollegen Fischer, zu Biblis. Ich komme nur mit ganz wenigen Sätzen dazu, weil ich — im Gegensatz zu Ihnen — meine Redezeit in etwa einhalten werde. Ich komme auch deswegen nur knapp dazu, weil ich, Herr Kollege Fischer, so viel Respekt vor einem im Grundgesetz vorgeschriebenen Verfahren habe, daß ich aus einem laufenden bundesaufsichtlichen Verfahren an dieser Stelle nicht vorweg argumentiere.Unsere Mitarbeiter haben heute ein bundesaufsichtliches Gespräch geführt.
— Ja, über fünf Stunden, damit Sie sehen, daß wir die Dinge ernst nehmen. — Ich bin mit diesen Mitarbeitern in das bundesaufsichtliche Gespräch mit der Vorstellung hineingegangen: Ergebnis offen. Sie offenbar nicht.
Deswegen nehme ich keine Ergebnisse vorweg; ich sage nur so viel wie nötig. Es ist ja faszinierend: Manchmal hat es einen Vorteil, wenn ein Minister wirklich einmal über lange Zeit im Amt ist. Das haben wir alles selbst mitgemacht: 1989, 1990 und 1991 habe ich das ja mitgemacht.
— Ich weiß, die Halbwertzeit von Umweltministern istim allgemeinen geringer. Darin haben Sie alle viel
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferErfahrung. Bei uns ist das ein bißchen stabiler. Das ist ganz ordentlich.Aber ich komme auf das Thema zurück. Wir haben 1990 in der Tat gesagt: Ja, wir wollen diese Auflagen haben, und zwar können wir sie in einem Zeitraum von drei Jahren hineinbringen, weil es keine Tatbestände der Gefahrenabwehr sind — dem Fachmann sei es gesagt —, die ein Einschreiten nach § 19 des Atomgesetzes erforderlich machen, sondern weil es Tatbestände der Risikovorsorge sind.Daß der Kollege Fischer das genauso wertet, kann ich nur festhalten. Denn er hat bis zur letzten Revision dieses Kernkraftwerk ohne weiteres laufen lassen. Wäre das ein Gefahrentatbestand gewesen, so wäre er genau wie ich sofort zu der Entscheidung gekommen: Wir legen dieses Kraftwerk still. Das hat er nicht getan. Er ist also mit mir offenbar der Meinung: Einen Gefahrentatbestand gab es nicht.Daß er dieser Meinung ist, hat er sogar in dem Schriftsatz vom 10. Januar 1994 an das zuständige Gericht mitgeteilt. Denn es wird dort klargestellt, daß die Wiederinbetriebnahme der Anlage Biblis auch nicht durch eine Anordnung verhindert werden wird, die sich lediglich auf die formale Nichterfüllung der hier angefochtenen nachträglichen Aufgaben stützt. — Das steht da. — Das, was er da mitteilt, mache ich jetzt. Dasselbe tue ich.Zur formalen Nichterfüllung, meine Damen und Herren, will ich festhalten: Als geschickter Redner, der er ist, hat er, die Argumente vorwegnehmend, natürlich gesagt: Der Töpfer wird wahrscheinlich mit dem Argument meiner nicht fristgerechten Bearbeitung kommen. — Es wird, Herr Kollege Fischer — das habe ich einmal gelernt —, immer dann schwierig, wenn jemand seine Leistungsfähigkeit an den Input-Größen und nicht an den Output-Größen mißt. Sie haben völlig recht. Sie haben den Beamtenapparat vergrößert, aber den Output dieses Beamtenapparates dadurch nicht verbessert.
Darum ging es uns eigentlich.Die Anträge zu dem in besonderer Weise auch hier angesprochenen Notstandssystem sind 1989 vorgelegt worden. Sie sind vom TÜV 1990 abschließend beschieden worden, und sie sind dann weiter überprüft worden. Meine Damen und Herren, da muß ich mich doch einmal fragen: Wie ist das denn insgesamt miteinander verbindbar? Deswegen sind wir in einem bundesaufsichtlichen Gespräch. Deswegen habe ich das Verfahren an mich gezogen. Genauso geht es beim Brandschutz weiter. Ich wäre, Herr Kollege Fischer, da also vorsichtiger.Nicht nur ich, sondern genauso auch Sie haben in den letzten drei Jahren ein Kernkraftwerk laufen lassen, von dem Sie heute sagen: Es gibt schon seit damals Risiken, die das Abstellen erforderlich gemacht hätten. — Entweder sind wir uns einig, daß diese Risiken nicht zu der Abschaltung hätten führen müssen, oder Sie müssen neue Überlegungen haben. Diese haben Sie sich in der Tat durch ein ÖkoinstitutsGutachten geben lassen, und Sie haben die 1990 beschiedenen Größen zu einer Beanstandung aufgewertet, die zur Anwendung des § 19 Atomgesetz führt.Dies sind ganz schlicht die Dinge, die ich hier nur mit wenigen Sätzen anführen wollte, nicht indem ich sage: Wie werde ich denn entscheiden? Wir werden das sehr genau durchdenken, auch was von Ihren Mitarbeitern heute vorgetragen worden ist. Ich erwarte, daß auch Sie und Ihre Mitarbeiter in der gleichen Offenheit die Argumente aufgreifen, wie wir es getan haben. Wenn das gelingt, gäbe es sogar die Möglichkeit, daß auch der Kollege Fischer wieder zu einer vernünftigen Verhaltensweise käme.Er hat vorhin gesagt, wir würden Gewinn gegen Sicherheit einkaufen. Dies ist eine so ungeheuerliche Feststellung, daß ich sie wirklich mit allem Nachdruck zurückweisen muß, auch mit Blick auf die Mitarbeiter, die bei mir diese schwere Arbeit leisten. Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung, und ich weise sie mit größtem Nachdruck und mit Schärfe zurück.
Dann kann ich genauso sagen: Der Kollege Fischer hat Sachkunde durch Ideologie ersetzt. Diese Aussage stimmt ungleich besser.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Verehrter Herr Bundesminister, Sie haben genausoviel überzogen wie der Kollege Fischer.
Der Unterschied besteht lediglich darin, daß Sie einer Fraktion angehören, die noch Redezeit hat und der das abgezogen werden kann.
— Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, wir sind jetzt ohnehin in einer etwas komplizierten Situation; denn unser alter Kollege Fischer hat noch einmal ums Wort gebeten,
das ihm als Mitglied des Bundesrates selbstverständlich nicht verweigert werden kann. Die beiden Herren
— wenn Sie den Ausdruck erlauben — seiner Gruppe feixen bereits; denn sie genießen es natürlich, daß auf diese Weise die GRÜNEN zu einer überproportionalen Redezeit in diesem Hause kommen. Aber ich habe selbstverständlich nach dem Grundgesetz zu verfahren.
Herr Staatsminister Fischer, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wirklich nur ganz kurz zur direkten Entgegnung, weil das hier richtiggestellt werden muß: Herr Kollege Töpfer, Sie wissen so gut wie ich, daß folgende Erwägung in dem Bescheid des Kollegen Weimar damals enthalten war: Es wurde im Hinblick auf die Dreijahresfrist davon
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Staatsminister Joseph Fischer
abgesehen, Sofortmaßnahmen nach § 19 Abs. 3 des Atomgesetzes zu ergreifen. Ich kann es Ihnen hier wortwörtlich zitieren, aber es würde jetzt zu lange dauern. Das steht hier auf Seite 15. Das Zitat, das ich Ihnen vorhin vorgelesen habe, schließt sehr schnell daran an.Wir haben es hier nach unserer Einschätzung — deswegen hier der Vorwurf —
doch nicht damit zu tun. Sie würden mir doch zu Recht den Kopf waschen, wenn ich allein aus formellen Gründen des Nichterreichens der sicherheitserhöhenden Maßnahmen zu der festgesetzten Frist — ohne eine nochmalige sachliche, materielle Prüfung der zuständigen Aufsichtsbehörde — durch aufsichtliches Handeln vorgehen würde. Sie wissen doch besser als die meisten hier im Saale, daß ein solches Verfahren dringend geboten ist, damit es tatsächlich auf rechtssicheren Beinen stehen kann.Was ich Ihnen vorwerfe, ist: Wenn das bundesaufsichtliche Verfahren ergebnisoffen sein soll, wie Sie es gerade sagten — wir als zuständige Landesbehörde mußten uns eine entsprechende Auffassung bilden, die wir Ihnen rechtzeitig genug mitgeteilt haben —, dann bitte ich Sie darum, daß Sie verhindern — wir können das nicht; denn wir sind durch Ihre Weisung jetzt an die Kette gelegt —, daß der Reaktor bis zu einer endgültigen Entscheidung des Bundes, die er uns dann mitteilt, ans Netz geht. Das ist das mindeste, was zu erwarten ist, wenn Ihre These von der ergebnisoffenen Entscheidung stimmen soll.Herr Bundesumweltminister, RWE hat heute parallel zum bundesaufsichtlichen Gespräch eine Pressemitteilung verbreitet, daß RWE gedenkt, nach Ablauf der Revision am Wochenende, vermutlich in der Nacht von Sonntag auf Montag, wieder an das Netz zu gehen. Wir können dies, obwohl wir schwerste Sicherheitsbedenken haben und eine erhebliche Gefährdung sehen, nicht verhindern.Wenn Sie die Diskussion zwischen Bund und Land Hessen ergebnisoffen gestalten wollen, wie Sie das hier gesagt haben, dann verhindern Sie das Wieder-anfahren.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Berger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Es besteht die gemeinsame Absicht der Beteiligten, im Anschluß an den Jahrhundertvertrag 1996 durch vertragliche Vereinbarungen eine Verstromungsmenge von 35 Millionen Tonnen SKE bis zum Jahre 2005 zu sichern ... Die Bundesregierung wird unter Mitwirkung aller Beteiligten ein Finanzierungssystem entwickeln, das den Abschluß entsprechender Verträge möglich macht.Dies, meine Damen und Herren, waren zwei Zitate aus jenem Dokument, das die Ergebnisse der Kohlerunde vom 11. November 1991 festhält.Dieses Zitat erinnert nicht nur an das, was vor wenig mehr als zwei Jahren vereinbart worden ist. Diese Festlegung findet sich auch wörtlich, auf Punkt und Komma, im Energiekonzept „Energiepolitik für das vereinte Deutschland", das die Bundesregierung im Dezember 1991 beschlossen hat. Auf Punkt und Komma will ich daran erinnern, weil nämlich damals nicht ohne Grund Punkt und Komma vereinbart wurden.Ein Zeitraum von zwei Jahren ist aber offenbar für manche ein zu langer Zeitraum, um sich erinnern zu können, daß sie an diesen Vereinbarungen beteiligt waren. Ich darf deshalb ein weiteres Zitat vortragen, von einem Ereignis, das erst zehn Monate zurückliegt. Dabei wage ich zu hoffen, daß das Gedächtnis und der Wert politischer Zusagen wenigstens noch so weit reichen.
Die Bundesregierung steht ohne Abstriche zu den Vereinbarungen der Kohlerunde von 1991. Wir halten daran fest, langfristig 50 Millionen Tonnen Kohleabsatz an die Elektrizitätswirtschaft und die Stahlindustrie mit Beihilfen zu stützen ... Wir haben in der Kohlerunde 1991 das Mengengerüst dafür bis zum Jahre 2005 verabredet. Die Bundesregierung steht dazu.So, meine Damen und Herren, die Worte von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt am 29. April 1993 vor 100 000 Bergleuten in Bochum.Diese beiden Sätze, nämlich: „Wir haben in der Kohlerunde 1991 das Mengengerüst" — ich betone: das Mengengerüst — „dafür bis zum Jahre 2005 verabredet" und „Die Bundesregierung steht dazu", sind mit dem, was im Regierungsentwurf zur Verstromung heimischer Steinkohle geregelt werden soll, wohl kaum zu vereinbaren.Dieser Entwurf ist nicht die Umsetzung der vereinbarten Ergebnisse der Kohlerunde. Dieser Gesetzentwurf bedeutet die Abkehr vom Grundsatz der Versorgungssicherheit, er bleibt weit hinter den getroffenen Vereinbarungen zurück. Und ich sage hier ganz deutlich, damit es kein Mißverständnis gibt: Wir, Herr Professor Töpfer, in der IGBE werden dieses Gesetz selbst dann nicht als Einhaltung der Kohlerunde von 1991 akzeptieren, wenn wir gezwungen sind, alle Anstrengungen zu unternehmen, um damit zurechtzukommen. Wer noch mehr Abstriche machen will, muß wissen, daß er den Steinkohlenbergbau in einen Strukturbruch treiben würde.Unser Verständnis von verantwortungsvoller, langfristiger Energiepolitik, vom Wert politischer Zusagen und Vereinbarungen und von der Verläßlichkeit von Kompromissen werden wir nicht aufgeben, auch wenn wir der Meinung sind, daß dieses Gesetz wenigstens dazu taugen muß, noch Schlimmeres zu verhüten. Ich bin mir ganz sicher, daß diese leichtfertige Art des Umganges mit dem politischen Wort weit über die Steinkohlenreviere hinaus großen Schaden anrichtet
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Hans Bergerund einen sehr fragwürdigen Beitrag zu dem liefert, was mit Politikverdrossenheit vornehm umschrieben wird. Daß es schließlich in der CDU/CSU-Fraktion selbst über diese Minimalvariante noch einmal zum Streit gekommen ist, zeigt in aller Deutlichkeit die mangelnde Zuverlässigkeit der Koalition in Sachen Energiepolitik.
Wie soll man auf einer solch schwachen Grundlage ein festes Fundament für einen haltbaren, tragbaren Energiekonsens finden? Herr Beckmann hat dies „Kontinuität" genannt. Ich nenne dies energiepolitisches Geisterbahnfahren, Schreckgespenst um Schreckgespenst.
Der Bundeswirtschaftsminister macht keinen Hehl aus seinen Absichten. Er selbst spricht vom fundamentalen Kurswechsel in der Kohlepolitik. Solche energiepolitischen Abenteuer führen nicht zur Stabilität. Sie führen ins energiepolitische Aus. Das im Artikelgesetz enthaltene Junktim erschwert nicht nur die Lösung der Steinkohlenfinanzierung, sondern — ich prophezeie dies, Herr Faltlhauser — schadet auch auf anderen energiepolitischen Feldern.Der Feldzug der baden-württembergischen Landesgruppe der CDU gegen die nordrhein-westfälische mit der Forderung nach einer weiteren Rückführung der Verstromungsbeihilfen für den Steinkohlenbergbau ab 2001 war in den Zeitungen in allen Einzelheiten nachzulesen und zeigt die Stimmung auf, die in der Koalition zu herrschen scheint.Erst gestern hat der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion ein weiteres Beispiel für diese kohlefeindliche Politik geliefert. Rückführung der Beihilfen ist ihm nicht mehr genug. Jetzt propagiert er schon unverhohlen das Ende der deutschen Steinkohlepolitik, das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus.Ich frage mich dabei allerdings eines: Wo bleiben eigentlich die Gegenstimmen und die Proteste der nordrhein-westfälischen und saarländischen CDUKolleginnen und -Kollegen?
Muß man dieses auffällige Schweigen als Zustimmung werten, oder gelten die vielfachen Versprechungen und Zusagen, die diese CDU-Vertreter den Bergleuten und den Menschen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland in den letzten Wochen und Monaten gemacht haben?Der Herr Bundeskanzler hat in der vergangenen Woche in Hamburg folgendes ausgeführt — ich darf zitieren, weil ich es für wertvoll halte —:Wir sind kein rohstoffreiches Land. Von der Kohle abgesehen haben wir kaum Bodenschätze. Die, die jetzt bei der Kohle nur kurzfristig rechnen, will ich warnen, und ich will ihnen sagen, ich halte das für eine kurzsichtige Politik. Das ist ähnlich wie bei der Landwirtschaft. Es gibt Bereiche, die eben nicht nur nach marktwirtschaftlichen Kategorien zu betrachten sind. Wir brauchen morgen und übermorgen und in Jahrzehnten die Sicherungunserer Ernährungsbasis durch unsere Bauern. Wir brauchen eine Energiebasis. Wir werden auch die Kohle noch brauchen, auch noch im 21. Jahrhundert.
Und ich sage, weil ich in Hamburg bin, — so der Bundeskanzler weiter —man kann nicht ein Küstenland sein mit Meereszugang und sagen, aus der Werftindustrie steigen wir völlig aus. Es gibt diese drei großen, wichtigen Bereiche, bei denen Sie natürlich nicht den Ludwig-Erhard-Preis bekommen, das weiß ich. Aber Sie bekommen ein Stück Zukunft!
Jedem dieser Worte, meine Damen und Herren, stimme ich voll zu. Aber, Herr Bundeskanzler, sorgen Sie bitte auch dafür, daß in Ihrer Regierung und in der Koalition, die sie trägt, nach diesen Worten gehandelt wird!
Dafür gibt es in der Tat nicht den Ludwig-ErhardPreis. Aber was ist der Ludwig-Erhard-Preis im Verhältnis zum Schicksal von Zehntausenden von Menschen!
