Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, sich von den Plätzen zu erheben, um unseres Kollegen Gattermann zu gedenken.
Plötzlich und unerwartet verstarb am 27. Januar 1994 unser Kollege Hans Hermann Gattermann.Er wurde am 24. Dezember 1931 in Dortmund geboren. Nach dem Besuch des Max-Planck-Gymnasiums in seiner Heimatstadt studierte er in Marburg und Berlin Rechts- und Staatswissenschaften. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen ließ er sich als Rechtsanwalt und Notar in Dortmund nieder.Im Jahre 1967 schloß er sich der F.D.P. an, für die er als Mitglied des Rates der Stadt Dortmund kommunalpolitisch tätig war. In seiner Partei bekleidete er die Ämter des Schatzmeisters des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen und des stellvertretenden Vorsitzenden des Kreisverbandes Dortmund.1976 wurde Hans Hermann Gattermann in den Deutschen Bundestag gewählt. Der Schwerpunkt seiner Arbeit im Parlament lag auf dem Gebiet der Finanz- und Steuerpolitik, aber auch — nicht zu vergessen — auf dem Gebiet der Wohnungspolitik. Zunächst als Vorsitzender des wirtschafts- und finanzpolitischen Arbeitskreises seiner Fraktion und ab Mai 1983 als Vorsitzender des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages hat er die Finanz- und Steuerpolitik in Deutschland an herausragender Stelle durch hohe fachliche Kompetenz mitgeprägt. Er war ein souveräner Vorsitzender des Finanzausschusses, souverän und gelassen zugleich, intelligent und bescheiden. Hans Hermann Gattermann war von allen Fraktionen und Gruppen im Deutschen Bundestag, aber auch von den Verbänden anerkannt. In die Zeit seines Ausschußvorsitzes fielen große Vorhaben, z. B. die Steuerreform und die finanzpolitisch relevanten Maßnahmen zur Verwirklichung der Einheit Deutschlands.Er ist zu früh von uns gegangen. Wir alle sind betroffen über seinen plötzlichen Tod. Ich spreche vor allem seiner Frau und seinen Angehörigen namens des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus. Der Deutsche Bundestag betrauert den Tod von HansHermann Gattermann und wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich auf der Ehrentribüne den Präsidenten der Nationalversammlung der Republik Kuba, Herrn Dr. Alarcón de O zuesada, mit seiner Delegation begrüßen.
Wir haben gestern abend Gelegenheit gehabt, uns auszutauschen. Gerade nach dem Ende des Kommunismus in Europa ist dieser Austausch, denke ich, um so wichtiger. Ich wünsche der Delegation gute Gespräche an den verschiedenen Orten in Deutschland, vor allen Dingen heute beim Deutschen Bundestag.Lassen Sie mich zu den amtlichen Mitteilungen kommen.Der Kollege Dr. Bertram Wieczorek hat am 31. Januar 1994 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als seine Nachfolgerin hat die Abgeordnete Dr. Christa Schmidt am 1. Februar 1994 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.Für den verstorbenen Kollegen Hans H. Gattermann hat der Abgeordnete Detlef Parr ebenfalls am 1. Februar 1994 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.Ich begrüße die Kollegin Dr. Christa Schmidt, die dem Deutschen Bundestag bereits in der 11. Wahlperiode für kurze Zeit angehörte, und den neuen Kollegen Detlef Parr sehr herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:4. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes — Drucksache 12/6481 —5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Änderung des § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes — Drucksache 12/6572 —
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Präsidentin Dr. Rita Süssmuth6. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Friedliche Lösung des Kurdenproblems in der Türkei — Drucksache 12/6728 —b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hans de With, Hermann Bachmaier, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bekämpfung des Insider-Handels an deutschen Börsen — Drucksache 12/5437 —7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Europäische Entwicklungszusammenarbeit — Drucksachen 12/3647, 12/6707 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist, abgewichen werden.Des weiteren ist vereinbart worden, Tagesordnungspunkt 12 — Erhalt der Buchpreisbindung — ohne Aussprache an die Ausschüsse zu überweisen. Außerdem soll Tagesordnungspunkt 19r — Aufhebung einer Immunität — nach Tagesordnungspunkt 9 aufgerufen werden. Die Punkte ohne Aussprache werden vor der Fragestunde aufgerufen.Sind Sie damit einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes— Drucksache 12/6717 —Überweisungvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Post und Telekommunikationb) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation— Drucksache 12/6718 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Post und Telekommunikation Rechtsausschußc) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur änderung des Postverfassungsgesetzes— Drucksache 12/4329 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Post und Telekommunikation Rechtsausschußd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Ilja Seifert, Bernd Henn und der Gruppe der PDS/Linke ListeReform der Deutschen Bundespost— Drucksache 12/6635 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Müller.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Daß wir erst heute, nach mehr als anderthalb Jahren Verhandlungen und Vorverhandlungen über einen gemeinsamen Entwurf zur Postreform II, die Einbringung erleben können, liegt eindeutig an den Verzögerungen durch die SPD.
schon wieder los!)Es ist für die parlamentarische Demokratie wahrlich kein Ruhmesblatt, wenn wir bis zum Dienstagabend das öffentliche Schauspiel erleben mußten, wie eine Gewerkschaft in eine Fraktion hineinregiert und sich, wie wir lesen konnten, sogar anmaßt, Abgeordnete unter Druck zu setzen.
Die Deutsche Postgewerkschaft ist das Negativbeispiel für gnadenlose Interessenvertretung auf Kosten der Allgemeinheit.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist in alle Gespräche der letzten Monate von Anfang an mit pragmatischen Vorstellungen und mit Sinn für das Machbare gegangen. Die Eckpunktepapiere vom Dezember 1992 und vom Juni 1993 beinhalten bereits nahezu alle die Lösungen, die wir schließlich auch im Verhandlungswege erreichen konnten. In der Verhandlungskommission war von Anfang an unstrittig, daß im Hinblick auf das zukünftig zu erwartende wirtschaftliche Umfeld der drei Postunternehmen eine Postreform II unumgänglich ist. Kein vernünftiger Mensch in Deutschland hat das anders gesehen. Ich danke deshalb ausdrücklich dem Deutschen Postverband, der Christlichen Gewerkschaft Post, dem Verband Deutscher Post-Ingenieure und anderen Organisationen der Arbeitnehmerseite der Postunternehmen, die diese Verhandlungen im Gegensatz zur Postgewerkschaft nicht mit einer Vogel-Strauß-Politik, sondern mit konstruktiven und zukunftsorientierten Anmerkungen uns gegenüber begleitet haben.
Denn oberstes Ziel unserer Verhandlungen war, eine Reform in Verantwortung gegenüber den Postunternehmen und den rund 700 000 Mitarbeitern zu entwerfen.Die Post braucht eine gute Ausgangsposition für ein Bestehen im zukünftig liberalisierten Markt. Wir müssen so viele Arbeitsplätze wie möglich sichern und neue hinzugewinnen, und zwar durch aktives Handeln und nicht durch schicksalsergebenes Abwarten. Die Postreform I, die vor vier Jahren in Kraft getreten ist, hat uns wesentliche Freiräume zur Einleitung vor
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Elmar Müller
allem der organisatorischen Umwandlung in Aktiengesellschaften gegeben.Die jetzige Reform ist eine konsequente schrittweise Entwicklung weg von der Behörde Deutsche Bundespost hin zu leistungsfähigen, am Markt orientierten und wettbewerbsfähigen Unternehmen. Allerdings ist das zu ändernde Gesetzeswerk außerordentlich umfangreich, mehrere hundert Gesetze sind zu berücksichtigen, und das Bild vom Zwerg, der den Walfisch grillen will, ist aus der Sicht des einzelnen Abgeordneten hier durchaus angebracht.Auch die Dimension der Umwandlung ist in Deutschland, ja in Europa einmalig. Betroffen sind rund 700 000 Beschäftigte. Volkswirtschaftlich sprechen wir von Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von zusammen rund 90 Milliarden DM und weiteren 80 Milliarden DM Bilanzsumme bei der Postbank. Eine solche Privatisierung hat es meines Erachtens noch nie gegeben.Meine Damen und Herren, diese Postreform stellt die Weichen in die Zukunft. Ordnungspolitisch ist das Auslaufen der Gesetze zum 31. Dezember 1997 ausreichend, da dies ein noch überschaubarer Zeitraum ist und damit auch dem Beschluß des Ministerrats der Europäischen Union Rechnung getragen wird, nach dem die Monopole im Telefondienst zur gleichen Zeit auslaufen sollen. Längerfristige gesetzliche Terminierungen, etwa bis zur Jahrtausendwende, hätten zwar den Charme einer politischen Wettervorhersage, aber keinerlei ordnungspolitische Konsequenz. Zum einen gibt es darüber noch keine verbindliche Regelung der Europäischen Union, zum anderen wird die technische Entwicklung nach meiner festen Überzeugung alle derartigen politisch motivierten Festlegungen überholen und ad absurdum führen.Die Befristung der Monopole muß im europäischen Gleichklang erfolgen. Dies ist, glaube ich, auch unter Abwägung aller Gesichtspunkte der einzig richtige und gangbare Weg. Wir werden hier auf eine zügige Entwicklung hinwirken, aber wir wollen nicht einseitig unseren Kommunikationsmarkt für andere öffnen, auf deren Märkte wir selbst nicht gelangen können.Die Grundgesetzänderung ist die Voraussetzung für eine gemeinsame politische Lösung. Ich sage ganz offen: Wir haben so manches an Formulierungen zugelassen, weil wir für diese Reform keinen Schönheitspreis gewinnen wollten, sondern weil wir mit pragmatischen Lösungen eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat herbeizuführen haben.Leider konnte sich die SPD bis heute aus der Umklammerung der Postgewerkschaft nicht völlig lösen. Ich erwarte, daß wenigstens heute in der öffentlichen Aussprache ein klares Wort gegenüber Herrn van Haaren zu hören ist.
Gesetze werden nicht von Gewerkschaftsfunktionären, sondern von frei gewählten unabhängigen Abgeordneten gemacht.
Meine Damen und Herren, wenn es um die Zukunft geht, dann muß die SPD jetzt schlicht ideologischeVerkrampfungen lösen und sich pragmatisch den Aufgaben der Zukunft stellen. Ich respektiere und nehme ausdrücklich zur Kenntnis, daß sich eine ganz klare Mehrheit der SPD, und zwar wohl auch durch die sachliche Auseinandersetzung am vergangenen Dienstag, für die Präzisierung und die Einbringung der Gesetze ausgesprochen hat. Dies ist vor allem — ich sage das in aller Klarheit — der Kompetenz und der Beharrlichkeit des Kollegen Bernrath zu verdanken.
Die Gewerkspositionen, noch immer getragen von einer Minderheit innerhalb der SPD, erwiesen sich immer deutlicher als fernab von jeder Realität. Sie ignorieren schlicht die bereits heute zunehmende Liberalisierung auf dem europäischen Markt und halten die Augen verschlossen vor den technischen Entwicklungen, die nicht nur den Randbereich, sondern heute bereits die Kerne der Monopole aushöhlen. Die Vorschläge der Gewerkschaft zeigen deren Angst vor der Zukunft, sie greifen zu kurz, und sie sind zur Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen völlig ungeeignet.Ich wiederhole an dieser Stelle noch einmal: Wir, der Deutsche Bundestag, sind nicht dazu da, die Pfründe der Deutschen Postgewerkschaft auf Dauer zu sichern. Wenn die Strategie der Gewerkschaft und damit auch die Strategie des Vorsitzenden des Postausschusses, des ansonsten sehr löblich arbeitenden Herrn Kollegen Paterna, letztendlich aufgegangen wäre, dann wäre damit dem Personal und den drei Unternehmen ein Bärendienst erwiesen worden.
Ich hoffe, Herr Kollege Paterna, daß Sie im Zuge der Ausschußberatungen Ihre Meinung dazu gründlich ändern.Meine Damen und Herren, mit der Einbringung der Gesetze zur Postreform II sind wir auf dem richtigen Weg, die Postunternehmen in einen zukunftsorientierten und voll erfolgversprechenden Wettbewerb zu führen. Die Liberalisierung des Marktes kann schrittweise erfolgen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird gestärkt. Die Infrastruktur und damit die Angebote an Dienstleistungen für die Bevölkerung — ob im Bereich der technischen Kommunikation, ob im Bereich der Post- und Frachtdienste oder der Postbankdienstleistungen — bleiben zum Wohle unserer Bevölkerung selbstverständlich und gesetzlich verankert gesichert.Wenn diese Reform scheitern würde, dann dürfte uns ein vorsätzliches oder fahrlässiges Verschulden vorgeworfen werden.Danke schön.
Als nächster spricht jetzt der Kollege Hans Gottfried Bernrath.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die
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Hans Gottfried BernrathSPD hält die Postreform II mit der Privatisierung der Unternehmen der Post für unumgänglich. Dies nicht zuletzt, weil die Postreform I ihrer dilettantischen Anlage und vor allen Dingen auch ihrer dilettantischen Durchführung wegen kläglich gescheitert ist.
Die dafür Verantwortlichen sitzen heute leider nicht hier. Sie wissen, aus welchen Gründen sie sich verdrücken.Die Privatisierung ist eine, wenn nicht die einzige, Zukunftschance für Telekom, Postdienst und Postbank und damit auch für ihre Mitarbeiter. Sie schafft die Voraussetzungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit auch international und für eine stärkere Kapitalkraft der Unternehmen.Sie beendet die immer ungleicher werdende Auseinandersetzung mit den ständig stärker werdenden Wettbewerbern. Die gegen Mitte bis Ende des Jahrzehnts aus der Europäischen Union zu erwartenden verbindlichen Liberalisierungsentscheidungen, z. B. zunächst der Wegfall des Telefonmonopols, werden nur von Unternehmen bewältigt werden können, die eine in Europa kompatible, synchronisierbare Rechtsform haben.Die daraus resultierende Steigerung der Leistungskraft der Unternehmen wird namentlich Verbrauchern und Kunden zugute kommen. Aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Unternehmen der Post — um die 700 000 — werden mit dem Neuanfang günstigere Perspektiven als zuvor haben, zumal ihre erworbenen Rechtspositionen unangetastet bleiben und durch die Reform wirtschaftlich eher solider und vor allen Dingen auch langfristiger abgedeckt sein werden.
Das sieht auch die SPD so, und das sieht auch die Deutsche Postgewerkschaft so. Denn beide, vor allen Dingen auch die Postgewerkschaft, haben in den Verhandlungen nicht Angst vor der Zukunft gezeigt, sondern sie haben sich besorgt gezeigt über die soziale Willkür der großen Unternehmen, die wir gerade in diesen Monaten erleben: rigorose Nutzung der Krise für Entlassungen, für Freisetzungen, für Sozialabbau usw. Das ist wahrlich kein Motiv für ein Mitwirken an dieser Reform.Weil die Situation so ist, wie ich eben gesagt habe, stimmt die SPD-Bundestagsfraktion der Einbringung dieses Gesetzespakets auch unter ihrem Namen zu. Wir haben es gefördert, nicht verzögert, Herr Kollege Müller. Die Verzögerung lag insbesondere in Ihrer stets schlechten Vorbereitung begründet,
in einer mangelhaften Konzeption — das können Sie heute noch einmal in Zeitungen lesen, die Ihnen nahestehen — und in der Notwendigkeit, unsererseits stets zur Konkretisierung beizutragen, weil bei Ihnen das alles ein wenig offen vor sich ging, so unter der Überschrift „Wenn wir's machen, wird's schon was."Die SPD hat auch ein Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit der Deutschen Postgewerkschaft gehabt. Wir haben darin auch eine wichtige — und Sie werden später erst erkennen, wie wichtige — Voraussetzung für ein Gelingen dieser Reform gesehen. Jedenfalls haben wir einen regelmäßigen Austausch mit der Postgewerkschaft für fruchtbarer gehalten als Ihre Frühstücke mit den Bankenvorständen, was einer rein einseitigen, lobbyistisch orientierten Politik entsprach.
— Herr Müller, Sie brauchen heute bloß in die Presse zu sehen, dann finden Sie dort alle Mängel aufgeführt. Dort können Sie nachlesen, wie stark wir auch in dem schrittweisen Vorgehen unterstützt werden, damit diese Reform jetzt solide angelegt wird und wirklich zum Gelingen führt.
Es soll nicht wild reguliert werden — ich komme darauf zurück —, denn damit wird eine konzeptionelle Eingliederung in die europäische Entwicklung unmöglich gemacht.Für uns waren folgende Gesichtspunkte besonders wichtig: die zunehmende Dynamik des Kommunikationsmarktes, die wachsende Internationalisierung in diesem Sektor, die Sicherung einer modernen flächendeckenden Infrastruktur in der Telekommunikation, bei der Post, aber auch bei der Postbank, die Schaffung klarer regulatorischer Rahmenbedingungen für die nationalen Märkte, nicht zuletzt in der Zeit bis 1998 als Vorstufe für die Liberalisierung.Ich stimme dem zu, was ich heute morgen in einer Zeitung gelesen habe, nämlich daß gerade die Regulierung weitsichtig angelegt sei, aber schrittweise aufgebaut werden muß, damit es nicht zu insularen Entwicklungen kommt, die wir nachher nicht mehr verknüpfen können.Diese Gesichtspunkte spiegeln auch die Bedeutung der Postreform II für die Unternehmen der Post wider, die einen hohen Eigenkapitalbedarf haben, weil sie zunehmend investieren müssen, beispielsweise im Telekommunikationssektor, vor allem aber auch, weil sie zusätzlichen Investitionsbedarf in den neuen Ländern haben und weil sie — vor allen Dingen Telekom und Postdienste — derzeit massiv unterkapitalisiert sind und daher auch hohen Fremdkapitalbedarf haben.Dieser Kapitalbedarf kann ohne immense Belastungen öffentlicher Haushalte unter den heutigen Bedingungen nicht und künftig nur in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, also unter Mobilisierung privaten in- und ausländischen Kapitals, gedeckt werden. Insofern mußten wir — das sage ich ausdrücklich — zwangsläufig auf die Durchsetzung unseres Reformmodells, das eher öffentlich-rechtlich angelegt ist, verzichten. Während der langen Beratungsphase hatten sich die Voraussetzungen völlig verändert.Die Rechtsform der Aktiengesellschaft ist aber auch Voraussetzung für verstärkte internationale Aktivitäten sowie für das Eingehen strategischer Allianzen.
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Hans Gottfried BernrathSie macht die Existenzsicherung einer flächendekkenden Postbank nur als Vollbank in privater Rechtsform aussichtsreicher. Sie stärkt die Wettbewerbsfähigkeit durch flexiblere personalrechtliche und personalwirtschaftliche Möglichkeiten.Schließlich soll auf diese Weise der gleiche Zugang zu gleichen Leistungen bei gleichen Preisen ermöglicht werden. Das erfordert eine hochleistungsfähige Angebotsstruktur. Diese umfaßt die Anwendung von Regulierungsgrundsätzen einschließlich sozialer Ergänzungen. Dazu gehört vor allen Dingen, daß die Infrastrukturverpflichtungen für alle Wettbewerber gelten müssen, die der einheitlichen Bedienung aller Regionen, Stadt und Land, sowie aller Branchen dienen.In diesem Zusammenhang soll die Bundesregierung, meinen wir, schon im Vorfeld der angestrebten Umwandlung der Unternehmen darauf hinwirken, daß die jetzt vorhandenen Dienstleistungsstrukturen in internationale Angebotsverbände einbezogen werden. Damit soll insbesondere der dauernde Versuch, Lücken in den derzeitigen Nutzungsregelungen zum Nachteil der Telekom und der Postdienste zu umgehen, begrenzt werden.Die Kernelemente der vorliegenden Gesetzentwürfe kennzeichnen sich in folgenden Positionen: Umwandlung in Aktiengesellschaften, Infrastruktursicherung, Errichtung einer Holding als Anstalt des öffentlichen Rechts, einer Holding Deutsche Bundespost sowie Kapitalmehrheit beim Bund für Postdienst und Telekom für mindestens fünf Jahre. Über letzteres werden wir uns noch unterhalten müssen. Wir wünschen eine unbefristete Kapitalmehrheit oder eine Kapitalmehrheit, deren Aufgabe von der Zustimmung des Bundesrates abhängig gemacht wird.Das Personal verbleibt wie bisher bei den Unternehmen. Wir überlegen mit den Vertretern des Personals noch, wie wir den öffentlich-rechtlichen Bedingungen, die sich aus dem Status der Beamten ergeben, besser gerecht werden können. Die Aufgaben der Holding, also der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation, sollen sich wirksam beziehen auf die Wahrnehmung der Eigentümerfunktionen für den Bund, den Verlustausgleich aus Dividenden zugunsten der Post-Aktiengesellschaft und auf die Verwendung der Veräußerungserlöse aus den Bundesanteilen an den Aktiengesellschaften. Außerdem soll sie Zuständigkeiten gegenüber den Unternehmen in der Koordinierung, im Abschluß von Manteltarifverträgen und bei den sozialen Aufgaben haben.Ich betone ausdrücklich — auch darüber werden wir noch einmal sprechen müssen —: Wir erkennen natürlich die Bedingungen, die sich aus Art. 9 unserer Verfassung und aus den aktienrechtlichen Regelungen ergeben.Im Überleitungsgesetz wird auch geregelt — das halten wir für wesentlich —, daß der Postdienst an der Postbank einen Anteil von mindestens 12,5 % hält, der Bund einen solchen von 12,5 % plus einer Aktie, und zwar für einen Zeitraum von vier Jahren. Damit haben sie zusammen in dieser Zeit die Sperrminorität. Der Postdienst darf nach dieser Regelung bis zu 87,4 % der Aktien der Postbank erwerben.Wichtig ist auch, daß wir bei der Mitbestimmung eine Verständigung erzielt haben. Wir konnten zwar unsere Forderung der uneingeschränkten Mitbestimmung nicht durchsetzen. Sie haben aber zugestimmt, daß wir im Rahmen des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 die Wahrnehmung des Zweitstimmrechts so regeln, daß der Aufsichtsratsvorsitzende das Zweitstimmrecht erst nach dem Versuch ausübt, über die Ausschüsse eine Einigung in strittigen Fragen herbeizuführen. Das ist das sogenannte Krupp-Modell, das es seit Jahren im Ruhrgebiet gibt, aber noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Schon die Tatsache, daß es eine solche Vorschrift gibt, hat dazu beigetragen, daß sich die verschiedenen Bänke im Aufsichtsrat immer haben einigen können.Die Pensionslasten werden wie bisher von den Unternehmen getragen. Der Börsenerlös soll aber überwiegend für die Stärkung der Finanzkraft und die Bildung von Rückstellungen, auch Rückstellungen zur Minderung der Risiken aus den Pensionslasten, verwendet werden. Das ist übrigens auch eine Form günstiger Finanzierung der Unternehmen, weil die Rückstellungen nach der Bilanz ausgewiesen werden und günstiger als Darlehen, also als Fremdkapital, sind, während es sehr schwer sein wird, den Börsenerlös unmittelbar in die Eigenkapitalbasis der Unternehmen einzuführen.Die Rechte des Personals werden gesichert. Wer im Beamtenstatus verbleiben will, kann das. Wer langfristig beurlaubt werden will, wird zur Wahrnehmung einer Tätigkeit bei den Unternehmen beurlaubt. Das liegt dann im dienstlichen Interesse. Damit werden die Versorgungsansprüche fixiert.Die bisherigen Arbeitsverträge und Tarifverträge gelten weiter. Sie müssen auch weitergelten, bis sie durch neue Tarifverträge, die zwischen den Tarifpartnern verhandelt werden, abgelöst werden können. Auch das ist eine Maßnahme der Vertrauensbildung, die Sie nicht geringschätzen sollten. Davon gehen wir jedenfalls aus, und wir werden das im Ausschuß noch einmal klarstellen.Alle personalrechtlichen und personalfachlichen Entscheidungen liegen — jedenfalls soweit es um die Dienstherrenbefugnis geht — bei den Unternehmen. Ich wiederhole: Wir haben sichergestellt, daß das Betriebsverfassungsgesetz mit nur wenigen Sonderregelungen für Beamte einheitlich auf das gesamte Personal der künftigen Unternehmen angewendet wird.Wir haben alle Möglichkeiten zur Statussicherung und zur Altersversorgung der beurlaubten Beamten genutzt. Die beschlossene Vorruhestandsregelung wird uns bei den personalwirtschaftlichen Problemen helfen. Alle Sozialeinrichtungen der Post werden ohne erneute Bedarfsprüfung weitergeführt werden können.Damit werden über die Postreform II nicht nur die sozialen Bedingungen und die Interessen der Mitarbeiter berücksichtigt, sondern auf diese Weise wird auch die Motivation der Mitarbeiter und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessert, wodurch in erheblichem Umfang Arbeitsplätze gesichert werden. Darum schafft die Postreform II eine finanzielle Stabilität der Unternehmen, sie verbessert
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17926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Hans Gottfried Bernrathdie Umsatz- und Ergebnischancen im Wettbewerb, sie sichert Arbeitsplätze, und sie öffnet den Unternehmen die internationalen Märkte.Nicht zuletzt werden über ein Regulierungsgesetz auch die öffentlichen Interessen wirksam gesichert. Ich sage hier noch einmal: Das ist so angelegt, daß weitsichtig reguliert werden kann: zunächst die Regulierung innerhalb des BMPT, der Aufbau einer Instanz mit einer weitestgehenden funktionalen Selbständigkeit, die Beteiligung der Bundesländer über einen Regulierungsrat, der sich paritätisch aus Bundestag und Bundesrat zusammensetzt. Bei allen Entscheidungen wirkt dieser Regulierungsrat, der Initiativ- und Beschlußrechte hat, mit.Ich sage hier ausdrücklich: Uns wäre lieber, wir würden darauf verzichten, die Einrichtung für die Regulierung im Ministerium aufzubauen. Aber das ist eine Lieblingsidee des Postministers. Die Beamten haben ihn davon überzeugt, daß ihre Existenz lebensnotwendig ist. Wir sehen das völlig anders, zumal sich während der Beratungen gezeigt hat, mit welchem Dilettantismus dort beraten worden ist und mit welcher Zögerlichkeit die notwendigen Entscheidungen vorbereitet wurden. Auf ein solches Ministerium werden wir weitgehend verzichten können.
Unser Vorsitzender hat ja schon angekündigt, daß nach dem zu erwartenden Wahlsieg der Sozialdemokraten das Ende für das Postministerium gekommen sein wird.
— Ihre Unruhe verstehe ich. Aber nutzen Sie die letzten Monate noch zur Zusammenarbeit mit uns. Dann machen Sie wenigstens zum Schluß noch einen guten Eindruck.
Wir machen aber auch darauf aufmerksam, verehrte Damen und Herren, daß die Einbringung von unserer Seite konditioniert wird und die Schlußabstimmung vom Ergebnis der Beratungen im Ausschuß abhängig gemacht wird. Ich will die Stichworte nennen — Sie kennen die Positionen; sie wurden eben schon angedeutet —: Wir fordern die verfassungsrechtlich abgesicherte Mehrheit des Bundes bei den Unternehmen, und zwar unbefristet, oder bei Aufgabe der Beteiligung die Zustimmung des Bundesrates, also ein zustimmungspflichtiges Gesetz. Wir wollen den Infrastrukturauftrag noch stärker sichern und einen flächendeckenden Zugang bei vergleichbaren Preisen gewährleisten. Hinsichtlich der rechtlichen Ausgestaltung in diesem Zusammenhang wollen wir differenzierte Lösungen mit Blick auf die Gelbe Post und die Telekom. „Differenzierte Lösungen" heißt: Wir werden bei der Telekom sehr schnell handeln müssen, wir können uns aber sehr wohl überlegen, wann wir was bei der Gelben Post tun, weil sie beispielsweise die Voraussetzungen für eine Börseneinführung in absehbarer Zeit noch nicht haben wird.Die Sicherung der Verkaufserlöse zur Stärkung der Finanzkraft der Unternehmen ist ganz wesentlich; ich habe es angedeutet. Wir streben eine Minderung der Lasten aus den Pensionsverpflichtungen und dieVerbesserung der Eigenkapitalgrundlage an, auf welche Weise auch immer wir das machen werden. Wir wollen, daß uns das von Ihnen nicht nur als Zusage zugestanden wird, sozusagen genehmigt wird, wie Sie eben gesagt haben, Herr Müller. Sie hätten ja manches zugelassen, sagen Sie. Sie haben uns aber eingeladen mitzumachen, und Sie mußten froh sein, daß wir mitgemacht haben. Sonst säßen Sie jetzt auf dem Scherbenhaufen Postreform I.
Ich würde bei der Wortwahl denen gegenüber freundlicher sein, die Sie jetzt zum Ziel tragen.
— Herr Schulhoff, als Düsseldorfer und Nachbar, halten Sie sich zurück!Wir wollen, daß eine verbindliche Zusage entweder über das Artikelgesetz oder in vergleichbarer Qualität beschlossen wird.Die Rahmenbedingungen für eine institutionelle Zusammenarbeit zwischen Postdienst und Postbank sind zu verbessern, Graf Lambsdorff, und zwar nicht, indem wir Risiken aus der Post auf die Postbank verlagern. Da stimme ich Ihnen völlig zu; Sie haben das einmal so ausgedrückt. Das kann natürlich nicht gehen. Die Post muß die Chance, jetzt ohne die Fesseln, die sie bisher hatte, in den Wettbewerb gehen zu können, nutzen können. Aber in der Bedienung der Fläche ist, auch was die Wirtschaftlichkeit angeht, eine Zusammenarbeit mit den Postdiensten eine wichtige Voraussetzung.Zu den Rechten der Beschäftigten, insbesondere zu den tarifvertraglichen Regelungen, habe ich eben schon das Notwendige gesagt. Die Schutzwirkung aus den bestehenden Tarifverträgen darf nicht aufgelöst werden. Die Versorgungsansprüche müssen nicht nur über die Nutzung der Börsenerlöse gesichert, sondern auch institutionell, also über eine gesetzliche Garantie des Bundes, ausdrücklich noch einmal auch in Richtung Unternehmen erklärt werden.Eine zügige Nachversicherung bei Statuswechsel ist notwendig — auch von uns gefordert —, nicht erst Nachversicherung bei Eintritt des Versorgungsfalles. Die Bundesanstalt für Versicherung braucht dieses Geld — wir haben es auf bis zu 500 Millionen DM jährlich limitiert —, wenn es so viele Übernahmen aus dem Beamtenverhältnis in das Tarifverhältnis gibt.Wir regen an, Herr Minister, daß Sie schon während der Beratungen im Postausschuß Verhandlungen mit der Deutschen Postgewerkschaft zur Erarbeitung der Einzelregelungen für die Personalüberleitung, also in dem Rahmen, den wir vorgegeben haben, führen. Und ich sage noch einmal ausdrücklich — die Redezeit läuft ab —: Die Manteltarifzuständigkeiten müssen gestärkt werden, die Unternehmen müssen sich zu einer Tarifgemeinschaft zusammenschließen.Die Dienstherrenbefugnis muß bei den Unternehmen liegen, die Dienstherreneigenschaft wollen wir an die Holding geben.Es darf keinen Vorgriff auf die Deregulierungsentscheidungen der Europäischen Union geben. Hin-
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Hans Gottfried Bernrathsichtlich beantragter, eingeleiteter und für 1994 geplanter Regulierungsentscheidungen haben wir eine Verabredung darüber getroffen, was noch durchgeführt wird und was nicht oder was nach den vereinbarten Regulierungsschritten getan werden kann. Das wird sinnvoll und auch im beiderseitigen Einvernehmen geschehen. Das gilt vor allen Dingen auch für die Infopost; denn Sie wollen ja lebenskräftige, wettbewerbskräftige Unternehmen und nicht vorher demontierte Unternehmen haben. Darum auch präziser gefaßte Regulierungsziele mit sozialer Komponente. Zur Regulierungsinstanz habe ich eben das Notwendige gesagt.Meine Damen und Herren, die mit der Materie vertrauten Kolleginnen und Kollegen werden feststellen, daß unsere Konditionen keineswegs unüberwindliche Hürden für einen Konsens sein werden, wohl aber Voraussetzungen für einen sinnvollen Übergang aus der jetzt sehr verkrusteten Organisationsform der Unternehmen hin zu einer dann dem Wettbewerb geöffneten Unternehmensstruktur.Eine befriedigende Lösung der oben angedeuteten Punkte in den Ausschußberatungen ist für eine abschließende Zustimmung der SPD ebenso unerläßlich wie die einvernehmliche Formulierung der in der interfraktionellen Verhandlungskommission noch nicht beratenen Art. 8 bis 14. Das müssen wir noch machen. Und ich erinnere daran, daß der Begründungstext — ich will mich dazu nicht auslassen — ausgetauscht werden muß.Ich habe die sichere Erwartung, daß es klappt, vor allen Dingen dann, wenn wir bei den Beratungen im Ausschuß auf Mehrheitsentscheidungen verzichten, also mit dem Ziel der Einigung verhandeln. Das haben wir ja vor. Ich hoffe darum auf sachbezogene, intensive und straffe Beratungen.Ich betone noch einmal: Die SPD-Fraktion stimmt aus den eben angedeuteten Gründen der Einbringung zu.Danke schön.
Als nächster spricht der Kollege Jürgen Timm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Staatsunternehmen der Deutschen Bundespost hat sich die Welt verändert.
Die Hochtechnologie in der Kommunikation hat in den letzten Jahrzehnten Riesensprünge getan, sie hat im wahrsten Sinne des Wortes alle Grenzen gesprengt. Jetzt müssen auch die Fesseln fallen.Andere Staaten in Europa und der Welt haben ihre Maßnahmen schon lange vor uns eingeleitet und zielstrebig umgesetzt. Nur in Deutschland sind die Postunternehmen noch Behörden, obwohl die meisten Aufgaben gar nicht unter irgendein Monopol fallen müßten, weil sie den Rahmen einer früher einmal durch das Grundgesetz zu schützenden Infrastruktur längst verlassen haben. Es gibt eben nicht mehr nur den Brief, den Telegrafen oder das Telefon.Die internationalen Verknüpfungen in der Telekommunikation lassen Monopole von Staatsbetrieben nicht mehr zu. Der Wettbewerbsdruck ist viel zu groß. Der Wettbewerb aber ist hochnotwendig, wollen wir unserer Verantwortung, flächendeckend ein preiswertes und leistungsfähiges Informations- und Kommunikationssystem anzubieten, gerecht werden.Leider war es nicht möglich, die für unseren Wirtschaftsstandort Deutschland nötigen Entscheidungen so durchzusetzen, daß für potentielle deutsche Unternehmen klar erkennbar wird, wann, wo und wieviel Finanzmittel sie in einer von allen Seiten anerkannten Wachstumsbranche zu investieren haben, wenn es sich lohnt. So werden wir eben nicht die Postreform II, sondern die Postreform Stufe I b verabschieden können.
Das umfangreiche Gesetzesvorhaben, das die Verhandler der Fraktionen politisch vorbereitet haben, bringt mit der Grundgesetzänderung die Voraussetzung für die Schaffung von Aktiengesellschaften aus unseren drei Postunternehmen nach dem deutschen Aktienrecht. Damit ist viel verbunden; insbesondere ist damit auch die Frage der Mitbestimmungsrechte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verbunden. Das wiederum ist die Grundvoraussetzung für die Einwerbung von privatem Kapital an den Börsen, das für die Unternehmen so wichtig ist wie die Luft zum Atmen.Wir alle, unser Parlament und die Bundesländer, stehen in der Verantwortung, diesen Weg konsequent und ohne weitere Einschränkungen frei zu machen; das sind wir vor allen Dingen auch den Beschäftigten in den Postunternehmen schuldig.Herr Kollege Bernrath, wenn Sie gleich zu Beginn der Debatte nach dem, was wir politisch vereinbart haben, Fußangeln auslegen und letztendlich in Frage stellen — das ist der letzte Punkt Ihrer Pressemitteilung, die Sie veröffentlicht haben —, ob die Zustimmung zu diesem Vorhaben von Ihnen überhaupt erlangbar ist, dann geben Sie die Regel auf, die wir uns selbst gegeben haben, nämlich innerhalb der Beratungen keine Änderungen mehr an den politischen Grundsätzen, für die wir uns eingesetzt haben, vorzunehmen.
Es geht z. B. darum, ob der Postdienst bei der Postbank 87,4 % erwerben darf; das wäre genau kontraproduktiv und entspräche überhaupt nicht den politischen Voraussetzungen. Die zweimal 12,5 % der Aktien sind das Minimum, aber auch das Maximum, um diese beiden Gesellschaften in vernünftiger Form unternehmerisch tätig werden zu lassen.
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17928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Jürgen Timm— Ich habe ja gesagt: Das ist das Minimum, aber auch das Maximum dessen, was man für vernünftig arbeitende Unternehmen zulassen kann.
— Das war der Kompromiß. Wenn Sie den nicht mehr aufrechterhalten wollen, dann stellen Sie alles wieder in Frage.Nur moderne, leistungsfähige Unternehmensstrukturen können die Arbeitsplätze sichern und neue Chancen eröffnen. Die Unternehmen müssen die Chancen erhalten, durch kreatives Handeln auch Normen zu setzen. Der große Dienstleistungsmarkt steht ihnen dazu dann offen. Ich habe überhaupt keine Befürchtungen, daß unsere Unternehmen Gefahr laufen könnten, im Wettbewerb unterzugehen. Die Umstrukturierungen müssen nur konsequent durchgeführt werden. Ich habe auch keine Befürchtungen, daß die Beschäftigten keine Motivation aufbringen könnten, die neuen Unternehmen leistungsfähig zu erhalten und zu verbessern. Denn wann wird schon die Gelegenheit geboten, eine so große Sache von Anbeginn an mitzugestalten?Es muß auch mit der falschen Darstellung aufgeräumt werden, es gebe in den Fraktionen unterschiedliche Auffassungen über eine ordentliche und gerecht gelöste Übernahme der Beschäftigten, insonderheit der vielen Beamten, in die neuen Unternehmen. Das Gegenteil ist doch der Fall. Hier zu guten und verträglichen Lösungen zu kommen war von Anbeginn an eine wichtige Sache. Nur die Käseglockenpolitik einiger Strategen der Postgewerkschaft hätte schlimme Folgen für die Unternehmen und die Beschäftigten, wollte man ihr nachgeben. Wir waren es nicht, die zugelassen haben, daß in unseren Fraktionen die Funktionäre der Postgewerkschaft Sitz und Stimme bekommen haben. So kann das nicht funktionieren.
Ich bin auch dagegen, Herr Kollege Bernrath, daß Sie die Mitarbeit der Beamten in unseren Verhandlungsrunden beinahe zum Anlaß für Beschimpfungen dieser Mitarbeit genommen haben.
Sie haben auch Ihnen vernünftig zugearbeitet. Wir haben nicht mit allen möglichen Leuten gefrühstückt; wir haben meistens nur zusammen gefrühstückt und haben dabei beraten und die Texte, die uns vorgelegt wurden, überprüft, ob sie haltbar und richtig sind. Daß wir dann zu einer Einigung in manchen oder in den meisten Punkten gekommen sind, spricht doch eigentlich nur dafür,
daß die Beamten gute Arbeit geleistet haben.
Es muß auch damit aufgeräumt werden, daß wir in der europäischen Entwicklung nur darauf vertrauen können, wann in der EU bestimmte Entscheidungen über die Aufgabe von Monopolen getroffen werden. Wir waren uns doch darüber einig, daß die Liberalisierung der Unternehmensaufgaben und der Märkte in Europa unaufhaltsam ist.Die zeitliche Fixierung von Monopolabbau war abgestimmt mit der Notwendigkeit und der Möglichkeit der Unternehmen Post und Telekom, sich wettbewerbsfähig zu machen. Wir haben uns die Fristen von Jahren ja nicht aus den Fingern gesogen, sondern wir haben genau darüber nachgedacht, was der richtige Zeitpunkt sein kann.Es muß also klar bleiben, daß es nach wie vor unser gemeinsamer politischer Wille ist, den deutschen Unternehmen rechtzeitig und konsequent den Weg in den Wettbewerb freizuschaufeln. In dieser Zeit — gerade jetzt — sind die europäischen Wettbewerber nämlich bereits tätig und dabei, ihre Chancen zu nutzen und sich zu etablieren. Das kann nur zum Nachteil unserer Unternehmen gereichen. Jedenfalls müssen Telekom und Post schnell in die Lage versetzt werden, sich ihren Anteil am internationalen Kommunikationskuchen zu sichern. Ein Moratorium, ein Stillhalten bei der Liberalisierung darf es nicht geben. Das schützt unsere Unternehmen nicht, das ist kontraproduktiv.
Ein ganz wichtiger Punkt ist zweifellos die Frage der Rechte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Übernahme in die neuen Unternehmen. Auch hier gilt: Es gab und gibt keinen Dissens bei der Lösung der aufkommenden Fragen. Ich sehe das so, daß wir überzeugende Lösungen erarbeitet haben. Natürlich bedeutet die Umwandlung der Postunternehmen ein Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienstrecht. Aber das war nicht der Grund für die Entscheidung für Aktiengesellschaften. Der lag in den wirtschaftspolitischen und arbeitsplatzpolitischen Notwendigkeiten. Das haben Sie auch selber gesagt.Deutschland kann sich nicht erlauben, den gängigen internationalen Unternehmensstrukturen kein vergleichbares System gegenüberzustellen. Es ist in der Frage der Infrastruktursicherung und der dazu hoheitlichen Aufgabe des Bundes von Wichtigkeit, daß wir uns mit den Bundesländern verständigen. Im politischen Geschäft ist es nun einmal so, daß jeder auf seine Weise das meiste dazu einfordert.Ich denke, daß auch die Bundesländer nicht wollen können, daß sich bei der hohen Bundesverantwortung, wie sie im Grundgesetz steht, die Mitwirkung des Bundes nur auf den Zahlmeister reduziert. Deshalb ist es auf der einen Seite wichtig, daß die Bundesländer über den zu schaffenden Regulierungsrat ihre Rechte wahrnehmen können. Auf der anderen Seite muß es aber bei der Bundeskompetenz in der Gesetzgebung und auch bei der Entscheidungsfreiheit über das eigene Kapital bleiben. Es wird keine „Post deutscher Länder" geben, sonst wäre das Reformwerk gerade im Hinblick auf die Infrastruktursicherheit falsch angelegt. Die muß in einer Hand bleiben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17929
Jürgen TimmNutzer und Kunden unserer Postunternehmen werden letztendlich den Vorteil der neuen Unternehmensstrukturen durch Verbesserung der Dienstleistung und durch günstigere Tarifgestaltungen haben. Das ist ein wichtiges Ziel, auch wenn es erst endgültig durch den vorläufig noch blockierten Wettbewerb erreicht werden kann.Es ist ja nicht nur wegen der Postreform bekannt, daß uns in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von der SPD Welten trennen. Je schneller der Wettbewerb aber kommt und seine Kräfte freisetzt, um so besser ist es für die Unternehmen und alle Beteiligten, insbesondere für die Schaffung von Arbeitsplätzen.Mit einem weiteren Märchen muß ebenfalls noch aufgeräumt werden; es betrifft die erste Stufe der Postreform. Sie ist nicht mißlungen. Sie war notwendig und konnte den Grundstein für die zweite, eigentlich als letzte angesehene Reformstufe legen. Daß sie bei der Umsetzung mitten in die Wiedervereinigung hineinplatzte, kann man niemandem zum Vorwurf machen. Aber daß bei der jetzt eingeleiteten nächsten Stufe — ich sage I b — zu kurz gesprungen wird, hätte vermieden werden können. Damit steht eine weitere, abschließende Stufe der Reform schon vor der Tür.Die F.D.P.-Fraktion hat den Fortgang des Reformvorhabens zu keiner Zeit blockiert. Allseits einsichtige Forderungen an eine Reform sollten auch in ihr enthalten sein. Wenn denn nun auch nicht alles durchsetzbar war, werden wir uns dem Fortgang der parlamentarischen Beratungen natürlich nicht verschließen. Der gefundene politische Konsens aber darf nicht aufgekündigt werden. Die Beratungen müssen zügig zum Abschluß gebracht werden, damit die in den Gesetzen enthaltenen Kräfte umgehend freigesetzt werden können.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Timm hat darauf hingewiesen, daß die Gewerkschaften in seiner Fraktion weder Stimme noch Sitz, noch Einfluß haben. Das ist wahr. Das merkt man auch an der Politik. Aber ich finde, Sie sollten sich dessen nicht auch noch rühmen.Die Fraktion der Regierungskoalition und die SPD haben gemeinsam ein Gesetzespaket zur Postreform II eingebracht. Diese Reform, die im Kern die Privatisierung der drei bestehenden Postunternehmen durch die Bildung von Aktiengesellschaften vorsieht, findet unsere Ablehnung. Der Bundespostminister hat versprochen, daß durch diese Reform den Kunden noch günstigere Preise angeboten werden. Ich habe da meine Zweifel und glaube, daß die Aussage auch falsch ist und daß es darum gar nicht geht.Es handelt sich nämlich um einen weiteren Meilenstein in der konservativ-liberalen Deregulierungspolitik, und zwar im europäischen Maßstab. Bis 1998 sollen nach Absicht der Europäischen Union die staatlichen Postmonopole fallen. Niemand zwingt allerdings die Regierungskoalition und die SPD dazu, bereits im vorauseilenden Gehorsam vier Jahre früher und dann noch falsch zu reagieren. Eine Liberalisierung z. B. ab 1998 — meinetwegen auch früher — wäre möglich auch ohne Privatisierung — das muß einmal deutlich betont werden — dieser bundeseigenen Postunternehmen.Die Privatisierung hat nämlich folgende negative Konsequenzen. Zunächst einmal wird der Staat geschwächt. Durch die Privatisierung von Telekom z. B. verliert er eine wichtige Einnahmequelle. Diese Lücke muß irgendwie ausgeglichen werden.
Die Rezepte der Bundesregierung sind bekannt, nämlich höhere Neuverschuldung und Abbau sozialer Leistungen.
— Das waren bisher immer bundeseigene Unternehmen. Sie haben damit in der Bundesrepublik Deutschland ganz gut gelebt. Tun Sie doch nicht so, als ob ich etwas vorschlagen würde, was es in der Bundesrepublik nicht gab.
Sozialabbau aber verstärkt die soziale Ungerechtigkeit, führt zu immer mehr Armut, reduziert die Nachfrage und damit den Umsatz in Handel und im Dienstleistungsbereich bis hin zu Produktionsunternehmen und hat dann auch Arbeitsplatzabbau zur Konsequenz.
Zweitens verstärkt der Staat seine Abhängigkeit von der Privatwirtschaft. Schon heute ist er nicht mehr in der Lage, z. B. die Steuerzahlungspflicht großer Konzerne durchzusetzen. Damit der Staat aber seine ordnungspolitische Verantwortung auch und gerade im sozialen und im Steuerbereich wahrnehmen kann, braucht er Eigentum; nicht nur als Einnahmequelle, sondern damit auch das Verhältnis zur Privatwirtschaft in gegenseitiger Abhängigkeit besteht.Wenn Sie die Bahn, die Post, die Lufthansa, die Autobahnen, die staatlichen Immobilien privatisieren und die Kommunen zwingen, ihr Eigentum ebenfalls zu privatisieren, dann bleibt dem Staat fast nichts. Seine Gesetze werden zur Makulatur. Wahlen verlieren an Bedeutung. Denn die Möglichkeiten von Parlament und Regierung zur Regulierung werden immer eingeschränkter. Die Folge wird wachsende Demokratieverdrossenheit sein. Zum Ausgleich müßten Sie den Menschen wenigstens gestatten, die Leitung der Konzerne zu wählen. Aber soviel ich weiß, ist das nicht vorgesehen.
Künftig werden Investitionen wie im Telekombereich in den neuen Bundesländern ausgeschlossen sein. Hier haben Sie ausnahmsweise tatsächlich viel zur Ausgleichung von Defiziten aus DDR-Zeiten
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17930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Gregor Gysigetan. Denn 60 Milliarden DM wurden in diesem Bereich investiert. Es wird nie ein privates Unternehmen geben, das in dieser Größenordnung investieren kann und investieren will.
An die Stelle des staatlichen Monopols wird gar nicht wirklich mehr Wettbewerb treten. Nach einer kurzen Phase wird an die Stelle des staatlichen Monopols privates Monopol treten. Das wissen Sie auch. Das bedeutet, daß Sie im Grunde genommen nur die Gewinne privatisiert haben. Darauf läuft das Ganze hinaus. Die internationalen Konzerne werden sich untereinander abstimmen, wie schon heute die Zusammenarbeit der deutschen Telekom mit der französischen Telecom für die osteuropäischen Märkte beweist.Es geht auch nicht darum, mehr Verbraucherfreundlichkeit zu schaffen. Ich glaube eher, sie wird abgebaut werden. Auch Preissenkungen werden nicht die Folge sein, sondern Preissteigerungen.Die drei Postunternehmen könnten im Interesse einer Liberalisierung als öffentlich-rechtliche Anstalten organisiert werden. Statt dessen sollen sie als Aktiengesellschaften lediglich unter dem Dach einer öffentlich-rechtlichen Holding firmieren. Die Privatisierung sieht nur eine befristete, keine dauerhafte Mehrheitsbeteiligung des Bundes an den künftigen Aktiengesellschaften vor. Immerhin haben Sie von der SPD das mit unterschrieben. Es ist so in den Bundestag eingebracht worden. Wie wollen Sie die staatliche Infrastrukturverpflichtung des Bundes eigentlich einlösen, wenn Sie jegliche staatliche Einflußnahme Schritt für Schritt abgeben?Im übrigen soll die für den Privatisierungsübergang vorgesehene „Bundesanstalt für Post und Telekommunikation" im wesentlichen nur Beratungsfunktion ausüben dürfen.Der Bundeskanzler hat es besonders eilig, wenn er schon jetzt dem Quelle-Konzern im voraus eine Lizenz für die Info-Post zusichert. Gerade die knallharten Marktwirtschaftler werden erläutern können, was das bedeutet und zu welchen Konsequenzen das Ganze führt.
Nun wollen wir uns einmal mit den Dienstleistungen beschäftigen.
Geplant ist beispielsweise die Neuaufteilung des Postdienstes nach Brief, Fracht und Vertrieb, d. h. in Bereiche, wo man Gewinne abschöpfen kann, und in solche, wo man mehr verliert. Danach soll es aufgeteilt werden. Dem Staat bleiben wie immer die Verluste.Das Postdienstkonzept sieht eine Halbierung der Zahl der 384 bestehenden Postämter auf 164 Spartenniederlassungen vor. Die Folgen für ältere Menschen oder für Menschen mit Behinderungen sind ebenso verheerend wie die ökologischen. Denn der Privatverkehr zur Erreichung von Postämtern wird zunehmen.In mehreren größeren Städten soll nach Presseberichten die Zahl der Telefonzellen verringert werden. Von einer flächendeckenden Versorgung und Infrastruktur kann dann keine Rede mehr sein. Es versteht sich fast von selbst, daß diese radikalen Kürzungen von Einrichtungen der Post mittelfristig auch zu Entlassungen bei der Post führen und damit die Massenarbeitslosigkeit verschärfen werden.
Herr Dr. Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller?
Ja.
Kollege Gysi, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß die Halbierung, vor allem die Spartenorganisation der Postämter, ausschließlich den Verwaltungsteil, in keiner Weise aber den Publikumsverkehr betrifft und insofern kein Bürger davon betroffen ist?
Darf ich Sie darauf hinweisen, daß jetzt schon Postämter geschlossen werden, die durchaus den Kundendienst gegenüber Bürgerinnen und Bürgern betreffen, und zwar in nicht geringer Zahl.
Können Sie mir einmal erklären, wie Sie mit einem Privatunternehmen eine Poststelle in einem Dorf ernsthaft aufrechterhalten wollen, die sich nie und nimmer rechnet? Die Wege für die Bürgerinnen und Bürger werden immer länger werden. Das steht fest, und das ist das Entscheidende. Wenn Sie die Verwaltung reduzieren, hat das irgendwann auch Auswirkungen auf die Postschalter und die entsprechenden Dienste. Das ist zumindest meine Auffassung.
Lassen Sie mich noch ein Beispiel nennen. Eine alleinstehende ältere Frau in einem Dorf möchte einen Telefonanschluß haben. Es würde für ein privates Unternehmen — ebenso auch für ein staatliches — eine Menge Kosten verursachen, ihr diese Telefonleitung zu legen. Ihr geht es in erster Linie darum, daß sie Angst hat, nicht rechtzeitig den Arzt anrufen zu können, wenn es ihr einmal nicht gut geht. Sie führt vielleicht 25, 26 Gespräche im Jahr. Dieser Anschluß rentiert sich nie. Wenn man das privatwirtschaftlich organisiert, ist klar, daß diese Frau irgendwann einmal ausgeschlossen wird oder solche Tarife festgelegt werden, daß es für Menschen mit geringen Einkünften unbezahlbar wird.
Wenn Sie hier die Tür einen Spalt aufmachen, wird sie
natürlich irgendwann ganz aufgemacht. Sie bremsen
Dr. Gregor Gysi
das doch nicht mehr; das wissen Sie selbst aus eigener Erfahrung.
Schließlich ist diese Postreform auch mit einem erheblichen Abbau der sozialen, tariflichen und demokratischen Rechte und von Arbeitsplätzen überhaupt verbunden. Beamtete Beschäftigte ohne die vollen Koalitions- und Gewerkschaftsrechte unterliegen den privaten Aktionärsinteressen; soziale Bestandsgarantien fehlen oder werden abgebaut; die betriebliche Mitbestimmung wird eingeschränkt, und es fehlen einheitliche soziale und tarifrechtliche Standards für die Beschäftigten in allen drei Aktiengesellschaften. Neue Beschäftigte erhalten keinen Beamtenstatus, d. h., bei gleicher Tätigkeit wird es einen anderen rechtlichen und sozialen Status geben, was immer problematisch ist.
Bis zu 100 000 Stellen sollen in den kommenden Jahren bei den Postdiensten abgebaut werden. Ich habe gerade von jugendlichen Postgewerkschaftern ein Schreiben erhalten, in dem sie darauf hinweisen, daß von den 3 554 Kommunikationselektronikern bei der Telekom in diesem Jahr nur 150 übernommen werden sollen. Über 3 000 gut ausgebildete junge Menschen sollen in die Arbeitslosigkeit geschickt werden. Und die Bundesregierung stellt sich hier hin und preist ihr mit der SPD verabredetes Privatisierungskonzept an! Das ist der Beitrag beim Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit?
Wir lehnen diese Postreform ab. Wir befürchten einen Abbau der Zahl der bei den drei Postunternehmen Beschäftigten, einen Abbau ihrer sozialen Rechte und der Mitbestimmung, eine enorme Schwächung der Postgewerkschaft, einen drastischen Abbau der flächendeckenden infrastrukturellen Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger. Wir befürchten, daß die Menschen mit geringem bzw. niedrigem Einkommen als Kleinkunden mittels höherer Tarife die Niedrigtarife der Großkunden mitfinanzieren müssen, wie es in Großbritannien und in den USA bereits geschieht. Das kann man sich dort genau ansehen. Die jüngsten Pläne der Telekom, die Telefongebühren zu erhöhen, weisen in diese Richtung.
Lassen Sie mich als letztes sagen, daß wir durchaus für eine Verbesserung der Dienstleistungen sind. Ich habe schon darauf hingewiesen: Liberalisierung ist auch möglich ohne Privatisierung. Dazu bedarf es aber nicht dieser Radikalkur bei den Postdiensten. Post und Telekommunikation sollten durch eine oder meinetwegen auch mehrere Anstalten des öffentlichen Rechts geführt werden. Dabei gilt es, erworbene Versorgungsansprüche der Beschäftigten und die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sichern; denn eine Postreform sollte nur für die und nicht gegen die sozialen, materiellen und demokratischen Interessen der Beschäftigten und unter Nutzung ihres Sachverstands sowie zum Vorteil der Bürgerinnen und Bürger, die auf die Dienstleistungen der Post angewiesen sind, erfolgen.
Als nächster spricht Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gysi, als multifunktionale parlamentarische Mehrzweckwaffe Ihrer Gruppe
hätten Sie besser die Finger von der Postreform gelassen und dies vielleicht denen überlassen, die sich wirklich seit vielen, vielen Monaten mit dieser Frage intensiv beschäftigt haben.
Aber es hat sich gezeigt, daß Sie eben nicht der Postminister sind, sondern ich, und das ist gut so.
— Der Postminister soll abgeschafft werden? Ich stelle fest, daß Herr Scharping im Bund sechs Ministerien abschaffen will, und in Rheinland-Pfalz hat er zwei zusätzliche installiert.
Das ist das, was er so vorhat.
Aber ob ein Ministerium bestehenbleibt oder nicht, entscheidet natürlich nicht der jeweilige Amtsinhaber, sondern das wird an anderer Stelle entschieden, und dem sehen wir ganz gelassen entgegen.
— Das Mikrofon ist nicht eingeschaltet, Kollege Bernrath, Sie brauchen es also nicht in die Hand zu nehmen; das nützt nämlich nichts.Für den Bundespostminister ist es jedenfalls ein besonderer Tag, wenn nach intensiven Verhandlungen und Diskussionen Gesetzentwürfe für eine Postreform II im Deutschen Bundestag in erster Lesung behandelt werden.Ich will jetzt das versuchen, was ich in den Verhandlungen auch immer getan habe, nämlich mich dann, wenn der Streit am größten war, zu bemühen, ihn wieder etwas zu dämpfen und auch vielleicht den einen oder anderen Ausgleich mit herbeizuführen.Vielleicht werden wir das in den kommenden Monaten auch beim Frühstück machen müssen, wobei ich ankündige, daß das etwas weniger sein wird, weil der Bundesfinanzminister im Rahmen der letzten Sparaktion auch mir — wie allen anderen Ministerien auch — Mittel im Haushalt gestrichen hat. Nur, meine Damen und Herren, ich möchte nicht, daß beim Publikum der falsche Eindruck entsteht, als würde man bei uns nur frühstücken und nicht arbei-
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17932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Bundesminister Dr. Wolfgang Bötschten. Das ist natürlich die berühmte Frage: Darf man beim Arbeiten essen? Jeder wird dann sagen: Nein! Aber wenn man fragt: Darf man beim Essen arbeiten? wird jeder sagen: Selbstverständlich, weil das Zeit spart. Und so haben wir es auch gehalten.Meine Damen und Herren Kollegen, der Bereich der Telekommunikation zeichnet sich durch eine hohe wirtschaftliche Dynamik aus und gehört zu den am schnellsten wachsenden Märkten überhaupt. In den letzten 20 Jahren hat sich die ordnungspolitische und organisatorische Landschaft in diesem Bereich weltweit grundlegend geändert. Durch die fortschreitende internationale Öffnung der nationalen Telekommunikationsmärkte richten die zunehmend privatrechtlich organisierten Konkurrenten der Deutschen Bundespost Telekom ihre Strategien immer mehr auf globale Märkte aus. Das ist nicht zu übersehen.
Deshalb wollen wir den Art. 87 des Grundgesetzes ändern, um die Telekom auch in die Lage zu versetzen, international im Wettbewerb zu bestehen, ohne sich von anderen Wettbewerbern immer wieder die Frage gefallen lassen zu müssen, ob denn das nach unserem Grundgesetz überhaupt möglich ist.Einschneidende Konsequenzen ergaben sich auch für die Telekom mit der deutschen Wiedervereinigung. Die 60 Milliarden DM Investitionen, die getätigt wurden oder noch getätigt werden, sind erwähnt worden. Die Eigenkapitalquote ist auch durch diese Investitionen inzwischen auf ca. 20 % gesunken, obwohl im Postverfassungsgesetz 33 % vorgesehen sind. Das heißt, daß durch die Umwandlung der Telekom in eine Aktiengesellschaft und den damit möglichen Gang an die Börse — wir streben das Jahr 1996 an — das Finanzierungsproblem am besten zu lösen sein wird.Auch das Unternehmen Postdienst steht in vielen Bereichen in einem harten Wettbewerb. Für die Postbank ist die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft ebenfalls eine entscheidende Voraussetzung, wenn man im härter werdenden Wettbewerb die Zukunft sichern will. Sie kennen die Prozesse, die im Augenblick ruhen, weil man abwarten wollte, wie das mit der Postreform II weitergeht. Aber das ist ein Zeichen, daß hier Handlungsbedarf besteht; deshalb Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, und wenn ich die heutigen Reden analysiere, gibt es darüber wohl auch keine Zweifel mehr.In Zukunft werden also die im Bereich von Post und Telekommunikation fälligen Handlungen als private Tätigkeiten, und zwar von den bisherigen Postunternehmen und Wettbewerbern, angeboten werden.Die Bundesregierung stellt als hoheitliche Aufgabe dann sicher, daß eine angemessene und ausreichende Dienstleistung flächendeckend angeboten wird. „Wie wollen Sie das sichern?" — diese Frage ist gestellt worden. Wir wollen das sichern durch Auflagen im Sinne der Regulierung.Auch dazu vielleicht ein Wort, weil das für manche natürlich, die sich nicht täglich damit beschäftigen, mißverständlich sein könnte. Wir werden hier keinen Wettbewerb haben wie z. B. zwischen zwei Automobilfirmen oder etwa zwischen zwei Lebensmittelketten oder Lebensmittelhändlern, sondern es wird hier einen regulierten Wettbewerb — ich nehme das Wort in den Mund — geben, nämlich dort, wo der Wettbewerb allein möglicherweise die Infrastruktur nicht sichern kann. Dann ist durch Auflagen bei Lizenzierungen dieser Wettbewerb zu sichern.
— Nein, das ist übereinstimmende Auffassung.
Ich glaube, darüber gab es auch keine Meinungsverschiedenheiten.Meine Damen und Herren, wenn man für ein Gesetzeswerk wie diese Postreform eine Zweidrittelmehrheit benötigt, dann muß man auch Kompromisse eingehen. Kompromisse muß man schon eingehen, wenn man innerhalb einer Koalition ein Gesetzeswerk verabschieden will. Aber wenn man eine Zweidrittelmehrheit anstrebt, denn ist die Sache natürlich noch wesentlich „sportlicher" als die Verhandlungen, die innerhalb einer Koalition zu führen sind. Deshalb gibt es Kompromisse — z. B. bei der Frage der Holding, die vor allem Zuständigkeiten im sozialen Bereich erhalten wird.„Bürokratisch und verwässert" hat heute ein Kommentator seinen Kommentar über das, was wir ausgearbeitet haben, überschrieben. Der Journalist hat das mit dem verglichen, was Anfang Dezember 1992 als Eckpunkte auf dem Tisch gelegen hat.
— Ja, gut. Der Mann hat nur zwei kleinere Dinge übersehen, nämlich erstens, daß damals allgemeine Eckpunkte, nicht aber Gesetzesformulierungen vorlagen, und zweitens, daß dem damaligen Papier weder die F.D.P. noch die SPD zugestimmt hatte. Das ist der Unterschied zu dem, was wir heute haben. Heute haben wir ein Gesetzespaket eingebracht!
Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas — weil das verschiedentlich angesprochen wurde — zu den personellen Regelungen sagen, Die Arbeitsteilung wird von der Koalition nicht akzeptiert, die da etwa lautet: Die Koalition ist für das Geschäftsergebnis der Unternehmen und für den Wettbewerb zuständig, die SPD für die Kunden und die Postgewerkschaft für das Personal. Nein, wir fühlen uns für alle drei Säulen dieser Veranstaltungen zuständig.
— Das merkt man sehr wohl. Deshalb wissen wir— das kommt auch in den Gesetzesvorhaben zum Ausdruck —, daß es hier nicht um irgendwelche Dinge geht, die nun theoretisch auf dem Papier zu lösen sind, sondern daß es wirklich um fast 700 000 Beschäftigte und auch deren Familienangehörige geht. Aber wir können mit gutem Gewissen vor die Beschäftigten treten, wenn wir das vorzeigen, was wir hier gelöst
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17933
Bundesminister Dr. Wolfgang Bötschhaben. Das sollten auch diejenigen, die hier immer noch Fundamentalkritik oder Fundamentalopposition üben wollen, wirklich einsehen. Sie sollten das wirklich einmal in einer ruhigen Stunde durchlesen.Zu dem, was zu den ordnungspolitischen Fragen gesagt wurde, hat der Kollege Timm schon einige Ausführungen gemacht. Ich möchte mich dem anschließen. Es gibt da in der Sache keine Meinungsverschiedenheiten in der Koalition. Ich glaube aber — und ich stehe hinter dem Kompromiß —: Wir haben im Kompromiß jetzt auch hier eine vernünftige Regelung gefunden. Ich möchte mich bei allen, die daran beteiligt waren, sehr herzlich bedanken. Es ist insgesamt ein sachgerechter Kompromiß.
Es ist eine gute und weitreichende Grundlage für die anstehenden Ausschußberatungen.Ich möchte mich bei allen Mitgliedern der Verhandlungskommission wirklich bedanken. Da ich die Kommission ja ein Jahr lang begleiten konnte, weiß ich, wieviel Arbeit investiert werden mußte. Ich bedanke mich bei allen, die dabei waren. Aber, Kollege Bernrath, ich habe Sie ja heute fast nicht wiedererkannt: Ich bedanke mich ausdrücklich auch bei den Damen und Herren Mitarbeitern in meinem Hause und in den anderen Ministerien; denn es war ja nicht so ganz einfach, immer wieder sich ändernde politische Vereinbarungen dann in Gesetzestexte umzusetzen und dies mit den anderen Ministerien abzustimmen. Da darf man wirklich diejenigen, die da wahnsinnige Arbeit geleistet haben, nicht beschimpfen, sondern sie haben unseren Dank verdient.
— Nein, Kollege Bernrath, wenn jemand Gegenstand Ihrer Erregung ist, dann kann nur ich es sein,
denn ich glaube, es ist nicht gut, wenn wir uns hier im Parlament mit den Mitarbeitern auseinandersetzen. Wir sollen uns politisch mit dem auseinandersetzen, der hier die politische Verantwortung hat.
— Herr Bernrath, auch wenn Sie sich jetzt erregen, bedanke ich mich bei Ihnen für die Mühe, die Sie sich gerade persönlich gemacht haben und mit der Sie zum Ergebnis dieses Kompromisses beigetragen haben.
Meine Bitte an alle, die jetzt im Ausschuß wichtige Arbeit zu leisten haben, ist, daß sie diese Arbeit zügig durchführen. Ich weiß, Herr Kollege Paterna, daß Sie als Vorsitzender des Postausschusses dem Ergebnis skeptisch gegenüberstehen. Ich kenne Sie aber gut genug, um zu wissen, daß das für Sie kein Hinderungsgrund ist, als Vorsitzender des Ausschusses ordentlich, fair und so, wie ich das von Ihnen als selbstverständlich erwarte, zu wirken und die Arbeiten im Ausschuß mit voranzubringen.Ich bedanke mich.
Als nächster spricht der Kollege Arne Börnsen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der bisherigen Debatte kam zum Ausdruck, daß Differenzen wohl in erster Linie zwischen der F.D.P. und uns zu sehen sind. Ich möchte auf zwei dieser Punkte eingehen und dabei auch einige Klarstellungen vornehmen.Ich will ganz deutlich sagen, meine Damen und Herren: Wir wollen keinen dauerhaften Schutzzaun um Post und Telekom, aber es braucht eine gewisse Zeit, um die volle Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen, insbesondere der Telekom, herzustellen,
— wie es vereinbart wurde, aber bei Ihnen, Herr Timm, kam zum Ausdruck, daß Sie nicht uneingeschränkt bereit sind, sich auf diesen Termin des 1. Januar 1998 innerlich einzustellen.
Ich sage Ihnen, daß eine vorzeitige und unabgestimmte Aufgabe des Monopols seitens der Bundesrepublik innerhalb der Europäischen Union, wie Sie sie in der letzten Woche gefordert haben, den Industriestandort Deutschland schwächen würde,
weil den externen Anbietern einseitige Vorteile zugeschoben werden — zu Lasten der deutschen Telekom.
— Ich weiß nicht, ob Sie, Herr Graf Lambsdorff, wenn Sie sagen, daß ich keine Ahnung habe, nicht andere Interessen im Auge haben als die der Telekom.
Darüber muß dann auch einmal deutlich gesprochen werden.
Meine Damen und Herren, es wäre unsererseits zudem unsinnig, krampfhaft an den Monopolen festzuhalten, denn wer will verkennen, daß sich die Telekommunikationsbranche zum Megamarkt der Zukunft entwickelt, seitdem die Staaten Europas beschlossen haben, die Monopole aufzuheben. Insofern werden wir uns dem beim besten Willen auch nicht verweigern, ganz im Gegenteil; aber wir wollen es abgestimmt fördern.Es ist eindeutig, daß die Telekommunikation eine Schlüsseltechnologie der Zukunft sein wird, und deswegen wollen wir auch den Wettbewerb, denn nur
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17934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Arne Börnsen
mit dem Wettbewerb wird es möglich sein, die Arbeitsplatzpotentiale mit Hilfe dieser Schlüsseltechnologie zu öffnen und auszuschöpfen. Der Wettbewerb schon im Mobilfunk hat in den letzten zwei Jahren bewiesen, daß die Nachfrage mit dem Wettbewerb eine geradezu boomende Tendenz annimmt und die Markterschließung unerwartet schnell verläuft. Wenn wir die Entwicklung im D-Netz mit der Situation im C-Netz über nahezu zehn Jahre vergleichen, dann zeigt sich hier wirklich ein Schwarz-Weiß-Vergleich, ein Schwarz-Weiß-Bild.Der Wettbewerb zwingt zu Kostenreduzierungen und damit zu Effizienzsteigerungen; die Innovationsfähigkeit der Unternehmen wird permanent gefordert, damit diese am Markt präsent bleiben. Damit wird systembedingt die Wettbewerbsfähigkeit durch Wettbewerb gestärkt, und das wollen wir.Es gäbe auch genügend Beispiele aus den Unternehmen der Post und der Telekommunikation, die diese These belegen. Ich will nur auf den von „Hochtechnologien" geprägten Vorgang der Einzahlung auf ein Postsparbuch hinweisen, um deutlich zu machen, daß hier noch ein langer Weg notwendig ist und auf diesem Weg auch bestimmte Schutzmechanismen greifen müssen. Weitere Beispiele will ich mir allerdings schenken, meine Damen und Herren, weil ich die Börsenfähigkeit der Unternehmen nicht gefährden will.
— Vier Jahre bis Ende 1997 werden reichen, Herr Timm, wenn die anderen Länder genau diesen Weg in der Europäischen Gemeinschaft auch so beschließen. Darüber sind wir uns einig.
Lassen Sie uns aber bitte über einen Punkt hier noch diskutieren, den Sie auch angesprochen haben, Herr Timm, nämlich die Situation zwischen Post und Postbank. Ich möchte einleitend kurz auf die Post eingehen.Es wird manchmal davon gesprochen, daß es — ich zitiere — „ein Ding aus dem Tollhaus" sei, daß wir auch den Postdienst privatisieren wollen, also eine private Rechtsform für den Postdienst finden wollen. Dieser Standpunkt, so sage ich ganz eindeutig, ist falsch; denn es wird verkannt, daß sich auch der Postdienst in einem hart umkämpften Wettbewerb befindet — Beispiel Fracht: 20 % Marktanteil — und daß es nur in einem Teilbereich, nämlich beim Brief, ein Monopol gibt, und auch da wird sich das über den Ablauf der Jahre sicherlich ändern.Die gelbe Post befindet sich also durchaus nicht unter der Glaskuppel staatlich geschützter Tätigkeiten und deswegen in überhaupt keiner anderen Situation als die Telekom, auch wenn der internationale Aspekt bei der gelben Post etwas anders ist. Diese Wirklichkeit muß man erkennen. Wer sich Scheinwelten aufbaut, wird scheitern oder am Gängelband öffentlicher Dauersubventionen enden. Würde man diese Entwicklung provozieren, wäre die Post nicht in der finanziellen Situation, den Infrastrukturauftrag erfüllen zu können; denn dieser muß auch bezahlt werden können. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Infrastrukturauftrag und Regulierung gelten auch für die gelbe Post, also Festlegung eines politisch fixierten Rahmens, in dem sich Wettbewerber, versehen mit Rechten und Pflichten, die über Lizenzen verbindlich auferlegt werden, bewegen können.In der Öffentlichkeit wird oftmals die Befürchtung geäußert, mit der Privatisierung werde sich die Post aus der Fläche zurückziehen. Unser Ziel ist das Erreichen des genauen Gegenteils. Wir wollen die Sicherung der Flächenpräsenz durch Ausbau der Geschäftstätigkeiten von Post und Postbank.Die Regelung im Gesetzentwurf — 25 % plus eine Aktie der Postbank sollen von der Post und dem Bund gehalten werden — erscheint manchem zu gering. Sie übersehen dabei — auch Sie, Herr Timm, und ich bitte, daraufhin noch einmal den Text durchzulesen —, daß festgeschrieben ist, daß es sich um Mindestbeteiligungen handelt.
Unser Ziel, das der SPD, ist es, durch die Meinungsbildung im Ausschuß und auch in der Diskussion mit den Unternehmen der Post und Postbank Wege zu finden und Wege zu weisen, die eine Stabilisierung der Flächenpräsenz ermöglichen. Dieses Ziel kann wie folgt erreicht werden: Die Finanzdienstleistungen der Postbank müssen auf ein auf das größte Schalternetz Deutschlands orientiertes Angebot konzentriert werden und damit der Nachfragesituation breiter Bevölkerungsschichten entsprechen. Dafür ist die Rechtsstellung der Vollbank notwendig, auch wenn nicht alle Elemente ausgeschöpft werden müssen. Mit einer solchen Ausweitung der Geschäftstätigkeiten könnten die Anteile der Postbankdienste an dem Gesamtangebot der Postämter von heute um die 35 % auf weit über 50 % ausgedehnt und damit die Geschäftsbasis für die Postämter verbreitert und so auch deren Existenz gesichert werden.Zur Sicherung des Verbundes der Post mit der Postbank wird eine Mehrheitsbeteiligung der Post angestrebt — wir streben diese an, Herr Timm —, und es wird eine Schaltergesellschaft gegründet. Aber Minderheitsanteile der Postbank können an Kooperationspartner veräußert werden, die das notwendige Know-how für zusätzliche Dienstleistungen einbringen können: Finanzdienstleistungen, Bausparkassendienstleistungen, Versicherungsdienstleistungen.Das alles bedeutet, daß wir dem Unternehmen Post und Postbank die unternehmerische Verantwortung überlassen wollen, oberhalb dieser Grenze von 25,1 % tätig zu werden. Wir wollen sie in den Möglichkeiten, die dann gegeben sind, nicht einschränken; sie sollen sie unternehmerisch nutzen. Insofern ist eine Minderheitsbeteiligung durchaus vernünftig; aber eine optimale Situation für die Post und Postbank kann erst daraus gebildet, erarbeitet werden. Diese Verantwortung werden wir den Unternehmen nicht nehmen. Wir werden ihnen aber Unterstützung dabei zukommen lassen, weil es ein politisches Ziel sein muß, die Präsenz der Post mit der Postbank in der Fläche zu
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17935
Arne Börnsen
sichern. Dies ist nur zu erreichen, wenn wir dieses Instrument intelligent und kreativ nutzen.Meine Damen und Herren, wie soll aber, wenn wir für den Bürger die Dienstleistung in der Fläche sichern wollen, dieses Ziel eigentlich ohne Bildung von Kapitalgesellschaften erreicht werden können? Das ist denn auch eine Antwort auf die Frage: Warum eigentlich auch bei der Post Kapitalgesellschaften, Aktiengesellschaften? Austausch von Kapitalanteilen, Mehrheitsbeteiligung der Post und somit einheitliche Führung der 50 000 Mitarbeiter in den Schalterämtern, Kooperation mit potentiellen Partnern, um die spezifische Situation der Postbank als einen Vorteil zu nutzen, das alles ist nur in der Rechtsform der Aktiengesellschaft sinnvoll und flexibel umzusetzen. Deswegen ist es auch gerechtfertigt, dort diesen Weg zu gehen.Ich sagte es schon und wiederhole es: 12,5 % Anteile der Post und des Bundes an der Postbank sind in unseren Augen keine endgültige und auch keine optimale Lösung. Aber sie ermöglicht es den Unternehmen, im Einvernehmen mit politisch gewollten Zielen aktiv zu werden und eine tatsächlich optimale Lösung zu schaffen. Wir werden diese Entwicklung einleiten — ich hoffe, mit Ihrer aller Unterstützung im Postausschuß — und damit beweisen, daß die Postreform und ein privatisiertes Unternehmen Postdienste im Interesse der Bürger gerade auch des ländlichen Raums liegen.Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält Dr. Graf Lambsdorff.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. — Der Herr Kollege Börnsen hatte die Freundlichkeit — natürlich auch wieder nur so angedeuteterweise —, mir Gelegenheit zu dieser Kurzintervention zu geben. Ich hatte schon darauf gewartet. Es geht ja subkutan in Bonn schon längst um. Das sind Diskussionsmethoden! Dem Herrn Bernrath habe ich wenigstens noch einen Brief schreiben können, weil ich hörte, er recherchiere.
Also, meine Damen und Herren: Es braucht niemand zu recherchieren. Im Handbuch des Deutschen Bundestages steht, daß ich Mitglied des European Advisory Committee von NTT bin — das ist praktisch die japanische Telekom — und daß ich Aufsichtsratsvorsitzender von ALCATEL bin; das ist eine zu 100 % französische Gesellschaft mit 30 000 Arbeitnehmern in Deutschland, davon 3 000 in den neuen Bundesländern, die — wie Siemens, Ericson und AT & T — Lieferant ist.
Herr Börnsen hat nun gemeint, ich verträte ja nicht die Interessen der Telekom. Das ist in der Tat richtig. Sind wir hier Interessenvertreter der Telekom? — Ich vertrete doch nicht die Interessen irgendwelcher Unternehmen! Ich vertrete als Wirtschaftspolitiker die Interessen des Marktes und des Wettbewerbs. Ich will Wettbewerb. Ich will offene Märkte. Wer glaubt, meine Damen und Herren, daß die Lieferfirmen bei privatisierten Unternehmen Vorteile erzielten, der hat keine Ahnung von diesem Geschäft; alle anderen wissen, daß in den privatisierten Unternehmen die Preise sehr viel umkämpfter sind und damit die Profit- und Gewinnerwartungen der Unternehmen zurückgehen.
Wettbewerb brauchen wir, und zwar — darum werde ich mich nachher zur Sache äußern, Herr Börnsen — anderen Wettbewerb als den, den Sie sich unter dem Begriff Wettbewerb vorstellen. Wir brauchen Wettbewerb, offene Märkte für bessere Versorgung der Verbraucher, für eine bessere Infrastruktur und damit für den Standort Deutschland sowie im Sinne einer besseren Versorgung für die Benutzer der Telekom-Einrichtungen. Interessenvertreter von Telekom oder sonst jemandem sollte hier niemand sein.
Ich danke noch einmal dafür, daß Sie die Freundlichkeit hatten, mir die Gelegenheit zu dieser Kurzintervention zu geben.
— Dies hat mit Befangenheit überhaupt nichts zu tun. Die Regeln des Bundestages sind klar. An diese Regeln halte ich mich, und an diese Regeln halten sich andere — —
Ich darf um Ruhe bitten! Es ist doch ein wichtiger Punkt, finde ich, daß der Kollege Lambsdorff eine Stellungnahme abgeben kann.
Haben Sie eigentlich Herrn van Haaren aufgefordert, sich an Befangenheitsregeln zu halten?
Ebenfalls zur Kurzintervention Herr Bernrath.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur zwei kurze Bemerkungen machen, einmal zu Ihrer Intervention, Graf Lambsdorff. Ich möchte ausdrücklich sagen: Natürlich können Sie diese Funktionen wahrnehmen, und Sie haben sie auch ordnungsgemäß angemeldet. Aber es gibt doch keinen Zweifel daran, daß Sie sich befangen erkennen müssen, wenn Sie so ausdrücklich zu Problemen der Marktöffnung, der Liberalisierung unter Einbringung jetzt wichtiger staatlicher Unter-
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17936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Hans Gottfried Bernrathnehmen Stellung nehmen und damit deren Wettbewerbsfähigkeit schon von vornherein belasten.
Ich wäre dankbar, wenn Sie das bedenken würden, insbesondere dann, wenn Sie glauben, unsere Zusammenarbeit mit den Vertretern von 700 000 Mitarbeitern sei etwas Unanständiges
und schränke uns in unserer Handlungsfähigkeit ein. Das finde ich nicht in Ordnung.
Ich muß ausdrücklich noch einmal auf folgendes hinweisen, auch für die kommenden Beratungen — ich sage das an die F.D.P. gerichtet —: Wenn Sie Ihre einseitige Interessenvertretung innerhalb dieses wichtigen Projekts „Liberalisierung unter gleichen Chancen im Wettbewerb" nicht aufgeben und wenn Sie nicht daran mitwirken, diesen Unternehmen, die jetzt 100 Jahre in Staatshand waren und hervorragende Leistungen erbracht haben — siehe neue Lander! —, nun auch eine Chance zu geben, in den Wettbewerb zu kommen, sondern sie von vornherein demontieren oder durch Aufgabe wichtiger Geschäftsfelder einschränken, dann wird es kein gutes Ergebnis geben.Nehmen Sie ernst: Wir entscheiden erst nach Abschluß der Beratungen und nicht heute.
Eine weitere Kurzintervention des Kollegen Timm.
Herr Kollege Bernrath, nun reden Sie hier niemandem ein, daß ausschließlich Sie der Vertreter von 700 000 Beschäftigten sind. Wir haben in diesem Bereich genauso unsere Vertretungen, wie Sie sie sich auch zuordnen.
Das zweite ist: Es gab zwischen uns überhaupt keinen Dissens darin, daß es ein großes Problem ist, 700 000 Beschäftigte in neue Unternehmensstrukturen zu überführen. Warum produzieren Sie dann jetzt einen Gegensatz, der zwischen uns effektiv nicht vorhanden war?
Das dritte ist: Die Unternehmen, die zukünftig potentielle Wettbewerber oder heute Zulieferer für die Telekom sind, werden durch die Privatisierung der deutschen Postunternehmen keinen Vorteil haben, weil sie als Lieferanten für die Telekom auf dem Markt heute bessergestellt sind, als sie in Zukunft gestellt sein werden, wenn der Wettbewerb da ist. Das wollen wir. Daraus können Sie Graf Lambsdorff auch überhaupt keinen Vorwurf machen, denn in diesem Punkt vertritt er vollständig neutrale Interessen.