Meine Damen und Herren, zu den kritischen Anmerkungen aus den neuen Bundesländern, wie man verlangen könne, daß ostdeutsche Stromverbraucher den westdeutschen Steinkohlenbergbau subventionieren, will ich nur drei Bemerkungen machen.Erstens. Ich wäre froh, wenn das gleiche Engagement, das jetzt in die kritische Diskussion über die Verstromung heimischer Steinkohle investiert wird, darauf verwendet würde, zusätzlichen Absatz und damit zusätzliche Arbeitsplätze für meine Kolleginnen und Kollegen in den Braunkohlenrevieren zu schaffen. Anscheinend versperrt jedoch die Aussicht auf schnellen Gewinn durch den Einsatz von Erdgas die Sicht auf die Sorgen und Nöte der Menschen in den ostdeutschen Braunkohlenrevieren.Zweitens. Nicht die heimische Steinkohle, sondern die Importkohle, die heute als Sonderangebot auf den Markt geworfen wird, erschwert die Situation der ostdeutschen Braunkohle.Drittens. Wer einen Gegensatz zwischen heimischer Steinkohle und ostdeutscher Braunkohle konstruiert, konstruiert falsch und schafft damit den gefährlichen Nährboden für eine stark verkürzte und emotionalisierte Diskussion über die Frage, wer die Lasten der deutschen Wiedervereinigung zu tragen hat. Solidarität, meine Damen und Herren, kann und darf keine Einbahnstraße sein, erst recht nicht im zusammenwachsenden Deutschland.
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Hans BergerLassen Sie mich abschließend zu diesem Thema bemerken: Wenn das Konzept der Versorgungssicherheit als Grund für den Einsatz der heimischen Stein- und Braunkohle aufgegeben wird, muß zwangsläufig auch die ostdeutsche Braunkohle Verlierer sein. Es läßt sich energiewirtschaftlich kaum darstellen, daß. wir mit dem Strom aus ostdeutscher Braunkohle Nordrhein-Westfalen oder das Saarland oder auch Schleswig-Holstein versorgen. In der umgekehrten Richtung allerdings kann der Druck, der durch küsten- und flußnahe Importkohlekraftwerke entsteht, für die ostdeutsche Braunkohle wie auch für die westdeutsche Kohle das endgültige Aus bedeuten.
Ich frage mich wirklich, wie wir mit den großen Herausforderungen fertigwerden sollen, vor denen unser Land steht, wie wir in einem europäischen Binnenmarkt bestehen wollen, wie wir mit den wachsenden weltwirtschaftlichen Anforderungen fertigwerden wollen, wenn wir bei uns zu Hause anfangen, immer kleinräumiger — besser gesagt: kleinkarierter — zu denken.Wie weit wollen wir dieses Spiel noch treiben? Wann kommt die Forderung der nordrhein-westfälischen Landesgruppe der CDU, in Nordrhein-Westfalen nur noch Autos der Opel- oder Ford-Werke zu kaufen? Die Bayern verlangen dann den Kauf von Audi und BMW, die Niedersachsen den von VW und die Baden-Württemberger den von Mercedes und Porsche.Sollen wir, können wir diesen Weg wirklich fortsetzen? Wir wollen doch — dies ist hier oft gesagt worden — ein neues Europa bauen. Unser eigener politischer Weg aber verirrt sich in der Provinzialität. Soll sich Politik darin erschöpfen, für Lander, Regionen, Städte und Gemeinden nur noch den eigenen finanziellen Nutzen auf Mark und Pfennig durchzurechnen? Wo bleibt dabei die Verantwortung für das ganze Deutschland?
Wie kann auf einer solch schwankenden, ich möchte sogar sagen: sumpfigen, Basis der langfristige Energiekonsens entstehen, den unser Land doch so dringend braucht?
Das vorliegende Artikelgesetz bietet dafür jedenfalls keine Grundlage. Die Aufgabe des Mengengerüstes, die fehlende Konkretisierung der Finanzierung für den Zeitraum 1997 bis 2000, das Offenhalten für den Zeitraum 2001 bis 2005, der sogar mit der Drohung der weiteren Rückführung versehen ist — all das, meine Damen und Herren, trägt nur zur weiteren Unsicherheit bei: nicht nur im Bergbau, sondern auch in der Elektrizitätswirtschaft.
Statt der versprochenen langfristigen Perspektive,statt der zugesagten Stabilität ist dieser Gesetzentwurf vor allem von Kurzsichtigkeit und Unsicherheitgeprägt. Er ist geradezu eine Absage an die Stetigkeit und Langfristigkeit,
die für energiepolitische Entscheidungen unverzichtbar ist.Ich appelliere daher nachhaltig an die Bundesregierung und an die Fraktionen der Regierungskoalition, auch an Sie, Herr Faltlhauser: Zerstören Sie nicht endgültig das Vertrauen in politische Zusagen und die Handlungsfähigkeit unseres Staates! Entziehen Sie der Chance für einen Energiekonsens über die Kohle hinaus nicht endgültig den Boden! Öffnen Sie nicht Tür und Tor für populistische, auf Stimmenfang bedachte politische Rattenfänger von rechts und links!In einem alten Freiberger Bergmannsspruch heißt es: „Der Bergbau braucht Verstand und eine getreue Hand." Dies sollte unsere gemeinsame Devise für das Feld der Energiepolitik sein.
Ich denke, es würde der Sache am besten dienen, wenn die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf zurückziehen und statt dessen unseren Gesetzentwurf unterstützen würde.
Dann bekämen wir Sicherheit, Stabilität und auch Zukunftsperspektive für die Bergleute.Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Heinrich Seesing, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde auf die Rede unseres Kollegen Berger jetzt leider nicht eingehen können. Es sind aber viele Sachfragen angesprochen, die wir in den nächsten Monaten in den Ausschüssen zu beraten haben werden.
— Ich habe zuwenig Redezeit. Einige Gedanken möchte ich dennoch vortragen dürfen; Sie werden im Laufe meiner Rede mitbekommen, was ich dazu denke.Der erste Teil der Rede des Herrn stellvertretenden Ministerpräsidenten des Landes Hessen veranlaßt mich, doch noch einige Sätze zu der grundsätzlichen Problematik zu sagen. Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob er nur stellvertretender oder nicht doch leitender Ministerpräsident dieses Landes ist.
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Heinrich Seesing— Wir haben ihn in den Energiekonsensgesprächen erlebt. Deswegen darf ich diese Bemerkung wohl machen.
Unsere Wirtschaft braucht Energie, aber auch der einzelne Mensch in seinem privaten Bereich, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Es stellt sich nun die Frage, wieviel Energie dazu erforderlich ist.Eines ist dabei sicher, meine Damen und Herren: Wenn 90 % der Menschen auch ein solches Leben führen wollten, wie es sich die anderen 10 % leisten können, dann wird das unsere Erde nicht mehr tragen und ertragen können. Wir gehören zu diesen 10 % und könnten es uns leisten, unter den Energieträgern auszuwählen und nur den zu nehmen, der uns paßt. Die Frage wäre natürlich, wie die Mehrheit dafür zustande käme. Eine solche Haltung aber, wenn sie sich denn durchsetzen sollte, muß sich zum Nachteil der Menschen auswirken, die nicht in einem so gesegneten Land leben wie wir. Deswegen ist es notwendig, an dem bewährten Energiemix in Deutschland festzuhalten, die Techniken auszugestalten, neue Techniken zu entwickeln und Energie so sparsam wie nur eben möglich einzusetzen.Die Beratung des sogenannten Artikelgesetzes zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes wird noch deutlich machen, welch wichtigen Rang die Bundesregierung der Steinkohle einräumt. Nach der gemeinsamen Auffassung von Bundesregierung und Koalition hat Kohle aber nur eine Zukunft im bewährten Energiemix mit der Kernenergie. Und da liegt nicht unser, sondern Ihr Problem, meine Damen und Herren von der SPD.
Nicht wenige Leute hoffen, daß die deutsche Steinkohle in eine rosige Zukunft geht, wenn erst einmal die Kernkraftwerke abgeschaltet sind. Solche Äußerungen höre ich immer wieder. Ich muß zu Ehren der sachkundigen Bergleute sagen, daß sie diesen Irrglauben nicht nähren.
Aber vielleicht wäre es gut, wenn sich der SPDVorsitzende einmal umhörte, was übereifrige Genossinnen und Genossen überall so alles in die Welt setzen. Zwar hat auch er verkündet, daß es der Kohle bessergehen werde, wenn die SPD die Wahl gewinnen würde. Wenn überhaupt!Er behauptet aber auch, daß der Standort Deutschland verbessert würde, daß die Wirtschaft aufblühen würde. Wenn er das erreichen will, braucht die Wirtschaft Energie, und zwar zunächst und vor allen Dingen kostengünstige Energie. Woher will er die denn nehmen, wenn seine Partei aus der Kernenergie aussteigen will? Und welche Energie soll es denn sein, wenn der Ausstieg aus der Verbrennung von Steinkohle, besonders aber von Braunkohle forciert werden soll, wie es Umweltpolitiker der SPD ständig fordern?Ich behaupte, daß durch dieses Gesetz die deutsche Kohleplanungssicherheit erhalten wird, wenn es die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat erhält.
Die Zustimmung des Bundestages werden CDU/CSU und F.D.P. sicherstellen; aber was wird im Bundesrat geschehen? Auf jeden Fall hat Herr Scharping am 4. Februar 1994 im Bundesrat im ersten Durchgang gegen dieses Gesetz gestimmt, das gerade die Sicherung der Kohle zum Inhalt hat. Der Beschluß, der im Bundesrat als einziger eine Mehrheit fand, richtete sich deutlich gegen die westdeutsche Steinkohle.Warum hat denn die SPD den von allen Seiten geforderten Energiekonsens im November 1993 verhindert? Doch wohl nicht nur wegen der Option auf einen zukünftigen Kernreaktortyp. Man könnte den Gründen also doch wirklich noch einmal nachgehen.Wir wollen uns also lieber dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuwenden, um zu untersuchen, wie wir die Sachverhalte am besten zu einer Lösung bringen. Es gibt in unserer Fraktion — ich gebe das zu — noch erheblichen Beratungsbedarf. Aber bekanntlich führen viele Wege nach Rom. Einer wird der angenehmste für alle Beteiligten sein, und den gilt es noch zu finden.Begrüßt wird von uns, daß der Gesetzentwurf von der Festlegung eines Mengengerüsts für die Steinkohle im Gesetz selbst absieht und statt dessen Finanzplafonds zur Verfügung stellt. Vorweg hat der Bergbau aber bis 1997 schon beträchtliche Fördermengen stillzulegen. Das soll auch einmal deutlich gesagt werden. Die Mengendegression und damit auch der Abbau der Fördermittel aus dem Bundeshaushalt für die Kokskohle ist schon jetzt dramatisch. Gerade den Gewerkschaften ist es durch wahrhaft unkonventionelle Vereinbarungen mit den Unternehmern zu verdanken, daß der Umbruch in großer Solidarität vonstatten geht.Für den Bereich der Verstromung haben wir darüber hinaus bis zum Ende 1996 einen weiteren Abbau von Fördermengen von heute 42 Millionen auf 35 Millionen Tonnen jährlich vorzunehmen. Auf viele Nachfragen hin ist mir bestätigt worden, daß ein Betrag von 7 Milliarden DM ausreicht, die Bergwerksunternehmen in den Stand zu setzen, diese vereinbarte Menge, nämlich 35 Millionen Tonnen, auch zu Weltmarktpreisen anzubieten.Meine Damen und Herren, es ist auch mir jetzt fast gelungen, wieder nur über Steinkohle und Kernenergie zu reden. Deswegen will ich zum Schluß deutlich machen, daß zu unserem Energiekonzept auch die Braunkohle — gerade auch Braunkohle in der Lausitz und in Mitteldeutschland —, auch Erdöl und Erdgas, aber ganz besonders auch die erneuerbaren Energien gehören. In diesem Energiemix liegt unsere Zukunft.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Reinhard Weis.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ich meinen Eindruck von der Debatte zusammenfasse, dann muß ich zu der Schlußfolgerung kommen: Die Bundesregierung hat nach wie vor kein ökonomisch sinnvolles und ökologisch tragfähiges Energiekonzept für die kommenden Jahre und Jahrzehnte.Ein Bereich, in dem dies sehr deutlich wird, ist der Bereich der Entsorgung radioaktiver Abfälle. Sie wissen alle, daß die SPD auf dem letzten Parteitag in Wiesbaden erneut klar gesagt hat, daß sie den Ausstieg aus der Atomenergie will; wie bei den Konsensgesprächen angeboten, in einem abgestimmten Zeitrahmen und nicht als Schocklösung.Sie will dies, weil das Festhalten an der Atomenergie den Einstieg in moderne Energietechnologien und eine zeitgemäße Energiestruktur erschwert, wenn nicht verhindert, weil die atomare Option vorgaukelt, das Problem der Klimaerwärmung in den Griff zu bekommen, ohne das Problem tatsächlich anzugehen, und weil das Problem der Endlagerung atomaren Mülls mit jedem Betriebstag eines Atomkraftwerkes größer und schwieriger lösbar wird.
Der letzte Punkt bildet auch den Hintergrund unseres Antrages zum radioaktiven Endlager für schwach-und mittelradioaktive Abfälle in Morsleben,
der heute auch mitbehandelt wird.Ich möchte heute nicht die nach wie vor bestehenden massiven Rechts- und Sicherheitsbedenken gegen den Weiterbetrieb des Endlagers wiederholen. Dazu verweise ich auf das Stenographische Protokoll meiner Ausführungen vom 2. Dezember 1993. Nur eine Zusammenfassung zur Erinnerung: Die Laugenzuflüsse und die zu geringe Mächtigkeit des Deckgebirges sollten ebenso wie die fehlende Übereinstimmung mit den Anforderungen an die Einlagerung radioaktiver Abfälle, wie sie für die Bundesrepublik bisher grundsätzlich gelten, eine weitere Einlagerung im Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben selbstredend verbieten.Ebenso problematisch wie diese standortbedingten Probleme des Endlagers Morsleben sind jedoch die Auswirkungen der von der Bundesregierung angeordneten fortgesetzten Nutzung des Endlagers zu beurteilen. Nach dem 30. Juni 2000 wird die vorläufige Betriebsgenehmigung für Morsleben auslaufen. Sie muß dann, soll weiter eingelagert werden, über ein ordentliches Genehmigungsverfahren erneuert werden. Entsprechend der gültigen Sicherheitsphilosophie für die Einlagerung radioaktiver Abfälle, den heute geltenden Kriterien für Endlager, ist danach nicht mit einer weiteren Betriebsgenehmigung zu rechnen.Das muß wohl auch die Bundesregierung trotz ihrer bisher anderslautenden Äußerungen befürchten. Sie hätte sonst seit dem 3. Oktober 1990 längst ein Genehmigungsverfahren einleiten und davon dieWiederaufnahme der Einlagerung abhängig machen können. Wichtige Zeit zur Klärung eines Streites über die Eignung ist vertan und unverantwortlich in die Zukunft verschoben worden.Während derzeit trotz der bedenklichen Lage kein akuter Einlagerungsnotstand besteht und die Bundesregierung durchaus noch eine gewisse Zeit hätte, Alternativen zur Endlagerung in alten bergmännisch genutzten Salzstöcken zu prüfen, verfolgt sie durch ihre in Morsleben begonnene Einlagerung eine fahrlässige Politik der Schaffung von ungewollten Tatsachen. Dabei gäbe es nach unserer Meinung durchaus die Chance, durch eine konsequente Ausstiegsstrategie wenigstens langfristig das Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle in den Griff zu bekommen.Statt dessen setzt die Bundesregierung immer noch ungebremst auf die atomare Karte.
Minister Töpfer und Herr Minister Rexrodt haben uns das heute in der Debatte auch sehr deutlich gemacht. Angesichts dieser Entwicklung erweist sich jede Überlegung über eine neue, angeblich sicherere Reaktorgeneration als Schimäre, solange die Risiken der Endlagerung weiter vergrößert werden.Wir Sozialdemokraten sind bereit, über direkte Endlagerung radioaktiven Mülls als Entsorgungspfad zu reden, und wir sind auch bereit, mit der Bundesregierung bei der gemeinsamen Suche nach einer langfristigen Lösung des Entsorgungsproblems zusammenzuarbeiten. In diesem Sinne ist auch unser heute zur Debatte stehender Antrag zu verstehen. Wir sind überzeugt, daß das Endlager Morsleben keine geeignete Lagerstätte für radioaktive Abfälle darstellt, aber wir waren von Anfang an bereit, diese Annahme durch ein ordentliches Genehmigungsverfahren bestätigen oder widerlegen zu lassen. Dieses Angebot hat die Bundesregierung hartnäckig abgewiesen. Insofern enthält unser Antrag eine Wiederholung des klaren Angebotes an die Bundesregierung.Gemeinsame Anstrengungen bei der sehr schwierigen Suche nach einer Lösung für die Endlagerproblematik müssen wir Sozialdemokraten allerdings an bestimmte Voraussetzungen knüpfen. Dazu gehören der sofortige Stopp der weiteren Einlagerungen in Morsleben, die umgehende Eröffnung eines neuen Genehmigungsverfahrens nach geltendem bundesdeutschen Recht, eine grundsätzliche Neuorientierung der Forschungsaufgaben zur Verbesserung der Erforschung regenerativer Energiequellen und deren Markteinführung — noch immer wird ein Mehrfaches in der Kern- und Fusionsforschung ausgegeben—, die Bereitschaft der Bundesregierung, Konzepte einer kernenergiefreien Energienutzung in einem ersten Schritt wenigstens in die eigenen Überlegungen einzubeziehen und damit auch das Ziel einer Energie-sparpolitik als Voraussetzung anzunehmen.Übrigens, der Begriff „Energiesparpolitik" ist in dem Beitrag von Herrn Minister Rexrodt hier nicht ein einziges Mal erwähnt worden.
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Reinhard Weis
Auch für die atomare Endlagerung brauchen wir langfristig eine Lösung, die auf einem breiten Konsens fußt, unabhängig davon, wie wir in der Zukunft mit der Kernenergie — auf Grund unterschiedlicher Standpunkte heute — umgehen. Wir erwarten eigentlich, daß die Bundesregierung am Beispiel des Endlagers Morsleben erste Schritte für einen solchen Konsens geht.Danke.
Herr Kollege Johannes Nitsch, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich auf einen Aspekt zurückkommen, der für die Menschen in den ostdeutschen Ländern einen besonderen Schwerpunkt darstellt, und zwar der Strompreis. Worum geht es? Der Jahrhundertvertrag, der den Einsatz heimischer Steinkohle für die Stromerzeugung in angemessener Größenordnung sichert, läuft 1995 aus und ist gemäß Einigungsvertrag nicht auf die neuen Bundesländer übertragen worden.Die Fortsetzung für die Jahre 1996 bis 2005 wird zumindest für das Jahr 1996 eine Ausgleichsabgabe nach dem bisherigen Verfahren, also den sogenannten Kohlepfennig, auch für die neuen Bundesländer vorsehen. In dieser gesamtdeutschen gesetzlichen Regelung sind — das ist meine Meinung, das ist die Meinung der ostdeutschen Abgeordneten — die spezifischen Energieprobleme und die Energiepreisproblerne der neuen Bundesländer zu beachten.Ostdeutsche und westdeutsche Zahlenübersichten zeigen, daß die durchschnittlichen Ist-Strompreise der neuen Länder im Jahre 1992 — für 1993 liegen sie noch nicht vollständig vor — sowohl bei den Tarifabnehmern als auch bei den Sonderabnehmern, also der Industrie, über denen der alten Länder liegen. Die durchschnittlichen Preisdifferenzen betragen für die Industrie ca. 15 %, für die Tarifabnehmer ca. 3 %, im Durchschnitt 12 %.Nun ist das mit Durchschnittszahlen immer so eine Geschichte, wenn man die Randbedingungen dazu nicht genau angeben kann. Ich sage auch, daß diese erhöhten Strompreise etwas damit zu tun haben, daß wir die Umstrukturierung der Energiewirtschaft aus der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft vornehmen.Wie es auch sei: Die schlagartige Einführung eines Kohlepfennigs würde zwangsläufig zur Verschärfung dieser Energiepreisdifferenz zwischen Ost und West führen. Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits am 30. November 1993 beschlossen, daß es zu keinem sprunghaften Anstieg der Strompreise in den neuen Bundesländern kommen darf.
— Sehr gute Fraktion; sie hat das Problem erkannt.Welche Regelungsmöglichkeiten ergeben sich jetzt aus dieser Festlegung über die länderspezifischen Variationen hinaus? Ich darf Ihnen unsere Vorschläge dazu vortragen. Ich muß vorausschicken, daß die ostdeutschen Stromversorger bereits weitere Strompreiserhöhungen — über die von mir schon genannten Erhöhungen hinaus — angekündigt haben, da insgesamt ein Investitionsstau von ungefährt 45 Milliarden DM ansteht. Diese Erhöhungen haben natürlich Auswirkungen auf das Strompreisniveau und damit auch die Standortbedingungen in den neuen Bundesländern. Herr Beckmann hat gesagt: Energiepolitik ist Standortpolitik. Diesen Begriff möchte ich hier noch einmal aufgreifen.
Um dem entgegenzuwirken, sollte — das wäre die beste Möglichkeit — eine wie auch immer ausgestaltete Freistellung vom Kohlepfennig erfolgen. Die Bundesregierung hat ja bereits in ihrer Gegenäußerung eine 10prozentige Mehrbelastung eingeräumt. Auf Grund der Zahlen, die mir vorliegen, werden sogar Mehrbelastungen von bis zu 28 % prognostiziert. Diese Zahlen basieren allerdings auf den heutigen Preisen. Wenn ich die Ankündigungen für 1996 zugrunde lege, ergeben sich wirtschaftlich nicht mehr zu verantwortende Standortnachteile.
Wenn dieser beste Weg — aus welchen Gründen auch immer — nicht gegangen werden kann, dann wäre es vielleicht auch möglich, eine Einführung des Kohlepfennigs in Höhe von 1 % vorzusehen. Auch in den alten Bundesländern haben wir, als wir von 7,5 % auf 8,5 % erhöht haben, diesen Schritt getan. Die in der Gegenäußerung der Bundesregierung vorgesehenen 6,4 % stellen dagegen eine nicht zu verkraftende Belastung dar.Grundsätzlich sollte Übereinstimmung darin bestehen, daß der Kohlepfennig in den neuen Bundesländern nicht dazu führen darf, daß der Strompreis der alten Länder überschritten wird. Dazu ist es erforderlich, daß die Bundesregierung Zahlen vorlegt, die einen ständigen Vergleich der Strompreisentwicklungen und auch eine Vorschau auf die beabsichtigten Strompreisänderungen der nächsten Jahre ermöglichen.Meine Zeit reicht nicht dazu aus, auch noch Ausführungen zur Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Braunkohle zu machen. Dies dürfte aber auch allgemein bekannt sein. Dies gilt auch für die Leistungen des Bundes, die für die Braunkohle-Altlastensaniemug erbracht werden. Eines will ich aber unbedingt sagen: Die Braunkohlekumpel aus der Lausitz und dem Leipziger Revier sollen wissen, daß die für den Braunkohleeinsatz notwendigen Kraftwerksblöcke errichtet werden. Die Stromerzeuger halten sich in vollem Umfange an ihre Neuplanungen hinsichtlich des Einsatzes der ostdeutschen Braunkohle. Heute geht es mir ja auch mehr um den Einsatz deutscher Steinkohle und seine Auswirkungen auf die Strompreise in den neuen Bundesländern.Ganz zum Schluß darf ich hoffen, daß Sie das, was ich zum Strompreisniveau und zu seinen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Bundesländer gesagt habe, ebenso sehen und deshalb
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Johannes Nitschdie gesetzlichen Regelungen entsprechend dem Beschluß meiner Fraktion und entsprechend meinen Ausführungen treffen werden. Denn der schwierige Prozeß der inneren Einheit darf nicht zusätzlich durch eine ideologische Ost-West-Energiedebatte belastet werden.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus Harries das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verantwortung für das bedauerliche Scheitern der Energiekonsensgespräche tragen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition.
Sie haben nicht die politische Kraft gefunden, sich von Ihrem Ausstiegsbeschluß zu verabschieden.
Dabei hat dieser Betonklotz, den Sie seit einigen Jahren vor sich herschieben — wodurch Sie wichtige Entscheidungen verhindern —, durchaus sichtbare Risse bekommen.
Ich erinnere an den Ministerpräsidenten Schröder, der immerhin die Option für die zweite Generation der Kernkraftwerke offenhalten will. Ich erinnere daran, daß Ihr Zehn-Jahres-Ausstiegsbeschluß ja offenbar keine Bedeutung mehr hat, denn die zehn Jahre sind in Kürze herum. Bis heute haben Sie aber nicht den Mut, sich nun endgültig für die Zukunft zu entscheiden. Denn darüber sind wir uns, glaube ich, einig — das ist deutlich geworden —: Ganz egal, wo man die Lösung sieht und wo man steht, man muß feststellen, die Lösung des Energieproblems ist nicht nur ein deutsches, sondern ein weltweites Problem. Wir brauchen Energie, um in 30 Jahren eine Bevölkerung von dann 10 Milliarden Menschen zu versorgen, wir brauchen sie, um der Klimakatastrophe durch CO2Emissionen zu begegnen.
Nun genügt es ja auf keinen Fall, das Scheitern der Konsensgespräche zu beklagen. Die Bundesregierung hat aber durch die Vorlage des Artikelgesetzes Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit gezeigt und hat vor allen Dingen, wie ich meine, den unbedingt erforderlichen Weg für neue Konsensgespräche — zugegebenermaßen erst nach der nächsten Wahl — offengehalten.
Nun ist es wichtig, zu erkennen, daß nicht alle notwendigen und wünschenswerten Punkte — das wurde ja von Ihnen hier teilweise bemängelt — in diesem Artikelgesetz geregelt sind. Das Wichtigste können wir im Grunde rechtlich nicht klären. Wir können nämlich rechtlich nicht erreichen, daß die SPD-regierten Länder, denen der Vollzug vom Bundesrecht her obliegt, durch Gesetz von uns verpflichtet werden, den Weg eines ausstiegsorientierten Gesetzesvollzuges zu verlassen. Das wäre der erste Schritt, um überhaupt im Interesse unserer Wirtschaft in der Sache weiterzukommen.
Nach diesem Gesetzentwurf werden wir — das ist im einzelnen vorgetragen worden — Kohleland bleiben.
Wir bekennen uns — das ist mein Thema — zur Nutzung der Kernenergie. Der verbindliche Konnex, die rechtliche Absicherung von Kohle plus Kernenergie kann nicht im Gesetz festgezimmert werden. Es ist aber eine politische Aussage, zu der wir stehen und die auch Sicherheit für die Betreiber bringen wird.
Das ändert nichts daran, daß wir die Konsensgespräche wieder brauchen. Das ist einfach eine unbedingte Verpflichtung und Notwendigkeit für den auch heute ausführlich diskutierten Wirtschaftsstandort Deutschland. Denn wir können es uns nicht leisten, die Betreiber und die Wirtschaft ohne Rahmendaten und ohne Planungssicherheit zu lassen.
Wir brauchen hier endlich eine Perspektive, um zu verhindern, daß im Ausland z. B. die nächsten Kraftwerke gebaut werden und nicht bei uns.
Wir brauchen eine verläßliche Energieperspektive aus Umweltgründen, und dazu gehört die Kernenergie. In der Debatte ist schon vom Kollegen Beckmann vorgetragen worden, daß allein 160 Millionen Tonnen CO2 durch unsere 20 Kernkraftwerke eingespart und nicht emittiert werden. Wir brauchen im Interesse unseres Landes und der Sicherheit der Energieversorgung einen Energiemix. In diesem Artikelgesetz werden zwei Standbeine genannt. Wir können uns nicht allein auf Kohle, wir können uns auch keineswegs allein auf Kernenergie oder — wie es manchem wohl vorschwebt — auf Erdgas stützen. Wir brauchen den bewährten Energiemix wie in der Vergangenheit.
Nächster Punkt, meine Damen und Herren: Wir müssen endlich damit aufhören, Kapitalvernichtung und Technologievernichtung zu betreiben. Ich erinnere an Wackersdorf, an Kalkar, an Hamm-Uentrop. Das sind Dinge, die wir uns nicht leisten können. Wir können es uns ebenfalls nicht leisten, auf 5 000 hochqualifizierte Facharbeiter, Ingenieure und Atomphysiker zu verzichten,
deren Know-how ansonsten verlorengehen müßte. Es ist viel zu schade, um sie auf andere Arbeitsplätze umzusetzen. Denn — auch darüber haben wir wiederholt diskutiert — allein die weltweite Nutzung der Kernenergie und die Probleme in den GUS-Ländern zwingen uns dazu, unser besseres Know-how, unseren besseren Sicherheitsstand einzubringen. Das können wir nicht mehr, wenn wir aussteigen.
Meine Damen und Herren, zwei Punkte enthält das Artikelgesetz noch: einmal die direkte Endlagerung. Wir gewinnen zugegebenermaßen Zeit.
Die Zeit haben Sie leider nicht mehr.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18463
Ich höre auf, Herr Präsident. Gestatten Sie bitte zwei Schlußsätze.
Bitte.
Die Entsorgung braucht trotz der Verlängerung der Frist eine Lösung. Die kann nicht darin bestehen, daß Sie nach Vorschrift arbeiten. Sie wissen, was das bedeutet. Ich sage das einem guten Gewerkschaftsführer. Man muß hier vielmehr das Gesetz so anwenden, wie es sich gehört, wie es das Bundesrecht zum Ausdruck bringt. Wir brauchen die Entsorgungsregelung und die Entsorgungssicherheit. Und das ist möglich. Es ist nicht so, daß wir nicht entsorgen können, wenn wir nur wollten, wenn Sie nur mitmachen würden.
Aber ich sage zum Schluß: Alles ist wichtig, aber wir brauchen den Konsens. Fangen wir in einigen Monaten an!
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6908, 12/6382 und 12/6422 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu einem Vorschlag der EU zu einem Finanzbeitrag zur Verbesserung des Wirkungsgrads und der Sicherheit von Kernkraftanlagen in Drittländern. Das liegt Ihnen auf der Drucksache 12/6641 vor. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS/ Linke Liste angenommen.
Meine Damen und Herren, wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 5:
Vereinbarte Debatte zur Lage im Sudan
Dazu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD vor.
Der Ältestenrat empfiehlt eine Debattenzeit von einer Stunde. — Widerspruch erhebt sich nicht. So ist dies beschlossen.
Die Debatte kann eröffnet werden. Ich erteile dem Abgeordneten Friedrich Vogel das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicher gut, daß sich der Deutsche Bundestag mit dem Sudan und den Problemen des Sudans befaßt, obwohl ja mancher der Auffassung ist, der Sudan ist weit weg, was gehen uns die Probleme im Sudan an. Ich möchte dem entgegenhalten: Wir können uns auch aus den Problemen im Sudan nicht heraushalten.
Dafür liegt uns diese Region viel zu nahe.Ich finde es auch gut, daß wir eine Debatte in Anwesenheit des sudanesischen Botschafters führen können, der auf der Diplomatentribüne dieser Debatte sicher sehr aufmerksam folgen wird.
Meine Damen und Herren, Europa umgeben eine ganze Reihe tickender Zeitbomben. Eine dieser tik-kenden Zeitbomben — das sollten wir uns vergegenwärtigen — ist die demographische Entwicklung in Afrika. Niemand darf übersehen, wie die Bevölkerung in Afrika explosionsartig wächst. Noch 1950 war die Bevölkerung Afrikas halb so groß wie die Europas. 1985 hatte Afrika bevölkerungsmäßig Europa bereits eingeholt. Heute haben wir in Afrika rund 650 Millionen Bewohner. Und wenn wir Paul Kennedys „In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert" glauben können, werden im Jahre 2025 fast 1,6 Milliarden Menschen in Afrika leben.Jeder kann sich vorstellen, welch ungeheurer Migrationsdruck von Afrika ausgehen wird. Die Richtung wird zwangsläufig weitgehend der Norden sein. Und davon wird Europa betroffen sein.Nun ist natürlich die Frage: Wie reagieren wir auf diese Probleme? Ich bin froh — das darf ich sagen —, daß inzwischen vereinbart werden konnte, die beiden vorliegenden Resolutionsentwürfe an den Auswärtigen Ausschuß als federführenden Ausschuß und an den AWZ zur Mitberatung zu überweisen,
)
— weil wir uns sehr wohl überlegen müssen, was wir dort um können: bitte keinen Aktionismus, aber sehr sorgfältig.
Ich will zwei Probleme kurz ansprechen. An der Spitze der Probleme des Sudan steht der Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg ist — ich pflege das manchmal etwas vereinfacht zu sagen — die Ursache aller Probleme im Sudan. Die Hauptaufgabe, vor der wir im Sudan und die Welt um den Sudan stehen, ist, mitzuhelfen, daß dieser Bürgerkrieg ein Ende findet.Wir müssen sehen, daß die Ursachen dieses Bürgerkriegs sehr tief in der historischen Entwicklung des Sudan verwurzelt sind, sehr tief verwurzelt. Das lebt im Bewußtsein der Menschen im Sudan weiter. Es geht über die Zeit des Kolonialismus hinaus zurück.Wer daran denkt, mitzuhelfen, diese Probleme zu lösen, muß allerdings auch wissen, daß die Sudanesen selbst die Probleme im Sudan lösen müssen. Wir können von außen Hilfe leisten. Es muß eine Lösung sein, die das Einverständnis aller im Sudan finden kann.
Hier liegt, glaube ich, eine unserer Aufgaben.Wer dabei helfen will, der darf nicht Partei sein in dem Konflikt, den es im Sudan gibt. Ich füge auch hinzu: Der Bundestag darf sich von außen von niemandem in diesem Konflikt instrumentalisieren lassen. Ich sage das so allgemein, weil ich hier auch vorsichtig sein möchte. Aber ich weiß genau, wovon ich spreche.
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18464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Friedrich Vogel
Das zweite Problem, dem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden müssen, heißt Islam. Meine Damen und Herren, es gibt — das ist überhaupt nicht zu übersehen — einen erheblichen Islamisierungsdruck im Sudan. Ich bitte allerdings, mit der Verwendung der Formulierung „Christenverfolgung" vorsichtig zu sein.
Hier müssen wir, glaube ich, aus den vielen Diskussionen, die darüber geführt werden, etwas zurücknehmen. Wer helfen will — das sage ich auch —, muß sehen, daß das im Zusammenhang mit einer Intensivierung des Dialogs zwischen der christlich geprägten Welt und der islamisch geprägten Welt geschehen muß.Es hat nun sicher eine Reihe von Bemühungen gegeben, aber leider müssen wir feststellen: Sie sind alle fehlgeschlagen. Ich habe manchmal den Eindruck, daß niemand bei den Bürgerkriegsparteien im Sudan im Augenblick wirklich ernsthaft gewillt ist, eine friedliche Lösung der Probleme im Sudan zu finden. Ich kann diesen Willen weder bei der Regierung noch bei der SPLA/SPLM feststellen.
Das macht die Dinge außerordentlich schwierig. Aber darauf muß unser Bemühen gerichtet sein.Hier habe ich eine Bitte an den Herrn Botschafter. Wenn Sie schon hier sitzen, sollen Sie auch etwas an Ihre Regierung mitnehmen: Ich bin darüber informiert worden, daß in der Debatte der Menschenrechtskommission in Genf der Vertreter des Sudan einmal den Sonderberichterstatter Biro wegen seines Berichts, den er erstattet hat, heftig angegriffen und geglaubt hat, er könne sich dabei auf mich als Kronzeugen berufen.