Jetzt folgt noch eine Kurzintervention von Herrn Urbaniak. Dann beende ich die Kurzinterventionen. Die Standpunkte sind ausgetauscht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für mich ist besonders wichtig, daß Kollege Bernrath auch die Fragen der Sozialverpflichtung und vor allen Dingen der Mitbestimmung erörtert hat. Hier wird davon ausgegangen, daß wir an Mitbestimmung leider nicht das durchsetzen konnten, was wir gern gehabt hätten. Auf jeden Fall aber soll in den Beratungen ein Modell gewählt werden, das uns in dieser Frage ein wichtiges Stück nach vorn bringt. Daher möchte ich mich bei Herrn Bernrath, der sich bei der Mitbestimmungsfrage und bei diesem Mitbestimmungsmodell sehr große Mühe gemacht hat, herzlich bedanken.
In der Rednerabfolge hat jetzt der Kollege Dr. Bernd Protzner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Situation von soeben hatten wir bei den insgesamt dreijährigen Beratungen zur Gesetzgebung wiederholt. Ich bitte darum, daß wir das Erreichte nicht zerreden. Wir haben sehr viel erreicht. Lassen Sie mich das unter dem Stichwort Innovation noch einmal akzentuieren.Nur mit neuen Techniken, neuen Produkten und neuen Märkten läßt sich wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung dauerhaft voranbringen. Wir als Politiker verlangen immer öfter, immer dringlicher und immer nötiger Innovationen. Solche Innovation ist insbesondere bei der Basis unseres Lebens und Wirtschaftens in der Bundesrepublik Deutschland, bei der Infrastruktur, notwendig. Die technischen Standortvoraussetzungen für erfolgreiches Leben und Wirtschaften waren immer eine Stärke der Bundesrepublik Deutschland. Nur ist die Entwicklung alles andere als stehengeblieben. Gerade bei den Wegen des Warenaustauschs und der Nachrichtentechnik vollziehen sich dynamische Entwicklungen. Deutschland muß heute nicht nur mithalten, Deutschland muß hier Rückstände wieder aufholen und durch Innovation neue Vorsprünge herausarbeiten.Wir Politiker neigen dazu, an andere Forderungen zu stellen. Dies gilt auch für die Forderung nach Innovation. Glaubwürdiger für mich ist es, wenn wir selbst mit gutem Beispiel auf dem ureigensten Feld der Politik, der Gesetzgebung, vorangehen. Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes in Art. 87, Post und Telekommunikation, und das begleitende Postneuordnungsgesetz sind eine solche Innovation der Politik. Ich freue mich für die CSU, der ich
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Dr. Bernd Protznerangehöre, daß es ein CSU-Bundesminister ist, der dies mit vorangebracht hat.
Ich kann nur an die SPD appellieren, lieber Kollege Paterna: Es genügt nicht, große Kongresse durchzuführen und große Interviews zu geben und in Talk-Shows aufzutreten und Innovationen zu fordern, aber dann, wenn man kurz davorsteht, hier zu kneifen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Die Infrastruktur im Post- und Fernmeldewesen wird auf neuartige Weise geregelt. Dabei wird der Begriff „Infrastruktur" erstmals — das ist die erste Neuerung — in Gesetzesdeutsch übertragen, und zwar als „flächendeckende, angemessene und ausreichende Dienstleistungen".Wir haben eine zweite Neuerung: nämlich die, daß die Infrastruktur nicht mehr vom Staat und von der Staatsverwaltung erbracht wird. Die „flächendeckenden, angemessenen und ausreichenden Dienstleistungen" werden durch private Tätigkeiten erbracht.Wir haben eine dritte Neuerung: Diese privaten Tätigkeiten werden nicht nur durch die bisherigen Unternehmen wahrgenommen, die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangen sind, sondern ausdrücklich auch durch Wettbewerber.Die vierte Neuerung ist die, daß wir für die Finanzierung der Infrastruktur nicht etwa Steuern erhöhen und neue Steuern erfinden, daß wir auch nicht neue Abgaben einführen und auch nicht etwa in die Staatsverschuldung ausweichen, sondern daß wir das privat finanzieren, daß die Unternehmen das finanzieren. — Lieber Kollege Börnsen, wir brauchen hier keine Prozentrechnung zu betreiben. Die Lage des Staates zeigt ganz deutlich, daß wir bei Privatgesellschaften Privatkapital von anderer Stelle brauchen, daß der Staat dieses Kapital nicht hat.Die fünfte Neuerung ist: Der Bund setzt in diesem Wirtschaftsbereich auf Ordnungspolitik, auf die Ordnung des Marktes und auf die Überwachung der Marktordnung und der Ordnung dieses Marktes. Er bringt hier das Gemeinwohl ein. Er macht nicht mehr, aber auch nicht weniger.In diesem Sinne müssen wir uns auch bewußt sein, daß wir mit unserem Postgesetz ein Stück weiter gekommen sind als beim Eisenbahngesetz, bei der Eisenbahnreform, die wir ja erst vor kurzem hier verabschiedet haben. Dort heißt es: Mit dem Gesetz über die Finanzierung der Schienenwege von Eisenbahnen übernimmt der Bund eine Infrastrukturfinanzierungsverpflichtung für die Schienenwege seiner Eisenbahnen, die nach einem Bedarfsplan ausgebaut werden. — Das haben wir hier nicht. Wir haben hier einen wesentlichen Schritt getan. Wir sind zur Privatfinanzierung der Infrastruktur gekommen.Das ist eine entscheidende Fortentwicklung seit Beginn der Sozialen Marktwirtschaft im Jahre 1949 — ich hätte dies gern auch dem Kollegen Lambsdorff gesagt —
— Entschuldigung! —, und dies entspricht genau den Forderungen, die die Ludwig-Erhard-Stiftung in ihrem ersten ordnungspolitischen Bericht 1994, den wir dieser Tage zugestellt bekommen haben, herausgestellt hat, nämlich Dominanz des Privateigentums und der privaten Organisation von Waren und Dienstleistungen produzierenden Unternehmen, Gewerbe- und Vertragsfreiheit mit Haftung, grundsätzlich freie Preisbildung, effektiven Wettbewerb, offene Märkte.Die Gesetze schaffen das. Sie schaffen das, aber nicht schlagartig, lieber Kollege Lambsdorff, sondern in einem Übergang, der aber sehr kurz ist. Sie schaffen viele freie Märkte, sie schaffen wenige lizenzierte Märkte und noch weniger Monopole, die aufrechterhalten werden, aber lediglich im Übergang. Die Richtung — das ist das Entscheidende — ist eindeutig. Das Ziel ist für alle Beteiligten klar, für die Unternehmen und für die anderen am Markt Beteiligten manchmal viel klarer als für uns im Deutschen Bundestag.Es besteht kein Zweifel: Die Kunden, sowohl die Bürger als auch die Wirtschaft, sind nicht für die Netze der Unternehmen im Bereich der Post und der Telekommunikation da, sondern es ist umgekehrt: Die Netze der Post und der Telekommunikation sind für die Kunden da. Dazu brauchen wir Wettbewerb auch zwischen den Netzen, damit wir kunden- und bürgerfreundlich werden. Die Unternehmen sollten es sich jetzt nicht leichtmachen und nicht versuchen, sich durch gesetzliche Regelungen hier ein Stück Wettbewerb vom Leib zu halten. Der Markt und die Marktentwicklung werden sie einholen und überholen, wie es schon in der Vergangenheit der Fall war.Die Politik hat mit ihrer Innovation der Gesetzgebung eine Vorleistung erbracht. Jetzt sind die Unternehmen und die Unternehmer gefordert, innovativ zu werden: für eine zukunftsträchtige Infrastruktur, für Datenautobahnen, für interaktive Netze, für mehr Informationsfreiheit durch Vielfalt bei Radio- und Fernsehkanälen, für neue Chancen auch für kleinere Zeitungen und Zeitschriften im Postpressevertrieb, für neue Formen des Einkaufens, für eine bessere InfoPost, für neue Wirtschaftlichkeit, für eine bessere Ökonomie und Ökologie bei der Energieversorgung von Privathaushalten, für neue Formen der Arbeit wie Telearbeit und anderes mehr.Logistik und Kommunikation sind Wachstumsbranchen, werden die Automobilwirtschaft in ihrer Bedeutung für das Bruttosozialprodukt einholen und überholen. 10 % sind prognostiziert, ein Markt von 30G Milliarden DM, der von Unternehmern, von Arbeitgebern erschlossen werden muß, damit neue Arbeitsplätze entstehen, auch als Ausgleich für wegfallende Arbeitsplätze durch notwendige Rationalisierungen.Die Erfahrungen in anderen Staaten zeigen, daß erst durch Wettbewerb die Post zur Bürgerpost wird. Nicht durch den Anspruch, sondern durch die Wirklichkeit wird dieses hohe Ziel der Bürgerpost eingelöst. Daher stimmt die CSU für das Gesetzgebungsver-
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Dr. Bernd Protznerfahren. Die Unionsfraktion wünscht einen möglichst raschen Abschluß.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich bedanke mich, Herr Protzner, in meiner Eigenschaft als Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, daß Sie auf unsere ordnungspolitischen Veröffentlichungen aufmerksam gemacht haben. Ob allerdings darin der Satz bzw. die Gleichung vorkommt, Ordnungspolitik sei Ordnung des Marktes, wie Sie soeben verkündet haben, darüber könnten wir vielleicht noch einmal gemeinsam nachdenken.Im übrigen möchte ich der CSU ausdrücklich bescheinigen, daß sie auf dem Gebiet, das wir heute behandeln, Fortschritte gemacht hat. Bei der Postreform I gehörten Sie zusammen mit der Postgewerkschaft zu den Hauptblockierern. Insofern gibt es einen Fortschritt.Aber, Herr Bernrath und Herr Börnsen: Man wird ja wohl noch darstellen dürfen — und das ist das Ziel dessen, was ich hier heute zu tun beabsichtige; das wird Sie nicht erfreuen, ich weiß das —, was wir, die Liberalen, tun würden und was wir für richtig hielten, wenn wir nicht auf Zweidrittelmehrheiten angewiesen wären.
— Also, von der absoluten Mehrheit sind Sie so weit entfernt wie andere auch, und außerdem sind Meinungsumfragen noch keine Wahlergebnisse. Freuen Sie sich nicht zu früh, die Rechnung wird am Abend des Wahltages gemacht!
Meine Damen und Herren, wir werden sagen, was wir wollen. Und ich sage gleich hinzu: Diesen Gesetzentwurf haben wir mit eingebracht, weil ein anderes Ergebnis in den Verhandlungen nicht zu erzielen war. Die Kollegen Timm und Funke haben sich engagiert und redlich bemüht, ein besseres Ergebnis zu erzielen. Aber man muß mit dem leben, was man bekommen kann.Wir hoffen, daß uns dieser Gesetzentwurf einen Schritt weiterbringt. Ich sage, „wir hoffen", Herr Bernrath, weil der Beschluß Ihrer Fraktion mit so viel Vorbehalten versehen ist wie der Schwur des berüchtigten Meineidbauern.Man muß diesen Beschluß plakatieren, überall verbreiten, um zu demonstrieren, daß all das Gerede der SPD vom modernen Deutschland, von technischer Innovation, von besserer Infrastruktur und von mehr Wettbewerb wirklich leeres Geschwätz ist. Das ist nicht mehr Wettbewerb, was Sie hier vorgeschlagen haben, Herr Börnsen, was in diesem Gesetz steht. Das ist Wettbewerb mit Verhütungsmitteln.
Ich sage es noch einmal: Die F.D.P. stimmt dieser Wischiwaschi-Postreform zwar zähneknirschend zu, weil wir die Zweidrittelmehrheit für die Verfassungsänderung brauchen, weil das Gesetz im Bereich der Organisationsreform wirkliche Verbesserungen bringt und weil es der Telekom endlich den Zugang zum Kapitalmarkt eröffnet. All die Wunschvorstellungen, die wir hier von Ihnen gehört haben, sind doch von Ihnen jahrelang behindert worden, weil die Telekom in der jetzigen Rechtsform nicht an den Kapitalmarkt gehen kann.Wir stimmen allerdings nur zähneknirschend zu, habe ich gesagt. Ich kann gar nicht so viel Sand in den Mund nehmen, wie meine Zähne bei der Veranstaltung knirschen sollten, weil die Aufgabenreform
— die habe ich glücklicherweise nicht im Mund notwendig, die Prothese — die Öffnung zu mehr Wettbewerb im Netzbereich nicht fest terminiert, sondern immer weiter hinausgeschoben wird. Das, meine Damen und Herren, ist der Kernpunkt der Auseinandersetzung.Wir wollen ein Recht auf Marktzugang für jedermann. Wir wollen Wettbewerb — und ich sage das ausdrücklich so — als die Peitsche für mehr Leistung, für technischen Fortschritt, für bessere Telekommunikationsinfrastruktur in Deutschland, für niedrige Gebühren für die Benutzer und vor allem für mehr und für höherwertige Arbeitsplätze.
Und Sie, meine Damen und Herren, haben Angst vor Wettbewerb. Sie haben Angst vor der Deutschen Postgewerkschaft und opfern dafür die Chancen des Standortes Deutschland. Sie opfern Arbeitsplätze, technischen Fortschritt und Wachstumsmöglichkeiten. Die Telekommunikationsmärkte der Welt werden jetzt verteilt, und SPD und Postgewerkschaft blockieren die Beteiligung deutscher privater Unternehmen.
Moderne Infrastruktur im Bereich der Telekommunikation ist ein wesentlicher Faktor für die Qualität des Industriestandortes Deutschland. SPD und Deutsche Postgewerkschaft blockieren eine vielfältige Struktur in Deutschland, vor allem in Ostdeutschland.Würden wir das Auslaufen der Monopole im Gesetz zeitlich festschreiben — Herr Bernrath, das hatten wir vor, aber Sie wollen es nicht einmal mehr in der Begründung haben —, dann würden morgen Investitionen in Milliardenhöhe und — damit verbunden — die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht. Es kann doch niemand investieren, der nicht sicher den Zeitpunkt des Auslaufens der Monopole kennt.
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Dr. Otto Graf LambsdorffAber SPD und Postgewerkschaft blockieren Investitionen, und sie blockieren Arbeitsplätze.Wir brauchen in der Tat — das englische Beispiel beweist es, Herr Protzner — die Freigabe der Monopole früher als unsere europäischen Wettbewerber, weil unser Hochlohnland technischen Vorsprung benötigt.Sie wollen, Herr Bernrath — das haben Sie wörtlich gesagt —, die Liberalisierung unter gleichen Chancen. SPD und Postgewerkschaft wollen den Regulierungsgleichschritt in der Europäischen Union.
Das heißt, Sie wollen Deutschland an die Entwicklung in Portugal und Griechenland binden.
Das ist die Wahrheit.
Sonst müßten Sie offen sein und sagen: Wir sollten sehen, daß wir einen Vorsprung vor den anderen haben.
Wir sind ein Hochlohnland. Wir brauchen eine bessere Infrastruktur als andere. Wir müssen auf dieser Infrastruktur die hohen Löhne erwirtschaften, die wir alle den Arbeitnehmern gönnen wollen. Das verhindern Sie. Sie ruinieren Arbeitsplätze, und Sie ruinieren die Infrastruktur.
— Der Beschluß des Ministerrates existiert noch gar nicht. Außerdem wissen Sie ganz genau: Er gilt nur für den Sprachendienst, für die Sprachübertragung. Das ist nur ein unwesentlicher Teil. Die Datenübertragung und die Freigabe der Netzmonopole, das ist der entscheidende Punkt.
— Sie tun alles, um es zu behindern.Eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft braucht im Bereich Telekommunikation Vielfalt, Qualität und Preisgünstigkeit der Versorgung. Alles das blockieren Sie, um die Pfründen der Postgewerkschaftsfunktionäre zu verteidigen.Herr Gysi, die Probleme bei Infrastruktur kann man lösen. Wo es ein Monopol gibt, braucht man natürlich eine regulierende Aufsicht; da braucht man Lizenzen unter Auflage. Damit kann man die Infrastruktur und die Versorgung in der Fläche sicherstellen.Wir setzen wenig Hoffnung auf notwendige Verbesserungen des heutigen Entwurfs. Das sage ich vor allen Dingen nach der heutigen Debatte und nach Ihrem Beschluß, Herr Bernrath, in der Fraktion. Ich weiß, wie mühsam es war, ihn dort überhaupt durchzusetzen; das ist mir bekannt.Wir setzen aber auf die Kraft des Wettbewerbs außerhalb der Monopole. Sehen Sie sich doch einmal an, welch atemberaubende Teilnehmerentwicklung der Mobilfunk vom B-Netz bis zum D-Netz in Deutschland genommen hat. Wenigstens das können Ihre Fraktions- und Gewerkschaftsbeschlüsse nicht verhindern.
Es kommen immer mehr dazu, und das ist richtig.Herr Scharping redet von der Priorität für Arbeitsplätze. Sie ruinieren sie! Herr Lafontaine redet von Fortschritt und Innovation. Beides bremsen Sie aus! Herr Schröder gibt sich wirtschaftsfreundlich. Er tut alles, um der Wirtschaft unnötige Fesseln aufzuerlegen. Das ist die Wahrheit bei dieser Postreform.Mit der SPD und der Deutschen Gewerkschaft zurück zu Thurn und Taxis? — Wir wollen das nicht, und wir werden versuchen, Sie daran zu hindern.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Peter Paterna.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Henen! Ich habe mir vorgenommen, heute ausschließlich in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu reden, der mit dieser ersten Lesung als federführender Ausschuß eine Herkules-Aufgabe aufgebürdet bekommt. Meinen parteilichen Standpunkt setze ich als hinreichend bekannt voraus.Ich will nur eine Abweichung von meinen guten Vorsätzen machen, Herr Graf Lambsdorff. Ich lese Ihnen einmal aus dem Protokoll vom 20. Januar vor. Da sagte Herr Solms, durch die Blockade der Postreform II gefährde die SPD die Investitionen der Telekom in den neuen Bundesländern bis zum Jahr 1998 in Höhe von 60 Milliarden DM. — Das ist natürlich barer Unsinn und in etwa das Niveau des Sachverstandes, der in der F.D.P.-Fraktion versammelt ist.
Herr Funke, der eine besondere Nähe zu Privatbanken und deswegen wahrscheinlich auch für die Postbank besonderes Interesse hat, wird wahrscheinlich wissen, daß in einem Gutachten des Bankhauses Warburg vorgerechnet wird, daß ein vorzeitiges Aufgeben der Telefondienstmonopole zu einer niedrigen Eigenkapitalquote und das Gegenteil zu einer hohen führt. Also, tun Sie doch nicht so, als hätten Sie hier die Weisheit gepachtet!Unsere Aufgabe im Ausschuß ist schon von den Größenordnungen her einmalig. Es hat in Deutschland nie ein Unternehmen gegeben, das mit einem Wert von über 100 Milliarden DM und 700 000 Beschäftigten von einem auf den anderen Tag privatisiert werden sollte, und es wird nie mehr einen
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Peter PaternaVorgang in solcher Größenordnung geben, vermutlich weltweit nicht.Das Vorhaben ist auch insofern einmalig, als noch nie 325 000 Beamte und noch mehr öffentlich bedienstete Tarifkräfte Aktiengesellschaften zugewiesen werden sollten. Dienstherrenbefugnis für einen AG- Vorstand gegenüber Beamten für privatwirtschaftliche Tätigkeiten ist eigentlich ein Widerspruch in sich, gerade für diejenigen, die jahrzehntelang politisch die hergebrachten Grundsätze des deutschen Berufsbeamtentums wie eine Monstranz besonders hochgehalten haben und jetzt glauben, besonders bedenkenlos zu Werke gehen zu können.Dieses Vorhaben mag angesichts unserer gemeinsamen politischen Unfähigkeit, ein modernes, einheitliches öffentliches Dienstrecht zu schaffen, unvermeidlich sein. Ich erinnere aber daran, daß der ehemalige Postminister Schwarz-Schilling intern zunächst eine Änderung des Art. 33 GG haben wollte und Art. 87 GG erst ins Visier geriet, nachdem ihm der damalige Innenminister Schäuble dies verweigert hatte. Schwarz-Schilling selbst war also der Auffassung, daß eine bereichsspezifische Reform des öffentlichen Dienstrechts uns diese Art Postreform hätte ersparen können. Er ist damit keineswegs an der SPD, sondern an den eigenen Ideologien und an dem reformunwilligen Teil der Beamtenlobby gescheitert. Das ist für manche unbequem, aber das ist die reine Wahrheit.Da wir bei den Postunternehmen — aus nicht im einzelnen zu erläuternden Gründen — nicht nach dem für die Bundesbahn und die Reichsbahn entwickelten Modell verfahren können, betreten wir jedenfalls Neuland voller verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Risiken. Und da es bei einem Rechtsformwechsel vor nicht abdingbaren Individualrechten und Kollektivrechten nur so wimmelt, müssen wir als Gesetzgeber mit äußerster Sorgfalt vorgehen, weil dies sonst ein übersehbares Feld für Musterprozesse wäre, die die Unternehmen stärker fesseln könnten als der jetzt lautstark beklagte Zustand. Es gehört viel Mut dazu, davon überzeugt zu sein, daß dieses Kunststück innerhalb so kurzer Zeit gelingt.Auch vor anderen Illusionen muß ich pflichtgemäß warnen. Ich halte es für naiv, zu glauben, daß mit diesem Paket ein Befreiungsschlag aus der Schulden- und Finanzierungsklemme gelingt. Da ist nicht nur die Bürde von ca. 100 Milliarden DM Pensionsverpflichtungen, mit denen die Unternehmen in das angesagte Windhundrennen geschickt werden sollen und die der Bund als ehemaliger Dienstherr wegen nicht gebildeter Pensionsrückstellungen den Aktiengesellschaften als Erblast vermacht. Da sind auch die bereits über 100 Milliarden DM Schulden — mit weiter rasch wachsender Tendenz — allein bei der Telekom, die zu einem wesentlichen Teil deshalb so erschreckend hoch sind, weil der Bund die DBP- Unternehmen — im Gegensatz zu allen anderen Politikfeldern beim Aufbau Ost — alleingelassen hat und genau zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Investitionen beginnen könnten, rentierlich zu werden, die Voraussetzungen dafür schafft, daß möglicherweise andere das bestellte Feld abernten.Ich muß auch darauf verweisen, daß der erhoffte Börsenerlös von geschätzten 20 bis 30 Milliarden DM nur ein Bruchteil der bis zum Jahr 2000 benötigten Investitionsmittel ist und daß sich herausstellen könnte, daß der mit Eigenmitteln finanzierte Teil teurer wird als die Fremdmittelfinanzierung in der öffentlich-rechtlichen Unternehmensverfassung. Wir sollten also die Eigenkapitalquote nicht zum Fetisch erheben, Der Umwandlungsakt und die Folgen können auch aus anderen Gründen so teuer werden, daß die Finanzchefs der Unternehmen, die heute die Aktiengesellschaft so sehnlich herbeiwünschen, dem heutigen Zustand noch nachtrauern könnten. Wir müssen deshalb auch auf diesem Sektor mit äußerster Sorgfalt vorgehen, wenn wir nicht irreparable Schäden riskieren wollen.Die wichtigste Aufgabe wird sein, einen verläßlichen Rahmen dafür zu schaffen, daß der Staat die ihm weiter zugeschriebene Infrastrukturverpflichtung erfüllen kann. Angesichts der extremen Kostenunterschiede bei der Versorgung von Ballungsräumen und Großkunden einerseits und von ländlichen Räumen, Mittelständlern und Privatkunden andererseits ist es illusionär, zu glauben, der freie Wettbewerb werde schon Sozialverträgliches und Raumordnungverträgliches richten. Der volkswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Wert wirtschaftspolitischer Ordnungsvorstellungen kann eben nicht am Vergleich der Bilanzen unserer deutschen Telekom mit denen von NTT, ATT oder British Telecom gemessen werden. Wir alle sind uns doch darin einig, daß wir bei uns weder japanische noch amerikanische noch englische Verhältnisse als gesamtgesellschaftliches Ergebnis haben wollen. Wenn das so ist, muß man sich aber auch vor kurzschlüssigen sektoralen Vergleichen und Nachahmungseffekten hüten.Unsere dezentralen Strukturen, unsere stark mittelständisch orientierte Wirtschaft, unser im internationalen Vergleich immer noch beispielhafter sozialer Frieden sind nicht mit Gold aufzuwiegen und kaum zurückzuholen, wenn sie einmal verloren sind. Nach meiner Überzeugung sind sie zu einem wesentlichen Teil unserem Verständnis von einem relativ ausgewogenen Verhältnis zwischen marktwirtschaftlichen Strukturen und staatlicher Verantwortung für Infrastruktur und sozialpflichtigen Rahmenbedingungen zu verdanken. Wir dürfen auch als Fachpolitiker diesen Gesamtzusammenhang nicht betriebsblind übersehen, sondern müssen noch einmal mit großer Sorgfalt prüfen, ob die von uns gesetzgeberisch bereitgestellten Instrumente mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit gewährleisten, daß wir die übergeordneten Zielsetzungen politischen Handelns erreichen.Wir haben alle einen Fehler gemacht, indem wir die Postreform viel zu telekomzentriert diskutiert haben. Wir waren alle zu sehr darauf fixiert, für alle Nachfolgeunternehmen der DBP die gleiche Rechtsform finden zu wollen. Wenn ich mir jetzt die Zuständigkeiten der Holding — mit wahrscheinlich nicht mehr wesentlich erweiterbaren Kompetenzen — ansehe, neige ich zu der Beurteilung, daß es besser gewesen wäre, jetzt aus der Telekom eine AG und aus Postdienst und Postbank bis auf weiteres Anstalten des öffentlichen Rechts zu machen. Aber um hier noch umzusteuern, reicht die Zeit in dieser Legislaturperiode nicht mehr aus.
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Peter PaternaIch verstehe und bedaure die Enttäuschung der DPG, die am entschiedensten und mit größtem Krafteinsatz für ihre Positionen gefochten hat. Die Enttäuschung richtet sich natürlich gegen die SPD; von der Koalition haben die ohnehin nichts erwartet.
Ich appelliere jetzt aber an alle, die im Vorfeld unvermeidlicher Kompromisse üblichen Maximalpositionen zu verlassen und ab sofort die Konsensorientierung anzustreben.
Gegen den erklärten Widerstand der organisierten Arbeitnehmerschaft, lieber Graf Lambsdorff, sind so tiefgreifende Strukturveränderungen nicht mit Erfolg durchzusetzen. Jeder vernünftige Privatunternehmer wäre von vornherein mit dieser Erkenntnis in die Verhandlungen gegangen. Die Bundesregierung und auch die F.D.P. werden es endlich begreifen müssen.Die Koalition sollte ab sofort aber auch jedem Versuch widerstehen, die SPD spalten zu wollen. Hans Gottfried Bernrath und ich mögen und schätzen uns viel zu sehr, als daß wir uns von irgend jemandem gegeneinander aufhetzen lassen.
Die Koalition möge die von uns gemeinsam für notwendig gehaltenen Forderungen im SPD- Beschluß sehr ernst nehmen. Jedem Politprofi, für den Sie sich ja halten, müßte klar sein, was ich Postminister Bötsch schon bei seinem Amtsantritt unter vier Augen gesagt habe: Im Juni, so kurz vor der Bundestagswahl, kann es eine verfassungsändernde Mehrheit mit der Koalition nur bei einer sehr breiten Akzeptanz innerhalb der SPD geben.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Wir haben uns im Ausschußsekretariat schon zu einer Zeit, als noch niemand vorherzusagen wagte, ob diese Debatte hier heute überhaupt stattfinden wird, so weit vorbereitet, daß wir die Einladungen zu der öffentlichen Anhörung morgen abschicken können. Sie mögen daraus ersehen, daß ich, obwohl ich einer der größten Skeptiker gegenüber dem jetzt eingebrachten Gesetzespaket bin, pflichtgemäß, Herr Minister, und mit äußerster Kraft meinen Teil dazu beitragen werde, um der vor uns liegenden Arbeit zum Erfolg zu verhelfen. Der zu wünschende Erfolg wird sich aber nur einstellen, wenn die vielen, die hier im Hohen Hause und in den Ministerien mittun müssen, vermeintliche taktische Vorteile in den parallel zu führenden Wahlkämpfen zurückstellen und sich den langfristigen Zielen verpflichtet fühlen und wenn die vielen Personen und Organisationen, auf deren externen Sachverstand wir angewiesen sind, uns jenseits liebgewordener Ideologien und noch so verständlicher Eigeninteressen so objektiv und sachlich fundiert wie möglich beraten.
Herr Paterna, Ihre Redezeit ist reichlich abgelaufen.
Darum möchte ich — hoffentlich im Namen aller Anwesenden — bitten.
Vielen Dank.
Als nächster spricht der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den vielen postpolitischen und wirtschaftspolitischen Ausführungen möchte ich einige Worte zu den notwendigen Grundgesetzänderungen sagen, die auch schon angesprochen worden sind.Nach 45 Jahren Grundgesetz haben sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Bahn und Post zu arbeiten haben, national und — was viel wichtiger ist — international grundlegend geändert. Die überkommenen Strukturen der Deutschen Bundespost können nicht mehr Maßstab für deren wirtschaftliches Handeln sein. Demgemäß müssen die grundgesetzlichen Bestimmungen, die die Basis für die Tätigkeit der Deutschen Bundespost darstellen, geändert werden. Recht muß sich ja auch an den geänderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen orientieren.Die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgehenden Unternehmen müssen aus dem strengen Korsett staatlicher Verwaltung gelöst werden, das bislang das Grundgesetz in Art. 87 vorschreibt.Die Grundgesetzänderung macht folgendes deutlich:Erstens. Dienstleistungen im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation werden zukünftig als private Tätigkeiten angeboten. Dieses Angebot wird durch die Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost und durch Wettbewerber erbracht. So der Vorschlag aller Fraktionen.Zweitens. Der Staat sorgt dafür, daß flächendekkend angemessene und ausreichende Dienstleistungen angeboten werden. Damit wird eine Staatsaufgabe zur Sicherstellung der notwendigen Infrastruktur anerkannt. Darüber gab es auch in der Verhandlungskommission keinen Streit.Drittens. Der Staat erfüllt seine Infrastrukturaufgabe aber nicht etwa dadurch, daß er die betroffenen Dienstleistungen selbst erbringt; vielmehr beschränkt sich die Staatsaufgabe auf die Regulierung — darauf hat der Minister besonders aufmerksam gemacht —, nämlich durch hoheitliche Maßnahmen sicherzustellen, daß das notwendige Angebot erbracht wird.Viertens. Auch nach der Privatisierung der Bundespost wird es ein besonderes Verhältnis zwischen dem Bund und seinem ehemaligen Sondervermögen geben.Fünftens. Schließlich brauchen wir eine einwandfreie verfassungsrechtliche Grundlage für die Übergangszeit bis zum Abschluß der Privatisierung.
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17942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Pari. Staatssekretär Rainer FunkeDer Ihnen vorliegende Entwurf für eine Grundgesetzänderung trägt diesen Anforderungen im Grundsatz Rechnung. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, daß für eine Übergangszeit — entgegen Art. 87 f Abs. 1 Satz 3 GG — die Monopole aufrechterhalten bleiben. Hier muß noch eine vernünftige Übergangsregelung geschaffen werden, weil sich die Bestimmungen insoweit etwas widersprechen.Mit der Änderung des Grundgesetzes wird der Weg freigemacht für eine Organisationsreform der Post und der Telekommunikation. Die sogenannte Postreform I, die hier mehrfach angesprochen worden ist und die inzwischen als Torso gesehen wird oder nur als Eingangsregelung für eine Postreform II gesehen werden kann, muß fortentwickelt werden.Die Schuldigen dafür, lieber Herr Kollege Bernrath, daß wir damals in der Postreform nicht weitergegangen sind, sitzen nicht alle hier im Raum. Einige, die hier angesprochen worden sind, waren außerhalb des Raumes, lieber Herr Kollege Peter Paterna, nämlich der vielfach angesprochene Vorsitzende der Postgewerkschaft; denn der hat es durch seine Intervention verstanden, die Postreform I zumindest zu verwässern.
Auf dem Wege der Organisationsprivatisierung sind auch vernünftige Kompromisse geschlossen worden.
Die Postbank kann jetzt unverzüglich in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Sie kann ihre Anteile — bis auf 12,5 %, die der Bund hält, und 12,5 %, die die Postdienst AG hält — an Interessenten veräußern, entweder an der Börse oder an geeignete Kooperationspartner. Dadurch kann die Postbank AG wirtschaftlich arbeiten. Sie wird ein vollwertiges Bankinstitut, hat eine vernünftige wirtschaftliche Basis und sichert dadurch auch Arbeitsplätze.Die Telekom AG und die Postdienste bleiben zwar noch fünf Jahre im Mehrheitsbesitz des Bundes; die Telekom AG wird aber bereits 1996 wesentliche Anteile an der Börse veräußern und damit den Weg zur Privatisierung frei machen.Dadurch bekommen Postdienst, Telekom und Postbank die große Chance, sich über den Kapitalmarkt zu refinanzieren. Eine andere Möglichkeit der Refinanzierung besteht für diese Unternehmen nicht, wenigstens nicht bei der gegebenen Finanzlage des Bundes. Soweit wird auch durch diese Refinanzierung für die neuen Aktiengesellschaften sichergestellt, daß die Arbeitsplätze bei den Postunternehmen gesichert bleiben.Ich glaube auch, daß zusätzliche Investitionen und Innovationen in diesen Unternehmen getätigt werden. Dieses sichert wiederum die Arbeitsplätze.Meine Damen und Herren, die Beratungen, die über ein Jahr zwischen den Parteien stattgefunden haben und sehr intensiv gewesen sind — manchmal freundschaftlich, manchmal nicht so freundschaftlich —, haben im Ergebnis doch zu einem vernünftigen, tragbaren Ergebnis geführt. Ich möchte mich auch für die F.D.P. sehr herzlich dafür bedanken, daß es auch vom Stil her eine gute Diskussion gewesen ist. Ich hoffe, daß wir diesen guten Stil auch in den Beratungen in den Ausschüssen fortsetzen können und daß wir dann im Juni im Bundesgesetzblatt ein gutes Gesetz wiederfinden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das ist kooperativer Parlamentarismus. — Das Wort hat der Kollege Erwin Marschewski.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kollege Paterna, Sie haben nicht nur als Ausschußvorsitzender zu uns gesprochen, sondern vielmehr als Vertreter der 30 sozialdemokratischen Abgeordneten, die nein gesagt haben zur Postreform und damit nein zu einer guten Zukunft der Post, so meine ich, und damit nein zu einer guten Zukunft der Bediensteten der Deutschen Bundespost.Ich will mich hier als Innenpolitiker der beruflichen, persönlichen und familiären Zukunft der bei den Unternehmen der Post beschäftigten Mitarbeiter — der Beamten, Angestellten und Arbeiter — widmen. Wir sind uns einig: Diese Reform kann nur gelingen, wenn wir unsere gesamten Anstrengungen darauf richten, für die betroffenen Bediensteten erträgliche Regelungen zu schaffen. Denn dies, meine ich, meine Damen und Herren, ist unsere verantwortliche politische Verpflichtung. Es ist doch eine Binsenweisheit, daß die Mitarbeiter das Herzstück jedes Unternehmens sind.Aus diesem Grund ist es unser erstes Ziel, die vorhandenen Arbeitsplätze zu erhalten und zu sichern. Die Gegner der Postreform — wie Sie, Herr Kollege Paterna — werfen uns vor, die Postreform führe zu einer Gefährdung von Arbeitsplätzen und zur Verschlechterung von Arbeitsbedingungen. Dies ist falsch, meine Damen und Herren. Wer so argumentiert, verkennt die Wirklichkeit. Die Unternehmen der Deutschen Bundespost sind in ihrer bisherigen Form auf Dauer nicht wettbewerbsfähig. Was wir wollen, ist eben, die Arbeitsplätze auf Dauer zu gewährleisten und diese Arbeitsplätze für die Mitarbeiter attraktiver zu gestalten.
Meine Damen und Herren, wir müssen und wollen auch den Rechtsstatus der Beamten sichern. Ich meine, die vorliegenden Gesetzentwürfe treffen hierzu die erforderlichen Regelungen. Die in Aktiengesellschaften umgewandelten Unternehmen der Bundespost werden ermächtigt, die Rechte und Pflichten des Dienstherrn Bund gegenüber den bei ihnen beschäftigten Beamten wahrzunehmen. Diese Beleihung — so nennen wir dies — wird durch eine
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Erwin MarschewskiÄnderung des Grundgesetzes verfassungsrechtlich abgesichert. Die Aktiengesellschaften üben also die Dienstherrenbefugnis gegenüber allen bei ihnen beschäftigten Beamten sowie allen Ruheständlern aus. Die Beschäftigung bei den Aktiengesellschaften — ich will es hier noch einmal ausdrücklich sagen — ändert also nichts am Status der Beamten als unmittelbare Bundesbeamte. Der Vorstand der Aktiengesellschaft nimmt vielmehr lediglich die Befugnisse einer obersten Dienstbehörde wahr. Im einzelnen gilt:Erstens. Die Laufbahnzugehörigkeit, die Besoldung und die den Beamten verliehene Amtsbezeichnung bleiben erhalten.Zweitens. Es gelten grundsätzlich die allgemeinen beamtenrechtlichen Regelungen fort. Sonderregelungen, das wissen Sie, werden nur ausnahmsweise, z. B. im Laufbahnrecht, im Besoldungsrecht und in der Mitbestimmung, getroffen.Meine Damen und Herren, ich darf mich hier beim Bundesminister Bötsch ganz herzlich bedanken. Für uns — ich habe dies gesagt — stehen die Arbeitnehmer im Vordergrund. Herr Minister Bötsch hat sich auch dafür eingesetzt, daß die Mitbestimmung als wesentlicher Bestandteil der Unternehmenspolitik, der Unternehmensverfassung anzusehen ist. Dafür, Herr Bundesminister, ganz herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, die Postreform II sichert nicht nur den Status quo der Beamten. Sie ermöglicht darüber hinaus den Beamten dauernd oder im Rahmen einer Bewerbung auf Zeit als Angestellte in den Aktiengesellschaften tätig zu werden.
Herr Kollege Marschewski, der Kollege Dr. Seifert würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön. Ich habe es nicht gesehen.
Herr Kollege Marschewski, wenn Sie schon so vehement für die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und überhaupt der Angestellten und Beamten dort eintreten, warum sind Sie dann nicht dafür, ein Modell der paritätischen Mitbestimmung als Pflicht für die neuen Aktiengesellschaften einzuführen, wenn Sie sie schon unbedingt wollen.
Herr Kollege, man kann gern über die Form der Mitbestimmung reden. Ich sage Ihnen, diese Mitbestimmungsform, die wir eingeführt haben nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976, gewährleistet für uns in ausreichendem Maße eine vernünftige Mitbestimmung aller Arbeitnehmer, und das wollen wir letzten Endes.Meine Damen und Herren, zu einem weiteren Bereich: Ich komme zu den von der Postreform II betroffenen Tarifarbeitnehmern. Die Aktiengesellschaften treten im Zeitpunkt des Übergangs für die Rechte und Pflichten der mit den Unternehmern geschlossenen Arbeitsverhältnisse ein. Auch hier erfolgt der Übergang der Arbeitsverhältnisse unmittelbar kraft Gesetzes im Wege der Gesamtrechtsnachfolge. Auf diese Weise ist ein lückenloser Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse und damit ein Maximum an dauerhafter, sozialer Sicherheit gewährleistet.Meine Damen und Herren, die Unternehmen der Bundespost werden auch Rationalisierungsmaßnahmen durchführen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Damit dies nicht zu Lasten der Arbeitnehmer geht, haben wir bereits mit der Bahnreform auch eine für die Postunternehmen geltende Vorruhestandsregelung beschlossen. Ich begrüße diese Regelung ausdrücklich. Danach können Beamte des einfachen und mittleren Dienstes vom 55. Lebensjahr an und Beamte des gehobenen Dienstes ab dem 60. Lebensjahr auf Antrag in den vorzeitigen Ruhestand versetzt werden — natürlich nur dann, wenn sie nicht bei einem anderen Postunternehmen beschäftigt werden können oder wenn aus allgemeinen beamtenrechtlichen Grundsätzen eine Unzumutbarkeitsregelung einsetzt. Auch dies ist eine vernünftige Regelung neben der Mitbestimmungsregelung, um wirklich den Beschäftigten soweit wie möglich nicht nur entgegenzukommen, sondern — ich sage dies noch einmal — um die Arbeitsplätze für die 700 000 Postbediensteten auf Dauer zu erhalten, was wir wollen.Ich komme zum Schluß, vielleicht auch zum Schluß dieser Debatte. Die jahrhundertealte Geschichte der Post, vom mittelalterlichen Botendienst bis zur Chiprevolution der Moderne, zeigt schlagartig das Ausmaß der Veränderungen, die sich in diesem Zeitraum für die Lebensbedingungen der Menschen ergeben haben. Sie zeigen zudem, daß sich eine Institution und die in ihr tätigen Menschen diesen Veränderungen nicht entziehen können. Aber es ist Aufgabe einer den Menschen dienenden Politik, dem einzelnen und der Gesellschaft die Vorteile des technischen und ökonomischen Fortschrittes zugänglich zu machen und die damit verbundenen negativen Auswirkungen erträglich zu gestalten. Das haben wir mit der Postreform II gemacht. Herr Kollege Paterna, wer die dienst- und arbeitsrechtlichen Teile dieser Reform gerecht bewertet — Herr Kollege Bernrath, Sie werden da Zeuge sein —, der wird zugeben, daß es uns in den Jahren der Verhandlungen gelungen ist, die Unternehmen der Bundespost zu modernisieren, ohne die berechtigten Interessen der hiervon betroffenen Bediensteten zu beeinträchtigen. Ich denke, das ist uns in den vielen Jahren hervorragend gelungen. Ich glaube, die Bediensteten der Bundespost brauchen keine Befürchtungen zu haben.Dennoch: Ich verstehe die Ungewißheiten vieler Mitarbeiter. Wir alle haben viele Diskussionen und Gespräche mit ihnen geführt. Wir verstehen deren Ungewißheiten. Das ist klar. Aber gerade für sie, gerade für die Mitarbeiter der Bundespost, wollen wir die Arbeitsplätze erhalten. Deswegen wollen wir die zweite Postreform erfolgreich durchsetzen.Zum Schluß bleibt mir, mich bei allen Damen und Herren — auch meiner Fraktion —, die in den Kommissionen über Jahre hinweg gearbeitet haben, herzlich zu bedanken. Herr Bundesminister Bötsch, auch aus dem Parlament: Sie haben in dieser Kommission
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Erwin Marschewskials Vorsitzender Hervorragendes geleistet. Ich bedanke mich.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Poststrukturreform II wird die Bundespost mit minimalen Einschränkungen voll privatisiert. Eine bewährte öffentliche Einrichtung, die im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbereichen und anderen Wirtschaftsunternehmen nicht durch Managementfehler oder Korruptionsskandale ins Gerede gekommen ist, wird dem marktwirtschaftlichen Dogma geopfert. Als ich übrigens die Vollprivatisierung in der vorigen Legislaturperiode bei der Debatte über die Poststrukturreform I voraussagte, wurde diese Absicht heftig bestritten. Insofern ist das, was der Kollege Funke hier ausführte, so etwas wie Geschichtsklitterung. Ich glaube, das war von Anfang an ganz anders.
Nun kommt also die Privatisierung. Die Folgen werden die Beschäftigten beim größten deutschen Unternehmen spüren. Die Folgen werden die Postbenutzer und Telekomkunden insbesondere auf dem flachen Land zu spüren bekommen. Die Beschäftigten sehen sich einem beispiellosen, langfristig geplanten Stellenabbau gegenüber, und das bei bereits 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen und absolut nicht vorhandenen Ersatzbeschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland insgesamt. Herr Müller, darauf müssen Sie Antworten geben. Wo sollen die hunderttausend Menschen und die vielen, die noch davon abhängen, hin?
Die weiterhin Beschäftigten haben neuen Rationalisierungsdruck, noch mehr Hierarchie und mehr marktwirtschaftlich verbrämte Fremdbestimmung zu erwarten, eben dem Gesetz entsprechend, daß der wirtschaftlich Stärkere in solchen Unternehmen zu bestimmen und der wirtschaftlich Schwächere zu gehorchen hat. Ein Gutteil gewachsener Arbeits- und Betriebskultur, insbesondere die traditionelle Zuverlässigkeit von Post und Telekom, gehen mit dem Verschwinden der Bundespost womöglich dahin.
Die Kleinkunden allgemein, z. B. Rentner, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und durchschnittliche — was immer das ist — Arbeitnehmerhaushalte, und vor allem die Kleinkunden auf dem Lande müssen sich darauf einrichten, daß sie erstens nicht mehr voll mit den lebensnotwendigen Telekommunikations- und Postdienstleistungen versorgt werden. Sie müssen sich zweitens darauf einrichten, daß sie wie bei den Stromtarifen, falls sie überhaupt versorgt werden, ein Vielfaches mehr zahlen müssen als die Großkunden, die Firmen, die Konzerne.
Diejenigen, denen ein Schutz der persönlichen Freiheitsrechte und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung — das ist heute gar nicht zum Ausdruck gekommen — am Herzen liegt, müssen damit rechnen, daß in der Zukunft die Transparenz der Kommunikationstechnik geringer und die Kontrolle und Manipulation des Kommunikationsverhaltens der Bürger und Bürgerinnen größer werden. Die
Privatisierung wird insbesondere die Durchsetzung von Datenschutzmaßnahmen und Datenschutzrechten erschweren. Diejenigen, denen eine verantwortungsvolle Medien- und Kommunikationslandschaft am Herzen liegt, müssen befürchten, daß sich fragwürdige Kommunikationssysteme und Kommunikationsangebote auftun, z. B. die Sex-Lines, die gegen die Würde der Frauen in dieser Gesellschaft verstoßen.
Das Motto auch dieser sogenannten Reform ist: Hauptsache, die Mark rollt, und Hauptsache, sie rollt in die richtigen Taschen. Wen kümmert da schon der Schutz von Heranwachsenden, der Schutz der Würde von Frauen und Mädchen beispielsweise! Die Erfahrungen mit der Privatisierung der Rundfunklandschaft und der Ausbreitung von Sex- und Sensationssendungen müßten da eigentlich auch sehr zu denken geben.
Kommunikationsdienstleistungen sind nun andererseits — das ist zuzugestehen — zweifellos ein wichtiger ökonomischer Faktor, dessen Bedeutung auch noch wachsen wird. Allerdings sind die Prognosen der sechziger und siebziger Jahre, daß die Unternehmen im Zeichen der Entwicklung zur sogenannten Informationsgesellschaft hin heute 5 % oder 10 % ihrer Kosten für Informations- und Kommunikationstechniken aufbringen müßten, bisher bei weitem nicht eingetroffen.
In der Schlußfolgerung wird diese Poststrukturreform II außer bei bestimmten Dienstleistungen, die ich soeben angesprochen habe — wie den Sex-Lines z. B. —, kaum mit Kostensenkungen für die Wirtschaft zu irgendwelchen größeren Expansionseffekten führen. Herr Marschewski, das ist der Grundtatbestand, und vor diesem Hintergrund ist es doch ein bißchen Gesundbeterei, was Sie hier eben gemacht haben.
Da sowohl die Herstellung als auch die Anwendung der I-und-K-Techniken in der Regel — das geht gar nicht anders — hoch kapitalintensiv sind, werden auch nur wenige zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Vermutlich — das belegen z. B. britische Erfahrungen — werden insgesamt durch die Rationalisierung in den vollprivatisierten Postunternehmen sogar mehr Arbeitsplätze abgebaut als irgendwo anders geschaffen.
Die Poststrukturreform II ist insgesamt, wie eigentlich — das muß man leider sagen — jede größere Maßnahme dieser Bundesregierung, fehlangelegt, kontraproduktiv, verfehlt, unsozial gegenüber Beschäftigten und gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen.
Herr Kollege Briefs, Ihre Zeit!
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident.Die Post wird in die falsche Richtung reformiert. In ein oder zwei Jahrzehnten werden wir wahrscheinlich sehen, wie verhängnisvoll insgesamt die mit der Poststrukturreform I eingeleitete und mit dieser Poststrukturreform II heute konsequent vollendete Politik ist.
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Dr. Ulrich BriefsHerr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Post und Telekommunikation, Dr. Paul Laufs.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Schluß dieser Debatte möchte ich allen von unserem großen Reformvorhaben betroffenen Menschen Mut machen; zuerst den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der drei Postunternehmen, ohne deren motiviertes und engagiertes Mitwirken unser Werk nicht gelingen kann. Für sie wird eine Zeit enormer, aber auch faszinierender Herausforderungen beginnen.
Dann möchte ich bei den vielen Bedenken und Vorbehalten, die von allen Seiten vorgetragen werden, allen Optimismus und Mut empfehlen, die hier im Deutschen Bundestag, im Bundesrat und in den befaßten Ministerien eine gewaltige Gesetzgebung in kurzer Frist zum Abschluß bringen wollen.
Uns bewegt ein tiefes Gefühl der Verantwortung für die betroffenen Menschen und ihre berufliche Zukunft, für die Unternehmen der Deutschen Bundespost und für die deutsche Volkswirtschaft. Hier ist keiner, der fahrlässig oder leichtsinnig mit den Zukunftschancen der uns anvertrauten Menschen und Werte umgeht. Was wir tun, kommt aus der festen Überzeugung, uns den Anforderungen der Zeit entschlossen stellen zu müssen.
Meine Damen und Herren, die Märkte der Post und der Telekommunikation orientieren sich nicht mehr an nationalen Grenzen, sondern entwickeln sich darüber hinweg. Sie dehnen sich weltweit aus. Es sind Wachstumsmärkte, die durch neue Techniken, neue Anwendungen und das Zusammenwachsen von Computer- und Kommunikationstechnik gekennzeichnet sind. Hier hat sich im internationalen Wettbewerb eine Dynamik entfaltet, die in diesem Ausmaß bei der Postreform von 1989 nicht voraussehbar war. Vor wenigen Jahren noch war nicht abzusehen, in welch kurzer Zeit sich erneuter Handlungsbedarf ergeben würde.
Für die heutige und die zukünftige Informationsgesellschaft ist eine preisgünstige und leistungsfähige Post- und Telekommunikationsinfrastruktur ein äußerst bedeutender Parameter im internationalen Standortwettbewerb. Viele Indikatoren belegen, daß Deutschland auf dem Gebiet der Post und Telekommunikation den Anschluß an moderne Entwicklungen zu verlieren beginnt.
Mit der Postreform II müssen nun unverzüglich die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen für leistungsfähige Post- und Telekommunikationsunternehmen bereitgestellt werden, die sich in einem wettbewerblichen Umfeld, das schon heute besteht, mit gutem Erfolg behaupten können. Es müssen auch die Rechtsgrundlagen dafür geschaffen werden, daß durch staatliche Regulierung eine flächendeckend ausreichende und angemessene Infrastruktur sichergestellt werden kann.
Die Verhandlungen zur Postneuordnung zwischen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD haben sich sehr lange hingezogen. Ihnen allen, meine Damen und Herren, ist die Dringlichkeit der Postreform II bekannt. Sie ist nur bei einer zügigen Verabschiedung noch in dieser Wahlperiode zu verwirklichen. Lieber Herr Kollege Bernrath, wir können unsere mühsam gefundenen Kompromißlinien nicht wieder in Frage stellen und die Gespräche noch einmal von vorn beginnen.
Meine Damen und Herren, uns allen ist klar, daß die Liberalisierung der Märkte europa- und weltweit mit Macht auf uns zukommt. Mit dieser Postreform schaffen wir die Voraussetzungen dafür, daß die Postunternehmen und die deutsche Volkswirtschaft den rasanten Entwicklungen auf den Märkten der Post und Telekommunikation gewachsen sein werden. Bringen wir diese Reform zu einem guten Ende! — Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6717, 12/6718, 12/4329 und 12/6635 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Besteht damit Einverständnis? — Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a bis 6 f sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:6. Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigunga) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1994— Drucksache 12/6719 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Frauen und JugendHaushaltsausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaub) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes und der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 12/6720 —Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftInnenausschußAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauc) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent-
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17946 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Vizepräsident Hans Kleinwurfs eines Gesetzes für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts— Drucksache 12/6721 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnungd) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts
— Drucksache 12/6699 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnunge) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Rabattgesetzes und der Verordnung zur Durchführung des Rabattgesetzes
— Drucksache 12/6722 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft RechtsausschußFinanzausschußf) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Zugabeverordnung— Drucksache 12/6723 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungZP4 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes— Drucksache 12/6481 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und JugendAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke ListeÄnderung des § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes— Drucksache 12/6572 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Darm ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist auf dem Weg aus der wirtschaftlichen Rezession.
Man mag über die Intensität des Aufschwungs noch streiten, aber daß es grundsätzlich aufwärts geht, wird in der Wirtschaft wie bei allen wirtschaftswissenschaftlichen Instituten im In- und Ausland nicht bestritten. Darüber herrscht Übereinstimmung, und auch die Opposition sollte nicht die Wirklichkeit bestreiten, bloß weil sie möglicherweise eine schlechtere Wirklichkeit wünscht.
Damit zeigt sich auch, daß unsere gegen viel Kritik und Widerstände durchgesetzte Wirtschafts- und Finanzpolitik positive Wirkungen zeigt. Wir haben mit dieser Politik die Grundlagen für die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland gelegt, und wir haben die dreifachen Belastungen mit der Überwindung der Altlasten aus 40 Jahren Teilung und totalitärem Sozialismus in einem Teil Deutschlands, aus der Strukturkrise unserer alten Bundesrepublik Deutschland und aus der schleppenden weltwirtschaftlichen Konjunktur insgesamt gut bewältigt.Ich will doch daran erinnern, daß unsere konsequente Spar- und Konsolidierungspolitik dazu geführt hat, daß wir heute in den langfristigen Zinsen nahe am niedersten Niveau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind, was eine ganz wichtige Voraussetzung dafür ist, daß die Investitionsneigung wieder steigt.
Wir haben mit dem Standortsicherungsgesetz gegen Ihren erbitterten Widerstand die steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland verbessert,
und wir haben die Unternehmensbesteuerung insgesamt um elf Punkte in einem Zeitraum von fünf Jahren gesenkt. Die Ertragssteuern für Unternehmen sind heute auf dem niedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben mit unserer Politik der Deregulierung und Privatisierung Freiräume für mehr wirtschaftliche Dynamik und private Initiative geschaffen. Ich nenne die Bahnreform — jetzt endlich —, die Postreform, die jetzt auf den Weg gebracht wird, das Planungsvereinfachungsgesetz und das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Zu den meisten haben Sie, meine Damen und Herren, außer mehr oder weniger unqualifizierten Zwischenrufen und
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Dr. Wolfgang Schäubleeiner gewissen Verweigerungs- und Blockadehaltung im Bundesrat wenig beigesteuert.
— Sie sind in der Kontinuität Ihrer unqualifizierten Zwischenrufe. Das ist wahr.
Wir haben konsequent auf die Modernisierung unserer Volkswirtschaft gesetzt und die Novellierung des Gentechnikgesetzes gegen anhaltenden Widerstand der SPD
in Bundestag und Bundesrat doch durchgesetzt bis zur Verhinderung des Ausstiegs aus der Kernenergie, und wir haben — vor allem der Bundeskanzler ganz persönlich mit seinem Einsatz — zum Erfolg der Uruguay-Runde beigetragen und damit einen wichtigen Beitrag zur Liberalisierung des Welthandels geleistet. Auch dieses trägt zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage bei.
— Herrschaften noch einmal, können Sie mich einmal zwei Sätze an einem Stück reden lassen?
— Ja, gut, aber wenn Sie einmal, Herr Kollege, Ihre Zwischenrufe ertragen müßten, dann können Sie sich vorstellen, daß das, was Sie aushalten müssen, im Vergleich zu dem, was ich aushalten muß, noch relativ einfach und relativ harmlos ist.
— Ich sage Ihnen gleich, Sie werden demnächst noch mehr Gelegenheit zu Zwischenrufen haben. Schonen Sie Ihre Stimmbänder noch ein bißchen.Ich sage: Diese Politik setzen wir mit dem Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung konsequent fort.
Der Vorwurf, es handele sich um ein kurzatmiges oder kurzfristiges Programm, trifft nicht, wenn man sieht, daß wir in der Kontinuität unserer Bemühungen sind, die wir in dem vergangenen Jahr Schritt um Schritt— ich habe nur einige der Schwerpunkte aufgezählt — durchgesetzt haben. Jetzt machen wir das, was wir kurzfristig zusätzlich an konkreten Maßnahmen auf den Weg gebracht haben und erschließen zugleich eine weitere Perspektive, um mittel- und langfristig die Weichen für mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze und mehr Beschäftigung zu stellen. Dies alles geschieht ohne Alternativen durch die SPD.
Wenn man sich Ihre Äußerungen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, mit denen Sie draußen im Lande mit wohlklingenden, aber ziemlich unverbindlichen Erklärungen herumlaufen, einmal genauer anschaut, dann ist das ja schon bemerkenswert. Sie haben nicht einen einzigen ernst zu nehmenden Sparvorschlag als Alternative zur Konsolidierungspolitik der Koalition eingebracht.
Sie haben ausdrücklich Sparmaßnahmen auf bessere Zeiten bzw. auf den Zeitraum nach der Wahl vertagt.
Sie beklagen die hohe Verschuldung und die hohen Steuern. Gleichzeitig haben Sie mit Ihren Parteitagsbeschlüssen zusätzliche Ausgaben in zweistelliger Milliardenhöhe gefordert.
Ihr Parteivorsitzender bringt es ja in dieser Woche fertig, in ein und demselben Zeitungsinterview zunächst zu sagen, es werde jeder bei ihm auf Granit beißen — ich weiß gar nicht, ob er weiß, was Granit ist —,
der mit Steuererhöhungen kommt, und im nächsten Satz zu sagen, daß natürlich die Besserverdienenden deutlich höher belastet werden sollen. Also, der hat sich an seinem eigenen Granit die Zähne offenbar ausgebrochen. Wenn wir nach Ihren Alternativen fragen, dann erinnert mich das an die Bemühungen, einen Pudding an die Wand zu nageln.
— Das bleibt aber richtig. Sagen Sie mal konkret, was Sie wollen.Herr Scharping ist generell gegen Steuererhöhungen, spricht von „auf Granit beißen", und im nächsten Satz fordert er Steuererhöhungen für Besserverdienende. Das ist doch keine verantwortliche Politik.
Die Verringerung der Lohnnebenkosten zu fordern, dreieinhalb Beitragspunkte von der Bundesanstalt für Arbeit auf den Bundeshaushalt zu übertragen — das sind 40 Milliarden DM —, ohne einen einzigen Dekkungsvorschlag zu machen, und gleichzeitig die zu hohe Neuverschuldung zu beklagen und Steuererhöhungen abzulehnen, das ist doch in sich nicht schlüssig, das ist doch eine Politik ohne jede Perspektive und ohne jede Alternative.
Nein, wir müssen dabei bleiben: Die zu hoch gewordene Staatsquote muß gesenkt werden. Wir haben mit 52 % Staatsquote im Herbst 1982 angefangen, und wir haben diese Staatsquote durch eine konsequente
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17948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Wolfgang SchäublePolitik im Laufe der 80er Jahre auf annähernd 46 % zurückgeführt. Sie ist uns im Gefolge der Wiedervereinigung wegen der Lasten von Teilung und Sozialismus,
die wir jetzt bewältigen müssen — ich weiß gar nicht, was es darüber zu lachen gibt —, wieder auf 52 % hochgesprungen. Sie ist damit so hoch, wie sie am Ende Ihrer Regierungszeit ohne Wiedervereinigung gewesen ist, und wir werden sie in den 90er Jahren wieder zurückführen.
Natürlich ist eine Politik, die mittelfristig die Perspektiven für Wachstum und Beschäftigung verbessert, nicht ohne Widerstände durchzusetzen. Wir müssen in Besitzstände eingreifen, und wir haben bei jeder Veränderung natürlich auch Bedenken in vielen Bevölkerungsgruppen — auch in unseren eigenen Reihen -- ernst zu nehmen. Ich erinnere nur an die Diskussion um das Rabattgesetz. Das fällt ja keinem leicht.Aber wenn wir nicht die Kraft aufbringen, uns auch gegen Widerstände durchzusetzen, sind wir zu Veränderungen nicht in der Lage, und wenn wir zu Veränderungen nicht in der Lage wären, dann würden wir den wirtschaftlichen Herausforderungen nicht gerecht werden, und dann würden wir die Chancen für mehr Arbeitsplätze und für mehr Beschäftigung in unserem Lande nicht verbessern können.
— Ja, wer nicht zur Unbequemlichkeit und zu Veränderungen die Kraft hat, ist zur Gestaltung der Zukunft nicht in der Lage, und die Sozialdemokraten sind dazu nicht in der Lage.
— Das ist wahr; darauf ist auch noch einzugehen, aber lassen Sie mich Ihnen zunächst in aller Kürze doch die Schwerpunkte, um die es bei unserem Aktionsprogramm, das wir heute konkretisieren und umsetzen, darlegen.
Es geht in erster Linie darum, daß wir die Wachstumskräfte stärken. Wir brauchen dazu eine Existenzgründungs- und Innovationsoffensive, und wir führen dazu ein Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung selbständiger Existenzen wieder ein, auch in den alten Bundesländern.
Wir legen ein zinsverbilligtes Kreditprogramm zur Förderung risikoreicher innovativer Unternehmensgründungen und zur Förderung von Forschung und Entwicklung und der Innovation für ausgewählte Förderbereiche auf.Wir verbessern die Möglichkeiten, daß Arbeitslose aus der Arbeitslosigkeit in die Gründung selbständiger Unternehmen gehen. Wir verbessern die Möglichkeiten kleiner Kapitalgesellschaften für den Zugang zum Kapitalmarkt durch die Schaffung der Rechtsform der kleinen Aktiengesellschaft.
Wir schaffen durch Privatisierung und durch die Schaffung von Freiräumen — dazu gehört auch das Rabattgesetz — mehr Raum für unternehmerische Initiative und damit für die Stärkung der Marktkräfte, und dies alles läßt sich nicht anders als in dem Bestreben zusammenfassen, durch mehr Freiräume für dynamische Wachstumskräfte mehr Wachstum zu schaffen und damit die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze und mehr Beschäftigung in unserem Land zu verbessern.Der zweite Bereich, auf den sich unsere Bemühungen in diesem Aktionsprogramm konzentrieren,
ist, daß wir Arbeitsplatzsuchende und Arbeitsplätze, für die Arbeitskräfte gesucht werden, schneller und effizienter miteinander in Verbindung bringen müssen.
Deswegen müssen die Vermittlungsbemühungen verstärkt und intensiviert und effizienter werden.
— Sie können ja im einzelnen gleich dazu Stellung nehmen.
Wir schlagen vor, die Möglichkeiten für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe, durch Gemeinschaftsarbeiten auf freiwilliger Basis in Beschäftigung zu kommen, zu verbessern. Wir schlagen vor, daß verstärkt Möglichkeiten geschaffen werden, daß Arbeitslose in Teilzeitarbeit kommen. Wir schlagen für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe vor, durch pauschalierte Zuschüsse die Möglichkeiten für Saisonarbeit deutlich zu verbessern. Wir schlagen für gemeinnützige Unternehmen vor, durch Arbeitsleihverhältnisse nach dem niederländischen START-Modell zusätzliche Möglichkeiten für Arbeitsplatzsuchende zu schaffen und so das Angebot mit der Arbeitsplatzsuche in Übereinstimmung zu bringen. Wir schlagen auch vor, neben der Bundesanstalt für Arbeit auch private Vermittler in die Bemühungen um Arbeitsvermittlung einzuschalten und das Monopol der Bundesanstalt für Arbeit insoweit aufzuweichen. Alles dies geht in ein und dieselbe Richtung,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17949
Dr. Wolfgang Schäublenämlich durch mehr Vermittlung die Chancen von Menschen, einen Arbeitsplatz zu finden, zu verbessern. Ich glaube, in einer Zeit, in der wir eben nicht nur über hohe Arbeitslosigkeit klagen, sondern in der wir in allen Teilen unseres vereinten Deutschland von Süd bis Nord und von Ost bis West in der Bauwirtschaft, in der Landwirtschaft, im gastronomischen Gewerbe und in anderen Bereichen für viele Arbeitsplätze überhaupt keine Arbeitskräfte — jedenfalls keine deutschen — finden, müssen die Vermittlungsbemühungen verbessert werden, wenn wir nicht nur lamentieren, sondern wirklich handeln wollen.
Der dritte Bereich, auf den wir unsere Bemühungen kurzfristig konzentrieren, meine Damen und Herren, hat letztlich mit der Einsicht zu tun, daß wir bei allem wirtschaftlichen Wachstum im industriellen Bereich allein in absehbarer Zeit nicht hinreichend Arbeitsplätze haben werden, um für alle Menschen, die Beschäftigung suchen, Arbeitsplätze zu finden. Es hilft ja gar nichts, man kann sich darüber nicht hinwegtäuschen. Deswegen müssen wir den tertiären Sektor als Arbeitsplatzbereich stärken, d. h. Handel, Handwerk, Dienstleistungen, auch private Haushalte. Darauf konzentrieren sich unsere Maßnahmen im dritten Bereich. Deswegen wollen wir die Möglichkeiten, Schwarzarbeit zu bekämpfen, wesentlich effektiver gestalten. Es macht ja keinen Sinn, daß ein immer größerer Teil unserer wirtschaftlichen Aktivitäten in Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft abgleitet, was ja im übrigen auch unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit nicht hinnehmbar ist. Deswegen schlagen wir vor, die Möglichkeiten steuerlicher Absetzung bei regulär sozialversicherten Arbeitskräften in privaten Haushalten stärker zu verbessern. Es ist doch ein Unfug, daß wir am Ende dieses Jahrhunderts die Arbeitsteiligkeit unserer Gesellschaft zurückentwikkeln, in dem private Haushalte immer weniger für eine Nachfrage nach regulären Arbeitskräften in Frage kommen als in früheren Zeiten und in dem eine der größten Wachstumsbranchen z. B. die Heimwerkerbedarfsmärkte sind, was ja auch nicht für die Arbeitsteiligkeit unserer Gesellschaft spricht. Wirtschaftliches Wachstum ist in der Geschichte immer durch Leistungsaustausch, durch Arbeitsteilung entstanden. Deswegen wollen wir diesen Bereich stärken.
Wir wissen im übrigen, meine Damen und Herren, daß im industriellen Bereich und noch stärker im tertiären Bereich in der Zukunft wahrscheinlich zum Teil nur sehr viel kurzfristiger Arbeitsplätze angeboten werden können, weil wir in einer Welt leben, in der sich die technischen Bedingungen so ungeheuer schnell wandeln, in der die Innovationsgeschwindigkeit zunimmt und in der sich auch die weltwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen so rasch verändern. Deswegen ist es eben richtig, auch für kurzfristigere Beschäftigungsverhältnisse bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Deswegen ist die Verlängerung des Beschäftigungsförderungsgesetzes wiederum eine Maßnahme, die die Chance sichert, daß mehr Menschen Arbeit und Beschäftigung finden. Deswegen soll das Beschäftigungsförderungsgesetz verlängert werden.
Das alles läßt sich letztlich in dem Satz zusammenfassen, daß es doch wohl besser ist, daß die Menschen vorübergehend — notfalls auch befristet oder saisonal oder in Teilzeitarbeit — beschäftigt sind, als daß sie dauernd arbeitslos sind. Sie verteidigen den Besitzstand der dauernden Arbeitslosigkeit.Wenn wir insoweit die Schnittstellen unseres sozialen Systems überprüfen, dann hat das überhaupt nichts mit Sozialabbau zu tun. Wenn wir sagen „Jemand, der teilzeitbeschäftigt ist oder der saisonal beschäftigt ist, muß netto mehr haben als derjenige, der arbeitslos ist, weil sonst die Motivation für Arbeit und Eigenverantwortung Schaden nimmt", dann ist das doch nicht Sozialabbau, sondern dann ist das das Bemühen, den Menschen eine Chance für Beschäftigung und dafür zu verschaffen, daß sie durch eigene Arbeit ihr persönliches Einkommen verbessern. Das ist sozial gerecht und nicht Sozialabbau.
Die Sozialdemokraten wollen statt dessen immer nur den Mangel verwalten. Das ist das einzige, was Ihnen einfällt.
— Ja sicher! — Ich finde übrigens etwas ganz bemerkenswert. Wenn ich richtig gelesen habe, hat ja Ihr Vorsitzender, Herr Scharping, ein Beratergremium. — Beratung kann er gar nicht genug haben bei den unqualifizierten Vorschlägen, die er macht; insofern ist das richtig. — Er hat ja auch Herrn Schiller in sein Beratungsgremium einbezogen. Angesichts dessen, was Herr Schiller in seinem neuesten Buch den Sozialdemokraten ins Stammbuch schreibt, finde ich: Herr Scharping selbst sollte wenigstens das schriftliche Werk seines Beraters lesen.
— Das hat ja Herr Schiller geschrieben. Ich kann Ihnen lange daraus vorlesen.
Herr Schiller schreibt in seinem Buch: Wir brauchen viel mehr Wachstumspolitik und viel weniger Verteilungspolitik. — Da hat er recht, und da meint er Sie, die SPD;
denn Sie können immer nur den Mangel verwalten und verteilen.
— Wer?
Dr. Wolfgang Schäuble— Nein. Ihnen fällt ja nichts anderes ein.
Sie haben immer noch nicht begriffen — —
— Herrschaften noch mal! Herr Präsident, jetzt machen wir mal eine kleine Pause, damit die sich wieder ausschreien können.
— Ich bin ganz ruhig. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich ganz ruhig.
Ich will Ihnen mal folgendes erklären: Es ist schon mühsam. Wenn man nicht einen Satz reden kann, ohne daß einem aus dem „großen" Haufen von mindestens zehn sozialdemokratischen Abgeordneten ständig dazwischengerufen wird, ist es schon einigermaßen mühsam. Es wird im übrigen dem Anliegen, für Millionen Menschen in Deutschland mehr Arbeitsplätze zu suchen, überhaupt nicht gerecht, wie Sie sich hier verhalten.
Herr Kollege Schäuble, der Abgeordnete Mosdorf möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Herr Schäuble, ich möchte Sie erstens fragen, ob Sie in dem Buch von Karl Schiller, das Sie ja mit Aufmerksamkeit gelesen haben, auch die vielen Passagen der kritischen Anmerkungen zu der Art und Weise, in der Sie die Vereinigung betrieben haben, nachgelesen haben.
Zweitens. Können Sie mir mal die Frage beantworten, wie hoch Sie ungefähr den Erfolg des Programms der 30 Punkte, die Herr Rexrodt ausgearbeitet hat, auf dem Arbeitsmarkt quantifizieren? Herr Rexrodt hat ja dieser Tage — ich glaube, gestern — von 200 000 neuen Arbeitsplätzen gesprochen. Können Sie mir bestätigen, daß Sie auch davon ausgehen, daß dieses Programm der 30 Punkte 200 000 Arbeitsplätze bringt?
Herr Kollege, was Ihre erste Frage anbetrifft, so will ich daran erinnern, daß Herr Schiller in diesem Buch schreibt, daß für ihn auch heute noch die deutsche Einheit eine großartige Chance ist, daß wir alle mittel- und langfristig die Gewinner sein werden, daß er die Kritik an der Währungsunion für unberechtigt hält
und daß im übrigen nur der schnelle Weg zur Herstellung der deutschen Einheit geblieben ist, die Sie mit Ihrem Kanzlerkandidaten Lafontaine abgelehnt haben.
Was Ihre zweite Frage — —
— Jetzt müssen Sie mir die Gelegenheit geben zu antworten. Wenn Sie mich fragen, haben Sie Anspruch auf Antwort. Deshalb will ich jetzt Ihre zweite Frage beantworten.
— Jetzt hindern Sie mich doch nicht, Ihrem Kollegen zu antworten!
— Also: Sie haben mich danach gefragt, ob ich Schiller gelesen habe. Nun lese ich Ihnen von Schiller vor, und jetzt ist es auch wieder nicht recht. Dann stellen Sie mir doch nicht die Frage!Zu Ihrer zweiten Frage. Ich bin jemand, der nicht so sehr daran glaubt, daß man dann, wenn man Wachstumskräfte stärkt und die Dynamik des wirtschaftlichen Leistungsaustauschs verbessert, genau quantifizieren kann, wieviel das bringt, weil ich von der Planbarkeit dynamischer Entwicklungen in marktwirtschaftlichen Prozessen nicht so überzeugt bin wie zu viele Ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen.
Das bietet mir Gelegenheit, einmal in aller Ruhe darauf hinzuweisen, daß die Vorstellung — die letztlich hinter allen Arbeitszeitmodellen und ähnlichen Überlegungen steckt —, wir hätten eine bestimmte Menge Arbeit in Deutschland, die wir, wenn nicht alle beschäftigt werden können, nur gerechter verteilen müßten, mit Verlaub für falsch halte. Ich glaube, daß im marktwirtschaftlichen Prozeß die Menge von Gütern und Dienstleistungen, die produziert und nachgefragt werden, nicht eine im vorhinein feststehende Größe und definiert ist — das war sie in der sozialistischen Planungswirtschaft, und deswegen war es damit auch nichts —, sondern daß sie das Ergebnis von Angebot und Nachfrage ist. Das gilt auch für die Menge Arbeit und für die Menge von Arbeitsplätzen, die nachgefragt und angeboten werden. Da ist es — weil das etwas mit Preisen und Kosten zu tun hat — eben so: Je teurer wir Arbeit machen, um so weniger Arbeitsplätze werden wir am Ende haben. Wer die Kosten der Arbeitsstunde verteuert, wird nicht mehr Arbeitsplätze, sondern weniger haben. Deswegen halten wir dies für den falschen Weg.
In diesem Zusammenhang wollte ich Sie bitten, noch etwas zu bedenken. In der Diskussion über Besserverdienende wird oft Neid geschürt. Mit Besserverdienenden sind ja immer die anderen gemeint. Mit jeder Diskussion über Technologie werden letzt-
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Dr. Wolfgang Schäublelieh die Ängste, die viele Menschen verständlicherweise haben, angesprochen. Dies ist übrigens eine rot-grüne Basis. Der Appell an Neid und Ängstlichkeit ist wahrscheinlich die tragende Grundlage für rotgrüne Bündnisse. Aber wer Neid und Ängste schürt und gleichzeitig bei allem immer nach dem Staat ruft, der fördert nicht Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung, sondern er nährt bei den Menschen die Illusion, daß in erster Linie nicht sie selbst für ihr Schicksal verantwortlich seien, sondern daß andere verantwortlich seien. Deswegen sind das ständige Rufen nach dem Staat und die ständige Verteilungspolitik ein Weg in die Illusion und die Demotivation der Menschen. Wir sollten die Menschen motivieren und nicht demotivieren.
Wer immer jeden sozialen und politischen Besitzstand tabuisiert und sich gegen jede Veränderung wehrt, der kann Zukunft nicht gewinnen.
— Herr Gysi, es ist in Ordnung, daß Sie Ihren sozialistischen Genossen beitreten. Ein bißchen Solidarität ist durchaus in Ordnung. Das respektiere ich.
Wenn wir Leistung weiter bestrafen, demotivieren wir und werden nicht mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze haben, sondern das Gegenteil wird eintreten. Das ist nicht mehr soziale Gerechtigkeit, sondern das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit.
In einer Zeit, in der die Dynamik der technologischen Veränderungen so ungeheuer groß ist und in der der weltweite Wettbewerb in einem so rasanten Tempo zu Veränderungen in den wirtschaftlichen Strukturen führt, brauchen wir mehr Mut zur Innovation und mehr Mut zu Veränderungen und weniger Besitzstandstabuisierung und Besitzstandsdenken. Wir haben in einer solchen Zeit überhaupt keinen Grund zur Miesmacherei und Larmoyanz. Wer zukunftsgerichtet handelt, darf nicht immer nur Ängste schüren und den Menschen Mut und Selbstvertrauen nehmen. Deswegen sage ich: Wir haben zur Larmoyanz weder Grund noch Recht. Zukunftsgerichtetes Handeln ist unsere Pflicht. Danach handelt die Koalition. Ich bitte Sie, wenn Sie schon keine Alternativen haben, sehr: Helfen Sie wenigstens mit, daß unser Programm im Bundestag und im Bundesrat zügig verabschiedet werden kann.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Professor Dr. Uwe Jens das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir die Rede des Kollegen Schäuble sehr genau angehört.
Ich möchte sagen: Es ist schon ein bißchen eigenartig, wenn Herr Schäuble von Konsolidierung spricht. Wenn wir in einem Jahr 67 Milliarden DM Neuverschuldung betreiben und er von Konsolidierung spricht, dann habe ich dafür überhaupt kein Verständnis.
Da Sie ja ständig Maßnahmen der Sozialdemokraten anmahnen, darf ich Sie daran erinnern: Wir haben Vorschläge auf den Tisch gelegt, die darauf hinauslaufen, die Steuersubventionen um 14 Milliarden DM zu kürzen.
Greifen Sie diese Vorschläge endlich auf, dann haben Sie auch eine bessere Finanzsituation!
Ich finde es schon schlimm, wenn hier, wie von Herrn Schäuble, solche eklatanten Fehler vorgetragen werden, wonach das Standortsicherungsgesetz von dieser Koalition gemacht worden sei. Wir haben dafür gesorgt, daß die Abschreibungserleichtungen beibehalten wurden. Wir haben auf diese Art und Weise dafür gesorgt, daß investierte Gewinne bessergestellt werden. Das ist unser Drängen gewesen. Das kann seitens des Vorsitzenden der Fraktion der CDU/ CSU einfach nicht unter den Teppich gekehrt werden. Das geht beim besten Willen nicht.
Herr Kollege Schäuble, Sie haben viel geredet. Sie haben wirklich viel geredet, gar keine Frage.
Aber Sie haben aus meiner Sicht nichts Konkretes dazu gesagt, wie Sie z. B. mit den 4 Millionen Menschen fertig werden wollen, die bei den Arbeitsämtern als arbeitslos registriert sind, und mit den 6 Millionen Menschen in diesem Lande, die einen Arbeitsplatz suchen und keinen finden.
Das fehlte aus meiner Sicht bei Ihnen völlig. Hinzu kommen die tagtäglichen Horrormeldungen von großen Unternehmen, daß wieder Tausende, Zehntausende auf die Straße gesetzt werden. Um dieses Problem sollten Sie sich primär einmal kümmern.
Seit fast zehn Jahren versucht die Bundesregierung, die Vorschläge, die heute auf dem Tisch liegen, „Aktionsprogramm" genannt, zu realisieren. Mal kam dieser Vorschlag zum Tragen, und dann mal hat jener Vorschlag das Licht der Welt erblickt. Aber für mehr Wachstum und Beschäftigung sorgen Sie auf diese Art
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Dr. Uwe Jensund Weise aus meiner Sicht nun beim besten Willen nicht.
Offenbar gilt bei Ihnen schon das Karnevalsmotto: Wenn einem das Wasser bis zum Halse steht, dann darf man den Kopf nicht hängen lassen. — Der Bundesregierung steht das Wasser in der Tat bis zum Halse. Das beweist aus meiner Sicht dieses Programm. Allein der Name ist reiner Etikettenschwindel.
Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen wird kein einziger neuer Arbeitsplatz geschaffen. Das beste Beschäftigungsprogramm, das wir heutzutage auflegen könnten, wäre aus meiner Sicht der Abgang dieser Bundesregierung.
Auch das laute Gerede der Regierung über den angeblichen Wirtschaftsaufschwung ist nichts anderes als das Pfeifen im Walde, um sozusagen die eigene Angst zu übertönen.
Es mag ja sein, daß in der zweiten Hälfte dieses Jahres das Bruttosozialprodukt um 0,5 % steigt. Ansteigen wird auf alle Fälle die Zahl der Arbeitslosen um weitere 500 000 auf weit mehr als 4 Millionen registrierte Arbeitslose. Das ist das Ergebnis einer verfehlten Wirtschaftspolitik dieser Regierung.
Die Industrieproduktion ist jedenfalls Ende 1993 um 2,9 % niedriger als im Vorjahr gewesen. Das haben wir gerade gestern vom Wirtschaftsministerium erfahren.Wie in den Vereinigten Staaten besteht bei uns viel stärker die Gefahr, daß es kurzfristig bergauf und dann wieder bergab geht. So etwas nennt man Waschbrett-Konjunktur. Mit Sicherheit wird die Konjunktur dahindümpeln, keine rechte Fahrt bekommen, wenn nicht zusätzlich etwas geschieht. Und von dieser Regierung, meine Damen und Herren, ist das wirklich nicht zu erwarten.
— Ich komme gleich darauf, Herr Lambsdorff.
In den Vereinigten Staaten ist der Konjunkturaufschwung durch aktive Wirtschaftspolitik von Präsident Clinton in Gang gekommen,
durch deutliche Zinssenkungen, durch eine kräftigeFörderung des Wohnungsbaus. — Natürlich warendas die entscheidenden Motive, damit es dort bergauf ging.
In Japan wollen Regierung und Wirtschaft mit massiven Konjunkturprogrammen die Rezession überwinden.Aber woher sollte denn in Deutschland der Aufschwung kommen? Die Löhne und damit der private Konsum werden eher sinken und die Staatsausgaben stagnieren. Aus Panik über die Inkompetenz dieses Wirtschaftsministers flüchtet sich die Koalition in Aktionismus. Aber diese Politik rettet die Koalition nicht mehr.Nach Einschätzung der Ludwig-Erhard-Stiftung ersetzen, so hieß es jüngst, kurzfristiger Aktionismus, fehlgeleitete Subventionen und ein Übermaß an Regulierung immer mehr die notwendigen stringenten ordnungspolitischen Entscheidungen. Der Vorsitzende der Stiftung, der ehemalige Staatssekretär Otto Schlecht, fügte in seinem soeben vorgelegten Bericht hinzu, Wachstum und Beschäftigungsdynamik müßten wieder Vorrang vor Einkommenssteigerung und Umverteilung haben. Er mag zwar den Begriff „Beschäftigungspakt" nicht, aber er fordert genauso wie wir Sozialdemokraten einen neuen Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen.Genau dies würde die Politik der Sozialdemokraten von der Politik dieser Regierung unterscheiden. Wir würden sowohl im Stahlbereich als auch zwischen den Trägern der Wirtschaftspolitik einen regelmäßigen und substantiell vorbereiteten Dialog pflegen, meine Damen und Herren.