Ich muß sagen, daß ich diesen Vorgang als außerordentlich belastend empfinde.
Sie wissen, daß ich zu denen gehöre, die sich in Gesprächen mit der Regierung, in Gesprächen mit der Befreiungsbewegung sehr bemüht haben, Wege auskundschaften zu helfen, wie wir bei diesem Konflikt helfen können. Teilen Sie Ihrer Regierung mit: So kann sie mit Politikern von außerhalb, die sich um die Probleme des Sudans ernsthaft und unvoreingenommen bemühen, nicht umgehen.
Das ist meine herzliche Bitte an Sie.Ich weiß nicht, wie die sudanesische Regierung meinen Bericht über meine Reise im vergangenen Jahr in die Hand bekommen hat, aber nachdem nun von ihm Gebrauch gemacht wurde, steht er auch zur Verfügung. Nichts von dem, was der Vertreter des Sudan in der Menschenrechtskommission vortragen zu dürfen geglaubt hat, steht so in diesem Bericht. Das möchte ich sagen.Und bitte sagen Sie: Wenn wir dort helfen wollen und sollen, muß es möglich sein, Partner zu haben, die zuverlässig sind, die glaubwürdig sind, die seriös sind und die zeigen, daß sie bereit sind, eine friedliche Lösung des Konflikts im Sudan zu finden. Darum sollte es auf allen Seiten wirklich in erster Linie gehen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Jürgen Schmude das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir können es uns wirklich nicht aussuchen, ob wir uns mit der Lage im Sudan befassen. Wir sind durch dieses unbeschreibliche Elend schlicht gefordert. Am Ausmaß der Unterdrückung, Vertreibung, Folter und Tatung von Menschen, die der im ganzen inzwischen schon über 30 Jahre dauernde Bürgerkrieg und die übrige Entwicklung im Sudan mit sich gebracht haben, können wir angesichts drastischer und in trauriger Weise anschaulicher vielfältiger Berichte nicht vorbeisehen. Wir dürfen es auch nicht versuchen, weil nach den bisherigen Erfahrungen genügend Anhaltspunkte dafür bestehen, daß auch durch unsere Anstrengungen Hilfe und Linderung möglich sind.Wenn nach zuverlässigen Schätzungen in den sudanesischen Auseinandersetzungen inzwischen über 2 Millionen Menschen umgebracht wurden oder sonst umgekommen sind, wenn weit über 1 Million Menschen zu Flüchtlingen in erbärmlichen Lebensverhältnissen gemacht worden sind und wenn genau diese Unmenschlichkeiten auch j etzt, in diesen Wochen und Tagen, jetzt, da wir hier beraten, fortgesetzt werden, dann müssen ebenso bewährte Bemühungen verstärkt wie neue unternommen werden, um das katastrophale Elend zu beenden. Es hilflos zu ignorieren müßte zumindest durch Abstumpfung bedenkliche moralische Beschädigungen bei uns wie in der internationalen Öffentlichkeit bewirken; denn was heute im Sudan zugelassen wird, kann sich morgen woanders zutragen und übermorgen vielleicht sogar bei einigen von denen, die sich heute abwenden, weil ihnen Hilfsversuche nicht erfolgversprechend erscheinen.Daß die schreckliche Entwicklung mit der Zeit zu einem gewissen Abschluß kommen würde, hat man oft genug erhofft und erwartet — immer wieder vergeblich. Die Siegesmeldungen der sudanesischen Regierung aus ihrem Krieg gegen die gespaltene Rebellenbewegung waren und sind unzutreffend. In Gesprächs- und Verhandlungsversuchen haben die Verantwortlichen im Lande, Regierung und Rebellenführer, ihre Unfähigkeit und wohl auch — da gebe ich Ihnen recht, Herr Vogel — ihren Unwillen zur Lösung der Konflikte unter Beweis gestellt.Gleichzeitig sind die Menschen im Sudan, und zwar so gut wie alle Menschen, das Töten und Terrorisieren leid. Sie sehen sich weiter in tödlicher Gefahr und
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Dr. Jürgen Schmudebeklagen die Teilnahmslosigkeit der Welt gegenüber diesem — wie sie sagen — vergessenen Krieg.Da bietet es eine Chance zur Besinnung, wenn Besuche gemacht und Eindrücke aus dem Sudan hierher übermittelt werden, zuletzt vor wenigen Wochen durch eine Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland mit Bischof Engelhardt an der Spitze. Diese Delegation ist, wohin sie auch kam, eindringlich gebeten worden, Anteilnahme und Hilfe für die bedrängten und verängstigten Menschen in ihrer Todesgefahr zu mobilisieren.Ein Kirchenvertreter im Süden des Landes, in dem die sudanesische Regierung die Ausrottung und Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen betreibt, sagte den Besuchern wörtlich: Wir werden gejagt wie die Ratten. Wir haben nicht die geringste Möglichkeit, zurückzuschlagen. Niemand kommt uns zu Hilfe — vielleicht deshalb, weil wir schwarz sind, oder auch, weil wir Christen sind, oder wegen der ungerechten Formel von der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines ungerechten Staates und einer ungerechten Regierung oder weil die sogenannte freie Welt zu feige ist, den Starken entgegenzutreten und die Schwachen im Namen der Menschlichkeit und Demokratie zu schützen.
In dieser Äußerung, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, werden die verschiedenen Seiten des Unrechts sichtbar, das den zumeist schwarzen Menschen im Süden von der arabisch geprägten Bevölkerungsgruppe und der Regierung im Norden des Sudan angetan wird. Herr Vogel, so sehr ich Ihren Appell unterstütze, Einseitigkeiten zu vermeiden: Wir müssen auch die Verantwortlichen nennen. Wir müssen auch über das sprechen, was dort tatsächlich geschieht, etwa über die Verfolgung bis zum Tod aus religiösen Gründen im Zuge einer mit staatlichen Machtmitteln betriebenen Islamisierung. So ist das nun einmal. Aber auch Muslime gehören zu den Opfern, die verjagt und niedergebombt werden. Sie sind im Unterschied zu der im Regierungsbereich herrschenden Schicht Schwarze.Trifft denn die Klage über die ungerechte Formel von der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines ungerechten Staates unsere Haltung und die der mit uns verbündeten und befreundeten Staaten? Darüber sind wir doch längst hinaus, daß wir es Staaten um ihrer Souveränität willen gestatten, Menschenrechte und Menschen selbst mit Füßen zu treten und zu zerstören. Wer so handelt, darf sich Einwirkung von außen und auch Einmischung nicht verbitten.
Wer so handelt, muß dauerhaft belästigt, bedrängt und notfalls auch gezwungen werden,
umzukehren und wenigstens den Menschen ein würdiges Leben zu lassen, die bisher noch davongekommen sind, aber täglich mit dem Schlimmsten rechnen.Zu diesem Drängen, sehr geehrte Damen und Herren, und zu weiteren Schritten soll der vorliegende Entschließungsantrag, den die SPD-Bundestagsfraktion auch im Sinne der anderen Fraktionen formuliert und eingebracht hat, einen nachdrücklichen Anstoß geben. Dieser Antrag greift auf die Erfahrungen zurück, die mit sinnvollen Maßnahmen der Einwirkung im Sudan bisher gemacht worden sind, und fordert eben deshalb dazu auf, daß nach anderen auch die Europäische Union einen Sonderbotschafter für humanitäre Fragen und Friedensstiftung einsetzt. Mit allen diplomatischen und politischen Mitteln soll auf einen Waffenstillstand hingewirkt werden. Das sollte doch selbstverständlich sein. Er muß dann auch überwacht werden, nachdem es damit im Sudan manche Enttäuschung gegeben hat.Bleiben solche Bemühungen erfolglos, muß allen dort Verantwortlichen, auch den Rebellenbewegungen, klargemacht werden, daß die Vereinten Nationen, die den Bürgerkrieg und die Menschenrechtsverletzungen im Sudan ja mehrfach verurteilt haben, nicht auf die Zuschauerrolle beschränkt sind; deshalb das Verlangen von UNO-Maßnahmen bis hin zum Flugverbot und zur Einrichtung einer Schutzzone.Inzwischen läßt sich viel tun, um wenigstens dem Hungertod zu begegnen. Humanitäre Hilfe durch mehrere bewährte Organisationen gibt es im Südsudan bereits. Auch die Bundesregierung beteiligt sich. Diese Hilfe soll verstärkt, das Flüchtlingswerk der UNO soll zur Fürsorge für die sudanesischen Flüchtlinge finanziell besser ausgestattet werden. Die Friedensbemühungen der afrikanischen Nachbarstaaten sind zu unterstützen und gegebenenfalls in eine internationale Friedenskonferenz überzuleiten.Das alles zeigt die Vielgestaltigkeit der Möglichkeiten zur Hilfe und Einwirkung. Nur einiges kann Deutschland allein bewirken; die meisten Maßnahmen lassen sich sinnvoll nur mit anderen gemeinsam ergreifen. Aber dazu ist es wichtig, daß wir uns hier im Bundestag in den zugrunde liegenden Fragen einig sind.Ich meine, das müßte auf der Grundlage des vorliegenden Entschließungsantrags meiner Fraktion möglich sein, greift er doch die Überlegungen nicht nur der SPD, sondern, wie sich gezeigt hat, die aller Fraktionen und Gruppen des Bundestages auf. Dieser Antrag sollte nicht verwässert oder verkürzt werden, wie es der Entschließungsantrag der Koalition vorsieht.
Die im Februar von Abgeordneten aller Fraktionen gestellte Kleine Anfrage zeigt doch, daß in der Sache
— ich zitiere die Kleine Anfrage, die auch Sie eingebracht haben — breite Übereinstimmung längst besteht, deutlich breiter, als es sich im heutigen Koalitionsantrag niederschlägt.
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Dr. Jürgen SchmudeNun gilt es, die Haltung des Deutschen Bundestages so eindeutig wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Wenn denn die Ausschußberatungen dazu helfen können, daß aus diesen beiden Entschließungsanträgen ein gemeinsamer, aber bitte ein deutlicher Antrag wird, dann sollten wir auch den Zeitverzug dafür in Kauf nehmen.Danke schön.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Lieselott Blunck das Wort.
Herr Präsident! Es tut mir sehr leid, Sie korrigieren zu müssen, aber ich bin die Michaela Blunk von der F.D.P.
Es wird uns nicht schwerfallen, das zu korrigieren. Ich bin hier falsch informiert worden. Ich bitte um Nachsicht.
Herr Präsident! Es klingt zynisch, meine Damen und Herren, aber wer heutzutage eine Rede über einen afrikanischen Staat schreiben muß, der kann sich eines Textbausteines bedienen. Am 29. Oktober 1993 habe ich an dieser Stelle gesagt:
Heute lautet das Thema Burundi. Es hätte aber auch eines der anderen 18 afrikanischen Länder sein können, in denen es ähnlich aussieht wie in Somalia.
Es hätte genausogut Angola oder eben der Sudan sein können.
Der Bürgerkrieg im Sudan wird seit 1955 mit einer oberflächlichen Ruhepause zwischen 1972 und 1983 mit Waffengewalt geführt. Opfer sind etwa 1,3 Millionen Tote und 3 Millionen Flüchtlinge innerhalb und außerhalb eines weitgehend verwüsteten Landes. Das alles ist seit langem bekannt.
Ich gebe aber der SPD recht, wenn sie sagt, daß eine Diskussion dieses Themas im Deutschen Bundestag eine weitere, hoffentlich wirksamere Signalwirkung auf die Konfliktparteien hat.
Was ich jedoch nicht gutheißen kann, ist Ihr Versuch, den Eindruck zu vermitteln, als hätte die Bundesregierung noch nicht auf die Lage im Sudan reagiert. Auch Sie wurden über den politischen und diplomatischen Druck informiert, mit dem die Regierung allein und im Zusammenschluß mit anderen in der EU und den VN versucht hat, genau das zu tun, was Sie heute von ihr verlangen.
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmude zu beantworten?
Nein.
Ich nenne nur die Stichworte Sonderberichterstatter der VN-Menschenrechtskommission, die Arbeit der Hilfsorganisationen und die Beschränkung der Entwicklungszusammenarbeit auf die rein humanitäre Hilfe.Es ist aber bisher leider nicht gelungen, die Waffenlieferungen, die diesen ideologisch-religiösen Krieg am Leben erhalten, zu unterbinden. Auch die weitgehende außenpolitische Isolierung und massiver Druck haben nicht dazu geführt, daß insbesondere die sudanesische Regierung, aber auch die Rebellen ihr Vorgehen auch nur annäherungsweise den elementarsten Vorstellungen von Menschenrechten angepaßt hätten.Die Bundesregierung hat auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß geholfen werden muß und daß sie auch weiterhin angemessen helfen wird. Der Unterschied zwischen den beiden Anträgen liegt zum einen darin, daß Sie die Hauptlast der Friedensbemühungen der EU und den VN zuschreiben. Statt dessen überträgt die Koalition die Verantwortung den Afrikanern selbst. Wir vertrauen darauf, daß sie Wege finden werden, schrittweise Instrumentarien für regionale Friedensbemühungen aufzubauen. Wenn die Afrikaner dies wünschen, werden wir sie dabei unterstützen, um sie für ihre Friedensarbeit für den Sudan und den ganzen Kontinent zu befähigen und zu motivieren.
Trotz der zwiespältigen Erfahrungen in Somalia und Bosnien stellen Sie Forderungen, die die UNO und regionale Organisationen überfordern. Ich meine insbesondere — ich zitiere — „eine wirksame Sicherung der Überwachung des Waffenstillstandes", „geeignete Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung" ... „bis zur Verhängung einer Flugverbots- und Schutzzone" sowie „ein konsequentes Waffenembargo".Sie wissen auch, daß die aufgeführten Maßnahmen sehr schnell in AWACS-Überwachung und Kampfeinsätze einmünden können. Ein Waffenembargo erfordert einen zweiten Adria-Einsatz, um die etwa 600 km lange Küste zu kontrollieren. Wer soll das tun? Etwa die OAU? Die zu überwachende Landesgrenze ist etwa 6 000 km lang. Weder politisch noch technisch bestehen die Voraussetzungen und die Bereitschaft zu einem solchen Unternehmen.
Sie fordern zudem alles im wesentlichen wieder von anderen, denn Sie wissen sehr wohl, daß die Deutschen sich daran nicht beteiligen können. Sie verlangen wieder den aktiven Einsatz von außen, obwohl auch für den Sudan ein Konzept fehlt, wie das Land denn befriedet werden soll. Außerdem vergessen Sie, daß es einen entscheidenden Unterschied zwischen Somalia und dem Sudan gibt: Im Sudan gibt es eine verantwortlich zu machende Regierung. Auch Saddam Hussein wurde monatelang unter öffentlichen Druck gesetzt, bevor er in seine Schranken gewiesen wurde.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18467
Dr. Michaela Blunk
Der Entschließungsantrag der Koalition konzentriert sich auf das Notwendige und Machbare: Humanitäre Soforthilfe, Vorbereitung langfristiger Wiederaufbauhilfe, regionale Friedensverantwortung.
Darüber hinaus verweise ich noch einmal darauf, daß die Völkergemeinschaft Maßnahmen der Prävention zusammenstellen und ausprobieren muß. Dazu gehört in meinen Augen auch die Anwendung des vom Hohen Flüchtlingskommissar ins Gespräch gebrachten Frühwarnsystems mittels Satellit und Radar, damit militärische Aufmärsche rechtzeitig erkannt werden können und ihnen politisch begegnet werden kann.Diese umfangreichen Aufgaben kann ein Land allein nicht lösen. Zusammen mit der internationalen Staatengemeinschaft ist die Bundesrepublik bereit zu einem „kontinuierliche(n) und langfristige(n) Engagement ... zur Friedenssicherung und Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen" — auch im Sudan.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Ursula Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl der Vergleich in bezug auf Afrika nicht sehr zutreffend erscheinen mag, erinnert die Lage im Sudan doch an die bekannte Spitze des Eisbergs. Dieser längste und wohl grausamste Konflikt in Afrika ist Ausdruck der ungelösten politischen, ökonomischen, sozialen und ethnisch-religiösen Probleme des afrikanischen Kontinents. So wichtig und so brennend notwendig es ist, rasch zu handeln, um dem seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkrieg ein Ende zu bereiten, so unumgänglich ist es ebenso, solche internationalen Rahmenbedingungen zu schaffen, daß die Menschen in Afrika die Kraft und neuen Mut schöpfen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Dazu kann und muß die Bundesrepublik einen Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, in der Beurteilung der derzeitigen Ereignisse, der katastrophalen Lage im Sudan, der erdrückenden Menschenrechtslage vor dem Hintergrund des Rassenkonflikts und des Religionskriegs, hinter dem auch eindeutige Wirtschaftsinteressen und politische Ambitionen des islamischen Fundamentalismus stehen, gibt es kaum nennenswerte Meinungsunterschiede. Es soll nicht so oft vorkommen, aber mit den meisten diesbezüglichen Antworten der Bundesregierung vom 28. Dezember vorigen Jahres auf unsere Kleine Anfrage zur Menschenrechtslage im Sudan stimmen wir überein. Der millionenfache Mord, die millionenfache Bedrohung des Lebens von Sudanesen und die millionenfache Flucht vor dem Tode infolge militärischer Gewalt oder infolge der Hungersnot sind unerträglich, unerträglich nicht zuletzt wegen der Dimension der menschenrechtsverletzenden Auswirkungen des langjährigen Konflikts.