Ich wiederhole noch einmal meinen Vorwurf, daß die Politik der Regierung wirklich nichts als Ideologie ist.
Die Politik dieses Wirtschaftsministers ist nur bestimmten Interessengruppen verpflichtet und keinesfalls der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Ich will das begründen.Erstens. Sie reden von Deregulierung — wir ja manchmal auch —, weil das vor allem zur Zeit natürlich en vogue ist. Ihnen geht es jedoch ausschließlich um Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt. Sie bekämpfen damit nicht die Arbeitslosigkeit, Sie bekämpfen die Gewerkschaften. Die Deregulierung im Handwerk — wir haben selbst daran mitgewirkt — ist nur mit gebremstem Schaum betrieben worden. Die notwendige Deregulierung bei Banken und Versicherungen — Graf Lambsdorff ist dagegen, das weiß ich sehr genau —, die wir ständig fordern, wird von dieser Regierung völlig vernachlässigt.
Wann greifen Sie wohl die Vorschläge der Deregulierungskommission in bezug auf die Wirtschaftsbera-
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Dr. Uwe Jenstung oder die Rechtsanwälte auf? Ich prophezeie Ihnen, das wird nicht passieren, denn hierbei handelt es sich genau um die Klientel der F.D.P.
Herr Kollege Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf Lambsdorff?
Ja.
Jetzt geht das Mikrophon, meine Damen und Herren. Ich gestehe gerne zu, ich bin in technischen Fragen nicht so beschlagen, Herr Wieczorek, wie Sie.
Herr Kollege Jens, darf ich Sie fragen, wie Sie zu der Behauptung kommen, daß ich etwas gegen Deregulierung im Bereich von Banken und Versicherungen habe, und darf ich Sie weiter fragen, ob Ihnen vielleicht bekannt ist, wer nun seit Jahren an der Vorfront der Diskussion in puncto Macht der Banken steht und wer immer darauf hingewirkt hat, daß im Versicherungswesen die Liberalisierung — und ich werde das in Zukunft im Finanzausschuß weiter tun — so weit getrieben wird, wie es irgend geht, und zwar über die EG-Richtlinien hinaus.
Wir haben, Graf Lambsdorff, falls Sie das nicht wissen sollten, einen ausführlichen Antrag vorgelegt. Er sieht eine Bekämpfung der Macht der Banken und der Versicherungen vor. Von Ihnen habe ich in einem Punkt, wenn es um die Begrenzung der Anteile der Banken an Nichtbanken geht, Unterstützung erfahren. In allen anderen Punkten hat die F.D.P. dagegengehalten, und natürlich auch die CDU/CSU. Das ist das Ergebnis eines Anhörverfahrens, das wir gerade jüngst durchgeführt haben.
Zweitens. Meine Damen und Herren, Sie wollen z. B. die Beseitigung des Rabattgesetzes, der Zugabeverordnung, möglichst die Aufhebung des Ladenschlußgesetzes. Alle drei Gesetze sind natürlich auch Schutzgesetze für kleine und mittlere Unternehmen. Hier gehen Sie kräftig ran.
Aber warum tun Sie eigentlich nichts gegen die steigende Konzentration im Handel? Warum greifen Sie unsere bekannten Vorschläge zur Bekämpfung der Konzentrationsentwicklung nicht endlich auf? Ich will Ihnen das sagen: Genau dies paßt nicht in Ihre vorherrschende Ideologie. Die Großunternehmen werden geschützt und die Kleinen werden geschröpft.
Ich füge drittens hinzu, um meine These zu untermauern: Sie werfen den Sozialdemokraten gerne vor, wir würden uns mehr um Verteilung kümmern als um die Entstehung des gesamtwirtschaftlichen Kuchens. Das ist Quatsch! Das ist völliger Quatsch.
Aber was machen Sie? In dem Aktionsprogramm geht es fast ausschließlich um die Verteilungsfrage. Zunächst geht es um die Neuverteilung der sowieso knappen Arbeitsplätze. Daneben geht es Ihnen um die Verteilung der Einkommen, und zwar nach dem Motto: Wir sorgen dafür, daß die Reichen in diesem
Lande reicher werden; die Löhne müssen herunter, und die sozialen Hilfen werden gekürzt; daneben werden die Steuern für die Reichsten im Lande weiter gesenkt. Diese Politik ist reine Ideologie. Sie muß möglichst schnell ein Ende haben.
Wir Sozialdemokraten sind nach wie vor der Auffassung, daß der Staat wichtige wirtschaftspolitische Aufgaben hat. Vor allem muß er Rahmenbedingungen schaffen und die Grundsätze der Wirtschaftspolitik konsequent einhalten.
Herr Kollege Jens, der Kollege Cronenberg würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Professor Jens, ich möchte wissen, wie Sie Ihre letzte Äußerung zu den Steuern und die Äußerungen, die Sie sonst immer tun, nämlich daß eine Senkung der Unternehmensteuern auch aus Ihrer individuellen Sicht eine vernünftige und notwendige Maßnahme ist, miteinander in Einklang bringen wollen.
Ich habe eben schon die Tatsache verteidigt, daß wir die Abschreibungserleichterung im Standortsicherungsgesetz verbessert haben. Das bedeutet eine Senkung der Unternehmensteuern, wenn die Gewinne investiert werden.Ich habe kein Verständnis dafür, daß möglicherweise der Spitzensteuersatz für ausgeschüttete Gewinne weiter gesenkt wird. Genau das plant diese Koalition, und genau das wäre eine Begünstigung des Konsums der Unternehmer. Das können wir angesichts der verheerenden Situation der Finanzen, wie Sie sie uns hinterlassen werden, wirklich nicht wollen.
Rahmengesetze brauchen wir, Grundsätze müssen wir beachten, aber auch das wird leider bei Ihnen nicht getan. Dazu gehören aus meiner Sicht vor allem Grundsätze des Verbraucherschutzes und der Umweltpolitik, die man auch in Krisensituationen nicht in Frage stellen darf. Die früher praktizierte Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat war auf keinen Fall grundsätzlich falsch. Grundsätzlich falsch ist es jedoch, den Staat zur Bedeutungslosigkeit verkommen zu lassen.Der Kollege Möllemann hat zweifellos recht, wenn er jüngst festgestellt hat: Der Staat muß sich vom Bremser endlich zum Impulsgeber verwandeln.
Welche Impulse wären aber vordringlich? Es gibt heute mindestens zwei grundlegende unterschiedliche Strategien, mit denen wir unsere Probleme, die wir heute haben, lösen können. Die Regierung betreibt eine angebotsorientierte Deflationspolitik: Die Löhne müssen herunter, und die sozialen Leistungen werden reduziert. Das ist nicht unser Weg.Wir Sozialdemokraten setzen auf Investitionen, Innovationen und Produktivitätssteigerungen. Auf
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Dr. Uwe Jensdiesem Wege können Löhne, soziale Leistungen und ökologische Errungenschaften erhalten werden. Nur so sind neue, rentable Arbeitsplätze auf Dauer zu schaffen.
Dazu gehört unseres Erachtens — ich wiederhole das; Sie mahnen ja immer Maßnahmen an — eine sorgfältig vorbereitete Innovationsoffensive mit folgenden Maßnahmen:Erstens. Verstärkte Hilfe für die Gründung technologieorientierter Unternehmen. Ein Kapitalhilfeprogramm haben Sie auf unser Drängen wieder eingeführt, aber die verstärkte Hilfe für technologieorientierte Unternehmen fehlt noch. Wir werden weiter drängen, und das kommt auch noch.Zweitens. Schließung der Technologielücke im Mittelstand, z. B. durch Wiedereinführung von Lohnkostenzuschüssen für Forschung und Entwicklung. Auch das wäre übrigens eine Maßnahme, um junge Ingenieure, junge Chemiker und Physiker wieder in Brot und Arbeit zu bringen.Drittens. Verbesserte Qualifizierung der Arbeitnehmer.Viertens. Schaffung neuer Formen von Risikokapital. Die Banken haben auf diesem Felde doch völlig versagt.Fünftens. Ein technologieorientiertes Frühwarnsystem, wozu auch die Gründung eines Technologie- und Zukunftsrates gehören würde.Ich mache einen weiteren Vorschlag: Überfällig wäre aus meiner Sicht ein Zuschußprogramm zum Ausbau der Kraft-Wärme-Koppelung, wie wir es seinerzeit hatten und wie Sie es abgeschafft haben. Dies wäre volkswirtschaftlich durchaus sinnvoll sowie ein entscheidender Beitrag zur Energieeinsparung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, z. B. im Stahlbereich und im Tiefbau.Aber ich weiß, die Regierung pfeift wirklich auf dem letzten Loch. Was wir brauchen, ist keine angebotsorientierte Deflationspolitik, wir brauchen vielmehr dringend eine angebotsorientierte Expansionspolitik, eine Politik zur Förderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums, meine Damen und Herren.Es ist doch kein Zufall, daß Deutschland bei der Überwindung der weltweiten Rezession mittlerweile zum Schlußlicht geworden ist. Die noch immer viel zu hohen Zinsen und die deflatorische Wirtschaftspolitik bremsen nicht nur die Entwicklung in unserem Lande, sondern die weltwirtschaftliche Entwicklung insgesamt.Im internationalen Vergleich sind wir sowohl bei der Arbeitslosigkeit als auch vor allem bei der Preisentwicklung tief nach unten gerutscht. Dies ist schlicht und einfach das Resultat der wirtschaftspolitischen Sünden dieser Regierung. Das ist die Konsequenz des Versagens der Regierung Kohl/Rexrodt, meine Damen und Herren.
Ich muß dieser Regierung mindestens fünf Todsünden in der Wirtschaftspolitik vorwerfen.Erstens: die schwerwiegenden Fehler, begangen mit der wirtschaftspolitischen Handhabung der deutschen Vereinigung. Zu der Vereinigung habe ich aus voller Überzeugung ja gesagt. Aber die wirtschaftspolitische Handhabung der Vereinigung war wirklich keine Heldentat. Noch heute werden die Konsumausgaben in den neuen Bundesländern über Neuverschuldung in den alten finanziert — eine wirkliche Todsünde, wie ich meine.Eine zweite Todsünde ist die exorbitante Steigerung der deutschen Staatsverschuldung insgesamt. Selbst in wirtschaftlich guten Zeiten haben Sie die Neuverschuldung nach oben getrieben. Damit wurde dieser Staat in wirtschaftspolitischen Dingen geradezu handlungsunfähig gemacht.
— Regen Sie sich doch nicht auf! Schauen Sie sich vielleicht einmal die Daten an, und dann regen Sie sich auf! Selbst 1988 und 1989, als die Konjunktur wirklich gut lief, ist die Neuverschuldung, die zusätzliche Verschuldung noch gestiegen. Das können Sie doch nicht leugnen.Die dritte Todsünde ist die von Ihnen betriebene Verschärfung der sozialen Probleme in unserem Lande. Nicht Konfrontation mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft wäre angesagt, sondern Konsensbemühung und Kooperation.Viertens. Es ist eine gewaltige Fehleinschätzung, fast ausschließlich die Gewerkschaften und die Tarifvertragspolitik für Ihre Fehler verantwortlich zu machen. Sie haben es versäumt, Finanzpolitik, Geldpolitik und Tarifvertragspolitik zusammenzuführen. Das wird sich auf Dauer in diesem Lande bitter rächen.
Fünftens. Schließlich machen Sie, wie dieses Programm beweist, das wir heute diskutieren, in Aktionismus. Torschlußpanik macht sich bei Ihnen breit. Das sogenannte Aktionsprogramm ist ein reines Ablenkungsmanöver und löst keine wirklichen Probleme in unserem Lande. Es beweist nur, daß diese Regierungskoalition nach fast zwölf Jahren nahezu handlungsunfähig geworden ist.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist gelegentlich schon merkwürdig, was man sich von der SPD an Widersprüchen anhören muß. Der Kollege Struck und ich haben neulich im Wasserwerk miteinander diskutiert. Dabei hat er sich sehr in die Brust geworfen und gesagt, er habe hier noch nie Sozialabbau zugestimmt. Ich habe ihm das bestätigt. Daß dann anschließend im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß die SPD die sogenannten sozialen Schweinereien mitgemacht und keineswegs wie eine Wand gestanden hat, hat er dann anständigerweise auch bestätigt. Da waren wir uns wieder einig. Nur, so kann
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17955
Dr. Otto Graf Lambsdorffman mit den Bürgern nicht umgehen, daß man ihnen immer nur die halben Wahrheiten erzählt.Von Herrn Lafontaine, meine Damen und Herren, lese ich im „Handelsblatt": Es darf nicht länger sein, daß deutsche Gentechnologie nach Amerika abwandern muß, weil den Unternehmen hier eine Hürde nach der anderen in den Weg gelegt wird. — Ja, wer zum Teufel hat ihnen denn diese Hürden in den Weg gelegt, wenn es nicht die Sozialdemokraten waren, die sich überhaupt jeder Anwendung von Technik entgegenstellen!
Hier in diesem Hause hat die SPD-Fraktion dem Bonn/Berlin-Gesetz, dem Umzugsgesetz, zugestimmt; Frau Matthäus-Maier hat gleichzeitig „nie" verkündet, und Herr Scharping hat am selben Tag „schon 1996" gesagt. Einer widerspricht dem anderen, und Sie versuchen, das der Öffentlichkeit zu verkaufen.
Herr Kollege Graf Lambsdorff, Herr Kollege Schwanhold möchte eine Frage stellen.
Verzeihung, Herr Präsident, ich will das eben zu Ende bringen.
Der Kollege Jens erzählte eben etwas über die Bankenmacht und die wackere Haltung der SPD dazu. Ich bin mit Ihrem Kollegen Wieczorek in dieser Frage sehr viel mehr einig als Sie. Wo aber haben Sie eigentlich die Auseinandersetzung mit der Westdeutschen Landesbank in Düsseldorf, diesem sozialdemokratischen Imperium im Kreditwesen, bezüglich deren Finanzierung gelassen?
Aber ich muß dem Kollegen Jens auch bescheinigen, daß er ein mutiger Mann ist. Er hat gesagt, er habe die deutsche Einheit freudig begrüßt. Wer in seiner Partei und Fraktion eine Minderheitenposition einnimmt, den muß man für seinen Mut immer loben, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Schwanhold, bitte.
Herr Kollege Lambsdorff, ich möchte gerne die Frage stellen, ob Sie mit einer Zahl belegen können, daß Arbeitsplätze aus dem gentechnischen, produzierenden Bereich wirklich in die USA abgewandert sind. Es muß endlich einmal mit dem Ammenmärchen aufgeräumt werden, daß gentechnische Produktionsarbeitsplätze aus der Bundesrepublik abgewandert seien. Ich würde gerne von Ihnen Zahlen hören.
Meine Damen und Herren, jeder, der sich nur in etwa damit beschäftigt hat, weiß, daß die Genforschung heute nicht mehr in Deutschland stattfindet, sondern in Massachusetts, weil sie dorthin verscheucht worden ist, und daß die Unternehmen darüber nachdenken, ob sie bei weiteren Hindernissen, die ihnen hier in den Weg gelegt werden, nun auch ihre Produktion ins Ausland verlegen. Wir sind genau auf diesem Wege, und zwar wegen Ihrer Bedenken.
Auch der Kollege Mosdorf möchte gerne eine Frage stellen.
Herr Präsident, wenn mir das alles nicht auf die Redezeit angerechnet wird, —
Wird es nicht.
— will ich dem Kollegen Mosdorf ganz besonders gerne antworten. Bitte schön.
Das ist eine besondere Ehre. Verehrter Herr Lambsdorff, wollen Sie mir erstens bestätigen, daß das Gentechnikgesetz 1990 von Ihrer Mehrheit verabschiedet worden ist?
Wollen Sie mir zweitens bestätigen, daß wir hier im Deutschen Bundestag nach mühseligen Prozessen — Sie brauchen nur einmal Ihre Forschungs- und Technologiepolitiker zu fragen — in der Frage der Novellierung des Gentechnikgesetzes zu einem Konsens gekommen sind?
— Ich frage, ob er bestätigen möchte, daß wir diesen Konsens gefunden haben und daß dieser, Herr Lambsdorff, von der chemischen Industrie begrüßt wurde.
Die dritte Frage an Sie: Ist es eigentlich richtig, daß wir bei der Frage der Bio- und Gentechnologie und den Novellierungen, die wir jetzt erreicht haben, die Debatte auf eine sachliche Ebene gehoben haben und uns damit die ideologische Diskussion, die Sie jetzt rückwärtsgewandt führen, sparen können?
Ich will Ihnen gerne bestätigen, daß es zum Schluß Übereinstimmung gegeben hat. Es wurden aber sehr viele Einwände nach meiner Auffassung in bedenklicher Weise berücksichtigt. Das gilt sowohl für das erste Gentechnikgesetz wie für die Novelle, weil die Folgerungen vorauszusehen waren.Was die Ideologie anbelangt: Ich hätte es nicht aufgegriffen, wenn nicht Herr Lafontaine dreist behauptet hätte, es sei die Bundesregierung gewesen, die auf diesem Gebiet die Hindernisse in den Weg gestellt habe. Das war in der Tat nicht der Fall.
Herr Mosdorf, ich will bei dieser Gelegenheit — es betrifft zwar nicht mehr Ihre Frage, ich möchte es aber, wenn der Präsident erlaubt, in die Beantwortung einbringen — Ihren Hinweis auf Karl Schiller und das Thema „ökonomische Wiedervereinigung — zu schnelle Wiedervereinigung" aufgreifen.
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Dr. Otto Graf LambsdorffSie waren zu dieser Zeit noch nicht hier. Wir haben damals darüber diskutiert, ob man einen graduellen Übergang des wirtschaftlichen Zusammenwachsens der „beiden deutschen Staaten" anstreben oder die sofortige Eingliederung vorziehen sollte. Ich habe damals zur Diskussion gestellt, ob das Langsamere, wirtschaftlich, ökonomisch gesehen, nicht vernünftiger sei, und habe wütenden Widerspruch von Frau Matthäus-Maier erfahren, der politisch richtig war; das will ich ausdrücklich bestätigen. Sie hat gesagt: Das kann nicht gehen. Damit hatte sie, wenn man die Wünsche unserer Landsleute ansah, völlig recht. Es konnte nicht anders gehen.Diese Kritik, die heute von Karl Schiller geübt wird und die Sie zitiert haben, ist ökonomisch nach wie vor richtig, politisch aber abwegig. Da ginge das gar nicht.Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir bringen heute die ersten Gesetze zur Umsetzung des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung auf den Weg. Es sind Gesetzesvorhaben, die die F.D.P.-Fraktion mit vollem Herzen unterstützt. Die setzen auf den schlanken Staat, zwingen die Länder, die Privatisierung öffentlicher Aufgaben als Alternative ernst zu nehmen; sie setzen auf mehr Flexibilität für den Arbeitsmarkt, verbessern den Wettbewerb zum Wohl des Verbrauchers, unterstützen die Leistungsfähigkeit des Mittelstands, erhöhen die unternehmerische Freiheit, bauen Überregulierungen ab, und sie brechen Verkrustung und Besitzstandsdenken auf. Das ist in Ordnung. Mit den mittelstandspolitischen Maßnahmen ist dies ein rundes Programm. Es setzt Rahmenbedingungen, um mehr wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen.Und, Herr Jens, der Hinweis auf die USA, was die Zinspolitik anlangt, war sicher falsch. Das hat nicht Herr Clinton gemacht, sondern die Federal Reserve unter Alan Greenspan. Sie wissen, daß es eine Diskussion gibt, die kurzfristigen Zinsen vielleicht wieder anzuheben.Was die japanischen Nachrichten von heute morgen über ein riesiges Konjunkturprogramm anlangt, frage ich: Wollen Sie bei uns die Einkommensteuer senken in dem Ausmaß, wie es die .Japaner tun? Wollen Sie uns das empfehlen? Außerdem, sehen Sie sich den japanischen Staatshaushalt an, der eben nicht solche Defizite hatte wie der unsere.
— Wir sind es nicht, ich komme nachher noch auf die Staatsverschuldung zu sprechen. — Dieses japanische Beispiel ist ökonomisch bei uns nicht anwendbar, und es ist auch nicht finanzierbar.Unser Aktionsprogramm ist bewußt auf kurzfristig realisierbare Maßnahmen konzipiert. Es ist das Konzept der Koalition für diese Legislaturperiode. Die Projekte der mittelfristig orientierten Wirtschaftspolitik der Koalition sind im Bericht zur Zukunftssicherung von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt festgehalten. Hier sollten die Wirtschaftsexperten der SPD nachschlagen, wenn sie gute Ideen suchen. Seit September haben sie den Bericht.Das Aktionsprogramm kann keinen sofort meßbaren Effekt auf das Wachstum im nächsten Monat haben. Eine Volkswirtschaft ist doch kein Wasserhahn, den man auf- und zudrehen kann. Es entfacht eben kein Strohfeuer wie sozialdemokratische Nachfrageprogramme, die man ja bei Ihnen wieder heraushören konnte, Herr Jens.Aber es ist richtig, daß es das Vertrauen von Investoren und Konsumenten stärkt, das Vertrauen in eine solide, wachstums- und beschäftigungsfreundliche Politik der Koalition. Und damit legt es zum jetzigen Zeitpunkt die feste Grundlage für einen nachhaltigen Aufschwungprozeß.Ich sage „zum jetzigen Zeitpunkt" deshalb, Herr Jens, weil wir inzwischen doch sehen, daß wir aus der Talsohle — wenn auch langsam — wieder herauskommen. Die Erwartungen des Bundeswirtschaftsministers und der Bundesregierung — wir werden das im Jahreswirtschaftsbericht diskutieren — hinsichtlich der Projektion für das Jahr 1994 erscheinen mir realistisch. Auch ich habe die Projektion des Sachverständigenrates vor einigen Monaten für zutreffend gehalten. Es sieht heute besser aus.Und nun sollten wir eines nicht tun. Wir sollten das nicht tun, was in der Wirtschaft unter dem Stichwort Konjunkturpsychologie immer wieder vorkommt. Wenn wir uns auf der Höhe des Booms befinden, dann bleibt die Stimmung zu lange positiv, als es eigentlich noch gerechtfertigt ist, und wenn es wieder nach oben geht aus der Talsohle, dann bleibt die Stimmung zu lange mies, als es eigentlich gerechtfertigt ist. Das ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Menschen in den Unternehmen verständlich, es ist immer so gewesen. Aber wir hier, meine Damen und Herren, sollten doch diesen pessimistischen Trend in dieser Lage nicht noch verstärken; aber das tun Sie mit Ihrer Haltung und dem, wie Sie das hier ausgedrückt haben.
Das Programm hat inhaltlich große Zustimmung erfahren. Die Kritik richtet sich gegen Einzelpunkte. Frau Babel wird nachher zum Thema private Arbeitsvermittlung etwas sagen.Nur eines will ich dazu bemerken: Die Bundesanstalt wird bei ihrer Vermittlertätigkeit weiterhin von den Beitragszahlern finanziert. Private Vermittler müssen Gebühren erwirtschaften. Wer in einem solchen Wettbewerb mit weitaus besseren Startchancen, nämlich die Bundesanstalt, nicht konkurrieren kann, der taugt ohnehin nicht sehr viel.Die Abschaffung des Rabattgesetzes ist seit langem überfällig, meine Damen und Herren. Auch hierzu — einfach aus Zeitgründen — nur eine kurze Bemerkung. In Österreich ist ein Rabattgesetz 1992 aufgehoben worden. Ich habe weder etwas von einem Weltuntergang des österreichischen Einzelhandels noch etwas von Legionen betrogener Verbraucher gehört.„Überregulierung, überflüssige Zentralisierung und bürokratische Erstarrung müssen abgebaut werden. " Das ist kein Zitat aus dem F.D.P.-Wahlprogramm, das schrieb Oskar Lafontaine vor kurzem im „Handelsblatt". Aber wo steht die SPD insgesamt?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17957
Dr. Otto Graf LambsdorffWer mehr liest als die schönen Überschriften Ihrer Programme und Pläne, der bleibt ziemlich ratlos zurück.Ich zitiere Herrn Scharping in der „Bild"-Zeitung vom 31. Januar — Herr Schäuble hat das ja auch schon zitiert —:Bei mir wird jeder auf Granit beißen, der mit zusätzlichen Ausgabenwünschen oder Steuererhöhungen kommt.„Da bin ich knüppelhart", hat er noch hinzugefügt.Im letzten Jahr haben Scharping und Lafontaine gefordert, eine Ergänzungsabgabe einzuführen, Grundsteuer, Vermögensteuer, Erbschaftsteuer für Immobilienbesitz über die Erhöhung der Einheitswerte kräftig zu erhöhen, die Erbschaftsteuer generell massiv zu verstärken, den Höchstsatz der Einkommensteuer über 53 % hinaus zu erhöhen und eine Arbeitsmarktabgabe einzuführen. Da bin ich knüppelhart gegen Steuererhöhungen.Daß Scharping weiterhin zu dem Vorhaben der stärkeren steuerlichen Belastung des Vermögens, des Grundbesitzes und der Erbschaft steht, das zeigt er im gleichen „Bild"-Zeitung-Interview:Leistungslose Einkommen müßten deshalb stärker als bislang herangezogen werden.Was will Herr Scharping? Plant er den Totalangriff auf Sparvermögen?
Will er mitkassieren, wenn der Arbeiter von seinen Eltern das Häuschen oder die Eigentumswohnung erbt? Was sind eigentlich „leistungslose Einkommen"? Was sind eigentlich „leistungslose Vermögen"? Sind es Zinsen auf Sparkonten, Zinsen auf Bundesanleihen, Zinsen auf rheinland-pfälzische oder saarländische Staatsschulden? Sind das leistungslose Einkommen?Meine Damen und Herren, ich warne unsere Mitbürger: Ihr, die Mitbürger, wollt, daß Zinsen auf euer erspartes Geld steuerfrei bleiben. Die meisten Menschen sagen: Ich habe mein Geld gespart, jetzt bekomme ich Zinsen darauf. Warum soll ich dafür noch Steuern zahlen? Das ist die Grundtendenz der Menschen. Sie müssen Steuern zahlen, das ist richtig. Scharping und Lafontaine wollen die Steuern auf Sparzinsen erhöhen, und sie wollen damit auch eure Altersvorsorge gefährden.Noch schlimmer: Eltern legen sich krumm, sie sparen für ihre Kinder. Was die Kinder erben, ist „leistungslos" erworbenes Vermögen. Das kassiert die SPD für die Finanzierung der Staatsschulden.
Meine Damen und Herren, tiefer kann man nicht mehr in die Kiste sozialistischer Marterwerkzeuge greifen. Das ist die Ausplünderung unserer Steuerzahler und unserer Sparer; das ist dummes Zeug.
Tiefer kann man sein Unwissen über die Zusammenhänge von Sparen, Kapitalbildung, Investitionen undArbeitsplätze überhaupt nicht mehr demonstrieren,als es Herr Scharping in diesem Interview in der „Bild"-Zeitung getan hat.
Und der behauptet, auf Karl Schiller und Helmut Schmidt zu hören? — Auf Karl Marx hört er.Dasselbe zweideutige Spiel gibt es bei der Mineralölsteuer. Herr Scharping lehnt ihre Erhöhung kategorisch ab, um im gleichen Atemzug — alles im selben Interview — höhere Energiesteuern zu verlangen. Seine Genossen fordern sowieso offen die Mineralölsteuererhöhung.Wer so redet wie die SPD, verstrickt sich nicht nur in Widersprüche; das ginge ja noch. Sie verunsichern die Leistungsfähigen. Sie irritieren den Mittelstand. Sie belasten den Investor. Sie vertreiben Sparvermögen und Kapital ins Ausland. Sie schaden der Konjunktur und der Beschäftigung.Die Großzügigkeit der SPD-Wirtschaftspolitik nimmt mit dem Näherrücken des Wahltermins zu. Es werden versprochen — ich muß jetzt aus Zeitgründen sehr schnell lesen, denn die Liste ist so lang —: mehr Mittel für Forschung und Technologie, Kostenübernahme durch den Staat bei Teilzeitarbeit, Förderung von Energieeinsparung, befristete Investitionszulagen, zinsverbilligte Kreditprogramme, Technologie- und Markteinführungsförderung, usw. Ich kann es gar nicht alles vorlesen; ich nenne nur als weitere Beispiele noch die umfassende Sanierung ehemaliger ostdeutscher Unternehmen bei Aufgabe des Ziels der Privatisierung, ein Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit" und die Unterstützung des 30-Milliarden-Nachfrageprogramms von EG-Präsident Delors.Herr Jens fügte heute noch hinzu: Zuschuß für Kraft-Wärme-Kopplung. Es fällt der SPD sicherlich noch mehr ein, was sie schon gefordert hat und was sie noch fordern könnte.
Man kann das gar nicht alles finden. Hier wird jedem SPD-Wähler seine Förderung versprochen.
Es ist gut, meine Damen und Herren, daß Herr Scharping gleichzeitig als Hauptaufgabe der zukünftigen Regierung die Beschränkung der Staatsausgaben auf das absolut Notwendige verlangt. Aber mit der SPD schafft er das nicht — wie Helmut Schmidt seinerzeit.Wie die Konsolidierung konkret aussehen soll angesichts der versprochenen Wohltaten für das Volk, das sagt keiner aus der SPD. Wie weit will man eigentlich Vermögen- und Erbschaftsteuer erhöhen? Das, was die SPD will, paßt nicht zusammen. Die Quadratur des Kreises ist noch keinem gelungen, erst recht der SPD nicht; die hat schon Mühe, runde Sachen zustande zu bringen.
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17958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Otto Graf LambsdorffMeine Damen und Herren, diese Koalition hat gezeigt, daß sie den öffentlichen Haushalt konsolidieren kann, und zwar ganz im Gegensatz zu Ihnen.
Wir haben nach 1982 diesen Beweis angetreten. Wir haben gespart, wir haben die Steuern gesenkt.
Zehn Jahre Wachstum und über 3 Millionen neue Arbeitsplätze waren die Erfolge. Wir hatten die Höchstbeschäftigtenzahl, die es in der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat.
Dagegen hat die SPD nie den Beweis für ihre Fähigkeit und ihre Bereitschaft zur Konsolidierung angetreten — außer in Parteitagsreden und im Programm. Bisher haben Sie nur das Gegenteil demonstriert.Bis 1982 hat die SPD so lange Ausgaben und Steuern erhöht, bis die F.D.P. diesem Spiel ein Ende gemacht hat. Die SPD hat die Staatsverschuldung damals hochgetrieben, und zwar ohne deutsche Einheit.
Womit wir uns hier in den Konsequenzen beschäftigen, ist die Finanzierung der deutschen Einheit. Das ist die beste Investition, die die Bundesrepublik Deutschland jemals machen konnte. Aber Sie haben das alles veranstaltet ohne die Einheit, die viele von Ihnen ja gar nicht wollten.
— Deswegen habe ich es zu Ende gebracht. Jawohl. Mit Ihnen. Genau deswegen, weil ich Wirtschaftsminister war und mit Ihrer Politik um die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland fürchten mußte. Deswegen war Schluß.
Meine Damen und Herren, die jetzt vorgelegten Ideen und Programme der SPD zeigen, daß sie nichts dazugelernt hat. Sie setzen weiter auf Neid statt auf Leistung. Sie sind und bleiben eine Umverteilungs- und Steuerpartei.Ich sehe, daß sich der verehrte Kollege Struck erhebt. Das gibt mir noch ein bißchen mehr Zeit.
Graf Lambsdorff, sind Sie bereit, die Zwischenfrage des Dr. Peter Struck zu beantworten?
Mit dem allergrößten Vergnügen.
Graf Lambsdorff, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie den SPD-geführten Bundesregierungen bis 1982 vorgeworfen haben, sie hätten eine riesige Staatsverschuldung und dergleichen produziert, und daß das der Grund für Sie gewesen sei, 1982 aus der Regierung herauszugehen? Darf ich Sie weiter fragen, ob beispielsweise jeder Haushaltsentwurf, der von einer Bundesregierung,
beginnend von 1969 bis 1982, auch unter Ihrer Beteiligung als Wirtschaftsminister, vorgelegt wurde, immer gegen Ihre Stimme im Kabinett beschlossen worden ist?
Bitte geben Sie doch erst einmal dem Redner eine Chance zu antworten, bevor Sie die Antworten mit einem Kommentar bedenken.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich höre aus dem Zwischenruf mit Vergnüglichkeit, wie sehr ich an diesem oder an anderen Ämtern hänge. Damit ist es nicht so weit her, aber das entnehmen Sie Ihrer eigenen Phantasie und Ihren eigenen Wunschvorstellungen, Herr Gilges. Damit bringen Sie mich nicht in Verlegenheit.
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Auch die der Bundesregierung nahestehenden Medien ließen kein gutes Haar an diesem Sammelsurium von Gesetzesvorlagen. — Ich kann Ihnen nur sagen, daß ein Gespräch mit Herrn Reuter immer lohnt. Insofern empfehle ich Ihnen, es nachzuholen, wenn Sie es bisher noch nicht geführt haben. Ein Gespräch bedeutet allerdings keine Standpunktgleichheit.In früheren Zeiten hätte die Bundesregierung unter einem Wachstums- und Beschäftigungsprogramm eine Steigerung der investiven Ausgaben des Staates und aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen verstanden, um der konjunkturellen Krise und der hohen Massenarbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Heute versucht die Bundesregierung nur noch schlecht kaschiert den Schein zu wahren. In Wirklichkeit geht es ihr jedoch um weitere Einschnitte in den Sozialstaat, um Privatisierung und Deregulierung, um eine weitere Umverteilung von unten nach oben. Mit ihrem Gesetzespaket wird nicht ein einziger neuer Arbeitsplatz geschaffen werden. Im Gegenteil: Es werden sogar Arbeitsplätze abgebaut werden.Herr Schäuble, Sie haben hier bestritten, daß es Maßnahmen des Sozialabbaus gibt. Ich frage Sie: Können Sie die Reduzierung der Entgelte für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um 20 % ernsthaft anders nennen als Sozialabbau?
Das ist doch direkter und unmittelbarer Sozialabbau. Wissen Sie, wie hoch die durchschnittliche Vergütungfür Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten Deutschlands ist? Wenn Sie die auf 80 % reduzieren, stürzen Sie die Betroffenen schon in Armut nach den EG-Richtlinien. Da damit die Arbeitslosenunterstützung reduziert wird, wenn die AB-Maßnahme ausläuft, bedeutet das, die Armut in diesem Zusammenhang noch wesentlich zu vertiefen. Es ist mir völlig unklar, wie man eine solche Tatsache leugnen kann.Die Kürzungen erzeugen nicht nur Armut, sondern sie vergrößern auch die Abstände zu Lohneinkommen. Das wiederum ist die Basis für die Forderung nach weiteren künftigen Lohnreduzierungen. Im übrigen hat es auch noch negative wirtschaftliche Folgen. Ich weise nochmals darauf hin: Wenn Sie den sozial Schwachen in diesem Land Geld wegnehmen, konsumieren diese real weniger. Das führt zu Umsatzverlusten bei Handel und Dienstleistungen und zum Produktionsrückgang und damit zum Abbau von Arbeitsplätzen. Wenn Sie den Vermögenden in diesem Lande etwas wegnehmen, sparen diese höchstens weniger. Das führt zu einer veränderten Zins- und Kreditpolitik und damit zur Wirtschaftsbelebung.Die Bundesregierung will außerdem das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit beseitigen. Auch damit wird alles mögliche geschaffen, bloß kein einziger neuer Arbeitsplatz, abgesehen davon, daß die Bundesanstalt dieses Monopol nie besaß, da rund zwei Drittel der Vermittlungen neuer Einstellungen über Annoncen und direkte Kontaktaufnahmen erfolgen. Die Privatisierung der Arbeitsvermittlung folgt einer bestimmten Logik und Methode zur Zerstörung und Beseitigung der sozialstaatlichen Systeme, und das immer nach dem gleichen Muster. Privat vermittelt werden nur die, deren Vermittlung auch tatsächlich erfolgt. Denn nur das sichert den Verdienst des privaten Arbeitsmaklers. Es werden also meist jüngere, qualifizierte, auch zu niedrigeren Einkommen bereite Erwerbsarbeitslose vermittelt. Frauen, Migranten, weniger Qualifizierte oder Menschen mit Behinderungen werden mit der Bundesanstalt für Arbeit vorliebnehmen müssen. Die Deregulierung der Arbeitsvermittlung führt nicht nur zu einem Zweiklassensystem. Sie bewirkt auch eine vollständige Entsolidarisierung. Gerade die Menschen, die auf Grund ihres Alters, ihrer geringeren Qualifikation usw. größere Probleme haben, eine neue Arbeit zu finden, die besonders auf die gesellschaftliche Solidarität angewiesen wären, erfahren sie nicht.Schließlich bewirkt die Privatisierung auch eine Umverteilung von Ressourcen. Rentabel wird die private Arbeitsvermittlung, weil sie sich nicht um Gleichheitsgrundsätze und Solidarität zu kümmern braucht, sondern eine Auslese trifft, welche Arbeitskräfte sie vermittelt und welche nicht. Das, was sich privat nicht rentiert, wird dem Staat, der Gesellschaft überlassen.Ich sage Ihnen eines: Nach diesem Schema funktionieren alle Ihre sogenannten Reformen, seien es die Rentenpläne, die Gesundheitsreform, die Postreform,
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17960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Gregor Gysidie Bahnreform. Was hier noch schlimmer ist als in den anderen Bereichen: Sie organisieren das Geschäft, den Kommerz mit der Arbeitslosigkeit.
Es ist ganz klar, was beim privaten Arbeitsmakler ablaufen wird. Er hat zehn Ingenieure und ein Arbeitsplatzangebot für einen Ingenieur. Dann fragt er die einzelnen ab, was sie zusätzlich an ihn zu zahlen bereit sind, wenn der Arbeitsplatz durch ihn an die eine oder andere Person vermittelt wird. Es ist ein ungeheures Geschäft, das Sie damit eröffnen, aber nicht Abbau von Massenarbeitslosigkeit.
Und Sie tun so, als ob diese ganze Politik, diese marktradikale Politik ohne Alternative wäre. Sie qualifizieren staatliche Konjunktur-, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktprogramme als verstaubte Rezepte vergangener Jahre ab. Dabei sind Ihre Rezepturen noch viel älteren Ursprungs. Sie entspringen den Zeiten des Manchester-Kapitalismus, der noch keine sozialstaatlichen Systeme kannte. Sie entspringen der Notverordnungspolitik der Regierung Brüning, die im Grunde genommen zusätzliches Öl in die damalige schwere Rezession goß, indem sie durch Kürzung von Einkommen und Sozialleistungen die Binnennachfrage strangulierte. Genau das macht die Bundesregierung jetzt auch.Im übrigen finde ich es hochinteressant, daß sowohl Großbritannien als auch die USA inzwischen die Ära Thatcher bzw. Reagan längst überwunden haben und das als eine fehlerhafte Politik zur Wirtschaftsbelebung einordnen, daß aber wir jetzt anfangen, in der Bundesrepublik Deutschland genau diese Politik nachzuvollziehen.
— Ja, wir nicht, das ist richtig, aber die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem Hause.
Und es gibt eben politische Alternativen zu dieser Regierung und ihrer verheerenden Politik.Ich will Ihnen einmal ein konkretes Beispiel nennen. Es ist nicht erforderlich, daß die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. Nicht nur daß die bundesdeutschen Unternehmen über 700 Milliarden DM frei vagabundierendes Kapital auf ihren Konten verfügen — richtig in Mode gekommen sind inzwischen die sogenannten Derivate, also die pure Spekulation mit Aktien, Devisen und Optionsscheinen. Die Deutsche Bundesbank errechnete im vergangenen Jahr im Derivategeschäft ein Volumen von 6 Billionen DM, d. h. von 6 000 Milliarden DM, nur im Bereich dieser Bundesrepublik.Es könnten beispielsweise diese 700 Milliarden frei vagabundierendes Kapital, die nicht investiert werden, sondern sich durch Verzinsung vermehren, besteuert werden. Jeder Unternehmer, jeder Handwerksbetrieb muß Umsatzsteuern entrichten; warum eigentlich diese Kapitaleigner nicht? Warum sind Sie nicht bereit, eine Umsatzsteuer für die Derivatespekulanten einzuführen? Bei 6 000 Milliarden DM würde allein eine Umsatzsteuer von nur 2 % einezusätzliche Einnahme des Staates von 120 Milliarden DM auf einen Schlag bewirken.Das gesamte Steuersystem setzt falsche Signale. Sie befördern Finanzkapital und bestrafen Produktivkapital. Sie können heute einem Unternehmer, der 10 Millionen DM besitzt, gar nicht wirklich raten, das zu investieren. Er fährt viel günstiger, wenn er es auf die Bank trägt. Das muß gedreht werden.Es gibt noch eine andere Frage. Denn es gibt hoch kapitalintensive Firmen und Branchen mit wenig Beschäftigten und arbeitsintensive Branchen mit hohen Beschäftigungsanteilen. Ein kapitalintensives Unternehmen mit 100 Millionen DM Umsatz und zehn Beschäftigten führt eben nur Lohnsteuern und Sozialabgaben für diese zehn Beschäftigten ab. Ein Unternehmen gleicher Umsatzgröße mit der zehnfachen Anzahl an Beschäftigten zahlt ungefähr das Zehnfache an Lohnsteuern und Sozialabgaben. Unser Steuersystem begünstigt, ja fördert die kapitalintensiven Unternehmen und diskriminiert jene, die relativ viele Menschen beschäftigen. Das heißt, bestimmte Unternehmen müssen steuerlich stärker, andere weniger in Anspruch genommen werden.Wir können z. B. über eine Art Maschinensteuer nachdenken, die die Anreize zum Beschäftigungsabbau beseitigt und statt dessen auch arbeitsintensive Bereiche fördert. Warum verlangen Sie nicht vom Bundeskanzler, vom Bundesfinanzminister, von den Spitzenmanagern in der Wirtschaft und von mir eine Ergänzungsabgabe? Warum hat die Bundesregierung nichtinvestierende Unternehmen aus der Solidargemeinschaft entlassen, statt ihnen eine Investitionshilfeabgabe abzufordern? Was ist mit den Bezieherinnen und Beziehern höherer Einkommen, den Besserverdienenden Beamten und Selbständigen?Sie, Herr Schäuble, haben hier erklärt, wir dürften Besitzstände nicht halten, wir müßten Besitzstände auch einmal angreifen. Aber Sie greifen doch nur die Besitzstände der sozial Schwachen in dieser Gesellschaft an und schonen die Besitzstände der Vermögenden und der Reichen! Und dann machen Sie einen üblen Trick, indem Sie die Steuern für Vermögende und Reiche immer mit Steuern für Unternehmen gleichsetzen. Das ist aber ein großer Unterschied. Warum führen Sie z. B. nicht eine progressive Vermögensteuer ein? Warum gibt es nicht die Abgabe für Besserverdienende? Warum haben Sie den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer gesenkt?Das alles hat mit Wirtschaftstätigkeit und mit der Schaffung von Arbeitsplätzen überhaupt nichts zu tun, Es ist nur Förderung von Finanzkapital. Es ist nur Förderung von Vermögenden. Sie spalten die Gesellschaft immer tiefer in immer mehr Arme und immer weniger, aber dafür um so reichere Reiche. Und das halte ich für die eigentliche Katastrophe.Wir brauchen eine andere Politik bei 4 Millionen Menschen ohne Arbeit, und in diesem Jahr werden es möglicherweise 6 Millionen sein. Wir brauchen eine Politik der Arbeitszeitverkürzung, der Teilsubventionierung von Löhnen in bestimmten Bereichen bei Arbeitszeitverkürzung, den Abbau der Zahl zulässiger Überstunden, eine gerechtere, wirtschaftsför-Dr. Gregor Gysidernde und arbeitsplatzschaffende Steuerpolitik, ja die Umstellung dieser Steuerpolitik.Nein, diese Bundesrepublik hat nicht zuwenig Geld, es wird nur grob ungerecht verteilt. Daran muß sich etwas ändern, wenn man Massenarbeitslosigkeit beseitigen will.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Unsicherheit im Adenauerhaus und das Wahlbarometer im Thomas-Dehler-Haus müssen schon sehr tief sein, wenn sich der Fraktionsvorsitzende der CDU/ CSU und Graf Lambsdorff für ein derart dürftiges Placeboprogramm hier so ins Zeug legen.
Mit einem, Herr Schäuble — wenn Sie einmal zuhören wollten —, sollten Sie wirklich aufhören: wenn Ihnen nichts mehr einfällt, sich jedesmal an diese geschwellte Einheitsbrust zu klopfen. Das können und wollen die Leute nicht mehr hören, das zieht heute nicht mehr!
Wenn man unter dem vielsagenden Titel „Allianz für Deutschland" angetreten ist, dieser riesengroßen deutschen Versicherungsgesellschaft, dann sollte man sich zumindest seinen eigenen Schadensfällen stellen, Mut und Courage aufbringen und nicht alles auf das schwere DDR-Erbe abschieben. Das ist eine wirklich billige Nummer, die Sie jedesmal hier abziehen. Das kann man nicht mehr hören!
— Ach, hören Sie doch auf! Sie wissen doch ganz genau, wovon ich rede. Ich rede von der ständigen Beweihräucherung und von dem Unvermögen, die innere Einheit zu gestalten.
Sie haben einen reifen Apfel in den Schoß bekommen, haben ihn verfaulen lassen, und Sie sind nicht in der Lage, daraus etwas zu machen. Das ist die Situation. Das spüren Sie doch instinktiv. Es geht nach unten mit dieser Koalition, und deswegen legen Sie sich hier so ins Zeug.
Ich kann es mir ja leicht machen, denn auch in der Wirtschaft spürt man langsam die Kompetenzlosigkeit dieser Koalitionsregierung,
spürt man, daß die Wirtschaftsparteien abgewirtschaftet haben.Wer dafür wirklich noch einen Beweis braucht, der muß sich nur noch dieses lachhafte Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung vornehmen. Es ist das letzte Aufgebot einer gescheiterten Regierung; es ist der Abgesang einer Regierung, die von allen Seiten nur noch schlechte Noten bekommt; und es ist der schwächste Beitrag aus der Regierungsserie „Wortschöpfung statt Wertschöpfung".
Bisher wurden ja immerhin noch Mogelpackungen angeboten. Jetzt zeigen Sie nur noch die leere Trickkiste.Das ganze Aktionsprogramm — und es fällt mir wirklich schwer, es ernst zu nehmen — ist ein Sammelsurium aus hilfloser und planloser Deregulierung am Arbeitsmarkt, hier ein bißchen Rabatt, da ein bißchen Zugabe, mehr ist nicht drin. Aber jetzt haben wir es zumindest schriftlich: Larifari heißt das Programm aus dem Hause Rexrodt!Die Wahrheit ist: Diese Regierung hat nicht die mindeste Ahnung, was sie tun könnte, um Wachstum und Beschäftigung zu stimulieren. Die Wahrheit ist: Diese Regierung steht mit leeren Händen da, sie hat das wenige nasse Pulver verschossen. Das Geld ist ausgegeben, die konzeptionelle Kraft ist eingetrocknet, die Fähigkeit, sich zu einigen, ist passé. Diese Regierung überzeugt niemanden mehr. Sie hat nichts mehr im Griff. Sie schaut hilflos und tatenlos zu, wo die Arbeitslosigkeit immer weitere Kreise zieht. Sie interpretiert alle Zeichen als Vorboten eines alsbaldigen Aufschwungs, und sie inszeniert zur Unterhaltung und Beruhigung des Publikums die Rituale bestenfalls erfolgloser Pseudopolitik.Mit so kleinen hausgemachten Problemen wie der Struktur- und Transformationskrise der deutschen Wirtschaft gibt sich unser großer Kanzler gar nicht erst ab. Sein historischer Ehrgeiz läßt ihn auf die Welt- und Europapolitik schauen. In Davos auf dem Wirtschaftsforum verkündet er ein Vier-Punkte-Programm für die Gesundung der europäischen Wirtschaft. Man muß sich das einmal vorstellen: Ein Kanzler, der zu Hause nicht einen Punkt mehr macht, verkündet ein VierPunkte-Programm für Europa!Das ist nur noch Zweckoptimismus. Wenn die eine Seite der Wirtschaftspolitik aus Zweckoptimismus und die andere aus Psychologie besteht, dann ist es wirklich schlimm um diese Regierung bestellt.Schauen wir uns die einzelnen Punkte ihres Aktionsprogramms an, das, abgesehen von der Selbstbeschäftigung, weder Wachstum noch Beschäftigung fördert!Lachnummer 1: Die Aufhebung des Rabattgesetzes. Der Zusammenhang von Rabatt und Standort — titelt
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17962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Werner Schulz
zumindest das „Handelsblatt" — bleibt ein F.D.P.- Geheimnis. Groß- und Einzelhandel werten die Abschaffung des Rabattgesetzes als mittelstandsfeindlich. Ich bin gespannt, wie dieses Gesetz durch die Reihen der CDU-Mittelständler befördert wird. Das ist sicherlich noch ein spannender Prozeß.
Aber vielleicht verbirgt sich hinter dieser Maßnahme die Revolution im inneren Gefüge der Bundesrepublik, von der Jürgen Möllemann spricht. Man weiß ja heutzutage bei der F.D.P. nicht mehr ganz genau, woran man ist oder womit man zu rechnen hat.
Aber die Dauerlachnummer, die sich durch dieses Programm zieht, sind diese fast vergessenen Ladenhüter der 80er Jahre — z. B. das Beschäftigungsförderungsgesetz, das Regelungen wieder einführt, die erst vor wenigen Jahren abgeschafft wurden, so etwa die Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit von Arbeitslosen. Dieses Instrument gab es bereits und ist dann wieder fallengelassen worden; also eine Regierung, die sich hier als Musterknabe für Kontinuität und Verläßlichkeit präsentiert.Nicht nachzuvollziehen ist z. B. die überhastete Abschaffung des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit. Erst vor kurzem wurde ein großflächiger Modellversuch angekündigt. Der sollte von April 1994 bis März 1996 laufen. Jetzt kennt diese Regierung bereits das Ergebnis, so daß sie in die praktische Einführung übergehen kann. Aber wie heißt es bei Schiller — diesmal Friedrich Schiller; Sie zitieren ja auch so gerne Schiller, Herr Schäuble — hier mit einer leichten Kommaverschiebung: Der brave Mann denkt an sich, selbst zuletzt. Also für Arbeitssuchende wird es in Zukunft nicht einfacher werden, einen Platz zu bekommen, sondern teurer. Aber dafür wird zumindest das Maklergewerbe bedient und werden die Überlebensprobleme der F.D.P. ein wenig gedämpft. Das scheint mir der ganze Sinn dieser Aufhebung zu sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Cronenberg.
Ja.
Herr Abgeordneter, wie ist es mit Ihrem Begriff von Ehrlichkeit vereinbar, wenn Sie die These hier aufstellen, der Arbeitnehmer müßte für die Vermittlung durch einen privaten Vermittler irgend etwas bezahlen, es würde teurer, wie Sie sagen? Ich möchte wissen, wie Sie dies mit Ihrer Ehrlichkeit vereinbaren, denn genau das Gegenteil steht natürlich im Gesetz, wie Sie wissen.
Die Frage ist natürlich, wer diese Vermittlung bezahlen soll.
Natürlich, wenn Sie jetzt anbieten, daß der Arbeitssuchende das nicht bezahlt, dann werden es die Betriebe bezahlen.
— Diese Vorlage ist ja noch nicht bestätigt. Dann werden es die Betriebe bezahlen, und dann wissen wir im Grunde genommen, worauf das hinausläuft. Dann werden aus Bereichen Arbeitskräfte abgezogen, die man dort eigentlich bräuchte. Es wird im Grunde genommen der momentan funktionierende Mittelstandsbetrieb sogar noch geschwächt, indem man bessere Arbeitsangebote an Leute vermittelt, die momentan Arbeit haben.
Auch das ist eine riesengroße Gefahr, die hier besteht.
Sie müßten mir vielleicht eher erklären, Herr Cronenberg, wie denn durch solch eine Vermittlung mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Das würde mich interessieren.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Cronenberg?
Ja.
Ich muß die Erklärung in die Frageform bringen. Es fehlt Ihnen wahrscheinlich — so vermute ich; Sie können das ja bestätigen — die Erfahrung, daß man den Arbeitsplatz frei wählen kann und daß die Arbeitsämter bedauerlicherweise
nicht den größten Teil der Arbeitsplätze vermitteln
und sehr häufig die Vermittlung eben z. B. durch Anzeigen erfolgt, so daß es für die Betriebe eine erhebliche Entlastung bedeuten kann, Herr Abgeordneter Schulz, wenn sie sich solcher privater Vermittlungstätigkeiten bedienen können. Ich meine, ich nehme Ihnen das nicht übel, weil die Erfahrung über die freie Arbeitsplatzwahl und die Vermittlung von Arbeitsplätzen Ihnen vielleicht nicht so bekannt ist. Aber wenn Sie mir bestätigen würden, daß durch eine private Arbeitsvermittlung der Betrieb ent- und nicht belastet werden könnte, dann würden Sie dadurch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17963
Dieter-Julius Cronenberg
unter Beweis stellen, daß Sie sich mit der Gesetzesvorlage ernsthaft beschäftigt haben.
Herr Cronenberg, ich habe natürlich eine Vorstellung davon, daß Arbeitsplätze frei wählbar sind. Wir werden in diesem Hause in einigen Monaten erleben, wie hier Arbeitsplätze neu verteilt werden, wenn Sie das meinen. Das hält mich zumindest hier noch wach und aufmerksam.
Auf der anderen Seite, wenn Sie ansprechen, daß über Annoncen heutzutage diese Arbeitsplätze vermittelt werden und das unzureichend: Darüber kann man ja seriös reden, und dafür haben wir ja diese Feldversuche, die normalerweise von April 1994 bis März 1996 laufen sollten. Aber wir haben nicht ein Vermittlungsproblem, sondern wir haben ein Arbeitsverteilungsproblem,
wenn überhaupt, und wir haben das Problem, daß es an regulären Arbeitsplätzen fehlt. Dazu hat ja Ihre Politik beigetragen. Sie haben in 25jähriger Kontinuität — Sie haben ja im Grunde genommen die Nullserie der Wirtschaftsminister in Reihenfolge gestellt — dafür gesorgt, daß wir dieses Wirtschaftsproblem haben. Von Ihrer Seite solch ein Frage — ich weiß nicht, die würde ich Ihnen gern noch schriftlich beantworten,
weil man Bände darüber schreiben könnte, welche Versäumnisse, welche Fehler, welche Mängel, welches Mißmanagement von einer ordoliberalen Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren vorliegen.
— Aber natürlich, Sie können es bloß nicht vertragen, daß irgendwann auch einmal die Abrechnung für Ihre Versäumnisse, für Ihre miserable Politik kommt, die Sie auf dieser Strecke geleistet haben.
— Nein, ich sage Ihnen: Diese Angst vor Rot-Grün
— und das hat ja Herr Schäuble eigentlich auch gesagt — mobilisiert natürlich Neid; das kann ich mir schon vorstellen. Aber das ist mehr der Neid, der aus Ihrer programmatischen Bedürftigkeit entspringt.
Dieser Neid wird damit mobilisiert.
Ich will auf Grund der fortgeschrittenen Redezeit nur einen Aspekt noch herausgreifen, weil er im Grunde genommen auch im Standortbericht von Herrn Rexrodt vorkommt. Das ist ein Faktor, auf den wir viel stärker reagieren sollten und den Sie leider überhaupt nicht bedienen, denn nicht der Faktor Arbeit ist knapp, sondern der Faktor Rohstoffe, der Faktor Ressourcen.
Wir sind uns vielleicht zumindest in dieser Richtung einig, daß man die Arbeitskosten entlasten sollte, die Arbeitskosten entlasten muß. Insofern frage ich mich, wann endlich die ökologische Steuerreform kommt, warm endlich die Ökosteuer kommt, um den Rationalisierungsdruck in den Betrieben umzulenken, damit wir nicht mehr Arbeitskräfte einsparen, sondern endlich Energie einsparen, damit wir endlich den ingenieurtechnischen Sachverstand in die Richtung lenken, wo heutzutage Verbesserungen und Innovationsdruck ausgelöst werden sollten. Denn wir werden das erleben: Die Betriebe kommen aus der Rezessionsphase heraus, werden rationalisiert haben, aber die Arbeitslosigkeit wird gestiegen sein.
Daran ändert sich nichts, auch nicht, wenn Sie hier anbieten — das finde ich wirklich den allergrößten Lacher —, daß Sie die Arbeitslosen nun demnächst in Ernteeinsätze vermitteln wollen. Das erinnert mich so an DDR-Zeiten, als die Funktionäre und Parteigenossen zum Rote-Rüben-Verziehen ins Feld geschickt wurden,
aber mich tröstet halt, daß demnächst die Koalitionäre bald zur Kohlernte ausschwärmen müssen,
und ich glaube, das wird diesmal eine Mißernte werden.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft, Günter Rexrodt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gerade zwei Wochen her, daß wir hier das Aktionsprogramm der Bundesregierung für Wachstum und Beschäftigung vorgestellt haben, und heute steht der Fahrplan für seine kurzfristige Umsetzung.Wir handeln, und andere schreien, das sei hektischer Aktionismus. Und das schreien die anderen, nachdem sie über Wochen und Monate beklagt hatten, daß diese Bundesregierung nicht zur Umsetzung dessen in der Lage sei, was sie in ihrem Standortbericht und an anderer Stelle vorgeschlagen hat. Nun setzen wir um, und nun wird das als Aktionismus abgetan. Was ist das für eine Ehrlichkeit? Was ist das für eine geistige Konsistenz?
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17964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Bundesminister Dr. Günter RexrodtHerr Schulz, wissen Sie, ich habe ja nie Ihre politischen Positionen geteilt, aber ich habe Ihnen immer abgenommen, daß Sie aus innerer Glaubwürdigkeit argumentieren. Was Sie aber heute und eben geboten haben — auf niedrigem Niveau, „Larifari", Allgemeinplätze hier vorzutragen, bar jeder Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge,
bar jeder Kenntnis der Wirkungsweise von ökonomischen Instrumenten — das ist schon ein starkes Stück.
Da stellt sich Herr Schulz hin und sagt: Wir haben ein Arbeitsverteilungsproblem. Meine Damen und Herren, was in dieser Republik reichlich vorhanden ist, im Osten und im Westen,
das ist Arbeit. Wir haben jede Menge Arbeit. Die Arbeit ist zu teuer geworden,
und deshalb wird sie nicht mehr abgerufen. Das ist nicht ein Arbeitsverteilungsproblem, wie das Herr Lafontaine und Sie, Herr Professor Jens, immer darstellen: Wir haben die Arbeit X oder Y, und nun teilen wir sie auf mehr Köpfe neu auf, und damit lösen wir das Problem. Keine Ahnung von ökonomischen Zusammenhängen, meine Damen und Herren!
Das sind die Fakten.
Unser Aktionsprogramm ist ein wichtiger Schritt, um der gegenwärtigen Situation am Arbeitsmarkt— ich komme gleich darauf, Herr Gysi — gerecht zu werden. Wir wissen sehr wohl und sind auch ehrlich, daß sich die Situation in 1994 verschärfen wird.
— Das sind wir immer. — Sie stellen sich hin und sagen: Die Regierung beschönigt bei den gesamtwirtschaftlichen Daten, Herr Kollege Professor! Wissen Sie, wenn wir uns hinstellen und sagen: Das Sozialprodukt wächst um 1 oder 1,5 %, dann verstehen das die wenigsten Menschen. Wir sagen aber ganz ehrlich, obwohl es eine bittere Wahrheit ist: Die Zahl der Arbeitslosen wird in diesem Jahr um 400 000 bis 450 000 wachsen. Ist das Beschönigung? Und wir legen die Programme und die Maßnahmen vor und setzen sie um, um diese Arbeitslosigkeit zurückzuführen. Sie haben keine Alternative und sprechen von Aktionismus, und das rettet uns dann in dieser Bundesrepublik!
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mosdorf?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, mit großem Vergnügen.
Herr Rexrodt, ich möchte noch einmal auf die Frage zurückkommen, wie Sie die Erfolgsaussichten Ihres umfangreichen Programms quantifizieren. Herr Schäuble hat es ja vorhin, wie ich finde, redlich abgelehnt, es in irgendeiner Form zu quantifizieren. Bleiben Sie dabei, daß diese 30 Punkte 200 000 neue Arbeitsplätze bringen, und kann man die dann von den 450 000, die in diesem Jahr verlorengehen, abziehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, wissen Sie, ich habe zunächst nie gesagt, daß es auf Grund dieses Programmes 200 000 Arbeitsplätze mehr gibt. Wie wollen Sie das quantifizieren? Das habe ich nirgendwo gesagt. Das müssen Sie mir mal zeigen, wo ich das gesagt habe.
— Das ist eine falsche Agenturmeldung. Nehmen Sie es mir ausnahmsweise einmal ab, wenigstens das! Das habe ich nie gesagt. Ich würde mich auch hüten, so etwas zu sagen. Das ist nämlich ein Programm, das auf Verbesserung der Bedingungen setzt, das mehr Investitionstätigkeit anregen soll, das den Mittelstand fördert, das durch Deregulierung bessere Bedingungen in dieser Republik herbeiführt, und innerhalb dessen werden zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Dies seriös zu quantifizieren ist kein Mensch in dieser Welt in der Lage; aber es werden viele sein.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Gilges zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie mir das nicht auf meine Redezeit anrechnen.
Selbstverständlich nicht.
Herr Bundeswirtschaftsminister, in der ersten Debatte hier in diesem Haus zu diesem Aktionsprogramm vor 14 Tagen hat Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Solms, ausweislich des Protokolls gesagt, mit diesem Aktionsprogramm würden in den nächsten Jahren drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Ich gehe ja davon aus, daß diese „nächsten Jahre" irgendwann eintreten; u. a. in diesem Jahr treten die ein. Halten Sie diese Aussage denn für falsch oder absurd oder für aus der Luft gegriffen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sage Ihnen noch einmal, daß dieses Programm — auf seine Einzelheiten wird einzugehen sein — dazu beiträgt, daß die Bedingungen für Investitionen verbessert werden, daß damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft verbessert wird, und dies führt dazu, daß vorhandene Arbeitsplätze gesichert und zusätzliche in großer Zahl geschaffen werden können. Wenn irgendwer eine Zahl nennt, dann wird er diese Zahl zu beweisen haben. Wer sie aber widerlegen will, wird dies auch tun müssen, und das können Sie
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17965
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtgenausowenig. Das ist ein Programm, das zum Teil sensationellen Inhalt hat.
— Sensationellen Inhalt hat! Sie wollen es nur nicht wahrhaben, weil Sie keine Alternativen bieten. Das ist es doch. Da stellt sich der Kollege Jens hin und trägt hier Maßnahmen und Vorschläge vor, die sich anhören wie eine schlecht formulierte Nacherzählung des Jahreswirtschaftsberichts oder des Standortberichts. Das sind nun die „Alternativen", lieber Kollege Jens. Sie konzentrieren sich immer mehr auf persönliche Polemik, im Grunde Ihrer Wesensart fremd.
Das macht er nur deshalb, daß er überhaupt wahrgenommen wird. Lieber Herr Jens, Sie werden ja zuwenig wahrgenommen; aber das liegt daran, daß Sie nichts vorzuweisen haben an Alternativen und an Vorschlägen. Da hilft persönliche Polemik überhaupt nichts; das ist der Punkt.
Wir konzentrieren uns in diesem Programm auf vier wichtige Felder: erstens die Stärkung des Mittelstands, zweitens ein klares steuerpolitisches Konzept und die Fortsetzung der Konsolidierungspolitik, drittens wirksame Maßnahmen am Arbeitsmarkt und viertens Deregulierung. Es sind nicht nur Vorschläge, sondern — ich sage es noch einmal — wir setzen dies auch um.Zunächst zum Mittelstand. Die überwiegende Mehrzahl der Arbeitsplätze wird in mittelständischen Unternehmen geschaffen. Deshalb werden durch vier konkrete Maßnahmen, finanziell gut dotiert, Anreize dafür geschaffen, daß man zusätzlich in die Selbständigkeit im Mittelstand geht. Darüber hinaus werden Forschung, Entwicklung und Innovation in kleinen und mittleren Unternehmen gefördert, und auch Umlaufvermögen kann aus verbilligten Krediten gefördert werden. Wir machen Innovationspolitik, Sie fordern Innovationspolitik; das ist der große Unterschied zwischen uns.
Was den Mittelstand betrifft, so haben Sie einige wenige Punkte und Positionen, die von dem abweichen, was wir vorschlagen. Das betrifft z. B. die Besteuerung dessen, was Sie „leistungsloses Einkommen" nennen. Das trifft einen Großteil derjenigen, die dieses Land durch Leistung voranbringen. Was Sie darunter subsumieren, ist: Sie wollen die Besserverdienenden höher besteuern, und das sind ebenfalls die Leistungsträger.
Das setzt auf Neid und bewirkt, daß durch Nivellierung in diesem Land noch weniger Anreize bestehenbleiben bzw. geschaffen werden,
durch eigene Initiative etwas zu gestalten und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Das können nicht die Rezepte sein. Wir setzen auf die Förderung des Mittelstands und der Leistungsträger.
— Das haben wir nicht nur im Wahljahr vor. Das haben wir immer gemacht.
Darauf setzen wir, ausgewogen und ausgeglichen für alle Gruppierungen in unserem Land. Aber die Leistungsträger zu dämpfen, das ist nicht unser Ziel. Das führt zu dem, was Sie am Ende der Zeit, in der Sie hier Verantwortung getragen haben, gezeigt haben.
Wir setzen zweitens auf eine Entlastungsperspektive für Unternehmen und private Haushalte durch eine konsequente Haushaltskonsolidierung. Wir setzen darauf, indem wir noch in diesem Jahr ein steuerpolitisches Konzept vorlegen werden, das darauf zielt, Entlastungen vorzunehmen, um die Investitionstätigkeit zu fördern, das aber auch lin unteren Bereich, beim Existenzminimum, Erleichterungen bringt, das eine Steuervereinfachung vorsieht und das vor allen Dingen eine konsequente Veränderung und Verbesserung der Unternehmenssteuern herbeiführt.Das sind unsere Antworten. Sie sind zeitgerecht.Wir setzen drittens auf arbeitsmarktpolitische Instrumente. Diese bezeichne ich als zum Teil sensationell. Ich will jetzt aus zeitlichen Gründen nicht alle Maßnahmen ansprechen. Ich will aber einen Punkt aufgreifen, der von Ihnen immer wieder in Frage gestellt wird: die Tatsache, daß wir das sogenannte Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit aufheben. Sie sagen: Dann bleiben bei der Bundesanstalt die Fußkranken, und die leicht Vermittelbaren gehen zu den Privaten. Da werden dann auch noch Gebühren bezahlt, und es wird auch noch abgeworben.Ich sage Ihnen: Das fundamental Neue und das Gute und Bessere an dieser Aufhebung wird darin bestehen, daß Arbeitsvermittlungseinrichtungen zu den Arbeitnehmern oder den Arbeitslosen kommen, in die Nähe, individualisiert, in kleineren Einheiten. Die Menschen, die dort arbeiten, werden den Arbeitssuchenden in der unmittelbaren Nachbarschaft kennen. Sie werden die Unternehmen, für die sie arbeiten, und deren Bedürfnisse kennen, und sie werden in kleinen Einheiten das zusammenführen, was zusammenführbar ist.
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17966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Bundesminister Dr. Günter RexrodtDas ist etwas anderes als eine riesige Bundesanstalt für Arbeit. Ich will die Bundesanstalt und auch die Menschen dort gar nicht kritisieren.
Ich will die großen Einheiten kritisieren. Die großen Einheiten bringen es nicht.
Wenn Sie eine Arbeitsvermittlung um die Ecke haben, dann wird dieser Arbeitsmarkt ganz anders bedient werden können als bisher.Das wollen Sie nicht sehen, und deshalb polemisieren Sie dagegen. Große Einheiten, staatliche Kontrolle, Lenkung von oben — das ist die Denkweise, die bei Ihnen immer das Beherrschende war.
Vizepräsident Helmuth Becken Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine gestatte ich noch und dann keine mehr.
Herr Kollege Gilges.
Herr Bundesminister, die Sozialdemokraten fordern schon seit mehreren Jahren die Dezentralisierung der Bundesanstalt, die eine reine Bundesbehörde ist, und die Verlagerung von Kompetenzen auf die Landesarbeitsämter und die örtlichen Arbeitsämter. Ich werde nachher in meinem Beitrag etwas zur Situation im Verwaltungsausschuß eines Arbeitsamtes sagen, in dem ich Mitglied bin.
Die Bundesregierung regiert über die Selbstverwaltung hinaus in einem Maß in die Bundesanstalt hinein, das von Arbeitgebern und Arbeitnehmern beklagt wird, daß es schon nicht mehr anzuhören ist. Sind Sie nicht der Meinung, daß es Zeit wird, daß die Bundesanstalt dezentralisiert wird, aus der Gewalt der Bundesregierung herauskommt und den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die die Beiträge für die Bundesanstalt bezahlen, überantwortet wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, wir machen eben keine halben Sachen.
Wir regionalisieren nicht ein bißchen und machen ein Pflaster drauf, sondern wir gehen das Problem realistisch an und schaffen private Konkurrenz. Da entsteht etwas, was nicht in Ihre Denkweise paßt, daß Menschen zueinanderkommen, die einander kennen und sich darauf einstellen, daß sie etwas gemeinsam lösen wollen. Daß das mit einer staatlichen Einrichtung immer schlechter geht als mit einer privaten, müßten Sie eigentlich gelernt haben.Sensationell ist das, was wir machen, im übrigen auch in bezug auf die Einführung von Gemeinschaftsarbeiten, die wir als Angebot zur Verfügung stellen. Wir wollen darauf hinaus, daß Menschen, die der Arbeitswelt auf Grund langer Arbeitslosigkeit möglicherweise entfremdet sind, den Kontakt zur Arbeitswelt wiederbekommen und den Kontakt wiederherstellen können.Wir wollen die Arbeitnehmerüberlassung vereinfachen. Wir wollen in anderen Bereichen, beim Beschäftigungsförderungsgesetz und anderem mehr, Erleichterungen dahin gehend schaffen, daß diejenigen, die schwer vermittelbar sind, eine Chance haben und nicht im staatlichen Bereich untergehen.Meine Damen und Herren, dann sagen wir noch: Deregulierung und Privatisierung. Da stellt sich der verehrte Kollege Professor Jens hin und sagt, wir hätten das, was wir in der Deregulierungskommission beschlossen haben, nicht umgesetzt. Herr Kollege Jens, wir haben die Vorschläge, die dort gemacht worden sind, allemal umgesetzt. Ich will Ihnen aus Zeitgründen nicht alles vorlesen, was wir in die Gesetzgebung gebracht haben. Sehen Sie sich das an! Alles das, was Wettbewerb, Werbemöglichkeiten, Flexibilität und anderes angeht, liegt den zuständigen Ausschüssen des Bundestages vor und wird umgesetzt.Ist es etwa nichts, daß wir das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, die Planungsverfahrensvereinfachung, das Standortsicherungsgesetz, die Regelungen zur kleinen Aktiengesellschaft, das Umwandlungsgesetz gemacht haben? Jetzt gehen wir an das Aufbrechen der Monopole und Demarkationen im Energiebereich heran. Wir machen die Bahnreform. Wir sind die Postreform mit Ihnen gemeinsam zumindest ein Stück angegangen.Ist das nichts, ist das Gerede? Das ist konkretes Handeln im Sinne der Deregulierung.
— Das schafft Arbeitsplätze. Dieser Zwischenruf zeigt genau, daß Sie überhaupt nicht wissen, worauf es ankommt.
Wie Mehltau legt sich nämlich die Überregulierung über die Menschen und die Firmen. Sie haben überhaupt keine Ahnung, was in diesem Land gefragt ist. Gehen Sie in den Mittelstand, gehen Sie zu den Menschen, zu den kleinen Einzelhändlern, den kleinen Handwerkern oder Unternehmern, wie sehr sie sich über Behördenpost und darüber, welche Auflagen sie zu erfüllen haben, beklagen! Darauf kommt es an. Den Leuten vergehen nämlich der Mut und die Kraft, unternehmerisch tätig zu sein. Aber Regulieren
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17967
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtund Bürokratie liegen in der Tradition Ihrer Denkweise.
— Wenn Sie fragen, was das mit der Post zu tun hat, so haben Sie noch längst nicht begriffen, was mit der Post los ist.
Die Post arbeitet in einem Bereich der wenigen Basistechnologien. Da haben Sie nun unter Mühen der Privatisierung im organisatorischen, im rechtlichen Bereich zugestimmt. Das ist ein wichtiger Schritt. Aber daß es darauf ankommt, Arbeitsplätze zu sichern, indem man Wettbewerb schafft, indem man die Monopole aufhebt, indem man dafür sorgt, daß Private in diesem Bereich investieren und einen technologischen Schub freisetzen, wie wir ihn bei D1 und D2 hatten, das haben Sie nie begriffen.
Vielmehr haben Sie die Postgewerkschaft im Ohr, die sich hinstellt und erklärt: 700 000 Menschen wird Unrecht getan, wenn wir sie kritisieren und das, was sie bisher geleistet haben, nicht würdigen.
Wir würdigen es ja, aber andere Methoden sind viel besser. Das beweisen D1 und D2.Sie haben noch nicht begriffen, um was es eigentlich geht. Sie denken in traditionellen Linien, in Konjunkturprogrammen, in Investitionsmaßnahmen, in staatlicher Regulierung, in Ordnungsrecht und anderem mehr. Mit Ordnungsrecht werden Sie es nicht schaffen, sondern wir werden in diesem Lande nur etwas verändern können — darauf setzen wir —, indem wir die Kräfte, die bei den Menschen vorhanden sind, freisetzen, indem wir ihnen Mut und Entfaltungspielräume geben.
Das ist eine Denkweise, die Sie noch lernen müssen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Ernst Hinsken.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was die Opposition bisher geboten hat, ist weniger als wenig.
So möchte ich die Ausführungen, die Sie bisher gemacht haben, überschreiben. Ich hatte mir gedacht, daß Sie heute in der Lage sind, ein Alternativprogramm zu diesem 30-Punkte-Programm zu entwikkeln; aber ich habe umsonst gehofft.Ich meine, gerade unserem Fraktionsvorsitzenden Dr. Schäuble ist es heute wieder gelungen nahezu-bringen, was dieses 30-Punkte-Programm beinhaltet,d. h. daß es vor allem die Grundlage dafür ist, den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland wieder zu festigen und ihn mit mehr Bedeutung auszustatten, als das leider Gottes momentan der Fall ist.
Ich unterstütze deshalb, auch für meine Fraktion mitsprechend, dieses Papier nachhaltig. Die besten Papiere sind aber Schall und Rauch, wenn ihnen nicht alsbald Taten folgen. Damit greife ich das auf, was Herr Dr. Schäuble und andere meiner Vorredner gesagt haben.Wie bei uns gibt es weltweit keine Rezepte zur durchgreifenden Reduzierung der Arbeitslosigkeit, wie das „Handelsblatt" zum jüngsten Weltwirtschaftsforum in Davos feststellte. Ich verstehe dieses Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung als Verdeutlichung einer systematisch angelegten Politik dahin gehend, erkannte Defizite des Wirtschaftsstandorts Deutschland Stück für Stück abzubauen.
Was wir brauchen, ist vor allem Glaubwürdigkeit in der Politik, damit Investoren und Verbraucher neues Vertrauen schöpfen können.Vielen scheint noch nicht klar zu sein, was die Stunde geschlagen hat. Umpolungen sind dringend notwendig. Lassen Sie mich dazu ein Beispiel bringen: Es ist meiner Meinung nach ein Skandal — das versteht in dieser Situation in der Bundesrepublik Deutschland fast niemand mehr —, daß polnische Saisonarbeiter die Kohlernte in Schleswig-Holstein retten müssen, weil diese Arbeit für deutsche Arbeitslose zu anstrengend ist und man sich dabei schmutzig machen kann.
— Ich kann das belegen. Das ist in einer Zeitschrift abgehandelt worden. Ich bin gern bereit, Ihnen das zuzuleiten. — Dabei handelt es sich nicht etwa um ältere Mitbürger; viel mehr sind fast 60 % der Bezieher von Arbeitslosenhilfe jünger als 42 Jahre.In den meisten Köpfen scheint angekommen zu sein, was unser Land jetzt braucht, nämlich den Willen zur Veränderung, um sicher in die Zukunft zu gehen.
Unbestritten war 1993 das Jahr der tiefsten Rezession in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Die gesamtwirtschaftliche Produktion ging in Westdeutschland um fast 2 % zurück. Gleichzeitig nahmen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung besorgniserregend zu. Darüber hinaus mußten wir im vergangenen Jahr zur Kenntnis nehmen, daß manche Erwartungen hinsichtlich eines raschen und sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern enttäuscht wurden.Zur Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1993 gehörte z. B. aber auch, daß praktisch alle Reiseunternehmen ausgebucht waren und die
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17968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Ernst HinskenDeutschen mehr als je zuvor für ihren Urlaub im Ausland ausgaben, nämlich 61 Milliarden DM, und daß wir hier nach wie vor Weltmeister sind.Es ist angebracht, unseren Beitrag dazu zu leisten, daß wieder mehr Zufriedenheit einkehrt; denn es steht doch unbestritten fest, daß es uns trotz aller Schwierigkeiten so gut geht, daß wir von allen umliegenden Nationen beneidet werden.
Übrigens: Nach dem erfolgreichen GATT-Abschluß und den historisch niedrigen Kapitalmarktzinsen haben sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft gebessert. Zudem bringt das Standortsicherungsgesetz den Unternehmen 1994 durch die Absenkung der Steuersätze auch in einer extrem schwierigen finanzpolitischen Lage eine gewisse steuerliche Entlastung. In der Tarifpolitik ist ein Korrekturprozeß im Gange. Das sind positive Signale.Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben — das hat sich nachhaltig auch heute gezeigt — den Beweis erbracht, keine Alternative zu haben und statt dessen weiterhin konzeptionslos zu opponieren, zu lamentieren, zu boykottieren, Ängste zu schüren und auf Verunsicherung zu setzen. Mehr ist in Ihren Aussagen nicht enthalten.
Diesen Ihren Aussagen setzen wir unsere Strategie einer Politik der Zukunftssicherung entgegen. Ein Teil davon ist unser 30-Punkte-Programm. Vorrang hat für uns die Konsolidierung des Staatshaushalts und eine Rückführung der Staatsquote bis zum Jahr 2000 auf das Niveau vor der deutschen Wiedervereinigung. Die Stabilität der D-Mark ist unabdingbare Voraussetzung zur Sicherung des Vertrauens und einer dauerhaften Wettbewerbsfähigkeit.Die meisten neuen Arbeitsplätze entstehen im Mittelstand. Deshalb sind für mich von besonderer Bedeutung die vielseitigen Maßnahmen zur Förderung dieses großen Wirtschaftszweiges, der zu Recht als „Motor der Wirtschaft" bezeichnet wird und von dem vor kurzem ein amerikanischer Wirtschaftsjournalist gesagt hat, daß er, der Mittelstand, die deutsche Wirtschaft rette.
Unser Wissen um die Bedeutung und der Stolz über das internationale Ansehen unseres Mittelstands dürfen jedoch nicht den Blick darauf verstellen, daß die Zahl der mittelständischen Unternehmen von etwa 9 Millionen in den 50er Jahren auf heute ca. 3,4 Millionen zurückgegangen ist. Die Gründe hierfür sind vielfältig und keineswegs allein vom Staat und der Politik zu verantworten. Fehlende Risikobereitschaft, eine A-13-Mentalität und als Folge einer verfehlten Bildungspolitik der 70er Jahre die Verakademisierung unserer Gesellschaft spielen hier eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Aufgabe des Staates muß es aber sein, die erforderlichen Rahmenbedingungen für die Gründung von Existenzen zu verbessern und die Investitions- und Innovationsfreude zu stärken. Für mich ist klar, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Wir brauchen eine Existenzgründungswelle wie in den 50er Jahren, wenn wir die Strukturprobleme unserer Wirtschaft überwinden wollen.
Ich begrüße daher ausdrücklich, daß mit dem Aktionsprogramm die Wiedereinführung des Eigenkapitalhilfeprogramms in den alten Ländern beschlossen wurde. Wir haben früher schon einmal beste Erfahrungen damit gemacht. Es ist erwiesen, daß mit jeder Neugründung im Durchschnitt fünf Arbeitsplätze neugeschaffen werden.
— Kollege Pfuhl, es wäre gut, wenn die SPD-regierten Länder hier ein Eigenkapitalhilfeprogramm aufgelegt hätten. Das haben sie aber nicht getan; es ist auch hier nur bei Worten geblieben.
Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?
Gerne, ja. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.
Herr Kollege Hinsken, könnten Sie mir dann heute bitte erklären, warum Sie vor weniger als vier Monaten im Wirtschaftsausschuß genau unsere Forderung nach Auflegung eines Eigenkapitalhilfeprogramms abgelehnt haben mit der Begründung, daß dieses nicht hilfreich sei, daß dafür nicht die Mittel zur Verfügung stünden und daß das nicht nötig sei?
Kollege Schwanhold, das trifft so, wie Sie das sagen, nicht zu. Es wurde durchaus auch in unseren Reihen die Meinung vertreten, daß sich dieses Eigenkapitalhilfeprogramm in der Vergangenheit bestens bewährt hat, daß es in den neuen Bundesländern viele neue Arbeitsplätze bringt und deshalb auch bei uns in den alten Bundesländern aufgelegt werden soll. Das hatte zur Folge, daß die Bundesregierung sich diese Meinungsäußerung zu eigen gemacht hat und jetzt dieses Eigenkapitalhilfeprogramm erneut auflegt.
Meine Damen und Herren, auch das zinsverbilligte Kreditprogramm der KfW zur Förderung risikoreicher innovativer Unternehmensgründungen sowie zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation wird hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Zur Verbesserung der Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit von Arbeitslosen wird die Zahlung eines Überbrückungsgeldes für die Dauer von sechs Monaten beitragen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17969
Ernst HinskenEs gäbe hier noch viel dazu zu sagen, meine Redezeit ist aber begrenzt. Deshalb muß ich mich auf das Wesentliche beschränken.