Die PDS/Linke Liste fordert die Bundesregierung auf, ihre Bemühungen zur friedlichen Lösung des
Sudan-Konflikts zu intensivieren und entsprechende Initiativen gegenüber der Regierung in Khartum zu ergreifen. Dabei sollten unserer Auffassung nach folgende Überlegungen Berücksichtigung finden:
Erstens. Das islamisch-fundamentalistische Regime im Nordsudan ist aufzufordern, die gegenwärtige militärische Offensive gegen die SPLA im Süden sofort einzustellen. Dies ist um so dringlicher, als dieser umfassende Konflikt — wie übrigens auch andere Dinge — militärisch nicht entschieden werden kann. Nur der Dialog zwischen beiden Seiten, der auch hier sein muß, wird uns weiterbringen.
Zweitens. Die Regierung in Khartum muß nachdrücklich aufgefordert werden, ihre fundamentalistische Islamisierungspolitik gegenüber dem Südsudan und die damit einhergehende Diskriminierung der christlichen und anderen religiösen Minderheiten aufzugeben. Ich bin wie Herr Schmude der Meinung, Verantwortliche müssen auch benannt werden.
Drittens. Sollte sich das Regime in Khartum weigern, die Forderungen zu akzeptieren, also kein Konzept, das für beide Seiten akzeptabel ist, vorlegen, muß die Verantwortlichkeit der Nationalen Islamischen Front und der Militärdiktatur — denn es ist im Prinzip ja so — benannt werden, und zwar eindeutig.
Viertens. Die zehn Forderungen der sudanesischen Opposition an den UN-Sicherheitsrat, die in der Deklaration von London vom 20. Februar dieses Jahres enthalten sind, sollten stufenweise durchgesetzt werden.
Es muß gehandelt werden, bevor in ganz Afrika — da gebe ich meiner Kollegin recht — sudanesische Verhältnisse einziehen können. Denn das ist überall die Gefahr. In diesem Sinne unterstützen wir den Entschließungsantrag der SPD vom 1. März mit der Einschränkung, daß die vorgeschlagenen Maßnahmen der Vereinten Nationen auch in Punkt 4 ausschließlich durch die Staaten der OAU wahrgenommen werden sollten. Aber ich denke, darüber kann man im Ausschuß durchaus noch einmal diskutieren.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bürgerkrieg im Sudan ist einer der vergessenen Kriege auf unserem Globus. Nur wenig davon kommt in die Medien, und kaum jemand interessiert sich dafür. Erst gestern z. B. hat die sudanesische Luftwaffe die Stadt Nimule im Südsudan und das Flüchtlingslager Aswa bombardiert, in dem 30 000 Menschen leben. Dabei wurde ein zwölfjähriges Mädchen getötet und mehrere Flüchtlinge verletzt.
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18468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Konrad Weiß
Das Regime in Khartum hatte Anfang Februar mit einer Serie von Bombenangriffen Hunderttausende im Südsudan in die Flucht in Richtung der Grenzen zu Uganda und Zaire getrieben. Offenbar soll die Bevölkerung aus dem Südsudan vertrieben werden, damit die Sudanesische Volksbefreiungsarmee, SPLA ihren Rückhalt verliert. Die Rebellen kämpfen seit mehr als zehn Jahren gegen die Herrschaft des islamischen Nordens über den südlichen Sudan, der überwiegend von Christen und Anhängern von Naturreligionen bewohnt wird. Nach wie vor wird im Sudan gefoltert und gemordet. Aber die Welt schaut einfach weg.Der Konflikt zwischen Nord- und Südsudan dauert, abgesehen von einer Unterbrechung zwischen den Jahren 1972 und 1983, nun schon 38 Jahre. Mehr als eine Million Menschen kamen allein seit 1983 ums Leben. Der Bruderkrieg zwischen den verfeindeten Hügeln der SPLA um John Garang und Riek Machar forderte 100 000 Menschenleben. Die Tragödie hat durch die Anfang Februar gestartete Offensive des Nordens einen neuen traurigen Höhepunkt erreicht.Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, die Kirchen und auch die Presse haben wiederholt auf die katastrophale Situation im Sudan hingewiesen und an die Regierungen appelliert. Auch die Bundesregierung bestätigt, daß sich die sudanesische Regierung praktisch seit ihrer Machtübernahme im Juni schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig macht. Die humanitäre Arbeit der Hilfsorganisationen wird immer wieder behindert.Muß das Zerstören der Lebensgrundlagen, das Vergewaltigen und Morden denn wirklich erst wieder die Dimensionen eines Völkermordes erreichen, bevor die internationale Staatengemeinschaft reagiert? Müssen erst wieder unzählige Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden oder verhungern, bevor wir uns zur Hilfe bequemen?Die Bundesregierung hat bisher einiges an Hilfe geleistet, doch ihr Engagement reicht bei weitem nicht aus. Auch Somalia hat seinerzeit lange vergeblich auf Hilfe gehofft. Aber die UNO hat eingegriffen, als es längst zu spät und der Bürgerkrieg bereits eskaliert war. Zivile und humanitäre Hilfe ist heute auch im Sudan notwendig und möglich und sollte zumindest mit demselben finanziellen, logistischen und technischen Aufwand betrieben werden wie der mißglückte militärische Einsatz in Somalia.Meine Damen und Herren, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßt die von der SPD ergriffene Initiative. Wir fragen uns verwundert, warum die Koalitionsfraktionen diesen Antrag nicht mittragen konnten und unbedingt mit einem eigenen, weiter verwässerten Antrag kommen mußten.Die Forderungen der SPD-Fraktion sind in der aktuellen Lage vernünftig und dringend geboten. Wir sind allerdings der Auffassung, daß es richtig und konsequent gewesen wäre, die Forderung unter Punkt 5 in ihrer ursprünglichen Form zu belassen und die Bundesregierung aufzufordern — ich zitiere —,alles Notwendige zu unternehmen, um eine ungehinderte Arbeit der bewährten UN-Organisation Operation Lifeline Sudan und anderer Hilfsorganisationen im Südsudan zu sichern,auch ohne Zustimmung der beteiligten Konfliktparteien.Die jetzt geforderte Zustimmung wäre zwar wünschenswert, dürfte aber Aktionen, die der bedrohten Bevölkerung das Leben retten könnten, gefährlich verzögern oder im schlimmsten Falle sogar verhindern.Ich stimme dem Kollegen Schmude ausdrücklich zu, daß eine aktive und zivile Einmischung notwendig ist. Angesichts des Völkermords im Sudan gibt es keine andere Alternative für die Staaten dieser Welt, als mit allen denkbaren zivilen Mitteln auf die beteiligten Bürgerkriegsparteien einzuwirken und einen Waffenstillstand herbeizuführen.Mit Bedauern habe ich eben von der Haltung Ägyptens Kenntnis genommen, das sich gerade einseitig für den Nordsudan ausgesprochen und jegliche Zusammenarbeit und Hilfe für den südlichen Sudan abgesagt hat.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwartet von der Bundesregierung, daß sie sich weiterhin ernsthaft bemüht, den Erklärungen, die von der Europäischen Union zum Sudan gegeben wurden, gerecht zu werden und den klugen Vorschlägen der Hilfswerke, die auf dem Tisch liegen, zu folgen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nun dem Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der UN-Sonderberichterstatter Gaspar Biro hat in seinem kürzlich veröffentlichten Bericht erneut festgestellt, daß im Sudan schwere Menschenrechtsverletzungen noch immer weit verbreitet sind.Die Bundesregierung hat seit Jahren im Rahmen ihres Handlungsspielraums versucht, die sudanesische Regierung zu einer Änderung ihrer Menschenrechtspolitik und zu einem Ende des Bürgerkriegs zu bewegen. Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit beschränkt sich nach einem Bundestagsbeschluß aus dem Jahre 1989 auf Projekte, die der Bevölkerung direkt zugute kommen.Auf UN-Ebene hat die Bundesregierung als Miteinbringer von Resolutionen gegen die Menschenrechtsverletzungen des Sudans maßgeblich mitgewirkt. Auf Initiative der Bundesregierung sind im letzten Jahr mehrfach die Botschafter der Europäischen Union in Khartum bei der sudanesischen Regierung vorstellig geworden, um diese zu einer Änderung ihrer Politik zu bewegen.Darüber hinaus beteiligt sich die Bundesregierung mit wachsendem finanziellen Aufwand an den internationalen Hilfsmaßnahmen für die sudanesischen Flüchtlinge und Vertriebenen. Im letzten Jahr stellte sie dafür einen Betrag von 8,8 Millionen DM zur Verfügung. Außerdem sind wir an der Soforthilfe der Europäischen Union, die 1992 8 Millionen DM betrug, mit knapp einem Drittel beteiligt. Die Bundesregie-
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Staatsminister Helmut Schäferrung prüft derzeit, ob diese Hilfen im Rahmen ihrer Möglichkeiten am Ort und im Hinblick auf die angespannte Haushaltslage weiter erhöht werden können.Mit dem Beginn einer militärischen Großoffensive — darauf ist hingewiesen worden — durch die Regierungstruppen Ende Januar hat sich die Situation im Süden des Landes weiter zugespitzt. Besonders bedrückend bleiben die eklatanten Verletzungen des humanitären Völkerrechts gegenüber der leidgeprüften Bevölkerung. Bombenangriffe gegen die Zivilbevölkerung im Südsudan, wie sie im August und im November letzten Jahres, im Februar dieses Jahres und — Herr Kollege Weiß, es stimmt — auch gestern wieder von der sudanesischen Luftwaffe durchgeführt wurden, haben zu einem gewaltigen Strom von rund 250 000 Vertriebenen in Richtung Uganda geführt.Erschwerend kommt hinzu, daß die an sich schon sehr schwierige Versorgung der Vertriebenen immer wieder von allen Konfliktparteien, insbesondere aber durch die Khartumer Regierung, massiv behindert wird.Die Bundesregierung hat auf Grund der sich verschlechternden Situation im Sudan bei den europäischen Partnern erneut die Initiative ergriffen und am 17. Februar im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Brüssel einen sieben Punkte umfassenden Katalog von möglichen gemeinsamen Maßnahmen durch die Europäische Union vorgestellt.Erstens haben wir auf eine Erklärung der Europäischen Union zum Sudan gedrängt, die daraufhin am 21. Februar abgegeben wurde. Darin hat die Europäische Union die Bombardierung der Zivilbevölkerung und die Behinderung der humanitären Hilfeleistungen scharf verurteilt. Darüber hinaus hat sie alle Konfliktparteien mit Nachdruck aufgefordert, als ersten Schritt in Richtung auf eine umfassende Verhandlungslösung einen sofortigen Waffenstillstand in Kraft zu setzen. Nicht die militärische Lösung, sondern nur ein tragfähiger Waffenstillstand und eine darauf aufbauende umfassende Friedenslösung kann auf Dauer das Los der leidenden Bevölkerung im Südsudan und der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten verbessern.Zweitens haben wir auf die Möglichkeit hingewiesen, erneut eine Troika-Demarche der EU-Botschafter in Khartum bei der sudanesischen Regierung auf höchster Ebene durchzuführen. Es ist uns allerdings leider bewußt, daß vorangegangene Demarchen im vergangenen Jahr ohne den erwünschten Erfolg geblieben sind.Drittens haben wir uns mit Nachdruck für eine Reise einer hochrangigen Troika-Delegation eingesetzt. Diese Delegation soll nach unseren Vorstellungen die Regierung in Khartum, aber auch die beiden Fraktionen der SPLM/A und die Verantwortlichen der sogenannten IGADD-Friedensinitiative in Nairobi aufsuchen, um so die stockenden Friedensvermittlungen wieder voranzubringen.
Bevor Sie zu Punkt 4 kommen, möchte Ihnen der Abgeordnete Duve eine Frage stellen.
Bitte.
Herr Staatsminister, Sie erwähnten die begrüßenswerten Demarchen der Europäischen Union gegenüber der Regierung des Sudan. Gibt es ähnliche Schritte gegenüber arabischislamischen Staaten, die in den letzten Jahren zum Teil sehr massiv, nicht nur politisch, sondern auch materiell, die sudanesische Regierung unterstützt haben?
Wir haben, Herr Kollege Duve, darunter ich selbst, auch in Gesprächen mit den Staaten, die Sie vermutlich meinen, immer wieder darauf hingewiesen, daß es so nicht gehen kann. Aber es ist nicht immer ganz leicht, die uns allen bewußten wahrscheinlichen Unterstützungsaktionen bestimmter Staaten gegenüber dem Sudan so deutlich herauszufinden, wie es nötig wäre, um den Beweis anzutreten und dann in ihrem Sinne tätig zu werden. Ich darf zu meiner Rede zurückkommen.Viertens haben wir uns dafür eingesetzt, daß die Europäische Union die Möglichkeiten prüft, die Friedensbemühungen der vier ostafrikanischen Staatspräsidenten aus Kenia, Uganda, Eritrea und Äthiopien politisch und auch finanziell zu fördern.
Wir und unsere europäischen Partner begrüßen nachdrücklich diese IGADD-Initiative, da wir überzeugt sind, daß eine Lösung im regionalen Kontext, also auch mit den betroffenen Nachbarstaaten gefunden werden muß.Fünftens prüfen die Zwölf derzeit unsere Anregung, einen EU-Sonderbotschafter für humanitäre Fragen und Friedensstiftung zu bestellen. Diese Anregung — ich darf dazu sagen, sie kommt auch in Ihrem Antrag vor — wurde jedoch bisher mit Vorbehalten unserer Partner aufgenommen, da an der Wirksamkeit dieser Maßnahmen nach den Erfahrungen ähnlicher Initiativen noch gezweifelt wird.Sechstens haben wir uns für die Verhängung eines umfassenden Waffenembargos der Europäischen Union gegenüber dem Sudan ausgesprochen. Dieses Embargo, dessen Umsetzung derzeit in den zuständigen Gremien in Brüssel vorbereitet wird, dürfte vor allem auch eine politische Signalwirkung haben, um so den Druck auf die Konfliktparteien, einem Waffenstillstand zuzustimmen, weiter zu erhöhen.
Wir hoffen mit Signalwirkung, daß sich auch andere Staaten anschließen.Siebtens haben wir die Anregung eingebracht, daß sich auch der UN-Sicherheitsrat der Lage im Sudan annimmt. Die Mitglieder des Sicherheitsrates haben dazu ihre Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen. Wir selbst sind bekanntlich nicht im Sicherheitsrat vertreten, können also nicht unmittelbar eine
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Staatsminister Helmut SchaferInitiative einbringen. Aber nach heute eingegangenen letzten Informationen erwägt die amerikanische Regierung, dieses Thema möglicherweise selbst im Sicherheitsrat einzubringen.Meine Damen und Herren, es ist hier mehrfach angesprochen worden, eine Flugverbotszone einzurichten. Es gibt solche Anregungen auch von außerhalb dieses Hauses. Ich darf in dem Zusammenhang, ohne polemisch zu werden, nur die Frage stellen — und ich richte die Bitte auch an die linke Seite im Haus —: Wer Flugverbotszonen fordert, muß auch wissen, wer bereit ist, sie nachher einzuhalten und durchzusetzen.
Wer Flugverbotszonen und die Überprüfung mit möglichen Konsequenzen militärischer Art will, kann nicht mehr lange zögern, Deutsche daran zu beteiligen. Sonst können sie solche Forderungen, bitte schön, nicht mehr stellen.
Die Welt ist es leid, unsere moralischen Vorstellungen zu erfahren und, wenn es darauf ankommt, zu hören, wir seien immer noch mit unseren Verfassungsdiskussionen nicht am Ende. Ich muß es einmal sagen, ohne daß ich wirklich polemisch werden will. Die Lage im Sudan ist mir ernst. Aber es gibt wirklich zunehmend auch weltweit ein gewisses Unverständnis über diese Art doppelbödiger Politik. Gestatten Sie mir, das hier zu bemerken.
Der Abgeordnete Vogel möchte gern eine Frage beantwortet haben.
Bitte sehr.
Herr Staatsminister, Sie haben die Punkte, die in der gemeinsamen Resolution der Europäischen Union aufgeführt sind, genannt. Darf ich Sie bitten, bei der sudanesischen Regierung auch noch einmal den Bericht anzumahnen, den eine Sonderkommission über die Vorgänge in Nuba geben sollte und der wiederholt von der sudanesischen Regierung in Aussicht gestellt worden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Bericht noch nicht vorliegt. Ich glaube, auch das gehört im Kontakt mit der sudanesischen Regierung zur Einforderung einer seriösen Haltung.
Herr Kollege Vogel, ich greife Ihre Anregung gern auf und bin bereit, über den hier anwesenden Botschafter die Frage noch einmal aufzunehmen und die sudanesische Regierung zu bitten, entsprechend zu verfahren.
Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß sagen: Die Bundesregierung begrüßt, daß ihr heute in diesem Rahmen die Möglichkeit gegeben wurde, ihre Bemühungen um eine aktive Sudanpolitik darzustellen. Sie fühlt sich dadurch bestärkt, auf diesem Weg zusammen mit den europäischen Partnern gerade auf Grund der nach wie vor im höchsten Maß unbefriedigenden Lage im Sudan weiter voranzuschreiten, und ist froh, daß der Deutsche Bundestag die Nation auf dieses Problem aufmerksam macht, da die Medien dazu offensichtlich — wie in vielen anderen Fällen — nicht in der Lage sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Graf Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, vielen von Ihnen, die die interfraktionelle Kleine Anfrage mit unterzeichnet haben, ist es ähnlich wie mir ergangen: Sie haben wie ich von Kennern der sudanesischen Szene, von Sudanesen selbst, von Mitgliedern von Hilfswerken Briefe, Anrufe und Besuche bekommen, und da wurde gesagt: Die sechs Punkte, nach denen wir die Regierung gefragt haben, sind praktisch und tatsächlich wichtig, um in der gegenwärtigen Situation zu helfen.Ich würde gern aus einem Brief zitieren dürfen, den mir der Bischof Makram Max Gassis von El Obeid geschrieben hat. Er hat betont, daß schnell etwas Positives geschehen muß, denn die Situation ist so gefährlich und verzweifelt, daß jeder weitere Tag zu einem Martyrium für die Bevölkerung wird.Er berichtet dann von einer Delegation von den Nuba-Bergen, die er jüngst im Süden des Sudan getroffen hat. Die evangelische Delegation hat ebenfalls von einer solchen Begegnung berichtet.Das Zeugnis, das sie ablegten, so schreibt er,war grauenerregend; Sklaverei ist eine Tatsache, und ich habe die Namen von Orten und Kindern. Massaker an Pastoren und Katecheten sind eine Tatsache; und ich habe die Namen derer, die getötet und verstümmelt wurden, ... Pastoren, die in ihren Kirchen von der Miliz verbrannt wurden. Kreuzigungen . . ., Vergewaltigungen junger Frauen und Mädchen durch die Soldaten und Miliz.Warum habe ich dieses Beispiel gewählt? Die Nubas sind mehrheitlich islamisch. Was hier passiert, kennzeichnet sehr deutlich, daß hinter allen Konflikten, die es im Sudan historisch und gesellschaftlich gibt, das eigentlich Problematische die Menschenrechtsverletzungen sind, die ethnischen Säuberungen, die stattfinden.Der Grund, warum wir uns heute im Bundestag mit dem Thema Sudan wiederum beschäftigen, liegt eben darin, daß immer wieder Menschenrechtsverletzungen vorkommen und wir sie anprangern wollen. Dies tun wir gleichermaßen der sudanesischen Regierung gegenüber wie natürlich auch gegenüber den südlichen Befreiungsbewegungen. Wir haben früher immer von Befreiungsbewegungen im Süden Afrikas gesprochen. Warum sprechen wir eigentlich in diesem Falle jetzt immer von Rebellen? Auch unter diesen
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Alois Graf von Waldburg-ZeilGruppen gibt es — vor allem, seit sie sich geteilt haben — erhebliche Menschenrechtsverletzungen, die wir gleichermaßen anprangern.Hauptgrund dieser Debatte sind die vielfachen Berichte, daß die Regierung des Sudans gegenwärtig einen Großangriff gegen den Süden führt, der das menschliche Elend der Bevölkerung ins Unendliche steigern und Hunderttausende von Flüchtlingen in Bewegung setzen würde. Dies bedeutet natürlich eine ganz erhebliche Destabilisierung für das afrikanische Umfeld.Wenn ich hier als Entwicklungspolitiker spreche, dann ist es nicht nur das tiefe Bedauern, daß Entwicklungspolitik im Sudan unter diesen Bedingungen nicht mehr stattfinden kann, sondern gleichzeitig, daß erfolgreiche Entwicklungspolitik durch die ungeheuren Flüchtlingsströme, die ausgelöst worden sind, ge- oder zerstört werden kann. Deshalb muß die Bemühung um Friedensstiftung, um einen Waffenstillstand und eine Überwachung dieses Waffenstillstandes auch und gerade aus der Sicht der Entwicklungspolitik eine unerläßliche Voraussetzung sein.Natürlich sollen und müssen die schwarzafrikanischen Nachbarstaaten bei den Vermittlungsbemühungen eine besondere Rolle einnehmen — im Moment tun dies in besonderem Maße die ostafrikanischen Nachbarn Uganda, Kenia, Äthiopien und Eritrea; vorher war Nigeria sehr stark eingeschaltet —, aber die betroffenen Regierungen klagen darüber, daß sie mit dieser unermeßlich wichtigen Aufgabe und den damit zusammenhängenden Notwendigkeiten schlicht überfordert sind. Ich glaube, daß es uns gut anstünde, diesen Nachbarländern des schwarzafrikanischen Kontinentes bei den Bemühungen um eine Vermittlung ganz intensiv zu helfen.
Sicher ist es so, daß eine Lösung auch Maßnahmen voraussetzt, die über die Organisation der Afrikanischen Einheit und ihre Möglichkeiten hinausreichen und nur von den Vereinten Nationen zu leisten wären, so z. B. wenn man über die Verhängung einer Flugverbotszone über dem Südsudan spricht. Man kann aber, glaube ich, nicht so argumentieren, daß, weil wir innenpolitische Diskussionen haben, man dies nicht fordern darf. Vielleicht muß man umgekehrt sagen, daß wir unsere innenpolitischen Diskussionen unter dem Prätext dieser Notwendigkeit weiter führen müssen.
Unerträglich ist die ständige Behinderung der humanitären Hilfe. Eine Hilfsorganisation, die vom Norden mühsam die Genehmigung eines Abwurfs von Lebensmitteln im Süden aus einem Flugzeug erhalten hatte, sollte vorher vom Militär kontrollieren lassen, daß keine Waffen dabei seien. In Ordnung. Die Soldaten zerschnitten die Riemen, an denen die Pakkungen Zur Ausstiegsluke befördert werden sollten,
und damit war die Hilfsaktion am Ende.
— Dies sind einfach unglaubliche Vorgänge.Es kann nicht angehen, daß die Hilfe für die Menschen vom guten Willen derer abhängig gemacht wird, die mit Bomben, Milizen und dem Hunger als Waffe selbst Jagd auf diese Menschen machen.
Es gab im Vorfeld dieser Debatte warnende Stimmen, man möge ein Thema gar nicht erst in der Öffentlichkeit behandeln, wenn man selbst nicht in der Lage sei, konkrete Lösungen anzubieten und durchzuführen. Ich bin da absolut anderer Ansicht: Auch extrem menschenrechtsverletzende Diktaturen sind von der Weltöffentlichkeit abhängig. Es gibt internationale Beziehungen, die man nutzen kann. Herr Staatsminister, ich finde es ausgezeichnet, daß Sie gerade gegenüber einem Partner, nämlich dem Iran, immer wieder betonen, daß sie das, was sie dort tun, möglichst bleiben lassen sollten. Ich glaube, es wäre wirklich im Interesse aller Betroffenen, daß dies endet.Meine Damen und Herren, meine Zeit ist um.
— Ja.Ich darf zu den Anträgen noch einmal sagen: Ich bin sehr dankbar und froh, daß sie an die Ausschüsse überwiesen werden, weil es zwei Ausschüssen, die sich mit diesen Anträgen befassen werden, sicher gelingen wird, noch einige gute Gedanken hinzuzufügen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Werner Schuster.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum heute eine Sudandebatte? Weil im Sudan ein Volk stirbt und die europäische Öffentlichkeit schweigt.
Im Sudan sind innerhalb von 10 Jahren mindestens 1 Million Menschen ermordet worden, mindestens 3 Millionen Menschen leben als Flüchtlinge in Camps. Die neuen Bombardements der sudanesischen Regierung werden dazu führen, daß etwa 4 Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht sein werden.Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie den Vergleich, aber haben Sie nicht manchmal auch das Gefühl, daß die schrecklichen Zahlen von Bosnien und Somalia dagegen verblassen? Warum kriegen wir eigentlich immer eher Öffentlichkeit für Dinge, die uns stärker berühren? Denken Sie daran, wie oft wir
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18472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Dr. R. Werner Schusterüber Bosnien diskutiert haben, weil es vor der Haustür liegt. Denken Sie daran, wie oft wir über Somalia diskutiert haben, und die Öffentlichkeit haben wir erst erreicht, als es um den Einsatz deutscher Soldaten ging. Wie oft haben wir über Südafrika diskutiert und die Öffentlichkeit erreicht, weil Weiße beteiligt sind und weil es sich um eine Wirtschaftsmacht handelt. Es tut mir leid, meine Damen und Herren, ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, die Öffentlichkeit für den Sudan ist deswegen nicht herzustellen, weil es in Afrika ist. Und das ist ganz weit weg, und das sind Schwarze und keine Weißen, und es gibt kein wirtschaftspolitisches Interesse. Es waren ja nicht wir Politiker, die in den letzten Monaten — mit Ausnahme der PDS — darauf hingewiesen haben, daß hier etwas Neues losgeht, sondern es waren ja zwei Kirchenvertreter, der amerikanische Bischof Carey und der evangelische Bischof Engelhardt, und danach dann die Presse, nicht die sonst so allgewaltigen Fernsehmedien.Wir wollen heute Öffentlichkeit, wenn auch in beschränktem Rahmen, herstellen und uns nicht vorwerfen lassen, daß wir ruhig sind, wenn ein Volk stirbt.
Zweitens, Herr Kollege Waldburg, kann ich mich bei Ihnen ausdrücklich bedanken für die Kooperation, schon für die Kleine Anfrage vor einem Monat, dann für den gemeinsamen Entschließungsantrag. Sie werden sich nicht wundern, meine Herren Außenpolitiker, daß sich eben viele Formulierungen aus der Kleinen Anfrage wiederfinden. Ich bedaure etwas, daß es heute offensichtlich dank liberaler Außenpolitik zu einem neuen Antrag gekommen ist. Ich meine, Frau Blunk und Herr Vogel, wir werden bei der Diskussion deutlich machen müssen, daß es sehr wohl auch eine wichtige entwicklungspolitische Komponente zur Lösung der Probleme geben muß.Das dritte, was ich sagen wollte, ist dies. Wir müssen aus Somalia lernen. Der Antrag ist bewußt mehrdimensional aufgebaut. Herr Staatsminister, die Flugverbotszone ist nur am Ende die letzte aller Maßnahmen.Über Einzelheiten will ich mich jetzt nicht auslassen. Das hat mein Kollege Schmude gemacht, hat Graf Waldburg-Zeil dargelegt. Ich möchte gerne — —
Herr Dr. Schuster, sind Sie denn bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer zuzulassen?
Wenn es nicht angerechnet wird.
Nein, es wird Ihnen nicht angerechnet.
Herr Abgeordneter Irmer, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Herr Kollege Schuster, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich der Antrag der Koalition, der hier vorliegt, von dem Ihrigen im wesentlichen darin unterscheidet, daß die Passage nicht enthalten ist, daß ein Flugverbot verhängt und dann auch durchgesetzt werden sollte? Und wollen Sie nicht dem Staatsminister Schäfer, der das vorher ausgeführt hat, durchaus darin recht geben, daß es ein gewisses Problem ist, hier erneut mit fremdem Säbel zu rasseln?
Denn wir hatten ja heute nachmittag in der Debatte über die Abschüsse über Bosnien wieder einmal Gelegenheit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ausgerechnet Ihre Fraktion zwar das Ergebnis begrüßt, aber nicht bereit ist, daran mitzuwirken, daß die Grundlagen dafür geschaffen werden, daß wir derartige Drohungen, wenn wir sie in die Welt setzen, auch in die Tat umsetzen können, und zwar unter deutscher Beteiligung. Und würden Sie mir nicht zustimmen, daß alles andere doch gewaltig an Heuchelei grenzt, wenn man hier immer den starken Mann markiert, aber überhaupt nicht selbst mitzuwirken bereit ist?
Sie können antworten; wir können aber zusätzlich die Frage von dem Abgeordneten Bindig hinzunehmen, und Sie können dann sozusagen auf beide zusammen antworten. — Dann lassen wir zunächst den Abgeordneten Bindig fragen.
Können Sie bestätigen, daß es eine ganze Reihe weiterer wichtiger Punkte sind, die fehlen, nämlich im ganzen sieben Punkte, die nicht aufgenommen sind, und daß z. B. so wichtige Punkte in dem Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. fehlen wie der, die humanitäre Hilfe im Sudan weiter zu verstärken, und z. B. ein Waffenembargo gegenüber allen Konfliktparteien zu schaffen?
Also nun wollen wir das mal wieder sauber geschäftsordnungsmäßig zusammenführen; sonst muß nämlich der Abgeordnete Irmer dem Abgeordneten Bindig antworten, und Dreiecksfragen sind auch nicht zulässig. Also, Herr Dr. Schuster, nun wollen wir denn mal Ihre Antwort hören.
Selbstverständlich war es die Idee dieses Antrages, und ich muß noch einmal darauf zurückkommen: Basis war ja die Kleine Anfrage Ihres Kollegen Herrn Waldburg-Zeil, ein mehrdimensionales Konzept vorzulegen und nicht zu wollen, daß man nur über die militärische Intervention als einzige Lösungsalternative nachdenkt.Was aber Ihre Grundsatzfrage betrifft, Herr Irmer: Also nach meiner Erkenntnis — ich gehöre nur zu den Hinterbänklern — hat die SPD-Bundestagsfraktion Ihnen eine Verfassungsdiskussion ernsthaft angeboten. Nur, Sie wollen ja immer sehr viel mehr. Und daran unterscheiden wir uns.
— Ich habe Ihnen doch, Herr Bindig, glaube ich,deutlich geantwortet. Es fehlen ganz wichtige Punkte.Wir haben es mehrdimensional aufgebaut, und Ihr
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18473
Dr. R. Werner SchusterAlternativantrag läßt eine Reihe von vor allem entwicklungspolitischen Argumenten unter den Tisch fallen. Ich möchte jetzt auch unter der Überschrift „Aus Somalia lernen", Herr Kollege, nur zwei Dinge deutlich machen.
— Nein.
Ich lasse die Debatte jetzt weiterlaufen, Herr Dr. Schuster, und der Abgeordnete Irmer kann sich hinsetzen. — Bitte schön.
Der eine Gesichtspunkt ist der des diplomatischen politischen Drucks. Ich glaube, daß Achtung allein nicht ausreicht. Herr Staatssekretär Repnik, ich mache mal einen unkonventionellen Vorschlag. Der Sudan hat 15 Milliarden Dollar Schulden. 6 Milliarden sind öffentlich-bilateral. Darauf haben wir einen Einfluß, wenn Europa sich einig wäre. „Schulden gegen Frieden" , wäre das nicht ein Angebot?
Oder, meine Damen und Herren: Wir alle wissen, daß der Krieg im Sudan sofort zu Ende wäre, wenn der Iran keine Waffen liefern würde.
Sie aber, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, haben gerade eben dem Iran 2,5 Milliarden zusätzliche Hernies-D-Mark bewilligt. Sollen wir so Konditionalisierung verstehen, oder haben wir da nicht noch ein bißchen Reparaturbedarf?
Vierter Punkt. Was im Antrag fehlt: Wir sind erst in der Diskussion mit Kirchenvertretern darauf hingewiesen worden, Herr Schmude, daß offensichtlich in Deutschland zur Zeit noch sudanesische Flüchtlinge abgeschoben werden. Wir waren uns einig: Das darf unter der derzeitigen Situation nicht sein.
Was noch fehlt — Herr Kollege Vogel, da gebe ich Ihnen recht —, ist der Hinweis auf den Dialog mit dem Islam. Aber nicht nur mit den Gutwilligen, wir werden wohl oder übel auch mit den Fundamentalisten reden müssen.
Deswegen — ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren —: Es ist sicher schwierig, im Sudan die Friedensvoraussetzungen zu schaffen. Ich glaube aber, es ist nicht unrealistisch, wenn die Europäische Union geschlossen, gemeinsam abgesprochen Druck auf die Bürgerkriegsparteien ausübt. Das aber, meine Damen und Herren, setzt voraus, daß sich Europa nicht nur nach geopolitischen und wirtschaftspolitischen Kriterien nach außen hin organisiert. Ich meine in diesem Fall, bei einem Land so groß wie Europa, wir sollten es gemeinsam versuchen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Joachim Graf von Schönburg-Glauchau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde versuchen, wieder einmal etwas zusammenzufassen, eine Art Schlußwort zu bringen.Dabei möchte ich zuerst sagen: In eines Menschen Haut möchte ich heute nicht stecken: in der Seiner Exzellenz des Botschafters vom Sudan. Aber das gehört nun mal zu seiner Rolle, und es ist für ihn unangenehm. Aber ich kann es ihm nicht ersparen, daß wir hier entschlossen sind, die Wahrheit zu sagen. Es ist eine Wahrheit im kleinen Kreis. Das ist das zweite, was dabei bestürzend ist.
Mir haben heute früh Verwandte, als ich ihnen gesagt habe, ich werde zum Sudan sprechen, gesagt: „Was ist denn los mit dem Sudan?" Das Interesse der Öffentlichkeit ist bestimmt nicht größer als das Interesse in diesem Haus, eher kleiner; denn in diesem Haus sind Politiker. Und wenn wir uns hier umschauen, ist es böse, erschreckend und beschämend.
— Nein, aber der parlamentarische Eifer, das Mitfühlen, das Mitdenken. Es ist so, daß heutzutage leider — und es hat gar keinen Zweck, darüber zu jammern, man soll es mal sagen — eigentlich nur das empfunden wird, Protest hervorruft, auch zum Tragen von Transparenten aufruft, was im Fernsehen gekommen ist. Und dort, wo das Fernsehen nicht hinreicht, ist es an vielen anderen Stellen auch so.Fragen Sie Ihren Nachbarn in der Straßenbahn, was gestern in Haiti los war, wie es momentan in Liberia aussieht, wie es in Angola aussieht, wie es in Timor aussieht. Die meisten Leute haben von Timor überhaupt noch nichts gehört. Das heißt, wir stecken in einer Welt voller gräßlicher Situationen, voller Zustände, die schlimm und unerträglich sind und bei denen unsere Einmischung gefordert ist,
obwohl noch immer dieser Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten gilt. Aber wir sind gefordert; denn sonst würden wir dem Ruf, der an uns ergangen ist, nicht gerecht.Ich möchte noch besonders dem Kollegen Schmude für seine Ausführungen danken. Ich muß nur fragen: Wenn es so ist — ich glaube, es ist so —, daß keine Bereitschaft zu friedlichen Lösungen vorhanden ist, um Gottes willen: Was dann? Er hat gesagt, wir sollen drängen, wir sollen Druck ausüben.Ich erlebe diese Sudan-Debatte seit über 30 Jahren sehr bewußt. Seit über 30 Jahren werden dort Verbalnoten und andere Noten erstellt, Emissäre gedrängt und Resolutionen verabschiedet. Merken Sie nicht, liebe Freunde, wie lächerlich wir damit langsam werden? Es wirkt leider manchmal auch lächerlich, wenn wir Dinge fordern — so gut sie gemeint sind, so
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18474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Joachim Graf von Schönburg-Glauchausehr ich sie als Forderungen unterstütze —, die uns niemand mehr abnimmt.
Wo ist denn das Kanonenboot, das wir hinausschicken wollen?
Wir haben es nicht; und wenn wir es hätten, wollten wir es nicht; und wenn wir es wollten, dann würde es wahrscheinlich auch nicht helfen.
Graf Schönburg-Glauchau, der Graf Waldburg-Zeil möchte Ihnen gerne eine Frage stellen.
Bitte.
Darf ich fragen, ob es nicht eine Maßnahme gibt, die schon einmal Sinn gemacht hat? Das war die vermittelnde Bemühung um Frieden im Jahre 1972. Damals ist man zur Autonomielösung gekommen, und es hat fast zehn Jahre Frieden gegeben.
Gibt es also nicht diese Möglichkeit des vermittelnden friedenstiftenden Einwirkens?
Ich wollte etwas in dieser Richtung sagen: Das braucht aber wahnsinnig viel Unterstützung. Das braucht wirklich eine Bewegung dahinter. Da sind wir hier noch — entschuldigen Sie — ein bißchen wenig und schwach. Wir müssen diese Öffentlichkeit, diese Bewegung herstellen.
Wir können nicht in der Zuschauerrolle bleiben; das ändert nichts. Wir können nicht mit wohlfeilen Plänen, lieber Werner Schuster, etwas abkaufen. Mein Gott, da möchte ich eher sagen: Versuchen Sie, einem der ganz Hohen in der Regierung durch ein persönliches Konto bei der Kantonalbank in Zug etwas abzukaufen, aber doch nicht mit Geld, von dem Sie sicher sind, daß es ohnehin nicht zurückgezahlt wird!
Ich meine, es gibt keine Patentlösung. Es wird furchtbar langwierig, mühselig, teuer werden. Wir werden alle angegriffen, was wir da an Geld unnütz ausgeben für die Leute, die sich dort umbringen. Wir werden Kritik bekommen von Leuten, die sagen: Ja, ihr hättet damals, vor 14 Jahren, das und das — — Alle sind viel schlauer.
Ich meine, es hilft — es sind gute Ansätze da —, daß wir die Nachbarstaaten mobilisieren, daß wir ihnen einen Teil der Lasten und einen Teil der Kosten abnehmen
und daß wir versuchen, unseren guten Willen mit
allem Sachverstand der Welt, den wir auftreiben
können, auch den der nahen Verwandten und besonders der Nachbarn, zu mobilisieren. Dazu rufe ich Sie alle auf.
Danke schön.
Nunmehr hat der Abgeordnete Günther Toetemeyer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wo ist der Staatsminister Schäfer? Ich wollte ihn gerade ansprechen.
Ich bin der Auffassung, wir sollten in der Diskussion heute abend fair miteinander umgehen. Staatsminister Schäfer hat ja völlig zu Recht auf eine Wunde hingewiesen. Da soll man auch offen sagen: Das ist eine Wunde; das ist so. Als Fraktion oder als Mitglied einer Fraktion vergibt man ja nichts, wenn man sagt: Wer Flugüberwachung fordert, muß konsequent sein, überall. Das muß so sein, sonst bringt das nichts.Ich halte es für gut, daß wir die Anträge noch einmal in den Ausschüssen diskutieren. Am Schluß werde ich noch zu einem politischen Vorschlag kommen, über den wir reden sollten, obwohl er unterschiedlich bewertet wird.Ich will noch etwas zu dem sagen, was der Kollege Vogel vorgetragen hat. Ich stimme ihm im großen und ganzen zu. Ich halte es allerdings für eine verkürzte Darstellung der Situation, von weltanschaulichen Kämpfen, vielleicht sogar von einem Religionskrieg im Sudan zu sprechen. Das ist falsch. Aber da der Botschafter hier sitzt, muß ich sagen: In unserem Land leben Zehntausende von Muslimen, denen wir erlauben, daß sie hier ihre Scharia praktizieren. Wir hindem sie nicht daran. Das ist der Unterschied zum Sudan. Im Sudan werden Andersgläubige gezwungen, die Scharia zu praktizieren, und zwar mit Gewalt. Das, Herr Botschafter, ist eine Verletzung von Menschenrechten, und das müssen wir hier in diesem Hause kritisieren.
Die Kirchen berichteten — das ist noch gar nicht lange her —, daß christliche Kinder eingefangen und zum Konvertieren gezwungen werden. Das ist eine solche Verletzung des Menschenrechts, daß der Deutsche Bundestag dazu nicht schweigen darf!
Herr Staatsminister, Sie haben zum Waffenembargo gesagt, das sei ein Problem. Ich stimme Ihnen da nicht ganz zu. Mein Kollege Schuster hat schon darauf hingewiesen, daß es der Iran ist. Sie haben das ja auch durch Kopfnicken bestätigt. Ich bin nicht davon überzeugt, daß die Bundesregierung alle Mittel
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18475
Hans-Günther Toetemeyerausgenutzt hat, um den Iran daran zu hindern, dieses mörderische Treiben weiter zu unterstützen.
Deshalb müssen wir das fordern. Ich gebe gerne zu, daß Sie schon etwas unternommen haben; aber das reicht uns nicht aus. Auch über diesen Punkt müssen wir noch einmal ernsthaft diskutieren.In der Diskussion heute hat mich allerdings gewundert, daß ein Vertreter der Regierungsparteien gesagt hat, die Afrikaner sollten das Problem selbst lösen. Ich frage mich: Wie begründen Sie dann den Einsatz in Somalia? Das ist auch so eine wunde Stelle. Ich sage ganz offen: Wir sollten uns ehrlich zugestehen: Somalia war ein Flop.
— Ja! Wir haben die Probleme nicht gelöst. Wenn die UNO Somalia verlassen haben wird, werden die Probleme wieder die gleichen sein wie am Anfang.
— Herr Kollege Scharrenbroich, hören Sie bitte einmal einen Augenblick zu! Es ist gar nicht so leicht zu sagen: Ich bin einer von denen, die den Art. 7 der UNO-Satzung ernst nehmen, und ich bin für das „peace enforcement". Aber es ist in Somalia falsch durchgeführt worden. Das war das Problem.
Herr Abgeordneter Toetemeyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Ich würde darum bitten, daß wir jetzt zum Schluß kommen. Ich bin gerne bereit, im Ausschuß weiterzudiskutieren.
Okay.
Ich wollte jetzt noch — meine Redezeit ist ja gleich abgelaufen — zu meinem letzten Vorschlag kommen. Herr Kollege Irmer und auch Herr Kollege Vogel, die Sie jetzt mit mir diskutieren wollten, es gibt einen Vorschlag des New Sudan Council of Churches in Nairobi, der sagt, wir sollten einmal darüber nachdenken, ob es nicht der Friedensfindung dienen könnte, im Südsudan ein Referendum durchzuführen, ähnlich, wie das in Eritrea geschehen ist, damit die Menschen dort entscheiden können, ob sie in einer Konföderation zwischen Südsudan und Nordsudan oder in einem Zentralstaat leben wollen. Es gibt ja unterschiedliche Vorstellungen. Dies wollte ich nur einmal in die Diskussion werfen. Man sollte darüber diskutieren und nachdenken.
Wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, diesen mit der Unterbrechung von elf Jahren — von 1972 bis 1983 — schon vier Jahrzehnte dauernden Krieg zu beenden. Ich sage noch einmal ganz bewußt: Wir sollten die Fehler von Somalia nicht wiederholen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der
Aussprache angelangt. Interfraktionell ist vereinbart worden, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie den Antrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 12/6949 und 12/6937 wie folgt zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Ludwig Stiegler, Dr. Hans de With, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerhaftung
— Drucksache 12/5551 —
Überwei sung svorschlag: Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Dreiviertelstunde vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden, und ich kann die Debatte eröffnen.
Ich erteile dem Abgeordneten Professor Dr. Eckhart Pick das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion erneuert mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerhaftung ihre Auffassung, daß eine gesetzliche Entscheidung über die Haftung von Arbeitnehmern im Rahmen ihres arbeitsrechtlichen Verhältnisses überfällig ist.Wir wissen, daß die Haftung des Arbeitnehmers wie auch das gesamte Arbeitsvertragsrecht nur unzureichend geregelt ist. Das Bürgerliche Gesetzbuch begnügt sich seit 94 Jahren mit einer bescheidenen Regelung im Recht des Dienstvertrages, das heutigen Anforderungen an ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten auf Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite nicht entspricht, wohl auch nie entsprochen hat.Diese Lücke ist insbesondere seit Bestehen der Bundesrepublik durch die Rechtsprechung unter Führung des Bundesarbeitsgerichts ausgefüllt worden, nicht weil dort beim BAG das Bedürfnis nach Rechtsfortbildung besonders vorgeherrscht hat, sondern weil der Gesetzgeber dieses Feld bewußt und freiwillig der Rechtsprechung überlassen hat. Dies konnte so lange gutgehen, wie die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung noch nicht erreicht waren. Dies ist aber jetzt der Fall, meine Damen und Herren.Als die SPD in der letzten Legislaturperiode schon einmal einen Anlauf unternahm, um für mehr Rechtssicherheit auf diesem Gebiete zu sorgen, war bereits klar, daß Regelungsbedarf bestand. Unsere Argumente sind seit dieser Zeit noch weiter gestärkt worden, zum einen durch die Tatsache, daß sich nach Art. 30 des Einigungsvertrags der Gesetzgeber verpflichtet hat, das gesamte Arbeitsvertragsrecht mög-
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Dr. Eckhart Pickfichst bald einheitlich neu zu regeln. Außerdem sind Forderungen, endlich die wesentlichen Eckdaten des Individualarbeitsrechts in einem einzigen Gesetz zu verankern, durch die Rechtszersplitterung des Arbeitsrechts und durch den Druck auch der Europäischen Union berechtigt.Im übrigen existiert seit dem 59. Deutschen Juristentag von 1992 die Empfehlung, die Bundesregierung solle einen Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes noch im Jahre 1993 vorlegen. Dies ist, wie nicht anders zu erwarten, nicht geschehen. Man kann die Wette wohl ohne Risiko eingehen, daß die Bundesregierung dies auch bis zum Ende ihrer Amtszeit nicht mehr tun wird.Die Gründe sind klar. Wie viele andere Versprechen auf sozialpolitischem Gebiet war auch die Selbstverpflichtung im Einigungsvertrag ein Wechsel auf die Zukunft, der von der Bundesregierung niemals ernsthaft eingelöst werden sollte. Selbst wenn einige Politiker der Union dies ernsthaft angestrebt haben sollten,
dann hat ihnen jedenfalls die Kraft gefehlt, Herr Kleinert, mit eigenen Vorschlägen ihre eigenen Vorstellungen zu dokumentieren. Da hätte man zumindest einmal eine weitere Diskussionsgrundlage neben unseren Vorschlägen gehabt. Aber auch hier Fehlanzeige.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon bei der Einbringung dieser Gesetzesinitiative im August des letzten Jahres auf die bevorstehende Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichte des Bundes hingewiesen, der vom Bundesarbeitsgericht im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaftung angerufen worden war.Worum ging es hierbei? Ausgangsfall war die Klage eines Bauunternehmens gegen den Leiter einer Baustelle, einen Polier, gewesen. Beim Aushub der Baustelle hatte ein Baggerführer eine Gasleitung beschädigt und dadurch eine Explosion herbeigeführt. Der Baggerführer selbst konnte sich auf die Grundsätze der sogenannten gefahrgeneigten Tätigkeit berufen und konnte nicht haftbar gemacht werden. Von dem Polier hingegen forderte der Arbeitgeber 80 000 DM Schadenersatz.Dieser Fall, meine Damen und Herren, der die Gerichte zehn Jahre lang beschäftigt hat, ist ein Lehrbeispiel für die Anwendung der Grundsätze über die gefahrgeneigte Arbeit einerseits und die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, für die diese Grundsätze nach der bisherigen Rechtsprechung nicht gelten, andererseits.Mit der Entscheidung des Gemeinsamen Senats vom 16. Dezember 1993 ist nun klar, daß alle Arbeitnehmer — unabhängig von der Art ihrer Tätigkeit — in den Genuß einer Haftungserleichterung kommen können. Damit ist unsere Auffassung bestätigt worden; denn auch wir schlagen vor, daß künftig Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Schäden, die infolge von leichter Fahrlässigkeit verursacht worden sind, nicht mehr haften sollen, unabhängig von der Frage, ob im konkreten Fall gefahrgeneigte Arbeit vorliegt oder nicht.Aber die Entscheidung des Gemeinsamen Senats läßt weitere Fragen des Haftungsrechts noch offen. So ist z. B. nicht entschieden, ob die Rechtsprechung an dem Verschuldensmaßstab der „normalen" Fahrlässigkeit festhalten wird und, wenn ja, wie es dann mit der anteiligen Haftung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht. Hier bleibt es bei der weitverbreiteten Unsicherheit, wie eine Teilung des Schadens unter diesen Voraussetzungen überhaupt aussehen soll.Ich fürchte auch, daß eine solche Art der Haftung vor Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes kaum Bestand haben dürfte. Diese Lücke kann die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aber nicht mehr ausfüllen.Die Begründung für unseren Vorschlag liegt darin, daß, statistisch gesehen, arbeitsbedingte Schäden unvermeidbar sind. Die technologische Entwicklung führt in nahezu allen Wirtschaftsbereichen zu einem Abbau der Personalkapazitäten — gerade in dieser Zeit beklagen wir einen weitgehenden Arbeitsplatzabbau aus ökonomischen und konjunkturellen Gründen —, mit der Folge, daß den einzelnen Arbeitnehmer wegen des Einsatzes von immer teureren Geräten und immer anspruchsvolleren Maschinen auch immer größere Haftungsrisiken treffen.So führt häufig bereits ein nur geringfügiges Außerachtlassen der entsprechenden Sorgfalt zu Schäden, deren Höhe oft immens ist. Sie stehen oft in einem völlig unangemessenen Verhältnis zum Einkommen des Arbeitnehmers und somit in der Regel auch zu seinen Ersatzmöglichkeiten.Der Arbeitnehmer kann sich aber diesen Gegebenheiten nicht entziehen, es sei denn unter Verzicht auf seinen Arbeitsplatz.Auf der anderen Seite hat es der Arbeitgeber kraft seines Organisations- und seines Direktionsrechtes in der Hand, wie er die Bedingungen des Arbeitsplatzes im einzelnen gestaltet.Die SPD-Fraktion schlägt angesichts dieser Erkenntnisse und in Übereinstimmung mit vielen Stimmen — mit Arbeitsrechtlern, den Gewerkschaften und der Rechtsprechung — vor, im Vorgriff auf eine Gesamtregelung des Individualarbeitsrechts jetzt die Arbeitnehmerhaftung im BGB durch die neuen Vorschriften, wie wir vorgeschlagen haben: § 619a bis f, zu regeln.Kernstück der Regelung ist der neue § 619a, der eine unbeschränkte Haftung des Arbeitnehmers für Schäden des Arbeitgebers vorsieht, die vorsätzlich herbeigeführt sind. Bei Schäden, die der Arbeitnehmer grob fahrlässig verursacht hat, soll er dem Arbeitgeber bis zur Höhe von drei Nettomonatsvergütungen haften. Diese Sanktion ist hoch genug, um dem Argument zu begegnen, eine solche Regelung lade geradezu ein, mit besonderer Nonchalance mit dem Arbeitsgerät umzugehen. Ich glaube nicht, daß
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Dr. Eckhart Pickjemand gern bis zu drei Monatseinkommen loswerden will.Im übrigen soll der Arbeitnehmer für Schäden unterhalb dieses Verschuldens, also unterhalb der groben Fahrlässigkeit, nicht mehr haften. Das gilt für mittlere, normale, leichte und leichteste Fahrlässigkeit. Sie alle kennen diese sehr fragwürdigen Maßstäbe in der Rechtsprechung, die bisher zur Unübersichtlichkeit und vor allen Dingen zur Unberechenbarkeit des Haftungsrechts beigetragen haben.Unser Ziel, meine Damen und Herren, heißt damit: mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten, für Arbeitgeber, für Arbeitnehmer und auch für die Gerichte.Entsprechend wollen wir auch die Haftung des Arbeitnehmers nach außen, also gegenüber Dritten, verbessern. Er hat in diesen Fällen unter Umständen in gleicher Weise wie im Innenverhältnis einen Freistellungsanspruch gegen den Arbeitgeber. Mit anderen Worten: Der Arbeitnehmer haftet bei Vorsatz unmittelbar und ohne Ersatzmöglichkeit, also ohne jede Einschränkung, gegenüber dem Dritten.Bei grober Fahrlässigkeit kann er Freistellung verlangen, soweit er nicht selbst, im Höchstfall bis zu drei Nettomonatsvergütungen, haftet. Ansonsten hat er einen umfassenden Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber.Wir ergänzen die Haftungsregelung durch die Bestimmung über die Haftung mehrerer Arbeitnehmer, wenn sie gemeinsam einen Schaden verursacht haben. Auch hier spielen die drei Grade des Verschuldens, Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit und darunterliegendes Verschulden, eine entsprechende Rolle bei der Zumessung des Schadens.Wir wollen auch, daß alle Arbeitnehmer künftig haftungsrechtlich gleichbehandelt werden. Der Beamte haftet heute schon nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Auch dies spricht dafür, angesichts des Gleichbehandlungsgrundsatzes für eine entsprechende Regelung auch im privaten Arbeitsrecht zu sorgen.Wir sind der Auffassung, daß wir damit ein konsistentes System der Arbeitnehmerhaftung mit dem Vorteil einer klaren gesetzlichen Regelung, mit einem fairen Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, mit einer Weiterentwicklung des Haftungsrechts auf gesetzlicher Grundlage, die die Rechtsprechung nicht mehr leisten kann, und mit einem Einstieg in die Regelung des Individualarbeitsrechts, der weitergehende, ergänzende Regeln befördern könnte, entwickelt haben.Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, daß sich der Gesetzgeber endlich der Verantwortung für die Weiterentwicklung des Arbeitsrechts stellt und diese Verantwortung übernimmt. Er kann sich nicht mehr vor dieser Aufgabe drücken.Es ist höchste Zeit, endlich wenigstens eine Richtung vorzugeben, an der sich die Rechtsprechung und auch die Sozialpartner orientieren können. In den Augen der Öffentlichkeit ist eine solche Regelung schon lange überfällig.Wir erwarten eine konstruktive Debatte über unsere Initiative, und wir würden uns freuen, wenn auch vonIhrer Seite, meine Damen und Herren von der Koalition, entsprechende Beiträge, die uns weiterführen, gemacht werden könnten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Schmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist eine trockene juristische Debatte zu später Stunde, aber sie ist sicherlich auch wichtig. Insofern wollen wir auch konkret darauf eingehen, Herr Kollege Pick.Der von der sozialdemokratischen Fraktion vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerhaftung zielt darauf ab, das komplexe Gebiet der Arbeitnehmerhaftung nunmehr im Detail durch eine Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuches zu regeln.Auch die Unionsfraktion ist der Auffassung, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Anspruch auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit bezüglich ihrer Haftung im Rahmen der bestehenden Arbeitsverhältnisse haben. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen.Ich finde aber, wir stehen in dieser Debatte vor der grundsätzlichen Überlegung, ob die, wie ich finde, nach Einzelfallgerechtigkeit verlangende Frage der Arbeitnehmerhaftung besser beim Gesetzgeber oder aber besser bei der Rechtsprechung aufgehoben ist.Das Motiv für die Gesetzesinitiative lag damals sicherlich darin, daß die sozialdemokratische Fraktion — wie viele andere auch — bei einer Analyse der Rechtsprechung zu dem Ergebnis gekommen war, daß die Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaftung diffus geworden war und jede Rechtsklarheit und Rechtssicherheit vermissen ließ.So richtig die Analyse der Diffusion der damaligen Rechtsprechung teilweise auch war, so richtig ist es aber auch, festzustellen, daß durch die jüngste Entwicklung der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaftung ein aktueller und dringender Handlungsbedarf für den Gesetzgeber nicht mehr besteht. Warum dies nach unserer Überzeugung so ist, möchte ich in der gebotenen Sachlichkeit hier kurz skizzieren.Eine spezielle gesetzliche Regelung der Arbeitnehmerhaftung existiert nicht. Grundsätzlich gelten auch im Arbeitsrecht die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften des Schuldrechts über die Haftung. Allein, die Rechtsprechung hat aus guten Gründen die Arbeitnehmerhaftung bei sogenannter gefahrgeneigter Tätigkeit eingeschränkt.Die Rechtsprechung auf diesem Gebiet hat eine an der Komplexheit der Materie orientierte Entwicklung durchgemacht. Bis 1987 wurde in ständiger Rechtsprechung die Arbeitnehmerhaftung bei sogenannter gefahrgeneigter Tätigkeit nur bei grober Fahrlässigkeit und Vorsatz bejaht. Ab November 1987 versuchte die Rechtsprechung dann, durch die Erweiterung ihrer bisherigen Grundsätze der Einzelfallgerechtigkeit einen größeren Spielraum zu geben.