Herr Hinsken, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Das stimmt nicht ganz, Herr Präsident.
Bitte nur noch einen Satz.
Lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Es gilt auch in dieser Situation, erneut die Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft herauszustellen, die nämlich Wohlstand bedeutet.
Demokratie bedeutet Freiheit, Freiheit im wirtschaftlichen Sinne bedeutet Marktwirtschaft, Marktwirtschaft garantiert Wohlstand.
Das ist die logische Kette, aus der man kein Glied herausbrechen kann, ohne das ganze System zum Einsturz zu bringen.
Wenn wir unseren Wohlstand halten wollen, dann müssen wir konsequent auf Wachstum setzen und nicht auf Verzicht von Wachstum. Die Ablehnung des technischen Fortschritts, ja sogar seine Behinderung und Verzögerung durch ausbleibende Unterstützung, heißt nicht, wie mancher glaubt, Stillstand auf hohem Niveau, sondern sie heißt Rückschritt mit dramatisch steigender Dynamik. Das sollten vor allen Dingen Sie von der Sozialdemokratie sich besonders ins Stammbuch schreiben.
Sie sollten unserem Aktionsprogramm folgen und es unterstützen, damit uns der Aufbruch gelingt und wir möglichst bald aus dieser Rezessionsphase, in der sich unsere Republik befindet, herauskommen. Aber das müssen Sie mit besseren Argumenten tun, als das heute der Fall war.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, das Wort zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 27 der Geschäftsordnung hat unser Kollege Hans Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wirtschaftsminister Rexrodt hat auf die kleine Aktiengesellschaft und Kollege Lambsdorff hat auf die unternehmerischen Freiheiten, die mit diesem Aktionsprogramm verbunden seien, hingewiesen. Sie haben aber nicht erläutert, welche Konsequenzen die kleine Aktiengesellschaft für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem Betriebsverfassungsgesetz hat, denn Sie stellen, wenn Sie das durchbringen, die kleine Aktiengesellschaft bis 500 Beschäftigte mitbestimmungsfrei. Das heißt, die Arbeitnehmer werden mit ihrem Sachverstand nicht mehr in die Aufsichtsräte entsandt werden können. Was das mit neuen Arbeitsplätzen zu tun hat, begreift keiner. Ich sehe hier im wesentlichen, Kollege Lambsdorff, einen Anschlag auf die Mitbestimmung.
Ich sage Ihnen hier: Wenn Sie das nicht regeln, können Sie von mir nicht erwarten, daß ich dem großen Werk, das heute morgen debattiert worden ist, zustimme, um die Zweidrittelmehrheit für die Postreform zu sichern. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer hat auch bei der Gründung der kleinen Aktiengesellschaften zu gelten.
Meine Damen und Herren, zu einer weiteren Zwischenbemerkung hat unser Kollege Graf Lambsdorff das Wort.
Verehrter Herr Kollege Urbaniak, wir haben ja schon früher mit den Hochöfen und dem Stahl erlebt, daß Sie so gerne Koppelgeschäfte machen und Dinge zusammenbringen, die wahrlich nichts miteinander zu tun haben. Den Hinweis auf die Postreform im Zusammenhang mit der kleinen Aktiengesellschaft können Sie bleibenlassen. Niemand hat die Absicht, aus Telekom eine kleine Aktiengesellschaft zu machen. Das wird wohl auch nicht gut gelingen. Was das soll, weiß ich wirklich nicht.Im übrigen ist es völlig logisch, die kleine Aktiengesellschaft bis zu 500 Mitarbeitern ebenso mitbestimmungsfrei zu stellen, wie das heute bei der GmbH der Fall ist. Es geht doch bei der kleinen Aktiengesellschaft darum, daß man den jetzt in der Rechtsform der GmbH geführten Familienbetrieben die Vorbereitung auf eine börsennotierte große Aktiengesellschaft ermöglicht, damit sie später an die Börse gehen und Eigenkapital beschaffen können. Es wird niemand schlechter als vorher behandelt. Es geht hier nicht um irgendeine Verkürzung der Mitbestimmung; das ist überhaupt nicht die Frage.Ein Problem taucht auf, Herr Urbaniak: Es müssen nämlich Aktiengesellschaften, die schon heute bestehen und weniger als 500 Arbeitnehmer haben, mitbestimmungsfrei werden, um eine gleichmäßige Behandlung mit der neuen Rechtsform der kleinen Aktiengesellschaft zu erzielen. Um dies zu erreichen, sieht der Gesetzentwurf eine lange Übergangsfrist vor.Wenn Sie die kleine Aktiengesellschaft ablehnen, dann werden Sie es den mittelständischen Unternehmen weiterhin schwermachen, sich des Kapitalmarkts zu bedienen. Den aber brauchen sie, um sich zu modernisieren und um Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist der Punkt. Hier geht es überhaupt nicht um Beschränkung und Einschränkung von Mitbestimmung.
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17970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Zu einer weiteren Zwischenbemerkung hat das Wort unser Kollege Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Intervention von Herrn Urbaniak gibt mir die Gelegenheit, eine Reihe von Mißverständnissen, die ich auch aus unseren Reihen hierzu schon gehört habe, ähnlich wie Sie sie vorgetragen haben, klarzustellen.
Zunächst schließe ich mich dem an, was der Kollege Lambsdorff als das eigentliche Ziel der kleinen Aktiengesellschaft beschrieben hat.
Welche Fälle können denn eintreten? Die Masse der Fälle, für die die kleine Aktiengesellschaft angelegt ist, betreffen die GmbH, die zahlenmäßig in den vergangenen zwei Jahrzehnten unglaublich zugenommen hat, die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ohne Möglichkeit des Zugangs zum Kapitalmarkt. Diese GmbHs sollen sich umwandeln in kleine Aktiengesellschaften.
Da es bei einer GmbH, wie jedermann weiß — Sie sicherlich auch —, keine entsprechende Unternehmensmitbestimmung gibt, kann es hier auch keinen Abbau von Mitbestimmung geben. Das heißt, für die Masse der Fälle bleibt die Situation der Mitbestimmung völlig gleich.
Dann gibt es den zweiten Fall, die Neugründungen. Hier gibt es auch keinen Abbau.
Dann gibt es drittens den Fall der Reduzierung, daß von den etwa 3 000 Aktiengesellschaften vielleicht eine in die Form der kleinen Aktiengesellschaft schlüpft. Sie müssen sich die Zahlen ein bißchen genauer ansehen. Es gibt knapp 3 000 Aktiengesell- schaften, davon ungefähr 1 000 mit weniger als 500 Mitarbeitern. Ich hoffe, daß die Zahl, die ich nachgefragt habe, richtig ist. Von diesen 1 000 sind die Masse Familienunternehmen, Holdinggesellschaften, Tendenzbetriebe oder Tochtergesellschaften im Konzern, so daß Sie die Mitbestimmung bei maximal 200 bis 300 Gesellschaften als gefährdet ansehen können. Hier müßte man wiederum Einzelprüfungen anstellen.
Das heißt, daß sich das Problem von der Quantität her, die Sie genannt haben, wirklich drastisch reduziert. Dafür haben wir dann noch eine Übergangsregelung von fünf Jahren geschaffen. Mehr kann man wirklich nicht machen. Wer hier noch polemisiert, sieht den ganzen Sachverhalt nicht klar genug und will hier nur Stimmung machen, was wirklich nicht gerechtfertigt ist.
Meine Damen und Herren, das Wort erhält jetzt unser Kollege Albert Pfuhl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin leider auf Grund der Kürze der Zeit, die dem Kollegen Hinsken zur Verfügung stand, nicht in der Lage gewesen, eine Frage an ihn zu stellen. Aber vielleicht hört er jetzt einmal zu, was ich ihn fragen möchte. Verehrter Herr Kollege Hinsken, ich habe in Ihrer fulminanten Rede zu den Problemen des Mittelstands von Ihnen als einem im Beruf des Einzelhändlers Tätigen nichts zum Rabattgesetz gehört. Mir liegt eine Meldung vom 31. Januar 1994 vor, in der Sie erklären:
Die von Rexrodt gewollte vollständige Abschaffung des Rabattgesetzes wird mit der CSU nicht zu machen sein. Sie fördert den weiteren Konzentrationsprozeß im Einzelhandel und ist daher mittelstandsfeindlich. Dem Verbraucher bringt die Abschaffung des Rabattgesetzes ebenfalls nichts. Es ist zu befürchten, daß statt Preisklarheit und -wahrheit künftig Zustände wie in orientalischen Basaren an der Tagesordnung sein werden. Auf jeden Fall muß verhindert werden, daß der Preiskrieg zukünftig von großen Handelsketten bereits über die Ankündigung von Rabattgewährung entfesselt wird. Die CSU wird hierzu schon sehr bald eigene Vorschläge vorlegen.
Zu diesem Thema haben Sie heute nichts gesagt. Ist aus einem Paulus ein Saulus geworden?
Herr Kollege Pfuhl, wenn Sie eine Zwischenfrage zulassen, können wir das vielleicht klären.
Bitte.
Herr Kollege Hinsken.
Herr Kollege Pfuhl, der Ernst Hinsken wird nicht vom Paulus zum Saulus, sondern er bleibt Ernst Hinsken. Er bleibt auch bei seiner Aussage.
Wir werden in der Gesetzesberatung sehr wohl danach trachten und darauf achten, daß sich diese Rabattgesetzänderung nicht zum Nachteil des Mittelstands auswirkt.
Wenn Sie die Vorlage genau lesen, dann können Sie feststellen, daß die Aufhebung des Rabattgesetzes nicht unter allen Umständen sofort umzusetzen ist, sondern daß das Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht und darüber diskutiert werden muß. Das hat mich veranlaßt, diesem Aktionsprogramm zuzustimmen. Ich bin der Meinung: Hier wird nicht Politik über die Köpfe der Menschen hinweg gemacht, vielmehr werden ihre Gefühle und Argumente berücksichtigt.
Herr Kollege Hinsken, das war keine Frage. Sie müssen jetzt z. B. fragen, ob er das begriffen hat.
Deshalb frage ich den Kollegen Pfuhl, ob er das zur Kenntnis nimmt und mich bei diesbezüglichem Unterfangen zu unterstützen bereit ist.
Herr Kollege Hinsken, ich werde das nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern Sie an das erinnern, was Sie heute erklärt haben, wenn wir im
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17971
Albert PfuhlAusschuß in die Debatte gehen. Das, was Sie hier ex cathedra nicht gesagt haben, können Sie ja dann dort groß verkünden.Meine Damen und Herren, man muß sich im Grunde einmal auf der Zunge zergehen lassen, daß die Bundesregierung und auch die Koalition unter dem Motto „Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung" das Rabattgesetz und auch die Zugabeverordnung abschaffen wollen. Allen Ernstes behaupten sie, die Abschaffung des Rabattgesetzes würde die Wachstumskräfte in der Wirtschaft und den Wettbewerb stärken. Damit nicht genug: Der Wirtschaftsstandort der Bundesrepublik werde dadurch für die Zukunft sicherer gemacht.Diese Begründung im Gesetzentwurf wäre sicherlich ein Lacherfolg auf allen Kabarettbühnen, uns scheint es im Augenblick aber viel zu ernst zu sein, um darüber zu lachen. Mit der Streichung dieser im großen und ganzen bewährten Vorschrift werden vor allem den Verbrauchern und den kleinen und mittleren Einzelhändlern, so wie es Herr Kollege Hinsken in seiner Presseerklärung gesagt hat, Nachteile entstehen.Die Bundesregierung und die Regierungskoalition behaupten, daß es einen europäischen Handlungsbedarf zur Streichung dieses Gesetzes gebe. Dieses ist nicht der Fall. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 24. November 1993 verstoßen nationale Bestimmungen, die Verkaufsmodalitäten regeln, nicht gegen den EWG-Vertrag. Insofern ist der europarechtliche Zwang zur Zeit ein reiner Vorwand. Was später von Europa kommt, ist eine ganz andere Frage.
— Aber dies ist das letzte Urteil. Sie wissen, Herr Kollege Graf Lambsdorff, bei der Rechtsprechung ist immer das letzte Urteil entscheidend.
— Ja, aber was das Reichsgericht vor 100 Jahren beschlossen hat, muß heute nicht mehr vernünftig sein.
— Gut, aber wir wollen uns darüber hier nicht streiten. Vielleicht kommen Sie einmal in den Wirtschaftsausschuß. Dann werden wir Gelegenheit haben, dies zu tun. Man sieht Sie dort sowieso sehr selten.
— Stellvertretende Mitglieder haben volles Rederecht. Bei der Eloquenz, die Sie an den Tag legen, sind Sie dort ein vermißter Gast.
Meine Damen und Herren, was die allgemeinen wirtschaftspolitischen Auswirkungen im Hinblick auf Wachstum, Wettbewerb und Standort anbelangt, so bleibt es der ökonomischen Sachkompetenz dieses Bundeswirtschaftsministers vorbehalten, hier die kausalen Zusammenhänge zu entdecken. Dem Bundeswirtschaftsminister sollte bekannt sein, daß gerade im Einzelhandel ein ganz besonders intensiver Preiswettbewerb herrscht. Dies hat nicht zuletzt dazu geführt, daß die Gewinne im Einzelhandel durch die Bank auf 2 % vom Umsatz gefallen sind. Alle Fachleute sind sich darüber einig, daß dieser intensive Wettbewerb auch in den nächsten Jahren bestehenbleiben wird, sich sogar noch verschärft.
Um in diesem Wettbewerb bestehen zu können, sind bereits heute die Möglichkeiten zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit im Handel konsequent genutzt worden; das kann niemand bestreiten. Insofern ist es für mich völlig unsinnig, davon auszugehen, daß die Aufhebung des Rabattgesetzes zu einer — ich zitiere — „Effizienzsteigerung im Einzelhandel" führen würde. Höhere Rabatte müßten bei gleichem Preisniveau zwangsläufig zu Lasten der Rendite gehen, es sei denn, der Rabatt wird bereits im vorhinein in die Preise hineingerechnet. Es ist also rätselhaft, welchen wettbewerbspolitischen oder effizienzsteigernden Beitrag eine Abschaffung des Rabattgesetzes leisten soll.Völlig unklar ist mir auch, wie der Bundeswirtschaftsminister zu der Auffassung gelangt, die Abschaffung dieses Gesetzes würde die Wachstumskräfte in der Wirtschaft stärken. Tatsache ist, daß die Probleme vor allem des Handels zu einem großen Teil in der von der Bundesregierung zu verantwortenden sinkenden Kaufkraft weiter Teile der Bevölkerung liegen. Die von der Regierung beschworene Stärkung der Wachstumskräfte im Einzelhandel setzt voraus, daß die Kunden auch mehr einkaufen können. Dazu brauchen sie normalerweise mehr Geld. Wie dies auf Grund der geschilderten Umstände laufen soll, ist mir ein Rätsel.Und im übrigen: Glauben Sie, daß Sie einen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz durch die Abschaffung dieses Rabattgesetzes schaffen? Ich möchte wissen, wo. Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie unsere Vorschläge zur Stärkung der Massenkaufkraft und zur Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung annehmen und umsetzen würde.Meine Damen und Herren, mit der Streichung der erwähnten Gesetze drängt sich natürlich auch der Eindruck auf, daß die Regierung von ihrer eigenen Tatenlosigkeit im Bereich von Politik, Wirtschaft und Struktur ablenken will. Veränderungen, sagte der Kollege Schäuble, will er. Aber Veränderungen sollte man nicht um der Veränderungen willen vornehmen, sondern nur dann, wenn sie vernünftig sind. Blinder Aktionismus schadet.Vor allem verschweigen Sie — oder Sie täuschen sich darüber hinweg —, daß die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung zu deutli-
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Albert Pfuhlchen Nachteilen für Verbraucher und mittelständische Unternehmen führen wird.
— Ein Teil der Verbraucherverbände, nicht alle.
Im übrigen ist mir gestern in der „Süddeutschen Zeitung" ein Artikel, der sich auf die Frage der Zugabeverordnung bezieht, aufgefallen: „Freiflüge für Leichenbestatter". Verschickt ein Leichenbestatter die sterblichen Überreste von mehr als 30 Menschen mit der Fluggesellschaft United States Air, hat er das Anrecht auf einen Gratisflug innerhalb Nordamerikas. Vielleicht ist dies zu makaber, als daß man darüber lästern sollte. Ich finde nur, hier zeigt sich, wie weit die Abschaffung der Zugabeverordnung gehen kann, wenn wir dies recht besehen.
— Herr Kollege, selbst darüber läßt sich reden. Sie wissen ja, daß wir so anständig sind, unsere Anteile, die wir erwerben, an den Bundestag zurückzugeben, weil es nicht unser Geld ist.
Preiswahrheit und Preisklarheit, wichtige Voraussetzungen für eine vergleichende Kaufentscheidung der Verbraucher, bleiben bei der Abschaffung dieses Gesetzes auf der Strecke. Es liegt auf der Hand, da Einzelhandelsunternehmen auf Grund ihrer erwähnten geringen Umsatzrenditen ihre Preise erhöhen müssen, um die Voraussetzungen für einen Rabattrahmen zu schaffen. Diese Gefahr ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Das Ergebnis wären Phantasiepreise, die allenfalls Verhandlungspreise wären, aber jede Verbindlichkeit verloren hätten. Wozu brauchen wir dann noch die Preisangabenverordnung? Dann können wir die auch abschaffen. Das wäre dann konsequent.
Im Ergebnis würde der Verbraucher mit mehr oder minder dubiosen Rabatten zum Kauf animiert, nachdem vorher die Preise drastisch erhöht wurden. Individuelle Preisvergleiche wären für die Verbraucher erheblich erschwert.Im übrigen klagt heute schon das Statistische Bundesamt darüber, daß es in Zukunft keine realen Preise zur Aufstellung einer Statistik mehr geben wird, weil die Mondpreise, die angegeben werden, ja dann durch die Rabattgewährung — je nachdem, wie hoch der Rabatt ist — unterlaufen werden können, sich die Statistik aber nur auf diese Mondpreise beziehen kann.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhauser?
Bitte schön.
Bitte, Kollege Faltlhauser.
Herr Kollege, können Sie sich nicht vorstellen, daß die Problematik der Mondpreise, wie Sie sie bezeichnen, durch die ersten Paragraphen des UWG, und zwar ohne Änderung dieses Gesetzes, ohnehin bereits regelbar ist?
Wissen Sie, Herr Kollege, wenn Sie dieses Rabattgesetz abschaffen, ist dies ja auch ein teilweises Unterlaufen des UWG.
— Doch. Aus diesem Grunde müssen wir uns darüber unterhalten, ob wir nicht auch hier Änderungen herbeiführen müssen.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Kollegen Faltlhauser?
Bitte schön.
Das ist keine rhetorische Frage, sondern eine Frage, die ich stelle, weil ich lernen möchte. Ich würde ganz gerne wissen, wie Sie es begründen, daß durch den Wegfall des Rabattgesetzes das UWG unterlaufen wird. Das ist eine ganz überraschende und für mich sensationelle Behauptung, die sicherlich von Ihnen präzise dargelegt werden kann.
Weil Sie nicht bereit waren, als wir uns über die Änderung des UWG unterhalten haben, unseren Forderungen zu folgen, nämlich viel striktere Maßnahmen einzuführen. Das UWG wird in der Frage der Grenze, wo der unlautere Wettbewerb anfängt und wo er aufhört, durch die Abschaffung des Rabattgesetzes, die Sie durchführen wollen, noch fließender.Meine Damen und Herren, die Frage, die ich mir gestellt habe, lautet: Was geschieht im steuerrechtlichen Bereich? Es gibt schon heute den betrieblichen Personalrabatt, der heißt: Bis 2 400 DM im Jahr kann ein Bediensteter von seiner Firma einen Rabatt bekommen. Wie wird sich dieses aber bei höheren Rabatten, bei Jahresrabatten auswirken, die große Firmen, die Großanbieter sind, dann ihren Kunden gewähren? Auch diese Frage ist bisher von Ihrer Seite nicht gelöst worden.Letztlich wird der Verbraucher schwer herausfinden können, ob er bei seinen Verhandlungen mit verschiedenen Einzelhändlern tatsächlich auch den niedrigsten Preis erzielt hat. Die Gefahr, daß er zum Schluß draufzahlt, ist nicht gering. Benachteiligt werden auf alle Fälle diejenigen Verbraucher, die nicht zu den sogenannten Cleveren im Lande gehören, die also nicht über die notwendige Erfahrung und das erforderliche Verhandlungsgeschick verfügen. Zu befürchten ist also eine deutliche Ungleichbehandlung der Verbraucher, die aus sozialer Sicht bedenklich ist.
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Albert PfuhlEs mag im Urlaub im Maghreb oder in Südamerika oder anderswo nett sein, mit dem Händler zu feilschen; aber unserer Mentalität hier in Mitteleuropa entspricht dieses nicht so ganz.
— Aber Verehrtester, ich bekomme wie Sie sowieso 12 %, weil wir Bundestagsabgeordnete sind. Da brauche ich nicht mehr zu feilschen.Die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung benachteiligt nicht nur Verbraucher, sie gefährdet auch die Existenz vieler kleiner Unternehmer. Finanzstarke Großunternehmen können auf Grund ihrer Mischkalkulation und ihrer günstigen Einkaufskonditionen höhere Rabattmöglichkeiten anbieten und gegebenenfalls auch gewähren, und zwar höher als kleine und mittlere Einzelhändler.Für die großen Kaufhäuser ist es ein leichtes, in ihrem totalen Warenangebot einen Jahresrabatt zu gewähren, den ein Facheinzelhändler, der nur Schuhe oder nur Textilien, nur Möbel oder nur Lebensmittel verkauft, gar nicht bieten kann. Dadurch entsteht der Nachteil für den kleinen Mann, der hier sein Geschäft betreibt.Das ist auch der Grund, warum alle — Einzelhandelsverband, Groß- und Außenhandelsverband sowie alle Zeitschriften, die sich damit beschäftigen — dieses Rabattgesetz ablehnen. Wenn dann einige Verbraucher — Verbandsvertreter, wie Graf Lambsdorff sagte — meinen, es sei günstig, dann bezieht sich das vielleicht auf die, die dort handeln können; auf die Masse der Verbraucher, vor allem auf die älteren Menschen, kommt es dabei nicht an.Ich darf daran erinnern, daß 1970 0,1 % der Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel rund 29 % des Umsatzes in diesem Bereich tätigten. 1988 vereinigten diese 0,1 % der Unternehmen bereits knapp 60 % des Umsatzes auf sich. Die Bundesregierung sieht dieser Konzentrationsentwicklung tatenlos zu. Das wissen wir auf Grund der letzten Elefantenhochzeit, die demnächst stattfindet.Statt wirksame kartellrechtliche Maßnahmen gegen die Konzentration in der Wirtschaft vorzusehen, wird hier etwas getan, was sich gegen den Verbraucher, gegen den kleinen Mittelstand, gegen die Lebensmittel-, gegen die einzelnen Facheinzelhändler richtet und im Grunde eine Mogelpackung ist, die man den Leuten nicht verkaufen sollte.
Ich möchte Sie bitten, sich in der Diskussion in den Ausschüssen wirklich mit diesen Fragen zu beschäftigen und dafür Sorge zu tragen, daß nicht größerer Schaden entsteht, sondern daß wir dem, was der Kollege Hinsken in seiner Presseerklärung gesagt hat, folgen und hier genau prüfen, inwieweit es zum Wohle des Ganzen in diesem Staate ist.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unsere Frau Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gesetze, die wir heute einbringen, gehen zurück auf den Beschluß der Koalition zu einem Beschäftigungsprogramm.Wir Liberalen haben hier schon oft über Deregulierung, Entbürokratisierung und einen Erhalt des Lohnabstandsgebotes gesprochen. Vielleicht kommen unsere Vorschläge ein bißchen spät; aber immerhin sind sie jetzt aufgegriffen worden. Was vielleicht noch schwerer wiegt: Sie sind innerhalb von zwei Wochen vom BMA — dem ich in dieser Frage ein ausdrückliches Kompliment geben möchte; nicht alle Häuser haben so rasch gearbeitet — mit den nötigen gesetzlichen Vorlagen eingebracht worden.
Wir haben in den ersten zwei, drei Stunden eine Generaldebatte gehabt und wenden uns jetzt einigen Detailproblemen zu. Lassen Sie mich drei Punkte herausgreifen.Die F.D.P. hat seit Jahren gefordert, daß die Entgelte in arbeitsmarktpolitisch geförderten Arbeitsverhältnissen gegenüber den Tariflöhnen abgesenkt werden müssen. Wir haben jahrelang gehört, daß das nicht geht: Eingriff in die Tarifautonomie , das wäre verfassungswidrig. Jetzt, mit einmal ist das Ei des Columbus gefunden. Wir senken die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Wir haben eine neue Bemessungsgrundlage. Bezuschußt werden in Zukunft nur noch 80 % des Entgeltes, was üblicherweise die tariflich geregelte Arbeit wert ist.Erst jetzt ist also das Gefüge stimmig: Wir zahlen 100 % Lohn für Arbeit im ersten Arbeitsmarkt, wir zahlen 80 % Entgelt für staatlich geförderte Arbeit, und wir zahlen 60 bis 65 % für den Bezug von Arbeitslosengeld.Soweit also ein so klarer Auftrag an das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung erteilt ist, sprüht es vor Energie und Tatendrang. Bei den Mitarbeitern, mit denen wir in dieser Frage sehr kooperativ zusammengearbeitet haben, möchte ich mich für die außerordentliche Belastung fast entschuldigen und mich für den Einsatz bedanken. Ich denke, es ist ein Beweis, daß wir hier sehr gut zusammen gehandelt haben.Steinig war der Weg zur Zulassung privater Arbeitsvermittlung. Hier wurden uns Liberalen von allen Seiten immer wieder die Bedenken entgegen gehalten, es gehe nicht. Merkwürdigerweise haben wir hier einen Kampfgenossen im EuGH gefunden, der gesagt hat, daß die Aufrechterhaltung des Vermittlungsmonopols für Führungskräfte mit dem EG-Recht nicht vereinbar ist. Dies ist ein Lob in Richtung Europa. Nicht immer sind es die Superbürokraten, manchmal bewähren sie sich auch als Deregulierer.Dann hatten wir durchgesetzt, daß wir einen Modellversuch, befristet auf zwei Jahre, in drei Modellregionen machen. Dieser Vorschlag ist jetzt schon wieder überholt, weil wir diesen Modellversuch
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17974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Gisela Babelzugunsten einer gesetzlichen Regelung lassen, die eine allgemeine Arbeitsvermittlung vorsieht.Ich darf wiederholen, was ich damals in meiner ersten Rede gesagt habe. Es geht nicht darum, daß wir glauben, mit privater Arbeitsvermittlung würden wir automatisch mehr Arbeitsplätze schaffen. Das wäre Unsinn. Es geht aber auch nicht darum, daß sich die Leute fürchten müssen, wenn sie jetzt auf einmal privat arbeitsvermittelt würden. Im Gegenteil: Nur etwa ein Drittel der Arbeitslosen finden ihren neuen Arbeitsplatz über das Arbeitsamt, zwei Drittel suchen sich ihn mehr oder weniger mühsam selbst. Im Grunde ist es doch sinnvoll, daß wir für diese zwei Drittel ein zusätzliches Dienstleistungsangebot haben, womit die Vermittlungsdauer vielleicht sogar verkürzt werden kann. Das heißt, der Arbeitssuchende findet schneller einen Arbeitsplatz. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was man gegen eine solche Verbesserung des Dienstleistungsangebotes einwenden mag.Bezahlt wird es — das darf ich noch einmal dem Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen, der den Entwurf vielleicht nicht ganz durchgelesen hat —
vom Arbeitgeber und nicht vom Arbeitnehmer. Insofern ist dieser Weg für ein bestimmtes Fachpublikum meiner Ansicht nach eine Hilfe.Letzter Punkt: die Ausdehnung der Sonder-ABM in Form des § 249h, den wir für den Osten geschaffen haben, auf den Westen. Wir müssen uns jetzt an einen neuen Paragraphen gewöhnen, § 242 s. Insbesondere den Ländern und Kommunen geben wir mit diesem Weg ein Instrument in die Hand, um Arbeitslosigkeit zu lindern und Beschäftigung zu sichern. Die Finanzierung wird im wesentlichen von der Bundesanstalt für Arbeit übernommen. Den Ländern und Kommunen obliegt eigentlich die Kofinanzierung, die verhältnismäßig gering ist.Aber auch hier, haben wir mit der Neuregelung dafür gesorgt, daß wir nicht über eine 80%ige Förderung des Entgeltes kommen, und zwar dergestalt, daß wir sagen: Wenn der Träger so viel Geld hat, daß er darauf aufstockt, daß er mehr zahlen möchte, wird sich der Zuschuß entsprechend verringern. Das heißt, der Träger kann natürlich seinen Zuschuß bis zu 100 % aufstocken, und die Bundesanstalt muß dann weniger zahlen. Damit haben wir die Rahmenbedingungen geschaffen, daß die staatliche Förderung den abgesenkten Beitrag nicht übersteigt.Ich bitte die Länder dringend, uns jetzt nicht zu erzählen, sie hätten kein Geld. Wenn die Länder dieses Angebot nicht nutzen, bedeutet das im Klartext, daß sie ihrer Verantwortung ausweichen und nicht alles unternehmen, um Beschäftigung für Arbeitslose anzubieten. Vor allem werden sich die sozialdemokratisch geführten Länder an ihre eigenen Sprüche erinnern müssen. Die Statistik wird die Beschäftigungszahlen gemäß dem neugeschaffenen § 242s AFG demnächst ausweisen.Meine Damen und Herren, an diesen drei Beispielen sehe ich, daß wir im Arbeitsförderungsgesetz die Voraussetzungen zu mehr Flexibilität und mehr Handlungsspielraum, im Grunde zu einem sparsameren und sinnvolleren Einsatz der Finanzmittel geschaffen haben. Ich gehe davon aus, daß wir an den Erfolgen, die diese Schritte nach sich ziehen werden, sehen können, wie wichtig das ist. Wir hätten es vielleicht schon ein bißchen früher machen können.Ich bedanke mich.
Ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lücke auf dem Arbeitsmarkt zwischen Angebot und Nachfrage weist fast 4 Millionen Arbeitslose auf. Ich denke, es ist niemand im Saal, der sich damit begnügt, parteipolitisch Schwarzer Peter zu spielen. Das wäre für die Arbeitslosen ein trauriges Spiel.Insofern sollten wir unsere Anstrengungen mehr darauf richten, wie wir es gemeinsam schaffen, Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Ich denke allerdings, es sind zwei Verwechslungen im Spiel. Die eine zielt darauf ab, als könnte das der Staat, als wäre der Staat der Arbeitsplatzbeschaffer. Das ist er nicht. Es sind die Unternehmen. Die zweite Verwechslung meint, im staatlichen Bereich sei hauptsächlich die Arbeitsmarktpolitik gefordert. Das ist sie nicht. Es ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik.Was die Arbeitsmarktpolitik leisten kann, ist immer nur Brücken bauen. Aber die schönste Brücke nutzt nichts, wenn sie kein Ufer erreicht. Insofern darf man die Arbeitsmarktpolitik nicht überfordern. Sie hat in den zurückliegenden Jahren mehr geleistet, als sie eigentlich schultern kann.Es gäbe in den neuen Bundesländern ohne Arbeitsmarktpolitik 2 Millionen mehr Arbeitslose. Deshalb an alle ordnungspolitischen Feinschmecker die Frage: Was nützt die schönste Ordnungspolitik, wenn Menschen keine Arbeit haben? Man braucht zunächst immer Rettungsaktionen. Arbeitsmarktpolitik bedeutet Rettungsaktion. Freilich darf man sich nicht auf Rettung spezialisieren. Es geht darum, Rettung überflüssig zu machen, neue Arbeitsplätze zu schaffen.Das Wichtigste dabei sind Innovationen. Die westdeutsche Wirtschaft hat einen Teil der Innovationen verpennt.
Sie hat sich auf ihren Erfolgen ausgeruht. Das ist im übrigen, Herr Kollege Hinsken, im privaten Leben so wie im öffentlichen: Erfolge können leicht in einen Dämmerzustand hinüberführen. Man ruht sich auf den Erfolgen aus. Wir haben Produktinnovationen verschlafen. In vielen Bereichen haben wir unsere Spitzenstellung verloren. Das hat mit Lohnnebenkosten nichts zu tun. Freilich sind die zu hoch. Aber reduzieren wir nicht die ganze Arbeitsmarktproble-
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Bundesminister Dr. Norbert Blümmatik auf die Kostenfrage. Das ist eine wichtige, aber keineswegs die einzige Frage.
Zur Produktinnovation muß der Staat allerdings die Flankierung liefern. Daß der Transrapid seit Jahren im Emsland als Modelleisenbahn fährt, hat etwas mit der politischen Ängstlichkeit zu tun, diese neue, zukunftweisende Technologie auch gegen Widerstände durchzusetzen. Glaubt jemand, wir könnten eine solche Spitzentechnologie auf der Welt verkaufen, wenn wir sie selber nicht anwenden?
Das wäre so ähnlich, als wollte ein Autoverkäufer seinem Kunden ein Auto per Fahrrad anbieten. So wird er es nicht absetzen. Insofern muß die Politik Innovationen mutig begleiten.Zu den Innovationen rechne ich auch Verfahrensinnovationen. Der Vorsprung der japanischen vor unserer Volkswirtschaft wird auf 40 % geschätzt. Davon sind nur ein Drittel Lohnkosten. Ich will das Lohnkostenproblem damit nicht verharmlosen. Ich wehre mich nur dagegen, die ganze Vorsprungsfrage darauf zu reduzieren, als sei sie ausschließlich eine Kostenfrage.
— Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende führen. Er ist so interessant.Für die Entwicklung eines Autos braucht die japanische Automobilindustrie 1,2 Millionen Entwicklungsstunden weniger als die deutsche.
Bevor wir die Pfeife gestopft haben, hat man sie in Japan schon geraucht.Wenn VW 32 Arbeitsstunden braucht, während der japanische Produzent nur 16 benötigt, hat das auch nichts mit Lohnkosten zu tun, sondern wir sind in alten Erfolgsgewohnheiten eingeschlafen.Wir können uns wechselseitig austauschen, Wirtschaft und Politik. Wir müssen besser werden, aber die Wirtschaft muß auch besser werden.
Ich finde, auch die Arbeitszeitorganisation geht fast nach militärischem Muster vor sich, alles „im Gleichschritt marsch". Wir sind ein Entwicklungsland in Sachen Teilzeitarbeit. Hätten wir nur die Teilzeitbeschäftigungsquote von Holland — das ist bekanntlich nicht sehr weit entfernt —, dann hätten wir dadurch 2 Millionen mehr Menschen in Beschäftigung. Das scheitert nicht an Paragraphen, sondern am Mumm derjenigen, die sonntags über Flexibilisierung reden und werktags eingeschlafen sind. Das ist das eigentliche Problem.
Man redet leicht über Sachen, die man nicht durchführt.Nur eine Viertelmillion Arbeitslose suchen Teilzeitarbeit. Es gibt Untersuchungen, wonach zweieinhalb Millionen Vollerwerbstätige auf Teilzeit umsteigen wollen. Wie borniert ist eigentlich eine Gesellschaft, die die einen, dank veralteter Arbeitsorganisation, zur Vollerwerbstätigkeit zwingt, obwohl sie eigentlich Teilzeitarbeit machen wollen, und die anderen in der Arbeitslosigkeit läßt? Wir können Arbeitszeitwünsche nicht miteinander kombinieren.Wir sind fähig, Raketen zum Mond zu schießen, Menschen zum Mond zu transportieren, aber wir sind unfähig, eine intelligente Arbeitszeitform, die die Wünsche der Arbeitnehmer mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten kombiniert, zu finden. Das ist keine Paragraphensache, das ist eine Sache des Mutes, der Kreativität der Beteiligten.
- Und der Kosten, wobei Teilzeitarbeit unter Produktivitätsgesichtspunkten sogar attraktiv ist. Dabei verstehe ich unter Teilzeittätigkeit keineswegs nur die Tagesteilung, sondern ganz intelligente Arbeitszeitformen.Warum sollen Sechzigjährige dieselbe Arbeitszeit haben wie Zwanzigjährige? Warum sollen Bauarbeiter im Winter, wenn es kalt ist und sie sich die Knochen blau frieren, dieselbe Wochenarbeitszeit wie im Sommer haben? Wie borniert ist die Gesellschaft, wenn sie sich auf das Haupt dieses veralteten Denkens immer noch die Pickelhaube des 19. Jahrhunderts setzt?Bitte schön.
Herr Kollege Gilges, bitte.
Herr Kollege Blüm, wir sind ja in dem, was Sie jetzt ausgeführt haben, überwiegend einer Meinung.
— Überwiegend einer Meinung. — Natürlich haben die Unternehmer in den letzten zehn Jahren geschlafen und sich selbst in die Innovationskrise manövriert. Ich will nicht wiederholen, was Herr Blüm gesagt hat.Deswegen ist meine Frage an Sie: Wie reimen Sie sich zusammen, daß der Kollege Pinger,
Abgeordneter der CDU im Kölner Rechtsrheinischen, aus umweltpolitischen und sonstigen Gründen dagegen ist, daß der ICE-Anschluß an den Kölner Flughafen zustande kommt? Durch den ICE-Anschluß und den Ausbau des Kölner Flughafens würden allein in der Region Köln 5 000 zusätzliche, überwiegend einfache Arbeitsplätze entstehen. Wie erklären Sie, daß in Ihrer Fraktion alles das, was Sie hier sagen und worin wir übereinstimmen, nicht aufgenommen wird? Warum sagen die Kollegen vor Ort aus opportunistischen Erwägungen das Gegenteil von dem, was Sie hier wollen?
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Lieber Herr Kollege Gilges, mir langt meine Redezeit nicht, jene Abgeordneten aus Ihrer Fraktion aufzuzählen, die die Gentechnologie, die Biotechnologie nicht wollen und den Transrapid verhindert haben. Bringt es uns eigentlich weiter, wenn wir eine Schuldliste zusammenstellen? Sie sollten einmal — damit wir eine Stufe höher sind — bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung in bezug auf den Transrapid die Ängstlichkeit davor beseitigen, wirklich Planungsverfahren durchzuführen.
Wenn Sie das gemacht haben — das ist eine schöne Arbeitsteilung —, dann reden Sie mit Rau und ich mit Pinger. Dann hat jeder etwas zu tun.AZO: Das neue Arbeitszeitgesetz wird manches, was aus dem Jahre 1938 stammt, einer modernen Industriegesellschaft anpassen. 1938 hat der Staat — Hitler war am Ruder — die Arbeitszeiten geregelt. Es gab keine freien Gewerkschaften. Darüber sind wir doch Gott sei Dank hinweg. Wir müssen uns doch schämen, daß diese alte nazistische Arbeitszeitordnung ihr Gründungsjahr über 50 Jahre überdauert hat. Darin ist der Arbeitsminister „Reichstreuhänder der Arbeit", die Arbeitnehmer sind „Gefolgschaft". Schon die Begriffe zeigen, wie veraltet diese Arbeitszeitordnung ist. Wir beseitigen sie. 23 Gesetze und Verordnungen werden überflüssig. Andere reden über die Beseitigung von Bürokratie. Wir tun es.
Im übrigen bin ich mir ganz sicher, daß auch die Arbeitsplätze nicht bei den großen Firmen, bei den Giganten liegen. Die Konzerne brauchen sich, was Bürokratie und was Hierarchien anbelangt, nicht hinter dem Staat zu verstecken. Den Schnellen gehört die Zukunft.
Die Schnellen fressen die Langsamen; die Kleinen besiegen die Großen.
Das gilt auch für die Politik.
Was die Mitbestimmung anbelangt, so sind wir ein Spitzenland, und ich hoffe, daß wir es auch bleiben. Ich glaube, wir haben eines vernachlässigt: die Mitbestimmung vor Ort, am Arbeitsplatz. Dieses Potential haben wir zuwenig ausgenutzt,
obwohl hier ein Potential von Kreativität, aus Erfahrung gewonnen, schlummert.Ich will noch zu den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sprechen, und zwar zu den befristeten Arbeitsverträgen. Das ist vor fünf Jahren schon einmal umkämpft gewesen. Mein Motto gilt auch heute noch: Befristet arbeiten ist immer noch besser als unbefristet arbeitslos. Es hat sich ja gezeigt, daß diese befristeten Arbeitsverhältnisse zu 50 % in Dauerarbeitsverhältnisse überführt wurden.
Das führt zu Arbeitsplatzgewinnen. Im letzten Jahr — das sind jetzt nicht Zahlen des BMA — bekamen durch diese zusätzliche Beschäftigung 30 000 Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz. Sie können sagen, das sei wenig. Das ist aber 30 000mal statt Arbeitslosigkeit Arbeit. Schon allein deshalb hat sich das Gesetz bewährt.Was die §§ 249h und 242s AFG anbelangt: Ich freue mich über das Lob meiner verehrten Kollegin Babel für dieses wegweisende Arbeitsmarktinstrument. In der Tat finde ich es sehr kreativ. Wenn wir schon Geld ausgeben, dann geben wir es besser für Arbeit aus als für Arbeitslosigkeit. Wenn ein Arbeitsloser in einem Bereich eingestellt wird, wo er dem normalen Arbeitsmarkt keine Konkurrenz macht, dann zahlen wir dem Träger das Arbeitslosengeld.Nun sollen all diejenigen, die pausenlos ihre Adressen nach Bonn richten und sagen, was Bonn alles besser machen könne, das Geld in ihren Ländern nehmen und solche Maßnahmen organisieren. Das gilt auch für die großen Unternehmen, die heute teure — jedem zu gönnende — Sozialpläne verabschieden. Noch besser als Sozialpläne wäre, wenigstens einen Teil des Geldes zu nehmen und Arbeit zu schaffen, meinetwegen mit Hilfe des § 249h.
Was die Schwarzarbeit anbelangt, so müssen wir ihr schon wegen des Schutzes der Solidaritätskassen gemeinsam entgegentreten. Ich bin der Meinung, daß der Kampf nicht nur den Schwarzarbeitern gelten sollte, sondern auch den Schwarzunternehmern; denn zum Schwarzarbeiten gehören immer zwei. Deshalb werden wir nicht nur das Subunternehmen kontrollieren, sondern auch den Hauptauftraggeber. Der Hehler ist so schlimm wie der Stehler!
Wer erwischt wird, der scheidet aus der öffentlichen Vergabe aus. Ich glaube nämlich, daß die ganze Bußgelder-Olympiade überhaupt nichts bewirkt, da das dann unter Unkosten abgebucht wird.Noch ein Wort zu den Saisonarbeitnehmern in der Landwirtschaft: Was macht stört, ist — wie soll ich es nennen? — eine gewisse Schizophrenie oder Lebenslüge. Morgens höre ich auf Versammlungen: „Kein Zuzug von Ausländern! Anwerbestopp, bravo!" — Nachmittags höre ich: „Aber Arbeiten in der Landwirtschaft sind für einen deutschen Arbeitslosen unzumutbar! "Wie löst das Leben diese Lebenslüge? Es löst sie durch illegale Beschäftigung. Ich bin gegen diese Lebenslüge. Ich finde, für einen jungen, gesunden Arbeitslosen — und über 60 % sind unter 42 Jahre — ist es wirklich nicht unzumutbar, auch in der Landwirtschaft zu helfen. Welche Ausländerverachtung steckt doch im Grunde darin, zu sagen: Der Pole, der darf in den Weinbau, aber für einen Deutschen sind die Arbeitsplätze im Weinbau unzumutbar. — Merken Sie nicht, daß da eine geheime Ausländerverachtung im Spiel ist? Merken Sie nicht, daß Sie hier eine Zweiklassengesellschaft schaffen?
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Bundesminister Dr. Norbert BlümMerken Sie eigentlich nicht, welche Verachtung darin liegt? Und in der Tat finde ich, daß auch hier arbeiten besser als nicht arbeiten ist. Freilich gilt das nur für die, denen man das zumuten kann. Einem Kranken können Sie das nicht zumuten. Aber ich meine, wir sollten schon auch den Arbeitswillen derjenigen testen, die arbeitslos sind.Damit es keinen Zweifel gibt: Ich werde nie behaupten, 4 Millionen Arbeitslose müßten unter den Generalverdacht gestellt werden, sie wollten nicht arbeiten. Aber daß es solche auch gibt, das wird niemand bezweifeln. Denen müssen wir schon Beine machen, und zwar der Arbeitslosen wegen. Sonst werden diejenigen, die unter Arbeitslosigkeit leiden, mit denjenigen verwechselt, die die Solidarkassen ausnutzen. Das kann nicht im Sinne der Solidarität sein.Ich kehre zum Ausgangspunkt zurück: Die Debatte gewinnt noch mehr Drive, wenn sie ein Wettbewerb ist, wie wir den Arbeitslosen helfen können, und nicht eine Olympiade wechselseitiger Vorwürfe.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Konrad Gilges.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wundere mich etwas über die Reden — insbesondere des Herrn Lambsdorff und des Herrn Rexrodt und auch des Herrn Schäuble —, die den Eindruck erwecken, als wären für die wirtschaftliche Krise, in der wir heute mit 4 Millionen Arbeitslosen und allem Drum und Dran stecken, wir Sozialdemokraten, d. h. die Opposition, verantwortlich.
Wir können festhalten, daß wir seit 22 Jahren einen liberalen Wirtschaftsminister haben
und daß seit 12 Jahren diese Regierungskoalition die Macht in diesem Lande ausübt. Deshalb müssen Sie sich der Verantwortung für diese Krise, für 4 Millionen Arbeitslose, dem Volk gegenüber auch stellen.
Sie dürfen hier nicht den Eindruck erwecken, als wenn wir für die Misere, die heute in unserem Land mit einer Innovationskrise und mit allem Drum und Dran herrscht, was Herr Blüm richtigerweise alles dargestellt hat, verantwortlich wären. Stellen Sie sich der Verantwortung! Dafür kriegen Sie Ihr Geld als Abgeordnete, und die Regierung kriegt auch ihr Geld dafür. Diese Art und Weise, hier so mit der Opposition umzugehen, Frau Babel, finde ich schlicht und einfach schoflig — schoflig gegenüber dem Wähler und auch gegenüber der Opposition.
Herr Kollege Gilges, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Babel?
Ja.
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Gilges, Sie haben recht, daß es eine Folge von liberalen Wirtschaftsministern in verschiedenen politischen Konstellationen gegeben hat, aber geben Sie zu: Man hat leider nicht immer diesen Ratschlägen der Wirtschaftsminister der Liberalen das Ohr geschenkt,
und die Rezepte, die wir jetzt durchsetzen, sind in jeder Regierung mühsam gewesen. Man hätte sie vielleicht immer früher hören müssen.
Zweiter Punkt: Wir haben in keiner Rede bis jetzt gesagt, daß Sie für 4 Millionen Arbeitslose verantwortlich sind, sondern wir haben Sie nur gefragt, welche Rezepte Sie haben. Da haben wir festgestellt: Die Rezepte der Sozialdemokraten taugen nichts. Das mußte hier doch einmal deutlich gesagt werden.
Das hat nichts damit zu tun. Sie werden diese Sache nicht kurieren können. Das ist der Punkt.
Was wir kurieren können, Frau Babel, das werden wir sehen. Die Differenz, die Sie jetzt dargestellt haben, daß Sie untereinander über die Wirtschaftspolitik seit 12 Jahren Krach haben, das ist eine interessante Feststellung. Aber das ändert nichts an der Verantwortung. Auch wenn Sie Krach untereinander haben und sich nicht einigen können über irgendwelche Maßnahmen, bleiben Sie trotzdem als Gesamtregierung mit dem Wirtschaftsminister Rexrodt verantwortlich.
Ich will etwas zu dem sogenannten „Mitbestimmungsabbaugesetz" sagen, das Sie Gesetz für kleine Aktiengesellschaften nennen. Es bleibt dabei, Herr Blüm: Seit Adenauers Zeiten ist dies das erste Gesetz einer Bundesregierung, welches einen tiefen Einschnitt in unsere Mitbestimmung vornimmt. Es werden 1 000 Betriebe, Aktiengesellschaften, in Zukunft unter Umständen keine Mitbestimmung mehr haben. Deshalb sind alle Ihre hehren Beteuerungen in den letzten Jahren, Sie würden mit allen Mitteln die Mitbestimmung verteidigen, insbesondere die Beteuerungen der Kollegen der CDU/CSU, schlicht und einfach eine Lüge gewesen.
Sie sind beim ersten Ansturm eingeknickt. Es wird einen Abbau von Mitbestimmung in diesem Land geben.
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17978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Konrad GilgesIch will zum zweiten etwas zu der Frage des Gesetzes zur gewinnbringenden Privatisierung der Arbeitsvermittlung sagen. Sie nennen das Beschäftigungsförderungsprogramm. Aber es geht ja darum, wie man bei der Arbeitsvermittlung Gewinne machen kann. Der Kern des Gesetzes ist ja die Aufhebung des Alleinvermittlungsanspruches der Bundesanstalt. Es gibt eine Masse von Kritik. Ich will sie nur nennen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit Jagoda hat diesem Gesetz eine deutliche Absage erteilt: Es ändert überhaupt nichts; die Privatisierung der Arbeitsvermittlung schafft keinen Arbeitsplatz mehr.Der DGB hat schlicht und einfach gesagt: Hier wird die Ware Arbeitskraft durch Private verhökert. Das Handwerk sagt schlicht und einfach: Das werden in Zukunft Kopfjäger sein.Ich will es damit bewenden lassen. Das heißt: Es gibt auch aus sehr seriösen Kreisen — auch aus Kreisen, die Ihnen politisch nahestehen — heftige Kritik an der Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Es wird auch kein Arbeitsplatz mehr geschaffen.Ich will auch einmal die Frage stellen, weshalb Sie dieses Chaos, das vorhanden ist, nun anrichten. Ich bin Mitglied des Verwaltungsausschusses im Arbeitsamt Köln. In der Novembersitzung hat der Direktor mitgeteilt, es gäbe demnächst einen Modellversuch über die private Arbeitsvermittlung — nicht für Köln, sondern für andere Regionen. Dann hat er in der Dezembersitzung mitgeteilt, es gäbe einen Modellversuch auch für Köln. In der Januarsitzung hat der Direktor dann mitgeteilt, es gäbe keinen Modellversuch, es gäbe jetzt ein Flächenangebot.Dann haben die Arbeitgebervertreter und die Arbeitnehmervertreter natürlich mit dem Kopf geschüttelt und haben gesagt: Was ist eigentlich los in dieser Republik? Haben diese Bundesregierung und der Gesetzgeber eigentlich nichts anderes zu tun, als dieses Arbeitsvermittlungsinstitut durch ständig neue Vorschläge lahmzulegen? Warum haben Sie jetzt eigentlich nicht den Modellversuch gemacht? Warum wird der Modellversuch wieder zurückgenommen?Ich meine, darüber hätte man ja diskutieren können, auch wenn wir das differenzierter und anders sehen; aber man hätte darüber diskutieren können.
Sie gehen vom Modellversuch ab — hin zum Flächenangebot; Sie entmotivieren auch die Mitarbeiter in der Arbeitsverwaltung. Das heißt, das, was Sie machen, ist kontraproduktiv. Es wird kein Arbeitsplatz mehr geschaffen, sondern im Gegenteil: Es wird durch das ständige Chaos und durch das ständige Wanken in dieser Frage nur alles behindert.
— Herr Kollege Fuchtel, Herr Solms hat ja hier gesagt, es werden durch diese Gesetzgebung 2 bis 3 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Er bleibt den Beweis noch schuldig, ob nun tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Es wird von allen bezweifelt, und ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß HerrRexrodt das hier in Frage gestellt hat. Das, was der Fraktionsvorsitzende gesagt hat, hat er sehr zurückhaltend kommentiert. Er hat im Grunde genommen gesagt: Ich glaube, daß der Fraktionsvorsitzende da auf einem falschen Weg ist.
— Das hat er nicht wortwörtlich gesagt, aber er hat das so zum Ausdruck gebracht. Er hat es so zum Ausdruck gebracht, Frau Babel!
Herr Schäuble hat nach unserer Alternative gefragt. Ich kann auf Grund der Zeit unsere Alternative nicht darstellen.
Ich will sie aber nennen.
Wir haben ein ASFG vorgelegt, ein Programm,
ein Gesetz für eine aktive Arbeitsmarktpolitik
mit Finanzierungsvorschlägen, Frau Babel, wobei wir eindeutig klargestellt haben, daß mit diesem Gesetz auch mehr Arbeitsplätze in dieser Republik geschaffen werden.Sie werden an der Auseinandersetzung über unseren Gesetzesvorschlag nicht vorbeikommen. Sie werden daran nicht vorbeikommen, weil die Öffentlichkeit unseren Gesetzesvorschlag positiv kommentiert hat, in jeglicher Hinsicht, weil überall und immer zum Ausdruck gebracht wird: Das ist eine mögliche Alternative, mit der mehr Arbeitsplätze geschaffen werden.
Herr Kollege Gilges, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken? — Bitte, Kollege Hinsken.
Herr Kollege Gilges, ist das das Alternativprogramm? Oder halten Sie es für seriös, wenn Ihr sozialpolitischer Sprecher Rudolf Dreßler vor wenigen Tagen in einem dpa-Interview sagte, nach einem Wahlsieg bei den Bundestagswahlen will eine SPD-geführte Bundesregierung die Zahl der registrierten Arbeitslosen innerhalb nur einer Legislaturperiode halbieren,
und wenn er dann fortfährt, den Lohn dafür müßte der Staat bezahlen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17979
Ernst HinskenEr führte weiter aus:Finanziert werden kann dieses Konzept nach Angaben weitgehend über die dann eingesparte Arbeitslosenhilfe.Ist das seriös? Ist das das Alternativprogramm, oder wie bewerten Sie diese Aussage?
Herr Hinsken, ich halte das für weitaus seriöser als das, was Herr Solms hier in der letzten Debatte mit den 2 bis 3 Millionen gesagt hat.
Wir werden dafür, für diese Aussage, auch die politische Verantwortung übernehmen. Wir werden in den nächsten vier Jahren, sollten wir die Regierung stellen, wovon ich ausgehe,
die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Sie können uns dann in vier Jahren daran messen. Sie versprechen das jetzt schon seit zwölf Jahren.
Als Sie die Regierung von Helmut Schmidt übernommen haben, gab es 250 000 Arbeitslose. Die Zahl ist in zwölf Jahren auf 4 Millionen angewachsen.
Das ist Ihre seriöse Politik: Von 250 000 Arbeitslosen bei Helmut Schmidt auf — —
— Selbst wenn ich mich jetzt versprochen habe, hat sich die Zahl verdoppelt, und wir werden sie halbieren.
— Aber Herr Kollege, aber Herr Kollege!
Das ist seriöser als Ihre Politik der letzten 12 Jahre, Herr Hinsken.
— Ja, ja, ich weiß, daß wir uns immer geirrt haben.
Nur, Ihre Zahlen sind ja dokumentiert, Herr Kollege. Die 4 Millionen sind dokumentiert; da geht kein Weg dran vorbei.
Wir werden den Arbeitslosen, wir werden der Wirtschaft helfen — im Gegensatz zu dem, was Sie in den letzten zwölf Jahren zustande gebracht haben.
Ich komme damit zum Ende und will sagen: Dies ist, wie mein Kollege Oskar Lafontaine vollkommen richtig formuliert hat, ein politisches Aktionsprogramm zu den Wahlen ohne ökonomischen, ohne arbeitsmarktpolitischen Wert. Ich hoffe, daß diese Regierung über diese Wahl hinaus keinen Bestand mehr haben wird.
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Joachim Fuchtel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst etwas zu den Prognosen und der Prognosefähigkeit der SPD sagen. Wenn man diese Prognosen — und ich verfolge die Aussagen des Herrn Kollegen Jens im Deutschen Bundestag bereits seit 1987 — mit dem gebührenden Abstand auf die Trefferquote hin untersuch t, könnte man fast den Eindruck haben, die Orakel der Antike seien in ihren Voraussagen präziser. Sie haben hier schon so viele Dinge vorausgesagt, daß man sagen muß: Diese Prognosen können wir wegstecken, weil sie in aller Regel nicht eingetreten sind.
Ich möchte auch noch etwas zu den Vorschlägen sagen, die hier heute gekommen sind. Eigentlich habe ich gedacht, Sie wollten sich jetzt aufmachen auf den Weg in die Regierungsverantwortung. Da müßte man von Ihnen eigentlich erwarten, daß Sie ganz konkrete Vorschläge vorlegen. Wenn ich das aber in die Fußballersprache übersetzen darf, muß ich sagen, das waren nicht mal Lattenkitzler.
— Sie schauen mich so ungläubig an. Wenn Sie nicht einmal wissen, was ein Lattenkitzler ist, wie wollen Sie dann Tore schießen? Das muß ich Sie hier fragen, meine Damen und Herren.
Sie haben hier wieder nur Instrumentarien vorgeführt, die von uns zum Teil schon längst aufgegriffen wurden, wie dargestellt wurde, oder die so abwegig sind, daß sie uns nicht weiterführen; aber konstruktiv war das doch wirklich nicht.
Ich möchte hier gegen eines antreten, nämlich dagegen, daß man dieses neue Programm oft unterschätzt. Dieses Programm macht eine ganz wichtige Aussage. Diese Aussage heißt: Wir, die Koalition, setzen auf den ersten Arbeitsmarkt,
nicht auf Spielereien auf dem zweiten Arbeitsmarkt;
dies können nach unserer Auffassung nur vorübergehende Maßnahmen sein,
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17980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Hans-Joachim Fuchtelderen Perspektive immer auf den ersten Arbeitsmarkt gerichtet sein muß.
Ich möchte dies auch begründen.
Je größer nämlich der sogenannte zweite Arbeitsmarkt wird, um so größer wird auch der Aufwand, den der Staat und die Beitragszahler leisten müssen, um die dann dort Beschäftigten auch zu bezahlen. Diese erhöhten Lasten, die von den Arbeitsverhältnissen des ersten Arbeitsmarktes getragen werden müssen, werden dann die Unternehmen durch weitere Rationalisierung ausgleichen — das wird die Folge sein —, und das ist kontraproduktiv und ist nicht das, was wir brauchen, nämlich Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Deswegen ist unser Programm vollständig richtig angelegt und gibt die richtige Weichenstellung.Ich möchte hier auch ein Zweites unterstreichen. Arbeitslosigkeit in Zeiten des Strukturwandels eines bisher nicht gekannten Ausmaßes ist natürlich etwas anderes als Arbeitslosigkeit bei Vollbeschäftigung. Es kann heutzutage jeden völlig unverschuldet treffen, und nicht jeder kann — selbst bei großer Anstrengung — sofort den richtigen Arbeitsplatz finden. Wir Politiker müssen dies erkennen. Wir müssen auch die Probleme des einzelnen sehen und damit umzugehen wissen. Das heißt, daß wir auch fähig sein müssen, für den einzelnen Betroffenen das Maximale zu tun. Das wiederum heißt, daß wir innovationsfähig sein müssen.Deswegen möchte ich hier das Beispiel des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit herausgreifen. — Hier wurde bisher nur von den vermeintlichen Nachteilen gesprochen. Bis vor kurzem kannte ich die Diskussion etwas anders. Da war jedes Jahr in den Haushaltsberatungen die Frage: Wie viele neue Stellen können wir bei der Bundesanstalt für Arbeit schaffen? — Jedes Jahr kritische Diskussionen darüber!Nun, meine Damen und Herren, müssen wir einfach feststellen: Wir haben 24 Milliarden DM Defizit bei der Bundesanstalt für Arbeit.
Dann müssen wir uns fragen: Wie können wir erreichen, daß die Aufgaben, die bisher offensichtlich zu kurz gekommen sind, künftig effektiver und besser wahrgenommen werden? — Dies ist die Denkaufgabe, die wir uns stellen müssen. Dafür müssen wir entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Da frage ich Sie doch mit allem Ernst: Wenn wir kein Geld haben, um dieses Maß an zu vielen Aufgaben wahrzunehmen, warum ist es dann eigentlich so schrecklich, wenn wir die Überlastung durch Verlagerung auf diejenigen abbauen, die diese Aufgabe ohne staatliche Unterstützung wahrnehmen wollen? — Dies kann doch wirklich nur im Interesse aller Beteiligten und vor allem auch im Interesse des arbeitsuchenden Menschen sein.
Meine Damen und Herren, für den Arbeitslosen ist es völlig zweitrangig, ob die Bundesanstalt für Arbeit die Vermittlung vornimmt oder ob er von jemand anderem vermittelt wird. Er hat nur ein Interesse: möglichst schnell und bald vermittelt zu werden.
Das wollen wir durch eine höhere Effektivität erreichen, und Effektivität wird wohl am besten durch Wettbewerb erreicht. Wir haben das Vertrauen in die Struktur der Arbeitsverwaltung, daß sie sich auch in diesem Wettbewerb behaupten kann; denn sie verfügt über das höchste Maß an Know-how, über Kontakte, die andere erst aufbauen müssen. Sie wird sicherlich auch beflügelt werden, wenn sie beweisen kann, was sie zu leisten vermag.Ich möchte Ihnen zum Abschluß ein von mir recherchiertes Beispiel geben: Ein junger Stahlschweißer muß zur Bundeswehr. Trotz Arbeitslosigkeit vor Ort wird kein Ersatz gefunden. Der Betrieb leitet ein Unabkömmlichkeitsverfahren ein — mit allen bürokratischen Maßnahmen. Um dem Betrieb zu helfen, schreibe ich an andere Arbeitsämter. Ich schreibe also an die Arbeitsämter der Bezirke, von denen ich im Fernsehen immer höre, daß dort eine besonders große Arbeitslosigkeit besteht, also an Recklinghausen, an Rostock, an Schwerin und einige andere mehr. Erfolg gleich null!In solchen Fällen hätte der gewerbliche Arbeitsvermittler vielleicht doch jemanden gefunden, weil er seinen Broterwerb davon bestreitet, daß er nicht nur versucht, sondern auch erreicht.
Anders gesagt: Wenn der eine jammert, daß er es nicht erreicht, und der andere das Ziel erreicht, ist der, der das Ziel erreicht, eben der Bessere.
Deswegen denke ich, daß an diesem Beispiel auch deutlich wird, daß man durch solche Veränderungen auch andere Veränderungen im Sekundärbereich auslösen kann, daß man hierdurch auch Bürokratie abbauen kann. Beispielsweise hätte man nicht die ganze Mühle des Unabkömmlichkeitsverfahrens in Schwung bringen müssen, wenn man ein solches Instrument zusätzlich hätte einschalten können.Unser Ziel ist es natürlich auch, mit solchen Maßnahmen weitere Effekte zu erreichen. Ich bin mir sicher, daß dadurch für den Arbeitsmarkt sehr Konstruktives und Positives geleistet wird und vor allem für die Arbeitslosen eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen wird, die sie dringend brauchen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17981
Hans-Joachim FuchtelVielen Dank.
Das Wort hat jetzt unsere Frau Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den jetzt eingebrachten Gesetzesvorschlägen zur Förderung von mehr Beschäftigung gehört auch die Erweiterung des umstrittenen § 249h AFG. Nachdem die ostdeutschen Länder knapp ein Jahr Zeit hatten, mit dieser neuen Regelung des Arbeitsförderungsgesetzes ihre Erfahrungen zu machen, soll § 249h nun auch auf die wirtschafts- und strukturschwachen Regionen in Westdeutschland angewendet werden. Ich habe von Beginn an kein Hehl daraus gemacht, daß ich dieser Maßnahme trotz des zu begrüßenden Ansatzes, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, skeptisch gegenüberstehe. Die im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorgetragenen Zwischenberichte aus den Ländern haben meine Zweifel keineswegs ausräumen können, so daß ich auch bei der jetzt geplanten räumlichen Ausdehnung mißtrauisch bin.
Mein Hauptproblem mit § 249 h AFG ist die Arbeitszeitregelung von 80 %. Sie scheint ja auch — so jedenfalls meine Informationen — der Grund dafür zu sein, daß private Arbeitgeber von diesem Projekt kaum Gebrauch machen, obwohl genau dies der ursprüngliche Sinn des § 249h AFG war. Anders als die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollte § 249 h AFG strikt auf den ersten Arbeitsmarkt orientieren und dafür auch Arbeitgeber motivieren, indem sie zunächst über einen Zeitraum von drei Jahren Zuschüsse des Bundes in Höhe des Arbeitslosengeldes oder der Arbeitslosenhilfe bekommen können. Offensichtlich ist aber der arbeitsorganisatorische und bürokratische Aufwand so unattraktiv, daß die Arbeitgeber lieber gleich auf Lohnkostenzuschüsse verzichten. Die Folge dieser Entwicklung ist, daß die Länder fast vollständig in die Komplementärfinanzierung eingestiegen sind und damit ihre Haushalte in dreistelliger Millionenhöhe belasten. Hinzu kommt, daß die Projekte, die sie bezuschussen, in der Regel nur für die vorgesehene Dauer von drei Jahren laufen und nicht in Dauerarbeitsplätze überführt werden können.
Meine Kritik am § 249h AFG basiert aber vor allem auf der Tatsache, daß er mit diskriminierenden Restriktionen eingeführt wurde: Mii der unfreiwilligen Reduzierung der Arbeitszeit auf 80 % ist eben auch eine Entlohnung von nur 80 % verbunden. Dies ist eine Einkommenshöhe, die vielleicht zur Zeit der Beschäftigung noch hinkommen mag, aber spätestens mit Eintritt der Arbeitslosigkeit für die allermeisten ein Absinken auf die Armutsgrenze bedeutet. Ich weiß natürlich, daß trotz dieser Bedingungen massenhaft Menschen in Ostdeutschland lieber eine solche Arbeit akzeptieren, statt auf der Straße zu stehen. Und Sie
scheuen sich eben nicht, diese Notlage der Menschen auszunutzen.
Aber nicht nur die schlechte Bezahlung ärgert mich an diesem Beschäftigungsförderungsprojekt. Es war von vornherein auch so angelegt, daß Frauen benachteiligt werden. Nur mühsam konnte im Bundesrat durchgesetzt werden, daß auch Projekte des sozialen Bereichs in die Förderung aufgenommen wurden. Dennoch sind die Frauen in den Maßnahmen nach § 249h AFG stark unterrepräsentiert. Etwa ein Drittel der bis September 1993 angelaufenen Maßnahmen wurde von ihnen in Anspruch genommen.
Gerade aus diesem Grund haben wir trotz unserer prinzipiellen Kritik an diesem Paragraphen einen Änderungsantrag eingebracht. Im Interesse von Frauen fordern wir, die Trägerschaft für Maßnahmen nach § 249h AFG, die bisher auf kirchliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände, wie sie im Bundessozialhilfegesetz aufgeführt sind, beschränkt war, auszuweiten. Die bisherige Praxis ist nach Erfahrungen von Frauenprojekten unflexibel und unpraktikabel, weil andere Träger von der Förderung ganz ausgeschlossen oder gezwungen sind, unter das Dach eines Wohlfahrtsverbandes zu schlüpfen. Dies ist für autonome Projekte, so die Erfahrung vieler Frauenprojekte in Berlin, kaum zumutbar und schränkt ihre Chancen ein, ihre Arbeit unabhängig und selbstbestimmt zu organisieren. Denn in der Regel müssen sie bei ihrem Eintritt die Statuten des jeweiligen Verbandes auch für die eigene Arbeitsweise akzeptieren, was faktisch die Aufgabe der Autonomie bedeutet. Sie fühlen sich von dieser Situation besonders betroffen, weil sie ihre Arbeitskonzepte trotz erfolgreicher Praxis zum Zwecke der Förderung meist auch noch durch abgehobene männerdominierte Führungsgremien der Wohlfahrtsverbände beurteilen lassen müssen.
In unserem Antrag schlagen wir deshalb vor, daß fachliche Prüfungen auf der Grundlage von Förderrichtlinien vorgenommen werden können. Wir halten es für sinnvoll, daß aus Mitteln nach § 249h AFG auch autonome und selbstorganisierte gesellschaftliche Arbeit ermöglicht wird.
Meine Damen und Herren, jetzt hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, unser Kollege Rainer Funke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Aktionsprogramm der Bundesregierung finden sich auch drei wichtige Gesetzgebungsvorhaben aus dem Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums.
Das Bundeskabinett hat nach mehrjähriger, intensiver Vorbereitung durch das Bundesjustizministerium Ende Januar den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts beschlossen. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen, die den Entwurf parallel dazu eingebracht haben, sind sich einig in ihrem Ziel, dieses umfangreiche Reformwerk noch in dieser Legislaturperiode in geltendes Recht umzusetzen. Der Wirtschaft soll damit ein umfassendes Gesetz zur Umstrukturierung von
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
Unternehmen an die Hand gegeben werden. Kurz zusammengefaßt heißt das, daß die Umwandlungstatbestände, die jetzt in verschiedenen Gesetzen — genau: in sechs Gesetzen — verstreut sind, zusammengefaßt werden sollen und daß weitere Umwandlungstatbestände zum Wohl der Wirtschaft gefunden werden sollen.
Die Wirtschaft ist auf den raschen Abschluß dieser wichtigen Reform, die vom Umfang und von der Bedeutung her im wirtschaftsrechtlichen Bereich in den vergangenen Jahren nur in der Insolvenzrechtsreform Vergleichbares hat, dringend angewiesen. Gerade deswegen appelliere ich an Sie alle, dieses Reformwerk möglichst schnell über die Bühne zu bringen.
Ich bin froh darüber, daß wir neben der Reform des Umwandlungsrechts heute auch über den Entwurf eines Gesetzes für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts beraten; denn wir müssen nicht nur den Wechsel von einer Rechtsform in eine andere erleichtern, sondern wir müssen auch dafür Sorge tragen, daß jedem Unternehmer eine auf seine spezifischen Bedürfnisse möglichst optimal zugeschnittene Gesellschaftsform zur Verfügung steht. Bei der kleinen Aktiengesellschaft geht es darum, daß wir den Mittelstand von der Rechtsform der Aktiengesellschaft nicht länger faktisch ausschließen. Es gibt in Deutschland mehr als 500 000 Gesellschaften in der Rechtsform der GmbH, aber nur ca. 3 000 Aktiengesellschaften.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte, Herr Kollege Gilges.
Herr Staatssekretär, es ist ja überhaupt nichts dagegen einzuwenden, daß die Möglichkeit besteht, von der Rechtsform der GmbH in die Rechtsform der Aktiengesellschaft überzuwechseln, um auf dem Markt Kapital flüssig zu machen. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Weshalb muß deswegen aber für Aktiengesellschaften mit weniger als 500 Beschäftigten — wobei ich im übrigen nicht erkennen kann, weshalb das an der Zahl der Beschäftigten festgemacht wird — die Mitbestimmung aufgehoben werden, die davon total unabhängig ist, die mit der Umwandlungsfrage nichts zu tun hat?
Herr Kollege, Sie hätten etwas geduldiger sein sollen. Ich wäre zu diesem wichtigen Punkt natürlich gekommen. Aber ich will das Ihretwegen gern vorziehen.
Es handelt sich hierbei ja nicht um eine Beseitigung von Mitbestimmung; vielmehr ist es so, daß bei der Rechtsform der GmbH eben keine Unternehmensmitbestimmung besteht. Warum soll durch die Umwandlung einer GmbH in eine Aktiengesellschaft plötzlich die Mitbestimmung eingeführt werden, zumal — ich will das ganz offen ansprechen — der Unternehmer, der bis dahin in der Rechtsform der GmbH gearbeitet hat, „befürchtet", daß dann, wenn er umwandelt, Dritte in seinem Unternehmen mitbestimmen? Das
will er eben nicht. Das ist einer der Gründe dafür, daß es in Deutschland die Rechtsform der Aktiengesellschaft insbesondere bei kleinen Familiengesellschaften nur in wenigen Fällen gibt.
Herr Kollege Gilges, es ist ja in der Tat so: Unsere Unternehmen, insbesondere die im mittelständischen Bereich, sind unterkapitalisiert, und zwar nicht nur national, sondern auch international gesehen. Wenn man will, daß sich diese Unternehmen an der Börse oder durch Aufnahme neuer Aktionäre refinanzieren und damit ihr Eigenkapital stärken, dann müssen wir sie in die Rechtsform der Aktiengesellschaft sozusagen entlassen; denn die GmbH — das wissen Sie sicherlich aus Ihrer eigenen beruflichen Erfahrung — ist für Kapitalerhöhungen, für eine flexible Reaktion am Arbeitsmarkt überhaupt nicht geeignet. Dafür ist die GmbH nicht geschaffen.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Kollegen Gilges?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, warum formulieren Sie — —
Nein, ich bin auch „Kollege".
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Herr Kollege Staatssekretär" bin ich nicht. Also entweder „Kollege" oder „Herr Staatssekretär", eines von beiden.
Nochmals zur Sache: Warum schränken Sie die Aufhebung der Mitbestimmung nicht auf die Unternehmer ein, die von einer GmbH zu einer Aktiengesellschaft überwechseln, was sie ja jetzt machen, statt zusätzlich — in die Richtung geht unsere Kritik — vorzusehen, daß Aktiengesellschaften, die jetzt Mitbestimmung haben, mit unter 500 Beschäftigten nach Ihrem Gesetz — ohne Not und eigentlich ohne Zusammenhang mit dem tieferen Sinn dieses Gesetzes — aus der Mitbestimmung herausfallen können? Es leuchtet mir noch ein, daß Sie das eingrenzen und sagen: Wenn jemand, der eine GmbH hat, zu einer Aktiengesellschaft überwechselt, da kann man sagen, der soll jetzt keine Mitbestimmung nach dem 52er Gesetz haben. Aber weshalb die, die nach dem 52er Gesetz die Mitbestimmung schon haben, jetzt aus der Mitbestimmung herausfallen, das kann ich nicht einsehen.
Herr Kollege, Sie haben zu Recht die Formulierung gewählt: „aus der Mitbestimmung herausfallen können". Das ist das erste.Das zweite ist: Ich glaube nicht, daß es Sinn macht — auf Dauer wenigstens, wir haben ja eine Übergangsfrist von fünf Jahren vorgesehen, wie Sie wissen —, auf Dauer kleine Aktiengesellschaften zu haben, bei denen es Mitbestimmung gibt, bei denen ganz andere Formerfordernisse gelten. Ich finde, wir
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17983
Parl. Staatssekretär Rainer Funkehaben in Deutschland schon reichlich unterschiedliche Gesellschaftsformen. Wir brauchen nicht noch kleine Aktiengesellschaften mit Mitbestimmung und ohne Mitbestimmung. Ich glaube, wir müssen hier einheitlich, auch aus Wettbewerbsgründen, vorgehen. Denn es ist überhaupt nicht zu bezweifeln, daß die Mitbestimmung, was z. B. die Kapitalbeschaffung angeht, eher ein Negativum ist. Deswegen sollen die Gesellschaften, die schon Aktiengesellschaften sind, nicht gegenüber den neuen kleinen Aktiengesellschaften benachteiligt werden. Also, wir müssen schon die gleiche Wettbewerbssituation haben.Meine Damen und Herren, die Umwandlung in Aktiengesellschaften bedeutet aber auch noch etwas anderes. Dem deutschen Mittelstand steht in den nächsten Jahren ein gewaltiger Generationswechsel bevor. Bis Ende dieses Jahrzehnts steht in etwa 700 000 Unternehmen eine Nachfolgeregelung an. Gerade wenn die Anteilseigner nicht mehr oder nur noch teilweise unternehmerisch engagiert bleiben wollen und auch qualifiziert sind, kann die Aktiengesellschaft eine sinnvolle Rechtsformalternative sein. Sie ermöglicht es dem bisherigen Unternehmensinhaber, sich sozusagen auf Raten oder in dem von ihm gewünschten Umfang aus dem Unternehmen zurückzuziehen. Man bleibt dann vielleicht noch mit 5 oder 10 oder 15 % beteiligt. Dem vorzeitigen Verlust der Selbständigkeit des Unternehmens kann damit frühzeitig entgegengewirkt werden.Diese Vorteile der Aktiengesellschaft werden vom Mittelstand aber nur dann angenommen, wenn die Belastungsunterschiede — darauf habe ich in bezug auf die Mitbestimmung schon hingewiesen — im Verhältnis zu den anderen Rechtsformen abgebaut werden. Aus diesem Grund sieht der Entwurf mehrere Deregulierungsmöglichkeiten vor. So wollen wir z. B. die Einpersonengründung ermöglichen, die wir auch im GmbH-Recht bereits haben, die Gestaltungsfreiheit der Aktionäre durch eine größere Satzungsautonomie stärken und die Formvorschriften bei der Einberufung und Protokollierung von Hauptversammlungen für kleine Aktiengesellschaften lockern.Der Mittelstand wird uns all dies mit einer verstärkten Inanspruchnahme der Aktiengesellschaften danken. Eine Verlängerung unseres im internationalen Vergleich doch sehr kurzen Börsenzettels würde wiederum die Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts und des Finanzstandortes erhöhen. Dies zeigt, daß sich der Gesetzentwurf zugleich nahtlos in die Zielsetzung des 2. Finanzmarktförderungsgesetzes einfügt, dessen Entwurf die Bundesregierung vor wenigen Monaten vorgelegt hat.Lassen Sie mich ein Letztes sagen: Bestandteil des Aktionsprogramms ist außerdem die Aufhebung der Zugabeverordnung. Dieses Gesetz von 1932 verbietet der Wirtschaft, beim Warenabsatz sogenannte Zugaben, d. h. unentgeltliche Waren oder Dienstleistungen, zu gewähren. Die Aufhebung der Zugabeverordnung, die natürlich im engen Zusammenhang mit dem Rabattgesetz steht, wird nach meiner Einschätzung nicht zur — teilweise befürchteten — Verwilderung der Wettbewerbssitten oder zu einer Täuschung der Verbraucher führen.Wegen der gefestigten Rechtsprechung zu den auch für die Zugabepraxis einschlägigen §§ 1 und 3 UWG — ich füge hinzu: § 4 UWG sieht eine Strafvorschrift vor — ist damit zu rechnen, daß die Unternehmen mit den sich ergebenden wettbewerblichen Freiräumen so umgehen werden, daß die allgemeinen Schranken des Rechts gegen den unlauteren Wettbewerb eingehalten werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, eine kurze Information zum weiteren Verlauf: Wir haben Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt für noch etwa 45 Minuten. Danach gibt es eine Reihe von Abstimmungen, so daß wir frühestens 15.45 Uhr mit der Fragestunde beginnen können.
Ich erteile jetzt das Wort der Frau Kollegin Elke Wülfing.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat gezeigt, daß die SPD ein schlechtes Gedächtnis hat und daß sie auch mit Zahlen nicht umgehen kann.
Deswegen, denke ich, brauchen wir vielleicht einmal einen kleinen Rückblick.Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde mit dem System der Sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard ein ausgewogenes Wirtschaftssystem geschaffen, das die freie Marktwirtschaft mit der sozialen Komponente verknüpfte. Wir haben damit die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung und für das Wirtschaftswunder gelegt.
In den 70er Jahren — jetzt hören Sie gut zu, da waren Sie nämlich dran — kam es im Zusammenhang mit der Ölpreiskrise zu einer weltwirtschaftlich schwierigen Situation. Davon wurde selbstverständlich auch die Bundesrepublik betroffen. Durch zu hohe Ansprüche der öffentlichen Hand und durch das Mißverständnis der damaligen SPD-Bundesregierung, Marktwirtschaft sei um so sozialer, je umfangreicher die soziale Umverteilung sei, wurden die deutschen Unternehmen starken Belastungen ausgesetzt. Brandts ehemaliges Motto — „die Belastbarkeit der Wirtschaft prüfen" — wurde in die Tat umgesetzt. Ein hohes staatliches Haushaltsdefizit und steigende Arbeitslosenzahlen — Herr Gilges, 2 Millionen und nicht 200 000 Arbeitslose, wie Sie behauptet haben — waren die Folge.
— Nein, ich möchte im Zusammenhang referieren; sonst wird es hier auch nicht begriffen.
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17984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Elke WülfingDeswegen wurden nach dem Regierungswechsel 1982 rigorose Sparmaßnahmen eingeleitet, und es wurde nach erfolgter Konsolidierung ein Steuersenkungsprogramm eingeführt, das sowohl die kleinen Einkommen wie auch die Unternehmen entlastete. Dies schuf die Basis für wirtschaftlichen Aufschwung. Jetzt bitte wieder zuhören: Nach einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit ist die Zahl der Arbeitsplätze von Mitte 1985 bis Mitte 1992 um 3,2 Millionen per saldo gestiegen, und das war unter unserer Regierung, nicht unter Ihrer.
1990 setzte bei den traditionellen Industriestaaten eine Wachstumsschwäche ein.
—Ihnen fällt nichts anderes ein, als dumme Zwischenrufe zu machen. — Deutschland geriet allerdings erst Mitte 1992 in schwieriges Fahrwasser, weil die deutsche Vereinigung zu Beginn der 90er Jahre der deutschen Wirtschaft einen Extraboom bescherte. Im gleichen Zeitraum haben die übrigen Industriestaaten, die schon voll von der Rezession erfaßt waren, staatliche Ausgabenkürzungen und in den Unternehmen Rationalisierungsinvestitionen machen können, und zwar zwei Jahre früher als wir, und haben sich damit selbstverständlich Wettbewerbsvorsprünge und auch Produktivitätsvorsprünge verschafft.Hinzu kommt selbstverständlich, daß sich in aller Welt neue Industriestaaten gebildet haben. Durch die Öffnung der Grenzen haben wir Billiglohnländer inzwischen vor der Tür. Die Kostenfaktoren, die die deutsche Wirtschaft belasten, spielen in diesen Ländern eine absolut untergeordnete Rolle.Diese Situation läßt Produkte aus deutscher Herstellung zu teuer werden und zwingt unsere Unternehmen zu Arbeitsplatzabbau. Eigentlich hätten wir dies schon vor zweieinhalb Jahren gehabt, wenn wir den Einigungsboom nicht gehabt hätten. Die Tarifparteien, und zwar beide Partner, haben in diesen Jahren auf Grund guter Auftragslage und ausgelasteter Kapazitäten noch hohe Lohnabschlüsse getätigt. Das ist zwar verständlich, aber es war leider auch kurzsichtig. Denn die Tarifpartner hätten wissen müssen, daß es sich hierbei um einen kurzfristigen, steuerfinanzierten Nachfrageboom handelte.Inzwischen hat man tatsächlich begriffen, daß eine maßvolle Lohnpolitik in heutiger Zeit notwendig ist, wie der Abschluß im Chemiebereich zeigt. Zahlreiche andere Beispiele, etwa VW mit Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich und der Textilmaschinenherstel1er Schlafhorst mit Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, beweisen, daß bei drohendem Arbeitsplatzverlust vor Ort für das Unternehmen adäquate Lösungen gefunden werden.Auch die vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer zu tragenden Lohnnebenkosten machen menschliche Arbeit zu teuer. Wir müssen uns daher fragen, welche Leistungen auf Dauer — auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung — aus den Sozialversicherungssystemen überhaupt noch finanzierbar sind.
Der erbitterte Widerstand vieler gesellschaftlicher Gruppen bei Einsparungsmaßnahmen in den Versicherungssystemen demonstriert, daß dies kein leichter Weg war, kein leichter Weg ist und daß dieser Weg auch in Zukunft nicht einfach sein wird.Aber — Herr Blüm hat es vorhin schon gesagt — selbstverständlich sind nicht nur die Löhne und Lohnnebenkosten ein Kostenfaktor. Zu hohe Energiekosten, zu hohe Steuerbelastung, zu hohe Umweltschutzkosten und vor allen Dingen komplizierte und langwierige Genehmigungsverfahren belasten die deutsche Wirtschaft ganz erheblich.
In allen diesen Bereichen haben wir Gesetze vorgelegt, die leider von den Ländern zum Teil konterkariert werden, z. B. von der SPD-Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, die das Investitionserleichterungsgesetz dadurch in sein Gegenteil verkehrt, daß sie jedem gewerblichen oder privaten Bauherrn über die Änderung des Landschaftsgesetzes zusätzliche Naturausgleichsmaßnahmen aufbrummt und damit zu erheblichem zusätzlichem Verwaltungsaufwand und zu horrenden Grundstückspreissteigerungen beiträgt. — Da brauchen Sie nicht abzuwinken. Das ist tatsächlich so und wird von uns in Nordrhein-Westfalen sehr beklagt.Das Standortsicherungsgesetz, meine Damen und Herren, das die gewerblichen Einkünfte seit dem 1. Januar 1994 niedriger besteuert als die privaten Einkünfte, ist ein Schritt in die richtige Richtung und sollte durch eine weitere Unternehmensteuerreform ergänzt werden, sobald die Finanzlage dies zuläßt.
— Herr Waigel weiß das.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die strukturelle Krise und die Konjunkturflaute haben zu steigenden Arbeitslosenzahlen geführt. Die Wirtschaft beginnt zwar, sich langsam zu erholen
— haben Sie es noch immer nicht begriffen? Dann haben Sie nicht zugehört —, und Arbeitsplätze entstehen auch heutzutage neu. Aber per saldo wird dies nicht sofort zum Abbau von Arbeitslosenzahlen führen.Daher ist es jetzt um so wichtiger, die paradoxe Situation zu überwinden, daß 3,6 Millionen Arbeitslose beim Arbeitsamt gemeldet sind, obwohl organisierte und nicht organisierte Arbeit zuhauf vorhanden ist. Das heißt: Wir brauchen mehr Arbeitgeber, die diese Arbeit organisieren; dazu tragen wir mit unseren Gesetzentwürfen bei. Das heißt aber auch: Wir brauchen bessere Instrumentarien, um die Arbeitslosen auf die Arbeitsplätze zu vermitteln, die schon organisiert sind. Es muß Schluß damit sein, daß wir zwar Arbeit in Fülle haben, kein Deutscher aber bereit ist, sie zu tun, beispielsweise in der Landwirtschaft.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17985
Elke WülfingIch kann dazu ein Zitat von Herrn Boenisch bringen, das er in der „Welt am Sonntag" im Jahre 1992 gebracht hat. Dort sagt er:Wir in Deutschland lassen kämpfen, wir lassen ja auch fegen. Die Türken an den Besen, die Amis ans Gewehr!Dieses wollen wir endlich abschaffen. Vielen Dank.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Ulla Schmidt das Wort.Ich will noch einmal darauf aufmerksam machen: Zwischenrufe sind natürlich gestattet, aber keine Störungen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht nehmen die Zwischenrufe zu, weil viele das Gefühl haben, Frau Kollegin, daß sie hier nicht mehr als Schüler oder Schülerinnen sind, sondern als Mitglied des Deutschen Parlamentes und so auch gerne angesprochen werden möchten.
Mit dem vorgelegten Beschäftigungsförderungsgesetz ist die Bundesregierung wieder eirural über jeden Verdacht erhaben, etwas Wirksames zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Frauen tun zu wollen. Leider zeigt auch die heutige Debatte, die immerhin schon mehr als drei Stunden dauert, daß die Tatsache, daß Frauen überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind, daß die Frauen in Ostdeutschland zwei Drittel der Arbeitslosen stellen und daß die Arbeitslosenquote der Frauen doppelt so hoch ist wie die der Männer, hier viel zuwenig ins Bewußtsein gerückt wird. Bisher ist noch kein Wort darüber gesagt worden.
Es ist offenbar so, daß diese Koalition den Anspruch der weiblichen Bevölkerung auf Sicherung ihrer eigenen Existenz durch Erwerbsarbeit in Zeiten der Krise für nicht zeitgemäß hält. Immerhin kann sie sich dabei auf „Prognos" stützen, die sagen: Frauen sind die stille Reservearmee und werden auf dem Arbeitsmarkt so schnell nicht gebraucht.Dagegen jedoch sprechen die Zahlen: Ende 1993 suchten im gesamten Bundesgebiet 2 390 112 Frauen einen Arbeitsplatz. Das sind nur geringfügig weniger als Männer; bei denen waren es 2 435 578. Wenn man das sieht und weiß — Sie wissen das genauso gut wie ich —, daß Frauen unter den gegenwärtigen Bedingungen größere Probleme haben, einen Arbeitsplatz zu finden, daß Frauen größere Schwierigkeiten haben, entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt zu werden, und daß Frauen dann auch noch unterhalb ihrer Qualifikation mit weniger Lohn eingesetzt werden, dann müßten diese Tatsachen eigentlich Anlaß genug sein, darüber nachzudenken, wie mit einemBeschäftigungsförderungsgesetz auch Frauen gefördert werden können.
Ich habe in dem ganzen Gesetz vergeblich nach Formulierungen gesucht, die lauten: Frauen m ü s s en entsprechend ihrem Arbeitsmarktanteil bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen berücksichtigt werden. — Ich habe vergeblich nach Programmen oder Anreizen auch für Unternehmen gesucht, Erwerbsarbeitsplätze für Frauen zu schaffen. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Ich halte eine Politik, die die ungleichen Chancen der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt nicht ausgleicht, für zutiefst undemokratisch. Ich halte dies für eine Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen.
Eine Politik, die eine mangelnde Nutzung des Beschäftigungs- und Qualifikationspotentials der weiblichen Bevölkerung zuläßt, muß in absehbarer Zeit auch damit rechnen, daß Frauen dies nicht mehr so hinnehmen werden. Auch die Frage der Politikverdrossenheit unter Frauen hat etwas damit zu tun, was Regierung und Politik für die Interessen der Frauen zu tun bereit sind.Eines ist klar, Frauen wollen heute vermehrt beides: Sie wollen Beruf und Familie und sich nicht immer zwischen Beruf oder Familie entscheiden müssen.
Sie wollen beides, und sie wollen es mit den Männern teilen. Es ist Aufgabe einer Regierung und auch Aufgabe von Politik, zu sagen: Wir wollen Arbeitsplätze schaffen. Da, wo der erste Arbeitsmarkt sie nicht hergibt, wollen wir — vorübergehend, als Brücke — mit einem Beschäftigungsprogramm öffentlich geförderte Arbeitsplätze schaffen. Und es ist, verdammt noch mal, auch Aufgabe einer solchen Regierung, darüber nachzudenken, wie man dann diesem Anspruch gerecht wird und auch Arbeitsplätze für Frauen schafft. Da reicht es nicht aus, nur über Deregulierung und Abbau von sozialen Rechten zu reden und praktisch immer weiter über Abbau von Löhnen nachzudenken, sondern da muß darüber nachgedacht werden, wie existenzsichernde Arbeitsplätze geschaffen werden können.Und da bin ich bereit. mit Ihnen darüber nachzudenken. Da können wir ein paar Punkte dieses Programms gern einmal ansprechen.Ich nehme einmal den Einsatz von Erntehelferinnen oder Erntehelfern. Ich gehöre zu denen, die auch draußen immer die Auffassung vertreten, daß jeder Mensch, der gesund ist und arbeiten kann, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht haben muß, seine eigene Existenz zu sichern.
Aber ich bin auch der Auffassung, daß wir dann verpflichtet sind, existenzsichernde Arbeitsplätze anzubieten.
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17986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Ursula Schmidt
Da, wo der freie Markt das nicht kann, muß der Staat eingreifen.Jetzt kommen wir mal zu den Erntehelferinnen und Erntehelfern. Es spricht überhaupt nichts dagegen, wenn wir Arbeitsplätze haben und Arbeitskräfte brauchen, zu sagen: Menschen, die Arbeitslosenhilfe beziehen, sollen vorrangig auf solche Arbeitsplätze vermittelt werden. Ich halte es für einen Hohn, wenn hier gesagt wird — leider ist Arbeitsminister Blüm nicht mehr da —, daß die Kritik an der Art und Weise, wie das passiert, latente Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus sei. Ich glaube, wir müssen hier über die Bedingungen nachdenken. Unabhängig davon, daß dieser Vorschlag in der Realität nicht zu Arbeitsplätzen führt, weil das so kurzfristig tageweise nicht planbar ist, gehört es, finde ich, zur Würde eines Menschen, daß diejenigen, die hier genannt werden, die unqualifizierten Langzeitarbeitslosen, nicht mit 25 Mark Tagelöhnergeld abgegolten werden.
— „Zusätzlich", es wird als „Belohnung" dazugegeben, statt zu sagen: Wir sorgen dafür, daß sie für diese Zeit abgesicherte Arbeitsverhältnisse — und wenn es nur für zwei Monate ist — zu existenzsichernden Bedingungen bekommen.Ich kann Ihnen sagen: Ich bin Lehrerin an einer Schule für Lernbehinderte und Erziehungsschwierige gewesen. Ich weiß, wie man mit Menschen, die Schwierigkeiten haben, in der Ausbildung umgeht. Und ich weiß auch, daß die Plätze, die vorgehalten werden, die niedrig qualifiziert und niedrig bezahlt sind, vorrangig wieder an Frauen vermittelt werden. Und ich habe etwas dagegen, daß die Aufteilung in dieser Gesellschaft so passiert.
Das zweite, worauf ich eingehen muß, betrifft § 249h Arbeitsförderungsgesetz. Die Kollegin Bläss hat schon einiges dazu gesagt. Wenn die Regierung diese Instrumente aus dem Osten übernimmt und sagt, wir probieren es jetzt im Westen, dann bin ich dafür, zu überprüfen, wo denn die Schwierigkeiten im Osten lagen, warum die Mittel nicht ausgeschöpft wurden und wie wir diese Schwierigkeiten beseitigen können, wenn wir die Instrumente auf den Westen übertragen.Die Problematik war ja nicht nur, die Anträge zu stellen, sondern jeder hier im Saal weiß, daß es auch daran gelegen hat, daß weder die Länder noch die Kommunen noch die Träger in der Lage waren, die Komplementärmittel zu bezahlen. Da reicht es nicht aus, wenn der Kollege Fuchtel — ich glaube, er war es — sich hier hinstellt und sagt: Da sollen die sozialdemokratischen Länder jetzt mal sehen, wie sie die Komplementärmittel bezahlen. — Die Bundesregierung muß gemeinsam mit den Ländern — ich bin gar nicht für die einseitige Zuweisung der Finanzierung — überlegen, wie wir die Finanzierung der Komplementärmittel sicherstellen und auch die Frage der Antragstellung entbürokratisieren können.Eine andere Frage ist, darüber nachzudenken, ob die ganz festgeschriebenen Projektfelder wirklich als Brücke zu zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen dienen oder ob wir nicht auch da erweitern müssen.Ich habe ein weiteres Problem, das sich im Osten gezeigt hat, daß wirklich dafür gesorgt wird, daß mit festgeschrieben und mit gefördert wird, daß Frauen gleichberechtigt auch zukunftsträchtige Arbeitsplätze, die zweifelsohne im Umweltbereich liegen, erhalten, und nicht in Bereichen gefördert werden, wo sie anschließend wieder arbeitslos werden. Das war im Osten oft so und ist auch heute noch so, weil die Frauen genau in den Arbeitsfeldern ausgebildet wurden, wo es schon genügend Arbeitslose gab, die darin ausgebildet waren.Als dritten Punkt möchte ich noch kurz die Teilzeitarbeit ansprechen. Ich bin keine Gegnerin von mehr Teilzeitarbeit. Ich würde auch eine Teilzeitarbeitsoffensive begrüßen, weil ich glaube, daß man den Wunsch von Männern und Frauen, ihre individuelle Arbeitszeit zu gestalten, wahrnehmen muß und daß man damit zu einer Verteilung von Arbeit kommt.Es ist aber völlig fehlgeleitet, wenn Sie Ihre Teilzeit-arbeitsoffensive auf die Frage reduzieren: Wie sichern wir denn die Arbeitslosigkeit nach der Teilzeitarbeit ab? Dabei ist der Mißbrauch von vornherein mitgegeben. Ich sehe schon die Schlagzeilen und anschließend die Frage des Mißbrauchs und die Diskussionen, die wir hier haben, anstatt zu sagen: Wenn wir eine Offensive starten, dann werden wir auch Möglichkeiten schaffen, damit Teilzeitarbeit attraktiv ist. Dazu gehören gesetzliche Bestimmungen, die besagen, daß die, die freiwillig auf Teilzeitarbeit gehen, Optionen auf eine Rückkehr zur Vollzeitarbeit im Betrieb haben. Dazu gehört, daß Menschen, die Teilzeitarbeit machen, keine Benachteiligung beim beruflichen Aufstieg haben, daß sie an Qualifizierungsmaßnahmen teilhaben können.Wenn man das so sieht, würde auch mehr Teilzeitarbeit für Männer und für Frauen mit dazu beitragen, daß Männer und Frauen Beruf und Familie in dieser Gesellschaft vereinbaren können und daß wir im Jahr der Familie nicht nur beschäftigungspolitisch, sondern auch in diese Richtung einen Schritt weitergehen.
Es hätte — da Frau Babel die Wirtschaftsminister der F.D.P. so gelobt hat — einem liberalen Wirtschaftsminister vielleicht angestanden, als einer in die Geschichte einzugehen, der auch etwas für die Gleichstellung der Geschlechter getan und nicht nur das Rabattgesetz verändert hat.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Land fehlen 7 Millionen Arbeitsplätze. In diesem Haus ist heute morgen mit der Poststrukturreform II ein Prozeß eingeleitet worden, der mindestens weitere 100 000 Arbeitsplätze kostet.Die tiefste Wirtschaftskrise in der Nachkriegszeit wird von der Wirtschaft genutzt, um die Beschäftigung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17987
Dr. Ulrich Briefsweiter drastisch zu reduzieren. Selbst bislang gehätschelte Experten, mittlere und obere leitende Angestellte müssen jetzt, was ihre Arbeitsplätze betrifft, in großer Zahl dran glauben.Hochmoderne kapitalintensive Produktionsanlagen stehen still. Wir haben riesige, nicht ausgelastete Kapazitäten und eine viel zu geringe Nachfrage. Die Auslastung weiter Bereiche der Kapazitäten ist auf einen historischen Tiefststand gesunken. Die Fixkosten der teuren modernen Anlagen, vor allem die Kosten der Unterauslastung und die Kostenremanen zen, erdrücken förmlich die Betriebe. Und was macht diese Bundesregierung? Zieht sie etwa öffentliche Aufträge vor? Legt sie öffentliche nachfragestimulierende Programme vor? Nein, nichts dergleichen.Es ist wirklich sehr verblüffend und geradezu beängstigend, daß es nicht einen Hauch von Vorstellung gibt, wie man mit einfachen konjunkturpolitischen Maßnahmen in dieser Situation in jedem Fall ansetzen muß.Statt kurzfristig wirksame beschäftigungssichernde und beschäftigungsschaffende Maßnahmen — wie Ausweitung und Vorziehen öffentlicher Aufträge — beispielsweise mit ökologischer Modernisierungswirkung zu ergreifen, fummelt die Bundesregierung weiter an den Rahmenbedingungen des Wirtschaftens herum, mit weiterer Liberalisierung, weiterer Deregulierung, weiterer Privatisierung und ähnlichem. Das wirkt aber — wenn es überhaupt in die richtige Richtung wirkt — bestenfalls mittelfristig, zumeist jedoch erst langfristig. Da muß sich doch der Eindruck aufdrängen, daß diese Bundesregierung nicht die Behebung der Wirtschaftskrise und die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit im Auge hat, sondern daß sie die Misere in den Betrieben nutzt, um ihre marktradikale Ordnungspolitik voranzupeitschen.In der: gleiche Kerbe schlagen doch Maßnahmen der Arbeitszeitverlängerung, des Sozialabbaus, der Kürzung von Sozialleistungen für Arbeitslose, die im Rentensystem angelegte reale Absenkung der Renten, die geplanten BAföG-Absenkungen. Die Stabilisierung und die Erhöhung der Massenkaufkraft sind sicherlich kein Patentrezept. Es wäre falsch, irgendwie in diese Richtung zu denken. Sie löst insbesondere nicht die Strukturprobleme und die durchaus gegebenen partiellen Innovationsprobleme in dieser Wirtschaft. Aber sie ist doch in dieser Situation ein unerläßliches Element, um aus der Talsohle wirklich herauszukommen.Und was haben die Vertreter dieser Koalition eigentlich dagegen, daß mit gezielten staatlichen konjunkturstimulierenden Programmen zugleich ökologisch und sozial sinnvolle und überfällige Entwicklungen in Gang gesetzt werden? Für Arbeit und Arbeitsplätze zu sorgen und gleichzeitig die notwendige, ökologische Modernisierung voranzutreiben — was ist das für eine Herausforderung? Ist das nicht eine ganz große Herausforderung auch für diese Bundesregierung? Genau daran geht jedoch diese Bundesregierung konsequent vorbei. Das planlose, schon fast panikgetriebene Gewurstel dieser Bundesregierung ist vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätze nicht nur unverantwortlich, es ist nicht nur Wahnsinn, es hat Methode. Es soll nach den Vorstellungen dieser Bundesregierung nunmehr — nach dem Wegfall des Systemgegensatzes — mit großen Teilen des Sozialsystems aufgeräumt werden, dem „Sozialklimbim", wie es in den Vorstandsetagen der Wirtschaft inzwischen nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand heißt.Ich fürchte, das Ziel dieser Bundesregierung ist tatsächlich eine andere Republik, eine andere Gesellschaft, ohne die unerläßlichen Elemente des Sozialstaats, mit geschwächten, ausgehebelten Gewerkschaften, mit Beschäftigten, die in ihrer Angst um den Arbeitsplatz und das Einkommen kuschen und die für die Profiteure und die Wohlhabenden in dieser Gesellschaft wieder Verfügungsmasse werden. Das scheint so die Vorstellung zu sein: Es muß wieder ein richtiges Oben und entsprechend ein richtiges Unten mit dem entsprechenden Zugriff der da oben auf die da unten in der Gesellschaft geben. Ich glaube, das sind die Grundabsichten dieser Bundesregierung und dieser Koalition.Auch und gerade deshalb muß der Politik dieser Bundesregierung ein Ende gesetzt werden. Die Wahlrunden dieses Jahres geben dazu Gelegenheit. Das muß man immer wieder betonen und unterstreichen. Wer aber allerdings als Arbeitsloser, als Rentner, als Sozialhilfeempfänger, als BAföG-Empfänger nicht zur Wahl geht oder für politische Kräfte stimmt, die bestenfalls eine Rand- oder Splitterfunktion ausfüllen können, vergibt eine ganz wichtige Chance, eine Chance, die wahrscheinlich nicht noch einmal vorkommen wird.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Joachim Gres.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In das Programm der Koalition für mehr Wachstum und Beschäftigung sind aus gutem Grunde zur Stärkung des sogenannten ersten Arbeitsmarktes auch die Gesetzgebungsvorhaben zur Schaffung der kleinen Aktiengesellschaft und zum Umwandlungsbereinigungsgesetz eingebettet worden. Beide Vorhaben finden ihre Begründung in der notwendigen Anpassung der deutschen Wirtschaft an das sich rasch ändernde ökonomische Umfeld. Flexibilität und Flexibilisierung sind keine und dürfen keine wohlfeilen Schlagworte für Sonntagsreden sein, sondern sind ganz praktische Handlungsnotwendigkeiten für Unternehmen und Be. triebe.
Die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, meine Damen und Herren, damit sich die deutschen Unternehmen in diesem neuen Umfeld behaupten können, sich diesen neuen Herausforderungen stellen können, und zwar auch in ihren Rechtsformen, in ihren Unternehmensgrößen und in ihren Eigenkapitalbeschaffungsmöglichkeiten, ist ein Gebot der Stunde.17988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 3. Februar 1994Joachim GresLassen Sie mich zunächst zur kleinen Aktiengesellschaft einige Worte zur Begründung sagen. Kleine und mittlere Unternehmen in der Rechtsform der GmbH prägen weithin das Bild der deutschen Unternehmenslandschaft. Gerade wachstumsstarke und dynamische Unternehmen geraten in dieser Rechtsform aber häufig und schnell an die Grenze ihrer finanziellen Möglichkeiten. Zusätzliche Eigenmittel der Gesellschafter stehen oftmals nicht zur Verfügung. Die Fremdfinanzierung über übliche Bankkredite mit ihren bekannten Besicherungsnotwendigkeiten führt gerade in schwierigen Zeiten bei manchen Unternehmen schnell zu krisenhaften Liquiditätsproblemen.Im europäischen Vergleich zeigt sich, daß deutsche Unternehmen im Schnitt deutlich unterkapitalisiert sind. Im Ausland ist die Eigenkapitalausstattung u. a. auch deswegen besser, weil sich viel mehr Unternehmen ihr Kapital an der Börse beschaffen. In England sind z. B. 2 400 Unternehmen, in Japan 2 800 und in den USA 7 000 Unternehmen an der Börse notiert. In Deutschland sind es gerade einmal 664.
Es ist daher hohe Zeit, gerade den deutschen mittelständischen Unternehmen mit dem Gesetz, das wir heute vorlegen, im ersten Schritt generell den Weg zur Aktiengesellschaft zu erleichtern und damit später als zweiten Schritt den Weg zur erleichterten Eigenkapitalbeschaffung durch die Börse zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, für diesen ersten Schritt mittelgroßer Unternehmen aus der Rechtsform der GmbH oder der GmbH & Co. KG in die Rechtsform der Aktiengesellschaft sieht der Gesetzentwurf verschiedene Maßnahmen vor, die vor allem auf der Stufe nicht börsennotierter Aktiengesellschaften zum Tragen kommen sollen. Dazu zählen — ich will nicht alles erwähnen, weil die Zeit dazu fehlt — erleichterte Gründungsvorschriften, Ausschluß der zwingenden Einzelverbriefung von Aktien, Erleichterung der Einstellung von Teilen des Jahresüberschusses in die Rücklage, Erleichterungen bei den Formvorschriften bei Hauptversammlungen der Gesellschaft, Wegfall des Zwangs der notariellen Protokollierung, Erleichterung der Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital, allerdings nur bei börsennotierten Gesellschaften.In diesem Zusammenhang haben wir heute schon die Frage der Mitbestimmung ausdiskutiert. Ich will in diesem Kontext einiges ausführen.Der notwendige Schritt ist die Beseitigung der mitbestimmungsrechtlichen Ungleichbehandlung der GmbH gegenüber der AG. Während die GmbH bis zu einer Beschäftigtenzahl von 500 Mitarbeitern nicht der Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz 1952 unterliegt, unterliegt die Aktiengesellschaft qua Rechtsform der drittelparitätischen Mitbestimmung, auch wenn sie nur drei oder vierMitarbeiter beschäftigt, was überraschend häufig der Fall ist. Ich komme darauf nachher noch zurück.
Diese grundsätzliche Differenzierung beruht auf der Überlegung in den 50er Jahren, daß die Aktiengesellschaft grundsätzlich die Rechtsform für die großen Publikumsgesellschaften sei, während die GmbH die adäquate Rechtsform für kleine und mittlere Unternehmen sei. Diese Fehleinschätzung der 50er Jahre müssen wir jetzt korrigieren. Dabei sollten wir diese Diskussion — ich bitte Sie sehr herzlich darum — unemotional, leidenschaftslos und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Fakten führen.In Deutschland gibt es zur Zeit ca. 500 000 Unternehmen in der Rechtsform der GmbH oder GmbH & Co. KG und nur 3 000 Aktiengesellschaften. Wie ich schon sagte, sind von diesen Aktiengesellschaften nur 664 börsennotiert. Die überwiegende Zahl der Aktiengesellschaften sind kleine Gesellschaften mit weniger als 100 Mitarbeitern. Über 600 Aktiengesellschaften sind mehr oder weniger Holdinggesellschaften mit keinem oder zwei bis vier Beschäftigten. Unberücksichtigt müssen ferner die Aktiengesellschaften bleiben, die als Familiengesellschaften schon jetzt nicht mitbestimmt sind, und schließlich die Aktiengesellschaften, die Tendenzbetriebe darstellen und ebenfalls nicht mitbestimmt sind. Schließlich müssen die Aktiengesellschaften abgezogen werden, die im Konzernverbund sind und über die jeweiligen Konzernobergesellschaften in jedem Fall mitbestimmungspflichtig bleiben.Im Ergebnis wirkt sich daher die von uns vorgeschlagene Regelung mitbestimmungsrechtlich entweder gar nicht oder nur in ganz geringem Umfang aus.
Insbesondere bleibt die Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz — also für alle Unternehmen mit mehr als 2 000 Arbeitnehmern — gänzlich unberührt. Das gleiche gilt für die drittelparitätische Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 für alle Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern. Auch für diese Betriebe ändert sich nichts.Für Unternehmen in der Rechtsform der GmbH, die weniger als 500 Arbeitnehmer haben und in die Rechtsform der AG umwechseln, verändert sich gegenüber dem alten Mitbestimmungsstatus ebenfalls nichts. Ob es sinnvoll ist, für Aktiengesellschaften mit weniger als 500 Arbeitnehmern die jetzige Mitbestimmungsform nach dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 zu perpetuieren, werden wir in den Ausschußberatungen noch eingehend zu erörtern haben. Der Gesetzentwurf sieht - wie ich meine, aus guten Gründen — vor, diese Regelung mit einer Übergangsfrist von fünf Jahren auslaufen zu lassen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17989
Joachim GresEs hindert im übrigen niemand eine bestehende Aktiengesellschaft daran, einen Aufsichtsrat in drittelparitätischer Zusammensetzung fakultativ weiterhin bestehen zu lassen, obwohl das Gesetz von uns geändert wird.Ich will abschließend auf das Problem hinweisen, daß eine Perpetuierung jetzt bestehender Mitbestimmungsregelungen für Aktiengesellschaften mit weniger als 500 Mitarbeitern zu einem Nebeneinander von Stichtagsaktiengesellschaften führen würde. Ich glaube nicht, daß das für die Unternehmenskultur in unserem Lande besonders sinnvoll wäre.
Insgesamt führt die vorgeschlagene Einführung der sogenannten kleinen Aktiengesellschaft kurz- und mittelfristig zur besseren Eigenkapitalbildung bei mittleren Unternehmen und damit zur Stabilisierung vorhandener und Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Erreichung dieses Ziels werden wir mit Nachdruck betreiben. Ich lade die Opposition ein, sich an den Einzelberatungen konstruktiv zu beteiligen.
Meine Damen und Herren, ähnliche Überlegungen bestimmen auch das Ihnen vorliegende umfangreiche Gesetzespaket mit der Überschrift „Umwandlungsbereinigungsgesetz". Auch hier gilt es, mit Hilfe von flexiblen und deregulierten Rahmenbedingungen der Wirtschaft die Anpassung, die Umstrukturierung und Reorganisation im Rahmen des sich verändernden ökonomischen Umfeldes zu erleichtern, damit Unternehmen und Betriebsteile erhalten und letztlich Arbeitsplätze gesichert werden.Die Dicke des Gesetzespakets sollte uns nicht abschrecken, auch dieses Gesetz zügig anzugehen und rasch zu verabschieden. Die Deregulierung mittels Zusammenfassung der gerade im Umwandlungsbereich zahllosen zersplitterten Gesetzesvorschriften und mittels Kodifizierung der durch Richterrecht geschaffenen Rechtslage ist dringend notwendig.Ich will auf die Einzelheiten dieses Gesetzes, das im übrigen zwischen Rechtswissenschaft und beteiligten Wirtschaftskreisen ganz unstreitig ist und nachdrücklich begrüßt wird, hier nicht weiter eingehen, weil mir die Zeit fehlt. Aber auch hier noch ein Wort zu der mitbestimmungsrechtlichen Problematik.Mitbestimmungsrechtliche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Gesetz unmittelbar nicht Die sich im Wege der Verschmelzung oder Spaltung bildenden Unternehmen behalten oder bekommen den Mitbestimmungsstatus, der der jeweiligen Rechtsform bzw. der jeweils sich ergebenden Anzahl von Arbeitnehmern entspricht. Wenn daher durch eine Verschmelzung zwischen Unternehmen die relevante Größe von 500 Mitarbeitern oder 2 000 Mitarbeitern überschritten wird, kommt es zu den bekannten Mitbestimmungskonsequenzen nach dem Betriebsverfassungsgesetz 1952 oder dem Mitbestimmungsgesetz. Umgekehrt gilt das gleiche bei absinkender Arbeitnehmerzahl oder bei einem Rechtsformwechsel. Auch dies entspricht bereits der heutigen Rechtslage.Die betriebliche Mitbestimmung wird nach dem Vorbild des Spaltungsgesetzes 1991 dadurch gesichert, daß dem Betriebsrat ein Übergangsmandat zugesprochen wird, so daß ein problemloser Übergang von dem alten Betriebsrat zu dem neu zu wählenden Betriebsrat sichergestellt ist. Für die einzelnen Arbeitnehmer ist durch § 613a BGB die Fortgeltung von Tarifvertragsregelungen und individuellen Arbeitsvertragsbedingungen gesichert, gleichgültig, ob es sich um die Verschmelzung oder die Spaltung von Unternehmen handelt.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, mit uns gemeinsam beide Gesetze zügig zu beraten, rasch abzuschließen und damit einen wichtigen Schritt zur Sicherung und Stabilisierung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten.Ich danke Ihnen.
Professor Nils Diederich hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für uns Sozialdemokraten gehört zur Verbesserung der Lebensverhältnisse die Schaffung von Arbeitsplätzen und jede Erleichterung für unternehmerische Aktivitäten. Ich meine, darüber gibt es in diesem Haus Konsens. Außerdem geht es — auch das ist richtig erkannt — um den sparsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln.Wir als Sozialdemokraten wollen einen modernen, einen leistungsfähigen Staat, der sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentriert. Überregulierung, überflüssige Zentralisierung und bürokratische Erstarrung müssen abgebaut werden.Für uns Sozialdemokraten haben aber Effizienz und kostengünstiges Angebot von Dienstleistungen eindeutig Vorrang vor der Frage, wer diese Dienstleistungen erbringt. Ob dies nun ausschließlich staatliche Institutionen leisten müssen und können oder ob diese Aufgaben Unternehmen der Wirtschaft übertragen werden, ob andere gesellschaftliche Initiativen und Gruppen oder neue Formen der Leistungserbringung gefunden werden — das ist eine Aufgabe regelmäßiger Prüfung.Wir haben zu fragen: Gibt es Hemmnisse, die die Durchsetzung dieser Grundsätze behindern? Die Koalition möchte mit der Vorlage eines Änderungsantrags das Haushaltsgrundsätzegesetz ändern. Ein Blick in das Haushaltsgrundsätzegesetz zeigt folgendes. Bereits jetzt ist im Haushaltsrecht der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und der Sparsamkeit verankert und ist die Auflage erteilt, für geeignete Maßnahmen von erheblicher finanzieller Bedeutung Kosten-Nutzen-Untersuchungen anzustellen. Das steht übrigens seit 1969 in dem Haushaltsgrundsätzegesetz.Ich stelle fest: Es ist alles in klassischer Kürze beschrieben, was notwendig ist, um auch die Frage zu prüfen, wie politischer Wille umgesetzt werden kann. Auch die Privatisierung ist ein Weg, allerdings nur e i n Weg, um wirtschaftlicher und sparsamer zu verfahren. Der Weg führt eben genau über die Kosten-NutzenErwägungen zu diesem Punkt. Es ist also alles da, es ist
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17990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Nils Diederich
alles im Gesetz beschrieben, die Koalition hätte handeln können.Sie möchten nun mit der Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes eine verbindliche Prüfungspflicht und sogenannte Interessenbekundungsverfahren einführen, was auch immer das sein mag. Dies kann ja nur bedeuten, daß im Hinblick auf jede staatliche Maßnahme sozusagen von Amts wegen und fortlaufend der Versuch unternommen werden muß, sie möglichst schnell an Private loszuwerden, ohne im Zusammenhang einer kommunalen oder einer Länderpolitik Erwägungen anzustellen, ob die Aufgabenerfüllung aus politischen oder gesellschaftlichen Gründen oder aus anderen Erwägungen nicht doch besser in kommunaler oder staatlicher Hand bleiben sollte.Gerade kommunale Dienstleistungen sind im ganz besonderen Maße an der Daseinsvorsorge und am Bürger orientiert. Die Kommunen müssen also die Möglichkeit haben, in ihrem politischen Entscheidungsprozeß zu erwägen, ob sie privatisieren wollen oder nicht. Es gilt, wirtschaftliche Vorteile, wenn sie überhaupt gegeben sind, gegen die politische, soziale und kulturelle Bedeutung der jeweiligen Aufgabe abzuwägen. Das betriebswirtschaftliche Kalkül der privaten Wirtschaft zum alleinigen Maßstab der Aufgabenerfüllung zu machen, wie das in Ihrer Vorlage vorgesehen ist, bedeutet die Vernichtung eines wichtigen Ecksteins und eines Stabilitätsgaranten unserer sozialstaatlichen Ordnung.Privatisierung kann im Einzelfall eine Chance zu mehr Wirtschaftlichkeit sein, aber eine gesetzlich normierte Privatisierungspflicht, die übrigens in Form und Inhalt völlig ungeklärt ist, wird nur neue komplexe Bürokratismen heraufbeschwören, die Verwaltungsapparate mit Prüfaufgaben aufblähen und Entscheidungen eher verschleppen als die Reform fördern.Die Vorschriften, wie Sie sie hier in das Haushaltsgrundsätzegesetz einführen wollen, haben also geradezu zwangsneurotischen Charakter. Sie enthüllen, daß nicht mehr rational abgewogen werden soll, sondern daß die kommunale Ebene gezwungen werden soll, die Privatisierungsideologie der Koalition umzusetzen.Wir Sozialdemokraten haben die Privatisierungsbemühungen gerade innerhalb der Bundesregierung mit Aufmerksamkeit verfolgt und stehen ihnen auch nicht in jedem Falle negativ gegenüber. Ich stelle aber fest, daß es der Mehrheit in diesem Hause im wesentlichen nicht auf rationale Überlegungen ankommt, sondern auf zwei politisch schwergewichtige Punkte: Aufgaben, die mit Gewinnerwartungen verbunden sind, sollen privatisiert werden, verlustreiche Aufgaben verbleiben beim Staat.Diese Politik wird letztlich sowohl für den Staat als auch für den Bürger im Ergebnis nicht billiger, sondern kostenträchtiger. Ob etwa private Bereederung des Fischereiforschungsschiffes — wir haben uns im Haushaltsausschuß darüber unterhalten — oder übereilte Zerkrümelung attraktiver Märkte im Bereich der gelben Post oder auch der Bahn, Bahnbusbetriebe — die Beispiele zeigen, wohin die Reise gehen soll. Es geht der Koalition darum, durch Auslagerung öffentlicher Aufgaben auch Schattenhaushalte und die Höhe der Staatsverschuldung zu verschleiern.Private Infrastrukturfinanzierung mit hoher Gewinnsicherheit wird letztlich dazu beitragen, daß die Politik der Koalition die öffentlichen Haushalte nicht durchgehend weniger, sondern längerfristig sogar höher belastet und die Aufgabenerfüllung teurer werden läßt. Wir Sozialdemokraten sind für einen solchen Weg nicht zu gewinnen.Was Sie jetzt tun wollen, ist, nachdem Sie die Bundeshaushaltsordnung genau in der Richtung, wie ich das beschrieben habe, geändert haben, Ihre Privatisierungsideologie auch den Ländern und Kommunen aufzudrücken. Das zeigt wieder deutlich die deformierte Vorstellung, die die jetzige Koalition und auch die Bundesregierung vom kooperativen Föderalismus haben. Durchsetzung von Ideologien auf Kosten der Länder und Kommunen lehnen wir ausdrücklich ab. Ich hoffe, daß hier auch im Bundesrat deutliche Worte gesprochen werden.Wir Sozialdemokraten betonen die Eigenstaatlichkeit und damit auch die politische Eigenverantwortung und die politische Gestaltungsaufgabe in den Ländern und in den Gemeinden.
Ich erwähne hier ganz ausdrücklich den Herrn Oberbürgermeister Grandke, Offenbach, der ja gezeigt hat, wie man mit energischer Politik die Sanierung einer Gemeinde — auch durch Auslagerung und Privatisierung — ohne Vernichtung von Dienstleistungsqualität für den Bürger in Angriff nehmen kann. Die Kommunen sind sich in ihrer politischen Verantwortung für kostengünstiges Handeln durchaus bewußt. Das zeigt dieses Beispiel. Sie nutzen eben genau auch diese Aufgabenstellung der Kosten-Nutzen-Erwägung und des sparsamen Vorgehens, um hier neue Wege zu finden.Es gibt die Leitlinien des Deutschen Städtetages zur Privatisierung, die in Form und Inhalt von Sachkompetenz und Verantwortungsbewußtsein getragen sind. Wir lehnen daher, meine Damen und Herren, ausdrücklich ab, den Irrweg der Koalition zu beschreiten, der die Pflicht zur Suche nach ausschließlich privatwirtschaftlichen Lösungen zum Selbstzweck machen möchte. Das ist etwas, was gerade das Gleichgewicht kommunaler Politik in Zukunft ganz erheblich behindern und stören wird. Wir wehren uns dagegen entschieden.
Es fragt sich im übrigen auch, ob das, was Sie mit der Gesetzesänderung bezwecken, nicht ein Rohrkrepierer wird. Es werden im wesentlichen die großen Unternehmungen, die großen flächendeckenden Konzerne und wirtschaftlichen Kräfte sein, die die Vielzahl der sogenannten Interessenbekundungsverfahren, die uns ins Haus stehen, bestreiten können; denn dazu brauchen sie extra Personal. Das ist so wie mit der Einwerbung öffentlicher Förderer.
Herr Kollege Diederich, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17991
Aber gern.
Der Abgeordnete Türk hatte darum gebeten.
Aber gern.
Herr Kollege Professor Diederich, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Ihre Brandenburger Kollegen, Ihre Brandenburger Genossen, da schon ein Stück weiter sind? Wir haben nämlich als erste in den Ländern in der brandenburgischen Haushaltsordnung dieses Privatisierungsgebot drin. Wir sind eigentlich ganz gut mit den Brandenburger Genossen zurechtgekommen.
Das zeigt nur, daß hier ein Bundesland ganz autonom seinen eigenen Weg gefunden hat. Ich möchte, daß auch in Zukunft die Länder die Möglichkeit haben, diese Option zu wählen, ohne daß ihnen das von oben aufgedrückt wird. Was Sie jetzt hier machen wollen, ist, daß Sie sozusagen ein Allheilmittel, das Sie glauben, erkannt zu haben, allen Ländern verabreichen wollen. So kann es nicht gehen.
Ich weiß nicht, ob wir in den Ausschußberatungen Ihren Vorschlag noch einmal so verändern können, daß er erträglich wird. Das werden wir prüfen. Wir lehnen ihn in der jetzt vorliegenden Form ab, weil er ideologisch belastet und darüber hinaus bürokratievermehrend, zeitverzehrend und kostentreibend ist. Arbeitsplätze werden dadurch übrigens auch nicht geschaffen, und darum geht es ja im Moment.
Im übrigen — eine letzte Bemerkung —: Am 21. Dezember 1993, also drei Tage vor dem vergangenen Weihnachtsfest, ist Ihre Änderung der Bundeshaushaltsordnung, die ja im gleichen Sinne lief, im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Ich bitte alle Damen und Herren, einmal die entsprechende Vorlage heute zur Kenntnis zu nehmen. Da ändern Sie nämlich schon eine Vorschrift, die erst vor 41 Tagen verkündet worden ist. Das gehört wirklich ins Guinness-Buch der Rekorde, und zwar unter das Kapitel „Schlamperei, Hektik und Aktionismus, aber keine politische Durchsetzung und keine Gestaltung".
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Rudolf Krause das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nun habe ich mir so eine schöne Rede vorbereitet, aber ich muß trotzdem etwas ganz anderes sagen.
Diejenigen, die das Aktionsprogramm geschrieben haben, sind lebensfremde Beamte, und ich habe das Gefühl, daß so mancher wirklichkeitsfremde Politiker das kritiklos übernommen hat.
Sie sind jetzt die Bevölkerung, Sie sind die Arbeitslosen, und ich soll organisieren, daß Sie morgen für 25 DM am Tag zusätzlich für drei Wochen auf dem Acker arbeiten.
Erstens. Welche Arbeitsschuhe haben Sie? — Da kaufen Sie sich neue von 25 DM zusätzlich. Arbeiten Sie mal acht Stunden hintereinander mit neuen, hohen Arbeitsschuhen! Mit Halbschuhen geht es nicht.
Zweitens. Was setzen Sie denn auf den Kopf, wenn es regnet? — Sie müssen eine Kopfbedeckung haben, die beim Bücken — und Sie müssen sich ja die ganze Zeit bücken — nicht herunterfällt. Also kaufen Sie sich von 25 DM am Tag zusätzlich auch noch ein Kopftuch. Welche Joppe tragen Sie, wenn es regnet?
Wir in der früheren DDR kennen solche Arbeitseinsätze. Nach zwei Stunden haben Sie einen Muskelkater, nach vier Stunden haben Sie Blasen an den Händen. Wie wollen sie drei Wochen hintereinander mit blutigen Händen arbeiten, die arbeitslosen Hausfrauen? — Sie werden mir ja zustimmen, Herr Kollege.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage von Herrn Gallus zu beantworten?
Ja, von Herrn Gallus gerne; der hätte diese Rede auch halten können.
Herr Kollege, wenn Sie so gut wissen, wie schwierig und hart die Landarbeit teilweise noch ist, möchten Sie dann wenigstens zugeben, wenn Sie sie niemandem zumuten wollen, daß es noch viele deutsche Bauern gibt, denen gar nichts anderes übrigbleibt, als diese Arbeit dann selbstverständlich zu machen?
Arbeit adelt, und in diesem Sinne ist meine Familie sehr adlig geblieben. Wir haben immer unsere Nebenwirtschaft gehabt, wir haben kilometerweise Straßengräben gemäht, ein Bein oben, ein Bein unten, wie so ein Hanghuhn, aber sagen Sie das doch einmal einer arbeitslosen Hausfrau!Es geht ja weiter. Der Pole ist arbeiten gewöhnt, unsere DDR-LPG-Bauern auch, aber um die geht es ja gar nicht. Es geht hier um nicht vermittelbare Hausfrauen — frauenfreundlich! — und auch um Männer.25 DM am Tag zusätzlich — Sie kriegen Durst.
Sie saufen Bier oder Wasser oder sonstwas. Was kostet das? — Sie müssen dauernd hinter den Baum. Wo steht denn eine Toilette?Denken Sie doch daran, ich sage: Sie sollen arbeiten, und ich soll es organisieren. Dieses Programm ist zum Lachen. Es wird einfach nicht gehen.
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17992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Rudolf Karl Krause
Ich habe mir einiges aufgeschrieben: Fitneß. Wollen Sie sich etwa vorher erst einmal acht Wochen fit machen? Nach anderthalb Stunden bekommen Sie den Buckel nicht mehr gerade oder nicht mehr krumm. Der Bauer nimmt doch einen Knüppel und jagt Sie davon!Sie sollen dann arbeiten für 25 DM am Tag zusätzlich. Nach vier oder acht Wochen geht das, aber doch nicht in den ersten drei Wochen. Ich weiß, was körperliche Arbeit ist, und ich weiß auch, was sonnabends los war, wenn die Kinder am Freitag von der Schule kamen.Für wen ist dieses Programm gemacht? Ich sage noch einmal: wirklichkeitsfremd, lebensfremd.Zum Durst kommt die Frage: Wo Mittag essen? — Ein paar Stullen? Wenn in der DDR so etwas organisiert war, dann mußte die LPG Mittagstisch machen, und das ging: 2,40 Mark für das Mittagessen. Was bezahlen Sie jetzt für ein Mittagessen, und das für 25 DM zusätzlich? Der Bauernhof ist doch nicht neben dem Marktplatz oder dem Hauptbahnhof.Sie fahren also mit dem Auto hin. Da müssen Sie Klamotten haben, um sich umzuziehen. Dann wollen Sie verschwitzt in gute Klamotten, oder wollen Sie mit Ihren Dreckklamotten ins Auto steigen? — Lebensfremd!Ich kann nicht jemanden aus der Stadt herausnehmen und ihn sechs Wochen in Feldarbeit schicken. Man kann sich hier wirklich nur blamieren.Ich wollte eigentlich etwas über die Lebensfremdheit des Vorsitzenden der Mittelstandsvereinigung Bregger sagen. Ich muß mich da sehr kurz fassen. Er hat in der Zeitung geschrieben — wen es interessiert, für den habe ich es —, daß90 % der ostdeutschen Mitbürger ein bankrottes Land relativ schnell sanieren.Wo arbeiten 90 % der ostdeutschen Mitbürger? — In Mitteldeutschland jedenfalls nicht.Es sind da noch einige harte Dinger drin. Da steht drin:Den ewig Unzufriedenen bleibt es ja überlassen, die Republik fluchtartig zu verlassen. Keiner von ihnen wird gehalten werden.Das schrieb in den „Sonntagsnachrichten" — ich habe sie mit — der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU. Wir DDR-Bürger haben noch im Ohr, daß das einmal ein Harry Tisch beim Besuch hier im Westen sagte. Das ist aber noch schlimmer als Harry Tisch. Ich zitiere es noch einmal:Millionen Arbeitslose, die bezweifeln, — so wörtlich —daß es ihnen an allen Ecken und Enden der pulsierenden Wirtschaft im Osten blühend ergeht, wollen eine andere Republik.Wenn ein Berufspolitiker schreibt, jemand will eine andere Republik, so kenne ich das aus Verfassungsschutzberichten: Wer eine andere Republik will, ist ein Verfassungsfeind, und der wird sowieso entlassen in diesem Lande. Aber Bregger schreibt, wer bezweifelt, daß die Wirtschaft im Osten an allen Ecken undEnden pulsiert, will eine andere Republik. Und dann schreibt er: Aber es bleibt ja den ewig Unzufriedenen überlassen, die Republik fluchtartig zu verlassen. Keiner von ihnen wird gehalten werden.Was für ein Unterschied zwischen dem lebensfremden Aktionsprogramm und den noch wirklichkeitsfremderen, aber zynischen Ausdrücken eines Vorsitzenden der Mittelstandsvereinigung einer Partei, in der ich sehr, sehr viele Freunde habe und behalten werde, die das nicht verdient haben!Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Der Abgeordnete Volker Kauder hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungskoalition setzt heute konkrete Maßnahmen um, um das Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung Wirklichkeit werden zu lassen. Wir wollen Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen. Wir wollen Güter und keine Arbeitsplätze exportieren.
Wir wissen, daß wir eine tiefgreifende Wirtschafts-, Struktur- und Kostenkrise haben. Daß die Ursachen dieser Krise nicht bei der Bundesregierung liegen, weiß die SPD; aber sie führt sich heute so auf, als ob die Bundesregierung für diese Wirtschafts-, Struktur- und Kostenkrise verantwortlich wäre. Es gibt ein Papier der Arbeitsgruppe Arbeit und Sozialordnung der SPD mit der Überschrift „Sozialpolitik als Standortfaktor"; es beginnt mit der Feststellung: „Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in Deutschland ist überwiegend Folge der weltweiten Rezession."
Also nicht die Bundesregierung, sondern weltweite Rezession ist dafür verantwortlich. Wer so falsche Analysen hier abgibt, der kann auch keine richtigen Rezepte bringen.
Wenn Sie also wissen, woher die Krise wirklich kommt, und dies in Papieren schreiben, dann hilft es wenig, wenn wir hier in Schuldzuweisungen verfallen,
wenn wir möglicherweise darin übereinstimmen, Herr Kollege Gilges, daß es keine Patentrezepte gibt, sondern daß wir umfassende Strategien brauchen.Ich habe heute aufmerksam über drei Stunden dieser Debatte zugehört und mir vor allem sehr aufmerksam die Redner der SPD angehört. Ich habe keinen einzigen akzeptablen und wirksamen Ansatz bei Ihnen heute gefunden.
Sie haben auf die entscheidenden Fragen keine Antwort. Ich würde Ihnen dringend empfehlen — und das macht den Unterschied aus, ob man in der Verantwortung oder in der Opposition ist —, daß Sie einmal eine kleine Nachhilfestunde beim SPD-Wirtschaftsminister Spöri in Baden-Württemberg nehmen. Sie haben heute morgen angefangen zu lachen,
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Volker Kauderals unser Fraktionsvorsitz ender Wolfgang Schäuble völlig richtig gesagt hat, daß wir in einer Wirtschaftskrise sind, daß es aber erste Zeichen einer Besserung gibt. Da haben Sie gelacht. Und was sagt Dieter Spöri in der Wirtschaftsdebatte des Landtags von Baden-Württemberg gestern? Er sagt — was richtig ist —, daß man den Menschen die Wahrheit sagen muß und ihnen nicht jede Hoffnung nehmen darf. Er sagt: Das Ende der Talsohle ist erreicht. Ich füge hinzu: Jetzt kommt es darauf an, diese leisen Aufschwungs- und Antriebskräfte zu stärken und sie nicht noch totzureden, wie Sie es heute gemacht haben.
Herr Kollege Gilges, auch das, was Sie gesagt haben, trägt nicht entscheidend dazu bei, die Situation zu verbessern.Die in unserem Beschäftigungsprogramm enthaltenen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen können die notwendige gesamtwirtschaftliche Offensive fördern und flankieren. Sie können den Menschen Mut machen, daß sich nun etwas nach vorne bewegt. Genau dies wollen wir. Sie können aber — das ist mehrfach von Rednerinnen und Rednern unserer Fraktion heute gesagt worden — Wirtschaftspolitik, die auch durch die Tarifpartner gemacht werden muß, natürlich nicht ersetzen. Bei uns in Deutschland sind Lohn und Leistung aus dem Gleichgewicht geraten.
Dies ist ein ganz entscheidender Faktor dafür, daß wir hier Schwierigkeiten haben.
Herr Abgeordneter Kauder, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Kauder, Sie sind ja Generalsekretär der CDU Baden-Württemberg, also von einem der beiden Koalitionspartner dort, und haben hier zu Recht, wenn auch verkürzt, den gestrigen Redebeitrag des stellvertretenden Ministerpräsidenten Spöri zitiert. Sind Sie bereit, auch den Teil seiner Rede zur Kenntnis zu nehmen, in dem er gesagt hat, daß ein Lichtstreif am Horizont durch eine verbesserte Außenwirtschaft sichtbar werde, aber daß auch dem Land Baden-Württemberg noch lange Zeit Probleme in der Binnenkonjunktur entstehen würden, die deshalb so schlecht sei, weil die Bonner Bundesregierung so dramatisch schlimme Steuer- und Sozialgesetze verabschiedet habe?
Herr Kollege, allein dadurch, daß ein SPD-Mitglied in die baden-württembergische Landesregierung eintritt, wird nicht alles von seinen Aussagen richtig. Aber ein Teil mag ja richtig sein, und den habe ich zitiert.
Dieser Teil ist derjenige, der klipp und klar sagt, daß wir Antriebskräfte haben und Antriebskräfte brauchen.
Ich komme aber auf eine Frage zurück, die mir von keinem SPD-Mann beantwortet wird, auf die auch die SPD-Wirtschaftsminister keine Antwort geben.
Mit verantwortlich für diese Situation, die wir in diesem Land haben, ist die tarifliche Lohnpolitik, die sich in der Vergangenheit nur um die Beschäftigten, aber nicht um die Arbeitslosen gekümmert hat.
Es läuft nach dem Motto — auch bei Ihnen und bei den Gewerkschaften —: Wir sorgen für diejenigen, die im System drin sind, und die Arbeitslosen überlassen wir der Politik. — Dieses Spiel machen wir auf Dauer nicht mehr mit.
— Ich weiß ja, daß es weh tut, aber es ist die Wahrheit, und Sie haben das mit zu verantworten.
Heute müssen wir schmerzlich erkennen, wie sich überzogene Haustarife — hier nenne ich das Unternehmen Volkswagen — negativ nicht nur für das Unternehmen, sondern auch für die gesamte Region auswirken. Die Facharbeiter in meinem Wahlkreis bekommen bei weitem nicht den Lohn, den ein Facharbeiter bei VW bekommt. Wenn VW-Arbeiter den Lohn bekämen, den Facharbeiter in meiner Region bekommen, könnte ein Golf nahezu 1 000 DM billiger werden, und dann wäre er noch konkurrenzfähiger gegenüber der ausländischen Produktion.
Herr Abgeordneter Kauder, entschuldigen Sie. — Sie gestatten nicht. Okay.
Die Tarifpolitik muß also nachhaltig korrigiert werden, und die Lohnpolitik muß insgesamt flexibel und differenziert gestaltet werden. Ein ermutigendes Beispiel — dies hat die Kollegin Wülfing deutlich gesagt — sind die Abschlüsse im Chemiebereich.
Wir wollen Arbeitsplätze in unserem Land schaffen — dies haben wir heute deutlich gemacht —, und wir wollen sie in unserem Land auch erhalten. Dazu dient dieses Programm wie kein anderes. Es soll schnell Ergebnisse bringen und soll unsere Politik schnell umsetzen.Eine Existenzgründeroffensive brauchen wir. Eigenkapitalhilfe wird neu aufgelegt, und wir schaffen ein Überbrückungsgeld, mit dem Arbeitslose besser
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17994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Volker Kauderin die Selbständigkeit hineinwachsen können, indem ihnen für ein halbes Jahr das Arbeitslosengeld weitergezahlt wird. In Amerika erzielt man damit großartige Erfolge. Bei uns kommen zuwenig Arbeitslose in die Selbständigkeit hinein. Hier wird, meinen wir, ein gutes Programm geboten.Diese Programme — das zeigt die Entwicklung in den neuen Bundesländern — greifen auch dort. Leider ist der Kollege Schulz vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht mehr da. Was er gesagt hat, kann ich nur als einen unglaublichen Skandal bezeichnen. Er hat wörtlich gesagt, mit den neuen Bundesländern, mit der ehemaligen DDR sei uns ein reifer Apfel in den Schoß gefallen, „den wir haben verfaulen lassen".
Was hat denn der Mann für Kenntnisse, für Geschichtskenntnisse? — Wir haben ein Land übernommen, in das wir jedes Jahr 150 Milliarden DM Transferleistungen bringen müssen, damit die Menschen neue Hoffnung und Zukunft haben. Dies machen wir gern, aber dann lassen wir uns in diesem Hause nicht solche Sätze sagen.
Ein Teil unserer Probleme hängt natürlich auch mit dem Aufbau der neuen Bundesländer zusammen. Auch dies schreiben Sie in Ihrem Papier von der SPD, in dem Sie sagen, daß diese Rezession, diese Wirtschaftskrise, auch durch die Probleme der neuen Bundesländer überlagert wird.Frau Schmidt, Sie haben gesagt, es sei kein Wort zu Teilzeitarbeit und vor allem auch zum Thema Frauen gesagt worden. — Wir wissen, daß vor allem Frauen nach Teilzeitarbeitsplätzen schauen. Deswegen ist für uns die Förderung von Teilzeitarbeit ein ganz wichtiger Punkt. Hätten wir auf diesem Gebiet einen prozentualen Anteil wie in Holland — Norbert Blüm hat es gesagt —, hätten wir mehrere hunderttausend Arbeitsplätze mehr und entsprechend Arbeitslose weniger. Die Wirtschaft — das wissen wir — und auch der öffentliche Dienst tun sich hier außerordentlich schwer, die notwendigen Spielräume zu schaffen. Deshalb appellieren wir an die Tarifpartner, hier mutig voranzugehen. Ich hoffe auch, daß die Tarifverhandlungen der kommenden Wochen hier einen Beitrag leisten. Politisch flankieren wir dies dadurch, daß Vollzeitbeschäftigten der Wechsel in die Teilzeitarbeit erleichtert wird, indem sie bis zu drei Jahren eine Bestandsschutzgarantie für die Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten.Frau Schmidt, Sie haben gesagt, daß das Programm nach § 249h AFG, das wir nun auch bei uns in den alten Bundesländern einführen, nach dem wichtige Arbeiten im Jugend-, Sozial- und Umweltbereich durchgeführt werden können, deswegen nicht umgesetzt werden kann, weil die Länder ihre Komplementärmittel nicht erbringen. Der Bund hat seinen Beitrag zur Finanzierung erbracht. In den Solidarpaktverhandlungen hat der Bund den Ländern die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt. Es geht nicht, daß jetzt vor allem SPD-regierte Länder immer kommen und sagen, der Bund soll ihnen einen Anteil bringen, obwohl sie in den Solidarpaktverhandlungen ihren Anteil bereits bekommen haben. So kann man Politik nicht machen.
Die Länder haben das Geld. Sie können es tun.Ein zweites Versäumnis will ich Ihnen nennen. Sie können sich nicht ständig hier hinstellen und darüber jammern, daß wir zuwenig Kindergartenplätze haben. Es ist das Land Nordrhein-Westfalen, das am wenigsten Kindergartenplätze hat, nämlich nur für 60 % der Kinder. In Baden-Württemberg haben wir nahezu 90 %. Machen Sie Ihre Aufgaben einmal dort, wo Sie in den Ländern politische Verantwortung tragen, und jammern Sie hier nicht immer nur herum!
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schmidt zu beantworten?
Bitte.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Herr Kollege, sind Ihnen auch die Zahlen der CDU-regierten Länder im Osten bekannt, die sich gleichfalls nicht in die Lage versetzt sahen, die Komplementärmittel zu bezahlen? Wenn nicht, kann ich sie Ihnen später gern zur Verfügung stellen.
Zweitens. Wissen Sie, daß wir bei der Kindergartenversorgung in Nordrhein-Westfalen — dies ergibt sich, wenn wir Nordrhein-Westfalen mit Baden-Württemberg vergleichen — ein Angebot mit ganztägiger Kinderbetreuung und familienfreundlichen Öffnungszeiten haben, während in Baden-Württemberg in der Regel noch immer Vormittags- und Nachmittagsgruppen eingerichtet sind, so daß sich von daher oft eine höhere Versorgung ergibt, und daß Nordrhein-Westfalen auch das Land mit einer höheren Kinderzahl ist, das viele Kindergartenplätze geschaffen hat, daß aber dort die Versorgungsquote dennoch sinkt, weil erhebliche Zugänge in dieses Land zu verzeichnen waren? Wenn schon Schwierigkeiten angesprochen werden, dann bitte ich Sie, ganz genau zu differenzieren, wo die einzelnen Schwierigkeiten liegen.
Es ist eine Tatsache, Frau Kollegin Schmidt, daß es die SPD-regierten Bundesländer, allen voran Nordrhein-Westfalen, sind, die eine Initiative im Bundesrat starten wollen, daß die Kindergartenplatzgarantie ab 1996 nicht eingeführt wird. Dies tun die SPD-regierten Bundesländer und nicht das von der CDU mitregierte Bundesland Baden-Württemberg. Das ist erst mal ein Fakt, den man sehen muß.
Zweitens. Es ist nach wie vor so, daß wir als Bund Prioritäten setzen müssen. Arbeitsplätze zu schaffen und Arbeitsplätze zu erhalten ist in der heutigen Zeit
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Volker Kauderdie wichtigste Aufgabe. Dann müssen die Bundesländer ihr Geld auch dafür einsetzen. Der Bund kann weitere Komplementärmittel nicht mehr aufbringen, denn neben der Schaffung und der Förderung von Arbeitsplätzen müssen wir auch unseren Haushalt in Ordnung halten. Dies ist ein weiterer wichtiger Punkt zur Schaffung von Arbeitsplätzen in der Industrie. Es hilft also nichts. Wir machen dieses Programm. Es ist ein gutes Programm. Die Länder müssen ihren Anteil dafür einsetzen. Ich appelliere an die Länderregierungen, dies auch zu tun.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben heute ein kurzfristig wirkendes Programm in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir sind bei der einen oder anderen Frage auch darauf angewiesen, daß SPD-regierte Bundesländer im Bundesrat mitmachen. Ich appelliere an Sie, daß wir alle diese Gesetzentwürfe in den Ausschüssen schnell beraten, damit sie wirklich Gesetz werden können, damit sie nicht auf dem Papier bleiben, sondern damit die Menschen, die Arbeitsplätze suchen, und die, die in Sorge sind, daß ihre Arbeitsplätze wegbrechen, dadurch eine Perspektive erhalten.Wir sind in einer schwierigen Zeit, aber wir haben die richtigen Maßnahmen ergriffen, um die Probleme anzupacken. Wir werden die Arbeitslosigkeit nicht auf Null bringen, aber mit Ihren Rezepten, die Sie haben, immer nur das Vorhandene umzuverteilen, wird die Arbeitslosigkeit größer, und die Menschen werden weniger Perspektiven haben.
Ich erteile nunmehr zu einer Kurzintervention Herrn Professor Dr. Diederich das Wort.
Meine Damen und Herren! Anläßlich des Beitrags des Kollegen Kauder möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die Übertragungsanlage in diesem Saal nunmehr einwandfrei funktioniert. Wenn man so laut spricht — ich will nicht sagen: brüllt — wie der Kollege Kauder, dann bekommen die Zuhörer nur Ohrenschmerzen. Man kann gar nicht zuhören. Sie können also niemanden überzeugen.
Ich werde nun keine Geschäftsordnungsüberlegungen anstellen dahin gehend, ob das ein Beitrag zur Sache war oder nicht, Herr Professor. In letzterem Fall hätte ich Ihnen das Wort entziehen müssen. Aber Ihr Redebeitrag war ja erfreulich kurz.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/6719 bis 12/6722, 12/6699, 12/6481 und 12/6572 an die in der Tagesordnung I aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann kann ich das als beschlossen feststellen.Interfraktionell ist vereinbart worden, den Zusatzpunkt 6a — Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. „Friedliche Lösung des Kundenproblems in der Türkei", Drucksache 12/6728 — von der Tagesordnung abzusetzen. Wenn wir das tun wollen, dann brauche ich Ihre Zustimmung. Ist diese Zustimmung vorhanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist der Zusatzpunkt 6a von der Tagesordnung abgesetzt.Ich muß jetzt um ein bißchen Geduld bitten, weil noch etliche Abstimmungen anstehen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 und 12 sowie Zusatzpunkt 6 b auf:18. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Wertpapierhandel und zur Änderung börsenrechtlicher und wertpapierrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/6679 —
Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß RechtsausschußAusschuß für WirtschaftHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. März 1993 zur Änderung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut und zu weiteren Übereinkünften— Drucksache 12/6477 —überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußVerteidigungsausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GO InnenausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnungc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Markenrechts und zur Umsetzung der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken
— Drucksache 12/6581 —
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß FinanzausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GO
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17996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergd) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes— Drucksache 12/6586 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnunge) Beratung des Antrags des Bundesministeriums für WirtschaftRechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" — Wirtschaftsjahr 1992 — — Drucksache 12/6533 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Hans Gottfried Bernrath, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDErhalt der Buchpreisbindung — Drucksache 12/3388 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft InnenausschußAusschuß für Bildung und Wissenschaft EG-AusschußZP6 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hans de With, Hermann Bachmaier, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBekämpfung des Insider-Handels an deutschen Börsen— Drucksache 12/5437 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß RechtsausschußAusschuß für WirtschaftEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19a bis 19 q auf:Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 22. Dezember 1992 zum Abkommen vom 20. Oktober 1982 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Arbeitslosenversicherung— Drucksache 12/6536 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/6634 —Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Joachim Fuchtelbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/6645 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Adolf Roth
Ina Albowitzb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Tierzuchtgesetzes— Drucksache 12/5741 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 12/6660 —Berichterstattung:Abgeordneter Jan Oostergeteloc) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur zeitlichen Begrenzung der Nachhaftung von Gesellschaftern
— Drucksache 12/1868 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/6569 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolfgang Freiherr von StettenLudwig Stieglerd) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen über den Transport von Gas durch eine Rohrleitung vom norwegischen Festlandsockel und von anderen Gebieten in die Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/5840 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/6583 —Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Beckmann
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17997
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberge) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Schweden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie bei den Erbschaft- und Schenkungsteuern und zur Leistung gegenseitigen Beistands bei den Steuern
— Drucksache 12/5838 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
— Drucksache 12/6651 —Berichterstattung:Abgeordneter Günter Klein
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/6652 —Berichterstattung:Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg)f) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre in den Jahren 1992 und 1993— Drucksache 12/5830 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht desInnenausschusses
— Drucksache 12/6600 —Berichterstattung:Abgeordnete Georg Brunnhuber Fritz Rudolf KörperHeinz-Dieter Hackelbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/6657 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl DeresIna AlbowitzRudolf Purpsg) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 2 vom 13. November 1992 zu den Protokollen vom 20. Dezember 1961 über die Errichtung der Internationalen Kommissionen zum Schutz der Mosel und der Saar gegen Verunreinigung und demergänzenden Protokoll vom 22. März 1990 zu diesen beiden Protokollen— Drucksache 12/5446 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/6617 —Berichterstattung:Abgeordnete Wolfgang Ehlers Jutta Müller Susanne KastnerJosef Grünbeckh) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verschollenheitsgesetzes— Drucksache 12/5832 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/6656 —Berichterstattung:Abgeordnete Klaus-Heiner Lehne Margot von Renessei) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes betreffend das Zusatzprotokoll vom 6. September 1989 zu dem Übereinkommen vom 4. September 1958 über den internationalen Austausch von Auskünften in Personenstandsangelegenheiten— Drucksache 12/2657 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/6668 -Berichterstattung:Abgeordnete Meinrad Belle Günter GrafDr. Burkhard Hirschj) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungArbeitsunterlage der KommissionLeitlinien für die Gemeinschaftsaktion im Bereich allgemeine und berufliche Bildung— Drucksachen 12/5358 Nr. 31, 12/6437 —Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Egon JüttnerDr. Peter EckardtDr. Margret Funke-Schmitt-Rinkk) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten. Ulrike Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), Walter Kolbow, weiterer Abgeordne-
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17998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergter und der Fraktion der SPDNaturschutz auf Bundeswehrliegenschaften— Drucksachen 12/3769, 12/6576 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Norbert RiederUlrike MehlBirgit Homburger1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über Abfalldeponien— Drucksachen 12/1072 Nr. 24, 12/6577 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Gerhard FriedrichDr. Liesel HartensteinBirgit Homburgerm) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 11— Eingliederungshilfe für Aussiedler — — Drucksachen 12/5907, 12/6593 —Berichterstattung:Abgeordnete Helmut Wieczorek
Adolf Roth
Ina Albowitzn) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 05— Altersübergangsgeld für Empfänger in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet — — Drucksachen 12/6268, 12/6594 —Berichterstattung:Abgeordnete Helmut Wieczorek
Adolf Roth
Ina Albowitzo) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 04— Vorruhestandsgeld für Empfänger in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet — — Drucksachen 12/6417, 12/6595 —Berichterstattung:Abgeordnete Helmut Wieczorek
Adolf Roth
Ina Albowitz p) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 14 23 Titel 681 23— Sonderleistungen, Mietbeihilfe und Wirtschaftsbeihilfe —— Drucksachen 12/6369, 12/6596 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)q) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Einhundertzweiundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste— Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz —— Drucksachen 12/5935, 12/6642 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter KittelmannEs handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 19 a. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/6634, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer dagegen stimmt, der möge sich ebenfalls erheben. — Enthaltungen? — Das ist einstimmig angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 19b. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen?— Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei Stimmenthaltung des Kollegen Weiß in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen?— Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung in dritter Beratung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 19c. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung des Abgeordneten Weiß in zweiter Beratung angenommen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 17999
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergWir kommen nunmehr zurdritten Beratung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf insgesamt zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Bei den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen.Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 19 d. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/6583, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann kann ich feststellen, daß es einstimmig angenommen worden ist.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19e. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6651, den Gesetzentwurf unverändert auszunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19f. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6600, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. —Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann darf ich feststellen, daß das in der zweiten Lesung einstimmig angenommen worden ist und es sich lohnt, sich zurdritten Lesungvom Platz zu erheben. Ich bitte so zu verfahren. — Damit ist dieser Gesetzentwurf in der dritten Lesung einstimmig angenommen worden.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 19g. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/6617, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Weiß einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 19h. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — In zweiter Lesung einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Lesung.Ich bitte, sich zu erheben, wer dem Gesetzentwurf als Ganzes zuzustimmen wünscht. — Dagegen? — Enthaltungen? — Dann kann ich feststellen, daß das Gesetz einstimmig angenommen worden ist.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19i. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6668, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Enthaltungen? — BeiEnthaltung des Abgeordneten Weiß einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19j. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 12/6437? — Dagegen? — Enthaltungen? — Dann kann ich feststellen, daß die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen ist.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19k. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 12/6576? — Dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 191, Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Richtlinienvorschlag der EU über Abfalldeponien. Sie liegt Ihnen auf Drucksache 12/6577 vor. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Sie ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 19m bis p, Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1993. Sie liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/6593 bis 12/6596 vor. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die vier Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses gemeinsam abstimmen. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann kann ich so verfahren. Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Weiß sind die Beschlußempfehlungen angenommen.Tagesordnungspunkt 19 q, Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Einfuhrliste. Dazu liegen Ihnen die Drucksachen 12/5935 und 12/6642 vor. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Weiß ist sie einstimmig angenommen.Wir kommen nunmehr zu dem langersehnten Tagesordnungspunkt 2:Fragestunde— Drucksache 12/6691 —Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf.Die Abgeordnete Siegrun Klemmer hat für die Fragen 7 und 8, Klaus Harries für die Fragen 9 und 10, Horst Kubatschka für die Frage 11 und die Abgeordnete Susanne Kastner für die Fragen 13 und 14 um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe dann die Frage 12 der Abgeordneten Monika Ganseforth auf:Wie ist der Stand der Wärmenutzungsverordnung, deren Umsetzung ein hohes CO2-Minderungspotential weitgehend betriebswirtschaftlich lohnend bewegen könnte, über die, entsprechend der Antwort auf meine Frage 50 in Drucksache 12/3656 , zum damaligen Zeitpunkt Verhandlungen innerhalb der Bundesregierung liefen, deren Verabschiedung im Kabinett Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Klaus Töpfer, vor dem Aus-
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18000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergSchuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 12. Mai 1993 für 1993 angekündigt hatte, deren Vorlage in dieser Legislaturperiode im Bericht der Bundesregierung vom 3. September 1993 zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland — Drucksache 12/5620 — zugesagt wird, was in der Antwort auf Frage 47 in Drucksache 12/5904 bestätigt wird, oder ist die Vermutung berechtigt, daß diese im Bundes-Immissionsschutzgesetz von 1985 aufgegebene Pflicht zur Verabschiedung einer Rechtsverordnung zur Wärmenutzung, die seit 1991 im Entwurf vorliegt, wegen der Widerstände innerhalb der Bundesregierung in Ankündigungen steckenbleibt?Die Beantwortung übernimmt der Staatssekretär Clemens Stroetmann.Ich hoffe, daß wir der Sache folgen können; denn es ist eine ungewöhnlich lange und — gestatten Sie mir die Bemerkung — für mich schwer verständliche Frage. Hoffentlich ist die Antwort verständlich.Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Frau Abgeordnete! Die Beratungen über den Entwurf der Wärmenutzungsverordnung sind innerhalb der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen. Insoweit ist der Sachstand unverändert.
Schwierigkeiten bereitet vor allem der Anwendungsbereich der Verordnung. Dabei geht es zuerst um die Frage, ob die Verordnung Regelungen zur optimalen Energienutzung in einer genehmigungsbedürftigen Anlage selbst enthalten soll oder ob die Verordnung auf die Nutzung von Abwärme in anderen Anlagen des Betreibers oder bei Dritten beschränkt werden sollte.
Die beteiligten Häuser bemühen sich intensiv, die noch offenen Probleme zu lösen. Ihre Vermutung, daß die Verordnung wegen der Widerstände innerhalb der Bundesregierung in Ankündigungen steckenbleiben könnte, entbehrt auch weiterhin einer Grundlage.
Eine Zusatzfrage. Bitte sehr, Frau Abgeordnete Ganseforth.
Die Länge der Frage zeigt, wie groß das Problem ist, mit dem wir uns da herumschlagen. Den Auftrag haben Sie seit 1985. Seit 1991 liegt der Entwurf vor. Sie sagen, noch in dieser Legislaturperiode sei damit zu rechnen, daß die Wärmenutzungsverordnung kommt.
Stimmen die Befürchtungen, die man in der Presse lesen kann, die auch ich teile, daß das enorme CO2-Sparpotential, das der mir bekannte Entwurf bringen würde, im Rahmen der Abstimmungen, über die Sie sprechen, reduziert werden soll, eventuell sogar bis auf die Hälfte? Oder ist damit zu rechnen, daß das Gesetz in der vorliegenden Form verabschiedet wird?
Clemens Stroetmann, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, zunächst möchte ich darauf aufmerksam machen, daß erst mit der Novelle des Bundes-Immissionsschutzgesetzes im Jahre 1990 die Wärmenutzungspflicht auf die Wärmeabgabe an Dritte ausgedehnt wurde, so daß mindestens ein Teil des Problems — wenn auch aus der Sicht des Umweltministers schon lange — erst seit diesem Zeitpunkt besteht.
Zudem will ich gerne bestätigen, daß auch wir uns wünschten, in dieser schwierigen Frage bald ein brauchbares Ergebnis vorlegen zu können. Wenn ich wüßte, auf welcher Kompromißlinie sich die Häuser am Ende verständigen würden, wäre ich heute ein gutes Stück weiter. Aber so kann ich den zweiten Teil Ihrer Frage, wieviel Reduktionspotential nachher tatsächlich mit der Wärmenutzungsverordnung gegriffen werden kann, vor Abschluß der Erörterungen innerhalb der Bundesregierung leider nicht beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete Ganseforth.
Teilen Sie die Ansicht, daß die Wärmenutzungsverordnung, wenn sie denn käme, für die Betriebe, die sie anwenden, nützlich wäre, wie es, soviel ich weiß, eine Studie ergeben hat, die im Auftrag des Bundesumweltamtes vergeben worden ist, daß die Betriebe diese Verordnung sogar von selber umsetzen, weil das so wirtschaftlich ist? Also würden Sie bestätigen, daß es nicht darum geht, die Industrie zu zwingen, irgend etwas Unangenehmes zu machen, sondern darum, wirtschaftliches Energiesparpotential auszuschöpfen?
Clemens Stroetmann, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, wir haben über das Umweltbundesamt in der Tat eine energetische Analyse in sechs Industriebetrieben vornehmen lassen. Diese Untersuchungen ergaben in allen Betrieben bislang ungenutzte wirtschaftliche Potentiale zur Reduzierung der CO2-Emissionen. Die Gründe dafür lagen vor allen Dingen in Informationsdefiziten. Wenn der Entwurf der Wärmenutzungsverordnung in den untersuchten Betrieben angewendet worden wäre, wäre die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen einschließlich der CO2-Reduktion voll gegeben.
Meine Damen und Herren, weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Hier steht uns die Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 15 der Abgeordneten Frau Gabriele Iwersen auf:
Sind die Verträge zur Beauftragung der Firma ABE mit der örtlichen Bauüberwachung von der Bundesbaudirektion „in eigener Verantwortung" abgeschlossen oder vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau geprüft und genehmigt worden?
Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin, wie ich schon in der Fragestunde am 13. Januar 1994 ausgeführt habe, schließt die Bundesbaudirektion Verträge mit freiberuflich Tätigen in eigener
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18001
Bundesministerin Dr. Irmgard SchwaetzerVerantwortung ab. Sie orientiert sich dabei an den vom Bundesbauministerium erarbeiteten Musterverträgen. In Einzelfällen wird die Auswahl von freiberuflich Tätigen mit dem Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau erörtert. In diesem Fall ist das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau über die beabsichtigte Beauftragung der Arbeitsgemeinschaft ABE informiert worden. Eine förmliche Billigung war von der Bundesbaudirektion weder beantragt, noch war sie notwendig.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Conradi.
Frau Ministerin, ist anläßlich des Vertragsabschlusses auch geprüft worden, ob das private Büro ABE, das die Bauleitung übernommen hat, im Hinblick auf den Umfang der Baumaßnahme ausreichend berufshaftpflichtversichert war?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluß der ABE, die die Bauleitung übernommen hat, ist eine Haftungssumme in Höhe von 300 000 DM Sachschaden und 1 Million DM Personenschaden festgelegt worden. Dies entsprach den damals üblichen Konditionen in den Verträgen mit freiberuflich Tätigen. Der Vertrag ist am 20. Oktober 1989 abgeschlossen worden.
Der Abgeordnete Reschke hat eine Zusatzfrage zu Frage 15. Ich bitte Sie, darauf zu achten — das ist nämlich auch für mich sehr schwierig —, daß Sie nicht Zusatzfragen stellen, die bei den späteren Fragen ohnehin beantwortet werden.
Wir bemühen uns sehr, Herr Präsident.
Meine Frage stelle ich in Ergänzung zu der Zusatzfrage des Kollegen Conradi. Wir haben gehört, 790 Millionen DM waren nicht versichert. Sie haben in der letzten Fragestunde, Frau Ministerin, darauf hingewiesen, daß Sie die Verträge weder geprüft noch eingesehen haben, die abgeschlossen worden sind, Ihr Amtsvorgänger auch nicht, auch nicht das Ministerium, und haben darauf hingewiesen, daß diese Verträge nach Richtlinien des Bundesbauministeriums abgeschlossen worden sind. Beinhalten die Richtlinien des Bundesbauministeriums diese geringen Summen, also 1: 3 000, bei einer so großen anstehenden Bausumme?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Erstens, Herr Reschke, möchte ich Sie bitten, noch einmal nachzulesen, was ich in der letzten Fragestunde exakt gesagt habe. Denn Ihre Fragestellung gibt meine Antwort nur unzureichend wieder.
Zweitens habe ich in der Tat ausgeführt — aber das kennen Sie als Baufachmann selber sehr genau —, daß diese Verträge nach Musterverträgen, die in der RBBau formuliert worden sind, abgeschlossen wurden. Darüber hinaus — davon haben Ihnen Ihre Kollegen sicher auch berichtet — hat der Bundesrechnungshof gestern im Haushaltsausschuß, unterstützt vom Vertreter des Bundesfinanzministeriums, noch einmal deutlich unterstrichen, daß diese Verträge üblich sind.
Ich habe darüber hinaus ausgeführt, daß wir dies für die Baumaßnahmen, die jetzt vor allen Dingen in Berlin anstehen, für unzureichend halten. Wir haben bereits im vergangenen Jahr mit allen Beteiligten Gespräche darüber geführt und auch schriftliche Zusagen dafür bekommen, daß wir in Zukunft bei solchen Bausummen neben der Berufshaftpflicht eine Exzedentenversicherung verlangen werden, um sicherzustellen, daß die unter Umständen in diesem Fall auftretenden Probleme in Zukunft nicht mehr auftreten können.
Dann hat der Abgeordnete Hitschler das Wort.
Frau Ministerin, können Sie ihrerseits bestätigen, daß der Bundesrechnungshof bei Abschluß solcher Verträge seinerseits in der Vergangenheit immer großen Wert darauf gelegt hat, daß die Haftungssumme begrenzt wird, weil ansonsten bei höheren Risiken natürlich auch das zu zahlende Honorar an die Firmen außerordentlich stiege?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Exakt so hat das der Vertreter des Bundesrechnungshofes gestern in der Haushaltsausschußsitzung ausgeführt.
Bitte schön, Herr Schöler.
Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, daß im Bereich des allgemeinen Wohnungsbaus, z. B. bei einem einfachen Sechsfamilienhaus, für eine Bausumme von 1,5 Millionen DM bis 2 Millionen DM weit höhere Haftungsverträge von der Bauwirtschaft bzw. von den üblichen Auftraggebern und Baugesellschaften abgeschlossen werden, als Sie es jetzt für den Schürmann-Bau in Rede bringen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, erstens, wenn Sie sagen „Sie", dann können Sie nur die Bundesbaudirektion meinen; denn sie hat diese Verträge abgeschlossen.
Zweitens, in diesem speziellen Fall geht es um Verträge mit freiberuflich Tätigen. Darauf bezieht sich diese Diskussion.
Herr Kollege Hitschler, ich kann keine Zusatzfrage von Ihnen mehr zulassen, aber eine der Frau Kollegin Albowitz.
Frau Ministerin, würden Sie bestätigen, daß nach Auskunft des Bundesrechnungshofs von gestern diese Verträge, von denen wir hier reden, 1989 abgeschlossen worden sind, also vor der
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Ina AlbowitzZeit, als Sie die Leitung dieses Hauses übernommen haben?
— Entschuldigung, Herr Conradi, ich war in einerSitzung. Ich möchte es gern noch einmal hören.Offensichtlich haben Sie das eben nicht verstanden.
Frau Abgeordnete, stellen Sie eine Frage an die Ministerin. Führen Sie aber keinen Dialog mit dem Abgeordneten Conradi!
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, ich kann es gerne noch einmal bestätigen. Es gibt Aussagen, die man offensichtlich nicht oft genug wiederholen kann, wie wir im weiteren Verlauf dieser Fragestunde noch sehen werden. Wir werden noch auf viele Dinge zu sprechen kommen, die exakt so bereits in der Fragestunde am 13. Januar gesagt worden sind.
Frau Abgeordnete Gleicke.