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Andreas Schmidt
Die neuentwickelten Grundsätze der Rechtsprechung zeichneten sich dadurch aus, daß es bei grober Fahrlässigkeit und bei Vorsatz bei der vollen Arbeitnehmerhaftung blieb. Bei einer mittleren oder normalen Fahrlässigkeit kam es in der Regel zu einer anteiligen Arbeitnehmerhaftung, wobei der Schaden quotenmäßig zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verteilt wurde. Bei leichter Fahrlässigkeit wurde zu Recht — auch das ist unsere Auffassung — eine Arbeitnehmerhaftung bei sogenannter gefahrgeneigter Tätigkeit verneint.Diese Grundsätze in der Rechtsprechung scheinen mir der Komplexheit des Themas angemessen zu sein, da sie der Einzelfallgerechtigkeit den notwendigen weiten Spielraum lassen. Die Diffusion der Rechtsprechung kam dann aber dadurch zustande, daß die vorgezeichneten Rechtsgrundsätze immer eine sogenannte Gefahrgeneigtheit der Arbeit als Voraussetzung einer beschränkten Arbeitnehmerhaftung beinhalteten.Das Bundesarbeitsgericht kam dann aber vor einiger Zeit zu einer Entscheidung in einem Fall, mit dem Ergebnis, daß die Gefahrgeneigtheit der Arbeit nicht immer als Voraussetzung für die Haftungsbeschränkung angesehen werden kann. Auch ich will den Fall hier noch einmal darstellen:Es war — wie Sie gerade gesagt haben — ein Baggerführer eines Bauunternehmens, der durch einen Unfall, der durch Fahrlässigkeit herbeigeführt wurde, einen Schaden in Höhe von 80 000 DM verursacht hatte. Da sich der Baggerführer auf den Haftungsausschluß wegen gefahrgeneigter Tätigkeit berufen konnte, hatte der Gläubiger des Schadensersatzanspruchs seine Ansprüche gegenüber dem Polier der Baustelle angemeldet, mit der Begründung, daß dieser den Baggerführer nicht ausreichend über die Gasleitung informiert habe. Der Polier wiederum konnte sich nach der bisherigen Rechtsprechung nicht auf eine Haftungsbeschränkung berufen, da seine Tätigkeit im Gegensatz zur Tätigkeit des Baggerführers nicht gefahrgeneigt war.Wie das in diesen Fällen ist, wenn die obersten Senate voneinander abweichen, mußte dann der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe zusammentreten. Dies ist auch geschehen, und man hat am 16. Dezember 1993 neue Rechtsgrundsätze zur Arbeitnehmerhaftung aufgestellt. Auch wenn sie in diesem Kreis vielleicht bekannt sind, möchte ich sie der Vollständigkeit halber hier noch einmal benennen, weil sie für unsere Haltung in dieser Frage wichtig sind.Nach dieser Entscheidung gelten die Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung für alle Arbeiten, die durch den Betrieb veranlaßt sind und auf Grund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, und zwar unabhängig davon, ob diese Arbeiten gefahrgeneigt sind oder nicht. Das Kriterium der Gefahrgeneigtheit spielt somit nach der neuen Rechtsprechung keine Rolle mehr. Darüber sind wir uns, glaube ich, einig. Dieses Thema ist damit vom Tisch.Ich finde wirklich, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß damit die notwendige Rechtsklarheit und Rechtssicherheit wiederhergestellt ist und für denGesetzgeber daher zur Zeit kein aktueller Handlungsbedarf besteht.In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, daß nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch bei grober Fahrlässigkeit eine Haftungsbeschränkung des Arbeitnehmers in Frage kommen kann, und zwar in den Fällen, in denen die unbeschränkte Schadensersatzpflicht des Arbeitnehmers zu einer ungerechten Verteilung des Betriebs- und Schadensrisikos führt und daher unbillig ist. Dies wird immer dann anzunehmen sein, wenn ein voller Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer diesen in den wirtschaftlichen Ruin treiben würde. Auch durch diese Rechtsprechung ist meines Erachtens dem Anliegen, das Sie mit dem Gesetzesvorhaben verfolgen, Rechnung getragen und Genüge getan.Aber unabhängig von unserer Auffassung, daß kein aktueller Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht, bin ich der Meinung, daß der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion auch inhaltlich der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit nicht gerecht wird.Nach der Zielvorstellung der SPD-Fraktion soll der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber grundsätzlich nur noch dann in vollem Umfang haften, wenn er den Schaden vorsätzlich verursacht hat. Bei grober Fahrlässigkeit dagegen soll der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber, unabhängig von der Schadenshöhe, maximal nur bis zur Höhe von drei Monatsvergütungen haften. Diese grundsätzliche strikte Haftungsbeschränkung steht meines Erachtens in keinem angemessenen Verhältnis zu einem gerechten Interessen- und Risikoausgleich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.Besonders kritisch aber erscheint mir die Zielvorstellung der SPD-Fraktion, die Haftung des Arbeitnehmers bei normaler Fahrlässigkeit völlig auszuschließen. Dies würde, meine Damen und Herren, im Ergebnis dazu führen, die Arbeitnehmerhaftung insgesamt vollständig auszuschließen. Auf eine Abwägung und Prüfung des Einzelfalles käme es dann nicht mehr an. Wenn aber der Arbeitnehmer bei jedem nicht grob fahrlässigen Verhalten nicht mehr schadensersatzpflichtig ist, stellt sich die Frage, ob dadurch nicht die vorbeugende Aufgabe der Haftung verlorengeht. Die drohende Haftung ist auch immer ein Mittel, den Arbeitnehmer anzuhalten, Schutzvorschriften einzuhalten und Sorgfaltspflichten zu beachten, die auch oft im Interesse des Arbeitnehmers selbst sind. Eine gesetzliche Festlegung dahin gehend, daß die Haftung bei normaler Fahrlässigkeit grundsätzlich ausscheidet, ist daher meines Erachtens kontraproduktiv und kann nicht unsere Zustimmung finden.Obwohl ich jetzt noch vier Minuten Redezeit habe, habe ich alles gesagt. Vielleicht, Herr Präsident, können Sie mir die Zeit gutschreiben, so daß ich bei meiner nächsten Rede etwas mehr Zeit zur Verfügung habe.Ich bedanke mich.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18479
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Detlef Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte es noch kürzer zu machen versuchen — aber man soll am Anfang da nicht übermütig sein. Ich bitte zunächst einmal, meinen heutigen Ausführungen meine Ausführungen aus der 11. Wahlperiode, 198. Sitzung, Seite 15288, mit Ausnahme der Zeile 10 von unten und der Zeile 15 von oben hinzuzufügen. Ich habe damals nicht das geringste Falsche gesagt.
Auch Herr Pick hat sich damals geäußert, und wir waren ganz angetan von der Sache. Da die heutige Vorlage Ihrer Vorlage aus der 11. Wahlperiode wortwörtlich entspricht, frage ich mich allerdings heute abend: Wieso brauchen Sie immer vier Jahre, um das vorzulegen, was dann der Diskontinuität anheimfällt?
Das ist ein Fall von Originalität, der seinesgleichen sucht.
— Was verstehen Sie unter „aktualisiert"? Wenn Sie uns das heute abend erklärt hätten, dann hätte uns in dieser Frage vielleicht der Geist des Aufbruchs und der Zukunft erfaßt, alle wären hier viel rühriger, munterer und umtriebiger geworden. Aber dergleichen habe ich von Ihnen nun beim besten Willen nicht hören können. Es handelt sich im wesentlichen um das gleiche Ding.
Deshalb sage ich mir: Jetzt haben Sie also schon wieder gut drei Jahre in Ihren Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen, die Klarsichthüllen rauf und runter betrachtend, an der Sache gearbeitet, um sie uns heute zu unser aller Erstaunen und Freude erneut vorzulegen — wohlwissend, daß der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages dermaßen mit Arbeit belastet ist, daß es in vier Jahren wohl zu einer Wiedervorlage kommen wird.
— Ich wünsche Ihnen das nicht, weil ich Sie schätze, weil ich Ihre Art zu arbeiten und Ihre Art zu denken schätze. Aber ich fürchte, es läuft darauf hinaus. Ein noch so klarer Verstand und eine noch so große wissenschaftliche Weisheit können beim besten Willen nicht in das richtige Verdienen gebracht werden, wenn dahinter keine ordentliche Organisation steht. Daran fehlt es hier doch bei weitem.
Deshalb sage ich Ihnen eines: Was sich seit damals für mich geändert hat, das ist z. B. die Überlegung: Kriegen wir jetzt einen Warnstreik von den von Ihrer Vorlage bis ins Mark erschütterten Arbeitnehmern, die nun endlich dieses Recht, daß alles platt gewalzt wird, für sich bei drei Monatsgehältern gewahrt wissen wollen, wohlwissend, daß der eine besonders dusselig und der andere besonders umsichtig ist, aber bei allen genau an der gleichen Stelle die Sache aufhört? Kriegen wir jetzt einen Warnstreik, oder geht die Sache friedlicher ab? Ich vermute ja letzteres; denn das kriegt keine Gewerkschaft auf die Beine.
Jetzt habe ich noch eine ganz andere Frage, die mich interessiert: Was ist mit den Beamten? Wir reden seit vielen Jahren hier über § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches mit der interessanten Frage, wie wir Beamten, die nun wirklich auch ein wenig sehr fahrlässig mit dem und jenem umgegangen sind, persönlich nähertreten können.
Mit Ihrer Hilfe haben wir uns von diesem Thema immer ferngehalten und gesagt: Nein, nein, der Staat haftet und nicht der Beamte. Deshalb kommt man weder an den Staat noch an den Beamten heran.
Ich habe hier einmal die bekannte Eselrede gehalten. Sie ist schon etwas älter. Ich werde heute noch von interessierten Kreisen darauf angesprochen. Ich erzähle sie Ihnen gerne noch einmal; Repetitio est mater studiorum: Wildlebende Esel scharen sich, wenn ein Tier in ihrer Mitte angegriffen wird, um dieses Tier herum, alle mit den Köpfen nach innen und den Hufen nach außen, und schlagen gegen jedermann aus, der sich dem eigentlich angegriffenen Tier nähert. So funktioniert § 839 BGB.
Das mußte ja wieder einmal gesagt werden. Nicht jeder liest nach, was man vor 15 Jahren gesagt hat.
— Ja.
In dieser Situation nehme ich doch am liebsten das auf, was Herr Pick zum Schluß gesagt hat, nämlich: Wir wollen uns vernünftig miteinander darüber unterhalten. Eine ungewöhnlich ähnliche Formulierung erblicke ich am Schluß meiner Rede von vor vier Jahren.
Dann wollen wir bei dieser Gelegenheit doch einmal freundliche Angebote der Mehrheit der Bundesländer, in denen Sie am Ruder sind, hören, welche Sorgen von Arbeitnehmern es bei uns gibt und warum die zu Herzen gehenden Beschwerden der einen Sorte nicht auch für die andere Sorte gelten. Dann reden wir auf dieser Basis weiter.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Kraus möchte seine Rede zu Protokoll geben. *)
*) Anlage 2
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18480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994
Vizepräsident Helmuth BeckerIch muß Übereinstimmung im Hause feststellen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/5551 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, Meinrad Belle und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, Wolfgang Lüder, Cornelia Schmalz-Jacobsen und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Ausländerzentralregister
— Drucksache 12/6938 —Ørweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung war an sich eine halbe Stunde für die Aussprache vereinbart. Ich höre aber inzwischen, daß alle vorgesehenen Redner ihre Reden zu Protokoll geben wollen. *) Besteht Einverständnis, daß wir so verfahren? — Dann ist das so beschlossen.Meine Damen und Herren, interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/6938 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu noch anderweitige Vorschläge? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Klaus Daubertshäuser, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGefahrgutbeförderung im zusammenwachsenden Europa— Drucksachen 12/4381, 12/5357 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war dafür eine Aussprache von einer Stunde vorgesehen. Inzwischen höre ich aber, daß alle vorgesehenen Redner ihre Reden zu Protokoll geben wollen. * * ) Gibt es dazu Übereinstimmung im Hause? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.*) Anlage 3**) Anlage 4Ich muß in diesem Zusammenhang nur noch erklären, daß damit all das, was dazu ausgeführt worden ist, im Protokoll steht. Überweisungsvorschläge und anderes gibt es nicht.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Dietmar Keller, Dr. Hans Modrow, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS/Linke ListeLage der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Beachtung der Situation der Städte, Gemeinden und Landkreise in den neuen Bundesländern— Drucksachen 12/4964, 12/6223, 12/6537 —Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sollte dafür eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen werden, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste 10 Minuten erhalten sollte. Nachdem ich inzwischen höre, daß auch bei diesem Punkt alle Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll geben wollen, bitte ich auch hier um Zustimmung des Hauses. — Das ist so geschehen. *)Die Gruppe PDS/Linke Liste hat beantragt, ihren Entschließungsantrag auf Drucksache 12/6922 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Finanzausschuß sowie an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt hingegen sofortige Abstimmung. Nach einer ständigen Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor. Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag? — Zwei Stimmen für den Überweisungsvorschlag. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.Wir stimmen damit in der Sache ab. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6922? — Das tut der Herr Kollege Dr. Keller. Gegenprobe! — Die Koalition stimmt geschlossen dagegen. Enthaltungen? — Die SPD enthält sich geschlossen. Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 4. März 1994, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.