Frau Ministerin, mich würde interessieren, ob die Richtlinien Ihres Ministeriums in bezug auf die Verträge, die abgeschlossen werden, auf Grund des Vorfalls beim Schürmann-Bau nun verändert werden.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, ich führe gerne noch einmal aus, daß wir bereits im Sommer des vergangenen Janes vor allen Dingen in bezug auf die Großbaumaßnahmen in Berlin darangegangen sind, mit allen Beteiligten zu klären, daß der Bund in Zukunft zur Berufshaftpflicht eine sogenannte Exzedentenversicherung verlangen wird. Wir haben nicht auf diesen Fall gewartet — er ist uns dabei auch nicht in den Sinn gekommen —, sondern aus eigener Verantwortung gehandelt.
Nunmehr liegen zur Frage 15 keine Zusatzfragen mehr vor.
Frau Ministerin, wir kommen dann zur Beantwortung der Frage 16 der Abgeordneten Frau Iwersen:
Wie grenzt die Bundesbaudirektion ihre Aufgaben als „technische Aufsichtsinstanz" gegenüber den Aufgaben der örtlichen Bauleitung (Objektüberwachung nach § 15 HOAI Leistungsphase 8) ab?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, der Bundesbaudirektion obliegt, wie ich auch schon in der Fragestunde am 13. Januar 1994 ausgeführt habe, in jedem, auch im vorliegenden Falle die geschäftliche und technische Oberleitung. Die behördeninterne Organisation der Bundesbaudirektion, auf die Sie mit Ihrer Frage möglicherweise abheben, hat für das Verhältnis zu den Auftragnehmern, das sogenannte Außenverhältnis, keine Bedeutung.
Bitte schön.
Frau Ministerin, Sie haben in der Öffentlichkeit so ein klein wenig den Eindruck erweckt, als ob sich die Präsidentin der Bundesbaudirektion vor Ankunft der Flut vom perfekten Hochwasserschutz dieser Baustelle hätte überzeugen müssen. Halten Sie das für eine Aufgabe der technischen Aufsichtsinstanz?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Ich weiß nicht, aus welchen Medien oder Gesprächen Sie Ihre Eindrücke beziehen. Ich habe in der Öffentlichkeit einen solchen Eindruck nie erweckt. Wir kommen aber im Laufe dieser Fragestunde noch darauf zu sprechen, daß die Bundesbaudirektion mit den Verantwortlichen über den Hochwasserschutz diskutiert hat.
Ihre zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Ministerin, Sie werden doch aber zugeben, daß Sie der Öffentlichkeit weismachen wollten, daß die Präsidentin der Bundesbaudirektion auf Grund ihres Versagens bei diesem Hochwasserfall den Stuhl geräumt hat. Da müssen Sie doch wohl irgendwo in dem Gespräch Vorwürfe konstruiert haben.
Ich nehme an, Frau Abgeordnete, daß Sie auch auf einen ordentlichen Stil Wert legen und im Protokoll dieses „weismachen" vielleicht ein wenig umformulieren.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Also, Herr Präsident, das ist halt der Umgangsstil, den die Opposition so pflegt.
Ich kann Sie bitten, Frau Kollegin, das Protokoll der Sitzung vom 13. Januar noch einmal nachzulesen. Da finden Sie exakt formuliert und exakt dargestellt, was in der Pressekonferenz gesagt worden ist. Insofern trifft die Unterstellung, die Sie hier formuliert haben, nicht zu.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hitschler.
Frau Bundesministerin, können Sie die Gerüchte bestätigen bzw. sind diese Gerüchte auch zu Ihren Ohren gedrungen, daß die Fragen der Opposition, die heute hier gestellt werden, von der Präsidentin der Bundesbaudirektion vorformuliert wurden?
Ich lasse die Frage nicht zu, weil sie in keinem sachlichen Zusammenhang zur Frage 16 steht.
Herr Abgeordneter Reschke.
Herr Präsident, wir bedanken uns. Ich will mit Ihrer Genehmigung den Architekten zitieren, um die Frage stellen zu können. Er schreibt:
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18003
Otto ReschkeWeit größerer Schaden kommt hinzu durch ein nicht abgestimmtes Krisenmanagement.Frau Ministerin, Sie haben in der letzten Sitzung in der Fragestunde gesagt, daß Aufträge nach § 15 HOAI an die ABE vergeben worden sind, und Sie haben dann gesagt, neuerdings müssen noch weitere Aufträge vergeben werden. Welche Rolle und welche Aufgaben hatte die Projekt- oder Steuerungsgruppe oder technische Aufsichtsinstanz Diederichs & Partner, Wuppertal, und wann wurde der Auftrag vergeben? Was tut sie zur Zeit mit ihrem Vertrag, den sie von der Bundesbaudirektion hat?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Die Projektsteuerungsgruppe Diederichs & Partner nimmt die Termin- und Kostenkontrolle wahr. Das ist ein Teil der Leistungsbeschreibung nach § 15 der HOAI. Der Vertrag ist am 2. Juli 1987 abgeschlossen worden.
Herr Abgeordneter Reschke — und das meine ich jetzt noch einmal sehr ernst an alle Beteiligten —: Ich war nicht intelligent genug, zu begreifen, wo der Sachzusammenhang zur Frage 16 liegt. Sie können mich später darüber aufklären.
— Später, nicht jetzt. Ich bitte nur, sehr darauf zu achten, daß die vorbereiteten Fragen den jeweiligen Fragen auch zugeordnet werden.
Abgeordneter Conradi.
Frau Ministerin, durch die Verwendung des Begriffs „technische Aufsichtsinstanz", den Sie in der letzten Fragestunde eingeführt haben, ist der Eindruck entstanden, als wäre die Bundesbaudirektion an der örtlichen Bauüberwachung beteiligt. Der Rechnungshof hat dagegen festgestellt, daß die Bundesbaudirektion ausschließlich Bauherrenfunktion hatte und daß sich der Begriff „technische Aufsichtsinstanz" auf die bauaufsichtlichen Zuständigkeiten der Bundesbaudirektion im Rahmen der Bauordnung Nordrhein-Westfalens bezieht, also mit der örtlichen Bauleitung überhaupt nichts zu tun hat.
Können Sie hier bestätigen, daß der Begriff „technische Aufsichtsinstanz" nicht in die Zuständigkeit des mit der Bauleitung beauftragten Büros hineingreift?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Abgeordneter Conradi, die interne Organisation der Bundesbaudirektion ist Ihnen bekannt. Ich kann nur noch einmal unterstreichen: Die Aufgabe der Bundesbaudirektion ist in diesem Fall die technische und die geschäftliche Oberleitung. Auf nichts anderes habe ich mich in meinen Antworten am 13. Januar bezogen.
Ich rufe die Frage 17 der Abgeordneten Frau Iris Gleicke auf:
Trifft es zu, daß das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau einen Baustopp für den gesamten Schürmann-Bau erlassen hat mit der Folge, daß Aufräumungsarbeiten, das Abpumpen des Wassers in den Untergeschossen, die Fortsetzung der Bauarbeiten an den unbeschädigten Bauteilen nicht möglich sind?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Abgeordnete, das trifft nicht zu. Das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat keinen generellen Baustopp erlassen.
Die Bundesbaudirektion hat am 3. Januar 1994 die bauausführenden Firmen aufgefordert, die Bauarbeiten auf der Baustelle bis Ende Februar 1994 zu unterbrechen, um zusätzliche finanzielle Belastungen zu vermeiden, wie es auch der Haushaltsausschuß in seiner Sitzung am 12. Januar 1994 verlangt hat.
Das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat die Bundesbaudirektion inzwischen angewiesen, diese Unterbrechung bis Ende März 1994 zu verlängern
sowie grundsätzlich auch die anderen Bau- sowie die Planungsleistungen zu unterbrechen.
Von dieser Unterbrechung sind Leistungen ausgenommen, die zur Sicherung der Baustelle — u. a. Aufräumarbeiten — sowie zur Planung und Durchführung der Maßnahmen erforderlich sind, die vor einer Entscheidungsfindung erfolgen müssen, also z. B. die Vorbereitung und Durchführung des Lenzens mit gleichzeitiger Absenkung des Gebäudes in seine ursprüngliche Lage sowie die Bauplanung, Kostenberechnung und Terminplanung für eine eventuelle Sanierung der Hochwasserschäden.
Eine Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Abgeordnete Gleicke.
Frau Ministerin, mich interessiert, wann sie die Anordnung auf ein Beweissicherungsverfahren erteilt haben und auf Grund welcher Informationen.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Die Anordnung, ein Beweissicherungsverfahren einzuleiten, habe ich am 6. Januar erteilt, nachdem ich erfahren habe, daß ein Teil des vorgesehenen Hochwasserschutzes nicht fertiggestellt war.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Abgeordnete Gleicke.
Gibt es Informationen oder haben Sie überschlägliche Berechnungen, wieviel dieser Stillstand, der von vornherein vereinbart war bzw. jetzt durch das Beweissicherungsverfahren auf der Baustelle eingetreten ist, kostet?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Das von Ihrem Kollegen eben schon angeführte Büro Diederichs & Partner, das für die Termin- und Kostenkontrolle zuständig ist, hat die Stillstandskosten für den ersten Monat auf die Höhe von überschläglich 7,6 Millionen DM beziffert.
Herr Abgeordneter Conradi bitte sehr.
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18004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Angesichts der Tatsache, Frau Ministerin, daß neue Jahrhunderthochwasser nicht erst in 100 Jahren, sondern schon nächste Woche kommen können, ist es schwer verständlich, daß ein unzureichender Hochwasserschutz in der Zwischenzeit nicht längst in Arbeit ist, d. h. daß Ihr Ministerium nicht die notwendigen Maßnahmen eingeleitet hat, um das Bauwerk vor einem neuen Hochwasser zu schützen. Was sagen Sie dazu?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege Conradi, Ihre Forderung, daß wir den Hochwasserschutz hätten fertigstellen sollen, könnte die Vermutung zulassen, daß wir Beweise vernichten sollten.
Ich habe Ihnen oder vielleicht Ihrem Kollegen auf entsprechende Fragen bereits in der Fragestunde am 13. Januar geantwortet, daß selbstverständlich geprüft werden muß, wie die Baustelle für das Frühjahrshochwasser gesichert werden kann. In dieser Woche sind konkrete Diskussionen dazu geführt worden, wie die Vorbereitungen auf die Frühjahrsschmelze genau getroffen werden sollen.
Frau Abgeordnete Iwersen.
Frau Ministerin, haben Sie sicherstellen lassen, daß ein ausreichender Witterungsschutz bei den aufgehenden Bauwerken, die schon vorhanden sind, durchgeführt wird, damit nicht noch weitere Schäden eintreten?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, ich habe im Moment einige Schwierigkeiten, zu begreifen, was Sie mit Bedrohungsschutz meinen. Vielleicht können Sie das noch etwas erläutern.
— Vielleicht habe ich das akustisch nicht verstanden. Sie wissen ja, wie fabelhaft die Akustik hier ist.
Ich weiß, sie ist „hervorragend". Darum konnte man Sie am Anfang, als Sie mit Ihren Antworten begonnen haben, leider auch nicht verstehen.
Ich habe gefragt, ob die Baustelle ausreichend wetterfest gemacht worden ist.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, ich halte es für selbstverständlich. daß bis zum Tätigwerden der Sachverständigen auf der Baustelle dort keine größeren Veränderungen vorgenommen werden. Sie bergen immer die Gefahr in sich, daß Beweise vernichtet werden können. Deswegen haben wir so großen Wert darauf gelegt, daß das Beweissicherungsverfahren nicht nur zügig eingeleitet wird, sondern auch darauf, daß die Verfügung des Gerichts über die Einsetzung der Sachverständigen möglichst rasch erfolgt. Das ist inzwischen geschehen. Nun muß die Aufnahme der Schäden an der Baustelle zur Beweissicherung zügig vorangehen. Das Gericht hat in seiner Verfügung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Zeit dazu drängt.
Herr Abgeordneter Reschke.
Herr Präsident, in dem Zusammenhang stelle ich die Frage: Frau Ministerin, Sie haben angekündigt, sich am 6. Januar für ein Beweissicherungsverfahren entschieden zu haben. Am 11. Januar, so konnte ich nachlesen, haben Sie es öffentlich angekündigt. Am 14. Januar haben Sie es geschrieben, so wie Sie es mir mitgeteilt haben. Auf Grund einer Nachrichtenmeldung stelle ich fest, daß der Eingang beim Landgericht Bonn am 17. Januar war. Ich weiß aber, daß eine Rohbaufirma, die beschuldigt worden ist, schon am 12. Januar 1994 ein Beweissicherungsverfahren beim Landgericht beantragt hat. Gegen wen richtet sich das Beweissicherungsverfahren? Richtet sich dieses etwa gegen das Bauministerium, weil schon relativ früh Schuldige in der Öffentlichkeit genannt worden sind?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, erstens möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es für einen Minister nicht möglich ist, alles selbst zu tun. Daher ist das Beweissicherungsverfahren von der Bundesbaudirektion beantragt worden.
Zweitens. Das Beweissicherungsverfahren richtet sich in seinem ersten Antrag gegen 19 am Bau beteiligte Firmen und Firmengruppen. Das gibt einen deutlichen Hinweis darauf, was in der Vorbereitung dieses Beweissicherungsverfahrens alles zu prüfen war, um entsprechende Fragen zu formulieren.
Ich habe in der Fragestunde am 13. Januar 1994 ebenfalls ausgeführt, daß ein solches Beweissicherungsverfahren natürlich substantiiert vorgebracht werden muß, d. h. daß sehr präzise Fragen formuliert werden müssen. Deswegen ist ein gewisser Vorlauf notwendig. Entscheidend ist, daß der Beschluß des Gerichts ergangen ist und die Sachverständigen benannt sind, so daß die Beweisaufnahme bereits erfolgen kann.
Es tut mir leid, Herr Abgeordneter Reschke. Ihr Fragerecht ist verbraucht.
Der Abgeordnete Großmann ist der nächste, der fragen möchte. Ich erteile ihm das Wort.
Frau Ministerin, wie hoch sind die Schäden, die dadurch entstehen, daß seit Wochen aggressives Rheinwasser in den Untergeschossen steht?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, die Art und Weise, wie die Opposition ihre eigene Argumentation verändert, finde ich schon sehr beeindruckend. Ich möchte auch Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß ich ebenfalls
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18005
Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer— wenn ich es richtig im Kopf habe, unter Unmutsbezeugungen aus Ihrer Fraktion — ausgeführt habe, daß rasches Handeln an der Baustelle erforderlich ist, weil uns unsere Schadensminderungspflicht natürlich auferlegt, möglichst schnell die Vorbereitungen dafür zu schaffen, daß gelenzt werden kann. Dies haben wir unverzüglich getan. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß Erörterungen über konkrete Terminpläne und technische Pläne in dieser Woche erfolgt sind.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Frage noch einmal durchlesen würden. Sie wäre an anderer Stelle besser anzubringen gewesen.
Frau Abgeordnete Gleicke hat das Wort zu einer Zusatzfrage.
Sie haben davon gesprochen, Frau Ministerin, daß das Beweissicherungsverfahren gegen 19 Firmen eingeleitet ist. Entspricht es der Tatsache, daß eine der beschuldigten Rohbaufirmen ebenfalls ein Beweissicherungsverfahren angestrengt hat? Gegen wen richtet sich dieses Beweissicherungsverfahren?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Meine Information ist in der Tat, daß es ein Beweissicherungsverfahren gegen den Auftraggeber gibt.
Das ist in solchen Fällen das ganz Normale und Übliche.
Jetzt hat der Abgeordnete Hitschler das Wort.
Frau Ministerin, beabsichtigen Sie, das Abpumpen aus dem Gebäude und zwischen Schlitzwand und Gebäude ohne vorherige ausdrückliche Zulassung der im gerichtlichen Beweissicherungsverfahren tätigen Sachverständigen zu veranlassen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Nein, Herr Kollege, es ist ganz selbstverständlich, daß alles das, was an Arbeiten an der Baustelle auszuführen ist, ausschließlich in Abstimmung mit den vom Gericht beauftragten Sachverständigen durchgeführt wird.
Herr Abgeordneter Schöler.
Frau Ministerin, ich frage Sie, ob das Beweissicherungsverfahren von Anfang an die von der Firma Philipp Holzmann erstellten Schlitzwände umfaßt hat.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Nein, Herr Kollege, das Beweissicherungsverfahren gegen die Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft, die die Schlitzwand erstellt hat, ist erst später angefügt worden.
Die Begründung dafür ist sehr einfach. Wir hatten
ausgeführt, daß sich die Fragen, die zu formulieren
sind, auf die Firmen bezogen, die an anderen Gewerken und Teilen beteiligt gewesen sind, nicht an der Schlitzwand. Bis zum Montag — ich glaube, es war der 17.;
nein, der 17., Herr Kollege — war der Informationsstand aus unserem Büro für Kosten- und Terminkontrolle, daß die Gewährleistungsfrist für die Schlitzwand bereits abgelaufen sei, auch für die Teile der Schlitzwand, die nachgebessert worden sind. Insofern ergab sich nach diesem Wissensstand keinerlei Möglichkeit, ein Beweissicherungsverfahren einzuleiten. Erst die Information darüber, daß es offensichtlich Abrechnungsprobleme in bezug auf die Schlitzwand gab, eröffnete die Möglichkeit, auch in diesem Punkt ein Beweissicherungsverfahren einzuleiten. Das ist unverzüglich geschehen.
Wir kommen nunmehr zur Beantwortung der Frage 18 der Abgeordneten Frau Iris Gleicke.
Welche Konsequenzen hat das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau gegenüber der mit der Bauleitung beauftragten privaten Firma ABE wegen der baulichen Abnahme einer tatsächlich nicht erbrachten Bauleistung gezogen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat beim Landgericht Bonn am 14. Januar ein selbständiges Beweisverfahren gegen die mit der Bauleitung beauftragte Arbeitsgemeinschaft ABE sowie andere an der Baumaßnahme Beteiligte beantragt.
Zusatzfrage? — Herr Abgeordneter Conradi.
Trifft es zu, Frau Ministerin, daß der Chef der Bauverwaltung, der Leiter der Abteilung Bau, Ihnen vorgeschlagen hat, mit der weiteren Projektsteuerung eine Firma zu beauftragen, die an der Herstellung der Schlitzwände beteiligt war?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, vor der Beauftragung einer Firma mit der Vorbereitung der weiteren Arbeiten, die zur Schadensminderung und Sicherung der Baustelle notwendig sind, sind eine Fülle von Gesprächen mit unterschiedlichen Firmen, Firmengruppen und Ingenieurbüros geführt worden. Darunter befand sich auch die Firma, über die, auf welchen Kanälen auch immer, in der Öffentlichkeit bereits berichtet worden war. Abgeschlossen worden ist ein solcher Vertrag mit der Firma Obermeyer, München.
Zusatzfrage des Abgeordneten Reschke.
Frau Ministerin, das steht ein Stückchen im Gegensatz zu einer Äußerung, die Sie in
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18006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Otto Reschkeder Nachrichtensendung „RTL aktuell" am 21. Januar 1994 getätigt haben.
Dort haben Sie gesagt — ich gebe es jetzt frei wieder —: Nach anfänglichen Verhandlungen, nachdem bekannt wurde, daß die Firma an der Erstellung der äußeren Pfahlgründungen beteiligt war, sind die Verhandlungen mit dieser Firma abgebrochen worden.Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, darin war wieder eine Unterstellung, die absolut unzutreffend ist, nämlich die Aussage, warum die Verhandlungen abgebrochen wurden. Wir haben mit dieser Firma keine Gespräche mehr geführt, nachdem bekanntgeworden ist, daß es Abrechnungsprobleme mit der Schlitzwand gegeben hat.
Daneben und auch im weiteren Verlauf haben wir mit einer ganzen Reihe anderer Firmen, Firmengruppen und Ingenieurbüros Gespräche geführt.
Weitere Zusatzfragen werden zu Frage 18 nicht gestellt. Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Peter Conradi auf:
Wer hat am Gespräch der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau mit der Präsidentin der Bundesbaudirektion am 11. Januar 1994 teilgenommen, und wann ist das von der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in der Fragestunde am 13. Januar 1994 (vgl. Stenographischer Bericht der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages, S. 17465 ff.) erwähnte Protokoll angefertigt und unterzeichnet worden?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, haben Sie bitte Verständnis dafür, daß ich über das hinaus, was ich in der Fragestunde am 13. Januar 1994 zum Ergebnis des Gesprächs ausgeführt habe, in der Öffentlichkeit keine Auskunft geben kann. Dies ist generell nicht üblich.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Conradi.
Frau Ministerin, Sie haben uns in der Fragestunde am 13. Januar geantwortet: „Ich habe sie — die Präsidentin der Baudirektion — gefragt, was ich mit dieser Mitteilung machen solle. Daraufhin hat sie gesagt, das sei selbstverständlich auf der Pressekonferenz auch mitzuteilen. " Weiter haben Sie gesagt: „Darüber gibt es selbstverständlich ein Protokoll. "
Daß Sie uns das Protokoll nicht vorlegen, ist verständlich, weil es eine interne Sache ist. Aber ich frage Sie: Wann ist das Protokoll erstellt worden, nachdem die Präsidentin — sie müßte ja auch mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn sie Ihnen empfohlen hätte, im Zusammenhang mit dem Hochwasserschaden ihr Weggehen zur Universität Darmstadt bekanntzugeben — bestreitet, ein Protokoll unterzeichnet zu haben? Und sie bestreitet auch diese Äußerung.
Ich frage Sie jetzt erneut: Wann ist das Protokoll gemacht, und von wem ist es unterzeichnet worden?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, eine zweiteilige Antwort: Erstens, es gibt einseitige und zweiseitige Protokolle. Ich habe nie behauptet, daß dieses ein solches sei, dem sie zugestimmt hat.
Sie können es auch als Gesprächsnotiz oder als Ergebnisaufzeichnung bezeichnen.
Welcher Begriff dafür gewählt wird, Herr Kollege, ist ja wohl wirklich von völlig untergeordneter Bedeutung.
Darüber hinaus wird die Präsidentin der Bundesbaudirektion kaum bestreiten, daß sie mich gebeten hat, noch nicht mitzuteilen, daß sie beabsichtigt, an die Universität Darmstadt zu gehen. Das wird sie wohl nicht bestreiten.
Ich habe es doch nicht gesagt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reschke.
Frau Ministerin, Sie haben mir am 17. Januar in einem Schreiben mitgeteilt, daß Sie ein Protokoll erstellt haben, und Protokollbestandteil sei auch dieses Personalgespräch, von dem wir laufend reden und worüber wir informiert werden müssen.
Ich frage Sie deshalb allen Ernstes: Ist dieses Protokoll mit Frau Jakubeit abgestimmt worden? Das würde ich gern dezidiert wissen; sonst gehe ich jetzt mal den Schritt, Frau Jakubeit anzuschreiben, um informiert zu sein. War dieses Gespräch mit Frau Jakubeit ein Personalgespräch, ein Gespräch über ihre Entbindung von bestimmten Aufgaben? Oder war es ein Gespräch zur Erörterung von Sachfragen im Zusammenhang mit — ich sage immer noch — der Hochwasserkatastrophe?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, es ist absolut unüblich, über Gespräche mit Mitarbeitern in der Öffentlichkeit Auskunft zu geben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18007
Bundesministerin Dr. Irmgard SchwaetzerDa Sie den Eindruck erwecken, daß Sie von anderer Seite aus deren Sicht sehr detailliert darüber informiert worden sind, möchte ich mich trotzdem im Interesse der Vertraulichkeit von Personalgesprächen in der öffentlichen Verwaltung enthalten, hier weitere Aussagen zu machen.
Ich darf feststellen, daß es keine weitere Zusatzfrage zu Frage 19 gibt. Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Peter Conradi auf:
Wie ist die Äußerung der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom 13. Januar 1994 „Ich kann niemand vorwerfen, aus zeitlichen Zusammenhängen irgendwelche Schlußfolgerungen zu ziehen, die ich nicht gemacht habe" angesichts der Tatsache zu verstehen, daß die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in ihrer Pressekonferenz und das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau selbst in seiner Ergänzung zur Pressemitteilung 1/94 den Zusammenhang zwischen den Hochwasserschäden am Schürmann-Bau und dem Weggang der Präsidentin der BBD hergestellt hat?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ein solcher Zusammenhang ist nicht hergestellt worden. Im übrigen verweise ich auf meine Ausführungen in der Fragestunde am 13. Januar 1994. Meine Äußerung bedarf keiner Interpretation.
Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Nach dem Wortlaut des Mitschnitts Ihrer Pressekonferenz haben Sie, Frau Ministerin, unter „Konsequenzen der Hochwasseraffäre" angekündigt, Frau Barbara Jakubeit werde weggehen. Ich frage Sie: Wer hat die Ergänzung zur Pressemitteilung 1/94, die genau dies sagt — „Die Präsidentin der Bundesbaudirektion, Barbara Jakubeit, legt ihre Aufgaben nieder" —, angeordnet?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, im Zweifelsfalle bin für Presseerklärungen ich zuständig. Ich sehe darin auch überhaupt kein Problem.
Sie haben eben gesagt, Frau Ministerin, es sei nicht üblich, aus Personalgesprächen öffentlich zu berichten. Das haben Sie bei der letzten Frage hier wörtlich gesagt. Sie selbst haben unmittelbar nach diesem Gespräch auf einer Pressekonferenz den Zusammenhang mit der Hochwasserkatastrophe hergestellt und eine Pressemitteilung nachgeschoben. Wie soll ich denn das verstehen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ich empfehle Ihnen, Ihre eigenen Fragen in der Fragestunde vom 13. Januar nachzulesen
und meine Antworten darauf.
Das, was Sie heute fragen, haben Sie auch damals exakt so gefragt. Es ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Das Gespräch hat so stattgefunden. Frau Jakubeit hat ihre Zustimmung erteilt, daß ich die Tatsache ihres Weggangs zum 1. Oktober in der Öffentlichkeit bekanntgeben kann. Sie hat mich darum gebeten, nicht bekanntzugeben, wohin sie geht. So ist das.
Herr Abgeordneter Reschke.
Frau Ministerin, ich lese Ihnen einen Vermerk Ihres Abteilungsleiters B vom 17. Januar vor, und zwar unter „Auftrag":
Frau Ministerin hat die Präsidentin der Bundesbaudirektion am 30. 01. 1994 von der Verantwortung für die obige Baumaßnahme mit sofortiger Wirkung entbunden.
Meine Frage ist: Haben Sie dieses Vorhaben in der Pressekonferenz am 11. Januar und in der Fragestunde am 13. Januar bewußt verschwiegen, um den Eindruck, von dem Sie sagen, daß „ihn andere gewonnen hätten", entstehen zu lassen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, Ihre Frage ordnet sich nahtlos in alles das ein, was ich bereits am 13. Januar ausgeführt habe. Da ist überhaupt nichts Neues. Das einzige, was neu ist, ist, daß sich offensichtlich, von wem auch immer, Mitarbeiterin oder Mitarbeiter, interne Vermerke in der Öffentlichkeit wiederfinden. Dieses Maß an Illoyalität finde ich schon bemerkenswert.
Herr Abgeordneter Reschke, Sie dürfen stehenbleiben, denn als nächstes kommt Ihre Frage 21, die die Ministerin beantworten will:
Auf welche Gesellschaft des privaten Rechts wurde die Bauangelegenheit „Schürmann-Bau" übertragen, und wann wurde das erforderliche Einvernehmen hergestellt?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, eine Übertragung der Bauangelegenheit „Schürmann-Bau" auf eine Gesellschaft des privaten Rechts hat in Anbetracht der geltenden Rechtslage nicht stattgefunden und war nie beabsichtigt.
Eine Zusatzfrage? — Herr Abgeordneter Reschke, Sie nicht, dann Herr Abgeordneter Conradi, bitte.
Haben Sie einmal mit dem Architekten Schürmann, dessen Name ja in der gan-
18008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208 Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Peter Conradi
zen Bundesrepublik durch diese Sache ins Gespräch gekommen ist, über die weitere Abwicklung dieses Baus, insbesondere über die Projektsteuerung, und auch darüber gesprochen, wie man eine Schadensminderung vornehmen kann und was weiter geschehen soll?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, der Zwischenruf des Kollegen Hirsch macht das schon deutlich, und Sie kennen auch die Antwort darauf, die bereits gestern gegeben worden ist:
Krisenmanagement — und die Einschaltung dieser Ingenieurfirma gehört zum Krisenmanagement — wird sicherlich nicht mit denjenigen abgestimmt, gegen die ein Beweissicherungsverfahren eingeleitet ist.
Abgeordneter Reschke.
Frau Ministerin, ich würde gern wissen, wer gemäß § 3 des Gesetzes über die Bundesbauverwaltung zur Zeit Bauherr dieses Gebäudes ist, wer als Bauherr gemäß § 3 Abs. 4 des Gesetzes über die Bundesbauverwaltung die Verantwortung dafür trägt, wenn bestimmte Bauleistungen, die in der Obhut der Bundesbaudirektion liegen, dieser entzogen und privat vergeben werden, und wer das Einverständnis des Verfassungsorgans, wie das Gesetz es fordert, herbeiführt.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, Sie kennen das Gesetz über die Bundesbauverwaltung, und Sie wissen, daß die technische und geschäftliche Oberleitung nach diesem Gesetz zwangsläufig — das ist die Rechtslage — bei der Bundesbaudirektion verbleibt.
Einen Moment! Der Abgeordnete Reschke hat noch eine Zusatzfrage. Wenn er die nutzen will, dann müssen wir ihn erst einmal berücksichtigen. — Danke schön.
Selbstverständlich habe ich noch eine Frage frei. Deshalb frage ich: Was haben Sie der Bundesbaudirektion dann weggenommen, Frau Ministerin, und vergeben?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, wir haben weitergeführt, was zwischen der
Bundesbaudirektion und dem Bauministerium bereits im Sommer 1992 — als es darum ging sicherzustellen, der uns allen bekannten Personalknappheit des Sachgebiets für den Schürmann-Bau durch interne Organisationsmaßnahmen entgegenzuwirken — diskutiert worden ist, nämlich einen Projektsteuerer mit Bauherrenfunktionen zu beauftragen.
Abgeordneter Großmann.
Frau Ministerin, wenn, wie Sie in der vorletzten Antwort gesagt haben, ein Teil der Bauleitung — wie man sie auch nennt; „Rohbauleitung" oder wie auch immer — bei der Bundesbaudirektion verbleibt, wie habe ich es dann denn zu verstehen, daß bei den Begehungen der Baustelle im Anschluß an das Hochwasser der zuständige Abteilungsleiter der Bundesbaudirektion ausgeschaltet wurde
und alle Maßnahmen nur noch von Herrn Staatssekretär Loewenich geführt werden?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, der Begriff, den Sie verwendet haben, ist im Dienstrecht absolut unüblich. Es ist richtig, daß ich Herrn Staatssekretär von Loewenich beauftragt habe, alle notwendigen Maßnahmen zu koordinieren, zu überwachen und dafür zu sorgen, daß sie zeitgerecht und zügig getroffen werden.
Herr Abgeordneter Conradi, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß das eine Meldung für die Frage 22 ist; denn das Recht für Frage 21 hatten Sie verwirkt.
Wir kommen nun zur Beantwortung der Frage 22 des Abgeordneten Reschke:
Trifft es zu, daß die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau mit der weiteren Projektsteuerung für den Schürmann-Bau eine Baufirma beauftragt hat, die die Schlitzwände und die Wasserhaltung für diesen Bau errichtet hat, und daß diese trotz eines Hinweises der Bundesbaudirektion auf die Folgen der Beauftragung einer möglicherweise an den Schadensursachen beteiligten Firma für die gerichtliche Beweisermittlung geschehen ist?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege: Nein.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reschke.
Ich zitiere noch einmal aus diesem Vermerk vom 17. Januar: Auf Vorschlag von Abteilungsleiter B erklärte sich Frau Ministerin damit einverstanden, am 14. Januar 1994 mit der Philipp Holzmann AG in entsprechende Verhandlungen einzutreten, da Gefahr im Verzuge war.Meine Frage daraufhin, Frau Ministerin: Haben Sie angewiesen, mit der Firma Holzmann zu verhandeln, oder haben Sie selbst mit der Firma verhandelt, und welche Verhandlungen wurden anläßlich der Baustellenbesichtigung mit Staatssekretär Günther geführt?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18009
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ich kann nur noch einmal wiederholen, was ich soeben schon gesagt habe: Es sind mit vielen Firmen Gespräche geführt worden. Beauftragt worden ist die Firma Obermeyer, München.
Herr Abgeordneter Reschke, Sie haben die Möglichkeit zu fragen.
Frau Ministerin, ist es wahr, daß der von Ihnen beauftragte Staatssekretär Loewenich in naher Zukunft das Bauministerium verlassen wird?
Den Zusammenhang mit der Frage 22 kann ich wirklich nicht erkennen, Herr Abgeordneter Reschke.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Außerdem wird der Kollege von Loewenich bis zu seinem Ausscheiden natürlich mit voller Kraft im Bauministerium arbeiten. Das ist doch wohl klar.
Herr Abgeordneter Conradi hat jetzt die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Aus welchem Grund, Frau Ministerin, ist die Wahrung der Rechtspositionen des Bundes im Zusammenhang mit der Projektsteuerung und mit der Beweissicherung nicht dem bisher damit beauftragten Bonner Rechtsanwaltsbüro, sondern einer Münchener Anwaltskanzlei übertragen worden, und ist geprüft worden, ob im Zusammenhang mit dieser Anwaltskanzlei Mandantenverpachtungen zu befürchten sind?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Conradi ist ja an allen Entscheidungen, die den Schürmann-Bau betreffen, in der Vergangenheit wesentlich intensiver beteiligt gewesen, als ich das gewesen bin, weil ich einfache Abgeordnete war.
Herr Kollege, wir haben ein ausgewiesenes Rechtsanwaltsbüro mit der juristischen Beratung des Bauministeriums beauftragt. (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: In München
gibt es noch den Rechtsanwalt Schily; vielleicht wäre der Ihnen recht! — Peter Conradi
[SPD]: Es gibt ein Rechtsanwaltsbüro in
Bonn, das das bisher gemacht hat, und die
Frage war, warum es nicht mehr beauftragt
wird!)
Nun hat der Abgeordnete Hitschler die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Frau Ministerin, nachdem der Kollege Reschke eben erstaunlicherweise seine Quelle bekanntgegeben hat — er hat nämlich aus einem Vermerk eines Sachgebietsleiters der Bundesbaudirektion zitiert, frage ich, ob das ein einseitiges oder ein zweiseitiges Protokoll war und ob Ihnen dieser Vermerk des Sachgebietsleiters, in dem Sie ja zitiert werden und in dem eine Zustimmung von Ihnen signalisiert wird, bekanntgeworden ist oder ob das nur ein interner Vermerk der Bundesbaudirektion war, der nur der Opposition, aber nicht Ihnen zugegangen ist.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, dieser Vermerk aus dem Sachgebiet der Bundesbaudirektion liegt mir selbstverständlich jetzt auch vor, nicht nur der Opposition, aber es befinden sich auch interne Vermerke der Bundesbaudirektion im Umlauf, die offensichtlich nicht für das Bauministerium bestimmt waren.
Auf so ein Geschäft kann ich mich nicht einlassen, Herr Reschke. Suchen Sie sich eine Möglichkeit bei der Frage 23 des Abgeordneten Großmann:Wer ist mit der Führung bzw. Auswertung des Bautagebuches zum Schürmann-Bau befaßt, und wann hat das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau das Bautagebuch angefordert, um die Vollständigkeit der Hochwasserschutzmaßnahmen in der seinerzeitigen Bauphase zu prüfen und um den Sachstand in die Maßnahmen zur Gefahrenabwehr miteinzubeziehen?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Die Arbeitsgemeinschaft AWE ist mit der Objektüberwachung beauftragt. Zur ihren Aufgaben gehört unter anderem, das Bautagebuch zu führen.Die bauausführenden Firmen und die mit der Objektüberwachung beauftragte Arbeitsgemeinschaft AWE sind für die Vollständigkeit der Bauausführung zuständig. Die Bundesbaudirektion kontrolliert in Stichproben.Es ist nicht Aufgabe des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, den Prüfungen im einzelnen nachzugehen. Das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat das Bautagebuch zur Verwendung bei rechtlichen Auseinandersetzungen nach dem Schadensereignis eingezogen.
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18010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Großmann.
Wer hat denn im Bundesbauministerium mit welchem zeitlichen Engagement in der Vergangenheit dafür gesorgt, daß man weiß, wie es um den Schürmann-Bau steht? Das heißt, wer trägt verantwortlich beim BMBau dafür Sorge, daß die Kommunikation und das Management stimmen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, es finden im Bundesbauministerium jeden Montag Besprechungen mit der Bundesbaudirektion über alle anstehenden Probleme statt. Dieses halte ich für völlig selbstverständlich.
Darüber hinaus sind eine ganze Reihe von Mitarbeitern kontinuierlich mit Fragen beschäftigt, die den Schürmann-Bau betreffen. Für einzelne Probleme können Fachfragen auftreten, und das ist die übliche Wahrnehmung der Fachaufsicht und der Dienstaufsicht.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Sicherlich ist es schwierig, von dem parlamentarischen Recht der Fragestunde Gebrauch zu machen, wenn Fragen laufend nicht richtig oder überhaupt nicht beantwortet werden.
Ich bitte Sie, sich auf die Frage zu konzentrieren. Wir haben das bis jetzt ganz ordentlich über die Runden gebracht, und jetzt wollen wir uns den Knatsch am Ende ersparen.
Ich denke, daß man zulassen muß, daß ein Abgeordneter darüber Klage führt, daß hier Fragen permanent nicht beantwortet werden.
Frage an Sie, Frau Ministerin: Wer ist im Leitungsbereich zuständig für den Schürmann-Bau? Ich habe nicht gefragt, wer alles im Bauministerium arbeitet, sondern wer dafür Verantwortung trägt.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, als erstes möchte ich Sie fragen— dies ist eine rhetorische Frage, weil ich Ihnen natürlich keine Frage stellen kann; aber vielleicht macht das einmal deutlich, in welcher Richtung die Opposition diese Fragestunde zu gestalten versucht —, ob Sie am 2. Januar 1994 eine Dreiviertelstunde oder eine Stunde und fünf Minuten zu Mittag gegessen haben—weil Sie eben danach gefragt haben: Wie lange?
Zweitens. Die Dienstaufsicht wird in der Abteilung Z wahrgenommen, die Fachaufsicht in der Abteilung B. Sie kennen die Herren, die diesen Abteilungen vorstehen.
Herr Abgeordneter Großmann, wollen Sie noch eine Zusatzfrage stellen?
Ich bin im Moment überfordert, Z und B Namen zuzuordnen. Von daher ist es doch nicht schlimm, wenn man — —
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Ich will gerne noch ein wenig spezifischer werden: Die Abteilung Z ist die Zentralabteilung. Dort werden u. a. die innere Verwaltung, aber auch die Dienstaufsicht genauso wie die Personalangelegenheiten und der Haushalt behandelt. „B" ist die Abkürzung für die Abteilung Bauwesen.
Nun ist der Abgeordnete Reschke berechtigt, eine Frage zu stellen.
Herr Präsident, gestatten Sie mir die Bemerkung, daß ich eben gelernt habe, daß Fragen zugelassen werden, aber nicht zur Beantwortung zugelassene Fragen bedeuten Fragenverbrauch. So habe ich Sie vorhin verstanden. Es gibt ja auch Nachhilfestunden, denen ich unterliege.
Zweiter Punkt. Frau Ministerin, ich frage Sie: Ist Ihnen Ihr Schreiben vom 26. Januar — ich habe die Durchschrift davon — und ein Schreiben ALB vom 17. Januar 1994 bekannt? Dann wäre es sicherlich interessant, den Kollegen Hitschler aufzuklären, daß dies keine Unterlage der Bundesbaudirektion ist. Und ist dieses Schreiben — ich zitiere — vom 26. Januar — da geht es um die Frage Dienstaufsicht Schürmann-Bau — mit dem Vermerk ALB vom 17. Januar 1994 Grund gewesen, den Abteilungsleiter B abzulösen und dem Staatssekretär insgesamt die Fach- und Dienstaufsicht für alle Fragen Schürmann-Bau zu unterstellen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, es ist mir nicht ganz klar ersichtlich, wieso Sie zu Ihrer Frage kommen. Ein Staatssekretär löst keinen Abteilungsleiter ab, sondern es ist hier wegen der internen Organisationsabläufe klargemacht worden, daß der Staatssekretär von Loewenich alle Fragen des Schürmann-Baus — auch mit dem Ziel, jederzeit und schnellstmöglich handlungs- und aktionsfähig zu sein — wahrnimmt.
Im übrigen, Herr Kollege, haben Sie eben selber aus einem internen Vermerk — das haben Sie wenigstens gesagt — der Bundesbaudirektion zitiert.
Herr Abgeordneter Reschke, lesen Sie bitte die Frage 23 noch einmal durch!
Jetzt kommt der Abgeordnete Hitschler.
Nachdem die Opposition gegenwärtig etwas überfordert zu sein scheint, stelle ich die Frage, Frau Minister, wie viele Personen denn insgesamt in der Bundesbaudirektion mit der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18011
Dr. Walter HitschlerAufgabe der Überwachung des Schürmann-Baus beschäftigt waren, und hat dieser Personalbestand auch den Richtlinien entsprochen, die für die Bemessung der Tätigkeiten da zu Grunde zu legen sind?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege Hitschler, der Personalbestand des Sachgebietes, das für den Schürmann-Bau zuständig war, betrug im Jahre 1992 14 Mitarbeiter, zu Beginn des Jahres 1993 16 Mitarbeiter. Zum Ende des Jahres war der Stellenbestand — u. a. durch die Tatsache, daß zusätzliche Stellen bewilligt worden waren — von 16 auf 24,5 angewachsen. Das lag deutlich über der Zahl, die mit dem 1989 eingeführten Personalbemessungsverfahren für dieses Sachgebiet vorgesehen war. Durch interne Umschichtung der BBD — was uns die Leitung der BBD im Januar 1994 mitgeteilt hat — sind aus diesem Sachgebiet drei Stellen nach Berlin abgezogen worden. Die übriggebliebenen 21,4 Stellen sind besetzt, und damit ist das Sachgebiet voll besetzt.
Auch Ihnen empfehle ich, sich die Ursprungsfrage noch einmal durchzulesen. — Herr Abgeordneter Maaß.
Frau Ministerin, Sie haben eben dargestellt, daß Beamte Ihres Hauses und die Bauleitung in der Vergangenheit zu Besprechungen zusammengekommen sind. Nun ist ja das Hochwasser vor dem 23. Dezember ständig gestiegen, und das hat man bei den Besprechungen ja wohl auch festgestellt. Haben die Beamten Ihres Hauses Ihnen einmal gesagt, was sie dann unternommen haben?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, Sie nehmen jetzt die Fragen des Kollegen Formanski ein wenig vorweg, die schriftlich beantwortet werden, weil der Kollege nicht da ist. Ich will Ihnen das aber gern sagen.
Die Fertigstellung des Hochwasserschutzes war nach den Verträgen Aufgabe der auftragnehmenden Firmen.
Die Bundesbaudirektion hat in ihrer Verantwortung auf der Baustelle mit den Firmen Besprechungen über den Hochwasserschutz durchgeführt. In einer dieser Besprechungen sind auch Schwachstellen aufgelistet worden. Unter diesen Schwachstellen findet sich der nicht ausgeführte Hochwasserschutz nicht. Insofern mußten alle Hochwasserschutzmaßnahmen, die noch eingeleitet worden sind, fehlgehen, weil einfach diese entscheidende Stelle nicht bekannt war, der Bundesbaudirektion auch nicht vorher bekanntgeworden ist, weil die Firmen das nicht mitgeteilt haben.
Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Wenn es ein ganz selbstverständlicher Vorgang war, Frau Ministerin, daß der
Staatssekretär hier die Verantwortung übernommen hat, warum haben Sie dann am 26. Januar schriftlich Herrn Staatssekretär von Loewenich beauftragt, bis auf weiteres persönlich die Fach- und Dienstaufsicht über die Bundesbaudirektion zu übernehmen, die bisher dem Abteilungsleiter Bau oblag?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, mit der Anordnung habe ich die Fach- und Dienstaufsicht zusammengeführt.
— Der Anlaß ist die Tatsache des Schürmann-Baus.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich nehme an, Frau Ministerin, daß die Frage 24 schriftlich beantwortet wird, weil sie jetzt nicht mehr aufgerufen wird,
und die Fragen 25 und 26 auf Wunsch des Abgeordneten Norbert Formanski ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Frau Ministerin, ich möchte Ihnen für die Beantwortung der Fragen danken.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 und Zusatzpunkt 7 auf:
7. Entwicklungshilfedebatte
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Aufbau und Stärkung kommunaler Selbstverwaltungsstrukturen in Entwicklungsländern zur Förderung von regionaler und lokaler Selbsthilfe
— Drucksache 12/6727 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Gestaltung der Europäischen Entwicklungszusammenarbeit
— Drucksache 12/6726 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger Ausschuß
EG-Ausschuß
18012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
c) Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reform der Weltbank
— Drucksache 12/6168 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Neunter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung
— Drucksachen 12/4096, 12/6659 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ingomar Hauchler Dr. Winfried Pinger
Ingrid Walz
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Rudolf Bindig, Peter W. Reuschenbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Repatriierung und Reintegration von Flüchtlingen
— Drucksachen 12/4662, 12/6148 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. R. Werner Schuster Alois Graf von Waldburg-Zeil
Ingrid Walz
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Brigitte Schulte (Hameln), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesetzesvorlagen
— Drucksachen 12/4350, 12/6326 —
Berichterstattung: Abgeordneter Johannes Singer
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Dr. Uwe Holtz, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der kommunalen Nord-SüdArbeit — Förderung der Lokalen Agenda 21 — Umsetzung der Charta von Berlin
— Drucksache 12/6263 — Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Neunter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung
— Drucksachen 12/4871, 12/5451 —
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Europäische Entwicklungszusammenarbeit — Drucksachen 12/3647, 12/6707 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Jürgen Hedrich Dr. R. Werner Schuster
Burkhard Zurheide
Zum Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6734 vor.
Interfraktionell ist eine gemeinsame Aussprache von eineinhalb Stunden Dauer vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen und dem Abgeordneten Professor Pinger das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die finanziellen Mittel für die Entwicklungspolitik werden noch knapper. 145 Millionen DM müssen zusätzlich eingespart werden.
Das zwingt uns, die vorhandenen Mittel noch wirksamer einzusetzen. Konzentration lautet das Gebot der Stunde, Konzentration auf die eigentlichen Zielgruppen, die Armen, auf diejenigen Länder und diejenigen Sektoren, in denen die höchste Effizienz zu erzielen ist.Heute ist uns bewußt, daß Menschen und Länder nicht von außen entwickelt werden können. Es kommt auf die Mobilisierung der eigenen Kräfte der Menschen und der Staaten an. Daß dies möglich ist, beweist nicht zuletzt das bekannte Beispiel der Grameen-Bank in Bangladesh. Für die Übertragung dieses Modells in andere Länder werden jetzt 180 Millionen DM gesucht. Damit sollen 7 Millionen arme Familien mit insgesamt 35 Millionen Familienmitgliedern gefördert werden. Das sind ganze 5 DM pro Person.Nun möchte ich hochrechnen: Hochgerechnet könnten daher mit 5 Milliarden DM Entwicklungshilfe 1 Milliarde arme und ärmste Menschen unterstützt werden. Konzentration der Mittel auf bestimmte Länder bedeutet, daß wir uns in Zukunft schwerpunktmäßig auf diejenigen Länder beschränken müssen, die ihre politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zugunsten der Privatinitiative und der Eigenverantwortung der Menschen grundlegend verbessern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18013
Dr. Winfried PingerSektorale Konzentration der Mittel verlangt zunächst einmal, konsequent die Förderung der entwicklungshemmenden Staatswirtschaft einzustellen, nämlich die Förderung von erstens staatlichen Industrieunternehmen, zweitens Staatsbanken als nationale Entwicklungsbanken, drittens Berufsbildung allein über staatliche Gewerbeschulen, viertens staatlichen Dienstleistungsorganisationen mit Monopolcharakter z. B. in der Vermarktung von Produkten oder in der Belieferung der Landwirtschaft.Ich will durchaus feststellen — es ist notwendig und richtig, das hier zu sagen —, daß auf diesem Gebiet eine Reduktion stattgefunden hat. Aber wir müssen nun auch die letzten Konsequenzen ziehen.Statt dessen gilt es, die private Wirtschaft zu fördern, jedoch nicht mehr nach dem früheren verfehlten Konzept einer Industrialisierung von oben und von außen. Statt des Exports von Industrieunternehmen aus den Industrieländern in die Entwicklungsländer muß vor allem das Wachstum der Wirtschaft im Lande selbst von unten gefördert werden. Der Nährboden für wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze sind die Tausenden von Klein- und Kleinstunternehmen, die es in allen Entwicklungsländern im formellen und insbesondere im informellen Sektor gibt. Dies beginnt mit der Förderung von Selbständigkeit der Armen und Ärmsten durch Zugang zum Kredit für investive Zwecke, ein Förderansatz, der sich in Millionen von Fällen bewährt hat.Diese Art der Armutsbekämpfung ist nicht Gegensatz, sondern Teil der Förderung privater unternehmerischer Initiativen, wie sie der Deutsche Bundestag im vergangenen Jahr in Form eines Antrags der Koalition beschlossen hat. Entscheidend für mehr Wirksamkeit ist eine Gesamtorientierung der Entwicklungszusammenarbeit am Subsidiaritätsprinzip, und zwar in den Entwicklungsländern und auch in den Geberländern. Damit setzen wir in erster Linie auf die Menschen und ihre Selbsthilfe- und Selbstverwaltungsorganisationen und erst in zweiter Linie auf den Staat. Damit setzen wir auch innerhalb der staatlichen Organisation primär auf die kleinere Einheit in den Gemeinden, in den Städten, in den Regionen und in den Provinzen, bevor der Gesamtstaat, der Nationalstaat, in die Förderung einbezogen wird.
Betrachten wir unser entwicklungspolitisches Instrumentarium und die herkömmliche Planung und Steuerung von Projekten, so müssen wir zugeben, daß diese immer noch zu sehr von überkommenen Mustern der Entwicklungspolitik geprägt sind. Bei näherem Hinsehen werden sie immer noch zu sehr bestimmt von Fremdhilfe statt von Hilfe bei Eigenanstrengungen und bei Selbsthilfe. Nicht das am grünen Tisch in Deutschland nach einem perfektionierten Zopp-System geplante Entwicklungsprojekt ist das Leitbild der neuen Entwicklungspolitik, sondern die zielgerichtete Hilfe bei echten Selbsthilfeanstrengungen.Es gilt nicht, die Menschen an unseren Maßnahmen zu beteiligen;
vielmehr müssen umgekehrt sie und ihre Selbsthilfe- und Selbstverwaltungsorganisationen Träger der Projekte sein, und wir müssen uns mit unserer Hilfe daran beteiligen. Diese Art der Partizipation ist dann auch das eigentliche Kriterium einer selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung.
Es war ein ganz bedeutender und, wie ich meine, ein mutiger Schritt der Bundesregierung und insbesondere von Minister Spranger, die Armutsbekämpfung — neben Bildung und Umwelt — zum Schwerpunkt der Entwicklungspolitik zu machen.Gewaltige Anstrengungen zur Umsteuerung sind bereits unternommen worden und werden täglich durchgeführt. Ich meine, daß wir uns auf diese inhaltlichen Probleme der Umorientierung der Entwicklungspolitik konzentrieren sollten. Initiativen, die diesem Ziel nicht dienen, können deshalb unsere Unterstützung nicht finden.Dazu gehört für mich auch das von der SPD vorgelegte Entwicklungshilfegesetz. Ich vermag keine Inhalte zu erkennen, die uns in der Konkretisierung der neuen Entwicklungsstrategie weiterführen und die die neuen Ziele besser beschreiben als das, was an konkreten Anträgen hier beraten bzw. in dieser Legislaturperiode vom Deutschen Bundestag bereits verabschiedet worden ist.Gleiches gilt für den Antrag der SPD zur Flüchtlingsproblematik, der heute zur Entscheidung ansteht. Er enthält Feststellungen und Forderungen, denen wir fast alle zustimmen können. Tatsache ist allerdings, daß wir genau dieselben Fragen und Antworten bereits im letzten Jahr hier im Bundestag diskutiert und im selben Sinne entschieden haben.
Die Bundesregierung — ich will das gern hinzufügen — ist bereits seit einigen Jahren dabei, die Konzepte, die wir schon vorher hier beraten und entschieden haben, umzusetzen.Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie in der Öffentlichkeit gute Noten bekommen wollen, so ist dies legitim. Sie müssen dabei jedoch den alten Grundsatz aus der Schule beachten: Wer abschreibt, bekommt keine guten Noten. Wer Anträge, die bereits vorher entschieden worden sind, hier ins Parlament bringt, kann nicht erwarten, daß diese Anträge mit der Mehrheit der Koalition hier beschlossen werden.
Meine Damen und Herren, inzwischen engagieren sich die Bundesländer, jedenfalls die meisten Bundesländer, in der Entwicklungspolitik. Das ist gut so. Es gibt mehr als 600 Gemeinden in der Bundesrepublik, die selbst Projekte der Entwicklungszusammenarbeit durchführen. In Zukunft sollten wir diese Gemeinden, Städte und Kreise, die sich zugunsten der Menschen in der Dritten Welt engagieren, nicht den Enttäuschungen von Versuch und Irrtum überlassen. Daher sollte geprüft werden, ob es sinnvoll ist, eine Beratungs- und Clearingstelle bei den kommunalen Spitzenverbänden einzurichten. Eine solche Stelle sollte dann auf
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18014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Winfried PingerDauer auch von den Spitzenverbänden finanziert werden. Wenn es jedoch notwendig sein sollte, durch eine Anschubfinanzierung den Start zu ermöglichen, so darf es daran nicht scheitern. Hier kann mit relativ geringen Mitteln eine sehr große Wirkung erzielt werden.Auch dies ist ein Beispiel dafür, welche Kräfte sowohl in den Entwicklungsländern als auch in der Bundesrepublik zu mobilisieren sind, und zwar mit mehr Effizienz und mit weniger finanziellen Mitteln. Mit den Beschlüssen, die wir heute zur europäischen Entwicklungszusammenarbeit und zum Aufbau kommunaler Institutionen und Selbstverwaltungsorganisationen in den Entwicklungsländern fassen, werden wir diesem wichtigen Ziel ein gutes Stück näherkommen.Ich bedanke mich.
Nun hat die Kollegin Ingrid Becker-Inglau das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Beginn des deutschen Einigungsprozesses wurde und wird unsere Entwicklungspolitik vor neue Herausforderungen gestellt. Nun gilt es, frei von alten ideologischen Zwängen die Ziele und Inhalte der zukünftigen entwicklungspolitischen Arbeit fortlaufend neu zu definieren.Eine Ebene, die bisher in der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit ein Mauerblümchendasein geführt hat, ist die kommunale Ebene. Die bisherige entwicklungspolitische Zusammenarbeit konzentrierte sich auf die Verwirklichung des Grundsatzes einer Hilfe zur Selbsthilfe; bösartig könnte man sagen: zur Selbstüberlassung. Ich will das aber hier nicht sagen, weil ich den Hinweis bekommen habe, ich sollte heute lieb sein.Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß notwendigerweise die gesellschaftlichen, religiösen, soziokulturellen und regionalen Gegebenheiten der Entwicklungsländer stärker als bisher berücksichtigt werden müssen. Parallel müssen also Hilfen zum Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen gewährleistet sein, um eine dauerhafte und nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Ich glaube, das Beispiel Somalia könnte hier ausführlich diskutiert werden. Es ist eines der Beispiele, an dem man zeigen kann, daß Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit nicht gewährleistet sind, wenn so etwas nicht vorhanden ist.
Der direkte und dezentrale kommunale Brückenschlag zwischen Norden, Süden und Osten sollte ein wichtiges, sinnvolles und auszubauendes Instrument der zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit sein.Zur Erreichung einer gerechten Weltwirtschaft und gerechter Sozialstrukturen kann eine lokal verankerte Nord-Süd-Ost-Politik — das Wort ist länger geworden — wertvolle Beiträge leisten. Sie kann basisnäher, flexibler und problemadäquater reagieren, als dies bisher der Entwicklungspolitik auf Bundes- und Landesebene möglich war.
Nichtregierungsorganisationen, Länder, Städte und Gemeinden können durch gezielte Aktivitäten das leisten, was die etablierte Außen- und Entwicklungspolitik versäumt hat. Kommunale Entwicklungspolitik sollte sowohl die praktische Zusammenarbeit mit den Kommunen, den Nichtregierungsorganisationen und der Privatwirtschaft in den Entwicklungsländern als auch die politische Bewußtseinsarbeit in der Bundesrepublik selbst umfassen. Denn so wird das politische Engagement der Bürger vor allem auch für globale Fragen geschärft, und sie werden dadurch auch hautnah berührt.Die bereits bestehenden vielfältigen Aktivitäten der kommunalen Gebietskörperschaften und Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Umwelt- und Entwicklungszusammenarbeit reichen von klassischen Städtepartnerschaften, direkten Projektunterstützungen in den Kommunen der Entwicklungsländer über die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen bis hin zur Förderung des Verwaltungsaufbaus.Kommunale Entwicklungsaktivitäten können bei der hiesigen Bevölkerung das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer globalen umwelt- und entwicklungsverträglichen Entwicklung fördern. Stichworte wie Migration und Fluchtursachenbekämpfung brauchen wir hier nicht weiter zu erläutern.Die SPD begrüßt und unterstützt diese Aktivitäten nicht nur, sondern nimmt seit Jahren sogar aktiv vor Ort an solchen Entwicklungen teil. Die Kommunen leisten schon einige wichtige Beiträge bei der Umsetzung der Ergebnisse sowohl der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung aus dem Jahre 1992 wie auch der Internationalen Nord-Süd-Konferenz über lokale Initiativen für eine nachhaltige Entwicklung im Oktober 1992.Als Erfolg ist sicher das hohe Interesse an solchen Veranstaltungen zu werten, wenn an solchen Konferenzen immerhin bereits Vertreter aus über 50 Ländern teilnehmen.Nun zu unserem SPD-Antrag „Stärkung der kommunalen Nord-Süd-Arbeit — Förderung der Lokalen Agenda 21 — Umsetzung der Charta von Berlin". Hier fordern wir die Bundesregierung auf, diese neue entwicklungspolitische Kraft angemessen ideell, vor allem aber finanziell zu unterstützen.
— Nicht nur Worte.Über ein Entwicklungshilfegesetz, wie es die SPD- Fraktion gerade erst in dieses Hohe Haus eingebracht hat, können die Förderung und Unterstützung sowohl der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit wie auch der zunehmend sich entwickelnden Dreieckskooperation zwischen Nord-, Süd- und Ostkommunen und Nichtregierungsorganisationen im Umwelt- und Entwicklungsbereich als staatliche Aufgabe festgelegt werden.
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Ingrid Becker-InglauIch kann darüber aus meiner eigenen Kommune berichten, wo es Rechtsunsicherheiten gab und man nicht wußte, ob man überhaupt das Geld für ein solches Projekt aus einem kommunalen Haushalt nehmen durfte. Ich denke, hier käme Rechtssicherheit den Kommunen gut zupaß.
Bereits in der 1992 in Rio beschlossenen Agenda 21 wurde festgestellt, daß es für eine große Anzahl der angesprochenen Probleme auf lokaler Ebene Lösungsansätze gibt. Die Teilnahme und die Mitarbeit der Kommunalverwaltungen können bei der Erfüllung dieser Ziele bestimmende Faktoren sein. Deshalb fordert der Maßnahmenkatalog zur Lösung der globalen Umwelt- und Entwicklungsprobleme in der Agenda 21 erstens die Förderung der Entwicklung von Konzepten auf kommunaler Ebene und zweitens den Aufbau und die Stärkung von kommunalen Selbstverwaltungen zur Verbesserung der lokalen Infrastruktur.Es ist erfreulich, daß sich die Koalitionsfraktionen mit dem in der technischen Entwicklungszusammenarbeit bisher kaum beachteten Problemkreis der kommunalen Selbstverwaltung in den Entwicklungsländern auseinandergesetzt haben. Der vorliegende CDU/CSU- und F.D.P.-Antrag „Aufbau und Stärkung kommunaler Selbstverwaltungsstrukturen in Entwicklungsländern zur Förderung von regionaler und lokaler Selbsthilfe" ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn der Antrag stellt fest, daß das bisher verfolgte Konzept einer Hilfe zur Selbsthilfe ohne Partizipation auf lokaler Ebene in den Entwicklungsländern nicht dauerhaft und funktionsfähig sein konnte.
Wir werden dies sicher in den Ausschußberatungen eingehend diskutieren. Aber eines darf nicht passieren, nämlich daß der Bund diesen Umdenkungsprozeß dazu nutzt, zu versuchen, bisher nicht geleistete Aufgaben nun den Bundesländern, den Kommunen und den kommunalen Spitzenverbänden aufzubürden,
insbesondere vor dem Hintergrund der angespannten Lage auf der kommunalen Ebene. Dies muß meines Erachtens sichergestellt werden.Wenn die kommunale Entwicklungspolitik zum Erfolg werden soll, dann muß der Bund die finanzielle Verantwortung übernehmen. Nur so ist die Parallelität von Hilfe zur Selbsthilfe und der Aufbau von infrastrukturellen Rahmenbedingungen gewährleistet.Vielen Dank.
Nun hat unsere Kollegin Ingrid Walz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich will mit einem anderenAnsatz beginnen als meine Vorrednerin und mein Vorredner, nämlich mit unserem eigenen Selbstverständnis.Was Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker von anderen Sektoren der Politik unterscheidet, ist die Lust, sich hingebungsvoll mit den Problemen dieser Welt zu beschäftigen und für alle Sorgen dieser Welt verantwortlich zu sein. Wir tun dies zugegebenermaßen kreativ, und wir tun dies vor dem Hintergrund unserer politischen Überzeugungen.Dabei ist unser Bemühen sicherlich von unserem täglichen Sein als deutsche Parlamentarier bestimmt. Doch unser Bewußtsein wird von der Welt geprägt. Damit ist im Grunde genommen das ständig währende Dilemma der Entwicklungspolitik beschrieben und auf den Nenner gebracht: Entwicklungspolitik ist globale Politik, die wir aus lokaler Sicht und mit lokalen Instrumenten zu gestalten versuchen. Bewußt oder unbewußt transportieren wir nämlich unsere eigenen abendländischen Vorstellungen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft über unsere Hilfe in die Welt.Wir fühlen uns im guten Sinne zuständig und meinen, über unsere Programme, ja sogar über ein Entwicklungsgesetz die Geschicke vieler Menschen, vieler Länder beeinflussen zu können. Wir erwarten prompten Vollzug unserer Ratschläge und sind enttäuscht, wenn Erfolge ausbleiben und wenig Dankbarkeit für unser Geld zu spüren ist.Diese Situation, meine Damen und Herren, löst immer wieder Zweifel über den richtigen Weg und Selbstzweifel über die richtige Einstellung bei den Entwicklungspolitikern aus. Die Zweifel werden genährt durch das Phänomen: Gesellschaften, Kulturen und Wirtschaften in Ost und Süd werden ganz unterschiedlich von der Begegnung mit unseren Werten und unserer Zivilisation berührt.Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse verlaufen ganz offensichtlich nach Kriterien, die wir in der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit nicht hinlänglich beachtet oder in ihrer Unterschiedlichkeit noch nicht erkannt haben. Wie sonst ließen sich die Entwicklungsdiskrepanzen zwischen Asien, Lateinamerika und Afrika erklären?Wir müssen zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren: Die Ausfuhr- und Einfuhrvolumen der Entwicklungsländer sind im Durchschnitt der letzten sechs Jahre relativ schneller gestiegen als die der Industrieländer. Unsere eigene Wirtschaftskrise legt Zeugnis davon ab und belegt, daß es Entwicklung weltweit gegeben hat. Allerdings ist zu vermuten, die Entwicklungspolitik hat nicht so viel Anteil daran, wie wir uns einreden.Über die regionalen Entwicklungsunterschiede gibt es inzwischen genügend Untersuchungen. Diese belegen, daß es die internen Rahmenbedingungen sind, also von den Entwicklungsländern selbst veranlaßte konsequente Stabilisierungsmaßnahmen und strukturelle Reformen, die wirtschaftliches Wachstum möglich machen. Davon ist das asiatische Wirtschaftswunder geprägt.
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18016 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Ingrid WalzIn der asiatischen Region, in der die meisten Menschen leben, ist 1994 mit einem wirtschaftlichen Wachstum — meine Damen und Herren, hören Sie gut zu — von über 7 % zu rechnen, wobei China den anderen Staaten vorauseilt. Das wirtschaftliche Wachstum in Lateinamerika wird 4 % betragen, während Afrika und Europa sowie der Mittlere Osten sich mit höchst bescheidenen Zuwachsraten begnügen müssen.Aus diesen Zahlen, aus dieser unterschiedlichen Entwicklung ließen sich eigentlich Lehrsätze ableiten, die da lauten könnten: Wo besser gewirtschaftet, härter gearbeitet, mehr gespart und gelernt wird, ist Entwicklung möglich, die auch Armut verringert. Dies genau, meine Damen und Herren, hat die Weltbank in ihrer Analyse des wirtschaftlichen Emporkömmlings Asien festgestellt.Doch was sind die Gründe für geglückte Modernisierung und damit positive Entwicklung? Wir sollten diesen Gründen mehr Aufmerksamkeit schenken, denn daran könnten sich auch die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit orientieren. Für Asien gilt — ich zitiere die Weltbankanalyse ganz kurz —:Erstens. Die internen Rahmenbedingungen müssen stimmen. Dazu gehören niedrige Inflation, konservative Haushaltspolitik, hohe Spar- und Investitionsquoten, gute Schulen sowie eine stetige Hand beim Aufbau des gesetzlichen Rahmens.Zweitens. Der starke und in Ostasien zuweilen autoritäre Staat legitimiert sich dort mit einer „flachen" Einkommensverteilung das heißt, das Wachstum muß Tantiemen für alle Bürger abwerfen. Aber dahinter steht auch die kulturelle Identität der Menschen. Ich denke, eine eindeutige kulturelle Zugehörigkeit bedeutet Kulturfähigkeit, Selbstbewußtsein und damit Selbstverantwortung.Erst in diesem Lichte werden Entwicklungsprozesse erklärlich und gewinnt die Entwicklung auch eine andere Bedeutung. Davon ausgenommen sind auch wir nicht.Jetzt komme ich zu uns. Bei uns laufen Prozesse ab, die wir als Strukturanpassung in unseren Partnerländern im Osten und im Süden begleiten. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des IWF haben sehr viel Ähnlichkeit mit dem Inhalt unserer Standortsicherungsgesetze. Auch uns würde von Zeit zu Zeit ein entwicklungspolitischer Bericht ganz gut tun, in dem beschrieben wird, was sich weltweit tut, wie sich die Republik darstellt und was daraus zu folgern ist. Die Mühe würde sich sicherlich lohnen, und der Gewinn wäre der Blick auf die eine Welt, auf Interdependenzen und Verflochtenheiten.Ein solcher Blick würde uns befreien vom Anspruch, Geber zu sein, und uns die weltpolitische Realität vor Augen halten, nämlich: Auch wir sind Nehmer geworden. Wir brauchen heute den Zugang vor allem zu den asiatischen Märkten, um überleben zu können. Diese Märkte werden von Menschen geprägt, die durch ihren Fleiß, ihr privatwirtschaftliches Engagement, durch Innovation und Sparsamkeit die Entwicklung bestimmt haben. Das sollte uns demütiger machen und uns lehren, Entwicklungen in einem anderen Licht zu sehen.Meine Damen und Herren, heute steht der Neunte Entwicklungspolitische Bericht für die Jahre 1989 bis 1991 zur Diskussion. Inzwischen sind gut zwei Jahre vergangen, in denen sich nach dem Fall nicht nur unserer Mauer, sondern vieler Mauern weltweit Änderungen ergeben haben. Das zerstörte Puzzle beginnt sich wieder zusammenzusetzen. Es bestimmt das Maß und die Art unserer Außenbeziehungen.Eine neue Ost- und Südpolitik nimmt Konturen an, die nicht mehr geprägt ist vom Ost-West-Konflikt — Gott sei es gelobt — und nicht geprägt sein darf von einem neuen Nord-Süd-Konflikt.
Unsere neuen Außenbeziehungen müssen partnerschaftlich und verantwortungsbewußt sein. Für spätkolonialen Intellektualismus ist kein Platz mehr.Der Bericht ist bereits von diesen Grundsätzen geprägt, er kann jedoch die in den letzten zwei Jahren vollzogenen Neuorientierungen der Entwicklungszusammenarbeit nicht aufzeigen. Diese Phase, die ich als erste Generation einer neuen Entwicklungspolitik bezeichnen möchte, ist geprägt durch die Philosophie von Herrn Minister Spranger, seinen immer wirkungsvoller werdenden Kriterien,
aber auch den entwicklungspolitischen Zielsetzungen des Deutschen Bundestags, an denen die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. entscheidenden Anteil haben.Was im Neunten Entwicklungspolitischen Bericht noch nicht sichtbar wird, steht im Memorandum der Bundesregierung zur DAC-Jahresprüfung 1992/93 und wird heute durch die Beschlußempfehlung der Koalitionsfraktionen deutlich gemacht. Damit wird die zweite Generation der Entwicklungspolitik dieser Koalition beschrieben, die geprägt ist von einer Neugestaltung unserer Außenbeziehungen, einer neuen Ost- und Südpolitik, in der die Entwicklungspolitik als Teil einer auf Friedens-, Stabilitäts- und Zukunftssicherung gerichteten Politik der Bundesregierung eine ganz zentrale Rolle spielen wird, von einer noch stärker an den Eigenanstrengungen der Partnerländer, den Prinzipien von Partizipation, Subsidiarität und Privatinitiative ausgerichteten Entwicklungszusammenarbeit und durch einen Beitrag der Entwicklungspolitik zur Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit beim globalen Umweltschutz.Meine Damen und Herren, im Rahmen der Entwicklungspolitik nimmt die Bevölkerungsproblematik einen immer gewichtigeren Rang ein; denn ohne Reduzierung des Bevölkerungswachstums ist die Tragfähigkeit dieser Welt in Frage gestellt.
Dabei ist der Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl, Ressourcennutzung bzw. -übernutzung, Umweltzerstörung und Armut zu beachten. Vielen Ländern kann nur geholfen werden, wenn es eine Hilfe bei der Bewältigung des Bevölkerungsproblems ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18017
Ingrid WalzDer Überwindung interner Hemmnisse bei der Familienplanung kommt die größte Bedeutung zu. Dies belegen eindeutig die Trends in verschiedenen Ländern, die durch eine gezielte Bevölkerungspolitik die Zahl der Geburten in Einklang mit ihrem wirtschaftlichen Wachstum bringen konnten.Externe Hilfe ist in den Ländern nötig, wo die finanziellen Ressourcen nicht vorhanden sind. Die Beachtung der Rolle der Frau — wir können dies nur immer wieder betonen — ist dabei unerläßlich. Ihre rechtlichen, wirtschaftlichen und Bildungsdefizite werden durch die hohe Zahl der Geburten verdeutlicht und sind die Ursache für die wirtschaftlichen Defizite ihrer Länder. Moderne, mit traditionellen Elementen verknüpfte soziale Sicherungssysteme könnten den unheilvollen Zusammenhang zwischen der Kinderzahl und der häufig daraus resultierenden Armut auflösen. In einem Antrag haben die Koalitionsfraktionen auf diesen Zusammenhang hingewiesen und Initiativen gefordert.Mit dem Bundestagsbeschluß vom 23. Juni 1993 zum Koalitionsantrag „Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative" haben wir in die richtige Richtung gewiesen, weil wir meinen, daß Entwicklung durch Marktwirtschaft den Menschen das nötige Maß an Freiheit und Wohlstand sichert.
Kommunismus und Zentralverwaltungswirtschaft haben die Menschen behindert und sie um ihre Zukunft gebracht. Wie richtig dieser Ansatz ist, zeigen die sichtbaren Folgen in Asien, aber auch die aufkeimenden Hoffnungen in den Transformationsländern, sei es in der ehemaligen UdSSR oder auch in Afrika.In einem weiteren wichtigen Antrag, der sich gegenwärtig in der parlamentarischen Beratung befindet, haben wir die Unterstützung der Entwicklungsländer beim Aufbau dezentraler, demokratischer Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen vor dem Hintergrund vorhandener soziokultureller Traditionen und Strukturen aufgenommen.
Frau Kollegin Walz, die Zeit.
Noch einen Satz, dann bin ich fertig.
Konkret heißt dies: Wir müssen sensibler und achtsamer als bisher die Demokratisierungsbemühungen und die Wege in die Marktwirtschaft vor diesem Hintergrund begleiten. Das Stichwort dafür lautet „Zurück zu den Wurzeln". Im traditionellen, aber auch im modernen Sinne kann nicht das Westminster-Modell in Afrika für demokratische Verhältnisse sorgen, sondern die Weiterentwicklung der sogenannten afrikanischen Basis- oder Palaverdemokratie in Form lokaler, kommunaler Selbstverwaltung. Auch dazu haben wir einen Antrag eingebracht, von dem wir hoffen, daß er die Entwicklungspolitik wesentlich beeinflussen wird.
Ich danke Ihnen.
Das war ein Satz mit vielen Kommata.
Nun hat die Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Beantwortung der Großen Anfrage der PDS/Linke Liste zum Neunten Entwicklungspolitischen Bericht ist sich die Bundesregierung treu geblieben und hat die meisten Fragen in arroganter Weise abgeschmettert.In dieser Debatte möchte ich nur einige Aspekte der Entwicklungspolitik aufgreifen, die uns veranlaßten, im Mai 1993 die Bundesregierung zu befragen.Ungeachtet einiger kritischer Momente stellt der Neunte Bericht in erster Linie eine geschönte Bilanz bisheriger Aktivitäten dar. Derartige Berichte kenne ich viel zu genau.Die PDS/Linke Liste will keineswegs die Leistungen geringschätzen, die Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker, die NGOs vor Ort erbracht haben und weiterhin erbringen. Im Gegenteil: Wir möchten alle ehrlichen und uneigennützigen Bemühungen der Entwicklungspolitik unterstützen und ihre Fortsetzung vor allem im Interesse der Lander des Südens anmahnen.Nachdrücklich möchte ich auch der Feststellung im Bericht zustimmen,daß nur eine weltweite Entwicklungs- und Verantwortungsgemeinschaft in der Lage sein wird, diese Herausforderungen— gemeint sind Armut, Umweltzerstörung, Schuldenlast und anderes mehr —auch zu bewältigen.Warum aber sind wir von einer solchen weltweiten Gemeinschaft Welten entfernt? Weil sich die Politiker der einflußreichsten Länder dieser Erde um vieles kümmern, nur nicht um eine wirklich globale Verantwortungsgemeinschaft. Der Elite dieses Landes geht es um den Wirtschafts- und Wohlstandsort Deutschland und nicht um die sozialen Belange der Menschen hierzulande sowie die Lösung globaler Probleme.Aus dieser Perspektive macht es wenig Sinn, die Entwicklungspolitik und die Entwicklungshilfe des Nordens losgelöst von der Gesamtpolitik und den weltwirtschaftlichen Zwängen zu betrachten; denn sie überlagern, dominieren und ersticken letztlich selbst ehrlich gemeinte Entwicklungshilfe. Denn ich frage Sie: Ist die derzeitige Weltwirtschaftsordnung etwa sozial gerecht? Ist sie entwicklungsorientiert auch für die Länder des Südens, damit sie wenigstens die Grundbedürfnisse der Menschen befriedigen können? Ist sie etwa ökologisch orientiert? Wenn Sie, meine Damen und Herren, ideologiefrei und parteipolitisch unabhängig urteilen, müßten Sie diese Fragen sicher mit nein beantworten.In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß nicht zu Unrecht die Entwicklungspolitik des Ostens und des Westens in der Zeit des Kalten Krieges als ideologiebehaftet kritisiert wurde. Es ist ja kein Geheimnis, daß die Entwicklungspolitik der DDR, ihre Beziehungen zu Ländern der Dritten Welt in erster
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18018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Ursula FischerLinie dem strategischen Ziel untergeordnet waren, das weltweite Kräfteverhältnis sozusagen epochegemäß zugunsten des Sozialismus zu verändern. Der Versuch, Entwicklungsländer von außen auf sozialistische Orientierungen festzulegen, ist aus einleuchtenden Gründen gescheitert.Ich möchte aus diesen negativen Erfahrungen heraus nachdrücklich warnen: Auch Bestrebungen marktwirtschaftlicher Bevormundung und politischer Einmischung, selbst über die Entwicklungspolitik, werden ebenso scheitern wie seinerzeit die entwicklungspolitischen Versuche des Sozialismus. Ein marktwirtschaftlicher Umbruch westeuropäischen Musters kann weder im Osten noch im Süden erzwungen werden. Und ich sehe die echten Tendenzen in anderer Hinsicht noch nicht.Verbal wird das selbst von Entwicklungspolitikern der Koalitionsparteien anerkannt. Die Bundesregierung sieht jedoch in der Entwicklungspolitik eine politische Dimension, deren — ich zitiere Minister Spranger — „vordringlicher Ansatzpunkt die Umformung von politischen und gesellschaftlichen Systemen" ist.Im Entwicklungspolitischen Bericht wird die Armutsbekämpfung als vorrangiges Ziel der Entwicklungspolitik der Bundesregierung deklariert. Sie muß — so der Bericht — an den Ursachen ansetzen, strukturbildend wirken, indem sie auf die Verbesserung der nationalen und internationalen Rahmenbedingungen abstellt. Solange aber die Bundesregierung selbst an den Hauptursachen für die Weltarmut vorbeiredet, werden leider weder ihre Entwicklungspolitik roch entwicklungspolitische Bildungsarbeit wirksam greifen können.Meine Damen und Herren, die Richtlinien des Ökumenischen Rates der Kirchen für das Teilen vom August 1992 orientieren sich auf ein völlig neues Wertesystem, das auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung beruht. Die Unterzeichner — ich zitiere aus dem Studiendokument des Ökumenischen Rates „Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft", Seite 58 —verpflichten sich, sich im Kampf um Gerechtigkeit und Menschenwürde mit den Armen und Unterdrückten und deren Organisationen zu solidarisieren und den Auftrag Gottes dadurch zu erfüllen, daß sie auf allen Ebenen die Ursachen und Strukturen der Ungerechtigkeit aufdecken, verurteilen und bekämpfen, die zur Ausbeutung der Reichtümer und der Menschen der Dritten Welt führt und Armut sowie die Zerstörung der Schöpfung zur Folge haben. Gleichzeitig muß auf eine neue wirtschaftliche und politische Ordnung hingearbeitet werden.Wahrscheinlich geht aber eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß sich die christlich-konservative Bundesregierung mit ihrer Entwicklungspolitik an diesem kirchlichen Dokument orientiert.
Allerdings: Die Bundesregierung wäre gut beraten,sich dieses Dokument näher anzusehen. Wir habenübrigens auch sehr viele Pfarrer bei uns in der Partei.Handel wird nicht erst heute als die beste Entwicklungshilfe angepriesen. Über den Welthandel werden bekanntlich Leistungen realisiert, die in Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungsbereichen erbracht werden.Entwicklungsländer als die ökonomisch Schwächeren exportieren vor allem Rohstoffe und importieren in erster Linie Fertigerzeugnisse. Sie waren bisher die eindeutig Benachteiligten der Welthandelsordnung. Allein durch den ständigen Verfall der Rohstoffpreise haben sie ungeheure Einbußen hinnehmen müssen. Weltbank und IWF weisen die jährlichen Verluste, die den Entwicklungsländern allein durch Handelsbeschränkungen der Industrieländer zugefügt werden, als doppelt so hoch aus wie die Beträge, die die Entwicklungsländer an öffentlicher Entwicklungshilfe im gleichen Zeitraum erhalten.Es war bisher leider nicht möglich, die Dokumente der am 15. Dezember 1993 abgeschlossenen GATT- Verhandlungen auszuwerten. Große Zweifel sind jedoch schon heute angebracht, ob und inwiefern die Uruguay-Runde auch für die Entwicklungsländer erfolgreich sein wird. Es ist doch bezeichnend, daß der Wirtschaftsminister in seinem Begleitschreiben am 7. Januar 1994 an die Vorsitzenden verschiedener Ausschüsse des Bundestages hervorhebt, daß die erzielten Übereinkünfte „mittelfristig eine erhebliche Verbesserung des Marktzugangs und damit der Absatzchancen für unsere Wirtschaft bedeuten".Ich möchte noch einige Worte zur Verschuldungsproblematik sagen. Die weltwirtschaftlichen Ursachen der Schuldenkrise werden von der Bundesregierung nach wie vor negiert. Ihre Schuldenstrategie läuft faktisch nicht auf eine Lösung dieser Krise, sondern auf eine zeitliche Streckung der Zahlungsverpflichtungen der Länder hinaus, die sich als zahlungsunfähig erweisen. Eine solche Schuldenstrategie dürfte kaum in der Lage sein, eine grundlegende Befreiung der Verschuldeten von der Schuldenlast zu erreichen.Meine Damen und Herren, die Beschlußempfehlung des AwZ zum Neunten Entwicklungspolitischen Bericht enthält zahlreiche Feststellungen, mit denen wir übereinstimmen. Dennoch werden wir der Empfehlung nicht zustimmen; ich möchte Ihnen erklären, warum.Erstens. Es wird der Eindruck erweckt, als ob die Bundesregierung Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Bildung bereits zu Schwerpunkten ihrer Entwicklungszusammenarbeit gemacht hätte. Das kann ich nicht sehen. Ich sehe nur verbale Erklärungen. Wenn man sich die entsprechenden Haushaltspläne ansieht, wird man zu einer anderen Meinung kommen. Schwerpunkte, die die Entwicklungspolitik zu einer Gesamtpolitik machen, sehe ich auch nicht.Zweitens. Bei der künftigen Gestaltung der NordSüd-Beziehungen vermissen wir den ausdrücklichen Hinweis darauf, daß grundlegende Veränderungen auch in den Industrieländern notwendig sind, um eine gleichberechtigte Nord-Süd-Partnerschaft zu ermöglichen. Kommunale Entwicklungszusammenarbeit
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18019
Dr. Ursula Fischerauch in diesem Zusammenhang muß großgeschrieben werden.
Frau Kollegin Fischer, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit angelangt.
Ein Satz noch.
Dem Entschließungsantrag der SPD zum Entwicklungspolitischen Bericht können wir zustimmen — obwohl wir in einigen Punkten nicht übereinstimmen —, weil er sich sehr wohltuend von Allgemeinplätzen abhebt.
Nun hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Fischer, man kann es mit dem Klauen oder den Anleihen bei anderen Theorien auch übertreiben. Ich denke, Sie sollten sich lieber, statt bei christlichen Aussagen Anleihen zu nehmen, auf die Väter des Marxismus/Leninismus berufen; denn das haben Sie zu DDR-Zeiten auch getan.
— Ja.Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat einen Antrag vorgelegt, in dem wir eine umfassende Reform der Weltbank vorschlagen. Im Bericht „Die Weltbankgruppe im Geschäftsjahr 1993" des deutschen Exekutivdirektors heißt es:Das abgelaufene Fiskaljahr war für die Weltbank ungewöhnlich ergiebig in ihrer Entwicklung nach „außen" und nach „innen".Zweifellos war das Jahr 1993 ein erfolgreiches Jahr für die Weltbank. Es fragt sich nur, für wen die 23,7 Milliarden US-Dollar Zusagevolumen von Nutzen waren?Nichtregierungsorganisationen jedenfalls bescheinigen der Weltbank, daß sie seit Jahrzehnten ohne Rücksicht auf die Menschenrechtssituation in den kreditnehmenden Ländern schweren sozialen und ökologischen Schaden anrichtet und das Armutsbekämpfung nennt. Die NGOs befinden sich mit ihrer Kritik in guter Gesellschaft. Denn auch der interne Bericht des ehemaligen Vizepräsidenten der Weltbank, Willi Wapenhans, hat bei mehr als einem Drittel der 1991 abgeschlossenen Projekte schwere Mängel bei der Vorbereitung und Ausführung festgestellt.Die katastrophalen ökologischen und sozialen Auswirkungen vieler Weltbankprojekte sind in den vergangenen Jahren eingehend dokumentiert worden. Das bekannteste Negativbeispiel ist sicher der Narmada-Staudamm in Indien. Die Liste der Projekte, bei denen beträchtliche ökologische und soziale Fehlentwicklungen aufgetreten sind, ist länger. Zwar werden Konsequenzen aus dem Wapenhans-Bericht gezogen, aber wirksame Maßnahmen gegen die Hauptkritikpunkte, nämlich pressure to lend und die Genehmigungspraxis der Bank, bleiben nach wie vor aus.Jüngstes Beispiel ist die Mitfinanzierung des achten Fünfjahresplans der indischen Regierung für den Energiesektor. Innerhalb dieses Projektes will die Weltbank insbesondere die National Thermal Power Corporation, die staatliche Kohlekraftwerksgesellschaft, unterstützen. Die Kernkraftwerkskapazität soll bis 1997 um 26 000 Megawatt erhöht werden, der Kohleverbrauch soll sich bis zum Jahre 2005 auf 400 Millionen t verdoppeln.Der Exekutivrat hat dafür einen Kredit von 400 Millionen Dollar bewilligt, wobei sich die Bundesrepublik erfreulicherweise enthalten hat. Zwei weitere Kredite im gleichen Umfang wurden für die nächsten drei bis vier Jahre angekündigt. Die Mittel für Rehabilitierungsmaßnahmen für die umgesiedelte Bevölkerung und die belastete Umwelt sind jedoch in dem neu bewilligten Projekt äußerst bescheiden.Das Beispiel legt einmal mehr den Verdacht nahe, daß die Bank zwar Meister in der Erarbeitung sachkundiger policy papers ist, diese Papiere aber selten mehr als Absichtserklärungen sind. So will die Bank einen deutlicheren Schwerpunkt auf die Reduktion von Subventionen im Energiebereich legen und angesichts der globalen Treibhausproblematik ihre Investitionen für die Verbesserung der Energieeffizienz erhöhen. Zwar wurde im Exekutivdirektorium der Weltbank eine selektivere Kreditvergabepraxis diskutiert und geschlußfolgert, daß die Weltbank — ich zitiere —keine Energieprojekte mehr finanzieren wird, wenn schlecht ausgerüstete und hochgradig umweltverschmutzende öffentliche Energieunternehmen und die Regierungen unwillig sind, jene grundlegenden Strukturreformen durchzuführen, die die Geschäftspraktiken deutlich verbessern könnten.Die Papiere haben allerdings keinen bindenden Charakter.Angesichts der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Weltbankpolitik fällt es schwer, dem Optimismus der Bundesregierung zu folgen und auf die Fähigkeit der Bank zur beträchtlichen Selbstreform zu vertrauen.Auf meine Anfrage bezüglich der Umsiedlungspolitik der Weltbank antwortet die Bundesregierung, daß der für April 1994 angekündigte Endbericht der Umweltabteilung über die bisherige Durchführung der Umsiedlungspolitik abgewartet werden solle. Wie oft muß sich die Weltbank eigentlich noch ihre Unfähigkeit in internen Studien bestätigen, bis Konsequenzen gezogen werden, die über die Erstellung weiterer Papiere hinausgehen?Die bisherigen internen Studien zur Umsiedlung waren vernichtend genug; die erste lag schon 1983 vor. Die jüngste, im Juni 1993 fertiggestellte Studie stellt wiederum fest, daß die seit 1980 bestehende Umsiedlungsrichtlinie der Weltbank häufig nicht zur Anwendung kommt und für manche Projekte überhaupt keine Daten über die wirtschaftliche Situation der Betroffenen erhoben wurden.
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18020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Konrad Weiß
Auf meine Frage, wie die Weltbank nach Kenntnis der Bundesregierung sicherstellen will, daß die Kreditnehmer ihren Verpflichtungen bei Umsiedlungsmaßnahmen nachkommen, antwortete die Bundesregierung, daß u. a. jede Projektvereinbarung Sanktionsmechanismen für den Fall enthalte, daß der Kreditnehmer seine Verpflichtung nicht erfülle. Nun frage ich mich, wie die Weltbank das bewerkstelligen will, da sie nach eigener Aussage nicht oder nur unzureichend über die Daten verfügt, die das Auslösen von Sanktionen überhaupt erst möglich machen würden.Ganz offensichtlich vernachlässigt die Bundesregierung also ihre Pflicht, die Arbeit der Weltbank wirkungsvoll zu kontrollieren und einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Geld deutscher Steuerzahler zu gewährleisten. Gerade angesichts der angespannten Haushaltslage müßte die Bundesregierung doch an einer effizienten Verwendung ihrer Mittel interessiert sein. Immerhin ist sie die drittgrößte Geldgeberin innerhalb der Bank.Die bisherigen Reformschritte der Bank reichen nicht aus, um zu gewährleisten, daß die Weltbankaktivitäten den Anforderungen einer nachhaltigen Entwicklung gerecht werden. Die Reformen im Bereich Informationspolitik und Beschwerdekommission sind nur halbherzig. Um Rechenschaftspflicht und Transparenz gegenüber den Mitgliedstaaten und der von den Projekten betroffenen Bevölkerung zu gewährleisten, ist es entscheidend, daß die grundlegenden Projektdokumente vor der Abstimmung im Exekutivdirektorium veröffentlicht werden. Die Berufungskommission z. B. hat lediglich eine Alibifunktion, wenn den Exekutivdirektoren das Recht eingeräumt wird, die Prüfung eines Projektes zu untersagen, und wenn die Empfehlung der Berufungskommission nicht bindend wird.Die bisherigen Erfahrungen sprechen für sich: Sechs Monate nach Vorliegen des Morse-Berichtes und gegen 42 % der Stimmen im Exekutivdirektorium, die Bundesrepublik eingeschlossen, hat die Weltbank dennoch Kredite für das Narmada-Projekt vergeben.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben daher einen Antrag zur Reform der Weltbank eingebracht, dessen Vorschläge weit über die bisher diskutierten hinausgehen und dessen Verwirklichung dazu beitragen würde, daß die von Deutschland der Weltbank zur Verfügung gestellten Mittel entwicklungspolitisch sinnvoll und haushaltspolitisch verantwortlich verwendet werden könnten.Ich danke Ihnen.
Nun spricht als nächster Herr Bundesminister Carl-Dieter Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das weltpolitische Umfeld der Entwicklungspolitik hat sich seit Beginn der 90er Jahre grundlegend gewandelt. Die Rahmenbedingungen und Aufgaben, aber auch die Möglichkeiten und die Erwartungen, die sich an dieEntwicklungspolitik richten, sind nicht mehr dieselben wie vor der welthistorischen Wende von 1989 und 1990.Zu den traditionellen Entwicklungsländern sind nach dem Zusammenbruch des ehemals kommunistischen Machtblocks neue Entwicklungsländer in Zentralasien und Staaten mit entwicklungsländertypischen Strukturen in Osteuropa hinzugekommen. Zugleich treten uns in Asien, aber auch in Teilen Lateinamerikas Länder gegenüber, die dabei sind, das Armutsproblem in den Griff zu bekommen, und sich auf wirtschaftlichem Gebiet mit großer Geschwindigkeit in moderne Industriestaaten wandeln.Die internationalen Beziehungen lassen sich heute nicht mehr an den Achsen Ost und West, Nord und Süd ausrichten, sondern verlangen eine gemeinsame Politik zur Lösung der globalen Aufgaben der Friedenssicherung, des Schutzes der Umwelt und der Eindämmung der weltweiten Wanderungsbewegungen. Der Entwicklungspolitik kommt deshalb heute mehr denn je eine friedens- und ordnungspolitische Dimension zu. Entwicklungszusammenarbeit ist unsere konstruktive Antwort auf weltweite Tendenzen der Auflösung und Zersplitterung politischer und gesellschaftlicher Strukturen. Sie eröffnet den bedrängten und notleidenden Menschen Perspektiven für eine bessere Zukunft.Mit ihrer entwicklungspolitischen Konzeption hat die Bundesregierung frühzeitig und umfassend auf diese neue Ausgangslage reagiert. Im Neunten Entwicklungspolitischen Bericht ist ausführlich dargelegt, wo wir die neuen Akzente setzen. Wir haben der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ein eigenes politisches Profil gegeben. Denn Entwicklungspolitik folgt nicht nur humanitären Erwägungen. Sie liegt auch im deutschen Interesse und macht unsere eigene Zukunft sicherer.Gleichzeitig haben wir die Verantwortlichkeiten klar angesprochen. Entwicklungszusammenarbeit kann nur dann ihre volle Wirksamkeit entfalten, wenn sie ernsthafte Anstrengungen der Entwicklungsländer ergänzt.
Deshalb binden wir Art und Ausrichtung unserer Leistungen an die Herstellung entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen und unterstützen unsere Partner bei Reformen.Entwicklungspolitik ist Teil der deutschen Außenbeziehungen. Eine neue weltpolitische Ausgangslage erlaubt es jedoch, sie zunehmend nach ihren eigenen und fachspezifischen Kriterien auszurichten. Wir haben Schluß gemacht mit der traditionellen Entwicklungspolitik der 60er und 70er Jahre, die Entwicklung durch die Überweisung finanzieller Mittel und die Übertragung von Industrieländermodellen erreichen zu wollen.Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit stellt sich heute der Aufgabe der Transformationshilfe. Mit den Mitteln der Finanziellen und Technischen Zusammenarbeit, aber auch der gesellschaftspolitischen Bil-
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Bundesminister Carl-Dieter Sprangerdung unterstützen wir die Strukturanpassung insbesondere auch im Osten. Marktwirtschaft und Demokratie sollen in das spezifische kulturelle Umfeld dieser Länder eingepaßt werden.
Die Entwicklungspolitik in der zwölften Legislaturperiode mußte sich jedoch auf Veränderungen nicht nur in der Welt, sondern auch bei uns in Europa und im eigenen Land einstellen. Die Stabilisierung unserer Nachbarstaaten im Osten ist für Europa und Deutschland zur herausragenden Aufgabe geworden.Gleichzeitig belastet die Bewältigung der schlimmen Hinterlassenschaft des Sozialismus in den neuen Bundesländern unsere Finanz- und Wirtschaftskraft aufs äußerste. Es ist immer wieder verblüffend, mit welcher Unverfrorenheit ausgerechnet Vertreter von SED/PDS nach altbekanntem kommunistischem Weltbild die Entwicklungspolitik der Bundesregierung kritisieren.
Denn die an sich wünschbare Ausweitung des Entwicklungshaushaltes ist gerade deswegen, weil wir die Erblasten der SED/PDS abzutragen haben, derzeit nicht zu verwirklichen.
Mit der Konsolidierung der Bundesfinanzen schaffen wir jedoch die Voraussetzungen für die gesteigerte Leistungsfähigkeit Deutschlands in der Zukunft. Dies liegt auch im Interesse der Entwicklungspolitik, die ihren Teil gesamtstaatlicher Verantwortung mitträgt. Die absolute Höhe des Entwicklungshaushalts kann nicht Kriterium für den Erfolg und die Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit sein. Der Erfolg wird vielmehr durch die effiziente Verwendung der Mittel sichergestellt.
— Herr Kollege Hauchler, es verwundert mich schon, daß Sie die ersten sieben Minuten völlig ruhig waren. Aber als ich mir erlaubt habe, die Kollegin Fischer zu kritisieren, sind Sie plötzlich mobil geworden. Ich würde mich doch nicht so identifizieren und diese Kritik sozusagen persönlich nehmen. Ich habe ja nicht Sie, sondern die anderen gemeint.
Bei der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit wirken wir darauf hin, durch verbesserte Kontroll-und Evaluierungsmechanismen die Projektqualität zu steigern. Der Bericht des ehemaligen deutschen Weltbankvizepräsidenten Wapenhans, nach dessen Empfehlungen inzwischen nicht nur die Arbeit der Weltbank, sondern auch die anderer multilateraler Geber reorganisiert wird, hat hier Maßstäbe gesetzt.Die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union wird uns in diesem Jahr die Möglichkeit geben, unsere Vorschläge zur Verbesserung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit noch dringlicher vorzutragen. Wir wollen mehr Transparenz, eine Straffung der Arbeitsabläufe in der Europäischen Kommission und einen länderspezifischen Ansatz durchsetzen, der ein höheres Maß an Komplementarität zwischen der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten gewährleistet.
In unserer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit haben wir durch eine bessere Feinabstimmung von finanzieller und technischer Hilfe bereits wichtige Schritte in Richtung auf mehr Wirksamkeit gemacht. Die heutigen Prüfverfahren bieten die Gewähr für eine optimale Einpassung der Projekte in ihr soziokulturelles und ökologisches Umfeld. Mit unseren Länder- und Regionalkonzepten, der Konzentration auf Schwerpunktsektoren und auf Schwerpunktländer haben wir das Rüstzeug, urn die Wirksamkeit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit weiter zu verbessern.Wir müssen auch die Entwicklungspolitik in Deutschland noch breiter verankern. Das partnerschaftliche Zusammenwirken mit öffentlichen Körperschaften wie Ländern und Gemeinden sowie privaten Nichtregierungsorganisationen ist der richtige Weg dazu. Einer eigenen Entwicklungspolitik der Gemeinden bedarf es dazu allerdings nicht.
Dies ist nach dem Grundgesetz auch gar nicht möglich.
Die entwicklungspolitische Konzeption des Bundes, die immer stärker auf die Begleitung von Umgestaltungsprozessen abstellt, bietet allerdings eine Fülle von Möglichkeiten für die Nutzung von Erfahrungen aus der Praxis gelebter kommunaler Demokratie. Ich denke hier insbesondere an Projekte zur Stärkung der kommunalen Verwaltungsstrukturen und der Dezentralisierung.
Effiziente Entwicklungszusammenarbeit, die etwas bewirken soll, wird nicht mit dem finanziellen Füllhorn gemacht, sondern ist eine Frage des richtigen Konzepts, effizienter Instrumente und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit in unserem Land und mit den Entwicklungsländern.
Dies sind die Grundsätze, die die Entwicklungspolitik der Bundesregierung prägen und die ihr national wie international hohe Anerkennung verschafft haben.In den Anträgen der Koalition, die heute hier zur Debatte stehen, wird die entwicklungspolitische Linie der Bundesregierung bestätigt. Ich danke Ihnen für Ihre Zustimmung und für Ihre Unterstützung; ich danke Ihnen auch für neue Anregungen und schließe
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18022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Bundesminister Carl-Dieter Sprangerdarin ebenfalls diejenigen Kollegen aus den Reihen der Opposition ein,
die sich mit uns um eine breite gesellschaftliche Trägerschaft für die Entwicklungspolitik bemühen.
Lassen Sie uns darin gemeinsam fortfahren, ohne jedoch den realistischen Blick für das unter den gegebenen Umständen Machbare zu verlieren!
Nun spricht der Kollege Professor Dr. Ingomar Hauchler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum einen möchte ich mich heute auf den Entwicklungspolitischen Bericht beziehen, der im vergangenen Jahr vorgelegt wurde. Leider debattieren wir erst heute über diesen Bericht, der den Zeitraum 1989 bis 1991 umfaßt. Gestatten Sie mir deshalb, daß ich nicht nur auf den Bericht eingehe, sondern zum anderen auch zur Gesamtpolitik der Bundesregierung im Bereich der Entwicklungspolitik spreche.Lassen Sie mich mit einem Dank beginnen! Wer diesen Bericht aufmerksam liest, weiß, daß er ein Dokument vor sich hat, das tatsächlich in breiter und sehr guter Form eine Dokumentation der Probleme der Entwicklungspolitik darstellt. Herzlichen Dank dafür also den Beamten und den Fachleuten, auch Ihnen, Herr Minister. Ich glaube schon, daß dieser Bericht vor allem auf dem Gebiet der Darstellung der Probleme und der Ziele der Entwicklungspolitik unsere Zustimmung finden kann. Also Dank und Zustimmung dafür!Sie werden sich aber natürlich nicht wundern, wenn die Opposition hier im Hause dann doch vor allem auf die Differenzen abhebt, die wir in wichtigen politischen Fragen haben. Wir haben deshalb einen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt. Ich will einige Punkte daraus nehmen und sie akzentuieren.Erstens. Die Bundesrepublik hat im wesentlichen richtige Kriterien formuliert und auch richtige Schwerpunkte gesetzt, hält sich aber nicht daran.
Die Kriterien Menschenrechte, Demokratie, good governance, Abrüstung, Umwelt usw., also die Forderung an Entwicklungsländer, selbst ihren Staat, ihre Wirtschaft in Ordnung zu halten, teilen wir selbstverständlich, und wir sind auch der Meinung, daß gerade die Schwerpunkte Bildung, Umwelt, Förderung von Frauen, Kampf gegen die Armut, vor allem aber Bekämpfung des schlimmen Bevölkerungswachstums richtig sind. Hier sind wir in einem Boot.Nun ist es aber tatsächlich so, daß das alles, was hier an Kriterien und Schwerpunkten auch im Bericht genannt ist und was Sie, Herr Minister, immer so stark betonen, in der deutschen Entwicklungspolitik eben nicht umgesetzt wird. Es gibt eine Art Populismus des Ministers und keinen Durchsetzungswillen der Regierung in diesen Fragen. Das beklagen wir immer wieder hier in diesem Hause. Das fällt auch international auf und beschädigt die Glaubwürdigkeit der deutschen Entwicklungspolitik.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Sie sind immer noch der Meinung, daß deutsche Unternehmen Waffen in Entwicklungsländer liefern können. Gleichzeitig sind Sie dafür, daß deutsche Soldaten Kriege und Bürgerkriege in Entwicklungsländern bekämpfen. Also: Deutsche Soldaten kämpfen gegen deutsche Waffen in Entwicklungsländern, und deutsche Entwicklungshelfer heilen die Wunden. So geht es nicht!
Dies trägt nicht zur Glaubwürdigkeit unserer Entwicklungspolitik bei.
Zweitens. Die Bundesregierung setzt ihren finanziellen Kahlschlag in der Entwicklungszusammenarbeit fort. Der Bundesminister hat heute leider überhaupt nicht zu der Frage Stellung genommen, wie sich denn die deutschen Mittel für Entwicklungspolitik in den vergangenen Jahren entwickelt haben.Meine Damen und Herren, sie haben sich rückläufig entwickelt, und wir haben jetzt wieder — aktuell — die Notwendigkeit, den Entwicklungsetat herunterzukürzen. Wir sind inzwischen bei 0,33 % des Bruttosozialprodukts angelangt. Wir starteten mit einem Hoch von 0,48 % Anfang der 80er Jahre, und Sie haben das systematisch auf 0,33 % heruntergebracht. Inzwischen beträgt der Entwicklungshaushalt nur noch 1,7 % des Bundeshaushalts.Also: Während der Bundeshaushalt insgesamt in den vergangenen Jahren mit beträchtlichen Quoten angestiegen ist, sind wir immer weiter zurückgegangen,
was den Anteil der Entwicklungspolitik angeht.Wenn Sie dann, Herr Minister Spranger, von den Wohltaten der deutschen Entwicklungspolitik in der Welt sprechen, so ist das unglaubwürdig; denn man kann nicht sagen, es komme gar nicht soviel auf das Geld in der Entwicklungspolitik an, wenn man selbst im eigenen Land weiß, daß man riesige Transferbeträge braucht, um ein Land wie die ehemalige DDR, wie die neuen Bundesländer, zu transformieren und in eine westliche Marktwirtschaft einzubinden.Es wirkt dann schon sehr eigenartig, wenn man die ganze Schuld den Entwicklungsländern zuweist, wenn man sagt: Ihr müßt alles zuerst machen, und dann kommen wir, und Geld ist gar nicht die Hauptfrage, sondern entscheidend ist die Qualität der
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Dr. Ingomar HauchlerDinge. Ich finde, diese Argumentation ist scheinheilig.
Wir haben inzwischen einen Bundeshaushalt, was die Entwicklungspolitik betrifft, von 8,2 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, das ist viel Geld.
Aber bedenken Sie, daß ein x-fach Mehrfaches — —
— Ja, ein x-fach Mehrfaches, weil ich es nicht genau weiß, weil es eine Dunkelziffer ist. Aber man weiß, daß dies ein Bruchteil dessen ist, was jährlich durch Steuerhinterziehungen dem Staat verlorengeht. Da tun Sie nichts!
Da tun Sie überhaupt nichts. Für Somalia werden 400 Millionen DM so schnell einmal ausgegeben, aber für Entwicklungspolitik, für Wiederaufbau, für Vorbeugung und für Prävention werden für so ein Land vielleicht einmal 30 oder 40 Millionen DM im Jahr ausgegeben.
Meine Damen und Herren, das ist kurzsichtig. Es beschädigt Vertrauen, wenn so die Akzente gesetzt werden.Drittens. Wir registrieren insgesamt in der Entwicklungspolitik der Bundesregierung eine Art Renationalisierung der Entwicklungshilfe, und wir bedauern das.
Es ist die Rede von einer wachsenden globalen Verantwortung der Deutschen. Der Bundeskanzler betont das immer wieder. Das wird beschworen, aber real, wenn Sie sich die Zahlen ansehen, wird weniger ausgegeben — beispielsweise für deutsche Beiträge zum Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen. Man tritt auf die Bremse beim globalen Umweltfonds der Weltbank, der in Rio erst beschlossen worden ist, und man tritt auch auf die Bremse bei UNDP in New York.Was die europäische Entwicklungszusammenarbelt angeht: In Maastricht wurde gerade beschlossen, daß Entwicklungspolitik eine wichtige Gemeinschaftsaufgabe ist. Aber Realität ist, daß sich hier nichts Wesentliches nach vorne bewegt, daß die Handelspolitik der EG, die Entwicklungspolitik, die Wirtschaftspolitik der EG nicht abgestimmt sind. Ich weiß aus einem kürzlichen Gespräch mit Ihrem Kollegen, mit dem Entwicklungsminister aus Holland, daß er beispielsweise sagt: Staatssekretär Repnik spielt eine gute Rolle in der Zusammenarbeit,
aber das ist eher eine Zusammenarbeit im bilateralen Bereich.
Wir sind noch nicht so weit, daß wir wirkliche Initiativen der Bundesregierung ' sehen, was eine echte europäische Zusammenarbeit auf diesem Gebiet betrifftWir würden also bedauern, wenn es zu einer Renationalisierung der Entwicklungszusammenarbeit kommen würde. Wir erkennen Tendenzen in dieser Richtung.Anderseits beklagen wir, daß wir im Widerspruch dazu eine Art blinde Gefolgschaft der Bundesregierung zu allem, was in den globalen Finanzinstitutionen, beim IWF oder bei der Weltbank, getan wird, erleben; eine Art blindes Vertrauen in die Weisheit der Bürokraten in schwarzen und blauen Nadelstreifen in New York ist einfach vorhanden, und irgendwie nehmen Sie nicht zur Kenntnis, daß dort in den vergangenen Jahren schwerste Fehler gemacht worden sind, daß riesige Mittel für den falschen Zweck ausgegeben werden, ja daß riesige Mittel ausgegeben worden sind, die sogar entwicklungshemmend waren. Das müssen Sie einmal thematisieren. Sie müßten sich an Initiativen beteiligen, wie sie hier von den GRÜNEN beispielsweise zur Reform der Weltbank und des IWF vorgetragen worden sind.
Ich möchte zitieren, was eine große — noch einigermaßen große — Tageszeitung am Montag zu diesem Thema geschrieben hat. Herr Brüggemann, „Die Welt", hat gesagt:Der Internationale Währungsfonds hat bei der Erarbeitung eines Hilfspakets für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion keine eindrucksvolle Rolle gespielt. Er hat die politische Dimension und Dynamik der Probleme nie richtig einzuschätzen gewußt.Das hätte ich von Ihnen auch gern einmal gehört. Er sagt weiter:Es gibt nur wenig Grund zu der Annahme, daß der IWF intellektuell und personell einer solch großen Aufgabe gewachsen sein könnte.Hört, hört, ein Zitat eines Journalisten von der „Welt", der wirklich nicht verdächtig ist, uns nach dem Munde zu reden.Wir sagen das seit Jahren. Wir Deutschen müssen mit unseren großen Beiträgen zu diesen Finanzinstitutionen dafür sorgen, daß hier eine stärkere Kontrolle ausgeübt wird und daß die Politik dort nach unseren Zielsetzungen gestaltet wird.
Der vierte Gesichtspunkt: Wir registrieren immer wieder, daß wir selbst, wir im Norden, unfähig sind, wirkliche Reformen einzuleiten, vor allem die Reformen, die wir selbst mit in Rio de Janeiro beschlossen I haben, daß wir aber sehr schnell dabei sind, den Osten
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18024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Ingomar Hauchlerund den Süden mit Strukturanpassungsauflagen zu überfordern.
Wir sind der Meinung, daß Strukturanpassungen sein müssen, aber wir denken, auch im Norden und vor allem im Norden. Wir haben bessere Voraussetzungen dazu.
Wir denken, es muß politisch machbar sein, was wir empfehlen, sonst provozieren wir Revolution oder Schirinowskis. Wir sind der Meinung, Strukturanpassungen müssen sozial und ökologisch verträglich geschehen.
Hören Sie also auf, immer große Forderungen in arroganter Weise an arme Länder zu richten, ohne den Beweis anzutreten, daß Sie selbst ökologisch, sozial, politisch, ökonomisch nach vorn gehen.
Schließlich noch ein fünfter Gesichtspunkt, der mir doch relativ wichtig ist. Die Bundesregierung hat schwere Fehler in der Zusammenarbeit mit Osteuropa und mit Ländern der ehemaligen GUS begangen. Ein Bericht des Bundesrechungshofes weist dies aus.Es sind hier offenbar Steuergelder durch Ressortegoismus und Profilierungssucht einzelner Ministerien, aber auch durch Inkompetenz, durch die mangelnde Fähigkeit, die Beratung an konkrete historische Entwicklungslagen anzupassen, verschwendet worden. Wir bedauern das sehr, und wir fordern, daß dies im Parlament aufgeklärt wird.
Lassen Sie mich letzen Endes noch einen sechsten Gesichtspunkt beitragen. Ich denke, die Entwicklungspolitik, wie die Bundesregierung sie betreibt, ist nicht im wohlverstandenen Eigeninteresse auch unseres Landes. Wir meinen, Eigeninteressen neben Solidarität in der Entwicklungspolitik sind nicht illegitim. Sie sind legitim; ich unterstütze Sie da.Die Frage ist nur: Was sind denn die wohlverstandenen Eigeninteressen? Wir sind nicht der Meinung, daß es in wohlverstandenem Eigeninteresse ist, vor allem den Weg einseitiger Begünstigung einzelner Konzerne durch Entwicklungspolitik zu betreiben,
sondern in unserem Interesse ist es, die schrecklichen globalen Folgen abzuwehren, die aus Bevölkerungswachstum, Armut und Umweltzerstörung herauskommen. Das ist das eigentliche Interesse dieses Landes, und dieses Interesse darf nicht durch kurzfristige private Geschäftsbegünstigungen konterkariert werden.Andererseits haben wir überhaupt nichts dagegen, wenn Entwicklungspolitik auch eine ökonomische Komponente hat. Deshalb meinen wir, wir müssen hin zu einer konstruktiven Beziehung zwischen Unternehmen und Staat auch in der Entwicklungspolitik.Das wünschen wir, aber nicht einseitige Begünstigung, sondern konstruktive Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen auf diesem Feld. Wir brauchen dringend die NGOs, brauchen aber auch dringend privates Kapital und die Kompetenz privater Unternehmen in den Entwicklungsländern. Damit sind wir einverstanden. Aber nur in diesem Sinne sollten wir eigene Interessen vertreten.Herzlichen Dank.
Nun spricht der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer den Kollegen Ingomar Hauchler im Ausschuß erlebt, weiß, wie konstruktiv und sachlich er dort vorträgt, und immer, wenn er ein Mikrofon vor sich hat, insbesondere das am Rostrum dieses Plenums, dann hat er eine gewisse zweite Person; aber auch das nehmen wir natürlich zur Kenntnis.
Ich will nur auf folgenden Tatbestand hinweisen, und das halte ich für durchaus legitim. Ich glaube nicht, daß wir hier auseinander wären, wenn ich Ihnen hier ganz konkret folgendes sagte: Die Ministerpräsidenten von zwei Ländern, die Wirtschaftsminister mehrerer Länder, die sozialdemokratisch geführt werden, werden bei Abgeordneten — so auch bei Mitgliedern unseres Ausschusses — vorstellig, um dabei behilflich zu sein, Geschäfte auch großer Konzerne in Ländern der sogenannten Dritten Welt anzubahnen und zu unterstützen. Dies dann als Förderung von Konzerninteressen zu diffamieren, ist schlicht und ergreifend dummes Zeug; anders kann man es nicht formulieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit den Maastrichter Verträgen ist ja ein neues Kapitel in der europäischen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eingeleitet worden. Wir sollten aber natürlich nicht verschweigen, daß eine Fülle von Problemen geblieben ist. Ich nenne als erstes die Abstimmungen zwischen den Politikbereichen in der Europäischen Union und mit nationalen Politiken, zusammengefaßt unter dem sogenannten Kohärenzgebot oder -prinzip. Es ist schon durchaus kontraproduktiv, wenn die EU ihre einzelnen Politikbereiche und die Politiken der nationalen Staaten nicht untereinander abstimmt, sondern sogar Maßnahmen eingeleitet werden, die sich gegenseitig aufheben. Ich nenne z. B. — Sie kennen alle den berühmt-berüchtigten Fall — die Rindfleischexporte nach Westafrika. Es ist wirklich dem deutschen und europäischen Steuerzahler nicht klarzumachen, daß wir im Laufe von Jahren 50 oder 60 Millionen DM an Unterstützung zum Aufbau von landwirtschaftlicher Nutztierhaltung in Westafrika geben
Klaus-Jürgen Hedrich— ich kritisiere hier auch die Bundesregierung —
und gleichzeitig mit hohen Subventionen den Export in diese Länder unterstützen und damit die heimischen Märkte zerstören; das kann nicht in unserem Interesse sein.
Deshalb führt uns das zu der gesamten Problematik des Verhältnisses von multilateraler und bilateraler Zusammenarbeit. Generell halten wir es für richtig, daß der Anteil der multilateralen Hilfe am Haushalt des BMZ, der jetzt fast 35 % ausmacht, schrittweise zurückgeführt wird. Hier stimmen wir übrigens mit dem Haushaltsausschuß völlig überein, der diesen Beschluß — auch mit der Zustimmung der Kollegen von der SPD — gefaßt hat.Herr Minister, wir begrüßen deshalb die Aussage der Bundesregierung, daß sie auch ihre Einsparauflage von 145 Millionen DM vorrangig aus der multilateralen Zusammenarbeit nehmen will. Unsere Forderung ist: Gehen Sie hier bis an die Grenze des Machbaren. Wenn man sich nämlich anguckt, wie zögerlich die anderen europäischen Staaten das Geld einzahlen, muß Deutschland, wenn es knapp bei Kasse ist, in diesem Zusammenhang nicht immer der Vorreiter sein.Gleichzeitig plädieren wir für eine Konzentration der europäischen Entwicklungspolitik auf die Zusammenarbeit mit anderen Staatengruppen, auf die Katastrophen- und Nahrungsmittelhilfe sowie auf den globalen Umweltschutz. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch ein Problem, das wir im Ausschuß immer wieder diskutieren: Viele Projekte der europäischen Entwicklungspolitik sind nicht originär. Sie könnten ebensogut auf nationaler Ebene abgewickelt werden.
Besonders ärgerlich ist es, wenn sich sowohl die nationalen europäischen Staaten als auch die EU im gleichen Aufgabenfeld tummeln. Beispiel: Demobilisierung der Contras und der Soldaten in El Salvador. Die europäische Ebene ist tätig. Die Deutschen sind tätig. Andere Europäer sind tätig. Die Amerikaner sind tätig. Dies alles ist kontraproduktiv, und die Abstimmungsprozesse lassen zu wünschen übrig.
Es geht hier nicht um eine einseitige Schelte multilateraler Zusammenarbeit. Es gibt durchaus Projekte, bei denen die europäische Ebene sinnvoll ist. Ein Beispiel im gleichen Land, in El Salvador: das Polizeihilfeprojekt. Für den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats ist eine an Verfassungsgrundsätzen orientierte und nicht korrupte Polizei unverzichtbar. Da wir im Falle Guatemala eine heftige innenpolitische Diskussion hatten — der jetzige Minister weiß aus früherer Tätigkeit ein Lied davon zu singen —, wo es ebenfalls um den Aufbau einer demokratisch legitimierten Polizei geht, ist es vernünftig, solche Projekte nach Möglichkeit dem Parteiengezänk zu entziehen.
Die Durchführung solcher Maßnahmen durch die EU kann deshalb nur nützlich sein.Ein völlig anderes Thema, das aber, glaube ich, in diesen Zusammenhang hineingehört, ist die Mitwirkung des Parlaments. Viele internationale Vereinbarungen mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für den bundesdeutschen Haushalt wurden von der Bundesregierung mehr oder weniger ohne vorherige Konsultation des Deutschen Bundestages abgeschlossen. Als Beispiel nenne ich Lomé IV. Für das nächste Finanzprotokoll, bei dem es ebenfalls wieder um Milliardenbeträge geht, schließt sich die CDU/CSU- Bundestagsfraktion der Beschlußfassung des Haushaltsausschusses an. Dieser Beschluß fordert die Bundesregierung auf, den Finanzrahmen bei internationalen Verträgen vor der Aufnahme eigentlicher Verhandlungen mit dem deutschen Parlament abzustimmen.
Dabei muß der Umfang unserer Beiträge nicht dem Maßstab internationaler Wohlgefälligkeit, sondern der deutschen Leistungsfähigkeit entsprechen.
— Und den Notwendigkeiten; auch das. — Der entscheidende Punkt — Kollege Holtz, da sind wir, glaube ich, nicht auseinander — ist eigentlich der: Wir wollen rechtzeitig darüber informiert werden und beteiligt sein — um wieviel Milliarden geht es? wofür ist das? wie sind die Notwendigkeiten? —, so daß wir zum Schluß nicht nur noch ja und amen sagen können, weil wir die Bundesregierung dann, wenn der Vertrag erst einmal unterzeichnet ist, nicht im Regen stehenlassen können. Deshalb: Es geht hier um eine stärkere Mitsprache.
Wir begrüßen übrigens ausdrücklich, daß jetzt für die weiteren Verhandlungen mit den AKP-Staaten die Demokratieklausel aufgenommen worden ist. Deshalb, Kollege Hauchler, kann ich Ihre Kritik teilen und muß sie trotzdem zumindest zum Teil zurückweisen. Ich glaube nicht, daß wir besonders gut beraten waren, was das Hin und Her mit Rotchina anbetrifft. Vielleicht sind wir aber selbstkritisch genug, folgendes zu beherzigen: Bevor wir hehre Grundsätze fassen und die moralischen Maßstäbe ganz hoch hängen, sollte vielleicht auch der Bundestag zurückhaltend sein und sich darüber im klaren sein: Es könnte ja sein, daß er nach einem Jahr oder nach zwei Jahren an seinen eigenen Maßstäben gemessen wird.
Also: Etwas mehr Zurückhaltung vielleicht auch dieses Gremiums — und nicht nur Kritik an der Bundesregierung — wäre möglicherweise durchaus angemessen.
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Klaus-Jürgen HedrichNichtsdestotrotz besteht doch kein Streit in diesem Gremium, glaube ich, wenn wir festhalten: Wenn eine Regierung nicht nur darauf achtet, daß die marktwirtschaftlichen, die privatwirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, daß Investitionsschutzabkommen gegeben sind, sondern auch wirklich darauf achtet „Handelt es sich um eine Regierung, die sich nicht vorrangig selbst bereichert? Handelt es sich um eine Regierung, die die Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen teilnehmen läßt?", dann sollte man dies auch in einen Vertrag — wie jetzt das nächste Finanzprotokoll mit den AKP-Staaten — hineinschreiben. Dann ist das ein Maßstab, glaube ich, an dem sich die Bundesregierung, aber auch der Deutsche Bundestag sowie dann auch die Europäische Union insgesamt messen lassen müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt im Rahmen der europäischen Entwicklungspolitik in der Tat noch eine Menge zu tun. Ich glaube, in der Tat, daß wir sehr nachhaltig darauf achten müssen, daß die Politikbereiche abgestimmt werden. Es ist durchaus richtig, wenn gesagt wird, die Öffnung unserer Märkte und eine solide Handelspolitik können den Entwicklungsländern möglicherweise mehr helfen als die Entsendung teuer bezahlter Experten. Hier müssen wir auch selbst in unserem eigenen Bundestag ringen. Hier stoßen sich, wenn man die Vorlagen der einzelnen Ausschüsse sieht, durchaus viele Interessen im Raum. Es wird dann darauf ankommen, daß wir in der Lage sind, die Interessen nicht nur unseres eigenen Landes, sondern auch unsere eigenen Interessen mit den Interessen der Völker der Dritten Welt abzustimmen.Herzlichen Dank.
Nun hat Herr Staatsminister Schäfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutsche Außen- und Entwicklungspolitik muß ein kohärentes Ganzes bilden. Sie steht immer wieder vor der Aufgabe, neue Entwicklungen dynamisch aufzunehmen und sie umzusetzen. Nur so kann sie Erfolg haben.Längst hat im Kreis der Entwicklungsländer ein Prozeß der Differenzierung begonnen, der zu den weltpolitisch ganz bedeutenden Veränderungen unserer Zeit gehört.
Der Begriff „Dritte Welt" wird immer fragwürdiger. Erfolgreichen Volkswirtschaften in Asien und Lateinamerika steht die trotz aller Entwicklungsbemühungen zunehmende Verarmung vieler afrikanischer Staaten, vor allem südlich der Sahara, gegenüber. Ausländische Direktinvestitionen gingen 1993 zu fast 60 % in den pazifischen Raum, zu 30 % nach Lateinamerika und nur noch zu 7 % in das Afrika südlich der Sahara.Welche Schlüsse haben wir daraus zu ziehen? Das Beispiel der erfolgreichen reformwilligen Entwicklungsländer muß uns selbst ermutigen, mit unserer Hilfe dort, wo sie weiter dringend gebraucht wird, fortzufahren. Nach unserem Gesamtvolumen liegen wir hinter den USA, Japan und Frankreich auf Platz 4 der Geberliste. Das ist respektabel und sollte trotz unserer unbestreitbaren großen inneren Belastung auch so bleiben. Wenn wir eine Wirtschafts- und Kulturnation von Weltrang bleiben wollen, müssen wir den Blick über Europa hinaus richten. Die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern bleibt dabei ein ganz notwendiges Element unserer zugleich wert- wie natürlich auch interessenorientierten Politik.Angesichts knapper Haushaltsmittel sind dabei jedoch der Wille zur Selbsthilfe, zur Selbstverantwortung, zur Marktwirtschaft und zum Schutz der Menschenrechte auf der Seite der Entwicklungsländer unabdingbarer denn je. Die 48. UNO-Generalversammlung hat erneut gezeigt: Das positive neue Denken setzt sich auch dort mehr und mehr durch.Aber, meine Damen und Herren, wir müssen die Kräfte bündeln. Abstimmung und Kooperation mit anderen Gebern müssen verstärkt werden. Wir brauchen mehr entwicklungspolitische Kohärenz in den einzelnen Politikbereichen.
Das Stichwort Bananenimport und — der Kollege hat gerade darauf hingewiesen — die mehrfach subventionierten Rindfleischexporte nach Westafrika illustrieren, was ich meine.
Hier nehmen wir mit der Linken doppelt, was wir mit der Rechten geben. Das ist sowohl gegenüber den Empfängerländern als auch gegenüber unseren Steuerzahlern unverantwortlich.
In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Holtz, darf ich auf den Antrag der SPD-Fraktion Drucksache 12/4350 vom 12. Februar 1993 hinweisen. Darin wird gefordert, das Vorblatt bei Gesetzesvorhaben durch „Mögliche Auswirkungen auf Entwicklungsländer" zu ergänzen.
Ich halte dies für einen sehr guten Ansatz. Ich finde, wir sollten darüber nachdenken, daß wir das dann auch, bitte schön, umsetzen.
— Ich habe jetzt nicht den ganzen Antrag gemeint, sondern diesen speziellen Satz, den ich für besonders gut halte.Ich kenne die kritische Haltung der Entwicklungspolitiker in diesem Haus gegenüber der Brüsseler Entwicklungshilfe. Ich teile sie auch. Natürlich ist vieles reformbedürftig. Aber wir wollen schließlich
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Staatsminister Helmut Schäfereine gemeinsame europäische Politik auch und gerade im Nord-Süd-Verhältnis. Das Prinzip der Subsidiarität muß in beide Richtungen, also von oben nach unten und auch von unten nach oben Wirksamkeit entfalten können. Hier werden wir in Zukunft von Fall zu Fall die im deutschen, im europäischen und im Interesse der Entwicklungsländer effizienteste Lösung zu wählen haben.Auch hinsichtlich der Vereinten Nationen und der internationalen Finanzinstitutionen sollten wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Schon von der Dimension und von dem Gesichtspunkt der Lastenteilung her brauchen wir die multilaterale Zusammenarbeit.
Die deutsche Industrie kommt dabei gar nicht so schlecht weg. Bei multilateralen Ausschreibungen liegt der Lieferanteil deutscher Unternehmer — stets und zum Teil erheblich —
über dem jeweiligen deutschen Kapitalanteil, und zwar bei der Weltbank z. B. in einem Verhältnis von 11,4:5,3.Im Hinblick auf das Verhältnis bilaterale/multilaterale Entwicklungshilfe sollten wir natürlich immer auch die Wünsche der Entwicklungsländer im Auge behalten.Meine Damen und Herren, vor allem müssen wir für eine stärkere Kohärenz der entwicklungsrelevanten Politikfelder eintreten. Auf diese Weise erhalten wir eine Entwicklungspolitik, die die Wirkungen der Entwicklungshilfe verstärkt und diese nicht konterkariert. Den Nutzen davon werden Industrie- und Entwicklungsländer gemeinsam haben.
Nun spricht der Kollege Dr. Christian Ruck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Entwicklungspolitiker müssen zwei Tugenden haben, erstens einen unerschütterlichen Glauben in die Menschheit — trotz Burundi, Haiti und Angola — und zweitens den festen Willen, aus Fehlern zu lernen.
Ich halte es deshalb für außerordentlich sympathisch und anerkennenswert, daß sich das Bemühen, aus Fehlern zu lernen, wie ein ständiges Motto durch die deutsche Entwicklungspolitik zieht — auch der vorliegende Entwicklungsbericht ist eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun —, ausgehend von der politischen Spitze über die Beamten und die Entwicklungsexperten vor Ort bis hin zu dem gesamten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Opposition eingeschlossen.
Das gilt manchmal allerdings nur partiell. Herr Professor Hauchler, Sie haben nämlich in Ihrem — wie immer mit Verve vorgetragenen — Statement meiner Ansicht nach zum Teil schon ein bißchen scheinheilig argumentiert und außerdem das eine oder andere durcheinandergebracht. Daß Sie ausgerechnet uns oder dem Minister vorwerfen, er versuche, bei der GEF, also bei der Globalen Umweltfazilität, ein bißchen auf die Bremse zu drücken, ist insofern scheinheilig, als an der Existenz dieses Riesenprogramms, an dem wir mit Hunderten von Millionen, die im Haushalt eingestellt sind, teilnehmen, eigentlich wir „schuld" waren. Wir haben dieses Ding zusammen mit den Franzosen durchgedrückt. Das hätten Sie vielleicht auch sagen können.
— Natürlich fließen die!
Ich kenne doch zum Teil schon die Projekte.
— Alles dauert seine Zeit, vor allem bei 300 Millionen DM. — Auf der anderen Seite werfen Sie der Bundesregierung und z. B. auch der Weltbank vor, daß sie Millionen durchdrückten. Ich bin dafür, daß man gerade bei der Globalen Umweltfazilität sehr vorsichtig evaluien und plant. Es braucht eben ein paar Jahre, bis die Projekte stehen.
Frau Präsidentin, ich glaube, der Kollege Hauchler möchte eine Zwischenfrage stellen.
Sie gestatten diese Zwischenfrage offensichtlich.
Ja. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wunderbar.
Herr Kollege, geben Sie mir darin recht, daß das Zustandekommen des neuen Fonds, der in Rio beschlossen wurde, nicht an mangelnden neuen Projekten, sondern vor allem daran hängt, daß sich die Industrieländer über die gegenseitige Lastenverteilung noch nicht einig sind?
In dem einen Fall gebe ich Ihnen recht. Aber Sie müssen natürlich sehen, an welchen Industrieländern das hängt. Das hängt nicht an den Deutschen. Es liegt z. B. an unseren europäischen Nachbarn oder Übernachbarn, und es liegt zum Teil auch an den Japanern. An den Deutschen liegt es jedenfalls nicht. Wir sind bereit, über unsere IDA-Quote hinauszugehen — ich hoffe, daß wir das auch tun werden —, wenn andere sagen: Okay, dann erfüllen wir auch.Meine Damen und Herren, auch das Motto „Aus Fehlern lernen" hat, glaube ich, das international anerkannte Renommee der deutschen Entwicklungspolitik begründet. Das ist um so wichtiger in einer Zeit, in der die Probleme der Entwicklungsländer immer drängender werden, immer stärker auf uns überschwappen und in der — umgekehrt — die Sparzwänge der öffentlichen Hand auch an unserem Entwicklungsetat nicht spurlos vorübergegangen
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18028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Christian Rucksind. Da haben Sie recht, Professor Hauchler. Nur, ich halte es für ein bißchen scheinheilig, wenn Sie sagen, wir strichen den Entwicklungshaushalt zusammen, obgleich Sie, wenn Sie ehrlich sind, zugeben müssen — zumindest heimlich —, daß die SPD, wäre sie denn dran, die SPD-Finanzfachleute, überhaupt nicht daran denken würden, auch nur annähernd —jetzt, sofort — auf die 0,7, 0,5 oder 0,4 % zu gehen.
—Ja, aber dazu komme ich später. Wir haben auch ein Zeitziel angegeben. Auf das möchte ich dann noch eingehen.
— Wir erhöhen schrittweise: ein Schritt zurück, zwei Schritte nach vorn. Sie müssen es nur abwarten!
In der nächsten Legislaturperiode werden Sie die ersten Früchte unserer Bemühungen sehen.
Meine Damen und Herren, auch die heutige Debatte sollten wir zu Vorschlägen konkreter Art nutzen, um aus Gutem noch Besseres zu machen.Lassen Sie mich in der verbleibenden Redezeit noch auf zwei Punkte besonders eingehen. Ich glaube, ein großer Fortschritt der Entwicklungspolitik gerade unter Minister Spranger ist es, die Demokratie als wichtige Rahmenbedingung in der Dritten Welt viel stärker zu thematisieren. Unsere Hoffnung aber, mit der Einführung von Mehrparteiensystemen in den Entwicklungsländern hätten wir diese Rahmenbedingung erreicht, hat getrogen. In allzu vielen Fällen ist die Demokratie im Egoismus und Parteiengezänk erst einmal an der Spitze hängengeblieben und hat die Entwicklungsträger, die wir eigentlich ansprechen wollten, nämlich die breite Bevölkerung und die Menschen in den Städten und Dörfern, erst gar nicht erreicht. In manchen Fällen mußte das Mehrparteiensystem sogar dafür herhalten, korrupte Unrechtsstrukturen durch den Anstrich von Legitimität zu zementieren.Der vorliegende Antrag der Koalition zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung will Demokratie und Partizipation von unten, nämlich von der Basis, unterstützen. Nachhaltige Entwicklung kommt nicht allein von Großprojekten und nicht allein von verordneten Mehrparteiensystemen, sondern vor allem auch durch die Vielzahl der kleinen Einzelschritte der einfachen Menschen in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrer Großfamilie, in ihren Gemeinden und Dörfern.Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß viele Länder, gerade auch in Afrika, mit ihren willkürlichen Grenzen und ihrem demokratischen oder undemokratischen Zentralismus aus dem Scheitern nicht herauskommen werden. Kollege Schuster, bei unserer Inspektionsreise nach Tansania im letzten Jahr haben wir wieder einmal erfahren müssen, wie sehr die zentralistische und bürokratische Knebelung einesStaates auch das Leben der Dorfgemeinschaften lähmt
— ich kann jetzt nicht mehr darauf eingehen, weil mir die Redezeit davonläuft, Herr Kollege — und wie sehr durch diese Lähmung auch unsere Entwicklungsprojekte leiden.Hilfe zur Selbsthilfe heißt darum vor allem auch Hilfe zur Selbstverwaltung und Selbstorganisation kleinerer Lebenseinheiten. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, ihre Anstrengungen in diesem Punkt zu verstärken, und zwar vor allem in drei Schwerpunktbereichen:Zum einen als Querschnittsaufgabe der Projektarbeit. Projekte sind ja sehr oft ein sehr eleganter Katalysator, um sozusagen ganz nebenbei, durch die Hintertür, auch gemeindliche Selbstverwaltung anzuregen und aufzubauen.Zum zweiten dürfen wir gerade jetzt wichtige Verbündete im vorpolitischen Raum nicht hängenlassen: Die Kirchen und unsere Stiftungen — alle Stiftungen — leisten unschätzbare Dienste für die Selbstorganisation unserer Zielgruppen. Hier würden wir mit einer Kürzung unserer finanziellen Zuwendungen an der falschen Stelle sparen.Ausdrücklich würdigen möchte ich die zahllosen Entwicklungspartnerschaften deutscher Kommunen, vieler Verbände und Privatpersonen. Hier sind natürlich zumeist Amateure am Werk, aber mit viel herzlichem Engagement, wenngleich auch mit wenig Geld. Doch gerade dies provoziert die Partnergemeinden und Verbände in den Entwicklungsländern dazu, sich selbst stärker auf die Hinterbeine zu stellen. Wir unsererseits müssen alles tun, um solche Partnerschaften zu unterstützen. Ich weiß aus eigener Anschauung aus meiner Zeit in der Jungen Union, wie wohltuend es ist, wenn auch unsere Botschaften und unsere Entwicklungsprofis kommunale und private Kleinstprojekte ein bißchen mit Rat und Tat unterstützen.Wir alle wissen auch, wie wertvoll der interkommunale Transfer von Know-how z. B. gerade im Abfall- und Umweltbereich für Anregungen in der Dritten Welt ist.
Schließlich und vor allem müssen wir den Politdialog verstärken. Was wir von unseren Verhandlungspartnern einfordern müssen, ist nichts anderes als eine Staatsreform vom Kopf zu den Gliedern. Diese muß nicht nur auf einem sicheren Rechtsfundament stehen, sie bedingt auch eine Steuerreform. Denn ohne eigene finanzielle Mittel ist eine kommunale Selbstverwaltung sinnlos.
— Kollege Schuster, da müssen Sie nicht lachen; da können Sie bei Ihren eigenen Ländern anfangen.Lassen Sie mich schnell noch auf einen zweiten wesentlichen Entwicklungsbereich eingehen, der
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Dr. Christian Ruckverbesserungsbedürftig ist: Das ist die internationale Entwicklungspolitik, an der wir mit viel Geld beteiligt sind. Zu Recht beklagen wir hier fehlende Koordination und Kohärenz. Zu Recht kämpfen wir auch darum, daß sich unsere Schwerpunktsetzung, von der wir alle überzeugt sind, international durchsetzt. Entsprechende Reformvorschläge zum UNO-System haben wir im letzten Jahr verabschiedet. Zum Bereich der Europäischen Union hat der Kollege Hedrich gesagt, was Sache ist.Die erfolgreichste und einflußreichste Entwicklungsinstitution ist jedoch die Weltbank. 50 Jahre nach ihrer Gründung kann die Weltbank sicher auf beeindruckende Leistungen zurückblicken, aber beileibe nicht — das ist schon angeschnitten worden — auf eine ungetrübte Bilanz. Ich glaube schon, daß die Weltbank immer wieder bewiesen hat, daß sie zu eigenen Kurskorrekturen sehr wohl fähig ist. Eine solche erscheint gegenwärtig auch durchaus geboten.Der Wapenhans-Bericht dokumentiert, daß die Bank immer mehr Projekte in den Sand setzt. Großprojekte mit teilweise schlimmen sozialen und ökologischen Folgen bringen die Einrichtung in Mißkredit. Die Klagen häufen sich, daß die Weltbank ihre eigenen, als vorbildlich geltenden Durchführungsrichtlinien nicht einhält. Die deutsche Politik kann daran kein Interesse haben, konterkariert diese Entwicklung doch teilweise die Bemühungen der eigenen Entwicklungshilfe.Aber: Forderungen nach mehr Demokratie, Kontrolle, Transparenz und Mitsprache der nationalen Parlamente wie Nichtregierungsorganisationen dürfen nicht dazu führen, daß die Weltbank zu Boden reformiert wird. Es handelt sich ja um eine Bank, die sich auch auf dem internationalen Kapitalmarkt refinanziert und hochgradig von privaten Geldmitteln abhängig ist. Es gilt, glaube ich, auch hier, einen vernünftigen Kompromiß zu finden und diesen dann, z. B. über eine aggressivere deutsche Personalpolitik bei internationalen Einrichtungen, durchzusetzen. Das heurige Jubiläumsjahr ist ein guter Grund, dieses Thema im Parlament gründlicher zu diskutieren. Wir werden dazu selber entsprechende Beiträge einbringen.Wenn wir in den genannten Bereichen mit Beharrlichkeit ein Stück vorankommen, tragen wir damit auch zu einer weiteren Steigerung der Effizienz internationaler Entwicklungspolitik bei. Dann sind wir, Kollege Hauchler, bestens gerüstet für die Zeit möglichst bald nach dem Jahre 2000, wenn wir von unserem Bruttosozialprodukt, wie versprochen, 0,7 % für die großen globalen Aufgaben dieser einen Welt zur Verfügung stellen können.
Nun spricht der Kollege Dr. Werner Schuster.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Außenbeobachter der deutschen entwicklungspolitischen Szene stellt sich mindestens zwei Fragen. Erstens: Warum spielt Entwicklungspolitik in der
Öffentlichkeit kaum eine Rolle, warum nimmt sie bei uns im Bundestag Platz 18 ein? Zweitens: Warum wissen Entwicklungspolitiker das Richtige, beschreiben es auch in vielen Artikeln und tun häufig das Verkehrte?
Nach drei Jahren Zugehörigkeit zu diesem wunderschönen Plenum hier erlaube ich mir folgende vorläufige Antwort. Zunächst zu der Frage, warum Entwicklungspolitik keine große Rolle spielt: Uns Entwicklungspolitikern im Ausschuß sind die Milligrammunterschiede wichtiger als die Tonnenunterschiede gegenüber unseren Kollegen von der Außenpolitik, von der Wirtschaftspolitik, von der Finanzpolitik, von der Landwirtschaftspolitik und dergleichen. Damit verspielen wir eine große Chance, Herr Pinger, von unseren Gesprächspartnern als Entwicklungspolitiker ernst genommen zu werden.
Zur zweiten Frage: Warum erkennen wir das Richtige, schreiben das Richtige und tun doch häufig das Falsche? — Mein Eindruck ist: Weil sich die Koalition, die Parlamentarier auf der Regierungsseite, in falsch verstandener Loyalität zuallererst mit der Regierung solidarisiert, statt die Parlamentskontrolle zu übernehmen. Das war übrigens bei uns vor 1982 nicht anders als bei Ihnen. Damit erreichen wir, meine Damen und Herren, daß die Exekutive viele Dinge von uns wahrnimmt und trotzdem wie eine Karawane weiterzieht.
Ein bißchen, Herr Pinger, leidet unter dieser falsch verstandenen Loyalität auch die Wahrhaftigkeit. Sie haben heute in dem Entschließungsantrag zum Entwicklungspolitischen Bericht formuliert:
Die Sachverständigenanhörung vom 11. Dezember 1991 zum Thema „Strategien ..." hat fast durchgängig die neue Entwicklungspolitik der Bundesregierung, die Strategie der Armutsbekämpfung durch einen selbsthilfebezogenen Förderansatz, bestätigt.
Erstens, Herr Pinger, war das nicht so.
Wir alle waren dabei, Sie müssen nur nachlesen. Und zweitens, meine Damen und Herren — ich erinnere Sie an Ihre Fundamentalkritik, Frau Walz, gestern und heute wieder — so ohne Regelungsbedarf und Neubedarf ist die deutsche Entwicklungspolitik ja wohl nicht, daß man sie nicht vom Grundsatz her in Frage stellen müßte. Und das haben Sie beide heute hier getan. Ich meine, Sie vernachlässigen damit Ihre primäre parlamentarische Aufgabe und lassen das Schulterklopfen wichtiger sein als die Frage, ob das was wir wollen, auch geschieht.
Diese Thesen möchte ich an ein paar Beispielen aus heutigen Vorlagen illustrieren. Das erste Beispiel betrifft das Gesetzesvorblatt. Alle von uns plädieren für Kohärenz. Das Thema Rindfleischexport wurde heute schon genannt. Wir bedauern, daß das BMZ häufig als Reparaturministerium auftreten muß für die Dinge, die andere Ministerien falsch machen. Wir greifen einen Vorschlag von Erhard Eppler auf und sagen, wir wünschen in Zukunft Entwicklungsverträglichkeit bei allen Gesetzen. Sie finden das zwar auch sympathisch, lehnen es dann aber ab. Oder
Dr. R. Werner Schuster
sollte die Einäugigkeit, die Sie, Frau Walz, Herr Pinger und auch Herr Minister Spranger, heute in Ihren Beiträgen offenbart haben, wider Erwarten Ihre grundsätzliche Politikstrategie sein? Das kann ich mir aber nicht vorstellen.
Oder es gab die Bitte, die Solidarität mit der einen Welt in die Präambel aufzunehmen. Es hätte uns Deutschen gut angestanden, dies zu tun und über den Tellerrand hinaus diesen globalen Zusammenhang darzustellen.
Zweites Beispiel: Repatriierung, Flüchtlingsstrategien. Wir sind uns einig, man muß etwas tun. Die Flüchtlingsströme nehmen zu, es gibt zuwenig Geld. Wir haben gute Ansätze. Wir werden vom UNHCR, vom BMZ gelobt, und auch im AwZ heißt es auch von Ihrer Seite: Im Prinzip nicht schlecht, aber dann wird es wegen fehlender Mittel abgelehnt. Auf der anderen Seite ist offensichtlich geplant, der RENAMO mal eben für 1 Million DM einen Radiosender zu schenken.
Drittes Beispiel: europäische Entwicklungspolitik. Sie, Herr Hedrich, haben deutlich gemacht, wo wir übereinstimmen. Wir Sozialdemokraten haben im November 1992, vor über einem Jahr, einen Antrag eingebracht. Den haben Sie ein Jahr schmoren lassen, dann haben sie uns vertröstet auf ein Non-paper, und dann kam das Non-paper. Sie haben erst unseren Antrag abgelehnt — trotz eines vehementen Plädoyers von Ihnen, Herr Repnik, und von Ihnen, Herr Holtz, wofür ich mich bedanke —, dann aber kam wie Phönix aus der Asche Ihr eigener Antrag, in dem die meisten Dinge konsensfähig sind. Aber Sie haben nicht versucht, mit uns gemeinsam einen Antrag zu formulieren, der von beiden Seiten getragen werden kann. Ich bedaure das ganz außerordentlich; denn viele Ihrer Passagen sind zum Teil wörtlich aus unserem Antrag übernommen. Ich bedanke mich dafür. Aber das Verfahren verhindert wiederum, Herr Hedrich, daß wir gemeinsam abstimmen. Das ist das zentrale Defizit bei uns.
Unbestritten unterscheiden wir uns in ein paar wichtigen Punkten Ihres Antrages. Darüber hätte man kontrovers abstimmen müssen, z. B. über die Notwendigkeit der Strukturanpassung bei uns. Da muß ich leider sagen: Ein Repnik macht noch keinen Sommer. Die Strukturanpassung steht zwar in allen Ihren Programmen, aber die Strukturanpassung im Norden wird von Ihnen nicht beschlossen.
Über das Kohärenzgebot wurde hier ebenfalls diskutiert.
— Darüber muß man miteinander diskutieren. Aber nur einen Vortrag darüber zu halten, daß sich der Süden ändern muß, Frau Kollegin Walz, das ist sicher zuwenig.
Denken Sie an das Beispiel der Nachhaltigkeitsdiskussion gestern im Ausschuß. Man hat manchmal den Eindruck, daß persönliche Eitelkeiten wichtiger sind als Zustimmung in der Sache, oder man vermittelt den Eindruck, als ob die Bundestagswahl an der Diskussion über die Entwicklungspolitik entschieden würde. Meine Damen und Herren, das kann nicht sein.
Wir haben heute zwei Anträge — einen von Ihnen und einen von uns — zum Thema kommunale Partnerschaft vorliegen. Beide sind konsensfähig. Ich bin gespannt, ob wir es schaffen, über unsere Schatten zu springen und einmal etwas gemeinsam zu beschließen.
Meine Damen und Herren, zum Schluß: Wenn wir es wirklich ernst meinen mit den Sorgen unserer schwarzen Freunde im Süden, dann müssen wenigstens die Entwicklungspolitiker den Mut haben, Dinge gemeinsam zu beschließen. Deswegen meine herzliche Bitte an Sie: Springen Sie heute über Ihren Schatten! Folgen Sie dem Vorschlag von Herrn Minister Schäfer und stimmen Sie unseren Anträgen zu, oder enthalten Sie sich wenigstens der Stimme! Denn auch für Entwicklungspolitiker gilt: An unseren Taten werden wir gemessen, nicht an unseren Worten.
Danke schön.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6727, 12/6726 und 12/6168 und 12/6263 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu dem Tagesordnungspunkt 7 d. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Neunten Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung auf den Drucksachen 12/4096 und 12/6659. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6734. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 e. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Repatriierung und Reintegration von Flüchtlingen auf der Drucksache 12/4662. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6148, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 7 f und stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
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Vizepräsidentin Renate Schmidtordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Ergänzung der Vorblätter bei Gesetzesvorlagen auf Drucksache 12/4350. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6326, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Nun kommen wir zu Zusatzpunkt 7 und stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf Drucksache 12/3647 ab. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6707, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 8 auf — —
- Überwiesen haben wir ganz am Anfang, lieber Kollege. Ich habe Sie sogar intensiv angeschaut und Sie gefragt, ob Sie damit einverstanden sind. Sie haben es durch heftiges Nicken kundgetan.Wir kommen jetzt also zu Tagesordnungspunkt 8:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes— Drucksache 12/5896 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 12/6713 —Berichterstatter:Abgeordneter Karl-Heinz SchröterDazu ist nach einer Vereinbarung im Ältestenrat eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Nein, auch diesmal nicht. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Gottfried Haschke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das in den neuen Ländern geltende Landwirtschaftsanpassungsgesetz wurde noch von der ersten frei gewählten Volkskammer der ehemaligen DDR im Jahre 1990 vornehmlich zur Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften beschlossen. Es ist vom Deutschen Bundestag im Jahre 1991 umfassend novelliert worden und soll mit dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes weiter präzisiert und den Erfordernissen der Praxis angepaßt werden.Der Gesetzentwurf gibt mir Veranlassung, zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zum Stand der Umstrukturierung in den neuen Bundesländern zu machen.In den neuen Ländern ist eine leistungsfähige, marktorientierte und umweltgerechte Landwirtschaft im Aufbau, die sich in bäuerlich orientierten Einzelunternehmen, Personengesellschaften, eingetragenen Genossenschaften und Kapitalgesellschaften organisiert. Dieser Anpassungsprozeß in Richtung einer unternehmerischen Landwirtschaft ist in den rund drei Jahren seit der Wiedervereinigung zügig vorangeschritten.Die wirtschaftliche Lage der Mehrzahl der landwirtschaftlichen Unternehmen hat sich verbessert. Die umfangreichen finanziellen Hilfen der Bundesregierung — seit 1990 wurden mehr als 15,8 Milliarden DM für die Agrarwirtschaft in den neuen Ländern bereitgestellt —
und die bisherigen Fortschritte bei der Altschuldenregelung und bei der langfristigen Verpachtung der Treuhandflächen tragen zur Konsolidierung der Agrarwirtschaft in den neuen Ländern bei.Gestatten Sie mir bitte, an dieser Stelle als Landwirt aus einem der neuen Bundesländer Dank für diese finanziellen Mittel auszusprechen, vor allen Dingen Dank an diejenigen, die diese Mittel bereitgestellt haben,
besonders an die Steuerzahler in den alten Bundesländern, die diese Mittel aufgebracht haben!
Zwar hat sich das Tempo der Umstrukturierung verringert, der Prozeß als solcher ist aber noch lange nicht abgeschlossen.In den agrarpolitischen Diskussionen zeigt sich ein zunehmendes Interesse an der Gestaltung der agrarpolitischen Rahmenbedingungen; denn die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik und die GATT-Beschlüsse stellen auch die Agrarwirtschaft in den neuen Ländern vor neue Herausforderungen. Der Bundesregierung ist es doch noch gelungen, weitere Regelungen — insbesondere die Aufstockung der Grundflächen — im Interesse der neuen Länder durchzusetzen.
— Jawohl. — Damit sind wichtige Voraussetzungen für die Landwirte in unseren neuen Ländern gegeben, im härter werdenden Wettbewerb sowohl im nationalen wie auch im internationalen Bereich erfolgreich zu bestehen.Bei allem darf nicht übersehen werden, daß sich der Umstrukturierungsprozeß in den neuen Ländern parallel zu einer Vermögensrückverteilung ungeheuren Ausmaßes zu vollziehen hat. Einschließlich der Ansprüche von Erben ehemaliger LPG-Mitglieder war das genossenschaftliche Vermögen in rund 4 500 Betrieben neu zu bewerten und für rund 1,5 Millionen Anspruchsberechtigte zu ordnen.
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18032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Gottfried Haschke
Das Landwirtschaftsanpassungsgesetz bietet hier eine praktikable Regelung für eine ordnungsgemäße Vermögensauseinandersetzung. In den meisten Fällen ist die Vermögensauseinandersetzung den Regelungen und dem Geist des Gesetzes entsprechend abgelaufen mit der Folge, daß der soziale Friede in den Dörfern wiederhergestellt und ein gutnachbarschaftliches Zusammenleben nach all diesen revolutionären Ereignissen wieder möglich ist.
Leider haben die Umwandlung und die Umstrukturierung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften teilweise aber auch zu erheblichen Schwierigkeiten zwischen den jeweiligen Unternehmen und ihren ehemaligen Mitgliedern geführt. Die Rechte ausgeschiedener Mitglieder wurden teilweise beschnitten, und bilanzrechtliche Spielräume wurden zu Lasten der Anspruchsberechtigten überschritten. Dies führte zu einer Flut von Rechtsstreitigkeiten.Ziel des Gesetzgebers muß es daher vor allem sein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß möglichst schnell wieder klare Rechtsverhältnisse zwischen den Betroffenen bestehen.Das vorliegende Änderungsgesetz beseitigt noch einige bestehende verfahrensrechtliche Unklarheiten im Anwendungsbereich des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes und hier vor allem im Rahmen der Vermögensauseinandersetzung.Zum einen wird nunmehr ausdrücklich festgelegt, welche Verfahren den Landwirtschaftsgerichten zugewiesen sind und welche Verfahrensvorschriften Anwendung finden. Vor allem wird das Oberlandesgericht als zweite Tatsacheninstanz zwischen dem Landwirtschaftsgericht und dem Bundesgerichtshof eingeführt.Zum anderen werden durch die Einführung einer ausdrücklichen Verjährungsregelung Rechtsunsicherheiten vermieden, innerhalb welcher Frist bestimmte Ansprüche, die sich gegen die LPGen und deren Rechtsnachfolger richten, verjähren. Die Verjährungsfrist beträgt nun fünf Jahre; sie beginnt mit dem Schluß des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist.Es sind zahlreiche Rechtsstreitigkeiten bei Gerichten anhängig, in denen Ansprüche ausgeschiedener LPG-Mitglieder geltend gemacht werden; in diesen Fällen wurde durch die gerichtliche Geltendmachung die Verjährung unterbrochen mit der Folge, daß die bis dahin verstrichene Zeit nicht berücksichtigt wird. Das gleiche gilt in den Fällen, in denen zwar auf Grund von Vertröstungen noch immer keine Mark Rückzahlung geflossen ist, aber die Ansprüche der ehemaligen Mitglieder durch die Verantwortlichen der Unternehmen anerkannt worden sind.Vielfach sind den ausgeschiedenen Mitgliedern nur unzureichende Barabfindungsangebote nach § 36 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes unterbreitet worden. Hier sind die Barabfindungsangebote häufig erst auf Grund des Widerstandes der ausgeschiedenen Mitglieder oder nach erfolgter Prüfung der Bilanzen der Unternehmen in Einklang mit den bilanzrechtlichen Regeln gebracht und erheblich aufgestockt worden. In diesen Fällen beginnt die fünfjährige Verjährungsfrist erst mit der Unterbreitung des neuen Barabfindungsangebotes.Unter Berücksichtigung all dieser möglichen Fallkonstellationen erscheint die jetzt geregelte fünfjährige Verjährungsfrist ausreichend, um eine Gefährdung der Durchsetzbarkeit der genannten Ansprüche auszuschließen.Eine längere Frist, insbesondere die 30jährige Verjährungsfrist nach § 195 BGB, wäre sicherlich zu lang und wurde den notwendigen Umstrukturierungsprozeß in der Landwirtschaft der neuen Länder unangemessen beeinträchtigen.Ich bitte das Hohe Haus, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Gerald Thalheim das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes stellt eine vernünftige und notwendige Nachbesserung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes dar. Es ist sachlich angezeigt, eine Verjährungsfrist von fünf Jahren für Ansprüche aus dem LAG einzuführen und Klarheit bezüglich des Rechtsweges bei Klagen zu schaffen. Ich möchte auf Grund der Übereinstimmung in der Bewertung deshalb auch auf diese Punkte nicht weiter eingehen.Leider ist die Gelegenheit der Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes nicht genutzt worden, für weitere zwei Jahre den weiteren Rechtsformwechsel von Nachfolgebetrieben ehemaliger LPGs zu erleichtern, wie das ein entsprechender Antrag der SPD-Fraktion im Ernährungsausschuß vorsah. Die Ablehnung dieses Antrages ist mir aus zwei Gründen unverständlich.Erstens. Alle Fachleute sind sich einig, daß der Strukturwandel in der ostdeutschen Landwirtschaft weitergeht, d. h. daß sich die in der ersten Umstrukturierungsphase entstandenen Betriebe zur Erlangung der Wettbewerbsfähigkeit weiter umwandeln, zum Teil verkleinern. Dieser Prozeß ist in der Regel mit einer Verminderung der Zahl der Gesellschafter bei entsprechender Erweiterung der Haftung bis hin zur Herausbildung von Personengesellschaften und selbständig wirtschaftenden Betrieben verbunden.Ich hatte bis jetzt immer den Eindruck gewonnen, daß das auch das Ziel der Agrarpolitik der Bundesregierung ist, zumal wichtige agrarpolitische Regelungen, z. B. Verpachtungsrichtlinie, Förderung, Steuerrecht usw. einzeln wirtschaftende Betriebe bevorteilt. Vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich, daß auf der einen Seite eine solche Entwicklung offensichtlich politisch gewollt ist, auf der anderen Seite aber — die Ablehnung unseres Antrages zeigt das — nicht flankiert wurde.Zweitens. Es ist weiter festzustellen, daß fast zeitgleich mit der Ablehnung unseres Antrages die Bundesjustizministerin einen Gesetzentwurf zur Reform
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Dr. Gerald Thalheimdes Umwandlungsrechtes vorgelegt hat, der genau das gleiche Ziel verfolgt: eine Erleichterung im Rechtsformwechsel von Kapitalgesellschaften.
Wenn das schon für Kapitalgesellschaften der alten Bundesrepublik als politisch opportun betrachtet wird, muß es dann nicht für die unter viel komplizierteren Bedingungen entstandenen Rechtsnachfolger ehemaliger LPGs gelten? Für mich ist das ein erneuter Beweis für die Konfusion in der Bundesregierung. Offensichtlich wußte hier wieder einmal die rechte Hand nicht, was die linke tat. Ich möchte Sie deshalb von dieser Stelle auffordern, zumindest den Versuch zu unternehmen, die von uns geforderten Erleichterungen in das Gesetz über das Umwandlungsrecht einzubauen.
Meine Damen und Herren, die hier von meinem Kollegen Haschke vorgetragene Bewertung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes kann ich aus meiner Erfahrung nicht teilen. Nach meiner Auffassung gehört dieses Gesetz zu den wohl am meisten kritisierten Gesetzen in den neuen Ländern. Das hat viele Gründe. Vor allem ist zu erwähnen, daß die hochgesteckten Erwartungen an das Gesetz nicht erfüllt wurden. Besonders die von der Zwangskollektivierung Betroffenen hatten sich eine Wiedergutmachung erhofft, die von dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz nur zum Teil erfüllt wurde.
Von Anfang an, Herr Kollege Hornung, hat die SPD-Bundestagsfraktion darauf aufmerksam gemacht, daß das Gesetz mehrere schwerwiegende Konstruktionsfehler hat, die leider trotz entsprechender Änderungsanträge nicht abgestellt wurden. So ist im Gesetz ein Zielkonflikt hinsichtlich der Kapitalzuordnung angelegt. Jeder Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft muß, wenn man es so will, kraft Amtes darum bemüht sein, möglichst viel Kapital im Betrieb zu halten und es zu mehren. Im Gegensatz dazu haben sich die Anspruchsberechtigten erhofft, möglichst viel Kapital von der LPG bzw. ihrem Rechtsnachfolger zurückzuerhalten.
Seitens der Bundesregierung hat es nicht einmal den Versuch gegeben, diesen Zielkonflikt zu entschärfen, obwohl sie beispielsweise durch unsere Kleine Anfrage zu den Vermögensauseinandersetzungen darauf aufmerksam gemacht wurde. Im Gegenteil: Dieser Konflikt wurde noch verschärft, weil keine Regelung der Altschuldenproblematik erfolgte. Damit wurden die Inventareinbringer voll für die Altschulden aus DDR-Zeit in Haftung genommen, d. h. in Betrieben mit einer sehr hohen Altschuldenbelastung war im extremsten Fall nicht einmal soviel Eigenkapital vorhanden, um die Inventarbeiträge zurückzuerstatten.
— Kollege Hornung, Sie haben recht. Aber wenn Sie genau Bescheid wüßten, dann wäre Ihnen bekannt, daß sowohl die Entschuldung als auch die Rangrücktrittsvereinbarung nach § 44 Abs. 6 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes nicht zu einer Erhöhung der Eigenkapitalquote führt.
Was Sie hier sagen, trifft also nicht zu.Gleichzeitig lastet auf den Rechtsnachfolgern der ehemaligen LPGs eine Schuldenlast, denen in vielen Fällen keinerlei Deckung gegenübersteht. Damit stellt selbst die Rangrücktrittsvereinbarung eine Sondersteuer für die Betriebe dar. Erst im vergangenen Monat mußte die Bundesregierung auf eine Nachfrage von mir einräumen, daß sich gegenwärtig 655 ehemalige LPGs in Gesamtvollstreckung bzw. Liquidation befinden und diese Betriebe mit 2,6 Milliarden DM Altschulden belastet sind. Die Vermutung liegt sicher nahe, daß es vor allem die Altschulden waren, die die Betriebe zur Aufgabe zwangen.Die Folgen sind katastrophal: Mit der Liquidation ging in der Regel ein Abbau der Tierbestände und in deren Folge ein Abbau der Arbeitsplätze einher — mit der weiteren Folge, daß die Inventareinbringer ihre Ansprüche nicht geltend machen konnten und sich damit um ihre eingebrachten Beiträge geprellt fühlen. Hinzu kommt, daß die Altschuldenprobleme durch die Verweigerung einer Rückabwicklung der Vermögensbewegungen zwischen Tier- und Pflanzenproduktion zusätzlich verschärft wurden. Das alles ist von den Betroffenen kaum nachzuvollziehen, vor allem vor dem Hintergrund, daß die Bundesregierung die Hoffnung geweckt hatte, daß es zu einem Ausgleich für nichtrückzahlbare Inventarbeiträge kommt.Kollege Haschke, Sie kennen das: Als Sie noch Staatssekretär waren, sind Sie durch das Land mit dein Versprechen gezogen, daß hier eine Regelung gefunden wird. Doch nicht nur dieses Versprechen haben Sie gebrochen: auch die Zusage, daß es zu einem Ausgleich für die Waldinventarbeiträge kommt.
— Nein, das ist so, Kollege Hornung.
- Aber Herr Kollege Hornung, erinnern wir uns an die Entscheidung über den Einzelplan 10: Meines Wissens hat Kollege Haschke den Einzelplan 10 genau aus dem Grunde abgelehnt, weil seine Zusagen sich nicht im Einzelplan wiederfanden.Am härtesten hat es die sogenannten Kreispachtbetriebe getroffen, die zwar Inventar in die LPGs einbringen mußten, aber nie Mitglieder geworden sind. Diese Personengruppe ist bei der Formulierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes mit Hinweis auf das Entschädigungsgesetz bewußt ausgeklammert worden. Nach heutiger Rechtslage ist für diese Gruppe keinerlei Regelung geplant.
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18034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dr. Gerald ThalheimIch möchte deshalb die Bundesregierung auffordern, zu prüfen, ob im Rahmen des Zweiten SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes eine Lösung für die Härtefälle bei den Kreispachtgeschädigten getroffen werden kann.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Günther Bredehorn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn dieser Legislaturperiode lag die agrarpolitische Aufgabe ,,Umstrukturierung der Landwirtschaft in Ostdeutschland" als ein riesiges Problem vor uns. Die Unsicherheit darüber, was aus diesen zentralistisch-sozialistisch geprägten Strukturen wohl entsteht, war bei uns sicher groß.Andererseits war mir und auch der F.D.P.-Fraktion sehr rasch klar, daß eine vernünftige Umstrukturierung auch eine Riesenchance zum Neubeginn und die Entwicklung hin zu einer wettbewerbsfähigen Landwirtschaft in den neuen Bundesländern war.
Auf Grund der großflächigen Agrarstruktur war das eigentlich zu erwarten. In den neuen Bundesländern war am ehesten und am schnellsten — wir sehen das j a im Augenblick schon — der Anschluß an europäische Binnenmarktstrukturen und Binnenmarktstandards zu erreichen.Deshalb war es notwendig, am Beginn dieser Legislaturperiode die Weichen richtig zu stellen. Dies haben wir zunächst in der Koalitionsvereinbarung mit der nicht ganz unumstrittenen Festlegung erreicht, daß die strukturelle Entwicklung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern in jeglicher Rechtsform möglich sein sollte. Das war nicht unumstritten.Dieser Grundsatz der Rechtsform in Vielfalt und Chancengleichheit zwischen den Betriebsformen wurde dann umgehend mit der Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes — heute ist es ja schon eine weitere Novellierung; die damalige war noch in der Volkskammer verabschiedet worden —umgesetzt. Das war nämlich die zweite entscheidende Weichenstellung.Daß diese agrarpolitischen Grundsatzentscheidungen richtig waren, zeigt das Bild bislang entstandener Unternehmensstrukturen in den neuen Ländern. Sie sind vielfältig und lassen Spielraum für Standort- und marktgerechte Entscheidungen. Vor allem zeigt das Bild, daß es ausreichend Spielraum für betriebsindividuelle Unternehmerentscheidungen gibt, die derzeit und künftig von besonderer Bedeutung sind.Dieses Konzept erweist sich gegenüber ideologiebehafteten Leitbildern als überlegen. Im Osten Deutschlands entwickelt sich eine im internationalen Vergleich wettbewerbsfähige Landwirtschaft. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht nur deshalb, weil wir politisch die Weichen richtig gestellt haben, sondern sehr wesentlich entscheidend auch deshalb, weil sichMenschen finden, die sich engagieren, die dort ihren unternehmerischen Spielraum erfolgreich nutzen.
Mit der Novelle, deren Beschlußfassung heute im Deutschen Bundestag ansteht, flankieren wir diesen Prozeß gesetzgeberisch in zwei Bereichen: Mit der Verlängerung der Verjährungsfrist auf fünf Jahre bei Abfindungsansprüchen von ehemaligen LPG-Mitgliedern und Wiedereinrichtern gegenüber LPG- Nachfolgeunternehmen wird deren Position gestärkt. Ferner werden das Verfahren, die Zuständigkeit und der Instanzenzug bei Streitigkeiten aus dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz klarer geregelt.Der Agrarbericht 1994, von dem wir gestern während der Regierungsbefragung einen ersten Eindruck erhalten haben, zeigt in den neuen Ländern durchaus ordentliche Einkommensergebnisse, und zwar im Gegensatz zu den alten Ländern mit positivem Trend, wie der Bundeslandwirtschaftsminister gestern hier erklärt hat.
Die Produktivitätslücke in der Landwirtschaft zwischen den neuen und den alten Bundesländern ist inzwischen nahezu geschlossen. Von Vorteil waren dabei die größeren Betriebseinheiten, die einen kostengünstigen Maschinen- und Materialeinsatz ermöglichen. Hinzu kommt der rasche und sicherlich schwierige und auch schmerzhafte Anpassungsprozeß — ich meine, das ist eigentlich einmalig — bei den Arbeitskräften. Das ist ohne Zweifel auch mit menschlichen Schicksalen verbunden.Daß die Einkommen der Arbeitskräfte als zufriedenstellend zu bezeichnen sind, geht natürlich auch auf die hohen Transferzahlungen zurück.
Das hat Kollege Haschke ja schon angesprochen. Diese waren und sind richtig. Aber auch für sie muß der Grundsatz gelten, daß öffentliche Hilfen Hilfen zur Selbsthilfe sein sollen. Sie müssen zu gegebener Zeit auf den Prüfstand.Außerdem gilt es, sie nach einheitlichen, die Wettbewerbsfähigkeit stärkenden Kriterien im gesamten Deutschland zu vergeben. Es kann doch nicht wahr sein, daß wir in den alten Bundesländern Förderobergrenzen haben, die es in den neuen Bundesländern vernünftigerweise und richtigerweise nicht gibt.
Dieser Aufgabe müssen wir uns in der nächsten Legislaturperiode stellen. Dazu sind Kreativität, neue Ideen, Mut und Durchsetzungsvermögen erforderlich. Die F.D.P. wird aktiv daran mitarbeiten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18035
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes, Drucksachen 12/5896 und 12/6713.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung: Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen gedenken, sich von den Plätzen zu erheben. — Gegenstimmen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu den Verfahren nach § 44 b Abgeordnetengesetz (AbgG)
— Drucksache 12/4613 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Wiefelspütz
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu den Verfahren nach § 44 b Abgeordnetengesetz (AbgG)
— Drucksache 12/5976 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Wiefelspütz
c) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu den Verfahren nach § 44 b Abgeordnetengesetz (AbgG)
— Drucksache 12/6655 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Wiefelspütz
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppen jeweils fünf Minuten erhalten sollen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Joachim Hörster das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach eingehenden Diskussionen und Vorberatungen in den Fraktionen und insbesondere im Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hatte der Bundestag am 5. Dezember 1991 durch Einfügung des § 44b in das Abgeordnetengesetz die Möglichkeit für eine Überprüfung der Mitglieder des Bundestages auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit in einem geordneten Verfahren ermöglicht.Im Regelfall ist eine Überprüfung auf Antrag eines Mitgliedes des Bundestages, also eine freiwillige Überprüfung, vorgesehen; in Ausnahmefällen kann eine Überprüfung auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgenommen werden.Nach den gleichfalls vom Deutschen Bundestag beschlossenen Richtlinien in § 44 b Abs. 4 Abgeordnetengesetz hat der für das Überprüfungsverfahren zuständige Ausschuß seine Entscheidungen mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder zu treffen. Gerade diese Regelung hat von vornherein dazu beigetragen, eine politische Beeinflussung der Überprüfungsvorgänge unter parteilichen Gesichtspunkten auszuschließen.Darüber hinaus haben sich die Mitglieder des Geschäftsordnungsausschusses einvernehmlich auf einen internen Verfahrensablauf verständigt, der zu einer konsequenten Gleichbehandlung aller Überprüfungsvorgänge geführt hat.Ich schicke dies voraus, weil schon bei der Diskussion um die Einführung des § 44 b in das Abgeordnetengesetz deutlich geworden ist, wie unterschiedlich eine solche Überprüfung begründet bewertet werden kann.Für viele Kolleginnen und Kollegen war es von vornherein mit dem Selbstverständnis des Verfassungsorgans Bundestag nicht in Einklang zu bringen, daß dessen Mitglieder eine allgemeine Vermutung, sie könnten eventuell für die Staatssicherheit gearbeitet oder für deren Tun politische Verantwortung getragen haben, durch eine Überprüfung für sich widerlegen müssen. Daher hat von vornherein eine größere Anzahl von Kolleginnen und Kollegen erklärt, daß sie sich an einem solchen Überprüfungsverfahren nach ihrem Verfassungs- und Rechtsstaatsverständnis nicht beteiligen würden.Andererseits gab es das aus ihrer Lage heraus begründete Interesse vor allem der Kolleginnen und Kollegen aus den jungen Bundesländern, sich in einem geordneten Verfahren überprüfen zu lassen, damit sie sich mit dessen Ergebnis gegen immer wieder mögliche Vorwürfe, Verdächtigungen, üble Nachreden und anderes mehr zur Wehr setzen können oder um solche Vorwürfe schon frühzeitig auf Grund der Veröffentlichung des Überprüfungsergebnisses ausschließen zu können.Der öffentliche Druck, der insoweit auf unseren Kolleginnen und Kollegen gelastet hat, war immens. Ich bin davon überzeugt, daß, wenn wir dieses Überprüfungsverfahren nicht hätten, dieser Druck heute noch größer, j a kaum auszuhalten wäre, wenn man zur Kenntnis nimmt, was der Bundesbeauftragte für die
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18036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Joachim HörsterUnterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes in den letzten Tagen berichtet hat. Danach sollen ca. 190 000 Menschen in der ehemaligen DDR als inoffizielle Mitarbeiter für die Stasi gearbeitet haben. Auf etwa 85 Bewohner der ehemaligen DDR kam somit ein aktiver Stasispitzel. Darunter soll kein Abgeordneter sein? So würde die Frage lauten, wenn wir dieses Überprüfungsverfahren nicht hätten.338 Mitglieder des Bundestages haben sich bisher freiwillig überprüfen lassen. Wenn Sie die Namen dieser Kolleginnen und Kollegen nicht alle in den vorgelegten Berichten finden, so liegt dies daran, daß nur diejenigen als überprüft dort aufgeführt werden, die dies so gewünscht haben.Aus den Berichten ergibt sich, daß wir bei zwei Mitgliedern des Hauses eine Überprüfung von Amts wegen eingeleitet haben, die mit der Feststellung endeten, daß in einem Fall eine Mitarbeit für den Staatssicherheitsdienst und im anderen Fall politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst als gegeben anzusehen sind. Diese Feststellungen bleiben insoweit ohne Konsequenzen, als weder das Mandat noch die Mandatsausübung davon konkret betroffen sind.Ungeachtet dessen ist es mir jedoch völlig unverständlich, daß Herr Dr. Modrow und Herr Dr. Seifert und die Gruppe PDS/Linke Liste aus diesen Feststellungen keine Konsequenzen ziehen.
Wer politische Verantwortung für die Tätigkeit des MfS getragen hat — so wie Dr. Modrow —, oder wer aus Überzeugung und freiwillig — wie es Dr. Seifert eingeräumt hat — für das MfS gearbeitet hat, muß sich der besonderen Verantwortung für sein Tun stellen.Ich erlaube mir zu zitieren, was der Kollege Wiefelspütz am 5. Dezember 1991 hierzu im Bundestag gesagt hat:Mitarbeit für die Stasi oder gar politische Verantwortung für die Stasi läßt sich grundsätzlich nicht mit einer Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag vereinbaren. Wer das eigene Volk bespitzelt und unterdrückt hat, wer es hintergangen, verraten und betrogen hat, oder wer all dies zu verantworten hatte, gehört nicht in den Bundestag, auch wenn ihm das Mandat nicht entzogen werden kann.So der Kollege Wiefelspütz. Er hat recht.
Es reicht nicht aus zu erklären, man sehe heute vieles kritischer, auch selbstkritischer — so Dr. Seifert — oder sich darauf zu berufen, man sei nur formal zuständig gewesen — so Dr. Modrow —, eine Einflußnahme auf Einzelfälle, die unmittelbar ursächlich für persönliches Leid oder Schaden hätte sein können,
habe sich jedoch nicht ergeben. Beide haben um die Aufgabenstellung des MfS gewußt. Beide haben diesem Spitzelsystem aus Überzeugung gedient. Beide sind nicht geeignet, ein auf freie Entfaltung undSelbstbestimmung sowie Rechtsstaatlichkeit ausgerichtetes Volk zu vertreten.
Der Umstand, daß die Gruppe PDS/Linke Liste ihren Gruppenmitgliedern Dr. Modrow und Dr. Seifert nicht empfiehlt, die notwendigen Konsequenzen aus diesen Feststellungen zu ziehen, macht deutlich, daß man in den eigenen Reihen den Selbstreinigungsprozeß gar nicht will, der notwendig wäre, wenn man tatsächlich einen demokratischen, und d. h. freiheitlichen und rechtsstaatlichen Sozialismus — wenn es dies denn überhaupt gäbe — proklamieren will.Es ist zu dürftig, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Stasi nur als das Schild und Schwert der SED und ihres Staates zu definieren. Die Stasi ist das „gelbe Elend von Bautzen", das Zerstören von menschlichen Schicksalen und Familien bis hin zur Zwangsadoption — ist für die Menschen, die diese Folgen erlitten haben, noch immer das Grauen schlechthin.Die Bespitzelung nach innen, die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, das professionelle Denunzieren als Mittel zum Machterhalt. das war die Spezialität dieses nach innen gerichteten Unterdrükkungsapparates — ein wahrlich perfides Instrument.Wie schwer der Umgang mit diesen Fragen ist, zeigt auch ein Blick auf die Entwicklungen in anderen Bundesländern. In Sachsen beschäftigt sich z. B. ein Untersuchungsausschuß mit der persönlichen Eignung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Der Stellenwert der Problematik wird dadurch verdeutlicht, daß die sächsische Verfassung in Art. 119 bestimmt, daß für den öffentlichen Dienst ungeeignet ist, wer für das frühere MfS bzw. das Amt für Nationale Sicherheit der DDR tätig war und dessen Tätigkeit deshalb untragbar erscheint.
Ein Beschluß des Landtags von Brandenburg vom 13. Dezember 1990, beantragt von den Fraktionen der SPD, der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90, lautet:Wer sich nachweislich zur Informationstätigkeit verpflichtet hat und/oder Bezahlung, Orden oder sonstige Vorteile erhalten hat, gilt als Mitarbeiter.
Aus einer solchen erwiesenen Tätigkeit folgt nach dem Beschluß des Landtages, daßdie Vertrauenspersonen bzw. der Ministerpräsident die dringliche Empfehlung zur sofortigen Niederlegung des Mandats bzw. des Regierungsamtes gegenüber dem betroffenen Abgeordneten bzw. Mitglied der Landesregierung aussprechen.Wie hätten wir — so habe ich mich gefragt — im GO-Ausschuß des Bundestages auf der Grundlage dieses Beschlusses den Fall entschieden, der derzeitig im Untersuchungsausschuß des Landes Brandenburg behandelt wird? Ich meine den Fall des ehemaligen Oberkonsistorialrats Manfred Stolpe, von dem zumindest erwiesen ist, daß er von der Stasi für seine
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18037
Joachim HörsterTätigkeit eine wertvolle Bibel und einen wertvollen historischen Atlas erhalten hat.
Vergleicht man die Bewertungen aller der Gremien, die sich mit solchen früheren Beziehungen zur Stasi befassen, dann stellt sich die Frage, ob das, was wir tun, gerecht ist. Ich denke, manches, was derzeit bewertet wird, muß noch einmal einer neuen Bewertung unterzogen werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe beim Studium vieler Akten erneut erfahren, welche Vorzüge es für den einzelnen Menschen hat, wenn er trotz mancher Mängel, die eine Demokratie haben kann, in einem freiheitlich-demokratischen System lebt. Daher möchte ich diese Debatte auch zum Anlaß nehmen, deutlich darauf hinzuweisen, daß die wiedererlangte deutsche Einheit zugleich auch die Erlangung der Freiheit für die Menschen in der ehemaligen DDR war, die Beseitigung eines unmenschlichen Spitzelsystems zur Folge hatte und das Willkürsystem, das sich im „Gelben Elend" von Bautzen ausdrückte, endgültig beseitigte.Es wird allerhöchste Zeit, daß wir neben den materiellen Aspekten der deutschen Einheit diese elementare moralische Qualität der friedlichen Revolution und der deutschen Einheit hervorheben.
Die Überprüfungsverfahren nach § 44 b des Abgeordnetengesetzes werden fortgeführt, warm immer eine Kollegin oder ein Kollege einen entsprechenden Antrag stellt und wann immer begründeter Anlaß besteht, ein solches Verfahren durch Beschluß des Geschäftsordnungsausschusses auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte einzuleiten.Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen im Geschäftsordnungsausschuß — stellvertretend darf ich Herrn Wiefelspütz und Herrn Richter nennen — für die gute und an der gemeinsamen demokratischen Grundüberzeugung orientierte Zusammenarbeit bedanken. Ich wünsche mir, daß die Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses bei der Erfüllung dieser nicht einfachen Aufgabe der Demokratie einen guten Dienst leistet.
Herr Kollege Dieter Wiefelspütz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; ich stelle mir gelegentlich die Frage, was die DDR denn eigentlich gewesen ist. Ich glaube nicht, daß es darauf eine abschließende Antwort gibt, aber man fragt sich: Was ist charakteristisch für diesen Staat gewesen, der letztendlich vom eigenen Volke abgewählt worden ist?Ohne Anspruch auf Vollständigkeit glaube ich, daß das Ministerium für Staatssicherheit auf unfreiwillige Weise, auf ganz besondere Weise charakteristisch für diesen Staat gewesen ist. Das MfS, die Stasi — das war die DDR, sozusagen auf den Punkt gebracht. Ich will ganz deutlich sagen — und da hat sich meine Meinung auch nicht geändert —: Ich halte das MfS für ein gefährliches, menschenverachtendes Repressionsorgan, eine umfassende Einrichtung zur Bespitzelung des eigenen Volkes, eine im Grunde verbrecherische Organisation, und wer dafür verantwortlich tätig gewesen ist, auf welche Weise auch immer, der muß sich nicht unbedingt strafbar gemacht haben — das kommt ja immer auf den Einzelfall an —, aber er hat sich, denke ich, für Funktionen in unserer Gesellschaft disqualifiziert, bei denen es auf besondere Weise auf Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit ankommt,
wie das beispielsweise bei unserer Tätigkeit der Fall ist.Wir haben nach langen Debatten — Herr Hörster hat zu Recht darauf hingewiesen — uns hier im Deutschen Bundestag Regeln geschaffen, wie wir damit umgehen, wie wir uns selber überprüfen, und ich will noch einmal hervorheben, daß bei uns das Prinzip der Freiwilligkeit Maßstab und wesentlich war. Wir wollen uns selber freiwillig dieser Kontrolle unterziehen, jedenfalls im Regelfall. Die Fälle der fehlenden Freiwilligkeit waren die Ausnahme und sollten es sein.Wir haben uns zweitens die Selbstbeschränkung zum Ziel gesetzt. Wir wollten nicht Gericht, nicht Untersuchungsausschuß sein, sondern wir wollten eigentlich ausschließlich zusammenarbeiten mit dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Ich glaube, daß sich diese Beschränkung auf einige wichtige Grundprinzipien bewährt hat. Die Zusammenarbeit mit dem Bundesbeauftragten und seinen Mitarbeitern war vorzüglich. Dafür danke ich ausdrücklich. Ebenso darf ich an dieser Stelle für die kooperative Zusammenarbeit im Ausschuß danken. Ich beziehe darin alle Kolleginnen und Kollegen ein, auch die beamteten und angestellten Mitarbeiter dieses Ausschusses; denen gebührt ebenfalls Dank.Das Prinzip der Freiwilligkeit hat dazu geführt, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß viele Kolleginnen und Kollegen — nicht alle — einen Antrag auf Überprüfung gestellt haben, etwa die Hälfte. Es ist ebenso klar, daß es den einen oder anderen gegeben hat, der auch das Mandat niedergelegt hat. Da wir nur diejenigen überprüfen, die noch Mitglieder des Bundestages sind, wird es in dem einen oder anderen Fall, weil dann die Akten zugemacht worden sind, gar nicht nachweisbar sein, welches Motiv wirklich ausschlaggebend war. Aber wir haben uns gesagt, die Selbstreinigung ist das Entscheidende. Ich glaube, daß da und dort dann die entscheidenden Gespräche zwischen Freunden und den betroffenen Abgeordneten mit dem Ergebnis geführt worden sind, daß dann das Mandat niedergelegt worden ist. Ich halte das für den richtigen Weg. Die Landtage einiger Bundesländer sind andere Wege gegangen. Es steht mir nicht zu, selbstgerecht darüber zu urteilen. Wir sind den Weg der Freiwilligkeit gegangen. Ich glaube, das hat sich bewährt.
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18038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dieter WiefelspützIch will darauf hinweisen, daß ein Abgeordneter dem Druck der öffentlichen Auseinandersetzung nicht standgehalten hat. Er hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Er hat Selbstmord begangen, der Kollege Riege. Das bezieht sich auf einen Vorgang, der vor der jetzigen Überprüfung nach dem § 44 b läuft. Ich darf allerdings daran erinnern, weil das, denke ich, ein tragischer Fall ist, der hier jedenfalls nicht unerwähnt bleiben sollte.Ich will auch darauf hinweisen, daß diese Kraft zur Selbstreinigung nicht in allen Fällen funktioniert hat. Das haben wir gewußt, daß dies möglich ist, und es ist sicherlich auch richtig, daß es hier noch einmal erwähnt worden ist; der Kollege Hörster hat das hervorgehoben.Ich glaube, daß wir, insgesamt gesehen, den richtigen Weg gewählt haben. Mein Respekt gilt nicht nur denjenigen, die sich auf eigenen Antrag haben überprüfen lassen. Das Prinzip der Freiwilligkeit verlangt, daß wir ebenso den Respekt denjenigen gegenüber erweisen, die aus gut überlegten Gründen diesen Antrag nicht gestellt haben. Jedenfalls darf daraus kein Schluß gezogen werden. Es handelt sich um eine autonome Entscheidung der frei gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Dies gilt es zu respektieren. Es kann der eine oder andere die Möglichkeit nutzen, auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt oder später einen Antrag zu stellen. Das kommt in Einzelfällen immer wieder aufs neue vor. Der § 44 b des Abgeordnetengesetzes gilt nicht nur für diese Legislaturperiode, sondern auch für die künftigen Legislaturperioden. Ich hoffe allerdings sehr, daß uns diese Fragen in Zukunft weniger beschäftigen werden, weil im Vorfeld von Wahlen die Parteien selber dafür sorgen, daß sich nur solche Kandidaten und Kandidatinnen zur Wahl stellen, die das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler auch wirklich verdienen und jedenfalls keine Belastungen im Zusammenhang mit Stasi-Verstrickungen aufweisen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluß kommen. Es ist keineswegs eine besonders erfreuliche Tätigkeit, der wir uns unterzogen haben. In den Akten war vieles zu lesen, manches auch nur zu erahnen. Ich will auf eines noch einmal hinweisen: Ich persönlich war sehr erstaunt darüber, in welchem Umfang die Stasi versucht hat, Menschen der DDR — von denen man ja damals nicht annehmen konnte, daß sie später einmal Abgeordnete im vereinten Deutschland sein würden — anzuwerben. Ich war ebenso erstaunt darüber, auf wie vielfältige Weise es Menschen, die heute Mitglieder dieses Hauses sind, gelungen ist, sich diesen Versuchungen, den Verstrickungen zu entziehen.
Manchmal, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat ein einfaches Nein genügt, um sich diesen Verstrickungen zu entziehen.Ich sage das hier als Bürger Westdeutschlands ohne Selbstgerechtigkeit — das sollten wir auch unterlassen, denke ich —; es ist schon sehr eigentümlich, wenn man sich damit auseinandersetzt, wie es möglich war, sich der Stasi zu entziehen: mit Klugheit, mit List, mitTapferkeit. Man sollte hier hervorheben, denke ich, daß dies viele Menschen getan haben und sich nicht einfach haben an die Wand spielen lassen. Das verdient, glaube ich, Erwähnung und große Anerkennung.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Torsten Wolf gramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das ist ein nicht unwichtiger Teil der Aufarbeitung der gemeinsamen jüngeren Vergangenheit. Diese gemeinsame jüngere Vergangenheit der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik fand ja ohnehin nur auf einem schmalen Grat statt. Es ist schade, daß das nun einer der Punkte ist, bei denen wir hier ganz augenscheinlich eine Art Gemeinsamkeit haben — sie ist ausgegangen von der DDR, aber sie hat ja leider weit in die Bundesrepublik hinein gewirkt —, und das alles hat die Freude an dieser Arbeit nicht vergrößert.Es war überhaupt wenig Freude in dieser Arbeit zu finden. Aber ich erinnere mich, daß Wehner einmal gesagt hat: Wir sind nicht auf der Welt, damit wir es bequem haben. — Ich nehme an, er hat schon gewußt — unabhängig von der aktuellen Diskussion —, worauf sich das auch im parlamentarischen, politischen Bereich bezieht.Die Arbeit ist sorgfältig und ordentlich vonstatten gegangen. Sie ist auch mit der nötigen Diskretion und mit der Sensibilität geführt worden, die man dazu braucht. Es ist bedauerlich, daß — wie es leider geschehen ist — der Vorwurf erhoben worden ist, wir ließen es zu, daß Verdächtigungen in der Öffentlichkeit bekanntgemacht würden. Dann, meine ich, sollte man auch Roß und Reiter deutlich nennen. Von denen, die eine solche Vermutung ausstreuen, wäre schon zumindest ein Wort der Klärung angemessen gewesen. Aber das wird mit Sicherheit nicht geschehen; wir kennen das.Mein Kollege Manfred Richter hat in seinem Beitrag vom 13. Juni 1991 bereits darauf hingewiesen, daß bei der Behandlung dieses Themas besonders zwei Gesichtspunkte Beachtung finden müssen — sie haben auch Beachtung gefunden —, daß bis zum Abschluß des Verfahrens die Unschuldsvermutung gelten muß und daß es nach Abschluß des Verfahrens auch ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit an diesem Vorgang gibt.Die Betroffenen sind zu jedem Zeitpunkt über den Stand des Verfahrens informiert worden und haben nach Akteneinsicht und Anhörung auch Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.Ich will für die F.D.P.-Fraktion nicht anstehen, dem Bundesbeauftragten und seinen Mitarbeitern, den Mitarbeitern des Ausschußsekretariats, die ebenfalls viel Mühe und wenig Freude an der Arbeit gehabt haben müssen, für ihre Arbeit und Mithilfe herzlich zu danken.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18039
Das Wort hat die Kollegin Andrea Lederer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Aussagen dieser Berichte noch einige Fakten hinzufügen. Es ist schon erwähnt worden, daß 338 Abgeordnete dieses Bundestages von der Möglichkeit freiwilliger Überprüfung Gebrauch gemacht und entsprechende Anträge gestellt haben. Das heißt, rund die Hälfte hat diese Möglichkeit wahrgenommen. Es ist bei den bisherigen Beiträgen aber unerwähnt geblieben — das habe ich, ehrlich gesagt, auch nicht anders erwartet —, daß nicht einmal die Zahl von 338 Abgeordneten zutrifft,
— vielleicht hören Sie jetzt auch einmal in Ruhe zu, so wie das gerade eben der Fall war —, denn die Abgeordneten der PDS/Linke Liste haben sich noch vor Inkrafttreten dieses Gesetzes alle auf eigenen Antrag durch die Gauck-Behörde überprüfen lassen. Wir haben die Ergebnisse öffentlich bekanntgemacht. Kollege Wiefelspütz hat bereits daran erinnert, daß sich in Angst vor der Atmosphäre im Zusammenhang mit dieser Überprüfung der Kollege Riege das Leben genommen hat. Es ging — Sie erwähnten einen Vorgang vor Inkrafttreten des Gesetzes; ich nehme an, Sie meinen den Überprüfungsvorgang —, was die Frage der Zusammenarbeit anbelangt, konkret um einen Vorgang, der 30 Jahre zurücklag und in der Bewertung wirklich mehr als bedeutungslos anzusehen ist.
Mein Bemühen, auch nur in einem kleinen Absatz in dem allgemeinen Bericht auf die frühzeitige Überprüfung der Abgeordneten der PDS/Linke Liste hinzuweisen, deren Ergebnisse allesamt dem Ausschuß zugeleitet wurden, blieb erfolglos. Der Ausschuß verweigerte dies mit dem Hinweis darauf, daß nicht er, sondern wir diese Überprüfungen beantragt hätten.
Herr Kollege Hörster, wenn Sie behaupten — er telefoniert gerade —, wir würden eine Auseinandersetzung scheuen, dann erinnere ich Sie einfach an die Kollegin Jutta Braband, die ihr Mandat niedergelegt hat. Ich kann Ihnen garantieren, daß die Auseinandersetzung darüber bei uns in der Gruppe, die Entscheidung für sie, die Entscheidung für uns ein äußerst komplizierter Vorgang war. Auch ihre gesamte Biographie macht die Kompliziertheit dieses ganzen Themas mehr als deutlich. Es ist nicht so einfach, wie dies Herr Hörster mit der Einteilung in bös und gut und dem Hinweis auf eine glatte Biographie darzustellen versucht hat.
Ich möchte in Kenntnis des Wortlauts des § 44 b des Abgeordnetengesetz es zudem darauf hinweisen, daß es nach wie vor keine Möglichkeit gibt, eine Überprüfung, meinetwegen auch freiwillig, im Hinblick auf die Tätigkeit für einen anderen Geheimdienst durchführen zu lassen. Es hat erst jüngst ein Beispiel in der Bremer Bürgerschaft gegeben, daß ein ehemaliger
Abgeordneter der rechtsextremistischen DVU offenkundig für den Verfassungsschutz tätig war.
Wenn man mit dem Anspruch, daß die Parlamente ihre Unabhängigkeit wahren müssen, gerade auch diese Überprüfungen im Hinblick auf einen ehemaligen Geheimdienst durchführt, dann muß man eigentlich logischerweise sagen, daß eine Überprüfung ganz generell zur Frage geheimdienstlicher Tätigkeit möglich sein muß. Ich kann dem Kollegen von der SPD, Horst Isola, nur zustimmen. Er hat gesagt: Wenn ein Kandidat für den Verfassungsschutz tätig ist, dann ist das ein Skandal, das greift in die Unabhängigkeit des Parlaments ein, dann können wir nicht mehr arbeiten.
Ich möchte noch auf die besondere Überprüfung des Kollegen Dr. Modrow eingehen. Ich glaube, daß gerade Sie, Herr Hörster, den Sachverhalt ungeheuer verkürzt und auch ein Stück weit verdreht haben. Kollege Modrow hat sich nämlich auf eigenen Antrag hin von der Präsidentin, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes dafür zuständig war, überprüfen lassen. Die Präsidentin hat das Ergebnis in einer Drucksache öffentlich bekanntgemacht. Festgestellt wurde — vielleicht hören Sie zu, Herr Kollege Hörster! — natürlich, daß er als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden Mitverantwortung an den Maßnahmen des staatlichen Unterdrückungssystems trägt. Aber festgestellt wurde auch, daß er um Schadensbegrenzung und Ausgleich bemüht war und gegen ihn systemtypische Methoden der Überwachung angewandt wurden. Leider hat der Ausschuß es für nötig befunden, auf eigenen Beschluß hin noch einmal eine Überprüfung durchzuführen, obgleich keine weitergehenden Anhaltspunkte dafür vorhanden waren. Im Ergebnis konnte auch nichts Neues festgestellt werden — es war auch nicht anders zu erwarten —, abgesehen davon, daß der Kollege Modrow nun mehr als bereit ist, öffentlich in jedem Untersuchungsausschuß, in öffentlichen Veranstaltungen zu seiner Verantwortung Stellung zu nehmen, diese auch öffentlich zu bekennen und tatsächlich einen Beitrag zu einer differenzierten, kritischen, aber auch nicht pauschal verurteilenden Sicht auf die Geschichte der DDR zu leisten.
Zum Schluß möchte ich noch eine Bemerkung machen zu der sogenannten Aktion weiße Weste, mit der ja, von den großen Parteien offenkundig gewünscht, eine generelle Überprüfung von Kandidatinnen und Kandidaten im Hinblick auf die vielen anstehenden Wahlen ermöglicht werden soll.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Zwei Sätze. — Ich will einfach darauf hinweisen, daß von so einem Vorgehen meines Erachtens das passive Wahlrecht massiv tangiert ist. Selbst wenn es sich um einen freiwilligen Vorgang handelt, möchte ich von Ihnen,
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18040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Andrea Lederermeine Damen und Herren, eigentlich hören, welche Auswirkungen die Weigerung eines ostdeutschen Kollegen oder einer ostdeutschen Kollegin hat, sich im Hinblick auf seine bzw. ihre Aufstellung als Kandidat bzw. Kandidatin überprüfen zu lassen.
Bitte, Frau Kollegin!
Wir sind der Meinung, ein tatsächlicher Beitrag zu einer differenzierten Aufarbeitung kann nicht eine Verpflichtung zur Überprüfung bedeuten, sondern es muß bedeuten, daß erstens keine Reduzierung auf das MfS erfolgt, sondern daß die politische Biographie in einer vertrauensvollen — —
Frau Lederer, Sie können jetzt nicht weiter debattieren, wenn ich Sie ermahnt habe. Wir haben hier ein Regelwerk. Ich war großzügig, Frau Lederer, habe Ihnen noch ein gutes Stück dazugegeben. Dann habe ich Sie aufgefordert und dann noch einmal. Sie haben aber nicht aufgehört zu reden. Bitte, machen Sie das nicht wieder!
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Köppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie erinnern sich vielleicht noch daran, daß es unsere Gruppe war, die als erste, und zwar bereits im Mai 1991, einen Antrag auf Überprüfung der Bundestagsabgeordneten auf MfS-Kontakte eingebracht hat. Das liegt vor auf Bundestagsdrucksache 12/586.
Wir hatten bereits damals die Erfahrung gemacht, daß auch nach 1989 die Politik und die Parlamente offenbar beliebte Tätigkeitsfelder für Stasi-Spitzel sind. In der letzten Volkskammer der DDR war die Stasi mit 14 %, in den ostdeutschen Landtagen mit etwa 10 % aller Abgeordneten vertreten. Der letzte Regierungschef der DDR wurde später als „IM Cerny" bekannt.
Trotz aller dieser Erkenntnisse tat sich der Bundestag äußerst schwer, einer Überprüfung der Abgeordneten auf frühere Stasi-Mitarbeit zuzustimmen. Unserer Forderung nach einer generellen Überprüfung wollte die Mehrheit des Bundestages nicht folgen. Unser Antrag wurde abgelehnt. Statt dessen verständigten sich im Dezember 1991 CDU/CSU, F.D.P., SPD auf einer freiwillige Überprüfung. Die jetzt — ich möchte sagen: jetzt erst, nämlich ein halbes Jahr vor dem Ende der Legislaturperiode — vorliegenden Überprüfungsberichte sind unter diesem Aspekt für uns völlig unzureichend.
Wir müssen feststellen, daß sich die Hälfte der Abgeordneten des Bundestages nicht hat überprüfen lassen, zu einer solchen Überprüfung nicht bereit war. Das allein, denken wir, zeigt schon, daß die Überprüfungsaktion objektiv keine effektive, sondern lediglich eine symbolische Handlung war. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik hat im Bundestag nicht stattgefunden.
Im Westen Deutschlands wurde die Stasi-Thematik überwiegend als Ostproblem angesehen, und Westpolitiker verlangten primär von der ostdeutschen Bevölkerung, die DDR-Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten. Bis heute aber hat keine der westdeutschen Parteien ihre Verstrickungen mit den ostdeutschen Machthabern öffentlich gemacht, und keine der westdeutschen Parteien hat die Stasi-Spitzel in den eigenen Reihen öffentlich benannt.
Die Parteien und Fraktionen diskutieren dieses Problem lieber hinter verschlossenen Türen wie z. B. in der Parlamentarischen Kontrollkommission, oder sie schicken sich neuerdings auch an, die StasiProblematik zu partei- und wahltaktischen Zwecken zu mißbrauchen.
Lassen Sie mich abschließend daran erinnern, daß jede Partei in diesem Jahr noch die Möglichkeit hat, ihr Verhalten bezüglich etwaiger Mitglieder mit StasiBelastung zu korrigieren. Wir denken, daß eine Überprüfung aller Kandidaten, im Osten und auch im Westen des Landes, vor den Wahlen unbedingt notwendig ist. Wir könnten uns damit in Zukunft solche Debatten im Bundestag ersparen.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19r auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
— Drucksache 12/6646 —
Berichterstattung: Abgeordneter Johannes Singer
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht ja bekanntlich um den Abgeordneten Hans Modrow. Ich habe auch gehört, was bei dem Tagesordnungspunkt zuvor zu ihm gesagt wurde. Ich habe damit meine ernsthaften Probleme, weil z. B. Herr Hörster darauf hinwies, daß seiner Meinung nach Hans Modrow eigentlich gar nicht in diesem Parlament sein dürfte. Das wird sehr moralisch begründet.
— Moment! Ich würde dann schon gerne von Ihnen Widersprüche geklärt wissen.Ich sehe ja Ihr Verhalten zu den führenden Politikern in den osteuropäischen Staaten. Jeder weiß, daß Helmut und Boris Duzfreunde sind. Jeder weiß, daß Herr Schewardnadse als demokratischer Reformer gefeiert wird. Ich habe schon die Frage, warum Sie Menschen mit weniger politischer Verantwortung in der Vergangenheit, als die beiden sie hatten, nicht die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18041
Dr. Gregor Gysigeringste Chance lassen, auch nur eine ähnliche Behandlung zu erfahren.
— Ja, sie sind sogar Staatsoberhäupter. Wissen Sie, was der Unterschied ist? Die einen haben noch Macht. Und so benehmen Sie sich ihnen gegenüber. Moral beginnt bei Ihnen frühestens dann, wenn auch Machtlosigkeit beginnt. Das halte ich für doppelzüngig und auch für ein bißchen heuchlerisch. Das ist mein Problem.
Das zweite ist: Seit geraumer Zeit werden immer wieder neue Maßnahmen gegen Hans Modrow durchgeführt in der Hoffnung, ihn endlich mal von der politischen Bühne zu verdrängen. Wir haben eben ein Beispiel gehört: Die Bundestagspräsidentin überprüft Hans Modrow. Und der Ausschuß, in der völligen Hoffnung, doch noch mehr zu finden, ihm irgendwie mehr anlasten zu können, wiederholt das Ganze einfach noch einmal.Wir kannten den ersten Prozeß, der in Dresden mit dem Ergebnis stattgefunden hat, daß das Gericht gesagt hat, sein Verhalten war nicht strafwürdig. Wir haben es jetzt mit einem zweiten Prozeß zu tun, und um den geht es hier und heute.Lassen Sie mich dazu etwas ganz Grundsätzliches sagen. Ich habe natürlich überhaupt meine Bedenken beim Immunitätsrecht, weil ich dagegen bin, daß Menschen gegenüber der Justiz privilegiert werden. Auf der anderen Seite haben wir aber nun mal das Recht, und ich kenne bisher keinen Antrag, es abzuschaffen.Was ist also die Aufgabe? Die Aufgabe ist, den Mißbrauch zu verhindern, politische Justiz zu verhindern und eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen.Wenn Sie sich ein bißchen mit dem Fall beschäftigt haben, dann ist eines ganz deutlich geworden — und da müßten Sie Bedenken haben auch auf Grund der Erfahrungen, die der Bundestag selbst damit hat —: daß der Untersuchungsausschuß des Landtages Sachsen in einer Art und Weise mit dem Abgeordneten Modrow umgegangen ist, daß er selbst Mitverantwortung für das jetzige Ermittlungsverfahren trägt.
— Nein, hören Sie mal zu.Hans Modrow ist auch vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestages hier gehört worden. Er hat dort ausgesagt. Er ist ordnungsgemäß belehrt worden. Er hatte einen Rechtsbeistand. Er bekam das Protokoll zu lesen. Er konnte noch Ergänzungen und Korrekturen vornehmen. Er ist noch mal besonders belehrt worden, falls es zu einer Vereidigung käme, zu der es dann nicht gekommen ist, weil Bundestagsuntersuchungsausschüsse aus berechtigten rechtlichen Gründen das nicht machen. Das alles ist hier passiert.Beim Landtag Sachsen war das völlig anders. Es ist ihm ein Beweisthema übermittelt worden. Er hat ausgesagt.
Er ist nicht darauf hingewiesen worden, daß er einen Rechtsbeistand zuziehen kann. Und er hat zu dem Beweisthema absolut die Wahrheit ausgesagt.Während der Ausschußsitzung hat ein Abgeordneter eindeutig ein Nebenthema erörtert, hat ihn dort in einen Widerspruch verwickelt. Er hatte eine Unterlage, aus der sich dieser Widerspruch ergab, und hätte die Chance gehabt, ihn sofort zu klären, wenn man normale rechtsstaatliche Methoden angewandt hätte, indem man einfach diese Unterlage vorgelegt und gesagt hätte: Herr Zeuge, hier ist ein Widerspruch zu dieser Unterlage. Könnten Sie mir diesen Widerspruch erklären? — Das ist das mindeste, was ein Gericht und auch ein Staatsanwalt tun muß.Er hat extra nichts gesagt, um diesen Widerspruch festzumachen. Dann ist Hans Modrow sofort ohne jede Möglichkeit zur Korrektur vereidigt worden, und eine Stunde später war die Anzeige unterwegs. Das nenne ich Mißbrauch der Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses, um hier einem Abgeordneten eine Falle zu stellen, um einen politischen Prozeß gegen ihn zu führen, um ihn von der politischen Bühne zu vertreiben. Das würde auch für jeden anderen Abgeordneten gelten. Befreien Sie sich doch einmal ideologisch, und schauen Sie einmal auf den Umstand, der dort passiert ist. Das ist das Entscheidende.Nie würde etwas Ähnliches bei einem Untersuchungsausschuß des Bundestages gestattet werden. Wenn Sie in diesem Falle die Immunität aufheben, dann sagen Sie damit den Ausschüssen der Landtage: Mißbraucht diese Ausschüsse, soviel ihr wollt, baut den Leuten Fallen auf, legt nichts vor und organisiert auf diese Art und Weise die politische Vergiftungsatmosphäre.
Es ist ungeheuerlich, was dort in dem Landtag geschehen ist. Sie sollten das nicht legitimieren.
Das Wort hat der Vorsitzende des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, unser Kollege Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht trägt diese Debatte dazu bei, daß wir einige Dinge klären können, wenn wir bereit sind, einander zuzuhören.Ich will ganz sachlich darauf hinweisen, daß die Staatsanwaltschaft Dresden im Juli 1992 den Immunitätsausschuß davon in Kenntnis gesetzt hat, daß gegen unseren Kollegen Hans Modrow wegen des Verdachtes der Ableistung eines Meineides ermittelt werde.
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18042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Dieter WiefelspützNach etwa anderthalb Jahren, unter dem Datum 15. November 1993, hat uns die Staatsanwaltschaft Dresden mitgeteilt, daß die Ermittlungen abgeschlossen seien und daß man nunmehr gewillt sei, wegen desselben Deliktes Anklage zu erheben. Es werde beantragt, die Genehmigung zur Aufhebung der Immunität zu erteilen.Der Immunitätsausschuß hat sich zweimal sehr eindringlich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Wir haben dann mit ganz großer Mehrheit bei einer Gegenstimme dem Plenum empfohlen, die Immunität aufzuheben. Ich halte diese Empfehlung nicht nur für richtig, sondern für zwingend richtig, Herr Kollege Gysi.
Ich will das noch einmal kurz für den Immunitätsausschuß begründen. Wir führen hier keine Debatte von verschiedenen Fraktionen, sondern die Kollegen haben mich beauftragt, das für den gesamten Immunitätsausschuß — bei abweichender Meinung von Frau Kollegin Lederer — hier vorzutragen. Ich will Ihnen das kurz erläutern.Die Immunität — da gibt es bei Ihnen einen erheblichen Denkfehler, Herr Kollege Gysi — ist kein Privileg eines Abgeordneten. Wenn das so wäre, wäre ich sofort dafür, es abzuschaffen. Vielmehr schützt die Immunität die Funktionsfähigkeit des frei gewählten Deutschen Bundestages. Nur darum geht es.
Die Aufhebung der Immunität ist keineswegs mit der Vorverurteilung eines Abgeordneten, dessen Immunität aufgehoben wird, gleichzusetzen.
Es gilt selbstverständlich — das sage ich hier in aller Deutlichkeit -- auch für den Kollegen Hans Modrow die Unschuldsvermutung. In dem Gerichtsverfahren in Dresden wird zu klären sein, ob der Anklagevorwurf zu Recht erfolgt ist oder nicht.Ich räume ein: Man kann in diesem Falle sehr leicht der Versuchung unterliegen, in die Sache einzusteigen, was der Untersuchungsausschuß des Landtages in Dresden gemacht hat.Das Untersuchungsausschußrecht ist ein außerordentlich kompliziertes Recht. Ich sage das ohne Überheblichkeit und ohne Herablassung gegenüber einem jungen Parlament. Wir haben gute Gründe, warum wir Zeugen vor einem Untersuchungsausschuß nicht vereidigen. Das tun wir seit Jahren nicht.Es ist auch richtig, daß dann, wenn jemand vor einem Untersuchungsausschuß dieses Bundestages eine Aussage gemacht hat, ein Wortprotokoll geführt wird, dies dem Zeugen zugeleitet wird und er uns nach einigen Wochen mitteilen kann, ob er das so stehenläßt oder ob er etwas ändern möchte. Erst dann stellt sich die Frage, ob eine Beeidigung erforderlich ist. In der Regel wird davon nicht Gebrauch gemacht, seit Jahren nicht mehr.Ich sage noch einmal: Die Versuchung ist sehr groß, da einzusteigen. Genau dies dürfen wir nicht, KollegeGysi; denn wir sind als Immunitätsausschuß kein Obergericht, nicht die Vorgesetzten der Justiz des Freistaates Sachsen. Vielmehr hat der Kollege Hans Modrow die Möglichkeit, vor dem zuständigen Gericht in Dresden darzulegen, was Sache ist, und er hat dort auch die große Chance, freigesprochen zu werden. Ich sage das, ohne auch nur den Anspruch zu erheben, mich da einmischen zu wollen. Nur vor diesem Gericht kann Schuld oder Unschuld von Herrn Modrow festgestellt werden. Ich habe nicht den geringsten Anhaltspunkt — niemand bei uns im Immunitätsausschuß hat einen Anhaltspunkt dafür —, daß die sächsische Justiz sich instrumentalisieren läßt.
Ich halte es auch für eine Unterstellung, dies zu behaupten. Denn selbst wenn der Untersuchungsausschuß des Landtages einen Fehler gemacht haben sollte, können Sie doch daraus nicht den Schluß ziehen, daß die sächsische Justiz nicht verfassungstreu ist.Deswegen, denke ich, sollten wir in aller Gelassenheit heute, weil es sachlich geboten ist, die Immunität des Kollegen Hans Modrow aufheben und dann das rechtsstaatliche Verfahren in Dresden abwarten. Ich sage einmal ohne Häme und ohne Besserwisserei: Der Kollege Hans Modrow, von dem mich politisch sehr viel trennt, bei dem ich aber äußersten Wert darauf lege, daß er hier korrekt behandelt wird wie jeder andere Kollege, hat in dem ersten größeren Verfahren durchaus auch aus seiner Sicht mit der sächsischen Justiz erstaunliche Erfahrungen gemacht in einem Prozeß, den sie von der PDS auch als einen politischen Schauprozeß denunziert haben. Und was ist dabei herausgekommen? Wie ich glaube, ohne wiederum für mich in Anspruch zu nehmen, es besser zu wissen, ein kluges Urteil. Wenn ich richtig informiert bin, ist das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Aber ich denke, wir haben allen Grund, wirklich Vertrauen auch in die junge rechtsstaatliche Justiz des Freistaates Sachsen zu haben. Wir sollten in aller Ruhe abwarten, was dort zuwege gebracht wird.
Ich sage noch einmal: Ich halte es für vermessen, zu glauben, daß dort manipuliert wird. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn der Immunitätsausschuß unbeschadet der Person des Abgeordneten den Eindruck gewinnt, daß die Justiz manipuliert, dann allerdings schließen sich die Demokraten sofort zusammen, dann ist der Teufel los bei uns, und dann packen wir zu. Dann wird dafür Sorge getragen, daß die Rechte dieses Parlaments gewahrt bleiben. Das gilt für jedes Mitglied dieses Hauses, das gilt auch für Hans Modrow.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18043
Bitte.
Ich wollte nur sagen, daß wir nie das Urteil, sondern immer nur den Prozeß kritisiert haben und daß es hier bei der Schlüssigkeitsprüfung auch darum ging, daß selbst der Staatsanwalt den Ausschußvorsitzenden gefragt hat — ich zitiere das wörtlich —:
Könnte es so sein, daß Mitglieder des Untersuchungsausschusses mit dem Ergebnis der Vernehmungen unzufrieden waren, weil letztlich über die zentrale Frage der Isolierungslager und die diesbezügliche Verantwortung des Zeugen Modrow nichts Relevantes herauskam und deswegen dann wenigstens eine Anzeige wegen Meineids erfolgen sollte?
Erfordert das nicht eine Schlüssigkeitsprüfung, wenn selbst die Staatsanwaltschaft einen solchen Verdacht äußert?
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 12/6646? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petititionsausschusses
Sammelübersicht 122 zu Petitionen
— Drucksache 12/5803 —
Die zu diesem Tagesordnungspunkt vorgesehenen Redner wünschen ihre Beiträge zu Protokoll zu geben.*) Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6729. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/5803? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 135 zu Petitionen
— Drucksache 12/6391 —
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Auch hierzu wünschen die vorgesehenen Redner der Fraktionen und Gruppen ihre Beiträge zu
*) Anlage 2
Protokoll zu geben*). Besteht auch hier das Einverständis des Hauses? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir stimmen dann ab, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6730. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/6391? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Beibehaltung der Mitbestimmung beim Austausch von Anteilen und der Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften betreffen
— Drucksachen 12/4532, 12/6714 —
Berichterstattung: Abgeordneter Günther Heyenn
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Heribert Scharrenbroich das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nur ganz wenige Sätze zum Vorgang, der jetzt zur Beratung ansteht: Am 8. November 1991 hat der Bundestag beschlossen, daß wir bezüglich der innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinie zur Beibehaltung der Mitbestimmung beim Austausch von Anteilen und der Einbringung von Unternehmensteilen einmütig der Auffassung sind, daß das Steueränderungsgesetz nicht zu einer Schmälerung der Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern führen darf und daß entsprechende flankierende Regelungen in das innerstaatliche Mitbestimmungsrecht aufgenommen werden sollten.Dem folgend haben die Koalitionsfraktionen am 24. September 1992 einen Gesetzentwurf eingebracht, der diesem einmütigen Wunsch des Plenums voll entspricht. Nachdem es innerhalb der Koalitionsfraktionen — das möchte ich durchaus zugeben — unterschiedliche Auffassungen über das Vorgehen gab und die Beratungen im Ausschuß nicht fortgesetzt worden sind, hat die SPD zum 30. Juni 1993 einen Gesetzentwurf eingebracht, der textlich dem Antrag der Koalitionsfraktionen gleich ist, wodurch bestätigt ist, daß dieser Antrag sehr gut war.*) Anlage 5
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18044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Heribert ScharrenbroichNun drängt die SPD auf Beratung ihres Gesetzentwurfs; das ist verständlich. Ich möchte aber aus dem Bericht des Ausschußvorsitzenden zitieren — das ist der Grund, warum wir meinen, daß diese Debatte heute nicht notwendig ist —:Es besteht seitens der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. die Absicht, die Vorlagen zusammen mit den übrigen Gesetzgebungsvorhaben der Koalition zum Thema „Mitbestimmung" zu beraten.Es ist also überhaupt nicht in Zweifel zu ziehen, daß dem einmütigen Beschluß des Deutschen Bundestages gefolgt werden soll. Deswegen möchte ich, bevor der Redner der SPD spricht, hier noch einmal klar sagen: Für uns ist selbstverständlich, daß der einmütige Beschluß des Deutschen Bundestages eingehalten wird und es nicht zu einem Abbau von Mitbestimmung kommt.Herr Präsident, meine liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte trotzdem eine kritische Anmerkung machen. Ich glaube, es geht nicht an, daß der Deutsche Bundestag 1991 einmütig einen Beschluß faßt, daß dann ein Gesetzentwurf eingebracht wird und daß sich hinterher, nachdem dieser Gesetzentwurf eingebracht worden ist, einige Ministerien darüber streiten, ob dieser so verabschiedet werden kann oder ob es Veränderungen oder irgend etwas anderes geben soll. Ich finde auch, daß es die Exekutive zu respektieren hat, wenn der Deutsche Bundestag einmütig seinen Willen bekundet hat. Ich möchte hoffen, daß das ein einmaliger Vorfall ist.
Herr Kollege Hans Urbaniak, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe in diesem Hause noch nicht erlebt, daß eine Entschließung, in der wir uns gemeinsam vorgenommen haben, eine Sache zu regeln, dadurch beschleunigt oder wieder aktualisiert werden mußte, daß man von § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung Gebrauch machen mußte, weil man in diesem Falle den Eindruck hat, daß die Koalitionsfraktionen das Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz überhaupt nicht verabschieden wollten und somit insbesondere bei einer Partei, der F.D.P., wohl seit vielen Jahren die Überlegung besteht, die Mitbestimmung weiter auszuhöhlen.Dies widerspricht der Entscheidung, die wir seinerzeit, und zwar im Jahre 1991, hier getroffen haben, und die Richtlinie des Rates der EG ist bereits am 23. Juli 1990 erfolgt. Also haben wir jetzt über Jahre Zeit gehabt, diese Sache endgültig zu regeln; denn die Entschließung des Deutschen Bundestages bezieht sich darauf, daß durch EG-Recht — Harmonisierung wird ja so etwas genannt — die Mitbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland auf keinen Fall ausgehöhlt werden darf. Dem haben die Fraktionen hier zugestimmt, und es wäre ja auch eine schlimme Sache, wenn mit der Umsetzung der Richtlinie der EG eine Schmälerung von Mitbestimmungsrechten derArbeitnehmer und der Gewerkschaften einhergehen würde.Wir haben im Ausschuß immer wieder aufgefordert: Warum wollt ihr eigentlich euren eigenen Entwurf nicht beraten, nicht erörtern, damit wir diese Sache erledigen? Denn die Zielsetzung ist doch klar: keine Aushöhlung der Mitbestimmung.Aber es ist immer wieder darauf verwiesen worden — obwohl, ich meine, die Materie relativ einfach, übersehbar und in der Zielsetzung klar ist —: Wir haben noch Beratungsbedarf. Im Ausschuß gab es immer wieder die kurze, aber heftige Debatte, so daß wir den Eindruck bekamen, man wollte dies verschleppen. Und der Kollege Scharrenbroich kann mich in dieser Frage gar nicht beruhigen, wenn er meint: Wir stehen zu dem, was wir gemeinschaftlich verabschiedet haben.Mitbestimmung auszuhöhlen ist eine schlimme Sache; denn wir haben seit 1951, 1952, 1956, 1972 und 1976 immer wieder Schritte zur konkreten Gestaltung der Mitbestimmung in den Unternehmensbereichen getan mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen.Sie, Herr Kollege Scharrenbroich, haben ja darauf hingewiesen, daß in dieser Frage die 500er-Belegschaftsgrenze eine Rolle spielt. Sie sagten, Sie hätten sich mit der F.D.P. darauf geeinigt, und wir wollten den Entwurf so, wie wir ihn eingebracht haben, über die Bühne bringen. Wir werden dazu natürlich Änderungsanträge stellen; denn die Beratung hat noch gar nicht begonnen. Das ist im Kontext auch mit der kleinen Aktiengesellschaft zu sehen, wo man die Mitbestimmung ebenfalls auszuhöhlen gedenkt. Ich halte dies nicht für einen verantwortbaren Vorgang.Darum sage ich, meine Damen und Herren: Wir haben den Eindruck, daß weiterhin verschleppt werden soll. Dieses können wir uns aber nicht erlauben; denn in dem Spannungsfeld Betrieb und Unternehmen, in dem Spannungsfeld der Auseinandersetzung über die Geschäftspolitik, über das, was man das operative Feld nennt, muß doch über die Aufsichtsräte der Sachverstand der Belegschaftsmitglieder mit eingebracht werden. Denn diese Belegschaftsmitglieder identifizieren sich oftmals völlig mit dem Unternehmen und kämpfen mehr als die Aktionäre um seinen Bestand. Wir erleben das in unserer Unternehmens- und Betriebsgeschichte immer wieder. Die aktuellen Daten treffen uns eigentlich jeden Tag, an denen von Betriebsschließungen, Ausdünnungen und allen möglichen negativen Dingen, die die Arbeitslosigkeit nach oben treiben, die Rede ist.Darum sage ich hier: Wenn wir uns ganz entschieden für die Sicherung, aber auch für die Ausweitung der Mitbestimmung einsetzen, ist dies ein wichtiger Vorgang auch für die Sicherung des Betriebs- und Unternehmensfriedens; denn wenn dieser gestört und breitflächig durcheinandergebracht würde, hätten wir alle Konsequenzen zu tragen.Die Sozialpartnerschaft, die man in unserem Lande nun gefunden hat, darf nicht nur dem Wort nach gelten, sondern muß sich konkret, laufend in den Betrieben und in den Unternehmungen vollziehen. Darum drängen wir Sie und bitten Sie — denn Sie haben die Mehrheit —, daß Sie sich jetzt anschicken,
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Hans-Eberhard Urbaniakdie Beratung auch im Ausschuß zuzulassen, damit wir diese Angelegenheit endgültig erledigen können.Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten Unternehmen in der Europäischen Union schon genutzt haben, um von dem labilen Zustand, den wir gegenwärtig haben, Gebrauch zu machen — das wird noch zu untersuchen sein —, um Bereiche in der Bundesrepublik mitbestimmungsfrei zu machen, weil sie Belegschaftsmitgliederübertragungen oder -spaltungen vorgenommen haben. Das wird man noch untersuchen müssen. Dann müssen aber Sie die Verantwortung dafür tragen; denn Sie haben die Entschließung, die den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften Mut machen sollte, real und konkret nicht umgesetzt. Das ist ein schwerer Fehler, den ich Ihnen, meine Damen und Herren, hier auf jeden Fall vorwerfen muß.Wir haben uns auch bei der Mitbestimmung im Rahmen der Postreform auseinandergesetzt und eine wichtige Kondition in die Gespräche eingebracht. Denn wir werden dort eine Mitbestimmungsregelung bekommen, die sich aus einem Modell Krupp-Hoesch ableiten wird; so lautet auf jeden Fall der Beschluß der SPD-Bundestagsfraktion. Dies ist heute auch hier betont worden.Darum bitten wir als Sozialdemokraten Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, daß Sie jetzt diesen Punkt, der heute hier in Rede steht, im Ausschuß auf die Tagesordnung setzen lassen, damit wir das Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz endgültig verabschieden können. Schließlich wollen wir ja auch, daß in der Europäischen Union andere Bereiche — auch der Ministerrat, auch das Europäische Parlament — die Überlegung der deutschen Mitbestimmung aufgreifen und weiter voranbringen.Wir sind in guten und schlechten Zeiten damit auf jeden Fall am besten gefahren, und wir wollen die Sozialpartnerschaft und die vernünftige Zusammenarbeit in den Betrieben und in den Unternehmungen selbstverständlich aufrechterhalten. Das ist auch ein ganz wichtiger Grundsatz für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft.
Frau Kollegin Dr. Gisela Babel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will dem Kollegen von der Opposition vorweg durchaus zugestehen, daß die Behandlung, die dieses Thema erfahren hat, von dem Üblichen abweicht und daß ich auch verstehen kann, wenn man jetzt vehement das einfordert, was einstimmig im Deutschen Bundestag beschlossen worden ist. Lassen Sie mich vielleicht einige Bemerkungen zu dem Hintergrund machen.Das Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz beschäftigt uns in der Tat schon eine ganze Weile. Aus Anlaß der innerstaatlichen Umsetzung der EG-Fusionsrichtlinie aus dem Jahre 1990 sind wir hier im Bundestag vor zweieinhalb Jahren einmütig zu der Auffassung gelangt, daß europaweite Fusionen und Spaltungen nicht zu einer Verkürzung der bundesdeutschen Mitbestimmungsrechte führen dürfen. DieArt der Umsetzung dieses Beschlussess des Deutschen Bundestages war seinerzeit noch nicht klar.Im September 1992 haben die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. dann den Entwurf eines Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetzes vorgelegt. Dieser sieht im Einklang mit der Fusionsrichtlinie die Versagung steuerlicher Vergünstigungen für grenzüberschreitende Vorgänge vor, wenn hierdurch Mitbestimmungsrechte geschmälert werden.Es ist kein Geheimnis, daß sich die F.D.P. mit diesem Gesetzentwurf schwergetan hat. Ich vermag nicht so ganz zu akzeptieren, Herr Kollege Scharrenbroich, daß das nur die Exekutive war. Wir wollen ruhig Roß und Reiter nennen. Es war die F.D.P. Sie sah die Gefahr, daß manches Unternehmen den Mitbestimmungsregelungen künftig unterfällt. Das konnte sich zu fünf Personen zusammenschrumpfen, obwohl die Größe des Betriebes dieses an und für sich nicht rechtfertigt. Im Grunde wird das Mitbestimmungsrecht auf Unternehmen ausgeweitet, die sonst nämlich nicht diesen Regelungen unterfallen würden.Das Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz ist in das deutsche Mitbestimmungssystem nur schwer einzuordnen. Aber, auch wenn wir uns mit dem Gesetz schwertun, tragen wir es mit. Die Liberalen haben das Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz aber immer in einem größeren Zusammenhang gesehen. Auch das Gesetz für die kleine Aktiengesellschaft und das Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsrechtes enthalten mitbestimmungsrelevante Vorschriften. Unsere Absicht war, diese Gesetze, mit denen sich auch die Koalition laut ihrer Koalitionsabsprache beschäftigen wollte, im Zusammenhang mit parlamentarischen Gremien zu beraten.Es ist kein Geheimnis, daß es innerhalb der Koalition nicht ganz einfach war, zu abgestimmten Vorlagen eines Gesetzes für die kleine Aktiengesellschaft und für das Umwandlungsgesetz zu gelangen. Dieses hat die Beratungen des Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetzes ohne Zweifel erheblich verzögert. Die Verzögerung hat sogar dazu geführt, daß die SPD die gute Idee hatte, denselben Gesetzesentwurf hier wortgleich einzubringen.
Ich habe immer wieder gesagt, daß die Opposition eigentlich doch der Koalition zu Dank verpflichtet ist, daß sie ihr die Gelegenheit gibt, so große Angriffe zu führen. Diese Dankbarkeit habe ich noch nicht gehört, aber ich nehme auf Grund Ihrer fröhlichen Stimmung an, daß Sie doch dankbar sind.
— Ja, er war hinreißend.Jetzt liegen aber diese Gesetzentwürfe vor, die für uns diesen politischen Zusammenhang, um den es uns geht, durchaus deutlich machen. Ich möchte den Kollegen der Opposition schon ankündigen, daß die Koalition entschlossen ist, diese Gesetze und damit auch das beschlossene Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz in den Ausschüssen einer zügigen Bera-
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Dr. Gisela Babeltung zuzuführen. Damit sind wir am Ende vielleicht alle zufriedener als heute.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes— Drucksache 12/5673 —b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Johannes Singer, Gudrun Schaich-Walch, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Umsetzung des Rauschgiftbekämpfungsplanes— Drucksachen 12/2803, 12/3956 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit InnenausschußRechtsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Johannes Singer das Wort.Johannes Singer (vom Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD] mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp vier Jahren hat die Bundesregierung den Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan verabschiedet. Bereits am 12. Juni 1992 hatten wir in einer detaillierten Großen Anfrage nach der Umsetzung dieses Planes gefragt. Seit Dezember 1992 liegt die Antwort der Bundesregierung vor, über die wir heute zu debattieren haben.Wir sind der Auffassung, daß die Antwort der Bundesregierung ihr Scheitern in allen zentralen drogenpolitischen Fragen dokumentiert.
Die Prävention ist in Deutschland im Hinblick auf ihre wissenschaftlichen, inhaltlichen und organisatorischen Grundlagen unterentwickelt. Es gibt Wissenslücken, die zur Verbesserung der präventiven Maßnahmen geschlossen werden müssen. Es fehlen Kenntnisse über Motive, Entwicklung und Verlauf des Mißbrauchverhaltens, über den Zusammenhang von Erziehungsstil und Suchtentwicklung. Die suchtbahnenden Faktoren in der Biographie der Erkrankten, in ihrem sozialen Umfeld und in der Gesellschaft sind aus medizinischer, psychologischer und soziologischer Sicht weitgehend ungeklärt. Darüber hinaus fehlen Untersuchungen, die auf solchen Erkenntnissen aufbauen. Wegen dieser Wissenslücken bleibt die Entwicklung von Programmen für die breitenwirksame Umsetzung von präventiven Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter unzureichend.Trotz dieser Defizite bemühen sich diesbezüglich zahlreiche Stellen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das Bundeskriminalamt, das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, die Landesstellen mit ähnlicher Aufgabe und zahlreiche in der Suchthilfe arbeitenden Verbände wie der Fachverband Drogen und Rauschgift, die uns durch aus hilfreiche Hinweise und Anregungen gehen. Aber es passiert immer wieder, daß der eine von der Arbeit des anderen nichts weiß, daß alles unkoordiniert läuft. Vor allen Dingen — das ist unsere Hauptkritik — fehlen durchgehende Evaluationen. Die jeweiligen Programme werden nicht auf ihre Wirksamkeit abgeklopft. Das gilt auch für die massenmedialen Kampagnen der Bundesregierung, insbesondere für die Kampagne „Keine Macht den Drogen", die jährlich 6 Millionen DM verschlingt, ohne daß ihre Wirksamkeit nachgewiesen ist. Prävention muß alle psychoaktiven Substanzen einbeziehen. Nichtraucherkampagnen bei Kindern und Jugendlichen dürfen vor allen Dingen nicht durch die Tabakwerbung konterkariert werden.Die Unwirksamkeit der gegenwärtigen Präventionsmaßnahmen kann an der zahlenmäßigen Entwicklung des Drogenmißbrauchs abgelesen werden. Die Zahl der polizeilich erfaßten Erstkonsumenten harter Drogen stieg 1992 auf 13 212 im Vergleich zu 11 685 im Jahre 1991. Für das gerade abgelaufene vergangene Jahr meldet der Bundesinnenminister in der Rauschgiftbilanz der ersten drei Quartale eine weitere erhebliche Steigerung des Mißbrauchs, insbesondere von Kokain und Amphetaminen. Die Zahl der Abhängigen von illegalen Drogen wird vom Bundeskriminalamt auf etwa 120 000, von nichtamtlichen Stellen auf 200 000 geschätzt. Die Hälfte der Personen dürfte polytoxikoman sein. Der Grundsatz „Hilfe statt Strafe" findet leider immer noch nur ausnahmsweise Anwendung.
Wir haben festgestellt, daß bei Süchtigen die Anwendung des Strafrechts völlig versagt. Ein Süchtiger läßt sich durch das Strafrecht nicht abschrecken. Im Gegenteil: Das Strafrecht wirkt für die Persönlichkeit des Kranken verheerend, verhindert einen sinnvollen Dialog und beschleunigt die soziale und gesundheitliche Verelendung. Weil Sucht Krankheit ist, muß für diese Menschen die Gesundheitspolitik Vorrang vor dem Strafrecht bekommen. Darum ist eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes dringend geboten, die eine weitere Entkriminalisierung der Drogensüchtigen ermöglicht.
Wir müssen feststellen, daß die Angebote nach wie vor nicht ausreichen. Hochinteressant ist, daß der ewige Vorwurf, der hier im Deutschen Bundestag von den Koalitionsfraktionen erhoben worden ist, wonach die Länder, die sich einer engagierten Substitutionsbehandlung durch Methadon widmen, das nur tun, um Therapieplätze einzusparen, eindrucksvoll widerlegt wird. Gerade Länder wie Nordrhein-Westfalen stellen mehr Therapieplätze zur Verfügung als an-
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Johannes Singerdere. Dafür ist ihnen zu danken; dafür sind sie nicht zu kritisieren.Daß ich ein bißchen von Abhängigkeit, von Suchtmitteln verstehe, werden Sie an meinem Raucherhusten erkennen. Auch mit anderen legalen Suchtmitteln habe ich durchaus meine Erfahrung.Daß die Therapieplätze nicht ausreichen und daß hier von der Bundesregierung durch Modellprogramme mehr getan werden muß, steht außer Zweifel.
Ich bitte aber zu berücksichtigen, daß wir über die weltweit anerkannte Methadonbehandlung hinaus dem Vorschlag des Bundesrates, initiiert durch das Bundesland Hamburg, folgen sollten, in streng ärztlich kontrollierten Einzelfällen Substitutionen auch mit harten Drogen wie Heroin vorzunehmen — wie es in acht Schweizer Großstädten geschieht —, um zumindest in Feldversuchen Erfahrungen zu sammeln. Das hat mit Freigabe oder Legalisierung nichts zu tun. Das wird auch in Australien, in England und in der Schweiz, wie ich eben gesagt habe, praktiziert, ohne daß irgend jemand diese Länder als freigabe- oder legalisierungsverdächtig diffamieren würde.Wir Sozialdemokraten haben uns gegen Freigabe und Legalisierung immer gewehrt.
Ich zitiere an dieser Stelle den Beschluß unseres Bundesparteitages in Wiesbaden vom November des vergangenen Jahres:In diesem Zusammenhang muß auch die Rolle des Strafrechts neu überdacht werden: Wir treten dafür ein, den illegalen Drogenhandel wirksam zu bekämpfen und Dealer und organisierte Drogenkriminalität schwerpunktmäßig zu verfolgen— das könnte man nicht, wenn man für Freigabe oder Legalisierung einträte —,den Besitz von Cannabis und Cannabisprodukten in kleinen Mengen zum Eigenverbrauch dagegen nicht mehr zu bestrafen— wie das in der Praxis der meisten Bundesländer schon vorkommt und nur noch der entsprechenden gesetzlichen Grundlage bedarf —,bei Besitz von harten Drogen in kleinen Mengen zum Eigenverbrauch in Zukunft vom Legalitätsauf das Opportunitätsprinzip überzugehen .. .— d. h. all diese Bereiche strafbar zu lassen, aber den Strafverfolgungsbehörden die Entscheidung zu überlassen, wo sie einschreiten und ob sie ihre sehr knappen Ressourcen zur Bekämpfung der internationalen Kartelle der Drogenhändler, der Geldwäscher und all derjenigen, die sich an der Not und an dem Elend junger Menschen eine goldene Nase verdienen, einsetzen oder ob sie hinter jedem kleinen Junkie, Fixer oder Kiffer herlaufen und damit Arbeitskraft von Polizei und Justiz vergeuden, die Kräfte in die völlig falsche Richtung lenken und diejenigen, diewirklich das große Geld machen, ungeschoren lassen.
Mit diesen Forderungen nähern wir uns dem niederländischen Modell fast vollständig an, einem Modell, das zumindest mehr Erfolge vorweisen kann als wir. Auch können wir auf entsprechende Erfolge in Australien und Großbritannien verweisen, denen sich die Drogenpolitiker in diesem Lande, auch die von der konservativen Seite, sicherlich einmal nähern sollten.Um es zu wiederholen: Es dürfte allgemeine Erkenntnis sein, daß die abschreckende Wirkung des Strafrechts beim Suchtkranken völlig versagt, dort kontraproduktiv wirkt. In dieser Hinsicht muß es völlig beseitigt werden. Erhalten bleiben muß es natürlich, um gegen die Händler und die Großkriminellen vorzugehen und denen das Handwerk zu legen.Gerade in dem Bereich der organisierten Kriminalität hat die Koalition total versagt. Sie hat uns nach jahrelangen Verzögerungen ein Geldwäschegesetz vorgelegt, das ganz erhebliche Lücken aufweist und immer noch nachgebessert werden muß.Wir werden Ihnen die entsprechenden Anträge präsentieren. Wir werden Sie dazu zwingen, zu ähnlichen Verfahren zu kommen wie die sonst bei jeder Gelegenheit von Ihnen zitierten Amerikaner. Genau die Vorschriften, die in Amerika zur Bekämpfung der Großkriminalität praktiziert werden, werden wir von Ihnen verlangen. Dann werden wir sehen, ob Sie mit Ihren Reden nur Schauanträge verfolgen und der Bevölkerung in unserem Land nur etwas vormachen oder ob Sie ernsthaft in die Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität einsteigen.Deswegen folgen Sie unseren Forderungen, streng zu trennen: das Strafrecht für die Großverbrecher und die Entlastung und Befreiung des Konsumenten, sowie die Verteilung der knappen Ressourcen im Lande in eine vernünftige Richtung zu lenken.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Dr. Elmer, ich habe nichts dagegen, daß Sie hier Ihre Unterschriften sammeln gehen, aber tun Sie das wenigstens so, daß es den Ablauf auch optisch nicht so sehr stört.
Ich erteile dem Kollegen Werner Ringkamp das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der üblichen arbeitnehmerfreundlichen Haltung meiner Fraktion haben die meisten Redner meiner Fraktion beschlossen, ihre Rede zu Protokoll zu geben. Aber damit auch unsere Argumente wenigstens verbal hier zum Tragen kommen — —
— So kann man Arbeitnehmerfreundlichkeit auch interpretieren!
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18048 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Werner RingkampHerr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem wir gelernt haben, mit der Laus Nikotin und der Wanze Alkohol im Fell unserer Gesellschaft zu leben, sollen wir jetzt zu angeblich wissenschaftlichen Zwecken auch noch dem Floh illegale Droge Gastrecht in unserem Pelz gewähren.
So schlägt es zumindest ein Gesetzentwurf des Bundesrates vor, den wir heute in erster Lesung beraten.Der Zeitpunkt dieser Beratung könnte kaum besser gewählt sein. Die FAZ vom 26. Januar berichtet über ein vergleichbares Schweizer Experiment, wo Heroin als Medizin eingesetzt werden soll. Das Bundesgesundheitsamt hat allerdings ähnliche Versuche bisher — Frankfurt und Hamburg seien erwähnt — erfolgreich zurückgewiesen. Ich glaube, hier ist es an der Zeit, diesem Amt, das in den letzten Wochen in die Schlagzeilen geraten ist, einmal Dankeschön zu sagen, daß da Mitarbeiter arbeiten, die noch wirklich ihre Pflicht tun.
Meine Damen und Herren, jede Gesellschaft hat eine Drogenszene. Das ist gar keine Frage. Wir werden die Drogen trotz aller Gesetze und Verordnungen nicht abschaffen. Unsere bundesrepublikanische Drogenszene umfaßt 2,5 Millionen behandlungsbedürftige Alkoholiker, 800 000 zum Teil durch Ärzte initiierte Medikamentenabhängige und 120 000 Menschen, deren Leben von illegalen Drogen bestimmt wird.Allein dieser Vergleich der Zahlen müßte meiner Ansicht nach jedem auch nur halbwegs Einsichtigen zeigen, daß Suchtmittel um so häufiger mißbraucht werden, je leichter sie zugänglich sind.
Das wird auch aus dem Bericht des Drogenbeauftragten ganz deutlich, in dem — wie Sie auch schon sagten — eine Zunahme von mehr als 25 % der Erstkonsumenten bei Kokain wegen der leichteren Zugänglichkeit konstatiert wird.
— Das ist nie bestritten worden.Auch die Erfahrungen in Schweden, wo ja zwei Jahre lang — das wissen Sie hoffentlich auch — —
Verzeihung, Herr Kollege, ich muß nur den Herrn Bundesminister darauf hinweisen, daß von der Regierungsbank üblicherweise keine Zwischenrufe gemacht werden.
Aber wenn sie den Redner stützen, Herr Präsident!
Wenn hier einer seine dritte Rede im Plenum hält, dann ist er noch nicht so schlagfertig wie jemand, der seit 25 Jahren im Plenum sitzt. Das ist doch wohl normal.Ich komme zurück zu den Erfahrungen in Schweden, die Sie sicherlich kennen: zwei Jahre legale Freigabe von Drogen, exakt Verdoppelung der von Heroin und Kokain Abhängigen in Schweden.
Das Experiment ist ruck, zuck gestoppt worden.Eine wie auch immer geartete Lockerung illegaler Drogen erleichtert in jedem Fall die Zugänglichkeit. Der Staat verzichtet in diesem Falle nämlich darauf, grundsätzlich eine Mißbilligung auszusprechen. Damit geschieht zweierlei, meine Damen und Herren: Damit entfällt eine wichtige Information für Täter und Benutzer. Das Unwerturteil des Staates über Drogen ist aber auch für die gesamte Gesellschaft wichtig. Der Staat stellt mit seinem Urteil gewissermaßen Richtlinien, Regeln auf, an die man sich, bitte schön, zu halten hat. Wenn jemand diese Regeln nicht einhält, dann weiß er, daß er ein hohes Risiko eingeht, und zwar doppelter Art: einmal, indem er etwas für unwert Gehaltenes tut oder gebraucht, zum zweiten aber auch, indem er dem Risiko der Strafandrohung unterliegt.Natürlich wissen wir, meine Damen und Herren, daß nicht nur beim Schach und beim Mühlespiel gelegentlich Regeln übertreten werden. Das kann aber für uns kein Grund sein, keine Regeln aufzustellen. Sie wissen genausogut wie wir, daß die Schätzungen von 40 bis 140 Milliarden DM Steuerbetrug pro Jahr ausgehen; aber kein Politiker der Welt kommt doch auf die Idee, Steuergesetze abzuschaffen. Das Abschaffen von Gesetzen kann doch wohl nicht die Regel sein. Im Gegenteil. Je größer die Versuchung wird, Werte in Frage zu stellen und Regeln zu brechen, desto sorgfältiger muß der Staat durch Vorsorge und durch Druckmittel dafür sorgen, daß sich alle in einem vertretbaren Rahmen halten.
Genau das ist die Haltung, die aus der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der SPD hervorgeht, wenn Sie sie einmal auf ihren letzten Grund hin abklopfen.Natürlich gebe ich zu: Regeln und Verbote sind kein Selbstzweck. Allem staatlichen Handeln, meine Damen und Herren, liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde: zur Freiheit geboren, auf den Mitmenschen verwiesen. Wenn es einem Staat mit diesem freiheitlichen Menschenbild und mit der Selbstbestimmung seiner Würde ernst ist, dann muß er ein Unwerturteil über Drogen fällen. Wegen des hohen Suchtpotentials bedeutet der Konsum solcher Stoffe eine — ich nenne es einmal so — Entmenschlichung seiner selbst. Der Drogensüchtige wird abhängig vom Stoff. Er ist nicht mehr Herr seiner selbst.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994 18049
Werner RingkampWir dürfen nicht zulassen, daß beim Drogenabhängigen der Verlust dieser Selbstbestimmung durch staatliches Dealertum anhält oder gar unnötig verlängert wird.
Herausholen müssen wir sie aus ihrem Dahinvegetieren und aus ihrer Knechtschaft und zur freien Selbstentfaltung führen.Es ist zynisch — so schreibt die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren — Drogenabhängige unter dem Vorzeichen der gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer Suchtstoffe nur noch zu betreuen, sie in ihrem Elend zu verwalten, anstatt Auswege aufzuzeigen und Hilfen vorzuhalten und damit Leiden zu lindern.
Aber wenn Sie nach dem Bundesratsantrag Heroin auf Krankenschein verabreichen wollen, halten Sie die Leute im Elend und helfen ihnen nicht.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates beinhaltet nicht nur einen ersten Schritt auf dem Weg zur Kapitulation vor der Drogenmafia. Er unterstellt sogar, daß staatliche Stellen diesen ersten Schritt tun sollen. Aber wenn es um Menschen geht, meine Damen und Herren, sind zunächst Menschen gefragt. Dann bitte ich Sie sehr herzlich: Gehen Sie einmal heraus in die Szene. Fragen Sie ehemalige Abhängige, wie wir es denn machen sollen. Dann werden Sie eindeutig unisono hören: Gebt nicht nach! Bleibt hart! Weicht keinen Zentimeter zurück!
Stecht keinen Deich an! Denn der Bundesrat will mit seinem Gesetzentwurf einem Kind, das in den Brunnen gefallen ist, im Grunde eine wärmende Decke nachwerfen. Wir wollen das Kind möglichst schnell aus dem Brunnen herausholen und Zäune aufrichten, damit künftig keine Kinder mehr hineinfallen.
Herr Kollege Singer, die Tatsache, daß jetzt gleich der Kollege Haack und anschließend noch der Kollege Meyer die einzigen Redner in dieser Debatte sein werden, bringt die Argumente Ihrer Seite, was das Akustistische anlangt, sowieso stärker zum Tragen. Denn alle anderen wünschen, zu Protokoll zu geben. *) Ich habe dafür das Einverständnis des Hauses einzuholen.
*) Anlage 4
Das Einverständnis besteht. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe als nächsten Redner den Kollegen Karl Hermann Haack auf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Ringkamp hat in seinem Diskussionsbeitrag einen zentralen Punkt der derzeitigen Drogendiskussion eingeführt, nämlich die Frage: Legalisierung oder Freigabe von Drogen unter kontrollierten Bedingungen oder nicht kontrollierten Bedingungen. Das alles steht ja in einem Zusammenhang mit der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion, die vorliegt und die wir heute debattieren.Zur Frage der Legalisierung oder der Freigabe von Drogen möchte ich mich äußern, weil ich denke, daß es da einige Ungereimtheiten gibt, die auch der öffentlichen Erörterung bedürfen.Ich will daran erinnern, was wir alles im „Spiegel" haben lesen können: daß der Stuttgarter Polizeipräsident Dr. Haas, Mitglied der CDU, gefordert hat, die Legalisierung von Drogen voranzutreiben, weil unter dem Aspekt der Zunahme von Kriminalität aus seiner polizeilichen Sicht in der Beschaffung von Drogen ein wesentliches Übel der ganzen Drogenszene liegt. Er begründet das mit der landläufigen Theorie, daß die partielle Freigabe von Drogen zu einer Entkriminalisierung dieses Marktes führen wird, und hängt sich an die Debatte an, die Freigabe von leichten, von sanften Drogen wie Cannabis, Marihuana und Haschisch würde zu einer Spaltung der Drogenmärkte führen und einen wesentlichen Beitrag zur Entkriminalisierung leisten.Eine ähnliche Einschätzung — Sie haben die Bundesratsinitiative erwähnt, Sie meinen sicherlich Hamburg mit der medizinisch indizierten Freigabe von Heroin, eine ähnliche Initiative ist vom Land Hessen angekündigt — zeigt, daß auch in dem anderen gesellschaftlichen Lager unserer Republik darüber nachgedacht wird. Ich denke, daß man jetzt in der Debatte vor der Frage steht — die Öffentlichkeit erwartet darauf Antwort —: Wie gehen wir mit dieser Frage um?Es gibt zwei Strategien. Die eine Strategie heißt, im Superwahljahr 1994 diese ganze Debatte zu instrumentalisieren und zu sagen: Diejenigen, die sich ernsthaft bemühen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen, sind Menschen, die den Drogenkonsum fördern — das haben Sie hier in Ihrem Debattenbeitrag getan, Herr Kollege Ringkamp —, und damit im Grunde ein politisches Ziel zu verfolgen, nämlich diejenigen zu diffamieren, die eine differenzierte Betrachtung der Drogenszene auf Grund von wissenschaftlichen Untersuchungen verlangen.
Es gibt eine andere Strategie, die sich an der Betroffenheit von Drogenabhängigen, an der Betrof-
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18050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Februar 1994
Karl Hermann Haack
fenheit von Lebenspartnern von Drogenabhängigen, an der Betroffenheit von Eltern orientiert. Es gibt Initiativen von Eltern Drogenabhängiger, die sagen: Wir möchten von der Politik endlich einmal eine Strategie genannt bekommen, die auf der Grundlage sicherer Forschungsergebnisse zu sagen ermöglicht: Wir gehen hier einen Schritt weiter.Das, was Sie machen, gerät zum Nachteil der Betroffenen. Ich sage schlicht und einfach: Der Caritasverband, ein guter katholischer Wohlfahrtsverband mit großer sozialer Erfahrung, der der CDU vielleicht nähersteht als der SPD, hat 1989 vier Thesen zur Drogenpolitik formuliert. Er hat zur Legalisierungsdiskussion gesagt, man müssen das prüfen, man müsse die Substitutionstherapie mit Methadon modellhaft machen. Wenn seine vier Punkte Maßstab für den Erfolg des Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes sind, dann hat das, was die Regierung gewollt hat, zu einem negativen Ergebnis geführt. Denn die Bundesregierung setzt offensichtlich auf weitere repressive Drogenbekämpfung, tut sich schwer mit der Ausweitung von Substitutionsprogrammen, z. B. Methadon, stellt keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung, um erprobte Strategien zur Prävention finanziell abzustützen, und leistet keinen Beitrag zur Entkriminalisierung.Den Streit führen wir heute um die Forschungssituation. Ich wiederhole, was die SPD schon immer eingefordert hat: Diese Bundesregierung ist aufgefordert, die Forschung zum Drogenkonsum sowohl auf präventiver, rehabilitativer und toxikologischer als auch naturwissenschaftlich-medizinischer Ebene zu fördern. Das ist in der Vergangenheit nicht geschehen. Wenn wir einen gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage erreichen wollen, ist die Voraussetzung, daß diese Arbeit geleistet wird. Statt dessen wird das Geld verplempert.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/5673 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Änderung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes
— Drucksache 12/6674 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Die Kollegen, die zu diesem Tagesordnungspunkt als Redner vorgesehen waren, wünschen ihre Manuskripte zu Protokoll zu geben.*) Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall.
Dann darf ich nur noch mitteilen, daß interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/6674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Besteht auch damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anpassung der Arbeitserlaubnis bei laufenden Arbeitsverhältnissen
— Drucksache 12/6325 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. **) Stimmt das Haus dem zu? —
Das ist der Fall; dann ist das so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/6325 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Besteht damit Einverständnis? — Die Überweisung ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 4. Februar 1994, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.